Dick Francis Todsicher Roman
Daß der Sturz des Jockeys Bill Davidson Zufall war, will sein Freund Alan nicht glauben. Z...
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Dick Francis Todsicher Roman
Daß der Sturz des Jockeys Bill Davidson Zufall war, will sein Freund Alan nicht glauben. Zu gut kennt er die Welt des Rennsports, zu gut ist er mit den düsteren Machenschaften hinter den Kulissen der Rennbahn vertraut. Alan vermutet Sabotage und macht sich auf die Suche nach den Urhebern. Bis es zu einem atemberaubenden Showdown zwischen einem Pferd und einer ganzen Taxiflotte kommt... Der erste Kriminalroman von Dick Francis! Vieles muß der Held einstecken, bevor er schließlich doch noch zu seinem wohlverdienten Happy-End kommt.
Dick Francis Todsicher Originaltitel: ›Dead Cert‹ Aus dem Englischen von Tony Westermayr Umschlagzeichnung von Tomi Ungerer © 1993 Diogenes Verlag AG Zürich ISBN 3-257-22539-3
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Dick Francis
Todsicher Roman Aus dem Englischen von Tony Westermayr
Diogenes
1 Der Geruch dampfender Pferdeleiber vermischte sich mit dem kalten Dunst des Flußnebels. Ich konnte nur das dumpfe Trappeln galoppierender Hufe hören, dazwischen gelegentlich ein helles, metallisches Geräusch, wenn Hufeisen gegeneinander schlugen. Hinter mir ritt, etwas auseinandergezogen, eine Gruppe von Männern, die wie ich weiße Seidenbreeches und Jacken mit Rautenmuster trugen; vor mir parierte ein Jockey in rotgrünem Dress sein Pferd für den Sprung über die Birkenhecke, die sich ihm wie ein dunkler Schatten in den Weg stellte. Alles verlief wie erwartet: Bill Davidson war eben dabei, sein siebenundneunzigstes Hindernisrennen zu gewinnen. ›Admiral‹, sein Brauner, bewies deutlich, daß er keinen Konkurrenten zu fürchten hatte, und wie schon so oft, hatte ich die beiden seit einigen Minuten bewundert. Ich sah, wie die kraftvolle Hinterhand ansetzte und losschnellte: ›Admiral‹ überwand die Hecke mit der Mühelosigkeit, die nur wirklich einmalige Pferde auszeichnet. Und als ich ihm nachsetzte, stellte ich fest, daß er zwei weitere Längen Vorsprung gewonnen hatte. Wir befanden uns am anderen Ende der Rennbahn von Maidenhead; vom Ziel trennte uns noch eine halbe Meile. Ich hatte keine Chance, ihn einzuholen. Der Februarnebel wurde dichter. Es war unmöglich, bis zum nächsten Hindernis zu sehen, und der milchigweiße Dunst schien uns von der übrigen Welt abzuschließen. Die Geschwindigkeit war das einzige, woran man sich halten konnte. Das Ziel, die Zuschauer, die Tribünen und die Rennleitung, im Nebel zurückgelassen, lagen wieder unsichtbar vor uns, aber auf der langen, verlassenen EineinhalbmeilenBahn fiel es schwer zu glauben, daß es das alles wirklich gab. -3-
Eine unheimliche, isolierte Welt, in der alles mögliche geschehen konnte. Und es geschah etwas! Wir gingen in die Kurve am unteren Ende der Rennbahn und richteten uns auf, um das nächste Hindernis zu nehmen. Bill hatte gut zehn Längen Vorsprung vor mir und den anderen herausgeholt, ohne sich besonders anzustrengen. Er hatte das fast nie nötig. Der Aufseher am nächsten Hindernis schlenderte quer über die Bahn von außen nach innen, klopfte auf die Birkenzweige und duckte sich unter das Geländer. Bill sah über die Schulter, und seine Zähne blitzten, als er befriedigt über den weiten Abstand zwischen meinem Pferd und ›Admiral‹ lächelte. Dann wandte er sich wieder dem Hindernis zu und schätzte die Entfernung ab. ›Admiral‹ setzte genau im richtigen Augenblick zum Sprung an. Er stieg hoch, als sei nicht nur den Vögeln das Fliegen vergönnt. Und stürzte. Entsetzt sah ich die muskulösen Beine hilflos arbeiten, als das Pferd buchstäblich einen Überschlag machte. Bill stürzte vom höchsten Punkt der Sprungbahn kopfüber hinab, und ich hörte, wie ›Admiral‹ hinter ihm mit dem Rücken am Boden landete. Automatisch wich ich nach rechts aus und zwang mein Pferd über das Hindernis. In der Luft, während des Sprungs, starrte ich auf Bill hinunter. Er lag schlaff auf dem Boden, einen Arm ausgestreckt. Seine Augen waren geschlossen. ›Admiral‹ war mit dem Rücken auf Bill gefallen und rollte sich nun verzweifelt hin und her, um wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen. Für einen kurzen Augenblick hatte ich den Eindruck, daß etwas unter ihnen lag, etwas ganz Abwegiges, das dort nichts zu suchen hatte. Aber meine Geschwindigkeit war zu groß. Ich hatte nicht Zeit genug, Einzelheiten zu erkennen. Während mein Pferd weitergaloppierte, fühlte ich mich so elend, als hätte man mich in den Magen getreten. Dieser Sturz -4-
hatte so gefährlich ausgesehen, daß man das Schlimmste befürchten mußte. Ich sah mich um. ›Admiral‹ war inzwischen wieder auf die Beine gekommen und trabte davon; der Hindernisaufseher beugte sich über den immer noch bewegungslos am Boden liegenden Bill. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Rennen zu. Ich war Erster geworden und mußte es bleiben. Am Rande der Bahn eilte ein Sanitäter an mir vorbei. Er hatte sich an dem Hindernis aufgehalten, dem ich mich jetzt näherte, und war unterwegs, um Bill zu helfen. Ich trieb mein Pferd über die nächsten drei Hindernisse, aber ich hatte keinen Spaß mehr daran, und als ich vor den vollbesetzten Tribünen als Gewinner auftauchte, schien mir das enttäuschte Stöhnen der Menge ein passender Willkommensgruß zu sein. Ich galoppierte durchs Ziel, tätschelte meinem Pferd den Hals und starrte zur Tribüne. Die meisten Gesichter waren immer noch dem letzten Hindernis zugewandt, im undurchdringlichen Nebel nach ›Admiral‹, dem todsicheren Tip, suchend, der seit zwei Jahren sein erstes Rennen verloren hatte. Selbst die nette, ältere Dame, deren Pferd ich geritten hatte, empfing mich mit der Frage: »Wo bleibt denn ›Admiral‹?« »Er ist gestürzt«, erwiderte ich. »Was für ein Glück«, lachte Mrs. Mervyn. Sie nahm die Zügel und führte ihr Pferd zum Absatteln. Ich stieg ab und löste mit ungeschickten Fingern die Sattelgurte. Sie tätschelte das Pferd und schnatterte, wie sehr sie sich über diesen Sieg freue, wie unerwartet er komme, und was für ein glücklicher Zufall es sei, daß sich ›Admiral‹ einmal versprungen habe, obwohl man das auf der anderen Seite natürlich auch bedauern müsse. Ich nickte, lächelte sie an und erwiderte nichts, weil das, was ich zu sagen gehabt hätte, sehr unfreundlich gewesen wäre. Soll -5-
sie sich doch über ihren Sieg freuen, dachte ich. Sie hat selten genug Anlaß dazu. Und vielleicht ist Bill gar nichts passiert. Ich zerrte den Sattel vom Pferd, überließ die strahlende Mrs. Mervyn den Gratulanten, die sich um sie drängten, und zwängte mich durch die Menge, um den Wiegeraum zu erreichen. Ich setzte mich auf die Waage, wurde nicht beanstandet, ging in den Umkleideraum und legte das Sattelzeug dort auf die Bank. Clem, der sich immer um meine Sachen kümmerte, kam herüber. Er war ein kleiner, älterer Mann mit wettergegerbtem Gesicht und sehnigen Armen. Er hob meinen Sattel auf und fuhr mit der Hand streichelnd über das Leder. »Gut gemacht, Sir«, sagte er, aber er machte kein allzu freudiges Gesicht. Ich wollte keine Glückwünsche. Abrupt sagte ich: ›Admiral‹ hätte gewinnen müssen.« »Ist er gestürzt?« fragte Clem besorgt. »Ja.« Ich konnte es immer noch nicht begreifen. »Major Davidson ist doch nichts passiert, Sir?« fragte Clem. Er bediente auch Bill und sah in ihm so etwas wie einen Helden. »Ich weiß es nicht«, sagte ich. Aber der harte Sattelbogen hatte ihn genau im Bauch getroffen, mit dem Gewicht eines schweren Pferdes, das noch dazu sehr schnell gelaufen war. Was hat er da schon für eine Chance, dachte ich. Ich zog meinen Mantel an und ging zum Sanitätsraum. Bills Frau, Scilla, stand vor der Tür, blaß, zitternd, mit Mühe ihre Angst unterdrückend. Sie trug ein hübsches, rotes Kostüm und eine Nerzkappe auf ihrem schwarzen Haar. »Alan«, sagte sie erleichtert, als sie mich sah. »Der Arzt untersucht ihn gerade. Er bat mich, hier zu warten. Was meinst du? Ist es schlimm?« Sie sah mich flehend an, und ich konnte ihr keinen Trost spenden. Ich legte ihr den Arm um die -6-
Schultern. Sie fragte mich, ob ich Bills Sturz gesehen hatte. Ich erklärte ihr, daß er auf den Kopf gefallen sei und wahrscheinlich eine leichte Gehirnerschütterung erlitten habe. Die Tür öffnete sich, und ein großer, schlanker, gutangezogener Mann kam heraus. Der Arzt. »Sind Sie Mrs. Davidson?« sagte er zu Scilla. Sie nickte. »Es tut mir leid, aber wir müssen Ihren Mann ins Krankenhaus bringen«, sagte er. »Es wäre nicht klug, ihn ohne Röntgenuntersuchung nach Hause zu schicken.« Er lächelte beruhigend, und Scillas Anspannung löste sich ein wenig. »Darf ich zu ihm gehen?« Der Arzt zögerte. »Ja«, meinte er dann, »aber er ist kaum bei Bewußtsein. Es hat ihn ganz schön durchgeschüttelt. Wecken Sie ihn lieber nicht auf.« Als ich hinter Scilla den Sanitätsraum betreten wollte, hielt mich der Arzt zurück. »Sie sind doch Mr. York, nicht wahr?« fragte er. Er hatte mich tags zuvor nach einem leichten Sturz untersucht. »Ja.« »Kennen Sie die Davidsons gut?« »Ja. Ich wohne bei ihnen.« Der Arzt preßte die Lippen zusammen, dann sagte er: »Er macht mir Sorgen. Die Gehirnerschütterung ist nicht weiter tragisch, aber er blutet innerlich, wahrscheinlich aus einem Milzriß. Ich habe im Krankenhaus angerufen, damit alles für eine Notoperation vorbereitet wird.« Einer der Ambulanzwagen kam rückwärts herangefahren. Die Männer sprangen heraus, öffneten die Hecktüren, holten eine große Tragbahre aus dem Wagen und transportierten sie in den Sanitätsraum. Der Arzt folgte ihnen. Kurze Zeit später erschienen sie alle wieder. Bill lag auf der Tragbahre. Scilla folgte ihnen angstvoll. -7-
Bills markantes, sonst braungebranntes Gesicht war jetzt bläulich-weiß und mit zahllosen, kleinen Schweißtröpfchen übersät. Er atmete keuchend durch den offenen Mund, und seine Hände zerrten ruhelos an der Decke, die man über ihn gebreitet hatte. Er trug immer noch seinen rotgrün gemusterten Jockeydress, ein schlechtes Zeichen. Scilla sagte zu mir: »Ich fahre mit ihm in der Ambulanz. Kannst du mitkommen?« »Ich bin im letzten Rennen noch einmal gemeldet«, sagte ich. »Anschließend komme ich sofort ins Krankenhaus. Mach dir keine Sorgen, er wird es schon schaffen.« Aber ich glaubte nicht daran. Sie wohl auch nicht. Als sie fort waren, schlenderte ich an dem Gebäude entlang, dann durch den Parkplatz, bis ich das Flußufer erreichte. Durch den kürzlich geschmolzenen Schnee war die Themse zum reißenden Strom geworden; sandbraun und grau mit weißen Wellenkämmen. Hundert Meter zu meiner Rechten schoß das Wasser aus dem Nebel, schäumte an mir vorbei und verschwand wieder im Dunst. Konfus, ohne klaren Kurs vor sich, genau wie ich. Denn irgend etwas an Bills Sturz stimmte nicht. ›Admiral‹, ein großartiges Sprungpferd, war ohne ersichtlichen Grund gestürzt. Der Rennbahnaufseher hatte die Bahn hinter dem Hindernis überquert, als Bill und ich darauf zu ritten, aber das war durchaus nicht ungebräuchlich. Und als ich das Hindernis übersprungen hatte, während ich auf Bill herabsah, hatte ich etwas stumpf Schimmerndes bemerkt. Ich dachte lange Zeit darüber nach. Die Schlußfolgerung ergab sich von selbst, aber sie schien unfaßbar. Ich mußte herausfinden, ob sie zutraf. Ich ging zurück in den Wiegeraum, um mein Sattelzeug zu holen und mich für das letzte Rennen wiegen zu lassen, aber als ich die flachen Bleiplatten anbrachte, um das vorgeschriebene -8-
Gewicht zu erreichen, erklärte die Rennleitung über die Lautsprecher, daß das letzte Rennen wegen des dichten Nebels nicht stattfinde. Im Umkleideraum begannen sich die Jockeys zu drängen; die Teekannen und Gebäckplatten leerten sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Seit dem Frühstück war eine lange Zeit vergangen, und während ich mich umzog, verdrückte ich ein paar belegte Brote. Ich vereinbarte mit Clem, daß meine Sachen nach Plumpton gebracht würden, wo ich vier Tage später zu reiten hatte, dann machte ich mich auf den Weg. Ich wollte mir die Stelle, an der Bill gestürzt war, genau ansehen. Zu Fuß ist es ein weiter Weg von den Tribünen bis zum anderen Ende der Rennbahn von Maidenhead, und bis ich dort ankam, waren meine Schuhe, Socken und Hosenbeine von dem langen, feuchten Gras völlig durchnäßt. Es war sehr kalt und sehr neblig. Kein Mensch war zu sehen. Ich erreichte die Hecke, die harmlose, weiche, leicht zu überspringende Hecke aus aufrechtstehenden Birkenzweigen. Neunzig Zentimeter dick am Boden, halb so dick an der obersten Stelle, einen Meter fünfunddreißig hoch, etwa zehn Meter breit. Durchaus üblich, alles andere als schwierig. Ich sah mir die Aufsprungseite der Hecke genau an. Nichts Außergewöhnliches. Ich ging hinüber zur Absprungseite. Nichts. Ich suchte in der Heckenkulisse herum, die das Pferd zum Hindernis leitet, in derjenigen an der Innenseite der Bahn, wo sich Bill vor seinem Sturz befunden hatte. Immer noch nichts. Ich fand das Gesuchte auf der anderen Seite der Hecke, am Außenrand der Bahn. Es lag im langen Gras, halb versteckt, mit Tautropfen übersät, zusammengerollt, tödlich. Draht. Es war sehr viel Draht, silbernblaßgrau, zu einer Rolle von dreißig Zentimetern Durchmesser zusammengewunden und mit -9-
einem Stück Holz beschwert. Das eine Ende führte am Seitenpfosten des Geländers hinauf und war daran sechzig Zentimeter über dem oberen Niveau der Hecke befestigt. Ich konnte es mit den Händen nicht losmachen. Ich ging zum inneren Seitengeländer hinüber und sah mir dort den Pfosten an. Sechzig Zentimeter über dem Hindernis entdeckte ich im Holz eine schmale Rinne. Dieser Pfosten war früher einmal weiß lackiert gewesen, und ich konnte das Mal deutlich erkennen. Es war mir klar, daß eine einzige Person den Draht hatte dort anbringen können. Der Aufseher. Der Mann, den ich gesehen hatte, als er die Rennbahn überquerte. Der Mann, dachte ich bitter, dem ich es überlassen hatte, Bill zu helfen. Bei einem Dreimeilenrennen in Maidenhead mußte die Strecke zweimal zurückgelegt werden. Beim ersten Mal hatte es an diesem Hindernis keine Schwierigkeiten gegeben. Neun Pferde waren sicher darübergekommen, während ›Admiral‹ noch die dritte Stelle einnahm, auf seine Chance wartend, während ich neben Bill herritt und ihm erklärte, daß mir das englische Klima nicht behagte. Beim zweiten Mal war ›Admiral‹ um Längen voraus. Als ihn der Aufseher das Hindernis vorher hatte überwinden sehen, mußte er mit dem losen Ende des Drahtes hinübergegangen sein und es um den anderen Pfosten gewunden haben, so daß sich der Draht straff in der Luft spannte, beinahe unsichtbar, sechzig Zentimeter über der Hecke. In dieser Höhe mußte ›Admiral‹ mit der Schulter dagegenprallen. Ob das Pferd den Draht abgerissen oder vom Pfosten gezogen hatte, wußte ich nicht genau. Da ich aber keine losen Stücke fand, hielt ich es für wahrscheinlich, daß das stürzende Pferd den nicht so stark befestigten Teil des Drahtes herabgerissen hatte. Keines der nachfolgenden sieben Pferde war gestürzt. Gleich mir hatten auch die anderen Reiter das Überbleibsel dieser Falle übersprungen. -10-
Wenn es sich bei dem Aufseher nicht um einen Wahnsinnigen handelte, was man nicht ausschließen konnte, war das ein genau geplanter Angriff auf ein bestimmtes Pferd, auf einen bestimmten Reiter gewesen. Bill auf seinem ›Admiral‹ hatte in diesem Stadium des Rennens fast immer die Führung übernommen, häufig sogar einen Vorsprung von zwanzig Längen herausgeholt, und sein rotgrüner Dress war sogar an einem nebligen Tag nicht zu übersehen. Schweren Herzens trat ich den Rückweg an. Es begann dunkel zu werden. Ich hatte mich länger an der Hecke aufgehalten, als mir klargeworden war, und als ich schließlich den Wiegeraum erreichte und der Rennleitung von dem Draht berichten wollte, mußte ich feststellen, daß bis auf den Hausmeister alle gegangen waren. Der Hausmeister, ein alter, mürrischer Mann, erklärte mir, daß er nicht wisse, wo man den für die Bahn verantwortlichen Mann finden könne. Der Geschäftsführer sei jedenfalls vor fünf Minuten in die Stadt gefahren. Er wisse nicht, wann er zurück sein werde; mit der unfreundlichen Bemerkung, daß er sich nun endlich um die Heizung kümmern müsse und der Nebel im übrigen für seine Bronchitis nicht gut sei, schlurfte er schließlich davon. Unentschlossen sah ich ihm nach. Ich wußte, daß ich den verantwortlichen Leuten von dem Draht berichten sollte, aber wem? Die gesamte Rennleitung war auf dem Weg nach Hause; ihre Autos verbargen sich irgendwo im Nebel, unerreichbar. Der Geschäftsführer hatte sich entfernt. Das Büro des Rennleiters war abgeschlossen. Es würde viel Zeit in Anspruch nehmen, einen dieser Männer zu finden, ihn zu überreden, daß er zur Rennbahn zurückkehren und im Dunkeln die Bahn hinunterfahren sollte; danach würde es Diskussionen, Wiederholungen, schriftlich fixierte Aussagen geben. Das mochte Stunden dauern. Inzwischen kämpfte Bill im Krankenhaus von Maidenhead um sein Leben, und ich mußte wissen, ob er es schaffte. Scilla -11-
hatte furchtbare Stunden vor sich, und ich dachte an mein Versprechen, ihr so schnell wie möglich Gesellschaft zu leisten. Zu viel Zeit war schon vertrödelt worden. Um den am Pfosten befestigten Draht konnte man sich ja auch morgen kümmern. Bills Jaguar stand einsam auf dem Parkplatz. Ich setzte mich ans Steuer, schaltete Scheinwerfer und Nebellampen ein und fuhr los. Am Eingang zur Rennbahn bog ich links ab, fuhr zwei Meilen die Straße entlang, hielt mich nach der Brücke wieder links, schlängelte mich durch Maidenheads Einbahnstraßen und erreichte schließlich das Krankenhaus. Ich betrat die hell erleuchtete Eingangshalle, aber Scilla war nirgends zu sehen. Ich erkundigte mich beim Portier. »Mrs. Davidson? Die Frau des Jockeys? Ja, sie sitzt da hinten im Wartezimmer. Die vierte Tür links.« Ich fand sie. Ihre dunklen Augen wirkten noch größer als sonst, sie waren umschattet. Ihr Gesicht hatte jede Farbe verloren, die Nerzkappe lag auf dem Tisch. »Wie geht es ihm?« fragte ich. »Ich weiß es nicht. Man sagt mir nur immer, ich solle mir keine Sorgen machen.« Sie war den Tränen nahe. Ich setzte mich neben sie und nahm ihre Hände. »Ich bin dir sehr dankbar, Alan«, sagte sie. Nach einer Weile öffnete sich die Tür, und ein blonder, junger Arzt betrat das Zimmer. »Mrs. Davidson, ich glaube…« er machte eine Pause, »ich glaube, Sie sollten sich zu Ihrem Mann setzen.« »Wie geht es ihm?« »Nicht… sehr gut. Wir tun, was wir können.« Er wandte sich an mich: »Sind Sie ein Verwandter?« »Ein Freund der Familie. Ich bringe Mrs. Davidson nach Hause.« »Ich verstehe«, sagte er. »Wollen Sie warten oder später -12-
wiederkommen? Am späten Abend.« Ich starrte ihn an und plötzlich wußte ich, daß Bill im Sterben lag. »Ich warte hier.« »Gut.« Ich wartete vier Stunden, studierte das Muster der Vorhänge und die Risse im braunen Linoleum. Die meiste Zeit dachte ich an den Draht. Schließlich kam eine Schwester, jung, hübsch, mit ernstem Gesicht. »Es tut mir so leid… Major Davidson ist tot.« Mrs. Davidson wünsche, daß ich ihn sähe, sagte sie. Wenn ich ihr folgen wolle. Sie führte mich die langen Korridore hinunter, in ein weißes, nicht sehr großes Zimmer, in dem Scilla neben dem Einzelbett saß. Scilla sah zu mir auf. Sie konnte nicht reden. Bill lag da, grau und still. Der beste Freund, den sich ein Mann wünschen konnte.
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2 Früh am nächsten Morgen fuhr ich Scilla nach Hause. Sie war völlig erschöpft und außerdem durch Beruhigungsmittel halb betäubt. Die Kinder erwarteten sie auf der Treppe vor dem Haus, ernsthaft und großäugig. Hinter ihnen stand Joan, der die Kleinen anvertraut waren; ich hatte am Abend zuvor mit ihr telefoniert. Scilla setzte sich auf die Stufen und weinte sich aus. Die Kinder knieten und saßen neben ihr, umarmten sie und versuchten einen Kummer zu lindern, den sie kaum zu begreifen vermochten. Danach ging Scilla nach oben, um sich hinzulegen. Ich folgte ihr etwas später, zog die Vorhänge vor und strich ihr übers Haar. Sie war sehr schläfrig; ich hoffte nur, daß es viele Stunden dauern würde, bis sie wieder aufwachte. Ich ging in mein Zimmer und zog mich um. Unten hatte Joan in der Küche das Frühstück für mich hergerichtet: Kaffee, Schinken mit Rührei, frische Semmeln. Ich gab den Kindern die für sie gekaufte Schokolade, und sie saßen um mich herum, während ich mich meinem Frühstück widmete. Joan machte sich auch noch eine Tasse Kaffee. »Alan?« sagte William. Er war fünf Jahre alt, der Jüngste, und er wartete immer, bis man ›ja?‹ gesagt hatte, bevor er weitersprach. »Ja?« sagte ich. »Was ist Daddy passiert?« Also erzählte ich ihnen alles, bis auf die Sache mit dem Draht. Sie blieben lange Zeit ungewöhnlich still. Dann fragte Henry mit seinen acht Jahren: »Wird er beerdigt oder verbrannt?« Bevor ich antworten konnte, entspann sich zwischen ihm und seiner älteren Schwester Polly eine hitzige und erstaunlich -14-
wohlinformierte Diskussion über die jeweiligen Vorteile von Begräbnis und Verbrennung. Ich war entsetzt, zugleich aber auch erleichtert, und Joan, die meinen Blick auffing, mußte sich das Lachen verbeißen. Die unschuldige Abgebrühtheit ihrer Unterhaltung ließ mich meine Fahrt zurück nach Maidenhead in etwas besserer Stimmung antreten. Ich brachte Bills großen Wagen in die Garage und machte mich in meinem eigenen kleinen dunkelblauen Lotus-Sportwagen auf den Weg. Der Nebel hatte sich völlig aufgelöst, aber ich fuhr trotzdem nicht allzu schnell, weil ich darüber nachdachte, was wohl am besten zu tun sei. Zuerst suchte ich das Krankenhaus auf, wo ich Bills Sachen in Empfang nahm, Formulare unterschrieb und alles Nötige veranlaßte. Für den nächsten Tag war eine Routineobduktion vorgesehen. Es war Sonntag. Ich fuhr zur Rennbahn, aber alle Eingänge waren geschlossen. Auch im Büro der Rennleitung in der Stadt konnte ich niemand antreffen. Ich rief die Privatadresse des Rennleiters an, ohne daß sich jemand meldete. Nach einigem Zögern wählte ich die Nummer des Vorsitzenden im Nationalen Rennsportkomitee, der höchsten Autorität für den Hindernissport. Sir Creswell Stampes Butler erklärte mir, er müsse erst nachsehen, ob Sir Creswell zu sprechen sei. Ich sagte, daß ich unbedingt mit ihm reden müsse. Kurze Zeit später hörte ich seine Stimme. »Ich hoffe, daß Sie mir wirklich etwas Wichtiges mitzuteilen haben, Mr. York. Ich diniere gerade mit meinen Gästen.« »Haben Sie schon gehört, Sir, daß Major Davidson gestern nacht gestorben ist?« »Ja. Es tut mir wirklich sehr leid.« Er wartete. Ich atmete tief ein. »Sein Sturz ist nicht auf einen Unfall zurückzuführen«, sagte ich. -15-
»Wie meinen Sie das?« »Major Davidsons Pferd ist durch einen gespannten Draht zu Fall gebracht worden«, erwiderte ich. Ich erzählte ihm von meinem Fund an der Birkenhecke. »Sie haben wohl Mr. Dace entsprechend unterrichtet?« fragte er. Mr. Dace war Rennleiter für die Bahn in Maidenhead. Ich erklärte ihm, daß ich Mr. Dace nicht hatte finden können. »Deswegen rufen Sie bei mir an. Ich verstehe.« Er machte eine Pause. »Nun, Mr. York, wenn Sie sich nicht getäuscht haben, ist die Sache zu ernst, um alleine vom Nationalen Komitee behandelt zu werden. Ich halte es für das beste, wenn Sie die Polizei in Maidenhead so schnell wie möglich informieren. Rufen Sie mich bitte heute abend wieder an. Ich werde inzwischen versuchen, Mr. Dace zu verständigen.« Ich hängte ein. Immerhin lief die Sache jetzt. Das Polizeirevier in der verlassenen Straße wirkte düster, schmutzig und wenig einladend. Ich ging hinein. Hinter dem Geländer standen drei Schreibtische; an einem von ihnen saß ein junger Wachtmeister, in eine Zeitung vertieft. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Sir?« sagte er und erhob sich. »Hat außer Ihnen hier noch jemand Dienst?« erkundigte ich mich. »Einer der Vorgesetzten? Es handelt sich um einen – einen Todesfall.« »Einen Augenblick, Sir.« Er verließ den Raum durch eine Hintertür. Kurze Zeit später erschien er wieder und sagte: »Würden Sie bitte hier eintreten?« Ich betrat ein kleines Büro, und er schloß die Tür hinter mir. Der Mann, der sich hinter dem Schreibtisch erhob, war für einen Polizisten verhältnismäßig klein, stämmig, wahrscheinlich Ende Dreißig. Er schien mir eher robust als intelligent zu sein, aber ich fand später heraus, daß ich mich da getäuscht hatte. -16-
Sein Schreibtisch war mit Papieren und Gesetzbüchern übersät. »Guten Tag. Ich bin Inspektor Lodge.« Er deutete auf einen Stuhl, setzte sich und begann, seine Papiere zu kleinen Stößen zu ordnen. »Sie sind wegen eines Todesfalles hier?« Meine eigenen Worte kamen mir jetzt ein wenig albern vor, aber seine Stimme blieb völlig sachlich. »Es geht um Major Davidson…« begann ich. »Ach ja. Wir haben einen Bericht bekommen. Er starb gestern im Krankenhaus nach einem Sturz auf der Rennbahn.« »Dieser Sturz ist mit Absicht herbeigeführt worden«, erklärte ich rundheraus. Inspektor Lodge starrte mich eine Weile an, dann nahm er ein Blatt Papier aus seiner Schublade, schraubte die Hülse von seinem Füllfederhalter und notierte Datum und Zeit, wie ich sehen konnte. Ein methodischer Mann. »Wir fangen wohl am besten ganz vorne an«, sagte er. »Wie heißen Sie?« »Alan York.« »Alter?« »Vierundzwanzig.« »Anschrift?« Ich nannte Davidsons Adresse und erklärte ihm, daß ich dort die meiste Zeit wohnte. »Und wo ist Ihr eigentlicher Wohnsitz?« »In Südrhodesien«, erwiderte ich. »Eine Ranch in der Nähe eines Dorfes mit dem Namen Induna, ungefähr fünfzehn Meilen von Bulawayo entfernt.« »Beruf?« »Ich arbeite für meinen Vater in seiner Londoner Niederlassung.« -17-
»Welche Firma besitzt Ihr Vater?« »Die Bailey-York Handelsgesellschaft.« »Womit handeln Sie?« erkundigte sich Lodge. »Mit Kupfer, Blei, Schlachtvieh. Mit allem möglichen. Wir führen vor allem Transporte durch.« Er schrieb alles nieder. »Also dann«, er legte den Füllfederhalter weg, »worum geht es eigentlich?« »Worum es geht, weiß ich nicht«, erwiderte ich. »Aber geschehen ist folgendes.« Ich erzählte ihm alles der Reihe nach. Er hörte mir zu, ohne mich zu unterbrechen, dann meinte er: »Wie kamen Sie überhaupt auf den Verdacht, daß es sich nicht um einen normalen Sturz gehandelt haben kann?« »›Admiral‹ ist das beste Sprungpferd im ganzen Land. Ihm unterlaufen keine Fehler.« Aber ich konnte an seinem Gesicht ablesen, daß er, wenn überhaupt, nur sehr wenig vom Rennsport verstand und seiner Meinung nach ein Pferd ebenso leicht stürzen konnte wie das andere. Ich versuchte es noch einmal. »›Admiral‹ ist an Hindernissen einfach ein Genie. Er stürzt bei einer so leichten Hürde nicht, zumal er nicht gedrängt wurde. Der Sprungansatz war ideal, ich habe es gesehen. Nichts konnte unnatürlicher sein als dieser Sturz. Ich hatte sofort den Eindruck, als sei er irgendwie behindert worden. Ich ging später zu der Hecke, um nachzusehen, und ich fand den Draht. Das ist alles.« »Hm. Hätte das Pferd gewinnen können?« erkundigte sich Lodge. »Ganz sicher sogar«, sagte ich. »Und wer hat dann gewonnen?« »Ich«, gab ich zurück. Lodge schwieg eine Weile und kaute an seinem Federhalter. -18-
»Wie kommen die Rennbahnaufseher zu ihren Posten?« fragte er. »Das weiß ich nicht genau. Ich nehme an, daß man sie nur für das jeweilige Rennen einstellt«, erwiderte ich. »Warum sollte ein solcher Mann den Wunsch haben, Major Davidson etwas anzutun?« murmelte er nachdenklich, und ich sah ihn scharf an. »Sie glauben wohl, daß ich alles erfunden habe?« brauste ich auf. »Nein.« Er seufzte. »Das nicht. Vielleicht hätte ich sagen sollen, daß es für eine Person, die Major Davidson etwas antun wollte, doch schwierig gewesen sein müßte, sich als Rennbahnaufseher anstellen zu lassen?« »Es wäre sogar sehr einfach gewesen.« »Das müssen wir klären.« Er dachte nach. »War das nicht eine sehr unsichere Art, einen Menschen zu ermorden?« »Wer das geplant hat, kann nicht vorgehabt haben, ihn zu töten«, meinte ich. »Warum nicht?« »Weil es äußerst unwahrscheinlich war, daß er dabei umkommen würde. Ich glaube, daß das Ganze nur dazu dienen sollte, seinen Sieg zu verhindern.« »Warum ist es so unwahrscheinlich, daß sein Sturz zum Tode führt?« fragte Lodge. »Mir kommt es äußerst gefährlich vor.« »Es mag wohl sein, daß man darauf hoffte, er würde sich verletzen. Wenn ein Pferd sehr schnell läuft und gegen ein Hindernis prallt, wenn man es nicht erwartet, wird man aus dem Sattel geworfen. Man fliegt durch die Luft und stürzt weit vor jener Stelle zu Boden, an der das Pferd zu Fall kommt. Das kann zwar zu schweren Verletzungen führen, aber Todesfälle gibt es dabei kaum. Bill Davidson dagegen ist nicht nach vorne geschleudert worden. Möglicherweise blieb er in den Bügeln -19-
hängen, obwohl ich das nicht glaube. Vielleicht wickelte sich der Draht um sein Bein und hielt ihn zurück. Jedenfalls fiel er kerzengerade herunter, und sein Pferd stürzte auf ihn. Selbst so war es unglaubliches Pech, daß der Sattelbogen ihn in den Magen traf. Die Chance, mit Absicht einen Menschen auf diese Weise umzubringen, ist minimal.« »Ich verstehe. Offensichtlich haben Sie sich darüber Gedanken gemacht.« »Allerdings.« »Fällt Ihnen niemand ein, der den Wunsch gehabt haben könnte, Major Davidson etwas anzutun?« fragte Lodge. »Nein«, erwiderte ich. »Er war sehr beliebt.« Lodge stand auf und streckte sich. »Wir wollen uns Ihren Draht einmal ansehen«, sagte er. Er machte die Tür auf und rief hinaus: »Wright, sehen Sie mal nach, ob Hawkins da ist, und sagen Sie ihm, daß ich einen Wagen brauche.« Kurze Zeit später fuhr ein Wagen vor. Hawkins steuerte, ich saß mit Lodge im Fond. Die Haupteingänge der Rennbahn waren immer noch geschlossen, aber es gab andere Möglichkeiten, wie ich feststellen konnte. Mit einem der Polizei zur Verfügung stehenden Schlüssel ließ sich ein anderes Tor im Holzzaun öffnen. »Für den Fall eines Brandes«, sagte Lodge erklärend. Hawkins fuhr über die Bahn zur Mitte der Anlage, dann holperten wir zur Gegenkurve. Lodge und ich stiegen aus. Ich führte ihn an der Hecke vorbei zum Seitenteil des Geländers. »Der Draht liegt da drüben«, sagte ich. Aber ich irrte mich. Da war der Pfosten, das Geländer, das lange Gras, die Birkenhecke. Aber kein Draht. »Sind Sie sicher, daß das die richtige Stelle ist?« fragte Lodge. -20-
»Ja«, erwiderte ich. »Man springt zuerst über dieses Hindernis da drüben«, erklärte ich und deutete auf die etwa dreihundert Meter entfernte Hürde. »Dann kommt ein langes Flachstück, wie Sie selber sehen können. Zwanzig Meter nach dieser Hecke geht es scharf links zur Geraden. Das nächste Hindernis ist ziemlich weit entfernt, damit die Pferde nicht sofort springen müssen, wenn sie um die Kurve gekommen sind. Eine sehr gut angelegte Rennbahn.« »Sie können sich im Nebel nicht getäuscht haben?« »Nein. Das ist das richtige Hindernis«, sagte ich. Lodge seufzte. »Na, dann müssen wir uns eben alles ein bißchen näher ansehen.« Aber wir fanden nichts als eine schmale Rinne an dem früher weißlackierten Innenpfosten und eine tiefere Rinne am Außenpfosten, wo der Draht sich ins Holz eingegraben hatte. Sie fielen aber nicht besonders auf. »Das beweist leider sehr wenig«, erklärte Lodge. Stumm fuhren wir nach Maidenhead zurück. Jetzt wußte ich, daß ich tags zuvor irgendeinen Zeugen gebraucht hätte, selbst wenn es der Hausmeister gewesen wäre. Ich hätte den Betreffenden dazu bringen müssen, mit mir zum Hindernis zu gehen und sich den Draht anzusehen. Ich versuchte mich mit dem Gedanken zu trösten, daß der Aufseher wohl mit der Drahtschere zu dem Hindernis zurückgekehrt war, als ich wieder zu den Tribünen ging. Und selbst wenn ich sofort mit einem Zeugen hätte aufwarten können, wäre es wahrscheinlich zu spät gewesen. Vom Polizeirevier aus rief ich Sir Creswell Stampe an. Diesmal sei er beim Dessert gestört worden, meinte er. Die Nachricht, daß der Draht verschwunden sei, bereitete ihm ebenfalls wenig Vergnügen. »Sie hätten doch sofort einen Zeugen beischaffen und den Draht fotografieren, ja ihn mitnehmen müssen. Ohne Beweismaterial können wir nichts unternehmen. Ich begreife -21-
auch nicht, warum Sie nicht schon früher etwas unternommen haben. Sie sind sehr unzuverlässig, Mr. York.« Und mit diesen Worten legte er auf. Bedrückt fuhr ich nach Hause. Ich öffnete leise die Tür zu Scillas Zimmer und warf einen Blick hinein. Ihre Atemzüge gingen tief und gleichmäßig, sie schlief noch fest. Unten saßen Joan und die Kinder vor dem heimeligen Kaminfeuer und spielten Poker. Ich hatte es ihnen an einem regnerischen Tag beigebracht, als die Kinder ihrer Spielsachen überdrüssig geworden waren, geschrieen und miteinander gestritten hatten, bis es uns zu bunt wurde. Poker, das die Cowboys in den Wildwestfilmen zu spielen pflegten, bewirkte ein Wunder. Henry entwickelte sich im Verlauf weniger Wochen zu einem gewiegten Pokerspezialisten. Seine Begabung für Mathematik erlaubte ihm, mit großer Präzision abzuschätzen, welche Karten auftauchen mußten; sein Gedächtnis funktionierte ausgezeichnet, und seine harmlose Miene lockte manchen nichtsahnenden Erwachsenen in die Falle. Ich bewunderte Henry. Er konnte einen Engel bluffen. Polly beherrschte das Spiel auch recht gut, und sogar William vermochte einen ›Flush‹ von einem ›Full house‹ zu unterscheiden. Sie spielten schon eine ganze Weile. Henry besaß wie gewöhnlich dreimal soviel Spielmarken wie irgendein anderer. Polly sagte: »Henry hat alles gewonnen, deswegen mußten wir neu aufteilen und von vorne anfangen.« Henry grinste. Ich nahm ihm zehn Chips ab und setzte mich zu ihnen. Joan teilte aus. Sie gab mir zwei Fünfen, und ich zog mir eine dazu. Henry legte nur zwei Karten ab, ließ sich ein Paar dafür geben und machte ein zufriedenes Gesicht. Die anderen gaben innerhalb der ersten beiden Runden auf. Dann erkühnte ich mich, zwei weitere Marken in die Mitte zu -22-
legen. »Ich erhöhe um zwei, Henry«, sagte ich. Henry warf mir einen Blick zu, um sich zu vergewissern, daß ich ihn auch beobachtete, dann tat er sehr unentschlossen, trommelte mit den Fingern auf den Tisch und seufzte. Da ich wußte, wie gern er bluffte, nahm ich an, daß er hervorragende Karten hatte und mir nur möglichst viele Marken abnehmen wollte. »Ich gehe mit und erhöhe um einen«, sagte er schließlich. Ich wollte noch zwei Marken hinzugeben, besann mich aber anders und sagte: »Nein, mein Lieber, mit mir nicht«, und ich warf meine Karten hin. Ich schob ihm die vier Marken zu. »Da, hier hast du; mehr bekommst du diesmal nicht.« »Was hast du denn gehabt, Alan?« Polly drehte meine Karten um und zeigte die drei Fünfen. Henry grinste. Sanft legte er seine Karten mit dem Bild nach oben auf den Tisch. Er hatte zwei Könige. Nur zwei. »Diesmal habe ich dich erwischt, Alan«, meinte er vergnügt. William und Polly ächzten. Wir spielten, bis ich meine Ehre gerettet und Henry eine hübsche Anzahl Marken abgenommen hatte. Dann war Schlafenszeit für die Kinder, und ich ging hinauf, um nach Scilla zu sehen. Sie lag wach im Dunkeln. »Komm ’rein, Alan.« Ich trat ans Bett und knipste die Nachttischlampe an. Sie hatte den ersten Schock überwunden und wirkte ruhig und beherrscht. »Hast du Hunger?« fragte ich. »Stell dir vor, ich möchte wirklich etwas essen«, sagte sie überrascht. Ich ging nach unten, und Joan machte etwas zu essen. Ich trug das Tablett hinauf. Später erzählte sie mir, wie sie Bill kennengelernt hatte, wie sie einander begegnet waren, wie schön -23-
alles gewesen wäre. Ihre Augen glänzten. Sie sprach sehr lange von Bill, und ich unterbrach sie nicht, bis ihre Lippen zu zittern begannen. Dann erzählte ich ihr von Henry und seinen zwei Königen; sie lächelte und wurde wieder ruhiger. Ich hätte sie gerne gefragt, ob Bill in letzter Zeit in Schwierigkeiten gewesen oder irgendwie bedroht worden wäre, aber das hatte noch Zeit. Ich wartete, bis sie ein Schlafmittel genommen hatte, knipste das Licht aus und sagte ihr gute Nacht. Als ich mich in meinem Zimmer auszog, spürte ich erst, wie müde ich war. Ich fiel buchstäblich ins Bett und schlief sofort ein. Eine halbe Stunde später schüttelte mich Joan. »Mr. York, wachen Sie doch auf. Ich habe schon eine Ewigkeit an Ihre Tür geklopft.« »Was ist denn los?« »Sie werden am Telefon verlangt.« »Das darf doch nicht wahr sein«, stöhnte ich. Ich schaute auf die Uhr. Elf. Ich wankte die Treppe hinunter. »Hallo?« »Mr. Alan York?« »Ja.« »Bleiben Sie bitte am Apparat.« Es knackte ein paarmal. Ich gähnte. »Mr. York? Ich soll Ihnen etwas von Inspektor Lodge ausrichten. Er möchte, daß Sie morgen nachmittag um vier Uhr ins Polizeirevier nach Maidenhead kommen.« »Gut, ich werde da sein«, sagte ich. Ich legte auf, ging ins Bett zurück und schlief wie ein Murmeltier. Lodge erwartete mich. Er stand auf, gab mir die Hand und deutete auf einen Stuhl. Bis auf einen Aktendeckel war die -24-
Schreibtischplatte völlig leer. Hinter mir an einem kleinen Tisch in der Ecke saß ein uniformierter Wachtmeister mit Notizblock und Bleistift. »Ich habe hier ein paar Vernehmungsniederschriften«, Lodge tippte auf die Akte, »über die ich mit Ihnen sprechen möchte. Danach muß ich Sie einiges fragen.« Er schlug die Akte auf und nahm zwei Blätter heraus. »Das hier ist die Aussage von Mr. G. L. Dace, Rennleiter in Maidenhead. Er gibt an, daß neun Aufseher, also jene Männer, die neben den Hindernissen stehen, um sie während des Rennens notfalls wieder aufzubauen, fest angestellt sind. Bei dem bewußten Rennen waren nur drei Aufseher neu.« Lodge nahm das nächste Blatt zur Hand. »Das ist die Aussage George Watkins’, eines der fest angestellten Aufseher. Er erklärt, daß die Männer unter sich auslosen, wer welches Hindernis zu übernehmen hat. Am Freitag wurde wie üblich gelost, aber am Samstag erbot sich einer der Neulinge, das am weitesten entfernte Hindernis zu übernehmen. Niemand machte das gerne freiwillig, sagte Watkins, weil man zwischen den Rennen nicht zu den Buchmachern zurückgehen könne. Man war also froh, daß der Fremde das Hindernis übernahm, und loste nur die übrigen aus.« »Wie sah denn dieser Aufseher aus?« erkundigte ich mich. »Sie haben ihn doch selbst gesehen«, meinte Lodge. »Nein, nicht richtig«, sagte ich. »Für mich war er nur irgendein Mann, ich habe ihn nicht angesehen. Bei jedem Hindernis steht mindestens eine Aufsichtsperson. Ich würde keine davon wiedererkennen.« »Watkins denkt, daß er diesen Mann wiedererkennen würde, aber er vermag ihn nicht zu beschreiben. Unauffällig, sagte er. Nicht groß, nicht klein. In mittlerem Alter, glaubt er. Er trug eine Mütze, einen alten, grauen Anzug und einen weiten Mantel.« -25-
»So sehen sie alle aus«, sagte ich düster. »Er nannte sich Thomas Cook«, fuhr Lodge fort. »Im Augenblick habe er keine Arbeit, aber nächste Woche werde er eine Stellung annehmen; in der Zwischenzeit wolle er sich ein paar Shillinge verdienen. Sehr plausibel, nichts Ungewöhnliches an ihm, behauptet Watkins. Allerdings sprach er wie ein Londoner, nicht mit einem Berkshire-Akzent.« Lodge nahm ein drittes Blatt aus der Akte. »Hier die Aussage von John Russell, einem der Sanitäter. Er erklärt, neben dem ersten Hindernis auf der Geraden gestanden zu haben. Wegen des Nebels konnte er nur drei Hindernisse sehen: das, neben dem er stand, das nächste auf der Geraden und das am weitesten entfernte, an dem Major Davidson stürzte. Als Russell gesehen hatte, wie Major Davidson aus dem Sattel fiel, ging er auf das Hindernis zu; Sie ritten an ihm vorbei und schauten sich um. Er begann zu laufen. Er fand Major Davidson auf dem Boden liegend vor.« »Hat er den Draht gesehen?« fragte ich schnell. »Nein. Ich wollte von ihm wissen, ob er irgend etwas Ungewöhnliches bemerkt habe. Von Draht sprach ich nicht. Er verneinte.« »Hat er nicht gesehen, daß der Aufseher den Draht zusammenrollte, während er auf ihn zu lief?« »Ich fragte ihn, ob er Major Davidson oder den Aufseher habe sehen können, während er auf die beiden zurannte. Er meinte, das sei wegen der scharfen Kurve und der Hecken erst aus nächster Nähe möglich gewesen. Er lief wohl um die Bahn, statt den kürzesten Weg zu wählen, der ihn durch das hohe, nasse Gras geführt hätte.« »Ich verstehe«, sagte ich niedergeschlagen. »Und was tat der Aufseher, als Russell ankam?« »Er stand neben Major Davidson und starrte auf ihn hinunter; -26-
angeblich habe er ein erschrockenes Gesicht gemacht. Das überraschte Russell, weil ihm Major Davidson nur leicht verletzt zu sein schien. Er winkte mit seiner weißen Flagge, der nächste Sanitäter sah es und gab das Signal weiter.« »Und was trieb der Aufseher dann?« »Nichts Besonderes. Er blieb am Hindernis stehen, nachdem der Krankenwagen Major Davidson abgeholt und Russell erklärt hatte, daß er dort gewesen sei, bis das letzte Rennen abgeblasen wurde.« Ich versuchte, mich an einen Strohhalm zu klammern und sagte: »Ist er mit den andern Aufsehern zum Tribünenbau gegangen, um sich auszahlen zu lassen?« Lodge sah mich interessiert an. »Nein«, sagte er. »Das hat er nicht getan.« Er nahm sich das nächste Blatt vor. »Diese Aussage stammt von Peter Smith, Pferdebursche im Stall Gregory, wo ›Admiral‹ trainiert wird. Er gibt an, daß ›Admiral‹ davongelaufen sei und versucht habe, eine Schwarzdornhecke zu überspringen. Das Pferd schaffte es nicht; es stand zitternd und blutend davor. Man fand zahlreiche Schürfwunden.« Er sah auf. »Wenn der Draht irgendeine Spur hinterlassen hatte, so ist sie jetzt jedenfalls nicht mehr zu finden.« »Sie haben sehr schnell und gründlich gearbeitet«, meinte ich. »Ja. Glücklicherweise waren alle Leute gleich aufzutreiben.« Ein Blatt blieb noch übrig. Lodge nahm es zur Hand und sagte: »Das ist der Obduktionsbericht. Als Todesursache wurde angegeben ›multiple innere Verletzungen‹. Man stellte einen Leberund Milzriß fest.« Er lehnte sich zurück und betrachtete seine Hände. »Nun, Mr. York, man hat mich angewiesen, Ihnen einige Fragen zu stellen, die« – er sah mich plötzlich an –, »die Ihnen nicht angenehm sein werden. Ich muß Sie trotzdem bitten, sie mir zu beantworten.« Er lächelte freundlich. »Schießen Sie los«, sagte ich. -27-
»Lieben Sie Mrs. Davidson?« Ich fuhr hoch. »Nein«, sagte ich. »Aber Sie wohnen bei ihr?« »Ich wohne mit der ganzen Familie zusammen«, gab ich zurück. »Warum?« »Ich habe in England kein Zuhause. Als ich Bill Davidson kennenlernte, lud er mich übers Wochenende in sein Haus ein. Es gefiel mir dort sehr gut, und anscheinend mochte man mich. Jedenfalls wurde ich oft eingeladen. Bill und Scilla schlugen mir schließlich vor, ich solle ganz zu ihnen ziehen. Ein- oder zweimal wöchentlich übernachte ich in London.« »Wie lange wohnen Sie schon bei den Davidsons?« fragte Lodge. »Etwa sieben Monate.« »Kamen Sie mit Major Davidson gut aus?« »Natürlich, sehr gut sogar.« »Und auch mit Mrs. Davidson?« »Allerdings.« »Aber Sie lieben sie nicht?« »Ich habe sie sehr gern. Wie eine ältere Schwester«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen. »Sie ist zehn Jahre älter als ich.« Lodges Gesichtsausdruck besagte deutlich, daß es hier nicht aufs Alter ankam. Erst jetzt bemerkte ich, daß der Wachtmeister in der Ecke meine Antworten niederschrieb. »Sie hatte nur Augen für ihren Mann und er für sie.« Lodges Mundwinkel zuckten. Irgendwie schien ihn das zu amüsieren. »Soviel ich gehört habe, war Major Davidson der beste Amateur im Hindernisrennsport?« -28-
»Ja.« »Und Sie lagen vor einem Jahr hinter ihm an zweiter Stelle, nachdem Sie erstmals eine Saison lang in England geritten waren?« Ich starrte ihn an. »Sie sind aber plötzlich sehr gut unterrichtet.« »Waren Sie im vergangenen Jahr zweitbester Amateur hinter Major Davidson? Wären Sie nicht diesmal wieder Zweiter geworden? Ist es nicht ebenfalls wahrscheinlich, daß Sie in Zukunft die Rangliste der Amateur Jockeys anführen?« »Ja zu eins, ja zu zwei und hoffentlich zu Nummer drei«, meinte ich. Der Sinn dieser Fragen war nur allzu deutlich, aber ich dachte gar nicht daran, ungebeten meine Unschuld zu beteuern. Ich wartete ab. Eine ganze Minute verging. Dann grinste Lodge. »Nun, ich glaube, das wäre alles, Mr. York. Man wird Ihre gestrige Aussage und diese Vernehmung abtippen. Ich möchte Sie bitten, das Ganze dann zu lesen und zu unterschreiben.« Der Polizist mit dem Notizbuch stand auf und ging in das andere Büro. »Die gerichtliche Untersuchung über Major Davidsons Tod wird am Donnerstag abgehalten«, sagte Lodge. »Man wird Sie als Zeugen brauchen; ebenso Mrs. Davidson, wegen der Identifizierung. Wir setzen uns mit ihr in Verbindung.« Er unterhielt sich mit mir über den Rennsport, bis die Niederschrift fertig war. Ich las sie sorgfältig durch und unterschrieb. Er stand auf, streckte mir die Hand entgegen, und ich schüttelte sie. Er war mir sympathisch. Ich fragte mich nur, wer ihn angewiesen hatte, festzustellen, ob ich für das Verbrechen, das ich gemeldet hatte, selbst die Verantwortung trug.
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3 Zwei Tage später ritt ich in Plumpton. Die Polizei und auch Sir Creswell waren bei ihren Nachforschungen sehr vorsichtig zu Werke gegangen, denn im Wiegeraum wurden über Bills Tod keine Mutmaßungen angestellt. Clem gab mir meine Breeches, ein dünnes Unterhemd, einen frischen, weißen Schal und ein Paar Nylonstrümpfe. Ich zog mich an. Mit Hilfe der Nylonstrümpfe konnte ich leicht in die weichen, hellen Reitstiefel schlüpfen. Clem reichte mir den dicken, weißbraun karierten Wollpullover und die braune, seidene Mütze. Ich zog den Pullover über und stülpte die Mütze auf meinen Sturzhelm. »Nur das eine Rennen heute, Sir?« fragte Clem. Er nahm zwei breite Gummibänder aus der Tasche und streifte sie über meine Handgelenke. Damit wurden die Ärmel festgehalten, so daß der Wind nicht hineinblasen konnte. »Ja«, sagte ich. »Bis jetzt jedenfalls.« »Wollen Sie sich einen leichten Sattel ausleihen? Sie überschreiten sonst am Ende die Gewichtsgrenze.« »Nein«, sagte ich. »Ich möchte lieber meinen eigenen Sattel nehmen. Ich lasse gleich einmal feststellen, wieviel Übergewicht ich habe.« »Gut.« Ich ging mit Clem hinüber, nahm meinen Sattel mit und wog mich. Ich hatte vier Pfund mehr, als die Rennleitung bei meinem Pferd für gut hielt. Clem trug den Sattel zurück, und ich legte den Helm auf die Bank. »Ich nehme das Übergewicht in Kauf, -30-
Clem«, sagte ich. »In Ordnung.« Er eilte davon, um einen anderen Jockey zu bedienen. Ich hätte durch Verwendung eines leichteren Sattels und dünnerer Kleidung das verlangte Gewicht erhalten können, aber da ich mein eigenes Pferd ritt, konnte ich tun, was mir beliebte, und außerdem vertrug es keine kleinen Sättel. ›Forlorn Hope‹, meine jüngste Neuerwerbung, war ein kräftiger, brauner Wallach, erst fünf Jahre alt. Er schien sich gut zu entwickeln, aber er brauchte eben noch Erfahrung. Seine Unzuverlässigkeit als Sprungpferd hatte Scilla am Abend zuvor veranlaßt, mich zu bitten, ich solle ihn doch nicht in Plumpton reiten, weil die Bahn für junge Pferde zu gefährlich sei. »Tu’s nicht, Alan«, meinte sie. »Nicht in Plumpton. Du weißt, daß es mit ›Forlorn Hope‹ zu riskant ist. Du mußt es doch nicht. Warum bist du so eigensinnig?« »Es macht mir Spaß.« »Laß einen anderen reiten, bitte.« »Wozu schaffe ich mir ein Pferd an, wenn ich es nicht selber reite? Deswegen bin ich doch überhaupt nach England gekommen. Du weißt es genau.« »Es wird dir wie Bill gehen.« Sie begann zu weinen, hilflos, erschöpft. »Nein, ganz bestimmt nicht. Wenn Bill bei einem Autounfall ums Leben gekommen wäre, würdest du auch nicht erwarten, daß ich nie mehr einen Wagen steuere.« Ich machte eine Pause, aber sie weinte immer noch. »Auf den Straßen kommen weitaus mehr Menschen ums Leben als auf der Rennbahn«, sagte ich. Entrüstet klärte sie mich darüber auf, wie viele Menschen auf der Straße seien, und wie wenige sich dagegen an Pferderennen beteiligten. -31-
»Bei Hindernisrennen kommen kaum Todesfälle vor«, versuchte ich es noch einmal. »Bill war…« »Nur einer im Jahr, aus Hunderten und Aberhunderten«, fuhr ich fort. »Bill ist der zweite seit Weihnachten.« »Ja.« Ich sah sie von der Seite an. Sie hatte immer noch Tränen in den Augen. »Scilla, hatte Bill eigentlich in der letzten Zeit Ärger?« »Wie kommst du denn darauf?« fragte sie entgeistert. »Nun?« »Selbstverständlich nicht.« »Er hatte keine Sorgen?« drängte ich. »Nein. Ist dir etwas aufgefallen?« »Nein«, sagte ich. Und es stimmte auch. Bill hatte eine hübsche Frau, drei nette Kinder, ein schönes Haus, ein beträchtliches Vermögen gehabt und war der beste Hindernisreiter in ganz England gewesen. »Warum fragst du dann?« erkundigte sich Scilla. Ich brachte ihr vorsichtig bei, daß Bills Sturz nicht auf einen Unfall zurückzuführen war. Ich erzählte ihr von dem Draht und von Lodges Nachforschungen. Sie saß da wie betäubt. »O nein«, sagte sie. »O nein, nein.« Als ich jetzt vor dem Wiegeraum in Plumpton stand, sah ich immer noch ihr entsetztes Gesicht vor mir. Sie hatte keine Einwendungen mehr gegen meinen Ritt erhoben… Eine kräftige Hand legte sich auf meine Schulter. Sie gehörte Pete Gregory, dem Trainer, einem stämmigen Mann von beinahe eins achtzig, der schon kahlköpfig wurde, aber zu seiner -32-
Zeit einer der waghalsigsten Reiter gewesen war. »Tag, Alan. Freut mich, daß du da bist. Ich habe dich schon für dein Pferd im zweiten Rennen eintragen lassen.« »Wie geht’s ihm denn?« fragte ich. »Ganz gut. Er ist noch ein bißchen mager.« ›Forlorn Hope‹ befand sich erst seit einem Monat in seinem Stall. »Du darfst ihn beim ersten Mal nicht überanstrengen, sonst schafft er es nicht bis ins Ziel. Er braucht noch sehr viel Zeit.« »Okay«, sagte ich. »Gehen wir hinaus und sehen wir uns den Boden an«, sagte Pete. »Ich möchte mit dir sprechen.« Wir gingen durchs Tor auf die Bahn und drückten unsere Absätze in den Turf. Sie sanken zwei Zentimeter tief ein. »Nicht schlecht, wenn man an den vielen Schnee denkt, der inzwischen geschmolzen ist.« »Hübsch weich für dich, wenn du hinfällst«, grinste Pete. Wir stiegen die Anhöhe zur nächsten Hürde hinauf. Der Boden auf der Aufsprungseite war etwas zu weich, aber wir wußten, daß man die andere Seite der Bahn besser entwässert hatte. »Hast du ›Admiral‹ in Maidenhead stürzen sehen?« fragte Pete plötzlich. Er war zu diesem Zeitpunkt in Irland gewesen, um ein Pferd zu kaufen, und gerade erst zurückgekommen. »Ja. Ich befand mich etwa zehn Längen hinter ihm«, erwiderte ich. »Und?« »Was und?« sagte ich. »Was war los? Warum ist er gestürzt?« Seine Stimme klang drängend. Ich sah ihn an. Ich wußte nicht, wie es kam, aber ich wich ihm aus. »Er ist eben gestürzt«, sagte ich. »Als ich das Hindernis übersprang, lag er auf dem Boden, Bill unter sich.« -33-
»Hat ›Admiral‹ das Hindernis also ganz falsch angesprungen?« meinte er. »Soweit ich sehen konnte, nein. Er kam eben nicht hoch genug.« »Und sonst… war nichts?« Petes Augen funkelten. »Was meinst du damit?« »Nichts. Wenn du nichts gesehen hast…« Wir schlenderten zurück. Ich grübelte darüber nach, warum ich Pete nicht die Wahrheit gesagt hatte. Ich zweifelte nicht daran, daß er es nie fertig gebracht hätte, das Leben eines Freundes in Gefahr zu bringen, aber warum war er so erleichtert, als ich ihm versichert hatte, daß mir nichts aufgefallen wäre? Ich hatte mich eben entschlossen, ihn um eine Erklärung zu bitten, und alles zu erzählen, was geschehen war, als er mir zuvorkam. »Trittst du im Amateur-Jagdrennen an, Alan?« fragte er lächelnd. »Nein«, sagte ich. »Pete, hör mal…« Aber er unterbrach mich. »Vor fünf oder sechs Tagen ist ein Pferd bei mir eingetroffen, das heute im Jagdrennen starten soll. Ein Brauner. Recht ordentliches Tier. Er stammt aus einem kleinen Stall im Westen, und der neue Eigentümer möchte das Pferd gerne laufen sehen. Ich wollte dich heute früh telefonisch verständigen, aber du warst schon weg.« »Wie heißt er denn?« fragte ich. »Heavens Above.« »Nie davon gehört. Was hat er denn geleistet?« fragte ich. »Nun, nichts Besonderes. Er ist selbstverständlich noch ein junges Tier…« »Na, komm schon, ’raus mit der Sprache!« Pete seufzte und gab nach. »Er ist überhaupt erst zweimal -34-
gelaufen, und zwar im vergangenen Herbst in Devon. Er stürzte nicht, aber er – äh – entledigte sich beide Male seiner Jockeys. Aber auf der Übungsbahn hat er heute früh alle Hindernisse glatt übersprungen. Ich glaube, daß du ihn ohne Schwierigkeiten ins Ziel bringen könntest, und nur darauf kommt es zunächst an.« »Pete, ich sage nicht gern nein, aber ich…« begann ich. »Die Eigentümerin rechnet so sehr damit, daß du ihn reitest. Es ist ihr erstes Pferd, und es startet zum erstenmal unter ihrem Namen. Ich habe sie mitgebracht. Sie ist sehr aufgeregt. Ich versprach ihr, dich zu fragen…« »Ich glaube nicht…»versuchte ich es noch einmal. »Du kannst sie aber doch zumindest kennenlernen«, drängte Pete. »Du weißt, daß es dann noch viel schwerer ist, nein zu sagen«, erwiderte ich. Pete leugnete es nicht. »Das ist wohl wieder mal eine von deinen netten, alten Damen, die kurz vor dem Eintritt ins Altersheim steht, aus dem sie nie mehr zurückkommen wird, und die nun zum letztenmal etwas erleben will?« Mit dieser traurigen Geschichte hatte mich Pete vor einiger Zeit gegen meine bessere Erkenntnis auf ein schlechtes Pferd gelockt. Die alte Dame sah ich übrigens auch nachher fast auf jedem Rennplatz. »Diesmal handelt es sich nicht um eine nette, alte Dame«, erklärte Pete. Wir blieben am Sattelplatz stehen. Pete sah sich um und winkte schließlich. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie eine Frau auf uns zuging. Ich konnte den Rückzug nicht mehr antreten, wenn ich nicht ausgesprochen unhöflich erscheinen wollte. Es blieb mir gerade noch Zeit, Pete einen Fluch ins Ohr zu zischen, bevor ich mich umdrehte, um der neuen -35-
Eigentümerin von ›Heavens Above‹, dem Pferd mit der Allergie gegen Jockeys, vorgestellt zu werden. »Miss Ellery-Penn, Alan York«, sagte Pete. Ich war schon verloren, bevor sie überhaupt etwas sagte. Anstelle irgendeiner Höflichkeitsfloskel erklärte ich schlicht: »Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihr Pferd zu reiten.« Pete lachte schallend. Sie war bildschön. Sie hatte ebenmäßige Züge, eine herrliche Haut, graue Augen, schwarzes, schimmerndes Haar, das ihr fast bis auf die Schultern fiel. Und sie wußte sehr wohl von ihrer Wirkung auf Männer, aber das war zu verstehen. »Na schön«, meinte Pete. »Ich lasse dich für das AmateurRennen eintragen. Es ist das vierte. Die Sachen gebe ich dem.« Er entfernte sich in Richtung Wiegeraum. »Ich bin sehr froh darüber, daß Sie mein Pferd reiten wollen«, sagte die junge Dame. »Es ist ein Geburtstagsgeschenk. Ziemlich ausgefallen, nicht wahr? Mein Onkel George, ein sehr lieber Mensch, aber doch ein bißchen exzentrisch, hatte in der ›Times‹ inseriert. Meine Tante erzählte mir, daß er fünfzig Angebote bekam und dieses Pferd kaufte, ohne es gesehen zu haben, weil ihm der Name gefiel. Er meinte, ein Pferd zum Geburtstag sei doch etwas Amüsanteres als die übliche Perlenkette.« »Ihr Onkel George scheint ein faszinierender Mann zu sein«, erwiderte ich. »Aber es ist ein wenig anstrengend, mit ihm zusammenzuleben.« »Sie wohnen bei ihm?« fragte ich. »O ja. Meine Eltern ließen sich vor langer Zeit scheiden. Wo sie heute sind, weiß niemand.« »Das tut mir leid.« »Nicht nötig, ich kann mich an beide nicht erinnern. Sie -36-
hinterließen mich, bildlich gesprochen, im zarten Alter von zwei Jahren auf Onkel Georges Türschwelle.« »Onkel George hat gute Arbeit geleistet«, sagte ich und starrte sie bewundernd an. Sie akzeptierte das Kompliment ohne Verlegenheit, gleichsam als selbstverständlichen Tribut. »Eigentlich war es Tante Deb. Sie ist doch ein bißchen mehr auf Draht als Onkel George. Aber man muß einfach beide gern haben.« »Sind sie heute hier?« erkundigte ich mich. »Nein«, erwiderte Miss Ellery-Penn. »Onkel George meinte, er habe mir den Zugang zu einer neuen Welt geöffnet, in der es nur tapfere und charmante junge Männer gebe; ältere Verwandte könnten sich da nur als Hindernis erweisen.« »Onkel George wird mir von Minute zu Minute sympathischer«, sagte ich. Miss Ellery-Penn schenkte mir ein strahlendes Lächeln, das jeder Verheißung ermangelte. »Haben Sie ›Heavens Above‹ gesehen? Ist er nicht wunderbar?« meinte sie. »Ich habe ihn nicht gesehen. Bis vor fünf Minuten wußte ich noch gar nicht, daß es ihn gibt. Wie kam es eigentlich, daß ihn Onkel George zu Pete Gregory schickte? Hat er sich den Stall auch auf gut Glück ausgesucht?« Sie lachte. »Nein, das war genau festgelegt. Er meinte, wenn das Pferd zu Mr. Gregory käme, könnte ich einen Major Davidson dazu bewegen, für mich zu reiten.« Sie dachte einen Augenblick nach und runzelte die Stirn. »Er war sehr bedrückt, als er am Montag in der Zeitung las, daß Major Davidson verunglückt war.« »Hat er ihn gekannt?« fragte ich uninteressiert, ohne den Blick von ihren herrlich geschwungenen Lippen zu lassen. -37-
»Nein, ich bin sicher, daß er ihn nicht persönlich kannte. Wahrscheinlich kannte er seinen Vater. Er scheint nämlich die Väter fast aller Leute zu kennen. Er sagte nur schockiert: ›Großer Gott, Davidson ist tot‹ und frühstückte weiter. Tante Deb und ich mußten ihn viermal um die Marmelade bitten, ehe er uns hörte!« »Und das war alles?« »Ja. Warum fragen Sie?« »Oh, aus keinem besonderen Grund«, meinte ich. »Bill Davidson und ich waren befreundet.« Sie nickte. »Ich verstehe.« Damit war das Thema für sie erledigt. »Was habe ich denn jetzt in meiner neuen Rolle als Eigentümerin eines Rennpferdes zu tun? Ich möchte nicht schon am ersten Tag als Dummkopf dastehen. Ratschläge und Empfehlungen wären mir sehr willkommen, Mr. York.« »Alan heiße ich«, sagte ich. Sie warf mir einen abschätzenden Blick zu. Er bewies deutlich, daß sie trotz ihrer Jugend Erfahrungen darin besaß, unwillkommene Aufmerksamkeiten abzuwehren und sich nicht in Beziehungen einzulassen, auf die sie nicht vorbereitet war. Aber sie lächelte schließlich und sagte: »Und ich Kate.« Sie verlieh ihren Vornamen wie ein Geschenk; ich nahm es dankbar entgegen. »Wieviel wissen Sie über den Rennsport?« fragte ich. »Gar nichts. Ich habe noch nie zuvor meinen Fuß auf den Turf gesetzt«, erwiderte sie mit ein wenig Ironie. »Reiten Sie selbst?« »Keineswegs.« »Vielleicht ist Ihr Onkel George Pferdeliebhaber? Nimmt er an Fuchsjagden teil?« meinte ich. »Onkel George hat für Pferde überhaupt nichts übrig. Ein Ende schlägt aus, das andere beißt, sagt er immer, und von -38-
Fuchsjagden will er schon überhaupt nichts hören.« Ich lachte. »Vielleicht wettet er.« »Onkel George soll schon einmal am Tag des Endspiels um den Fußballpokal gefragt haben, wer das Derby gewonnen hat.« »Warum dann also ›Heavens Above‹?« »Zur Erweiterung meines Horizonts, meinte Onkel George. Meine Erziehung hat sich in den üblichen Schulen und auf einer sehr gut bewachten Europareise abgespielt. Ich sollte einmal etwas anderes atmen als Museumsluft, sagte Onkel George.« »Und deshalb hat er Ihnen zum 21. Geburtstag ein Rennpferd geschenkt«, erklärte ich sachlich. »Ja«, sagte sie. Dann sah sie mich scharf an. Ich grinste. Diesmal hatte ich sie überrumpelt. »Als Eigentümerin haben Sie nichts Besonderes zu tun«, sagte ich. »Sie müssen nur vor dem vierten Rennen hinübergehen, um zuzusehen, wie Ihr Pferd gesattelt wird. Dann begeben Sie sich mit Pete auf den Paradeplatz, wo Sie herumstehen und intelligente Bemerkungen übers Wetter fallen lassen, bis ich erscheine, aufsitze und an den Start gehe.« »Und was mache ich, wenn ›Heavens Above‹ gewinnt?« »Rechnen Sie denn damit?« fragte ich. Ich war mir nicht im klaren darüber, wieviel sie von ihrem Pferd wußte. »Mr. Gregory meint, er könne nicht gewinnen.« Ich war erleichtert. »Nach dem Rennen werden wir besser über ›Heavens Above‹ Bescheid wissen. Aber wenn er unter den ersten drei ist, wird er da unten, gegenüber dem Wiegeraum, abgesattelt. Im anderen Fall finden Sie uns hier auf dem Rasenplatz.« Das erste Rennen mußte bald beginnen. Ich geleitete Miss Ellery-Penn zur Tribüne und verfuhr gemäß Onkel Georges Plan, indem ich sie mehreren mutigen und charmanten jungen -39-
Männern vorstellte. Unglücklicherweise begriff ich sofort, daß ich im Rennen um Miss Ellery-Penns Gunst nur unter ›ferner liefen‹ eingestuft sein würde, sobald ich von meinem Ritt zurückkam. Nachdem wir das erste Rennen beobachtet hatten, entfernte ich mich, während sich Kate noch überlegte, welcher ihrer neuen Bekannten die Ehre haben sollte, sie zum Kaffeetrinken zu führen. Als ich mich umsah, strebte sie mit einer großen Gruppe von Bewunderern dem Erfrischungsraum zu. Zum erstenmal in meinem Leben bedauerte ich, in einem Rennen antreten zu müssen.
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4 Im Umkleideraum hielt Sandy Mason wieder einmal eine Brandrede, die Hände in die Hüften gestemmt. Er war ein stämmiger Mann um die Dreißig, ziemlich klein, rothaarig, kräftig; unter seinen blaßroten Wimpern zeigten sich erstaunlich schöne, dunkelbraune Augen. Er war Jockey von Beruf und gehörte als solcher nicht zu den zwölf Besten, aber vor allem dank seines Kampfgeistes hatte er recht viel Erfolg gehabt. Nichts konnte ihm Angst einjagen. Er trieb seine manchmal unwilligen Pferde in die schmälsten Öffnungen hinein, gelegentlich sogar in Öffnungen, die nicht existierten, bis er sie durch Gewalt einfach erzwang. Seine Aggressivität bei Rennen hatte ihn mehrmals in Konflikt mit den Rennkommissionen gebracht, aber dank seiner unverwüstlichen guten Laune war er bei den anderen Jockeys nicht unbeliebt. »Wer von euch Gaunern hat mir denn meine Balancierstange geklaut?« röhrte er mit einer Stimme, die trotz der allgemeinen Unterhaltung bis in jeden Winkel drang. Auf diese Frage nach dem Verbleib seiner Peitsche erhielt er aber keine Antwort. »Warum steht ihr nicht mal auf und seht nach, ob ihr sie bebrütet?« sagte er zu drei oder vier Jockeys, die auf einer Bank saßen und ihre Stiefel anzogen. Sie hoben erwartungsvoll die Köpfe und lauschten dem Rest der Schimpfkanonade. Sandy wiederholte sich nicht einmal, bis schließlich einer der Pferdeburschen die gesuchte Peitsche brachte. »Wo hast du sie denn gefunden?« fragte Sandy. »Wer hat sie gehabt? Dem werde ich mal Bescheid stoßen.« »Sie lag auf dem Boden unter der Bank, an Ihrem eigenen Platz.« -41-
Sandy machten seine Fehler nie verlegen. Er lachte dröhnend und nahm die Peitsche. »Diesmal will ich euch noch verzeihen«, meinte er. Er trat mit dem Sattel in den Wiegeraum hinaus und ließ seine Peitsche durch die Luft sausen, wie um sich zu vergewissern, ob sie noch biegsam genug sei. Er benützte sie im Verlauf eines Rennens sehr häufig. Als er an mir vorbeiging, warf er mir einen seiner fröhlichen Blicke zu, die ihn trotz seiner Fehler liebenswert machten. Ich drehte mich um und beobachtete ihn. Er setzte sich auf die Waage und legte die Peitsche auf den Tisch. Er sagte etwas, das ich nicht verstand, und sowohl der Wiegemeister als auch der Zielrichter, der sich hier die einzelnen Farben einprägte, um sie genau unterscheiden zu können, lachten, als sie ihn auf ihren Listen abhakten und für das Rennen freigaben. Man hatte früher einmal gemunkelt, Sandy habe ein paar Pferde ›stehenlassen‹ und sei dafür von Buchmachern gut bezahlt worden. Bewiesen worden war jedoch nichts, und die amtliche Untersuchung hatte kaum eine Stunde gedauert. Jene Leute, die Opfer von Sandys Streichen geworden waren, glaubten, daß er zu allem fähig sei. Alle anderen dagegen erklärten, jemand, der wegen zu rücksichtslosen Reitens in Schwierigkeiten gekommen sei, würde es niemals riskieren, ein Pferd stehenzulassen. Als ich beobachtete, wie sicher und selbstbewußt er mit den beiden Offiziellen umging, konnte ich verstehen, daß man ihn für unschuldig gehalten hatte, zumal positive Beweise ja nicht vorgelegt worden waren. Unter den Jockeys herrschte allgemein die Meinung, daß Sandy ein paar Pferde ›abgewürgt‹ hatte, aber jedenfalls nicht mehr während der vergangenen Monate. Man kann ein Pferd ›stehenlassen‹, indem man zu spät startet, ein paar Längen hinter den anderen weggeht und hübsch hinten bleibt. Dann kann der unehrliche Jockey vom vorletzten Hindernis ab, wo ihn die Zuschauer genau beobachten, ein relativ ehrliches Finish reiten, in dem Bewußtsein, daß er von -42-
hier aus keinesfalls mehr zu gewinnen vermag. Es kommt sehr selten vor, weil ein Jockey, der so etwas regelmäßig macht, sehr bald arbeitslos ist. Während der eineinhalb Rennsaison, die ich nun schon ritt, hatte ich es erst zweimal gesehen. In beiden Fällen war es derselbe Mann gewesen, ein blonder, pausbäckiger Jüngling namens Joe Nantwich. Beim zweiten Male, vor etwa drei Monaten, hatte er nur mit Glück seine Lizenz behalten, denn er war dumm genug gewesen, den Versuch in einem Rennen zu unternehmen, wo David Stampe, der geschwätzige jüngere Sohn des Vorsitzenden der Rennkommission, als Jockey startete. Joe, und meiner Überzeugung nach auch Sandy, hatten sich beide bereit gefunden, absichtlich Pferde zurückzuhalten, die sonst hätten gewinnen müssen. Sie hatten sich, um ganz offen zu sein, des Betruges schuldig gemacht. Aber war ich eigentlich recht viel besser, dachte ich, als ich meinen Helm aufsetzte und den Sattel zur Waage trug? Ich wollte doch ›Forlorn Hope‹ ganz sanft über die Hürden bringen. Ich hatte nicht die Absicht, ihn auszureiten, nur um ihn unter Umständen unter die ersten drei zu bringen. Er war noch nicht richtig fit, und ein zu hartes Rennen konnte ihm sehr schaden. Wenn sich mir allerdings durch unvorhergesehene Umstände, zum Beispiel durch einen Massensturz, eine Gewinnchance bot, gedachte ich sie schon zu ergreifen. Es ist ein Riesenunterschied zwischen ›Stehenlassen‹ und ›Nicht-alles-geben‹, aber für die Wetter zeigt sich da kein Unterschied. Sie verlieren ihr Geld. Ich trug meinen Sattel zu den Boxen hinaus, wo Pete bereits mit ›Forlorn Hope‹ wartete. Er sattelte ihn, und Rupert, der kleine Stallbursche, führte das Pferd auf den Paradeplatz hinaus. Pete und ich schlenderten hinterher und sprachen über die anderen Pferde. Kate war nirgends zu sehen. Als es soweit war, stieg ich auf und ritt auf die Bahn. Die vertraute Erregung stieg wieder in mir hoch. Weder Bills Tod noch Scillas Trauer, nicht einmal der Gedanke an Kate und ihre -43-
Bewunderer, vermochten das Glücksgefühl zu beeinträchtigen, das ich immer spürte, wenn ich an den Start ritt. Das Tempo des Rennens, die schnellen Entscheidungen, die Risiken – ich brauchte das einfach alles als Gegengewicht zu den Sicherheiten der Zivilisation. Man kann sich auch zu sicher fühlen. Vor allem jemand wie ich, dessen Vater nach der vierten Million aufgehört hatte, sein Vermögen zu zählen. Und mein Vater, der mich verstand, weil er an seine eigene Jugend dachte, hatte mir ohne jede Bedingung einen schnellen Wagen und drei gute Pferde gegeben. Ich war in einem fünftausend Meilen von zu Hause entfernten Land mein eigener Herr. Der Starter rief die Namen auf, während wir im Kreis herumritten und überprüften, ob die Sattelgurte fest genug angezogen waren. Joe Nantwich schob sich neben mich. »Fährst du nach dem Rennen zu den Davidsons zurück, Alan?« fragte er. Er sprach immer mit einer Vertraulichkeit, die mir unangenehm war, wenn ich das auch nicht zu zeigen versuchte. »Ja«, erwiderte ich. Dann fiel mir Kate ein. »Aber es kann ein bißchen spät werden.« »Nimmst du mich bis Epsom mit?« »Das ist nicht meine Richtung«, erwiderte ich höflich. »Aber du kommst doch durch Dorking. Dort kann ich einen Bus erwischen, wenn du nicht nach Epsom fahren willst. Ich bin mit jemand hergekommen, der nach Kent weiter will, und jetzt muß ich sehen, wie ich heimfinde.« Er ließ nicht locket, und obwohl ich der Meinung war, daß er auch jemand finden würde, der ihn direkt nach Epsom mitnehmen könnte, wenn er sich nur bemühte, gab ich schließlich nach. Wir nahmen Aufstellung für den Start. Ich befand mich in der Mitte zwischen Joe und Sandy, und nach den Blicken zu schließen, die sie sich zuwarfen, hatten sie wenig füreinander übrig. -44-
Sandy grinste verächtlich; Joes rundes Kindergesicht bekam einen weinerlichen Ausdruck. Ich stellte mir vor, daß Sandy Joes aufgeblasenes Selbstbewußtsein durch einen seiner Streiche gedämpft hatte, zum Beispiel, indem er die Stiefel des anderen mit Marmelade auffüllte. Dann ging es los, und ich konzentrierte mich ganz darauf, ›Forlorn Hope‹ so sauber, schnell und sicher wie möglich über den Kurs zu bringen. Er war noch sehr unerfahren und neigte dazu, vor den Hindernissen auszubrechen, aber er besaß sehr viel Sprungkraft. Zunächst lief er so gut, daß ich über die Hälfte des Rennens hinweg an dritter Stelle lag, wobei ich aber stets etwas nach außen drängte, damit er die Hindernisse deutlich sehen konnte. Die letzten vierhundert Meter hügelan waren jedoch zuviel für ihn, und wir landeten auf dem sechsten Platz. Ich wär’s zufrieden, und Scilla brauchte sich nicht zu sorgen. Sandy Mason kam vor mir ins Ziel. Dann galoppierte Joe Nantwichs Pferd mit hängenden Zügeln vorbei, und als ich mich umsah, konnte ich in der Ferne Joe erkennen, der zur Tribüne zurückstapfte. Ohne Zweifel würde er mir auf dem Weg nach Dorking das Unglück in allen Einzelheiten schildern. Ich sattelte ab, kehrte in den Wiegeraum zurück, zog den neuen Dress mit Kates Farben an, ließ mir von Clem eine Handikap-Decke mit flachen Bleiplatten im Gewicht von zehn Pfund herrichten, was für das Amateurrennen vorgeschrieben war, und ging hinaus, um festzustellen, was aus Miss ElleryPenn geworden war. Sie lehnte an der Umzäunung des Paradeplatzes, den Blick abwechselnd auf die Pferde und – meiner Meinung nach allzu anerkennend – auf Dane Hillman, einen der mutigen und charmanten jungen Männer, gerichtet, die ich ihr vorgestellt hatte. »Mr. Hillman hat mir erzählt«, erklärte Kate, »daß der knochige Gaul dort drüben das schnellste Pferd sein soll. Darf -45-
ich das glauben, oder will er mich nur auf den Arm nehmen?« »Keinesfalls«, erwiderte ich. »Das ist wirklich das beste Pferd. Nicht dem Äußeren nach, zugegeben, aber es kann heute gar nicht verlieren.« »Pferde, die den Kopf so tief senken, sind fast immer gute Springer«, meinte Dane. »Sie passen nämlich auf, wo sie hintreten.« »Aber dieses herrliche Tier gefällt mir«, sagte Kate und sah zu einem Fuchs hinüber, der tänzelnd auf den Platz kam. »Er ist viel zu fett«, sagte Dane. »Wahrscheinlich hat er während des Winters zuviel gefressen und nicht genügend Auslauf gehabt. Wenn man ihn drängt, wird er in die Knie gehen.« Kate seufzte. »Das ist wirklich sehr kompliziert. Die Nieten sehen gut aus, und die Guten wirken schäbig.« »Nicht immer«, sagten Dane und ich gemeinsam. »Es ist mir ein Vergnügen, Sie in einen längeren Lehrgang zu nehmen, Miss Ellery-Penn«, erklärte Dane. »Ich lerne nur sehr langsam, Mr. Hillman.« »Um so besser«, lachte Dane. »Reitest du denn heute nicht, Dane?« fragte ich hoffnungsvoll. »In den letzten beiden Rennen, Freundchen. Mach dir keine Sorgen, ich kann mich um Miss Ellery-Penn kümmern, während du ihr Pferd reitest.« »Sie sind auch Jockey, Mr. Hillman?« meinte Kate überrascht. »Ja«, sagte Dane und ließ es dabei bewenden. Er war der aufsteigende Stern, ganz klar auf dem Weg zur Spitze. Pete Gregory hatte erste Wahl auf ihn, so daß wir sehr oft zusammenkamen. Fremde verwechselten uns beide häufig; wir waren im selben Alter, beide dunkelhaarig, mittelgroß und -46-
schlank. Beim Rennen sah man den Unterschied deutlich; er war der bessere Jockey. »Ich dachte eigentlich, man könnte alle Jockeys an ihrer Liliputgröße erkennen«, sagte Kate, »aber ihr beide seid doch hübsch groß.« Sie mußte zu uns aufsehen, obwohl sie selbst nicht klein war. Wir lachten. Ich sagte: »Beim Hindernisrennsport sind die Jockeys fast alle von normaler Größe. Man kann sich bei großen Hindernissen leichter festhalten, wenn man lange Beine hat.« »Bei den Galoppern gibt es auch große Jockeys«, meinte Dane, »aber sie sind natürlich sehr dürr.« »Meine ganzen Illusionen werden zerstört«, erklärte Kate. »Dein neues Pferd gefällt mir, Alan«, sagte Dane. »Nächstes Jahr wird es allerhand leisten.« »Reiten Sie heute auch Ihre eigenen Pferde?« erkundigte sich Kate bei Dane. »Nein. Ich besitze keine«, gab Dane zurück. »Ich bin Berufsjockey und darf keine eigenen Pferde haben.« »Berufsjockey?« Kate hob die Brauen. Sie hatte den elegant geschnittenen Maßanzug unter dem Kamelhaarmantel gesehen. Wieder eine Illusion dahin, dachte ich amüsiert. »Ja. Ich reite, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen«, meinte Dane lächelnd. »Im Gegensatz zu Alan habe ich keinen schwerreichen Vater. Aber ich werde für eine Tätigkeit bezahlt, die mir Spaß macht. Mehr kann man nicht verlangen.« Kate sah uns aufmerksam an. »Vielleicht begreife ich später einmal, warum ihr eure Hälse riskiert«, sagte sie. »Gut, sagen Sie uns aber bitte Bescheid«, erwiderte Dane. »Ich verstehe es nämlich selber nicht.« Wir schlenderten zur Tribüne und verfolgten das dritte Rennen. Das schäbig aussehende Pferd gewann ohne Anstrengung mit zwanzig Längen Vorsprung. Kates Liebling -47-
war nach einer Meile weit abgeschlagen und verweigerte am drittletzten Hindernis. »Kommen Sie nur nicht auf die Idee, daß wir immer wissen, wer gewinnt«, erklärte Dane. »Jockeys sind notorisch schlechte Wetter. Aber der Knochige war ein todsicherer Tip.« Ein todsicherer Tip. Der alltägliche Ausdruck ließ mich zusammenzucken. Bill Davidsons Gegner hatte sich darauf verlassen, daß ›Admiral‹ mit Sicherheit vorne liegen würde. Ein todsicherer Tip. Ein tod… Angesichts der Tatsache, daß ich die Katze im Sack akzeptiert hatte, war Kates Pferd gar nicht einmal so schlecht. Am zweiten Hindernis sprang es ab und bockte mitten in der Luft. Ich wurde aus dem Sattel gehoben und landete mehr durch Glück als durch Geschicklichkeit wieder auf ihm. Das war offensichtlich der Trick, mit dem sich ›Heavens Above‹ seines früheren Jockeys entledigt hatte, dem jetzt mein ganzes Mitgefühl galt. Am dritten Graben versuchte er es noch einmal, aber von da ab machte er keine Schwierigkeiten mehr. Nach dem letzten Stück bekam er sogar die zweite Luft; wir überholten mehrere müde gewordene Gäule und endeten auf dem vierten Platz. Kate freute sich riesig. »Hoch Onkel Georges Geistesblitz!« sagte sie. »So glücklich war ich noch nie.« »Ich dachte schon, du müßtest am zweiten aussteigen, Alan«, meinte Pete Gregory, als ich die Sattelgurte löste. »Ich auch«, erwiderte ich. »Ich hatte mordsmäßiges Glück.« Pete beobachtete ›Heavens Above‹. Das Pferd atmete schnell, aber nicht keuchend. Er sagte: »Er ist erstaunlich fit, wenn man alles bedenkt. Ich glaube, wir können ein paar Rennen mit ihm gewinnen, bevor die Saison zu Ende geht.« »Warum gehen wir nicht alle eine Flasche Sekt trinken, zur Feier des Tages?« fragte Kate. Ihre Augen glänzten. Pete lachte. »Warten Sie mit dem Sekt lieber, bis Sie einen Sieger haben«, -48-
meinte er. »Ich hätte zwar gerne mit Ihnen einen etwas bescheideneren Trinkspruch auf die Zukunft ausgebracht, aber im nächsten Rennen läuft ein Pferd von mir. Alan wird mich ohne Zweifel gern vertreten.« Er sah mich von der Seite an. »Warten Sie auf mich, Kate?« sagte ich. »Ich muß mich noch einmal wiegen lassen, weil ›Heavens Above‹ Vierter geworden ist.« »Ich warte vor dem Wiegeraum«, versprach Kate. Ich ließ mich wiegen, übergab meinen Sattel Clem, wusch mich und zog Straßenkleidung an. Kate wartete vor dem Wiegeraum, den Blick auf eine Gruppe von jungen Frauen gerichtet. »Was machen denn die hier?« fragte Kate. »Sie stehen die ganze Zeit herum und unterhalten sich.« »Das sind hauptsächlich Ehefrauen von Jockeys«, meinte ich grinsend. »Das Warten vor dem Wiegeraum stellt ihre Hauptbeschäftigung dar.« »Und wohl auch Freundinnen von Jockeys, nehme ich an«, meinte Kate. »Ja. Ich habe übrigens jetzt erst festgestellt, wie schön es ist, wenn man erwartet wird.« Wir gingen ins Restaurant und bestellten Kaffee. »Onkel George wird entsetzt sein, wenn er hört, daß wir auf ›Heavens Above‹ ganz ohne Alkohol getrunken haben«, erklärte Kate. »Sind Sie gegen scharfe Getränke?« »Nein, ganz im Gegenteil, aber um drei Uhr nachmittags kann ich noch nicht viel damit anfangen. Wie steht’s bei Ihnen?« »Ich habe eine Leidenschaft für Sekt zum Frühstück«, entgegnete Kate lächelnd. Ich fragte sie, ob sie abends mit mir ausgehen würde, aber sie hatte keine Zeit. Tante Deb gebe eine kleine Party, und Onkel George wolle doch unbedingt hören, wie das -49-
Geburtstagsgeschenk abgeschnitten habe. »Wie wär’s mit morgen?« Kate zögerte und starrte auf den Tisch. »Ich… äh…, ich gehe morgen mit Dane aus.« »Was! Den soll doch…«, fauchte ich. Kate kicherte. »Und am Freitag?« meinte ich. »Mit Vergnügen«, erwiderte Kate. Wir gingen auf die Tribüne und sahen zu, wie Dane knapp das fünfte Rennen gewann. Kate feuerte ihn hemmungslos an.
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5 Auf dem Parkplatz tobte eine Schlacht. Ich durchschritt den Eingang, um nach dem letzten Rennen den Heimweg anzutreten, und erstarrte. In dem Raum zwischen dem Tor und der ersten Parkreihe kämpften mindestens zwanzig Männer miteinander. Pardon wurde nicht gegeben. Selbst auf den ersten Blick zeigte sich, daß hier keine der üblichen Schlägereien stattfand. Es war unfaßbar. Raufereien zwischen zwei oder drei Männern ereigneten sich auf Rennbahnen nahezu täglich, aber eine Auseinandersetzung dieses Ausmaßes schien andere Gründe zu haben als Meinungsverschiedenheiten über eine Wette. Ich sah näher hin. Es gab keinen Zweifel, einige der Männer waren mit Schlagringen bewaffnet. Eine Fahrradkette zuckte durch die Luft. Die beiden mir nächsten Männer lagen beinahe regungslos am Boden, in angestrengter Umklammerung, als vollführten sie irgendein geheimnisvolles Ritual. Die Finger des einen Mannes umkrampften das Handgelenk des anderen, der ein Messer mit einer scharfen, etwa sieben Zentimeter langen Klinge zu gebrauchen versuchte. Beide Seiten schienen ungefähr gleich stark zu sein, obwohl man sie nicht voneinander zu unterscheiden vermochte. Der Mann mit dem Messer, langsam den kürzeren ziehend, war ein blutjunger Bursche, aber bei den meisten anderen handelte es sich um ältere Jahrgänge. Der einzige betagt aussehende Kämpfer lag auf seinen Knien in der Mitte des Getümmels, die Arme über dem Kopf verschränkt, während es rings um ihn Schläge hagelte. Es war unheimlich still. Man hörte nur Keuchen und ein paar -51-
stöhnende Laute. Der Halbkreis von Rennplatzbesuchern, die mit offenem Munde zusahen, wurde immer größer, aber niemand spürte die Neigung, sich in den Kampf zu stürzen und die Ruhe wiederherzustellen. Einer der Zeitungsverkäufer stand neben mir. »Worum geht’s denn eigentlich?« fragte ich. »Das sind die Taxichauffeure«, sagte er. »Es gibt da zwei Gruppen, die miteinander in Streit liegen, die eine aus London, die andere aus Brighton. Wenn sie zusammentreffen, ist jedesmal der Teufel los.« »Warum denn?« »Das kann ich Ihnen auch nicht sagen, Mr. York. Aber jedenfalls ist das heute nicht das erste Mal.« Ich warf wieder einen Blick auf den hin und her wogenden Kampf. Ein paar Männer trugen noch ihre Mützen. Manche wälzten sich mit ihren Gegnern auf dem Boden, andere stemmten sich gegen ihre Taxis. Es waren zwei Reihen Droschken geparkt. Alle Fahrer beteiligten sich an der Schlägerei. Ihre Fäuste und die Schlagringe taten ihre Wirkung. Zwei von den Männern krümmten sich, offensichtlich in den Magen getroffen. Fast alle hatten blutige Gesichter, zerrissene Jacken, Hosen und Hemden. Sie kämpften wutentbrannt, ohne sich um die ständig größer werdende Menschenmenge zu kümmern. »Das gibt ja Tote«, sagte ein Mädchen hinter mir entsetzt. Ich sah auf und bemerkte neben mir einen breitschultrigen, großen Mann mit gebräuntem Gesicht. Er beobachtete die Schlägerei mißbilligend, mit zusammengekniffenen Augen. Ich konnte mich an seinen Namen nicht erinnern, obwohl ich das Gefühl hatte, ihn zu kennen. Die Leute wurden unruhig und begannen sich nach der Polizei -52-
umzusehen. Die Bemerkung des Mädchens war nicht unbegründet. Man mußte durchaus damit rechnen, daß einer dieser Männer die brutale Auseinandersetzung mit dem Leben zu bezahlen hatte. Durch die Schlägerei war auf dem Parkplatz eine Verkehrsstockung entstanden. Ein Polizist tauchte auf, sah sich die Lage an und verschwand sofort wieder, um Verstärkung zu holen. Er kehrte mit vier Polizisten zu Fuß und einem zu Pferd zurück, alle mit Gummiknüppeln bewaffnet. Sie stürzten sich in die Menge, aber es dauerte ein paar Minuten, bis sie die Ruhe wiederhergestellt hatten. Immer mehr Polizisten trafen ein. Die Taxifahrer wurden voneinander getrennt und in zwei Gruppen geteilt. Niemand schien gewonnen zu haben. Das Schlachtfeld war mit Mützen und Kleidungsfetzen übersät. Zwei Schuhe, einer schwarz, einer braun, lagen drei Meter voneinander entfernt. Überall sah man Blutspritzer. Die Polizei begann, die Schlagringe einzusammeln. Langsam gingen die Menschen auseinander. Eine kleine Gruppe von Fahrgästen erkundigte sich bei einem Polizisten, wie lange man auf die Fahrer zu warten habe. Der große, braungebrannte Mann gesellte sich zu ihnen. Einer der Rennsportjournalisten blieb neben mir stehen und kritzelte eifrig in sein Notizbuch. »Wer ist denn der große Mann da drüben, John?« fragte ich ihn. Er sah auf und warf einen Blick hinüber. »Sein Name ist Tudor, soviel ich weiß«, erwiderte er. »Besitzt ein paar Pferde. Irgend so ein Industriekapitän; ich weiß nicht sehr viel über ihn. Er scheint nicht gerade begeistert zu sein, daß er kein Taxi bekommt.« Tudor machte ein grimmiges Gesicht. Ich war immer noch davon überzeugt, daß ich angesichts dieses Mannes an irgend etwas erinnert wurde, aber es fiel mir nicht ein. Er hatte keinen -53-
Erfolg bei dem Polizisten, der den Kopf schüttelte. Die Taxis blieben leer und fahrerlos. »Was ist eigentlich los?« fragte ich den Journalisten. »Bandenkrieg, haben mir meine Spione berichtet«, erwiderte er fröhlich. Fünf von den Taxifahrern lagen jetzt ausgestreckt auf dem kalten, feuchten Boden. Einer von ihnen stöhnte unaufhörlich. »Ungefähr zu gleichen Teilen Krankenhaus und Polizeirevier, würde ich sagen«, meinte der Journalist. »Das gibt einen Artikel!« Der Stöhnende rollte auf die Seite und erbrach sich. »Ich gehe wieder zurück, um das meiner Redaktion durchzutelefonieren«, erklärte der Zeitungsmann. »Fahren Sie jetzt nach Hause?« »Ich warte nur noch auf diesen verdammten Joe Nantwich«, sagte ich. »Ich habe ihm versprochen, ihn bis Dorking mitzunehmen, aber seit dem vierten Rennen scheint ihn der Erdboden verschluckt zu haben. Es sähe ihm ähnlich, sich von einem anderen nach Hause mitnehmen zu lassen, ohne mich zu verständigen.« »Als ich ihn zuletzt sah, stritt er mit Sandy auf der Herrentoilette, aber er zog den kürzeren.« »Die beiden können sich nicht ausstehen«, sagte ich. »Wissen Sie warum?« »Keine Ahnung. Sie vielleicht?« »Nein«, gab der Journalist zurück. Er verabschiedete sich und ging zum Tribünengebäude zurück. Zwei Krankenautos fuhren heran, um die verletzten Fahrer einzusammeln. Ein Polizist stieg hinten in jede Ambulanz mit ein, während sich ein anderer vorne neben den Chauffeur setzte. Vollbeladen fuhren die Krankenautos davon. -54-
Die übrigen Taxichauffeure begannen zu frieren, als die Kampfeshitze verflog und sich die Kälte des Februarnachmittags bemerkbar machte. Ein Mann aus der einen Gruppe trat vor, starrte seine Gegner verächtlich an und spuckte dann vor ihnen aus. Sein Hemd hing in Fetzen an ihm herunter; sein Gesicht war verschwollen. Die Muskeln seiner Unterarme hätten einem Hufschmied zur Ehre gereicht; seine Stirn war niedrig. Ein gefährlich aussehender Mann. Ein Polizist berührte ihn am Arm, um ihn in die Gruppe zurückzuweisen. Er fuhr herum und fauchte ihn an. Zwei andere Polizisten kamen näher, und der schwarzhaarige Mann gab mürrisch nach. Ich hatte eben beschlossen, auf Joe nicht länger zu warten, als er durchs Tor kam und mich begrüßte, ohne sich für seine Verspätung zu entschuldigen. Aber ich war nicht der einzige, dem seine Ankunft auffiel. Mr. Tudor kam auf uns zu. »Nantwich, haben Sie die Freundlichkeit, mich nach Brighton mitzunehmen?« fragte er, fast im Befehlston. »Wie Sie selber sehen, ist mit den Taxis im Augenblick nicht zu rechnen, ich habe aber in zwanzig Minuten in Brighton eine wichtige Verabredung.« Joe sah uninteressiert zu den Taxifahrern hinüber. »Was hat’s denn gegeben?« fragte er. »Das ist doch jetzt völlig unwichtig«, erklärte Tudor ungeduldig. »Wo ist Ihr Wagen?« Joe sah ihn geistesabwesend an. Sein Gehirn schien nur mit halber Kraft zu funktionieren. »Oh – äh – er ist nicht hier, Sir«, sagte er. »Ich werde selbst mitgenommen.« »Von Ihnen?« wandte sich Tudor an mich. Ich nickte. Es war typisch für Joe, daß er versäumt hatte, uns bekannt zu machen. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich nach Brighton bringen würden«, erklärte Tudor. »Ich zahle Ihnen den regulären Taxipreis.« Bei ihm schien es keinen Widerspruch zu geben; -55-
offensichtlich hatte er es sehr eilig. Es wäre schwierig gewesen, ihm diese kleine Gefälligkeit zu verweigern. »Ich nehme Sie umsonst mit«, erwiderte ich, »aber es wird ziemlich eng werden. Ich habe einen zweisitzigen Sportwagen.« »Wenn wir nicht alle hineinpassen, kann Nantwich hierbleiben. Sie kommen dann später zurück und holen ihn ab«, verkündete Tudor. Joe zeigte sich nicht überrascht, aber ich hatte doch den Eindruck, daß Mr. Tudor ein bißchen des Guten zuviel tat. Wir gingen an den angeschlagenen Taxifahrern vorbei und zwängten uns zu meinem Wagen durch. Tudor stieg ein. Er war so massig, daß es zwecklos schien, Joe noch hineinzwängen zu wollen. »Ich hole dich später ab, Joe«, sagte ich, einen Anflug von Gereiztheit unterdrückend. »Warte vorne an der Hauptstraße.« Ich setzte mich ans Steuer, ließ den Wagen langsam über den Parkplatz rollen, erreichte die Hauptstraße und schlug die Richtung nach Brighton ein. Es herrschte zuviel Verkehr, als daß mein Lotus hätte zeigen können, wieviel in seinem ClimaxMotor steckte; die Tachonadel kletterte zunächst nicht über fünfundsechzig, und ich hatte Zeit, mich auf meinen eigenartigen Fahrgast zu konzentrieren. Ich sah, wie seine Hand auf dem Knie ruhte, die Finger gespreizt und angespannt. Und ganz plötzlich wußte ich, wo ich ihn schon einmal gesehen hatte. Seine Hand, tiefgebräunt, mit bläulichem Schimmer unter den Fingernägeln, brachte mich darauf. Er hatte in Sandown an der Bar gestanden, mit dem Rücken zu mir, die Hand auf der Theke neben seinem Glas. Er hatte sich mit Bill unterhalten, und ich hatte hinter ihm gewartet, weil ich ihr Gespräch nicht stören wollte. Tudor hatte dann sein Glas geleert und war gegangen. Ich sah zu ihm hinüber. -56-
»Das mit Bill Davidson ist wirklich tragisch«, sagte ich. Die braune Hand zuckte. Er wandte den Kopf zur Seite und sah mich an. »Ja, das kann man wohl sagen. Ich hatte damit gerechnet, daß er in Cheltenham eines meiner Pferde reiten würde.« »Ein großer Sportsmann«, sagte ich. »Allerdings.« »Ich war unmittelbar hinter ihm, als er stürzte«, erzählte ich ihm, und impulsiv fügte ich hinzu: »Da gibt es noch allerhand zu klären.« Er rutschte in seinem Sitz etwas tiefer. Ich wußte, daß er mich immer noch beobachtete. »Das läßt sich denken«, meinte er. Er zögerte, fügte dann aber nichts mehr hinzu. Nach einer Weile sah er auf die Uhr. »Wenn Sie die Güte hätten, mich zum Pavillon-Plaza-Hotel zu bringen. Ich werde dort zu einer geschäftlichen Besprechung erwartet.« »Ist das in der Nähe des Pavillons?« erkundigte ich mich. »So ungefähr. Ich dirigiere Sie, wenn wir Brighton erreicht haben.« Sein Ton degradierte mich zum Chauffeur. Wir blieben die nächsten Meilen stumm. Mein Fahrgast war anscheinend tief in Gedanken versunken. Als wir Brighton erreichten, wies er mir den Weg zum Hotel. »Danke«, sagte er ohne Wärme, als er etwas schwerfällig aus meinem niedrigen Wagen stieg. Er hatte eine Art an sich, nicht unbeträchtliche Gefälligkeiten als selbstverständlich anzusehen, auch wenn er Fremde darum bemühen mußte. Er machte zwei Schritte, drehte sich dann um und sagte: »Wie heißen Sie?« »Alan York«, erwiderte ich. »Guten Tag.« Ich fuhr davon, ohne eine Antwort abzuwarten. Ich konnte genau so brüsk sein wie er. Ein Blick in den Rückspiegel belehrte mich, daß er immer noch auf dem Gehsteig stand und mir nachsah. -57-
Ich fuhr zur Rennbahn zurück. Joe wartete auf mich; er saß auf der Böschung am Rand der Straße. Es fiel ihm schwer, die Wagentür zu öffnen, und brummend rutschte er in den Sitz. Er geriet zu weit auf meine Seite, und ich entdeckte, daß Joe Nantwich betrunken war. Die Dämmerung brach herein. Ich knipste die Scheinwerfer an. Es gab Angenehmeres, als die kurvenreichen Straßen nach Dorking zu befahren, während Joe mir seinen Alkoholdunst ins Gesicht blies. Ich seufzte und gab Gas. Joe war wieder einmal gekränkt. Seiner Meinung nach waren immer die anderen schuld, wenn ihm irgend etwas schiefging. Kaum zwanzig Jahre alt, hatte er an allem etwas auszusetzen. Es ließ sich schwer entscheiden, was unangenehmer war, sein Beleidigtsein oder seine Prahlereien; daß ihn die anderen Jockeys tolerant behandelten, zeugte für ihre Gutmütigkeit. Zu seinen Gunsten sprach eigentlich nur, daß er ein guter Jockey war, aber auch diese Fähigkeit hatte er durch das Stehenlassen von Pferden im schlechten Sinne angewandt, und jetzt betrank er sich auch noch mitten am Tag. »Ich hätte dieses Rennen gewonnen«, winselte er. »Du bist ein Narr, Joe«, sagte ich. »Nein, ganz ehrlich, Alan. Ich hätte das Rennen gewonnen. Die anderen waren ja schon erledigt, ich hatte sie in der Tasche.« Er fuhr mit den Händen durch die Luft. »Du bist ein Narr, beim Rennen so viel zu trinken«, sagte ich. »Was?« »Trinken«, wiederholte ich. »Du hast zuviel getrunken.« »Nein, nein, nein, nein…« »Kein Besitzer läßt dich mehr auf sein Pferd, wenn du betrunken gesehen wirst«, meinte ich. »Ich kann jedes Rennen gewinnen, betrunken oder nicht«, erwiderte Joe. -58-
»Ob dir das die Leute glauben?« »Sie wissen, daß ich gut bin.« »Das stimmt auch, aber wenn du so weitermachst, wird bald Schluß sein.« »Ich kann trinken und reiten, ich kann reiten und trinken. Wann und wie ich will.« Er rülpste. Ich ließ es dabei bewenden. Joe hätte vor zehn Jahren eine feste Hand gebraucht. Er begann wieder zu jammern. »Dieser verdammte Mason!« Ich schwieg. Er fing wieder von vorne an. »Dieser verdammte Sandy, er hat mich heruntergestoßen. Er hat mich angerempelt und über das verdammte Geländer gekippt. Ich hätte das Rennen spielend gewonnen. Er wußte genau Bescheid und kippte mich über das verdammte Geländer.« »Sei doch nicht so albern, Joe.« »Du kannst nicht behaupten, daß ich das Rennen nicht gewonnen hätte«, erklärte Joe eigensinnig. »Und ich kann auch nicht sagen, daß du es gewonnen hättest«, meinte ich. »Du bist ja schon eine Meile vor dem Ziel gestürzt.« »Ich bin nicht gestürzt. Ich erzähle dir doch eben, was war, oder nicht? Dieser dreckige Mason hat mich vom Pferd gestoßen!« »Wie denn?« fragte ich, ohne ihn anzusehen. »Er drückte mich gegen das Geländer. Ich schrie ihm zu, daß er mir mehr Platz lassen sollte. Weißt du, was er dann getan hat? Weißt du’s? Er hat gelacht. Er hat einfach gelacht. Dann stieß er mich hinunter. Er drückte mir das Knie in die Seite, stemmte mich hoch, und schon fiel ich übers Geländer.« Er schluchzte. Ich sah ihn an. Zwei Tränen rollten ihm über die runden Wangen. -59-
»Sandy würde so etwas nie tun«, meinte ich gelassen. »Und ob er so etwas tut. Er hat mir gesagt, daß er mit mir abrechnen würde. Es täte mir noch leid, meinte er. Aber ich konnte nichts dafür, Alan, ganz bestimmt nicht.« Wieder begannen die Tränen zu fließen. Ich war ratlos. Woher sollte ich wissen, was er meinte. Immerhin begann es so auszusehen, als hätte Sandy seine Gründe gehabt, wenn er wirklich für den Sturz verantwortlich gewesen war. »Du bist immer anständig zu mir gewesen, Alan«, fuhr Joe fort, »du bist nicht wie die anderen, du bist mein Freund…« Er stützte sich auf meinen Arm, kam näher und schnaufte mir ins Gesicht. Durch den plötzlichen Druck auf meinen Arm wurde das Steuer etwas herumgerissen, und der Wagen geriet aus der Spur. Ich schüttelte ihn ab. »Setz dich um Gottes willen richtig hin, Joe, sonst landen wir noch im Graben«, sagte ich. Aber er hörte nicht. Wieder zog er an meinem Arm. Vor uns tauchte eine Ausweichstelle auf. Ich bremste, bog ein und hielt. »Wenn du nicht vernünftig bist, kannst du hier aussteigen und zu Fuß gehen«, fauchte ich ihn an. »Du weißt ja nicht, wie das ist, wenn man in der Patsche steckt«, schluchzte er. Je schneller er sich die Sache vom Herzen redete, desto eher würde er wohl einschlafen, dachte ich. »Was für eine Patsche denn?« fragte ich uninteressiert. »Alan, dir sage ich es, weil du mein Freund bist.« Er legte mir die Hand aufs Knie. Ich schob sie weg. »Ich hätte ein Pferd stehenlassen sollen und hab’s nicht getan«, winselte Joe. »Sandy verlor eine Menge Geld, er schwor, sich an mir zu rächen, lief tagelang hinter mir her und drohte mit allem möglichen. Ich wußte, daß er etwas Gemeines unternehmen würde, und das hat er auch getan.« Er holte Atem. -60-
»Gott sei Dank bin ich auf eine weiche Stelle gefallen, sonst hätte ich mir noch den Hals gebrochen. Und dieser verfluchte Sandy lachte! Aber der soll sich nur vorsehen, den mach ich noch fertig.« »Welches Pferd hast du nicht stehenlassen?« fragte ich. »Woher wußte Sandy eigentlich, daß du ein Pferd abwürgen solltest?« Einen Augenblick lang dachte ich, der Redefluß würde versiegen, aber die Wirkung des Alkohols war stärker. Die Geschichte war traurig genug. Unter Abzug der Flüche und aufs Wesentliche beschränkt, ergab sich folgendes. Joe war gut dafür bezahlt worden, bei verschiedenen Gelegenheiten Pferde stehenzulassen. Zweimal hatte ich es selbst erlebt. Aber als David Stampe seinen Vater, den Leiter der Rennkommission, unterrichtet hatte und Joe beinahe seiner Lizenz verlustig gegangen wäre, war ihm der Schock doch zu groß gewesen. Als man ihm beim nächstenmal auftrug, ein Pferd stehenzulassen, erklärte er sich einverstanden, aber beim Rennen hatte er aus Nervosität nicht früh genug abgebremst. Vor dem Finish erkannte er klar, daß seine Lizenz dahin war, wenn er verlor. Er gewann also. Das war vor zehn Tagen gewesen. »Ist Sandy der einzige, der dir etwas getan hat?« fragte ich verständnislos. »Er hat mich übers Geländer gestoßen…« Ich unterbrach ihn. »Es war aber doch sicher nicht Sandy, der dich bezahlt hat, damit du nicht gewinnst?« »Nein. Ich glaube nicht. Ich weiß es nicht«, jammerte er. »Willst du damit sagen, daß du nicht weißt, wer dich bezahlt hat?« »Ein Mann rief an und sagte mir Bescheid, sobald er ein Pferd gebremst haben wollte, und nachher bekam ich durch die Post ein Päckchen mit Geld zugestellt.« -61-
»Wie oft hast du’s getan«, erkundigte ich mich. »Zehnmal im ganzen während der sechs Monate«, erwiderte Joe. Ich starrte ihn an. »Es war meistens ganz einfach«, verteidigte sich Joe. »Die Gäule hätten sowieso nicht gewonnen.« »Wieviel bekamst du dafür?« »Hundert. Zweimal sogar zweihundertfünfzig.« Joe hatte sich immer noch nicht unter Kontrolle, und ich glaubte ihm. Das war eine Menge Geld, und jemand, der solche Beträge ausgab, würde sicher nicht auf Rache verzichten, wenn Joe entgegen seinen Anweisungen gewann. Aber Sandy? Ich konnte es nicht glauben. »Was hat Sandy zu dir gesagt, nachdem du gewonnen hattest?« fragte ich. Joe weinte immer noch. »Er sagte, er hätte auf das von mir geschlagene Pferd gesetzt und würde mit mir abrechnen«, erwiderte Joe. »Du hast dein Geld nicht bekommen, nehme ich an?« »Nein«, sagte Joe. »Hast du denn überhaupt keine Ahnung, woher es kam?« »Ein paar Päckchen waren in London aufgegeben worden. Ich habe mich auch nicht besonders drum gekümmert.« »Na ja«, sagte ich. »Nachdem Sandy jetzt Rache genommen hat, bist du wohl aus dem Schlimmsten ’raus? Kannst du nicht endlich mit dem Geheule aufhören? Es ist ja jetzt alles vorbei. Worüber regst du dich so auf?« Joe nahm ein Blatt Papier aus der Tasche und gab es mir. »Jetzt ist sowieso schon alles gleich. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Hilf mir, Alan. Ich habe Angst.« Man sah es ihm an. Joe wurde langsam nüchtern. Ich faltete das Papier auseinander und schaltete die -62-
Wagenbeleuchtung ein. Es handelte sich um ganz normales Schreibmaschinenpapier. Der Text war nur vier Worte lang, in Großbuchstaben: ›BOLINGBROKE DU WIRST BESTRAFT‹. »›Bolingbroke‹ ist das Pferd, das du hättest stehenlassen sollen?« »Ja.« »Wann hast du das hier bekommen?« »Ich fand es heute in meiner Tasche, als ich das Jackett anzog, kurz vor dem fünften Rennen.« »Und dann hast du den Rest des Nachmittags in der Bar verbracht und dich betrunken«, meinte ich. »Ja…, während du Mr. Tudor nach Brighton brachtest, ging ich noch einmal hinein. Ich habe nicht damit gerechnet, daß mir wegen ›Bolingbroke‹ etwas passieren würde. Seit er gewonnen hat, brachte ich aber die Angst nicht mehr los. Und gerade, als ich dachte, daß alles gut verlaufen sei, stieß mich Sandy übers Geländer, und dann fand ich diesen Brief in meiner Tasche. Das ist nicht fair.« Ich gab ihm das Blatt zurück. »Was soll ich denn nur tun?« fragte Joe. Ich konnte es ihm nicht sagen, weil ich es nicht wußte. Er hatte sich in die Patsche gesetzt und guten Grund, unangenehme Folgen zu befürchten. Joe schien sich einigermaßen erholt zu haben. Ich knipste die Innenbeleuchtung aus, ließ den Motor an und fuhr los. Wie erwartet, schlief Joe nach kurzer Zeit ein. Er schnarchte laut. Als wir uns Dorking näherten, weckte ich ihn. »Joe, wer ist eigentlich dieser Mr. Tudor, den ich nach Brighton gefahren habe? Er kennt dich.« »Ihm gehört ›Bolingbroke‹«, erwiderte Joe. »Ich reite oft für ihn.« -63-
Ich war überrascht. »Hat er sich gefreut, als Bolingbroke gewann?« »Ich nehme es an. Er war nicht dabei. Nachher schickte er mir allerdings zehn Prozent und ein Dankschreiben. Na ja, das Übliche.« »Er beteiligt sich noch nicht lange am Rennsport, nicht wahr?« »Er tauchte ungefähr um dieselbe Zeit auf wie du«, erklärte Joe mit einer Spur seiner früheren Arroganz. »Ihr beide seid mitten im Winter braungebrannt angekommen.« Ich war mit dem Flugzeug aus dem afrikanischen Sommer ins kalte Oktoberwetter geraten; nach achtzehn Monaten war meine Haut so blaß wie die eines Engländers. Tudor dagegen hatte sich nicht verändert. »Weißt du, warum dieser Mr. Clifford Tudor in Brighton wohnt?« fragte Joe. »Damit er eine Ausrede hat, wenn er das ganze Jahr braungebrannt herumläuft. Wahrscheinlich stimmt mit seiner Ahnenreihe etwas nicht.« Daraufhin lud ich Joe ohne Gewissensbisse an der Bushaltestelle ab. Er schien sein Gleichgewicht wiedergewonnen zu haben. Ich fuhr nach Hause. Zuerst dachte ich über Sandy Mason nach und fragte mich, wie er wohl dahintergekommen war, daß Joe ›Bolingbroke‹ zurückhalten sollte. Aber während der letzten Fahrstunde dachte ich nur an Kate.
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6 Scilla schlief auf dem Sofa, eine Decke über den Beinen, ein halbgeleertes Glas auf dem niederen Tisch neben sich. Ich nahm das Glas und roch daran. Kognak. Sie öffnete die Augen. »Alan! Ich bin ja so froh, daß du wieder da bist. Wie spät ist es?« »Halb zehn.« »Du hast sicher Hunger«, meinte sie und schlug die Decke zurück. »Warum hast du mich denn nicht geweckt? Das Essen ist schon seit ein paar Stunden fertig.« »Ich bin eben erst gekommen, und Joan steht schon am Herd, also brauchst du dich gar nicht anzustrengen.« Wir setzten uns zu Tisch. Ich nahm meinen üblichen Platz ein. Bills Stuhl, Scilla gegenüber, war leer. Ich nahm mir vor, ihn bei nächster Gelegenheit an die Wand zu rücken. Als wir bei den Steaks angelangt waren, sagte Scilla: »Zwei Polizisten waren heute hier.« »Tatsächlich? Wegen der gerichtlichen Untersuchung morgen?« »Nein, es ging um Bill.« Sie schob ihren Teller weg. »Sie wollten wissen, ob er in Schwierigkeiten gewesen wäre. Über eine halbe Stunde lang stellten sie mir Fragen. Einer meinte, wenn ich meinen Mann sehr gern gehabt und mich gut mit ihm vertragen hätte, müßte ich doch wissen, was in seinem Leben nicht gestimmt habe. Sie waren sehr unfreundlich.« »Das kann ich mir vorstellen«, erwiderte ich. »Sie wollten sicher wissen, in welchem Verhältnis wir zueinander stehen und warum ich immer noch hier im Hause wohne?« -65-
Überrascht und erleichtert sah sie auf. »Ja, das stimmt. Ich wußte nicht, wie ich es dir sagen soll. Es ist für mich so selbstverständlich, daß du hier bist, aber irgendwie konnte ich es ihnen nicht begreiflich machen.« »Ich ziehe morgen aus, Scilla«, sagte ich. »Ich möchte nicht, daß noch mehr getuschelt wird. Wenn die Polizei auf den Gedanken kommt, daß du Bill mit mir betrogen haben könntest, gilt dasselbe für alle Nachbarn und die ganze Gegend. Ich bin sehr gedankenlos gewesen, es tut mir leid.« »Um meinetwillen wirst du morgen nicht ausziehen, Alan«, meinte Scilla resolut. »Ich brauche dich hier. Wenn ich mich mit dir nicht unterhalten kann, vor allem abends, sitze ich nur die ganze Zeit herum und heule. Den Tag über geht es ja, weil die Kinder da sind und im Haus viel zu tun ist. Aber die Abende…« Ihre Augen begannen zu schwimmen. »Es ist mir egal, was die Leute sagen«, flüsterte sie. »Ich brauche dich. Bitte geh nicht fort.« »Ich bleibe«, sagte ich. »Mach dir keine Sorgen. Ich bleibe, solange es dir recht ist. Aber du mußt mir versprechen, daß du mir sofort Bescheid sagst, wenn du mich nicht mehr hier haben willst.« Sie trocknete sich die Augen und lächelte. »Du meinst, sobald ich mir Sorgen um meinen Ruf mache? Ich verspreche es dir.« Ich hatte einen schweren Tag hinter mir und war rechtschaffen müde. Wir gingen bald zu Bett; Scilla versprach, ihre Schlaftabletten zu nehmen. Aber um zwei Uhr früh öffnete sie die Tür zu meinem Zimmer. Ich war sofort wach. Sie kam herüber, knipste meine Nachttischlampe an und setzte sich zu mir aufs Bett. Sie sah so jung und schutzlos aus. Sie trug ein blaßblaues, knielanges Chiffonnachthemd, das der Phantasie nur noch wenig Spielraum ließ. Ich stützte mich auf den Ellbogen und fuhr mit den Fingern durchs Haar. -66-
»Ich kann nicht schlafen«, sagte sie. »Hast du die Tabletten genommen?« Aber diese Frage konnte ich mir selbst beantworten. Sie war halb betäubt, und bei ruhiger Überlegung wäre sie wohl kaum halb bekleidet in mein Zimmer gekommen. »Ja, ich habe sie genommen. Ich bin ein bißchen betäubt, aber immer noch wach.« Ihre Stimme klang lallend. »Magst du dich ein bißchen mit mir unterhalten? Vielleicht kann ich dann eher schlafen. Wenn ich allein bin, liege ich nur da und denke über Bill nach… Erzähl mir lieber noch etwas von Plumpton… Du hast gesagt, du hättest noch ein Pferd geritten… Erzähl mir davon, bitte…« Ich setzte mich also auf, legte ihr meine Decke um die Schulter und erzählte ihr von Kates Geburtstagsgeschenk und von Onkel George. Nach einer Weile bemerkte ich, daß sie mir gar nicht zuhörte. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Du hältst mich wohl für dumm, weil ich dauernd heule«, meinte sie, »aber ich kann einfach nicht anders.« Sie sank erschöpft um, packte meine Hand und schloß die Augen. Ich küßte sie auf die Stirn. Ihr Körper wurde von Schluchzen geschüttelt. Ich legte mich zurück und schob den Arm unter ihren Kopf. Sie klammerte sich an mich und begann hilflos zu schluchzen. Und dann wirkten langsam die Schlaftabletten. Sie atmete gleichmäßig. Es war ziemlich kalt im Zimmer, und sie lag halb auf meiner Decke. Ich zog sie unter ihr hervor und deckte uns beide zu. Dann knipste ich das Licht aus und hielt Scilla im Arm, bis sie eingeschlafen war. Ich lächelte, als ich daran dachte, was Inspektor Lodge für ein Gesicht machen würde, wenn er uns jetzt sehen könnte. Gegen Morgen stand ich auf, hob sie hoch und trug sie in ihr Bett zurück. Wenn sie bei mir aufgewacht wäre, hätte sie sich nur geschämt. -67-
Ein paar Stunden später, nach einem hastigen Frühstück, fuhr ich sie nach Maidenhead zur gerichtlichen Untersuchung. Sie schlief fast den ganzen Weg und sprach nicht von der vorangegangenen Nacht. Wahrscheinlich erinnerte sie sich gar nicht daran. Lodge mußte auf uns gewartet haben, denn er empfing uns schon am Eingang. Ich stellte ihm Scilla vor, und seine Brauen stiegen ein wenig in die Höhe, als er sah, wie hübsch sie war. »Ich möchte mich für die wenig freundlichen Vermutungen entschuldigen«, begann er überraschend, »die über Sie und Mr. York angestellt worden sind.« Er wandte sich an mich. »Wir sind jetzt davon überzeugt, daß Sie an Major Davidsons Tod unbeteiligt waren.« »Sehr freundlich«, meinte ich leichthin, aber ich war doch froh, das zu hören. »Sie können zum Untersuchungsrichter über den Draht natürlich sagen, was Sie wollen«, fuhr er fort, »aber ich möchte Sie gleich darauf hinweisen, daß er nicht sehr begeistert sein wird. Alles Ausgefallene liegt ihm nicht, und es fehlt Ihnen an Beweisen. Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, wenn Sie mit seinem Urteil nicht übereinstimmen – es wird garantiert ›Tod durch Unfall‹ herauskommen –, weil gerichtliche Untersuchungen immer wieder aufgenommen werden können, falls es sich als notwendig erweisen sollte.« Ich ließ mich daher nicht aus der Ruhe bringen, als der Untersuchungsrichter, ein etwa fünfzigjähriger Mann mit gewaltigem Schnurrbart, meinem Bericht über Bills Sturz aufmerksam lauschte, die Geschichte mit dem Draht jedoch sehr skeptisch aufnahm. Lodge sagte aus, daß er mich zur Rennbahn begleitet habe, um nach dem erwähnten Draht zu suchen, aber es sei nichts gefunden worden. Auch der Jockey, der sich bei Bills Sturz unmittelbar hinter mir befand, wurde aufgerufen. Er war ein Amateur aus -68-
Yorkshire und hatte einen weiten Weg zurücklegen müssen. Mit einem entschuldigenden Seitenblick auf mich erklärte er, am Hindernis nichts Verdächtiges bemerkt zu haben. Seiner Ansicht nach sei an dem Sturz – abgesehen von dem tragischen Schicksal Bills – nichts Außergewöhnliches gewesen. Gewiß, man könne ihn unerwartet nennen, aber nicht geheimnisvoll. Er strahlte gesunden Menschenverstand aus. Habe Mr. York am Tag des Rennens irgendeiner Person von dem Draht erzählt? erkundigte sich der Untersuchungsrichter zweifelnd. Mr. York hatte nicht. Der Untersuchungsrichter stellte zusammenfassend fest, daß Major Davidson an Verletzungen gestorben sei, die er beim Sturz seines Pferdes bei einem Hindernisrennen erlitten habe. Er selbst, meinte der Richter, sei nicht davon überzeugt, daß es sich bei dem Sturz um mehr als einen Unfall gehandelt habe. In den Zeitungen wurden nur kurze Notizen über die Untersuchung gebracht. Der Draht fand überhaupt keine Erwähnung. Ich machte mir weiter keine Gedanken darüber, aber Scilla war erleichtert. Wie sie sagte, könne sie Fragen von neugierigen Bekannten nicht ertragen, geschweige denn von Reportern. Bills Begräbnis fand am Freitag früh in aller Stille statt. Nur seine Familie und enge Freunde nahmen teil. Als ich half, den Sarg hinauszutragen, und später, als ich Abschied von Bill nahm, wußte ich, daß ich nicht nachgeben würde, bis sein Tod gerächt wäre. Ich wußte nicht, wie ich das anstellen würde, und ich spürte auch keine besondere Eile. Aber früher oder später werde ich es schaffen, versprach ich ihm. Scillas Schwester war zur Beerdigung gekommen und wollte zwei, drei Tage bei ihr bleiben. Ich verzichtete wegen eines Starts am folgenden Tag aufs Mittagessen und fuhr nach London, um im Büro liegengebliebene Arbeit zu erledigen. Da ich mich auf die guten Leute verlassen konnte, brauchte -69-
ich dort nicht öfter als dreimal wöchentlich zu erscheinen. Am Sonntag schrieb ich dann immer meinem Vater. Ich hatte das Gefühl, daß er sich die Berichte über meine Rennerlebnisse schenkte, um die geschäftlichen Nachrichten aufmerksamer studieren zu können. Diese sonntäglichen Berichte gehören seit zehn Jahren zu meinem Leben. Die Schularbeiten sind nicht so wichtig, pflegte mein Vater zu sagen, es käme nur darauf an, daß ich das große Unternehmen, dem ich eines Tages vorzustehen hatte, in allen Einzelheiten kennenlernte. Am Freitagabend wartete ich ungeduldig auf Kate. Ohne den dicken Mantel und die festen Stiefel, die für Plumpton nötig gewesen waren, wirkte sie noch bezaubernder. Sie trug ein rotes Kleid, und ihr dunkles Haar fiel glatt auf die Schultern. Der Abend war ein schönes Erlebnis; er verlief, für mich jedenfalls, völlig befriedigend. Wir gingen zum Essen, wir tanzten, wir unterhielten uns. Während wir zu einer verträumten Melodie über das Tanzparkett schwebten, brachte Kate das einzige ernste Thema des Abends ins Gespräch. »Ich habe in der Morgenzeitung etwas über die gerichtliche Untersuchung anläßlich des Todes Ihres Freundes gesehen«, sagte sie. Ich atmete den Duft ihres Haares ein. »Tod durch Unfall«, murmelte ich. »Ich glaube es nicht.« »Wie?« Kate sah auf. »Ich werde es Ihnen einmal erzählen, wenn ich über alles Bescheid weiß«, sagte ich. »Erzählen Sie es mir lieber gleich«, meinte Kate interessiert. »Wenn es kein Unfall war, was dann?« Ich zögerte. Es schien mir nicht recht, den Zauber dieses Abends durch krasse Realität zu stören. -70-
»Na los!« drängte sie lächelnd. »Sie können jetzt nicht einfach aufhören. Die Geschichte ist viel zu spannend.« Also erzählte ich ihr von dem Draht. Sie war so entsetzt, daß sie plötzlich stehenblieb. Wir befanden uns mitten auf der Tanzfläche und versperrten den anderen Paaren den Weg. »Du lieber Himmel«, sagte sie. »Wie…, wie gemein!« »Ich kann es nicht ertragen, daß so ein Mensch unbestraft davonkommt.« »Ich auch nicht.« »Aber soweit es an mir liegt, ist die Sache noch nicht zu Ende, das verspreche ich Ihnen.« »Gut«, sagte sie ernsthaft. Ich nahm sie wieder in die Arme. Von Bill sprachen wir nicht mehr. Über lange Stunden hinweg schien es mir an diesem Abend, als stünde ich nicht mehr ganz fest auf dem Boden. Kate bemerkte nichts. Sie war liebenswürdig, lustig und völlig unsentimental. Als ich ihr schließlich in den von einem Chauffeur gesteuerten Wagen half, den Onkel George von Sussex geschickt hatte, spürte ich, wie schmerzhaft Liebe sein kann. Ich wußte schon, daß ich Kate heiraten wollte. Der Gedanke, daß sie mich vielleicht nicht nehmen würde, war sehr bitter. Am nächsten Tag hatte ich bei einem Rennen im Kempton Park anzutreten. Vor dem Wiegeraum traf ich Dane. Wir unterhielten uns übers Geläuf, übers Wetter und die Pferde. Dann sagte Dane: »Du hast Kate gestern abend ausgeführt?« »Ja.« »Wo seid ihr gewesen?« »Im River Club«, sagte ich. »Wo hast du sie denn hingeführt?« -71-
»Sie hat dir nichts erzählt?« fragte Dane. »Sie sagte, ich sollte dich fragen.« »River Club«, meinte Dane. »Verdammt«, sagte ich. Aber ich mußte lachen. »Na bitte«, meinte Dane. »Hat sie dich zu Onkel George eingeladen?« fragte ich argwöhnisch. »Ich fahre heute nach dem Rennen hin«, erwiderte Dane lächelnd. »Und du?« »Am nächsten Samstag«, erklärte ich düster. »Weißt du, Dane, sie führt uns ganz schön an der Nase herum.« »Ich kann’s aushalten«, sagte Dane. Er klopfte mir auf die Schulter. »Mach nicht so ein Gesicht. Vielleicht kommt es gar nicht so weit.« »Das befürchte ich ja«, seufzte ich. Er lachte und verschwand im Wiegeraum. Der Nachmittag war uninteressant. Ich ritt meine große, schwarze Stute, und Dane schlug mich um zwei Längen. Nachher gingen wir miteinander zum Parkplatz. »Wie hält sich eigentlich Mrs. Davidson?« fragte Dane. »Recht gut, wenn man in Betracht zieht, daß für sie eine Welt zusammengebrochen ist.« »Da hat sich einmal bewahrheitet, was die Ehefrauen von Jockeys immer befürchten.« »Ja.« »Man muß es sich wirklich überlegen, bevor man von einem Mädchen verlangt, ständig diese Angst auf sich zu nehmen«, sagte Dane nachdenklich. »Kate?« fragte ich. Er sah mich scharf an und grinste. »Ich denke schon. Macht es dir etwas aus?« »Ja«, erwiderte ich. »Sehr viel sogar.« -72-
Wir kamen zu seinem Wagen, und er legte Hut und Rennbrille neben sich auf den Sitz. Sein Koffer stand auf der hinteren Sitzbank. »Bis dann«, sagte er. »Ich halte dich auf dem laufenden.« Ich wartete, bis er abgefahren war, und winkte ihm nach. Es kam selten vor, daß ich jemand beneidete, aber in diesem Augenblick wäre ich sehr gerne an Danes Stelle gewesen. Ich setzte mich in den Lotus und trat den Heimweg an. Es war auf der Straße durch den Forst von Maidenhead, als ich den Pferdetransportwagen sah. Er parkte an einer Ausweichstelle; auf dem Boden waren Werkzeuge verstreut, die Kühlerhaube war geöffnet. Davor führte ein Mann ein Pferd auf und ab. Der Fahrer stand am Wagen und kratzte sich am Kopf. Als er mich kommen sah, winkte er heftig. Ich hielt neben ihm. Er trat ans Fenster, ein Mann mittleren Alters, unauffällig. Er trug eine Lederjacke. »Verstehen Sie etwas von Motoren, Sir?« fragte er. »Nicht soviel wie Sie, denke ich«, meinte ich lächelnd. Seine Hände waren ölverschmiert. Wenn der Fahrer eines Pferdetransportwagens den Fehler nicht zu finden vermochte, würde es anderen Leuten noch schwerer fallen. »Ich kann Sie aber nach Maidenhead fahren, wenn Sie wollen. Dort finden Sie sicher einen Mechaniker.« »Das ist sehr freundlich von Ihnen«, erwiderte er höflich. »Herzlichen Dank. Aber – äh – da ist eine kleine Schwierigkeit.« Er warf einen Blick in meinen Wagen und sah das Fernglas auf dem Sitz neben mir. Sein Gesicht hellte sich auf. »Sie verstehen nicht zufällig etwas von Pferden, Sir?« »Doch, ein bißchen«, entgegnete ich. »Sehen Sie, es ist so, Sir. Ich habe da zwei Pferde, die ich zum Londoner Hafen bringen muß. Sie werden exportiert. Bei -73-
dem da ist ja alles in Ordnung«, er deutete auf das Pferd, dem sein Begleiter Bewegung verschaffte. »Aber mit dem anderen stimmt etwas nicht. Es schwitzt schon seit einer Stunde sehr stark und versucht dauernd, sich in den Bauch zu beißen. Es will sich immer hinlegen. Der Bursche ist bei dem Pferd im Wagen, und er macht sich wirklich Sorgen, das kann ich Ihnen sagen.« »Es könnte sich um eine Kolik handeln«, meinte ich. »In diesem Fall müßte man es auch herumführen. Nur so kann man ihm Linderung verschaffen.« Der Fahrer machte ein besorgtes Gesicht. »Es ist ja wirklich viel verlangt, Sir«, meinte er zögernd, »aber würden Sie sich das Pferd einmal ansehen? Ich verstehe etwas von Motoren, aber nicht von Pferden. Und diese Stallburschen sind ja auch nicht allzu hell im Kopf. Ich möchte vom Chef keinen Anpfiff kriegen.« »Na schön«, meinte ich. »Ich sehe es mir mal an. Aber ich bin kein Tierarzt, wissen Sie.« Er lächelte erleichtert. »Vielen Dank, Sir. Jedenfalls werden Sie wissen, ob wir einen Tierarzt brauchen oder nicht.« Ich parkte meinen Wagen hinter dem Transportfahrzeug. Die rückwärtige Tür des Transportwagens öffnete sich, und jemand streckte die Hand heraus, um mir hinaufzuhelfen. Vermutlich der Stallbursche. Er packte mich beim Handgelenk. Er ließ nicht los. Im Innern erwarteten mich drei Männer. Und kein Pferd, krank oder gesund. Zehn Sekunden später stand ich mit dem Rücken zur Schmalseite einer der Trennwände. Der Transportwagen war in drei Boxen aufgeteilt, eine davon zog sich über die ganze Breite des Aufbaus. Dort hielten sich gewöhnlich die Stallburschen auf. Zwei von den Männern hielten meine Arme fest. Sie standen etwas hinter mir, zu beiden Seiten der Trennwand und hatten mich fest im Griff. Der Pfosten war mit einem Mattenbelag -74-
gepolstert, der Verletzungen der Pferde verhindern soll. Das Stroh kitzelte mich am Hals. Der Fahrer stieg hinten ein und schloß die Tür. In seinem immer noch unterwürfigen Benehmen schwang Triumph mit. Er hatte ein Anrecht darauf. Seine Falle war gut konstruiert. »Tut mir sehr leid, Sir«, sagte er höflich. »Wenn Sie Geld wollen«, meinte ich, »haben Sie Pech gehabt. Ich wette nie große Beträge und hatte heute auch keinen guten Tag. Für bescheidene acht Pfund haben Sie sich mächtig angestrengt.« »Wir wollen Ihr Geld nicht, Sir«, sagte er, »obwohl wir’s kassieren werden, nachdem Sie es uns so liebenswürdig angeboten haben.« Mit freundlichem Lächeln nahm er mir die Brieftasche aus der Jacke. Ich trat ihm hart gegen das Schienbein, war aber wegen der Trennwand behindert. Die beiden Männer rissen mir die Arme nach hinten. »Das würde ich an Ihrer Stelle lieber nicht tun, Sir«, erklärte der freundliche Fahrer und rieb sich das Bein. Er öffnete meine Brieftasche, nahm das Geld heraus, faltete es säuberlich zusammen und verstaute es in seiner Lederjacke. Er studierte den übrigen Inhalt der Brieftasche, trat dann auf mich zu und steckte sie wieder in die Jacke zurück. Er lächelte schwach. Ich hielt mich still. »Das ist schon besser«, meinte er anerkennend. »Was soll denn das eigentlich?« fragte ich. Ich dachte vage, daß sie vielleicht vorhatten, von meinem Vater Lösegeld zu verlangen. So in der Art ›Überweisen Sie zehntausend Pfund, sonst wird Ihnen Ihr Sohn stückweise zurückgeschickte Das hätte zu bedeuten, daß sie genau wußten, wer ich war. »Das muß Ihnen doch klar sein, Sir«, meinte der Fahrer. »Ich habe keine Ahnung.« -75-
»Man hat mich beauftragt, Ihnen etwas auszurichten, Mr. York.« Er wußte also, wer ich war. Er hatte es nicht anhand meiner Brieftasche festgestellt, die nur Geld, Briefmarken und ein Scheckbuch enthielt. »Wie kommen Sie auf die Idee, daß ich York heiße?« versuchte ich zu bluffen. Es nützte nichts. »Mr. Alan York, Sir, sollte am Samstag, dem 27. Februar, mit einem dunkelblauen Lotus Elite, polizeiliches Kennzeichen KAB 890 ungefähr um fünf Uhr fünfzehn diese Straße befahren. Ich muß mich bei Ihnen bedanken, Sir, daß Sie es mir so leicht gemacht haben. Einen Wagen wie den Ihren sieht man hier selten. Es wäre viel schwieriger gewesen, Sie anzuhalten, wenn Sie einen Ford oder Austin gehabt hätten.« »Erledigen Sie schon Ihren Auftrag. Ich höre zu«, sagte ich. »Taten sprechen lauter als Worte«, erklärte der Fahrer mild. Er kam näher und knöpfte meine Jacke auf. Ich bewegte mich nicht. Er nahm mir die Krawatte ab, knöpfte das Hemd auf. Wir sahen einander in die Augen. Ich hoffte nur, daß die meinen so ausdruckslos waren wie seine. Ich ließ meine Arme erschlaffen und fühlte, wie der Zugriff der beiden Männer etwas nachließ. Der Fahrer trat zurück und sah auf den vierten Mann, der bisher schweigend an einer Trennwand gelehnt hatte. »Er gehört dir, Sonny, erklär ihm, worum es geht.« Sonny war jung. Er hatte lange Koteletten. Aber ich achtete nicht besonders auf sein Gesicht. Ich starrte auf seine Hände. Er hatte ein Messer. Der Griff lag in seiner Handfläche, und seine Finger hatten sich sanft darum geschlossen. Nur ein Professional hält ein Messer in dieser Art. Sonny ließ nichts von der gespielten Unterwürfigkeit des Fahrers spüren. Er hatte Spaß an seiner Arbeit. Er stand breitbeinig vor mir und setzte die Spitze des Messers auf mein Brustbein. Ich spürte sie kaum, so vorsichtig ging er zu Werk. Verdammt noch mal, dachte ich. Mein Vater würde nicht begeistert sein, wenn ich in den Erpresserbriefen noch um Hilfe -76-
bitten mußte. Darüber würde ich nie hinwegkommen. Für mich stand fest, daß man nur vorhatte, mir Angst einzujagen. Ich sank ein wenig in mich zusammen, als wiche ich vor dem Messer zurück. Sonny grinste verächtlich. Ich stieß mich von dem Pfosten ab, schnellte nach vorn, mein Knie zuckte hoch, traf Sonny in der Leistengegend. Ich hatte mich losgerissen. Ich sprang zur Tür und stieß sie auf. Im engen Transportwagen hatte ich keine Chance, aber wenn ich das Freie zu erreichen vermochte, würde ich vielleicht mit ihnen fertig werden. Von meinem Vetter, der in Kenia lebte, hatte ich ein paar üble Tricks gelernt. Aber ich schaffte es nicht. Ich versuchte, mich mit der Tür hinauszuschwingen, aber sie war anscheinend verrostet. Der Fahrer packte mich an den Knöcheln. Ich schüttelte ihn ab, aber die entscheidende Sekunde war vertan. Die beiden Männer, die mich festgehalten hatten, erwischten mich am Anzug. Durch die offene Tür bemerkte ich den Mann, der das Pferd auf und ab geführt hatte. Er sah neugierig herüber. Ich hatte ihn völlig vergessen. Wütend schlug ich mit Füßen, Fäusten und Ellbogen um mich, aber sie waren mir überlegen. Ich landete wie vorher an dem gepolsterten Pfosten. Man drehte mir die Arme nach hinten. Diesmal machten sich die beiden Männer mehr Mühe. Sie knallten mich gegen den Pfosten und setzten ihre ganze Kraft ein. Ich spürte den Schmerz in beiden Schultern, er zuckte durch meinen ganzen Körper. Ich biß die Zähne zusammen. Sonny kauerte in der Ecke, die Arme auf den Leib gepreßt. Er sah befriedigt zu. »Das hat dem Dreckskerl weh getan, Peaky«, meinte er. »Macht es noch mal.« Peaky und sein Freund gehorchten. -77-
Sonny lachte. Noch ein bißchen mehr Druck, und ich mußte mit ein paar gerissenen Sehnen und einer ausgerenkten Schulter rechnen. Aber ich konnte nichts dagegen unternehmen. Der Fahrer schloß die Tür und hob das Messer vom Boden auf. Er sah nicht mehr ganz so friedlich aus wie zuvor. Er blutete aus der Nase. Aber es war erstaunlich, wie sehr er sich in der Hand hatte. »Hör auf. Hör auf, Peaky«, befahl er. »Der Chef hat gesagt, daß wir ihm nicht weh tun dürfen. Darauf legt er besonderen Wert. Der Chef soll doch nicht von dir hören, daß du nicht zuverlässig warst, oder?« Seine Stimme klang drohend. Der Druck auf meine Arme ließ etwas nach. Sonny machte ein mürrisches Gesicht. »Wissen Sie, Mr. York«, sagte der Fahrer mißbilligend und wischte sich die Nase mit einem blauen Taschentuch, »das war ganz unnötig. Wir wollen Ihnen nur etwas ausrichten.« »Ich hör nicht gerne zu, wenn man mich mit einem Messer bedroht«, erwiderte ich. Der Fahrer seufzte. »Ja, Sir, das war vielleicht ein Fehler. Aber Sie sollten nur sehen, daß die Warnung ernstgemeint ist, verstehen Sie? Wenn Sie sich nicht drum bekümmern, sieht es sehr schlecht für Sie aus. Ich sage es Ihnen ganz ehrlich.« »Was für eine Warnung?« fragte ich. »Sie sollen aufhören, Fragen über Major Davidson zu stellen«, meinte er. »Was?« Ich starrte ihn entgeistert an. »Ich habe keine Fragen über Major Davidson gestellt«, erklärte ich. »Da bin ich nicht zuständig«, sagte der Fahrer, »aber das habe ich Ihnen auszurichten, und ich würde Ihnen raten, sich das zu Herzen zu nehmen, Sir. Der Chef hat es nicht gern, wenn sich andere Leute in seine Angelegenheiten mischen.« -78-
»Wer ist denn der Chef?« »Sie wissen doch ganz genau, daß man so etwas nicht fragen darf, Sir. Sonny, sag Bert, daß wir fertig sind. Er soll das Pferd hereinbringen.« Sonny raffte sich stöhnend auf und ging zur Tür, die Hand immer noch auf die Leistengegend gepreßt. Er brüllte etwas zum Fenster hinaus. »Bleiben Sie ruhig stehen, Mr. York, dann geschieht Ihnen nichts«, sagte der Fahrer unverändert höflich. Ich folgte seinem Rat und rührte mich nicht. Er öffnete die Tür und kletterte hinaus. Ein paar Minuten vergingen, während Sonny und ich giftige Blicke austauschten. Niemand sagte etwas. Dann wurde eine Rampe hinabgelassen. Der fünfte Mann, Bert, führte das Pferd ins Innere und machte es an der Wand fest. Der Fahrer stemmte die Rampe wieder hoch und hakte sie ein. Ich drehte den Kopf so weit nach hinten wie ich konnte und sah mir Peaky an. Er entsprach meinen Erwartungen, aber ich kam der Lösung des Rätsels dadurch um nichts näher. Der Fahrer stieg ins Führerhaus, schloß die Tür und ließ den Motor an. Bert sagte: »Bringt ihn zur Tür.« Ich ließ mir das nicht zweimal sagen. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Bert öffnete die Tür. Peaky und sein Freund ließen mich los, und Bert gab mir einen Stoß. Ich stürzte hinaus, während der Transportwagen seine Geschwindigkeit beschleunigte und davonfuhr. Es war ganz gut, daß ich einige Erfahrung im Sturz von Pferden hatte. Instinktiv landete ich auf der Schulter und rollte am Boden dahin. Ich setzte mich auf und sah dem davonbrausenden Transportfahrzeug nach. Das Nummernschild war mit einer Staubschicht überzogen und kaum leserlich, aber die ersten drei Buchstaben des Kennzeichens vermochte ich zu entziffern. Sie lauteten: ›APX‹. -79-
Der Lotus stand noch in der Ausweichstelle. Ich raffte mich auf, säuberte mich, so gut es ging, und stieg ein. Ich hatte vor, dem Transportwagen zu folgen, um festzustellen, wohin er unterwegs war. Aber der Fahrer hatte mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Der Motor sprang nicht an. Ich öffnete die Kühlerhaube. Man hatte die Zündkerzen herausgeschraubt. Sie lagen säuberlich nebeneinander auf der Batterie. Ich brauchte zehn Minuten zum Einsetzen, weil meine Hände zitterten. Damit war jede Chance dahin, den Transportwagen einzuholen. Ich setzte mich in den Lotus und knöpfte mein Hemd zu. Die Krawatte war verschwunden. Ich nahm das Mitgliedsbuch meines Automobilclubs aus der Türtasche und schlug die Buchstaben des Kennzeichens nach. Der Transportwagen war in West-Sussex zugelassen worden. Wenn das Nummernschild echt war, ließ sich der gegenwärtige Besitzer vielleicht feststellen. Eine Viertelstunde lang saß ich da und dachte nach. Dann ließ ich den Motor an, wendete und fuhr nach Maidenhead zurück. Die Stadt war hell erleuchtet, obgleich nahezu alle Geschäfte geschlossen waren. Die Tür zum Polizeirevier stand weit offen. Ich trat ein und fragte nach Inspektor Lodge. »Er ist noch nicht hier«, erklärte der Wachtmeister und warf einen Blick auf die Uhr. Es war zehn nach sechs. »Er muß aber gleich kommen, wenn Sie warten wollen, Sir.« »Er ist noch nicht da? Meinen Sie damit, daß er jetzt erst seinen Dienst antritt?« »Ja, Sir. Er hat Nachtdienst. Samstags ist hier immer allerhand los«, grinste er. »Tanzlokale, Wirtschaften und Verkehrsunfälle.« Ich lächelte, setzte mich auf die Bank und wartete. Fünf Minuten später betrat Lodge mit schnellen Schritten den Raum und entledigte sich seines Mantels. »Guten Abend, Small, was gibt’s Neues?« fragte er den Wachtmeister. -80-
»Der Herr da möchte Sie sprechen, Sir«, sagte Small und deutete auf mich. »Er wartet erst seit ein paar Minuten.« Lodge drehte sich um. Ich stand auf. »Guten Abend«, sagte ich. »Guten Abend, Mr. York.« Lodge sah mich durchdringend an, zeigte aber keine Überraschung. Sein Blick fiel auf mein Hemd, und er hob die Brauen. Aber er sagte nur: »Was kann ich für Sie tun?« »Sind Sie sehr beschäftigt?« fragte ich. »Wenn Sie Zeit haben, würde ich Ihnen gerne erzählen…, wie ich meine Krawatte verloren habe.« Mitten im Satz brachte ich es plötzlich nicht mehr fertig, zu erklären, daß ich überfallen worden war. Small sah mich neugierig an; offensichtlich hielt er mich für nicht ganz normal. Aber Lodge, der doch etwas tiefer sah, sagte: »Kommen Sie bitte in mein Büro, Mr. York.« Er ging voraus, hängte den Mantel an einen Kleiderhaken und entzündete die Gasheizung, obwohl sich auch dadurch das spartanisch eingerichtete Zimmer nicht gemütlich machen ließ. Lodge setzte sich an den Schreibtisch, und ich nahm ihm gegenüber Platz. Er bot mir eine Zigarette an und gab mir Feuer. Ich überlegte mir, wo ich anfangen sollte. »Sind Sie seit vorgestern in Major Davidsons Angelegenheit weitergekommen?« »Nein, leider nicht. Wir behandeln die Sache auch nicht mehr vordringlich. Gestern wurde sie bei einer Besprechung durchdiskutiert, und wir erkundigten uns beim Leiter der Rennkommission, Sir Creswell Stampe. Angesichts des Urteils in der gerichtlichen Untersuchung hält man Ihre Aussage für das Ergebnis einer jugendlichen, etwas übertriebenen Einbildungskraft. Außer Ihnen hat niemand eine Drahtrolle gesehen. Die Rillen an den Pfosten des Hindernisses mögen durchaus von einem Draht stammen, aber es gibt keinen -81-
Hinweis darauf, wann sie entstanden sind. Soviel ich weiß, ist es allgemein üblich, Drähte über Hecken zu ziehen, damit nicht irgendwelche unbefugten Reiter Sprünge versuchen und die Hecke beschädigen.« Er schwieg eine Weile und fuhr dann fort: »Sir Creswell erklärte, die Mitglieder der Rennkommission, mit denen er telefonisch gesprochen habe, seien der Ansicht, daß Ihnen ein Fehler unterlaufen sei. Wenn Sie wirklich Draht gesehen haben, dann muß er ihrer Ansicht nach dem Wartepersonal gehört haben.« »Hat man sich denn erkundigt?« fragte ich. Lodge seufzte. »Der zuständige Mann sagte, er habe keinen Draht auf der Bahn liegenlassen, aber einer von seinen Leuten ist schon recht alt und unsicher, und er kann sich nicht mehr genau erinnern.« »Und was glauben Sie persönlich?« fragte ich schließlich. »Ich glaube, daß Sie den Draht gesehen haben«, erwiderte Lodge, »und daß Major Davidson von ihm zu Fall gebracht wurde. Es gibt eine Tatsache, die ich hier für besonders wichtig halte. Ich meine damit, daß der Hindernisaufseher, der sich Thomas Cook nannte, nicht den ihm für zwei Tage zustehenden Lohn abholte. Meiner Erfahrung zufolge müssen schon ganz besondere Gründe vorliegen, wenn jemand das ihm zustehende Geld nicht in Empfang nimmt.« Er lächelte ironisch. »Ich könnte Ihnen noch einen Beweis dafür geben, daß Major Davidsons Sturz kein Unfall war«, sagte ich, »aber Sie müssen sich wieder auf mein Wort verlassen. Ich kann nichts belegen.« »Und das wäre?« »Jemand hat sich besondere Mühe gegeben, mir klarzumachen, daß ich keine unerwünschten Fragen stellen soll.« Ich erzählte ihm von meinem Erlebnis mit dem -82-
Pferdetransportwagen und fügte hinzu: »Ist das auch überhitzte Phantasie?« »Wann war denn das?« erkundigte sich Lodge. »Vor etwa einer Stunde.« »Und was haben Sie in der Zwischenzeit getan?« »Nachgedacht«, sagte ich und drückte meine Zigarette im Aschenbecher aus. »Oh«, machte Lodge. »Haben Sie sich eigentlich überlegt, wie unwahrscheinlich Ihre Geschichte klingt?« »Dann lassen Sie’s doch«, meinte ich lächelnd. »Aber die größte Unwahrscheinlichkeit dürfte wohl sein, daß fünf Männer, ein Pferd und ein Transportwagen eingesetzt wurden, um eine Warnung zu übermitteln, die man viel leichter hätte brieflich aussprechen können.« »Das deutet immerhin auf eine Organisation von beträchtlichem Ausmaß«, meinte Lodge mit einem Unterton von Ironie. »Es sind mindestens zehn Mann«, sagte ich. »Ein paar davon liegen aber im Krankenhaus.« Lodge richtete sich auf. »Was heißt das? Woher wissen Sie das?« »Die fünf Männer, die mich heute aufgehalten haben, waren ausnahmslos Taxifahrer. Sie kommen entweder aus London oder aus Brighton, aber da kann ich mich nicht festlegen. Vor drei Tagen habe ich sie vor der Rennbahn in Plumpton gesehen, wo sie gegen eine rivalisierende Bande kämpften.« »Was?« rief Lodge. Dann sagte er: »Ja, ich habe darüber einen Bericht in der Zeitung gelesen. Haben Sie diese Leute ganz sicher erkannt?« »Ja«, erwiderte ich. »Sonny verließ sich auch in Plumpton auf sein Messer, aber er lag unter einem massiven Burschen und hatte keine Gelegenheit, es zu benützen. Aber sein Gesicht sah -83-
ich ganz deutlich. Peaky kann man überhaupt nicht verwechseln; eine niedrigere Stirn findet man wohl nicht alle Tage. Die anderen drei wurden in Plumpton derselben Gruppe zugeteilt. Ich wartete dort, um jemand mitzunehmen, und hatte nach dem Kampf sehr viel Zeit, mir die Taxichauffeure anzusehen. Bert, der Mann mit dem Pferd, hatte noch heute ein blaues Auge, und der Kerl, der meinen rechten Arm gepackt hielt – seinen Namen kenne ich nicht –, war im Gesicht bepflastert. Aber warum liefen sie eigentlich alle frei herum? Ich dachte, man würde sie wegen Landfriedensbruchs zumindest für acht bis vierzehn Tage ins Gefängnis stecken.« »Vielleicht hat man sie gegen Kaution freigelassen, oder sie kamen mit einer Geldstrafe davon. So ohne weiteres kann ich das nicht sagen«, meinte Lodge. »Warum hat man wohl, Ihrer Meinung nach, einen derartigen Aufwand getrieben, um Ihnen eine Lektion zu erteilen?« »Es ist eigentlich recht schmeichelhaft, daß man fünf Mann geschickt hat, wenn man es sich richtig überlegt«, grinste ich. »Vielleicht ist das Taxigeschäft ziemlich flau, und die Kerle haben nichts anderes zu tun. Oder man wollte der Sache besonderen Nachdruck verleihen, wie mir der Fahrer erklärte.« »Das bringt mich auf eine andere Unwahrscheinlichkeit«, entgegnete Lodge. »Wenn, wie Sie sagen, ein Messer auf Ihre Brust gerichtet war, warum haben Sie sich dann nach vorne geworfen? War das nicht zu riskant?« »Ich hätte mich nicht darauf eingelassen, wenn die Spitze des Messers auf meine Kehle gedeutet hätte, aber Sonny richtete sie auf mein Brustbein. Man brauchte einen Hammer, um ein Messer dort hindurchzuschlagen. Ich rechnete mir aus, daß ich Sonny durch den Sprung nach vorne das Messer aus der Hand schlagen würde, und so kam es ja auch.« »Haben Sie sich überhaupt nicht verletzt?« »Es war nicht schlimm.« -84-
»Lassen Sie einmal sehen«, sagte Lodge. Er stand auf und trat zu mir. Ich knöpfte mein Hemd wieder auf. Zwischen dem zweiten und dritten Knopf klaffte in der Haut über dem Brustbein eine nicht tiefgehende Schnittwunde. Es hatte nicht einmal sehr stark geblutet. »Also«, sagte er, nahm seinen Füllfederhalter und nagte am Griffende. »Welche Fragen haben Sie über Major Davidson gestellt und an wen?« »Das ist eigentlich das Merkwürdigste an der ganzen Geschichte«, meinte ich. »Ich habe zu anderen Leuten kaum davon gesprochen. Und brauchbare Antworten bekam ich erst recht nicht.« »Aber Sie müssen irgendwo einen wunden Punkt berührt haben«, sagte Lodge. Er nahm ein Blatt Papier aus einer Schublade. »Zählen Sie mir die Namen aller Personen auf, mit denen Sie über den Draht gesprochen haben.« »Mit Ihnen«, gab ich sofort zurück. »Und mit Mrs. Davidson. Dazu kommen selbstverständlich alle Leute, die bei der gerichtlichen Untersuchung anwesend waren.« »Aber mir ist aufgefallen, daß diese Untersuchung kaum Widerhall in den Zeitungen fand. Der Draht wurde jedenfalls in den Meldungen nicht erwähnt«, erklärte er. »Und bei der Untersuchung machten Sie nicht den Eindruck, als wären Sie unbedingt darauf aus, das Rätsel zu lösen. Sie nahmen das Urteil ganz ruhig auf, und es sah keineswegs so aus, als wären Sie damit nicht einverstanden.« »Ich kann mir denken, was mich da erwartet«, meinte ich. Lodges Liste sah sehr kurz und unbefriedigend aus. »Sonst noch jemand?« fragte er. »Oh…, eine Bekannte… Eine Miss Ellery-Penn. Ich habe es ihr gestern abend erzählt.« -85-
»Freundin?« fragte er rundheraus. Er schrieb den Namen auf. »Ja.« »Sonst noch jemand?« »Nein.« »Warum nicht?« fragte er. »Ich dachte mir, daß ich Sie und Sir Creswell nicht behindern dürfte. Wenn ich zu viele Fragen gestellt hätte, wären Ihre Ermittlungen vielleicht noch schwieriger geworden. Die Leute sind dann auf der Hut, sie haben ihre Antworten parat – Sie wissen schon. Aber nachdem man hier ja weiter nichts unternehmen will, hätte ich mich darum gar nicht zu kümmern brauchen.« Meine Stimme klang ein wenig bitter. Lodge sah mich an. »Sie ärgern sich, weil man Sie für jugendlich und hitzköpfig hält«, meinte er. »Mit vierundzwanzig Jahren ist man schließlich nicht mehr so jung«, brauste ich auf. »Ich glaube mich erinnern zu können, daß England einmal einen Premierminister in diesem Alter gehabt hat. Er war recht erfolgreich.« »Das gehört nicht zur Sache, und Sie wissen das auch ganz genau«, knurrte er. Ich grinste. »Was wollen Sie jetzt tun?« fragte Lodge. »Nach Hause fahren«, erwiderte ich und warf einen Blick auf die Uhr. »Nein, ich meinte, wegen Major Davidson.« »So viele Fragen stellen, wie mir nur einfallen«, erklärte ich sofort. »Trotz der Warnung?« »Ihretwegen«, meinte ich. »Die bloße Tatsache, daß man fünf Männer schickt, um mich zu bedrohen, bedeutet doch, daß allerhand faul ist. Bill Davidson war ein guter Freund von mir, -86-
wissen Sie.« Ich überlegte einen Augenblick. »Zuerst will ich einmal feststellen, wem die Taxis gehören, die Peaky und Genossen fahren.« »Ganz inoffiziell möchte ich sagen, viel Glück«, meinte Lodge. »Aber seien Sie vorsichtig.« »Aber gewiß«, versprach ich und stand auf. Lodge begleitete mich zur Tür und gab mir die Hand. »Halten Sie mich auf dem laufenden«, sagte er. »Ja, gerne.« Er winkte mir zu und ging wieder ins Haus. Ich setzte mich in den Wagen und trat endgültig den Heimweg an. Ich hatte starke Schmerzen in den Schultern, aber solange ich über Bills Sturz nachdachte, vergaß ich sie. Zwei Tage lang unternahm ich nichts. Es konnte nichts schaden, wenn man den Eindruck gewann, als hätte ich mir die Warnung zu Herzen genommen. Ich spielte mit den Kindern Poker und verlor, weil ich nicht bei der Sache war. »Du paßt ja gar nicht auf, Alan«, sagte Henry mit gespieltem Bedauern, als er mir zehn Spielmarken abnahm. »Wahrscheinlich ist er verliebt«, sagte Polly mit abschätzendem Blick. Richtig, das kam ja auch noch dazu. »Pff«, machte Henry und teilte die Karten aus. »Was ist denn verliebt?« fragte William, der zu Henrys Ärger mit seinen Spielmarken Flohhüpfen spielte. »Scheußlich«, meinte Henry. »Küsserei und so Zeug.« »Mammi ist in mich verliebt«, verkündete William. »Sei nicht albern«, dozierte Polly hochmütig, mit der Erfahrung ihrer ganzen elf Jahre. »Verliebt heißt Hochzeiten, Bräute, Konfetti und so.« -87-
»Sieh bloß zu, daß sich das schnell wieder gibt«, erklärte Henry verächtlich, »sonst hast du keine Chips mehr übrig, Alan.« William nahm seine Karten auf. Er machte riesengroße Augen und öffnete den Mund, das bedeutete, daß er mindestens zwei Asse hatte. Mit anderen Karten erhöhte er nie. Ich sah, daß ihm Henry einen kurzen Blick zuwarf und sich dann wieder auf seine Karten konzentrierte. Er legte drei Stück ab, ließ sich drei neue geben und gab auf, als er an die Reihe kam. Ich drehte sie um. Zwei Könige und zwei Zehner. Henry war Realist. Er wußte, wann er aufhören mußte. Und William, der aufgeregt umherhopste, gewann mit drei Assen und zwei Fünfen nur vier Spielmarken. Nicht zum erstenmal wunderte ich mich über die seltsame Verteilung des Erbgutes. Bill war ein freundlicher, ehrlicher Mann mit vielen guten Charakterzügen gewesen. Aber weder ihm noch Scilla konnte man überdurchschnittliche Intelligenz zusprechen. Trotzdem hatten sie ihrem älteren Sohn einen scharfen, außergewöhnlich durchdringenden Verstand mitgegeben. Und wie hätte ich ahnen sollen, als ich für Polly die Karten mischte und William half, seinen Turm aus Spielmarken wieder zu errichten, daß Henry in seinem Gehirn den Schlüssel zum Rätsel um den Tod seines Vaters verwahrte! Er wußte es ja selbst nicht.
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7 Das Pferdesport-Festival von Cheltenham begann am Dienstag, dem zweiten März. Drei Tage erstklassigen Rennsports; die besten Hindernispferde der Welt drängten sich in den Rennbahnstallungen. Mit dem Flugzeug und per Schiff kamen sie aus Irland: Außenseiter aus den Mooren, von deren sicherem Gang man sich Wunderdinge erzählte, und berühmte Tiere, die auf der grünen Insel Preise und Pokale in rauhen Mengen gewonnen hatten. Pferdetransportwagen aus Schottland, aus Kent, aus Devon kamen in Gloucestershire an. Sie brachten Grand-National-Sieger, Champion-Sprungpferde, die Aristokraten unter den Hindernisspezialisten. Jeder Amateurjockey, der ein Pferd erbetteln, ausleihen oder kaufen konnte, fand sich ein, da in diesen drei Tagen allein vier große Rennen nur für sie reserviert waren. Es war eine Ehre, in Cheltenham zu reiten, ein unvergeßliches Erlebnis, in Cheltenham zu siegen. Aber ein Amateurjockey, Alan York, war gar nicht begeistert, als er auf dem Parkplatz vor der Rennbahn ankam. Ich konnte es mir selbst nicht erklären, aber zum zweitenmal rührte mich das Gemurmel der Zuschauer, die erwartungsvollen Gesichter, der Sonnenschein an diesem kühlen Märzmorgen, ja selbst die Aussicht, drei gute Pferde reiten zu können, nicht an. Vor dem Haupteingang entdeckte ich den Zeitungsverkäufer, mit dem ich in Plumpton gesprochen hatte. Er war ein kleiner, stämmiger Cockney mit gewaltigem Schnurrbart und freundlichem Wesen. Er sah mich kommen und hielt mir eine Zeitung entgegen. -89-
»Guten Morgen, Mr. York«, sagte er. »Kann man heute auf Ihr Pferd setzen?« »Ein paar Schillinge schon«, erwiderte ich, »aber man muß auf den Iren aufpassen.« »Sie schaffen es schon.« »Na, das hoffe ich.« Ich wartete, während er einen Kunden bediente, dann sagte ich: »Erinnern Sie sich an die Schlägerei der Taxichauffeure in Plumpton?« »So etwas vergißt sich nicht so leicht«, meinte er strahlend. »Sie haben mir erzählt, daß eine Gruppe von London und die andere von Brighton kam.« »Ja, das stimmt.« »Und welche war denn welche?« fragte ich. Er sah mich verständnislos an. »Welche Gruppe kam aus London und welche aus Brighton?« »Ach so.« Er verkaufte eine Zeitung an zwei ältere Damen in Tweedkostümen und dicken Wollstrümpfen. Dann drehte er sich wieder um. »Hm… ich sehe die Kerle ziemlich oft, wissen Sie, aber sie sind sehr unfreundlich. Man kann nicht mit ihnen reden. Das ist ganz anders als bei den Privatchauffeuren. Ich könnte die Leute aus Brighton schon herausfinden, wenn ich sie sähe.« Er brach ab, brüllte mit Stentorstimme »Sonderausgabe«, worauf er wieder drei Zeitungen verkaufte. Ich wartete geduldig. »Wie erkennen Sie diese Leute?« fragte ich. »An den Gesichtern natürlich.« Er hielt die Frage für albern. »Ja, aber welche Gesichter? Können Sie sie beschreiben?« »Ach so, ich verstehe. Da gibt es alle möglichen Sorten.« »Können Sie nicht wenigstens eines beschreiben?« Er dachte scharf nach und zerrte an seinem Schnurrbart. »Nun, da gibt es einen Kerl mit Schlitzaugen, der recht unangenehm wirkt. In seinem Taxi möchte ich lieber nicht -90-
fahren. Er hat eine sehr niedrige Stirn. Die Haare wachsen ihm beinahe bis zu den Augenbrauen hinunter. Wozu brauchen Sie ihn eigentlich?« »Ich brauche ihn nicht«, sagte ich. »Ich möchte nur wissen, wo er herkommt.« »Aus Brighton, genau.« Er strahlte mich an. »Manchmal ist mir auch ein anderer aufgefallen. Ein junger Bursche mit langen Koteletten. Er säubert sich dauernd mit einem Messer die Fingernägel.« »Recht vielen Dank«, sagte ich. Ich gab ihm eine Pfundnote. Er grinste breit und steckte sie in eine Innentasche. »Viel Glück, Sir«, sagte er. Ich ging in den Wiegeraum und dachte darüber nach, daß meine Freunde mit dem Pferdetransportwagen aus Brighton stammten. Ihr Auftraggeber konnte ja nicht wissen, daß ich sie schon einmal gesehen hatte. Ich war so in Gedanken versunken gewesen, daß ich jetzt erst Pete Gregorys Stimme hörte. »… hatten unterwegs eine Reifenpanne, aber sie sind sicher angekommen, das ist die Hauptsache. Hörst du eigentlich zu, Alan?« »Ja, Pete. Entschuldige. Ich habe nachgedacht.« »Freut mich, daß du das kannst«, meinte Pete und lachte schallend. So ausgekocht und geschickt er sonst war, sein Sinn für Humor blieb der eines Schuljungen. Aber man gewöhnte sich daran. »Wie geht es ›Palindrome‹?« fragte ich. Mein bestes Pferd. »Sehr gut. Ich habe dir doch gerade erzählt, daß sie eine Reifenpanne…« Er brach ab. »Na ja…, willst du mit zum Stall gehen und ihn dir ansehen?« »Ja, gerne«, sagte ich. Wir gingen zu den Stallungen. Wegen der strengen Vorschriften mußte mich Pete begleiten. Nicht einmal die Besitzer durften ohne den Trainer zu ihren Pferden, und die -91-
Stallburschen mußten an den Eingängen Ausweise vorzeigen. Das Ganze diente dazu, Doping-Versuche zu unterbinden. Ich tätschelte mein Pferd, einen herrlichen, acht Jahre alten Braunen mit schwarzen Flecken, und gab ihm ein Stück Zucker. Pete schnalzte mißbilligend mit der Zunge und meinte: »Nicht vor dem Rennen«, wie ein Kindermädchen, das entdeckt hat, daß man seinem Schützling vor dem Essen Süßigkeiten zusteckt. Ich grinste. »Zucker schafft Energie«, sagte ich, gab ›Palindrome‹ noch ein Stück und streichelte ihn. »Er sieht gut aus.« »Er müßte gewinnen, wenn du genau aufpaßt«, sagte Pete. »Du darfst diesen Iren nicht aus den Augen lassen. Wenn ihr an den Wassergraben kommt, wird er plötzlich davonschießen, damit er den Hügel mit einem Vorsprung von sechs Längen erreicht. Das probiert er jedesmal. Er läßt sich dann von den anderen den Hügel hinaufhetzen, bis sie keine Kraft mehr fürs Finish haben. Entweder spurtest du mit ihm und gehst mit seinem Tempo den Hügel an, oder, wenn er ausreißt, dann nimmst du den Hügel ohne besonders großes Tempo und gibst Fahrt zu, wenn du auf der anderen Seite wieder herunterkommst. Klar?« »Wie Glas«, sagte ich. Was immer man auch von Petes Witzen halten mochte, seine Beratung über die Taktik beim Rennen war unschätzbar, und ich verdankte ihm viel. Ich tätschelte ›Palindrome‹ noch einmal, und wir traten auf den Vorplatz hinaus. Dank der strengen Vorschriften war das die ruhigste und einsamste Stelle der ganzen Rennbahn. »Pete, weißt du, ob Bill in Schwierigkeiten war?« fragte ich plötzlich. Er schloß die Tür zu ›Palindromes‹ Abteil, drehte sich um und starrte mich an. Nach einer Weile sagte er: »Das ist ein großes Wort, Schwierigkeiten. Es hat etwas gegeben…« -92-
»Was denn?« fragte ich, als er wieder verstummte. Er gab mir keine Antwort und fragte statt dessen: »Wie kommst du auf die Idee, daß er in… Schwierigkeiten gewesen sein könnte?« Ich erzählte ihm von dem Draht. Er hörte ruhig zu. »Warum haben wir bisher nichts davon erfahren?« »Ich verständigte Sir Creswell Stampe und die Polizei, schon vor einer Woche«, erwiderte ich, »aber da der Draht fehlt, lassen sie die Sache auf sich beruhen.« »Aber du willst das nicht tun?« meinte Pete. »Das ist ganz begreiflich. Ich kann dir leider nicht viel helfen. Ich weiß nur das eine… Bill erzählte mir, daß er einen Anruf erhalten hätte, den er sehr lächerlich fände. Aber ich hörte ihm nicht aufmerksam zu – dachte über meine Pferde nach, du weißt ja, wie es ist. Irgendwie war von einem Sturz ›Admirals‹ die Rede. Er hielt das Ganze für einen Witz, und ich war nicht so interessiert, daß ich mich näher erkundigt hätte. Als Bill ums Leben kam, fragte ich mich, ob nicht doch etwas faul gewesen wäre, aber ich erkundigte mich bei dir, und du sagtest, dir sei nichts aufgefallen…« »Ja, es tut mir leid«, sagte ich. »Wann hat Bill eigentlich von dem Anruf erzählt?« »Als ich das letztemal mit ihm sprach«, sagte Pete. »Am Freitagmorgen, kurz bevor ich nach Irland flog. Ich rief ihn an, um ihm mitzuteilen, daß für ›Admirals‹ Start am nächsten Tag in Maidenhead alles vorbereitet sei.« Wir gingen zum Wiegeraum zurück. Einem plötzlichen Einfall folgend fragte ich: »Pete, benützt du eigentlich die Brighton-Taxis?« »Nicht sehr oft«, erwiderte er. »Warum?« »Es gibt da ein paar Taxichauffeure, mit denen ich mich gerne einmal unterhalten hätte«, murmelte ich. -93-
»In Brighton existieren meines Wissens mehrere Taxiunternehmen«, sagte er. »Wenn du einen ganz bestimmten Chauffeur finden willst, warum versuchst du es denn nicht am Bahnhof? Von dort aus habe ich immer ein Taxi genommen. Sie warten dort in Scharen auf die Züge aus London.« Seine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als ein irisches Pferd vorbeigeführt wurde. »Das ist ›Connemara Pal‹«, sagte Pete neidisch. »Ich bin mit einem von den Stallbesitzern im August vorigen Jahres hinübergefahren, um ihn zu kaufen, aber sie verlangten achttausend. Er war in einer halbverfallenen Hütte hinter einem Schweinestall untergebracht, und deswegen wollte der Käufer diesen Betrag nicht bezahlen. Und schau ihn dir jetzt an. Er hat das Hauptrennen in Leopardstown gewonnen, noch dazu mit zwanzig Längen Vorsprung und ohne sich anzustrengen.« Im Wiegeraum suchte ich Clem, der sehr viel zu tun hatte, überprüfte mit ihm meine Ausrüstung und ließ feststellen, wieviel Gewicht ich auf ›Palindrome‹ zu bringen hatte. Kate hatte mir gesagt, daß sie nicht nach Cheltenham kommen würde, deshalb wollte ich zumindest etwas über sie hören. Dane hatte seinen Umkleideplatz im kleineren der beiden Räume, und er saß nur einen Platz vom Ofen entfernt, ein sicheres Zeichen für sein Ansehen in der Welt der Jockeys. Anfänger müssen in der Nähe der Türen die Zugluft ertragen. Dane zog gerade seine Nylonstrümpfe an. In beiden Füßen befanden sich große Löcher, aus denen seine Zehen hervorragten. »Du hast gut lachen«, knurrte Dane. »Für meine Größe werden eben keine Nylons hergestellt…« »Laß dir doch von Walter dehnbare besorgen«, riet ich ihm. »Hast du heute viel zu tun?« »Drei Rennen, einschließlich des Championats«, sagte Dane. -94-
»Pete läßt den halben Stall starten.« Er grinste mich an. »Vielleicht habe ich gerade noch genug Zeit, dir von den Penns zu erzählen, wenn du darauf hinauswillst. Soll ich mit Onkel George anfangen oder mit Tante Deb – oder mit…« Er zog seine Seidenbreeches und die Reitstiefel an. Walter, sein Bursche, gab ihm die Jacke. »… oder möchtest du etwas über Kate hören?« meinte Dane. Der Umkleideraum wurde voll. Dane und ich gingen hinaus in den Wiegeraum, wo man wenigstens noch sein eigenes Wort verstand. »Onkel George ist eine Wucht. Ich erzähle dir aber nichts von ihm, das wäre wirklich zu schade. Tante Deb ist für dich und mich die ehrenwerte Mrs. Penn, und Tante Deb nur für Kate. Sie hat so eine Art eisigen Charme, mit dem sie dir deutlich verrät, daß sie ausgesprochen unhöflich wäre, wenn nicht ihre Vornehmheit dagegen spräche. Sie war nicht mit mir einverstanden. Ich glaube, sie mißbilligt alles, was mit Rennsport zusammenhängt, einschließlich ›Heavens Above‹ und Onkel Georges Vorstellungen von einem Geburtstagsgeschenk.« »Los, weiter«, drängte ich. »Ach ja, Kate. Die einmalige, wunderbare Kate. Eigentlich heißt sie ja nur Kate Ellery. Nichts von Penn. Onkel George fügte Bindestrich und Penn hinzu, als er sie aufnahm. Er sagte, es wäre einfacher für sie, wenn sie denselben Namen trüge wie er – man könne sich viele Fragen ersparen. Das stimmt wohl auch«, sagte Dane nachdenklich, denn er wußte sehr wohl, daß er mich auf die Folter spannte. Er grinste plötzlich. »Sie schickt dir liebe Grüße.« Die Welt schien etwas heller zu werden. »Danke«, sagte ich und versuchte, ein albernes Lächeln zu unterdrücken, was mir nicht ganz gelang. Dane sah mich fragend an, aber ich wechselte das Thema. Wir sprachen über den Rennsport, und nach einer Weile fragte ich ihn, ob Bill -95-
Davidsons Name im Zusammenhang mit irgendwelchen seltsamen Vorkommnissen genannt worden sei. »Nein, ich habe nie etwas gehört«, erklärte er entschieden. Ich erzählte ihm von dem Draht. Seine Reaktion war typisch für ihn. »Armer Bill«, sagte er zornig. »Armer alter Bill. Das ist doch nicht zufassen!« »Wenn du also etwas hörst, was auch nur ganz entfernt von Bedeutung sein könnte…« »Ich gebe es an dich weiter«, versprach er. In diesem Augenblick prallte Joe Nantwich mit Dane zusammen, als hätte er ihn nicht gesehen. Er trat einen Schritt zurück, ohne sich zu entschuldigen, und marschierte dann in den Umkleideraum. Seine Augen hatten einen glasigen Blick. »Er ist betrunken«, sagte Dane ungläubig. »Er stinkt wie eine ganze Schnapsfabrik.« »Er hat so seine Sorgen«, meinte ich. »Er wird bald noch ein paar mehr haben. Warte nur, bis einer von der Rennkommission in seine Nähe kommt.« Joe tauchte neben uns auf. Es stimmte: er trug eine gewaltige Fahne vor sich her. Ohne Vorrede wandte er sich direkt an mich. »Ich habe wieder eine Warnung bekommen.« Er nahm einen Zettel aus der Tasche. Der Text lautete: ›BOLINGBROKE. DIESE WOCHE‹. »Wann hast du den Brief bekommen?« fragte ich. »Er lag schon hier, als ich ankam, in meinem Fach.« »Du hast in der Zwischenzeit ganz schön getankt«, sagte ich. »Ich bin nicht betrunken«, erwiderte Joe indigniert. »Ich habe mir nur schnell in der Bar ein paar Doppelte genehmigt.« Dane und ich hoben die Brauen. Die Bar gegenüber dem Wiegeraum war vorne offen, und jeder, der dort zu trinken pflegte, konnte von allen Trainern, Rennstallbesitzern und -96-
Kommissionsmitgliedern gesehen werden. Es gab vielleicht für einen Jockey noch einen einfacheren Weg, beruflich Selbstmord zu begehen, als dort vor dem ersten Rennen ein paar Schnäpse zu sich zu nehmen, aber er fiel mir im Augenblick nicht ein. Joe wurde vom Schluckauf geschüttelt. Dane nahm mir den Zettel aus der Hand und sah ihn sich an. »Was heißt denn das, ›Bolingbroke‹. Diese Woche? Warum regst du dich denn so auf?« Joe entriß ihm das Blatt und stopfte es in die Tasche. Zum erstenmal schien ihm aufgegangen zu sein, daß Dane zugehört hatte. »Das geht dich einen Dreck an«, fauchte er. Er wandte sich wieder an mich und sagte: »Was soll ich bloß tun?« »Reitest du heute?« fragte ich. »Ich trete im vierten und im letzten Rennen an. Diese verdammten Amateure haben heute zwei Rennen ganz für sich. Eigentlich eine Frechheit, nicht wahr, daß uns nur vier Rennen bleiben, damit wir unseren Unterhalt verdienen können? Warum begnügen sich diese Angeber nicht mit ihren Querfeldeinrennen?« Dane lachte. Joe war nicht so betrunken, daß er nicht gemerkt hätte, vor wem er sich hier ausließ. Mit weinerlicher Stimme fügte er hinzu: »Ich habe dich doch nicht persönlich gemeint, Alan…« »Wenn du trotz deiner Meinung über Amateurjockeys von mir einen Rat annehmen willst«, erwiderte ich, »dann trinkst du jetzt drei Tassen Kaffee und läßt dich solange wie möglich nicht blicken.« »Ich meine doch, was ich wegen dieses Zettels unternehmen soll?« »Ich würde mich überhaupt nicht darum kümmern«, meinte ich. »Ich glaube, daß das Ganze nicht ernstgemeint ist. -97-
Vielleicht weiß der Absender, daß du deine Sorgen gern in Whisky ertränkst. Er verläßt sich wohl darauf, daß du dich selber erledigst, ohne daß er mehr zu tun hätte, als Drohbriefe zu schicken.« »Das kann man mit mir aber nicht machen«, knurrte Joe wütend. Er wankte zur Tür hinaus, anscheinend auf der Suche nach schwarzem Kaffee. Bevor Dane mich fragen konnte, was hier gespielt wurde, schlug ihm Sandy Mason, der Joe angewidert nachsah, kräftig auf die Schulter. »Was ist denn mit dem blöden Kerl los?« fragte er, wartete die Antwort aber gar nicht ab. Er sagte: »Hör zu, Dane, klär mich doch mal über Gregorys Pferd auf, das ich im ersten Rennen reite. Soviel ich weiß, habe ich es zuvor noch nicht gesehen. Vielleicht gefällt dem Besitzer mein rotes Haar.« »Mach ich«, sagte Dane. Sie besprachen die Meriten des Pferdes, und ich wollte mich entfernen. Aber Dane berührte mich am Arm. »Bist du einverstanden, wenn ich anderen Leuten, zum Beispiel Sandy hier, von dem Draht erzähle?« »Ja, tu das. Vielleicht erfährst du bei irgendeinem etwas, das mir weiterhilft. Aber sei vorsichtig.« Ich überlegte, ob ich ihm von meinem Erlebnis mit dem Transportwagen erzählen sollte, aber das war eine lange Geschichte, deshalb fügte ich nur hinzu: »Vergiß nicht, daß du dabei jemandem auf die Zehen treten kannst, der keine Skrupel hat, Mißliebige auszuschalten.« Er sah mich überrascht an. »Ja, du hast recht. Ich paß schon auf.« Wir wandten uns wieder Sandy zu. »Warum seid ihr denn beide so ernst? Hat jemand das hübsche Mädchen geklaut, auf das ihr so scharf seid?« fragte er. »Es handelt sich um Bill Davidson«, sagte Dane. »Was ist denn mit ihm?« -98-
»Der Sturz, bei dem er ums Leben kam, ist durch einen über das Hindernis gespannten Draht verursacht worden. Alan hat es gesehen.« Sandy machte ein bestürztes Gesicht. »Alan hat es gesehen«, wiederholte er, und als ihm die Bedeutung dieser Worte aufging, flüsterte er: »Aber das ist ja Mord.« Ich erklärte ihm, aus welchen Gründen ein Mord nicht beabsichtigt gewesen sein konnte. »Da hast du wahrscheinlich recht«, sagte er. »Was willst du unternehmen?« »Er versucht, herauszubekommen, was hinter der ganzen Sache steckt«, erklärte ihm Dane. »Wir dachten, du könntest ihm vielleicht helfen. Hast du irgend etwas gehört, was eine Erklärung dafür sein könnte? Die Leute sprechen ja über allerhand.« »Ja, aber meistens über ihre Freundinnen, über Wetteinsätze und so weiter. Allerdings nicht Major Davidson. Wir waren nicht gerade enge Freunde, weil er glaubte, ich hätte ein Pferd stehenlassen, das einem seiner Bekannten gehörte. Na ja«, meinte Sandy mit ansteckendem Grinsen, »vielleicht habe ich das auch wirklich getan. Jedenfalls kam es zwischen ihm und mir vor ein paar Monaten zu einer kleinen Auseinandersetzung.« »Du kannst aber wenigstens nachforschen, ob deine Buchmacherfreunde irgendwelche Gerüchte aufgeschnappt haben«, schlug Dane vor. »Denen entgeht so leicht nichts.« »Okay«, sagte Sandy. »Ich geb’s weiter, dann werden wir schon sehen, was dabei herauskommt. Komm jetzt, wir haben nicht mehr viel Zeit bis zum ersten Rennen, und ich möchte wissen, was dieser Gaul für Tücken hat.« Als Dane zögerte, meinte er: »Na los, du brauchst nichts zu verheimlichen. Gregory bittet mich nur, für ihn zu reiten, wenn er ein Biest hat, auf das sich kein vernünftiger Mensch setzt.« »Es ist eine Stute, die immer in den unteren Teil der Hindernisse hineinrennt, als wären sie nicht vorhanden. Meistens landet sie im Graben.« -99-
»Danke«, sagte Sandy, dem das nichts auszumachen schien. »Ich zieh ihr mit der Peitsche ein paar über, dann wird sie schon Vernunft annehmen. Bis später.« Er verschwand im Umkleideraum. Dane sah ihm nach. »Es gibt wirklich kein Pferd, vor dem dieser Bursche Angst hat«, sagte er voll Bewunderung. »Nerven hat er keine«, gab ich zu. »Warum läßt denn Pete ausgerechnet hier ein solches Tier laufen?« »Der Besitzer versteift sich eben darauf, in Cheltenham vertreten zu sein. Du weißt ja, wie es ist. Es gehört einfach dazu.« Wir gingen ins Freie. Dane wurde sofort von ein paar Sportjournalisten in Beschlag genommen, die ihn über die Aussichten seines Pferdes im Gold Cup befragten, um den es zwei Tage später gehen sollte. Kurze Zeit später begann die Rennveranstaltung. Sandy brachte die Stute über den ersten Graben, landete aber im zweiten. Fluchend und mit breitem Grinsen kam er zurück. Dane, wie ein Besessener reitend, gewann das Hindernischampionat um eine Nasenlänge. Pete, der sein Pferd streichelte und gemeinsam mit dem Besitzer die Glückwünsche der sich um den Sattelplatz drängenden Menschen entgegennahm, freute sich so, daß er kaum ein Wort hervorbrachte. Er war so hingerissen, daß er bei meinem Start sogar vergaß, einen seiner üblichen Witze zu machen. Und als ich, der ich, seinem Ratschlag bedingungslos folgend, den Iren während des ganzen Rennens beschattete, bis zum letzten Hindernis eine knappe Länge hinter ihm lag und fünfzig Meter vor dem Ziel im Spurt an ihm vorbeiging, war Pete der Glücklichste aller Menschen. Ich hätte ihn umarmen können, so begeistert war ich. Obgleich ich in Rhodesien mehrere und seit meiner Ankunft in -100-
England etwa dreißig Rennen gewonnen hatte, war das mein erster Sieg in Cheltenham. Ich fühlte mich so hochgestimmt, als hätte ich bereits den Champagner getrunken, der wie üblich am Championatstag kistenweise im Umkleideraum stand. Ich schwebte zur Waage, um mich überprüfen zu lassen, zog mich um und war immer noch nicht auf festem Boden gelandet, als ich wieder das Freie erreichte. Ich war so glücklich, daß ich wie ein Kind hätte Purzelbäume schlagen mögen. Der Gedanke an Bill war weit zurückgedrängt worden, und ich ging nur zum Parkplatz für die Pferdetransportwagen, weil ich es mir von Anfang an vorgenommen hatte. Er war überfüllt. An jedem Rennen nahmen ungefähr zwanzig Pferde teil, und nahezu alle verfügbaren Transportwagen mußten in Dienst genommen worden sein. Ich schlenderte die Reihen entlang, zufrieden vor mich hin summend, und sah mit geteilter Aufmerksamkeit auf die Nummernschilder. Und da war es. APX 708. Mit einem Schlag war meine gute Stimmung dahin. Es gab keinen Zweifel, daß es sich um denselben Wagen handelte. Üblicher Jennings-Aufbau aus Holz. Ziemlich alt, abblätternde Lackierung. Weder an den Türen noch an den Wänden des Aufbaus befand sich der Name des Besitzers oder des Trainers. Das Führerhaus war leer. Ich ging nach hinten, öffnete die Tür und stieg ein. Das Innere war leer, bis auf einen Eimer, eine Heuraufe und eine Decke. Auf dem Boden war Stroh aufgeschüttet. Die Pferdedecke konnte mir einen Hinweis darauf geben, woher der Wagen stammte, dachte ich. Die meisten Trainer und manche Eigentümer lassen ihre Anfangsbuchstaben in den Ecken einnähen. -101-
Ich hob die Decke auf. Sie war dunkelbraun. Ich fand die Anfangsbuchstaben und stand da wie eine Marmorstatue. Deutlich zu sehen, in gelbem Garn, waren die Buchstaben A.Y. Die Decke gehörte mir. Pete, den ich nach einer Weile aufgabelte, machte nicht den Eindruck, als würde er Fragen beantworten, die längeres Nachdenken verlangten. Er lehnte im Wiegeraum an einer Wand, in einer Hand ein Glas Sekt, in der anderen eine Zigarre, umgeben von einer Anzahl seiner Freunde. An den rosigglänzenden Gesichtern konnte ich ablesen, daß man schon geraume Zeit feierte. Dane drückte mir ein Glas in die Hand. »Wo bist du denn gewesen? Hast dich gut gehalten auf Palindrome. Hoch die Tassen! Der Besitzer zahlt.« Ich leerte mein Glas und sagte: »Gut gemacht, alter Knabe. Trinken wir auf den Gold Cup.« »Soviel Glück habe ich auch wieder nicht«, meinte Dane. »Ich hole eine neue Flasche«, sagte er und tauchte im Gewühl unter. Ich sah mich um. Joe Nantwich stand in einer Ecke, und Mr. Tudor redete wütend auf ihn ein. Dane kam mit einer frischgeöffneten Flasche zurück und füllte unsere Gläser. Er folgte meinem Blick. »Ich weiß nicht, ob Joe nüchtern war, aber das letzte Rennen hat er ganz schön verkorkst, nicht wahr?« »Ich habe es nicht gesehen.« »Da hast du aber etwas versäumt. Er dachte gar nicht daran, sich anzustrengen. Auf der Gegengeraden wäre sein Pferd beinahe eingeschlafen, dabei galt es als zweiter Favorit. Was du jetzt siehst, ist Joes Entlassung.« »Diesem Mann gehört ›Bolingbroke‹«, sagte ich. -102-
»Ja, das stimmt. Es ist derselbe Stall. Joe ist doch ein ausgemachter Trottel. Rennstallbesitzer mit fünf oder sechs guten Pferden findet man auch nicht mehr jeden Tag.« Clifford Tudor wandte sich von Joe ab, und wir hörten noch seine letzten Worte. »… Sie glauben, daß Sie mich zum Narren halten können. Die Rennkommission soll Sie ruhig sperren.« Er stapfte an uns vorbei, nickte mir zu und ging hinaus. Joe suchte Halt an der Wand. Er war blaß und schwitzte. Er sah krank aus. Er machte ein paar Schritte auf uns zu und fing an zu reden, ohne daran zu denken, daß ihn Mitglieder der Rennleitung und der Obersten Pferdesportkommission hören konnten. »Ich bin heute früh angerufen worden. Das war wieder dieselbe Stimme. Der Mann sagte: ›Gewinnen Sie das sechste Rennen nicht‹, und legte auf, bevor ich etwas sagen konnte. Und dann der Zettel mit ›Bolingbroke, nächste Woche‹… Ich begreif’s nicht… Und ich hab das Rennen nicht gewonnen, und jetzt sagt dieser verdammte Kerl, daß er einen anderen Jockey nehmen wird… Und die Rennleitung will eine Untersuchung durchführen…, und außerdem ist mir schlecht.« »Wie wär’s mit einem Schluck Sekt?« fragte Dane. »Hau doch ab«, fauchte Joe und entschwand in Richtung Umkleideraum. »Was zum Teufel ist eigentlich los?« fragte Dane. »Ich weiß es nicht«, sagte ich. Joes Sorgen interessierten mich mehr und mehr. Der Anruf paßte nicht mit den Drohbriefen zusammen, dachte ich. »Ich möchte wissen, ob Joe immer die Wahrheit sagt«, meinte ich. »Höchst unwahrscheinlich«, erwiderte Dane. Ein Offizieller kam daher und erinnerte uns daran, daß man es selbst nach dem Hürdenchampionat nicht gern sehe, wenn im Wiegeraum getrunken werde, und wir könnten doch auch in den -103-
Umkleideraum gehen. Dane befolgte diesen Rat, aber ich leerte mein Glas und ging ins Freie. Pete wollte auch nach Hause, aber seine Freunde wollten ihn noch in irgendein Lokal verschleppen. Ich befreite ihn von seinen Bewunderern, und wir gingen gemeinsam zum Ausgang. »Mensch, das war ein Tag!« sagte Pete, wischte sich mit einem weißen Taschentuch die Stirn und warf seinen Zigarrenstummel weg. »Ein herrlicher Tag«, stimmte ich zu und sah ihn forschend an. »Du brauchst gar kein besorgtes Gesicht zu machen, Alan. Ich bin ganz nüchtern und fahre jetzt nach Hause.« »Gut. Dann wird es dir ja nicht schwerfallen, mir eine kleine Frage zu beantworten?« »Schieß los.« »In welchem Transportwagen ist ›Palindrome‹ nach Cheltenham gekommen?« fragte ich. »Was? Ich habe einen gemietet. Fünf Pferde von mir sind heute gelaufen; drei wurden in meinem eigenen Wagen transportiert. Für ›Palindrome‹ und den Dreijährigen mußte ich ein Fahrzeug mieten.« »Und wo hast du es gemietet?« »Was hast du denn?« fragte Pete. »Ich weiß, daß der Wagen alt ist und unterwegs eine Reifenpanne hatte, aber das hat ›Palindrome‹ nichts geschadet, sonst hätte er nicht gewonnen.« »Nein, darauf kommt es mir nicht an«, sagte ich. »Ich möchte nur wissen, woher der Wagen stammt.« »Es lohnt sich nicht, ihn zu kaufen. Viel zu alt.« »Pete, ich will ihn nicht kaufen. Du sollst mir nur sagen, woher er kam.« »Von der Firma, bei der ich gewöhnlich miete, Littlepeth in -104-
Steyning.« Er runzelte die Stirn. »Warte mal. Zuerst hieß es, daß alle Wagen bestellt seien, dann erklärten sie mir, daß ich einen Transporter bekommen könnte, wenn mir das Alter nichts ausmache.« »Wer hat ihn gesteuert?« »Einer ihrer Chauffeure. Er fluchte ein bißchen, weil er dieses alte Ding übernehmen mußte.« »Kennst du ihn näher?« »Das kann man nicht gerade sagen. Er fährt oft die gemieteten Wagen, das ist alles. Gemeckert wird bei dem immer. Worum geht es eigentlich?« »Es kann mit Bills Tod zu tun haben«, sagte ich, »aber ich bin mir nicht sicher. Kannst du herausfinden, woher der Wagen wirklich kommt? Erkundigst du dich bei der Firma? Laß mich aber aus dem Spiel.« »Ist es wichtig?« fragte Pete. »Ja, sehr.« »Ich rufe morgen früh an.« Als wir uns am nächsten Tag trafen, sagte Pete: »Ich habe mich nach dem Wagen erkundigt. Er gehört einem Farmer in der Nähe von Steyning. Ich habe Name und Adresse hier.« Er zog einen Zettel aus der Brusttasche und gab ihn mir. »Das wolltest du doch wissen?« »Ja, vielen Dank«, sagte ich und steckte den Zettel ein. Am Ende des Festivals hatte ich die Geschichte von dem Draht mindestens zehn weiteren Leuten erzählt, und sie verbreitete sich rasch. Ich erzählte sie dem dicken Lew Panake, dem gutgekleideten Buchmacher, bei dem ich ab und zu wettete. Er versprach mir, sich bei den ›Jungs‹ zu erkundigen und mir Bescheid zu geben. -105-
Ich erzählte sie Calvin Bone, einem professionellen Wetter, der immer wußte, wenn irgend etwas faul war. Ich erzählte sie einem ausgekochten kleinen Schlepper, der sich seinen Unterhalt damit verdiente, Informationen an alle weiterzugeben, die dafür bezahlten. Ich erzählte sie dem Zeitungsverkäufer, der an seinem Schnurrbart zerrte und einen Kunden ignorierte. Ich erzählte sie einem Sportjournalisten, dem noch kein Skandal entgangen war. Ich erzählte sie einem Kameraden von Bill aus der Militärzeit; ich erzählte sie im Wiegeraum; ich erzählte sie Pete Gregorys erstem Pfleger. Ich säte also Wind, und es brachte mir zunächst gar nichts ein. Der Sturm würde schon von selbst kommen.
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8 Als ich am Samstagmorgen zusammen mit Scilla, den Kindern und Joan am großen Küchentisch frühstückte, läutete das Telefon. Scilla ging an den Apparat, kam aber kurz darauf wieder. »Es ist für dich, Alan. Der Anrufer hat aber seinen Namen nicht genannt.« Ich ging ins Wohnzimmer und nahm den Hörer. Die Märzsonne schien durch die Fenster auf eine große Schale mit roten und gelben Krokussen, die auf dem Telefontischchen stand. Ich sagte: »Hier Alan York.« »Mr. York, ich habe Ihnen vor einer Woche eine Warnung zukommen lassen. Sie hielten es für richtig, sich nicht darum zu kümmern.« Ich spürte, wie sich meine Nackenhaare aufrichteten. Meine Kopfhaut juckte. Es war eine sanfte Stimme mit heiserem, flüsterndem Klang, nicht wütend oder scharf, beinahe freundlich. Ich schwieg. Die Stimme sagte: »Mr. York? Sind Sie noch da?« »Ja.« »Mr. York, ich bin kein gewalttätiger Mann. Ich habe sogar eine Abneigung gegen Gewalt. Ich gebe mir ganz besondere Mühe, sie zu vermeiden, Mr. York. Aber manchmal wird sie mir aufgedrängt, manchmal ist das der einzige Weg, zu Ergebnissen zu kommen. Sie verstehen mich doch, Mr. York?« »Ja«, sagte ich. »Wenn ich ein gewalttätiger Mann wäre, Mr. York, hätte ich mir vorige Woche eine unangenehmere Warnung für Sie ausgedacht. -107-
Und ich gebe Ihnen noch einmal eine Chance, damit Sie sehen, wie schwer es mir fällt, Ihnen etwas anzutun. Kümmern Sie sich einfach um Ihre eigenen Angelegenheiten, und hören Sie auf, Fragen zu stellen, dann wird Ihnen nichts passieren.« Nach einer Pause fuhr die sanfte Stimme mit drohendem Unterton fort: »Wenn ich natürlich feststellen muß, daß es ohne Gewalt nicht mehr geht, finde ich immer andere Leute, die sie für mich anwenden. Nur, damit ich nicht zusehen muß. Nur, damit es für mich nicht zu schmerzlich ist. Sie begreifen doch hoffentlich, Mr. York?« »Ja«, sagte ich wieder. Ich dachte an Sonny, an sein gemeines Grinsen, an sein Messer. »Gut, das wäre alles. Ich hoffe wirklich, daß Sie vernünftig sind. Guten Morgen, Mr. York.« Es knackte in der Leitung, als er die Verbindung unterbrach. Ich drückte ein paarmal kurz auf die Gabel, bis sich die Vermittlung meldete. Ich fragte die Telefonistin, ob sie mir sagen könnte, woher der Anruf gekommen sei. »Einen Augenblick bitte«, sagte sie näselnd. Nach einer Weile meldete sie sich wieder. »Er ist über London geleitet worden«, erklärte sie, »aber weiter kann ich ihn nicht verfolgen. Tut mir sehr leid.« »Macht nichts. Recht vielen Dank«, sagte ich. »Gern geschehen.« Ich legte auf und kehrte an den Frühstückstisch zurück. »Wer war denn das?« fragte Henry, der seinen Toast dick mit Marmelade beschmierte. »Ein Mann mit Hund«, sagte ich. »Oder mit anderen Worten«, meinte Polly, »›wer viel fragt, geht viel im.« Henry schnitt eine Grimasse und biß in seinen Toast. Die Marmelade lief ihm zu einem Mundwinkel heraus. Er schleckte sie auf. -108-
»Henry will immer wissen, wer am Apparat ist«, meinte William. »Ja, Liebling«, sagte Scilla geistesabwesend und wischte Eidotter von seinem Pullover. »Du mußt dich über deinen Teller beugen, wenn du ißt, William.« Sie gab ihm einen Kuß auf den blonden Schopf. Ich ließ mir von Joan noch Kaffee eingießen. »Führst du uns zum Tee in Cheltenham aus, Alan? Können wir wieder so Sahnedinger wie beim letztenmal haben und Eiscreme-Soda mit Strohhalmen und für den Heimweg Erdnüsse?« »O ja«, stimmte William strahlend ein. »Ich wäre gerne dabei«, sagte ich, »aber heute geht es nicht. Vielleicht einmal nächste Woche.« Ich wollte endlich den langerwarteten Besuch bei Kate machen, dort zweimal übernachten, und am Montag wollte ich einen Tag im Büro verbringen. Als ich die enttäuschten Gesichter der Kinder sah, meinte ich: »Ich bin bei Bekannten eingeladen. Vor Montagabend komme ich nicht zurück.« »Mensch, wird das langweilig«, sagte Henry. Mein Lotus schluckte die Meilen zwischen Sussex und den Cotswolds mit dem gleichmäßigen Schnurren einer zufriedenen Katze. Ich legte die fünfzig Meilen von Cirincester bis Newbury in dreiundfünfzig Minuten zurück, nicht weil ich es so eilig hatte, sondern aus Vergnügen an der Geschwindigkeit, für die der Wagen nun einmal gebaut war. Und außerdem fuhr ich ja zu Kate. Endlich. In Newbury mußte ich sehr viel langsamer fahren, sogar einmal halten. Dann flitzte ich die Straße nach Basingstoke entlang, vorbei am amerikanischen Flugplatz bei Greenham -109-
Common, und überschritt dann von Kingsclere ab selten sechzig Meilen in der Stunde. Kate wohnte etwa vier Meilen von Burgess Hill entfernt. Ich kam um zwanzig nach eins in Burgess Hill an, fuhr zum Bahnhof und parkte in einer versteckten Ecke. Ich betrat den Bahnhof und kaufte eine Rückfahrkarte nach Brighton. Es war mir zu riskant, in Brighton mit dem Wagen auf Erkundung zu gehen. Die Fahrt dauerte sechzehn Minuten. Im Zug fragte ich mich vielleicht zum hundertsten Male, welche Bemerkung mir das Zusammentreffen mit dem Pferdetransportwagen eingebracht hatte. Wem hatte ich auf die Zehen getreten, indem ich nicht nur verraten hatte, daß ich von dem Draht wußte, sondern vor allem dadurch, daß ich ankündigte, den Verantwortlichen suchen zu wollen? Darauf gab es eigentlich nur zwei Antworten, und eine davon gefiel mir gar nicht. Ich erinnerte mich, Clifford Tudor auf dem Weg von Plumpton nach Brighton erklärt zu haben, daß an Bills Tod noch eine Menge zu klären sei. Damit hatte ich ihm praktisch rundheraus erklärt, ich wüßte, daß der Sturz nicht auf einen Unfall zurückzuführen sei und daß ich einiges unternehmen würde. Und dasselbe hatte ich Kate klargemacht. Auch Kate. Auch Kate. Auch Kate. Das Rattern des Zuges nahm den Refrain auf, höhnend, wie es mir schien. Nun, ich hatte keine Geheimhaltung von ihr verlangt; es war mir auch nicht nötig erschienen. Sie konnte das, was sie von mir erfahren hatte, an die ganze Bevölkerung weitergegeben haben. Aber allzuviel Zeit war da nicht gewesen. Sie hatte mich in London nach Mitternacht verlassen, und siebzehn Stunden später war ich schon auf den Trick mit dem Pferdetransportwagen hereingefallen. Der Zug fuhr im Bahnhof Brighton ein. Mit den anderen -110-
Fahrgästen ging ich den Bahnsteig entlang und durch die Sperre, blieb aber zurück, als wir die Schalterhalle durchquerten und das Freie erreichten. Vor dem Bahnhof standen etwa zwölf Taxis, deren Fahrer vor ihren Autos standen und unter den Reisenden nach Kunden spähten. Ich sah mir die Fahrer sorgfältig an, einen nach dem anderen. Sie waren mir völlig fremd. Nicht einen von ihnen hatte ich in Plumpton gesehen. Ich ließ mich nicht entmutigen, fand eine günstige Ecke, von der aus ich freie Sicht auf die ankommenden Taxis hatte, und wartete dort, resolut dem kalten Luftzug trotzend, den ich ständig im Nacken hatte. Taxis kamen und verschwanden wie emsige Bienen, Reisende bringend und abholend. Langsam gewann ich Überblick. Es gab vier unterscheidbare Gruppen von Taxis. Bei der einen Gruppe waren die Wagen an den Seiten mit einem breiten grünen Streifen verziert; die Türen trugen die Aufschrift ›Green Band‹. Eine zweite Gruppe hatte gelbe Wappen an den Türen, mit einer kleinen schwarzen Inschrift. Bei einer dritten Gruppe waren alle Fahrzeuge hellblau lackiert. In die vierte Gruppe ordnete ich jene Taxis ein, die nicht zu den anderen drei Linien gehörten. Ich wartete beinahe zwei Stunden, bis ich mich kaum noch rühren konnte; die Eisenbahnbeamten warfen mir bereits neugierige Blicke zu. Ich sah auf die Uhr. Der letzte Zug, mit dem ich bei Kate noch pünktlich eintreffen konnte, ging in sechs Minuten. Ich hatte mich bereits aufgerichtet und begann, meinen Nacken zu massieren, bevor ich hineinging und mich in den Zug setzte, als endlich meine Geduld belohnt wurde. Leere Taxis kamen heran und stellten sich hintereinander auf. Ein Zug aus London war also wieder fällig. Die Chauffeure stiegen aus und sammelten sich in kleinen Gruppen. Drei staubige, schwarze Taxis erschienen und reihten sich hinten an. An den Türen hatten sie verblaßte, gelbe Wappen. Die Fahrer stiegen aus. -111-
Einer von ihnen war der höfliche Chauffeur des Pferdetransportwagens. Ein vernünftiger, anständiger Bürger, so sah er jedenfalls aus. Von mittlerem Alter, unauffällig, ruhig. Die anderen kannte ich nicht. Mir blieben noch drei Minuten. Die schwarzen Buchstaben auf den gelben Wappen waren so winzig, daß ich sie nicht zu entziffern vermochte. Ich konnte aber auch nicht näher heran, um dem höflichen Fahrer nicht aufzufallen; ich konnte aber auch nicht mehr warten, bis er weggefahren war. Ich ging zum Fahrkartenschalter, trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, während eine Frau über den Fahrpreis für ihre Tochter verhandelte, und stellte dann eine einfache Frage. »Wie heißen die Taxis mit den gelben Wappen an den Türen?« Der junge Mann am Schalter sah mich uninteressiert an. »›Marconicars‹, Sir. Das sind Funktaxis.« »Danke«, sagte ich und hetzte auf den Bahnsteig hinaus. Kate wohnte in einem herrlichen Queen-Anne-Haus, das sogar Generationen ruinensüchtiger Viktorianer unberührt gelassen hatten. Seine graziöse Symmetrie, die weißbekieste Auffahrt, die schon um diese frühe Zeit gemähten Rasenflächen, all das deutete auf eine gesellschaftliche und finanzielle Sicherheit von derart langer Dauer, daß es daran nichts zu rütteln gab. Im Innern war das Haus wunderschön eingerichtet, ohne daß ein wenig Abgenütztheit gefehlt hätte, als sähen die Bewohner trotz ihres Reichtums keine Veranlassung, prunkhaft oder extravagant zu erscheinen. Kate empfing mich an der Tür, hängte sich bei mir ein und führte mich durch die Halle. »Tante Deb erwartet Sie zum Tee«, sagte sie. »Die Teestunde ist bei Tante Deb eine Art Kult. Gott sei Dank können Sie sich -112-
durch Ihre Pünktlichkeit bei ihr einschmeicheln. Sie ist sehr altmodisch, wissen Sie. In mancher Beziehung hat sie die Entwicklung unserer Zeit nicht mitgemacht.« Ihre Stimme klang besorgt und entschuldigend, woraus ich ersah, daß sie ihre Tante sehr gern hatte und schützen wollte. Ich drückte ihren Arm und sagte: »Machen Sie sich keine Sorgen.« Kate öffnete eine der weißlackierten Türen, und wir betraten das Wohnzimmer. Es war ein angenehmer Raum, holzgetäfelt, mit pflaumenblauem Teppich, schönen Perserbrücken und Vorhängen mit Blumenmuster. Auf einem im rechten Winkel zum offenen Kamin stehenden Sofa saß eine Frau von etwa siebzig Jahren. Neben ihr stand ein niedriger, runder Tisch, darauf ein silbernes Tablett mit Crown-Derby-Tassen und – Tellern und eine Teekanne mit dazugehörigem Milchkännchen aus schwerem Silber. Ein Dackel schlief zu ihren Füßen. Kate schritt durch das Zimmer und erklärte mit einiger Förmlichkeit: »Tante Deb, darf ich dir Alan York vorstellen?« Tante Deb reichte mir ihre Hand, mit der Handfläche nach unten. Ich drückte sie, wobei ich daran dachte, daß früher wohl ein Handkuß angebracht gewesen war. »Es freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Tante Deb, und ich erkannte genau, was Dane mit ihrem eisigen, wohlerzogenen Benehmen gemeint hatte. Aus ihrer Stimme klang keine Wärme; man war nicht wirklich willkommen. Trotz ihrer Jahre, oder vielleicht gerade deswegen, sah sie noch außergewöhnlich gut aus. Schöngezogene Augenbrauen, eine vollkommene Nase, ein feingeschwungener Mund. Das graue Haar war von einem erstklassigen Friseur gelegt. Schlanke Gestalt, hochaufgerichtet; elegant bestrumpfte Beine. Eine Seidenbluse unter der Tweedjacke, handgefertigte Schuhe aus weichem Leder. Sie hatte alles. Alles bis auf das innere Feuer, an dem es Kate so wenig mangelte. Tante Deb goß mir Tee ein, und Kate reichte mir die Tasse. -113-
Es gab Brötchen mit Gänseleberpastete und Teekuchen; obwohl ich gewöhnlich auf die Teestunde verzichtete, war ich doch durch die Fahrt nach Brighton recht hungrig geworden. Ich aß und trank, und Tante Deb redete. »Kate erzählte mir, daß Sie ein Jockey sind, Mr. York.« Sie sagte das so, als stünde ich auf einer Stufe mit den Vorbestraften. »Zweifellos finden Sie das sehr amüsant, aber als ich jung war, galt das bei Bekannten nicht als akzeptabler Beruf. Aber Kate ist hier zu Hause, und sie kann hierher bitten, wen sie will, wie sie selbst recht gut weiß.« »Aubrey Hastings und Geoffrey Bennett waren doch auch Jockeys und trotzdem akzeptabel, als Sie – äh – jünger waren?« Sie hob überrascht die Brauen. »Aber das sind Gentlemen gewesen«, meinte sie. Ich sah zu Kate hinüber. Sie preßte den Handrücken auf die Lippen, aber ihre Augen lachten. »Ja«, sagte ich mit ernster Miene. »Das macht natürlich einen Unterschied.« »Sie werden also vielleicht begreifen«, fuhr sie fort und sah mich ein wenig freundlicher an, »daß ich die neuen Interessen meiner Nichte nicht so ohne weiteres billige. Es ist etwas anderes, ob ich ein Rennpferd besitze, oder ob ich mich mit den Jockeys anfreunde, die für mich reiten. Ich bin meiner Nichte sehr zugetan. Ich möchte nicht, daß sie einen übereilten… Schritt tut. Sie ist vielleicht noch zu jung und hat ein zu abgeschlossenes Leben geführt, als daß sie begreifen könnte, was annehmbar ist und was nicht. Aber Sie begreifen das wohl, Mr. York?« Kate wurde rot. »Tante Deb!« rief sie anklagend. Sie hatte wohl auch nicht damit gerechnet, daß es so schlimm werden würde. »Ich verstehe Sie sehr gut, Mrs. Penn«, sagte ich höflich. -114-
»Gut«, meinte sie. »In diesem Fall hoffe ich, daß Sie sich bei uns wohl fühlen. Darf ich Ihnen noch Tee geben?« Nachdem sie mir meinen Platz angewiesen hatte und der Meinung war, ich sei bereit, die erheblichen Standesunterschiede anzuerkennen, zeigte sie sich als gute Gastgeberin. Sie hatte die ruhige Autorität eines Menschen, dessen Wünsche von Kindesbeinen an Gesetz sind. Sie begann freundlich über das Wetter und ihren Garten zu sprechen, und daß der Sonnenschein die Narzissen hervorlocke. Dann öffnete sich die Tür, und ein Mann kam herein. Ich stand auf. Kate sagte: »Onkel George, das ist Alan York.« Er wirkte zehn Jahre jünger als seine Frau. Er hatte dichtes, gutgepflegtes graues Haar und eine rosige Gesichtsfarbe, als käme er eben aus dem Bad; als ich ihm die Hand schüttelte, fühlte sie sich weich und feucht an. Tante Deb sagte ohne mißbilligenden Unterton: »George, Mr. York ist einer von Kates Jockeyfreunden.« Er nickte. »Ja, Kate erzählte mir, daß Sie kommen würden. Freut mich.« Er sah zu, als ihm Tante Deb Tee eingoß, nahm die Tasse entgegen und lächelte seiner Frau zu. Er war für seine Größe zu dick, aber er gehörte nicht zu denen, die ihr Übergewicht am Bauch vor sich hertragen. Bei ihm war alles gut verteilt, als sei er gepolstert. Daraus ergab sich eine fröhliche Rundlichkeit. Er hatte die gutmütige Miene, wie man sie oft bei dicken Leuten findet. Trotzdem kamen mir seine Augen kalt und forschend vor. Er stellte die Tasse ab und lächelte, und sofort verwischte sich dieser Eindruck. »Ich bin sehr interessiert daran, Sie kennenzulernen, Mr. York«, sagte er, setzte sich und bedeutete mir, dasselbe zu tun. -115-
Er studierte mich von Kopf bis Fuß, während er mich um meine Meinung über ›Heavens Above‹ bat. Wir besprachen die Eigenschaften des Pferdes mit Kate; das hieß also, daß ich die meiste Zeit zu reden hatte, weil Kate nicht viel mehr wußte als in Plumpton und Onkel George vom Pferdesport soviel wie nichts verstand. »Warum haben Sie eigentlich Ihrer Nichte ein Rennpferd geschenkt?« fragte ich. Onkel George machte den Mund auf und wieder zu. Er blinzelte. Dann sagte er: »Ich war der Meinung, sie sollte mit mehr Menschen zusammentreffen. Sie hat hier bei uns keine jungen Leute um sich, und ich glaube, daß wir sie ein bißchen zu sehr von der Welt abgeschlossen hatten.« Tante Deb, die dem Gespräch über Pferde gelangweilt zugehört hatte, mischte sich wieder in die Konversation. »Unsinn«, sagte sie knapp. »Sie ist genauso aufgezogen worden wie ich, also richtig. Heutzutage läßt man den Mädchen viel zuviel Freiheit, mit dem Ergebnis, daß sie den Kopf verlieren, mit Heiratsschwindlern oder anderen Gaunern davonlaufen. Junge Mädchen brauchen eine feste Hand, wenn sie sich wie Ladies benehmen und passende, dauerhafte Ehen schließen sollen.« Sie hatte wenigstens so viel Anstand, mich dabei nicht anzusehen. Statt dessen beugte sie sich vor und streichelte ihren Dackel. Onkel George wechselte beinahe ein wenig zu auffällig das Thema und fragte mich, wo ich zu Hause sei. »In Südrhodesien«, entgegnete ich. »Tatsächlich?« meinte Tante Deb. »Wie interessant. Haben Ihre Eltern vor, sich dort für dauernd niederzulassen?« »Sie sind beide dort geboren«, gab ich zurück. »Und werden sie nach England kommen, um Sie zu besuchen?« fragte Onkel George. -116-
»Meine Mutter starb, als ich zehn Jahre alt war. Vielleicht kommt mein Vater einmal, wenn er nicht zuviel zu tun hat.« »Was tut er denn?« fragte Onkel George interessiert. »Er ist Kaufmann«, sagte ich ausweichend. ›Kaufmann‹, darin war alles enthalten, vom kleinen Händler bis zu dem, was mein Vater wirklich war, der Besitzer eines der größten Unternehmen in ganz Rhodesien. Sowohl Onkel George als auch Tante Deb machten ein unbefriedigtes Gesicht, aber ich ließ mich nicht weiter aus. Es hätte Tante Deb verärgert und peinlich berührt, wenn nach ihrer kleinen Rede über Jockeys meine Aussichten und mein Stammbaum zur Sprache gekommen wären, und außerdem brachte ich es schon um Danes willen nicht fertig. Er hatte Tante Debs Snobismus ohne die mir zur Verfügung stehenden Abwehrmittel gegenübergestanden, und ich hielt mich keineswegs für besser. Statt dessen machte ich eine bewundernde Bemerkung über die Blumendrucke an den holzgetäfelten Wänden, worüber sich Tante Deb freute, was mir aber von Onkel George einen ironischen Blick eintrug. »Unsere Ahnen haben wir im Speisezimmer«, meinte er. Kate stand auf. »Ich zeige Alan, wo er schläft«, sagte sie. »Sind Sie mit dem Wagen gekommen?« fragte Onkel George. Ich nickte. »Dann lasse Mr. Yorks Wagen von Culbertson in die Garage bringen«, wandte er sich an Kate. »Ja, Onkel George«, erwiderte Kate lächelnd. Als wir durch die Halle gingen, um meinen Koffer aus dem Wagen zu holen, sagte Kate: »Onkel Georges Chauffeur heißt gar nicht Culbertson, sondern Higgins oder so ähnlich. Onkel George begann ihn Culbertson zu nennen, weil er Bridge spielt, und das haben wir uns dann alle angewöhnt. Nur ein Mann wie Onkel George kann einen Chauffeur haben, der Bridge spielt«, lachte sie. -117-
»Spielt denn Onkel George Bridge?« »Nein, er spielt weder Karten noch sonst irgend etwas. Er meint, es gibt da zu viele Regeln. Er lernt sie nicht gern und will sich vor allem nicht an sie halten.« Ich holte meinen Koffer aus dem Wagen, und wir gingen ins Haus zurück. »Warum haben Sie Tante Deb nicht gesagt, daß Sie Amateur und sehr reich sind?« »Warum haben Sie’s denn nicht gesagt?« fragte ich. »Bevor ich kam.« »Ich… Ich… äh…, weil…« stotterte sie. Es fiel ihr schwer, die Wahrheit zu sagen, deswegen tat ich es für sie. »Wegen Dane?« Sie sah mich verlegen an. »Das ist mir ganz recht«, meinte ich leichthin. »Und ich mag Sie deshalb noch lieber.« Ich küßte sie auf die Wange. Sie lachte und lief erleichtert die Treppe hinauf. Nach dem Mittagessen am Sonntag erhielt ich die Erlaubnis, Kate ein wenig spazierenzufahren. Am frühen Morgen war Tante Deb mit Kate und mir in der Kirche gewesen. Culbertson fuhr uns in einem gutpolierten Daimler hm. Tante Debs Anweisung zufolge saß ich neben ihm, während sie und Kate im Fond Platz nahmen. Während wir vor dem Haus standen und auf Tante Deb warteten, erzählte mir Kate, daß Onkel George nie zur Kirche gehe. »Er verbringt die meiste Zeit in seinem Arbeitszimmer. Das ist der kleine Raum neben dem Frühstückszimmer«, sagte sie. »Er telefoniert stundenlang mit seinen Bekannten, und er schreibt eine Abhandlung oder etwas Ähnliches über Indianer, glaube ich, nur zum Essen kommt er heraus.« »Ziemlich langweilig für Ihre Tante«, meinte ich und sah sie bewundernd an. -118-
»Oh, er fährt mit ihr einmal wöchentlich nach London. Sie geht zum Friseur, und er stöbert einstweilen in der Bibliothek des Britischen Museums. Dann essen sie im Ritz, und am Nachmittag besuchen sie eine Ausstellung oder irgendeine Matineevorstellung.« Nach dem Essen bat mich Onkel George in sein Arbeitszimmer, damit ich mir das ansehen konnte, was er seine Trophäen« nannte. Es handelte sich um eine Sammlung von Gegenständen, die von verschiedenen primitiven oder barbarischen Völkerschaften stammten und meiner Meinung nach jedem kleineren Museum zur Ehre gereicht hätten. Zahlreiche Waffen, Schmuckstücke, Töpfereiwaren und rituelle Objekte waren hinter Glas an drei Wänden aufgereiht und genau beschriftet. Unter anderem besaß Onkel George Stücke aus Zentralafrika und den Südseeinseln, aus der Wikingerzeit und von den Maoris Neuseelands. »Ich studiere ein Volk nach dem anderen«, erklärte er. »Seit ich mich von den Geschäften zurückgezogen habe, gibt mir das zu tun, und ich finde es sehr aufregend. Wußten Sie eigentlich, daß die Männer auf den Fidschi-Inseln Frauen wie Schlachtvieh zu mästen pflegten, um sie nachher zu verzehren?« Seine Augen funkelten, und ich hatte den Verdacht, daß ihn vor allem die Gewalttätigkeiten dieser primitiven Völker interessierten. Vielleicht brauchte er ein Gegengewicht zu diesen Diners im Ritz. »Was beschäftigt Sie eigentlich jetzt?« fragte ich. »Kate erwähnte etwas von Indianern…« Er schien sich zu freuen, daß ich mich für sein Hobby interessierte. »Ja. Ich beschäftige mich mit den Urbevölkerungen Amerikas, und zuletzt war ich bei den nordamerikanischen Indianern angelangt. Hier, sehen Sie.« Er führte mich in eine Ecke. Die Sammlung von Federn, -119-
Messern und Pfeilen schien aus einem Wildwestfilm zu stammen, aber ich hatte keinen Zweifel daran, daß diese Dinge echt waren. In der Mitte hing ein dichter Strang schwarzen Haars, und darunter befand sich ein Schild mit der lakonischen Aufschrift ›Skalp‹. Ich drehte mich um und überraschte Onkel George, wie er mich mit geheimem Vergnügen betrachtete. »O ja«, sagte er. »Der Skalp ist echt und erst etwa hundert Jahre alt.« »Sehr interessant«, meinte ich unverbindlich. »Ich verwandte ein Jahr auf die nordamerikanischen Indianer, weil es viele verschiedene Stämme gibt«, erklärte er. »Aber jetzt bin ich schon bei Zentralamerika angelangt. Als nächstes kommen die Südamerikaner an die Reihe, die Inkas und so weiter. Ich bin selbstverständlich kein Wissenschaftler, schreibe aber manchmal Artikel für verschiedene Zeitschriften. Im Augenblick verfasse ich eine Serie über Indianer für ein Knabenmagazin.« Seine dicken Wangen zitterten, als er leise vor sich hin lachte. Dann wandte er sich zur Tür. Ich folgte ihm, blieb aber neben seinem großen, geschnitzten Schreibtisch stehen. Neben zwei Telefonapparaten und einer silbernen Federschale lagen mehrere Aktendeckel mit blaßblauen Etiketten, auf denen ›Arapaho‹, ›Sioux‹, ›Navajo‹ und ›Mohawk‹ zu lesen war. Abgesondert davon lag ein Aktendeckel mit der Aufschrift ›Mayas‹, und ich wollte ihn aufschlagen, weil ich noch nie von einem solchen Stamm gehört hatte. Onkel George legte die Hand darauf. »Ich habe erst damit angefangen«, meinte er entschuldigend. »Es lohnt sich noch nicht, hineinzusehen.« »Ich habe noch nie von diesem Stamm gehört«, sagte ich. »Das waren Indianer Zentralamerikas«, erklärte er freundlich. -120-
»Sie hatten viele Astronomen und Mathematiker, wissen Sie. Sehr zivilisiert. Ich finde sie faszinierend. Sie entdeckten, daß Gummi elastisch ist, und machten Bälle daraus, lange bevor man Gummi in Europa kannte.« Er machte eine Pause und starrte mich an. »Möchten Sie mir helfen, die bisher gesammelten Unterlagen zusammenzustellen?« erkundigte er sich. »Na ja… äh…, äh…« stotterte ich. Onkel Georges Wangen erzitterten wieder. »Das habe ich mir schon gedacht«, sagte er. »Sie würden lieber mit Kate eine Spazierfahrt machen.« Um drei Uhr gingen Kate und ich also zur großen Garage hinter dem Haus. »Erinnern Sie sich, daß ich Ihnen vor einer Woche erzählt habe, wie Bill Davidson ums Leben kam?« fragte ich, als ich Kate beim Öffnen des Garagentors half. »Wie könnte ich das vergessen?« »Haben Sie es zufällig am nächsten Morgen jemand weitererzählt? Ich meine, es gab ja keinen Grund, warum Sie es nicht tun sollten…, aber ich möchte es trotzdem gerne wissen.« Sie runzelte die Stirn. »Ich kann mich wirklich nicht entsinnen, aber ich glaube nicht. Allerdings erzählte ich Tante Deb und Onkel George beim Frühstück davon. Sonst kommt wohl niemand in Frage. Ich dachte nicht, daß es ein Geheimnis sei.« »Es ist auch keins«, meinte ich. »Was hat Onkel George getan, bevor er sich von seinen Geschäften zurückzog?« »Zurückzog?« meinte sie. »Ach, das ist nur ein Spaß von ihm. Er trat schon mit dreißig Jahren in den Ruhestand, als er von seinem Vater ein großes Vermögen geerbt hatte. Lange Zeit hindurch unternahmen Tante Deb und er alle drei Jahre eine Weltreise, wobei sie diese gräßlichen Sachen sammelten, die er Ihnen im Arbeitszimmer gezeigt hat. Was halten Sie davon?« -121-
Ich machte ein ablehnendes Gesicht. Sie lachte. »Genau das denke ich auch, aber ich zeige es ihm nie. Er hängt so dran.« Bei der Garage handelte es sich um eine umgebaute Scheune. Die vier Autos in einer Reihe hatten genug Platz. Der Daimler, ein neues cremefarbenes Kabriolett, mein Lotus und eine alte schwarze Limousine. »Den alten Wagen nehmen wir zum Einkaufen im Dorf«, sagte Kate. »Dieses herrliche Kabriolett gehört mir. Onkel George schenkte es mir vor einem Jahr, als ich von der Schweiz zurückkam. Ist das nicht ein phantastischer Wagen?« »Können wir mit ihm fahren, statt mit dem meinen?« fragte ich. »Es wäre mir sehr lieb, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Sie war erfreut, schlug das Verdeck zurück und band sich ein blauseidenes Kopftuch um. Dann fuhren wir hinaus in die Sonne, die Auffahrt hinunter und die Straße entlang zum Dorf. »Wo wollen wir hin?« fragte sie. »Ich möchte nach Steyning«, erwiderte ich. »Das ist aber eine merkwürdige Wahl«, sagte sie. »Warum nicht zum Meer?« »Ich möchte einen Farmer in Washington bei Steyning aufsuchen, um ihn nach seinem Pferdetransporter zu fragen«, gab ich zurück. Und ich erzählte ihr, wie ein paar Männer in einem solchen Wagen mich recht nachdrücklich aufgefordert hatten, keine Fragen mehr über Bills Tod zu stellen. »Das Transportfahrzeug gehört diesem Farmer in Washington«, schloß ich. »Ich möchte ihn fragen, wer es sich am letzten Samstag ausgeliehen hat.« »Du lieber Himmel«, sagte Kate. »Das ist aber aufregend.« Und sie fuhr ein wenig schneller. Es waren zehn Meilen nach Washington. Wir erreichten den Ort und hielten an; ich fragte ein paar Kinder, die auf dem Nachhauseweg von der Sonntagsschule waren, wo Farmer -122-
Lawson wohnte. »Da oben«, sagte ein großes Mädchen und deutete hinauf. ›Da oben‹ erwies sich als eine gutgeführte Farm mit einem schönen, alten Bauernhof und einer neu errichteten Scheune. Kate fuhr in den Hof und hielt, und wir gingen durch eine kleine Gartentür zum Haus. Wir läuteten, und nach einiger Zeit wurde die Tür geöffnet. Ein jüngerer, gutaussehender Mann mit einer Zeitung in der Hand sah uns fragend an. »Könnte ich bitte Mr. Lawson sprechen?« sagte ich. »Ich bin Lawson«, erwiderte er, gähnend. »Ist das Ihre Farm?« fragte ich. »Ja. Was kann ich für Sie tun?« Er gähnte wieder. Ich sagte, wie ich gehört hätte, vermiete er einen Pferdetransportwagen. Er rieb sich die Nase und sah uns eine Weile an, dann sagte er: »Er ist schon sehr alt, und es kommt darauf an, wann Sie ihn brauchen.« »Könnten wir ihn uns einmal ansehen?« »Ja«, sagte er. »Einen Augenblick.« Er ging ins Haus, und wir hörten, wie er mit einer Frau sprach. Dann kam er ohne Zeitung zurück. »Er steht hier«, sagte er und ging voraus. Der Transportwagen stand im Freien, nur von dem in der Scheune aufgeschütteten Heu geschützt. APX 708. Mein alter Bekannter. Dann erklärte ich Lawson, daß ich den Wagen nicht mieten wollte, sondern nur gern gewußt hätte, wer ihn vor einer Woche gemietet hatte. Weil ihm diese Frage merkwürdig vorkam, und er uns abzuschieben versuchte, erklärte ich ihm auch, warum mich das interessierte. »Das kann nicht mein Wagen gewesen sein«, sagte er sofort. »Er war es aber.« -123-
»Ich habe ihn vor acht Tagen an keinen Menschen vermietet. Er stand den ganzen Tag hier.« »Er ist in Maidenhead gewesen«, erklärte ich hartnäckig. Er starrte mich beinahe eine Minute lang an. Dann meinte er: »Wenn Sie recht haben, hat ihn jemand genommen, ohne daß ich davon wußte. Ich war mit meiner Familie übers Wochenende in London.« »Wie viele Leute wußten, daß Sie fort waren?« fragte ich. Er lachte. »Ungefähr zwölf Millionen, denke ich. Wir nahmen am Freitagabend an einer der Familien-Quiz-Sendungen im Fernsehen teil. Meine Frau, mein ältester Sohn, meine Tochter und ich. Der Jüngste durfte nicht mitmachen, weil er erst zehn ist. Er war furchtbar wütend. Meine Frau sagte während der Sendung, daß wir am Samstag den Zoo und am Sonntag den Tower besuchen würden und vor Montag nicht zu Hause sein könnten.« Ich seufzte. »Und seit wann wußten Sie, daß Sie an der QuizSendung teilnehmen würden?« »Schon ein paar Wochen vorher. Es stand auch in den Zeitungen. Ich hatte mich eigentlich ein bißchen darüber geärgert. Es ist ja nicht gut, wenn jeder Landstreicher weiß, daß man nicht zu Hause ist. Natürlich waren meine Knechte hier, aber das ist nicht dasselbe.« »Könnten Sie sie fragen, ob sie gesehen haben, wie jemand Ihren Wagen nahm?« »Das könnte ich schon. Es ist ja bald Melkzeit. Aber ich glaube, daß Sie das Kennzeichen falsch abgelesen haben.« »Haben Sie einen braunen Vollblüter mit einem weißen Flecken auf der Stirn, einem Hängeohr und dichtem Schweif?« Seine Skepsis verschwand sofort. »Ja, den hab ich. Er steht drüben im Stall.« Wir sahen ihn uns an. Es war das Pferd, das Bert auf und ab geführt hatte. -124-
»Ihre Leute müssen ihn aber doch vermißt haben, als sie ihn am Abend füttern wollten?« fragte ich. »Mein Bruder, der in der Nähe wohnt, borgt ihn sich aus, wenn er ihn braucht. Die Leute nahmen eben an, der wäre bei ihm. Ich werde sie fragen.« »Würden Sie sich auch erkundigen, ob sie im Wagen eine Krawatte gefunden haben?« sagte ich. »Ich würde zehn Schilling geben, wenn ich sie wiederbekommen würde.« »Ich frage sie«, versprach Lawson. »Kommen Sie doch einstweilen ins Haus.« Er führte uns durch die Hintertür einen gepflasterten Gang entlang in ein gemütliches Wohnzimmer und verschwand. Von irgendwoher hörte man die Stimmen seiner Familie und das Klappern von Geschirr. Nach einiger Zeit kam Lawson zurück. »Es tut mir sehr leid«, sagte er. »Meine Leute dachten, das Pferd sei bei meinem Bruder; keinem ist aufgefallen, daß der Wagen fort war. Auch Ihre Krawatte hat man nicht gefunden.« Ich bedankte mich herzlich bei ihm, und er sagte, ich solle ihm mitteilen, wer seinen Wagen genommen habe, wenn sich das feststellen ließe. Kate und ich fuhren zum Meer. Ab Worthing rollten wir die Küstenstraße in östlicher Richtung entlang. Der Salzgeruch war erfrischend. Wir kamen an den neuen Siedlungen von Worthing vorbei, an den Hafenanlagen und Elektrizitätswerken von Shoreham, Southwick und Portslade und erreichten schließlich die lange Promenade in Brighton. Kate steuerte den Wagen auf einen Platz in der Stadt und hielt. »Gehen wir zum Meer hinunter«, sagte sie. Wir überquerten die Straße, stiegen ein paar Stufen hinab und schritten über den Kies zum Sandstrand. Kate zog ihre Schuhe aus und schüttelte die kleinen Steine heraus. Die Sonne schien -125-
warm; es war Ebbe. Wir wanderten etwa eine Meile am Strand entlang, dann kehrten wir um. Es war ein herrlicher Nachmittag. Als wir Hand in Hand die Straße zu Kates Wagen hinaufgingen, sah ich zum erstenmal, daß sie ihn nur etwa hundert Meter vom Pavillon-Plaza-Hotel geparkt hatte, wohin ich vor zehn Tagen mit Clifford Tudor gefahren war. Man braucht den Teufel nur an die Wand zu malen, dachte ich. Da war er schon. Der massive Mann stand auf der Eingangstreppe und sprach mit dem livrierten Portier. Kurz bevor wir Kates Wagen erreichten, fuhr ein Taxi an uns vorbei und hielt vor dem Pavillon Plaza. Es war ein schwarzes Taxi mit gelbem Wappen an der Tür, und diesmal konnte ich den Namen lesen: ›Marconicars‹. Ich sah mir den Fahrer an. Er hatte eine lange Nase und ein fliehendes Kinn; er war mir nie begegnet. Clifford Tudor sagte noch etwas zu dem Portier, marschierte dann die Treppe hinunter und stieg in das Taxi, ohne dem Chauffeur überhaupt mitzuteilen, wohin er fahren wollte. Das Taxi brauste davon. »Wohin sahen Sie eigentlich?« sagte Kate. »Es ist nichts Besonderes«, antwortete ich. »Ich erzähle es Ihnen, wenn Sie mit mir im Pavillon Plaza-Hotel Tee trinken wollen.« »Da ist es stocklangweilig«, sagte sie. »Tante Deb wäre damit einverstanden.« »Ich muß wieder ein bißchen Detektiv spielen«, erklärte ich. »Also gut. Haben Sie Ihr Vergrößerungsglas zur Hand?« Wir betraten das Hotel. Kate entschuldigte sich für einen Augenblick, um ihre Frisur zu ordnen. Ich fragte das junge Mädchen an der Rezeption, ob sie wisse, wo ich Clifford Tudor finden könne. Sie strahlte mich an, und ich grinste ermutigend. -126-
»Sie haben ihn leider eben verfehlt«, erwiderte sie. »Er ist in seine Wohnung zurückgefahren.« »Kommt er oft hierher?« fragte ich. Sie sah mich überrascht an. »Ich dachte, Sie wüßten Bescheid. Er sitzt im Aufsichtsrat und ist einer der größten Aktionäre. Das Ganze hier gehört ihm fast alleine, und er hat mehr zu reden als der Geschäftsführer, wie es zu leiten ist.« »Hat er einen Wagen?« fragte ich. Die Frage war ziemlich seltsam, aber das Mädchen schnatterte unbeirrt weiter. »Ja, er hat einen riesengroßen Wagen mit viel Chrom. Große Klasse. Aber er benützt ihn natürlich nicht. Meistens fährt er mit den Taxis. Gerade vor ein paar Minuten habe ich eines von diesen Funktaxis für ihn gerufen. Sie sind wirklich sehr brauchbar. Man ruft nur die Zentrale an, und von dort wird die Nachricht an das in nächster Nähe befindliche Taxi weitergegeben. Alle unsere Gäste bedienen sich…« »Mavis!« Das geschwätzige Mädchen verstummte und sah sich schuldbewußt um. Eine ernste, junge Frau war aufgetaucht. »Danke für die Vertretung, Mavis. Du kannst jetzt gehen«, sagte sie. Mavis lächelte mir zu und verschwand. »Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?« Sie war sehr höflich, aber offensichtlich nicht zum Klatschen aufgelegt. »Äh – können wir Tee haben?« fragte ich. Sie sah auf die Uhr. »Es ist schon ein bißchen spät, aber Sie können sich ins Foyer setzen, wo Sie der Ober bedienen wird.« Kate betrachtete kurze Zeit später die Brötchen mit Fischpaste und machte ein saures Gesicht. »Das gehört wohl zu den Gefahren im Leben eines Detektivs?« meinte sie. »Was haben Sie eigentlich herausgefunden?« Ich sagte, ich sei mir nicht ganz sicher, aber ich interessiere mich für alles, was mit den Taxis oder Bills Tod auch nur -127-
entfernt in Verbindung stünde. Und das sei bei Clifford Tudor nun einmal der Fall. »Bestimmt nichts dran«, sagte Kate kurz und bündig. Ich seufzte. »Ich glaube es auch nicht.« »Was kommt jetzt?« »Wenn ich herausfinden könnte, wem die Taxis mit den gelben Wappen gehören…« »Wir rufen einfach an und fragen«, sagte Kate und erhob sich. Wir gingen zur Telefonzelle und suchten die Nummer heraus. »Ich mach das«, erklärte sie. »Ich werde sagen, daß ich eine Beschwerde vorzubringen hätte und dem Inhaber selbst schreiben möchte.« Sie wählte die Nummer der Taxizentrale und gab eine herrliche Vorstellung; sie verlangte die Namen und Adressen der Eigentümer, Geschäftsführer und Anwälte. Schließlich legte sie den Hörer auf und sah mich mißmutig an. »Man wollte mir nichts sagen«, beklagte sie sich. »Der Mann war ja wirklich geduldig. Er ließ sich nicht einmal aus der Ruhe bringen, als ich unhöflich wurde, aber er sagte nur immer wieder: ›Bitte schreiben Sie uns in allen Einzelheiten, und wir werden Ihre Beschwerde untersuchen.‹ Er sagte, es sei bei der Firma nicht üblich, die Namen der Eigentümer bekanntzugeben, und er besitze jedenfalls keine Ermächtigung dazu. Er gab nicht einen Zentimeter nach.« »Schon gut. Sie haben es jedenfalls prima gemacht. Ich dachte mir schon, daß wir nichts erfahren werden. Aber das bringt mich auf eine Idee…« Ich rief das Polizeirevier in Maidenhead an und fragte nach Inspektor Lodge. Er sei nicht im Dienst, hieß es. Ob ich eine Nachricht zu hinterlassen wünsche. »Hier ist Alan York«, sagte ich. »Würden Sie bitte Inspektor Lodge fragen, ob er feststellen kann, wem die MarconicarFunktaxis in Brighton gehören. Er weiß schon, worum es sich -128-
handelt.« Die Stimme aus Maidenhead erklärte, daß man Inspektor Lodge am nächsten Morgen verständigen würde, aber man könne nichts versprechen. Ich bedankte mich und hängte ein. Kate stand in der Telefonzelle ganz nahe bei mir. Ich küßte sie sanft. Ihre Lippen waren weich. Sie legte die Hände auf meine Schultern, sah mir in die Augen und lächelte. Ich küßte sie wieder. Ein Mann öffnete die Tür zur Zelle. Er lachte, als er uns sah. »Entschuldigen Sie…, ich möchte telefonieren…« Verwirrt verließen wir die Kabine. Ich sah auf die Uhr. Es war beinahe halb sieben Uhr. »Wann erwartet uns Tante Deb zurück?« fragte ich. »Abendessen um acht Uhr. Bis dahin haben wir Zeit«, sagte Kate. »Schauen wir uns noch ein bißchen die Schaufenster an.« Wir gingen langsam durch die Seitenstraßen Brightens, blieben vor jeder hellerleuchteten Auslage stehen und bewunderten sie. Und in einigen verschwiegenen Ecken setzten wir das fort, wobei wir in der Telefonkabine unterbrochen worden waren. Kates Küsse waren süß und jungfräulich. Sie zeigte sich unerfahren, und obwohl sie ab und zu in meinen Armen zitterte, spürte ich keine Leidenschaft. Als wir uns in einer der Straßen gerade überlegten, ob wir umkehren sollten, wurde hinter uns Licht eingeschaltet. Wir sahen uns um. Der Besitzer der ›Blue Duck‹ öffnete eben sein Lokal. Es sah sehr gemütlich aus. »Wie wär’s mit einem kleinen Schluck, bevor wir heimfahren?« schlug ich vor. »Einverstanden«, sagte Kate. Und auf diese zufällige Art taten wir den entscheidendsten Schritt an diesem Nachmittag. Wir betraten die ›Blue Duck‹.
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9 Der Schanktisch war mit einer schimmernden Kupferplatte abgedeckt. Die Zapfgriffe blinkten, und die Gläser blitzten. Es war ein sauberer, angenehmer kleiner Raum mit gemütlicher Beleuchtung und Ölgemälden von Fischerdörfern an den Wänden. Kate und ich lehnten am Schanktisch und sprachen mit dem Gastwirt über Sherries. Er war ein hochaufgerichteter Mann um die Fünfzig mit einem martialischen Schnurrbart. Ich hielt ihn für einen pensionierten Hauptfeldwebel. Aber er verstand sein Geschäft, und der Sherry, den er uns empfahl, schmeckte ausgezeichnet. Wir waren seine ersten Gäste und unterhielten uns ein bißchen mit ihm. Er hatte die freundliche Art aller guten Gastwirte, aber dahinter bemerkte ich eine gewisse Vorsichtigkeit, als sei er auf alles gefaßt. Ich kümmerte mich jedoch nicht darum, weil ich fälschlicherweise dachte, seine Sorgen hätten mit mir nichts zu tun. Ein anderes Paar betrat das Gastzimmer; Kate und ich wandten uns ab, um unsere Gläser zu einem der kleinen Tische zu tragen. Kate glitt dabei aus, ihr Glas prallte gegen den Schanktisch und zerbrach. Sie geriet mit der Hand an einen der größeren Splitter, und die klaffende Schnittwunde begann heftig zu bluten. Der Gastwirt rief seine Frau, eine schmale, kleine Person mit gebleichtem Haar. Sie sah, wie Kate blutete, und rief besorgt: »Kommen Sie ’rein und halten Sie die Hand unters kalte Wasser. Dann hört es auf zu bluten. Vorsichtig, damit nichts auf Ihren schönen Mantel tropft.« Sie öffnete eine Schwingtür, um uns durchzulassen, und -130-
führte uns in ihre Küche, die ebenso peinlich sauber war wie der Schanktisch. Auf einer Anrichte lag in Scheiben geschnittenes Brot, Butter, kaltes Fleisch; daneben standen Gläser mit Salaten und Mixed Pickles. Wir hatten die Frau des Gastwirtes bei der Garnierung von belegten Broten für die abendlichen Gäste gestört. Sie ging zum Ausguß, ließ das Wasser laufen und winkte Kate, die Hand darunterzuhalten. Ich blieb an der Küchentür stehen und sah mich um. »Es tut mir leid, daß ich Ihnen so viel Umstände mache«, meinte Kate, als das Blut in das Becken tropfte. »Die Wunde ist gar nicht so groß, aber es blutet doch sehr stark.« »Sie machen uns gar keine Umstände«, sagte die Frau des Gastwirts. »Sie bekommen gleich einen Verband.« Sie lächelte Kate zu und begann in einer Schrankschublade zu suchen. Ich löste mich von der Tür, um mir den Schaden näher anzusehen. Augenblicklich hörte ich ein drohendes Knurren, und aus einer Kiste neben dem Kühlschrank tauchte ein schwarzer Schäferhund auf. Seine gelben Augen waren auf mich gerichtet, und er fletschte gräßlich die Zähne. Um den Hals trug er ein Lederband, aber er war nicht angekettet. Wieder ließ er ein böses Knurren hören. Ich blieb mitten in der Küche stehen, ohne mich zu rühren. Die Frau des Gastwirts nahm einen schwarzen Stock, der neben dem Schrank stand, und ging zu dem Hund hinüber. Sie kam mir aufgeregt vor. »Platz, Prince. Platz.« Sie deutete mit dem Stock auf die Kiste. Der Hund zögerte kurz und stieg dann wieder hinein, ohne mich aber aus den Augen zu lassen. Ich bewegte mich immer noch nicht. »Entschuldigen Sie vielmals, Sir. Er mag fremde Herren nicht. Er ist ein sehr scharfer Wachhund, wissen Sie. Aber jetzt tut er Ihnen bestimmt nichts, solange ich hier bin.« Sie lehnte den Stock an die Wand und ging mit Watte, Alkohol und einem -131-
Verbandspäckchen zu Kate. Ich machte einen Schritt auf Kate zu. Der Hund knurrte leise, blieb aber in seiner Kiste. Ich erreichte endlich das Spülbecken. Die Blutung hatte beinahe aufgehört, die Frau des Gastwirts säuberte die Wunde mit in Alkohol getränkter Watte und machte dann einen kleinen Verband. Mein Blick wanderte vom Schäferhund zu dem massiven Stock, und ich dachte an die versteckte Nervosität des Wirtes. Aus all dem ließ sich nur eine Schlußfolgerung ziehen. Schutz. Schutz wovor? Schutz vor Erpressung. Jemand hatte unseren Wirt zwingen wollen, sich unter den ›Schutz‹ einer Gangsterorganisation zu begeben. Entweder du bezahlst, oder wir schlagen dir deine Wirtschaft zusammen… oder dich… oder deine Frau. Aber dieser Gastwirt, ob er nun früher Hauptfeldwebel gewesen war oder nicht, schien sich damit nicht abfinden zu wollen. Die Kassierer der Organisation standen einem auf den Mann dressierten Wachhund gegenüber. Wahrscheinlich waren sie es, die Schutz brauchten. Der Wirt steckte den Kopf zur Tür herein. »Alles in Ordnung?« fragte er. »Ja, recht vielen Dank«, erwiderte Kate. »Ich habe Ihren Hund bewundert«, meinte ich. Der Wirt trat einen Schritt in die Küche. Prince ließ zum erstenmal den Blick von mir und sah seinen Herrn an. »Ein prima Kerl«, stimmte er zu. Plötzlich flog mir von irgendwoher ein Einfall zu. Es konnte schließlich in Brighton nicht allzu viele Banden geben, und ich hatte mich schon mehrmals gefragt, warum ein Taxiunternehmen Schläger besoldete, die regelrechte Schlachten ausfochten. Aus diesem Grund sagte ich, mit bedauernswertem Mangel an Vorsicht: »Marconicars.« -132-
Das Lächeln des Wirts verschwand plötzlich, und er sah mich haßerfüllt an. Er packte den schweren Stock und holte damit aus. Der Hund hatte mit einem Satz die Kiste verlassen, duckte sich zum Sprung, die Ohren flach angelegt. Ich hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Kate kam mir zu Hilfe. Sie trat neben mich und sagte ohne jede Spur von Angst: »Schlagen Sie um Himmels willen nicht so fest zu; weil uns Tante Deb in einer guten halben Stunde zum Lammbraten erwartet, und sie legt sehr großen Wert auf Pünktlichkeit.« Der Wirt, etwas aus der Fassung gebracht, zögerte einen Augenblick, so daß ich sagen konnte: »Ich gehöre nicht zu den Marconicars. Ich bin gegen sie. Legen Sie den Stock lieber wieder weg und sagen Sie Prince, daß er sich beruhigen darf.« Der Wirt ließ den Stock sinken, beorderte aber Prince nicht in die Kiste. »Wohin sind wir denn da geraten?« sagte Kate zu mir. »Erpressung, nicht wahr?« wandte ich mich an den Wirt. »Das mit den Taxis war nur eine Vermutung. Ich hatte mir ausgerechnet, warum Sie einen so scharfen Wachhund brauchen, und seit Tagen denke ich über Taxichauffeure nach. Da ergab sich einfach ein Zusammenhang.« »Ein paar von Marconicar-Fahrern haben ihn vor einer Woche überfallen«, sagte Kate zur Frau des Gastwirtes. »Man kann also nicht verlangen, daß er bei diesem Thema ganz normal bleibt.« Der Wirt sah uns beide forschend an. Dann ging er zu seinem Hund und kraulte ihn hinter den Ohren. Der Hund wedelte mit dem Schwanz und lehnte sich an seinen Herrn. Der Wirt schickte ihn in die Kiste. »Prince ist ein guter Hund«, sagte er mit einem Unterton von Ironie. »Also, jemand muß an den Schanktisch. Sue, kümmerst du dich um die Gäste, während ich mit diesen jungen Leuten rede?« -133-
»Die Brote sind doch noch nicht fertig«, wandte Sue ein. »Die mache ich«, erwiderte Kate fröhlich. »Pro Sandwich ein Blutstropfen.« Sie nahm ein Messer und begann, die BrotScheiben mit Butter zu bestreichen. Der Wirt und seine Frau schienen eher mit den Taxifahrern als mit Kate fertig zu werden; die Wirtin zögerte ein paar Sekunden und ging dann in die Gaststube. »Nun, Sir«, sagte der Wirt. Ich erklärte ihm in groben Umrissen die Umstände von Bills Tod und mein Zusammentreffen mit den Taxichauffeuren im Pferdetransportwagen. »Wenn ich feststellen kann, wer hinter den Marconicars steht, habe ich wahrscheinlich den Mann gefunden, der Major Davidsons Sturz arrangierte.« »Ja, das ist mir klar«, meinte der Wirt. »Ich hoffe nur, daß Sie mehr Glück haben als ich. Sie können ebensogut mit dem Kopf gegen eine Mauer rennen, als herauszufinden versuchen, wem die Marconicars gehören. Aber ich will Ihnen natürlich alles erzählen, was ich weiß. Je mehr Leute sich gegen sie wenden, desto früher sind sie erledigt.« Er beugte sich vor und nahm zwei belegte Brote von der Anrichte, reichte mir eines davon und biß ins andere. »Sie müssen noch Platz für den Lammbraten lassen«, sagte Kate zu mir. Dann warf sie einen Blick auf die Uhr. »Ach du lieber Himmel, wir kommen viel zu spät zum Essen, und Tante Deb wird sich ärgern.« Aber sie fuhr gelassen fort, die Brote mit Butter zu bestreichen. »Ich habe die ›Blue Duck‹ vor achtzehn Monaten gekauft«, erklärte der Wirt. »Als ich Zivilist wurde.« »Hauptfeldwebel?« murmelte ich. »Stabsfeldwebel beim Regiment«, erwiderte er mit berechtigtem Stolz. »Thomkins heiße ich, ich kaufte ›The Blue Duck‹ mit meinen Ersparnissen, und die Wirtschaft war wirklich -134-
sehr billig. Zu billig. Ich hätte merken müssen, daß da etwas nicht stimmt. Wir waren noch keine drei Wochen hier und hatten schon recht ordentlich verdient, als eines Abends so ein Kerl daherkam und frei heraus erklärte, daß es uns sehr übel erginge, wenn wir nicht wie der letzte Besitzer zahlen würden. Dann nahm er sechs Biergläser vom Schanktisch und zerschlug sie. Er sagte, er müsse fünfzig Pfund pro Woche verlangen. Ich bitte Sie, fünfzig Pfund! Kein Wunder, daß der letzte Besitzer weg wollte. Ich erfuhr später, daß er seit Monaten versucht hatte, die Wirtschaft loszuwerden, aber alle Ansässigen ließen die Finger davon und überließen sie lieber einem Trottel wie mir, der gerade aus der Armee kam und keinen Dunst von den wirklichen Vorgängen hatte.« Thomkins kaute an seinem Sandwich und dachte nach. »Nun, ich empfahl ihm, sofort zu verschwinden. In der nächsten Nacht kam er mit fünf anderen zurück, und die Kerle schlugen mir alles zu Kleinholz. Ich wurde mit einer von meinen eigenen Flaschen k. o. geschlagen, meine Frau sperrten sie in die Speisekammer. Dann zertrümmerten sie alle Flaschen, alle Gläser, alle Stühle. Als ich wieder zu mir kam, lag ich am Boden, und sie hatten sich im Kreis um mich versammelt. Sie sagten, das sei nur ein kleiner Vorgeschmack. Wenn ich die Fünfzig pro Woche nicht ablieferte, würden sie wiederkommen und alle Flaschen im Keller zerschlagen. Später käme dann meine Frau dran.« Sein Gesicht verzerrte sich, als er das noch einmal durchlebte. »Und was geschah dann?« fragte ich. »Ich dachte gar nicht daran, mich diesen Banditen auszuliefern. Zunächst bezahlte ich ein paar Monate, um Zeit zu gewinnen, aber fünfzig Pfund müssen erst einmal verdient sein. Das Geschäft geht gut, aber mir wäre nicht viel mehr geblieben als meine Pension.« »Haben Sie die Polizei verständigt?« fragte ich. »Nein«, erwiderte Thomkins verlegen. »Damals nicht. Ich wußte nicht, woher die Männer gekommen waren, verstehen -135-
Sie, und sie hatten mir weiß Gott was angedroht, für den Fall, daß ich zur Polizei gehen würde. Auf jeden Fall ist es keine gute Taktik, ohne Verstärkung einen Feind anzugreifen, von dem man eben besiegt worden ist. Um diese Zeit begann ich an einen Hund zu denken, und später bin ich auch zur Polizei gegangen«, schloß er. »Die Polizei kann doch das Marconicar-Unternehmen einstellen, wenn es zur Begehung von Verbrechen benützt wird«, meinte ich. »Sicher, das würde man annehmen«, erwiderte er. »Aber so ist es nicht. Das ist ein echtes Taxiunternehmen, wissen Sie. Sogar ein sehr großes. Die meisten Fahrer sind anständige Leute und wissen überhaupt nicht, was dort vorgeht. Ich habe einmal ein paar von ihnen erklärt, daß man sie als Fassade für Erpressungen benützt, und sie glauben mir nicht. Die Gangster sehen ja aus wie die anderen. Sie kommen mit einem Taxi um die Polizeistunde daher, betreten das Lokal und verlangen ganz ruhig das Geld. Wahrscheinlich finden sie sogar noch einen Fahrgast, den sie in aller Offenheit zum regulären Preis nach Hause bringen.« »Könnten Sie denn nicht einen Polizisten in Zivil in der Gaststube warten lassen, damit er den Taxifahrer verhaftet, wenn er das Geld kassieren will?« mischte sich Kate ein. »Das würde gar nichts nützen, Miss«, erwiderte der Wirt. »Es liegt nicht nur daran, daß sie immer zu verschiedenen Zeiten auftauchen und ein Polizist vielleicht mehrere Wochen warten müßte, bis er einen fangen würde, sondern es gibt auch gar keine Veranlassung für eine Verhaftung. Die Kerle haben nämlich einen Schuldschein über fünfzig Pfund mit meiner Unterschrift, und wenn es zu Schwierigkeiten mit der Polizei käme, brauchten sie ihn nur vorzuzeigen, und man könnte ihnen nichts tun. Die Polizei unternimmt schon etwas, wenn sie mit handfesten Beweisen vor Gericht antreten kann, aber sobald ein Wort gegen das andere steht, ist sie praktisch machtlos.« -136-
»Bedauerlich, daß Sie den Schuldschein unterschrieben haben«, seufzte ich. »Das habe ich doch gar nicht getan«, meinte er entrüstet, »aber die Unterschrift scheint die meine zu sein. Ich versuchte einmal, den Schuldschein an mich zu reißen, aber der Kerl meinte, es sei ganz egal, sie würden einfach einen neuen machen. Anscheinend haben sie meine Unterschrift von irgendeinem Brief kopiert. Das ist ja einfach genug.« »Sie zahlen also«, sagte ich enttäuscht. »Ich denke gar nicht dran«, meinte der Wirt mit gesträubtem Schnurrbart. »Seit über einem Jahr habe ich mir keinen roten Heller mehr abnehmen lassen. Von dem Tag an, als Prince ins Haus kam, war Schluß. Er hat vier von den Kerlen in einem Monat fertiggemacht, und seitdem trauen sie sich nicht mehr her. Aber es gibt sie natürlich noch. Sue und ich trauen uns kaum fortzugehen; wenn wir es tun, dann immer gemeinsam und mit Prince. Ich habe an allen Türen und Fenstern Alarmglocken anbringen lassen, und die machen einen gräßlichen Lärm, wenn jemand einzusteigen versucht. So kann man aber auf die Dauer nicht leben. Sue ist schon ein Nervenbündel.« »Das ist ja eine entsetzliche Geschichte«, meinte Kate. »So kann das doch nicht weitergehen?« »O nein, Miss, wir machen sie schon fertig. Sie haben ja nicht nur bei uns Geld kassiert, wissen Sie. Sie machten buchstäblich die Runde. Zehn oder elf Wirtschaften wie die unsrige. Und eine Menge kleiner Läden, Tabakgeschäfte, Andenkenläden, Sie wissen schon, und sechs oder sieben kleine Cafés. Keines von den großen Lokalen. Sie haben es nur auf kleine Firmen abgesehen, wo der Eigentümer mitarbeitet. Als ich das gemerkt hatte, ging ich zu allen Firmen, die da in Frage kamen, und erkundigte mich bei den Besitzern rundheraus, ob sie an die Gangster etwas zahlten. Ich brauchte Wochen dazu, weil das -137-
Gebiet ziemlich groß ist. Die Zahler hatten natürlich alle furchtbare Angst und wollten nichts sagen, aber ich wußte immer gleich Bescheid, wenn sie Ausflüchte machten. Ich erklärte ihnen, daß wir uns zur Wehr setzen müßten. Aber viele von ihnen haben Kinder. Sie wollen nichts riskieren, und das kann man ihnen nicht übelnehmen.« »Was haben Sie getan?« fragte Kate begeistert. »Ich schaffte mir Prince an. Damals war er ein Jahr alt. Ich hatte auch beim Militär mit Hunden zu tun und dressierte Prince auf den Mann.« »Das kann man wohl sagen«, meinte ich. »Ich führte ihn aus und zeigte ihn ein paar von den anderen Opfern«, fuhr Thomkins fort. »Ich erklärte ihnen, daß wir die Taxifahrer fortjagen könnten, wenn sie sich auch Hunde anschafften. Manche hatten noch gar nicht begriffen, daß die Taxis eine Rolle spielten. Auf jeden Fall kauften eine ganze Reihe von diesen Leuten Wachhunde, und ich half ihnen, sie auszubilden, aber es ist nicht einfach, weil der Hund nur einem Herrn gehorchen soll, und ich mußte sie dazu bringen, daß sie einem anderen gehorchten, nicht mir. Immerhin, sie machten sich. Selbstverständlich sind sie nicht so gut wie Prince.« »Selbstverständlich«, sagte Kate. Der Wirt starrte sie argwöhnisch an, aber sie häufte ungerührt Sandwiches auf einen Teller. »Weiter«, sagte ich. »Am Schluß gelang es mir sogar, Leute mit Kindern zu überzeugen. Sie kauften Schäferhunde oder Bulldoggen, und wir entwickelten ein System, wie man alle Kinder mit dem Wagen zur Schule bringen konnte. Ich stellte einen Judo-Experten an, der nichts anderes zu tun hat, als die Kinder und ihre Mütter herumzufahren. Wir legen alle zusammen, um ihn bezahlen zu können. Er ist natürlich teuer, aber das Ganze kostet nicht annähernd so viel wie das, was die Gangster verlangt haben.« -138-
»Großartig«, lobte Kate. »Wir haben sie abgeschlagen, aber so ganz glatt läuft es noch nicht. Vor vierzehn Tagen schlugen sie im Cockleshell-Café, gleich um die Ecke, alles kurz und klein. Wir halfen beim Aufräumen und steuerten für die Anschaffung von neuen Tischen und Stühlen etwas bei. Die Besitzer haben eine Schäferhündin, die läufig geworden war, deswegen wurde sie in ein Schlafzimmer gesperrt. Ich bitte Sie. Am besten sind eben doch Rüden«, erklärte der Wirt ernsthaft. Kate schnaubte belustigt. »Haben die Taxifahrer einen von euch jemals persönlich angegriffen, oder wurden immer nur Sachen beschädigt?« fragte ich. »Sie meinen, abgesehen davon, daß man mich mit meiner eigenen Flasche niedergeschlagen hat?« Der Wirt krempelte einen Hemdärmel hinauf und zeigte uns eine Narbe am Unterarm. »Ungefähr zwölf Zentimeter lang. Drei Kerle überfielen mich eines Abends, als ich einen Brief einwerfen wollte. Kurz vorher hatte Prince einen in die Flucht geschlagen, und dummerweise nahm ich ihn nicht mit. Bis zum Briefkasten war es ja nicht weit, verstehen Sie? Aber ich hatte einen Fehler gemacht. Sie richteten mich ganz schön zu, aber ich konnte sie mir wenigstens genau ansehen. Sie sagten, man würde mir noch einmal dieselbe Abreibung verpassen, wenn ich zur Polizei ginge. Aber ich rief sofort im Revier an und erzählte alles. Ein blonder junger Schläger hatte mich mit dem Messer am Arm erwischt, und auf meine Aussage hin bekam er sechs Monate«, meinte er befriedigt. »Danach ging ich nie mehr ohne Prince weg.« »Und wie steht es bei den anderen?« »Drei oder vier wurden verprügelt, wobei es auch zu Stichwunden kam. Nachdem ich ihnen Hunde besorgt hatte, überredete ich einige, die Polizei zu verständigen. Sie hatten die -139-
Nase wirklich voll, trauten sich aber immer noch nicht, vor Gericht auszusagen. Soviel ich weiß, hat die Bande noch keinen umgebracht. Das wäre ja auch sinnlos, nicht wahr? Ein Toter kann nicht mehr zahlen.« »Ja, das stimmt wohl«, meinte ich nachdenklich. »Sie könnten sich aber überlegen, daß ein Toter alle anderen zur Raison bringen würde.« »Sie brauchen nicht zu denken, daß ich mir das nicht ständig durch den Kopf gehen lasse«, sagte er ernst. »Zwischen sechs Monaten Gefängnis für einen Überfall und lebenslänglichem Zuchthaus oder einem Todesurteil besteht aber ein Riesenunterschied; das hat sie wohl abgehalten. Immerhin leben wir hier nicht in Chikago, wenn man sich auch manchmal wundert.« »Wenn sie von ihren ursprünglichen Opfern kein Geld mehr bekommen können, werden die Gangster wohl Leute zu ›schützen‹ versuchen, die von Ihrem System und Ihren Hunden nichts wissen…« Der Wirt unterbrach mich: »Darauf sind wir auch eingerichtet. Wir geben jede Woche eine Anzeige in der Zeitung auf, wonach sich alle melden sollen, die bedroht worden sind. Es funktioniert prima.« Kate und ich sahen ihn bewundernd an. »Sie hätten General werden müssen«, meinte ich. »Ein bißchen was habe ich im Kriege schon geleistet«, erklärte er bescheiden. »Nun, wie wär’s jetzt mit einem Schluck?« Aber Kate und ich bedankten uns und gingen, weil es schon acht Uhr war. Ich versprach Thomkins, ihn auf dem laufenden zu halten, und wir trennten uns in bestem Einvernehmen. Aber ich verzichtete darauf, Prince zu streicheln.
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Tante Deb saß im Wohnzimmer und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Kate entschuldigte sich sehr nett für unser Zuspätkommen, und Tante Deb taute auf. Kate und sie hingen offensichtlich sehr aneinander. Während des Abendessens erzählte Kate vor allem Onkel George von unseren Abenteuern. Sie berichtete amüsant von dem wandernden Transportwagen, machte einen unhöflichen Witz über die Sandwiches im Pavillon Plaza, was ihr einen strengen Blick von Tante Deb eintrug. »Und dann gingen wir in eine nette kleine Wirtschaft mit dem Namen ›Blue Duck‹«, fuhr Kate fort. »Ich habe mir die Hand verletzt, aber es war nicht schlimm, und wir gingen in die Küche, um das Blut abzuwaschen, und deswegen sind wir zu spät gekommen. Sie hatten den schärfsten Schäferhund, der mir je begegnet ist. Er knurrte Alan ein paarmal an, bis er sich nicht mehr vom Fleck traute…« »Sie mögen Hunde nicht, Mr. York?« fragte Tante Deb. »Es kommt darauf an«, meinte ich. »Der Hund war auch zum Fürchten. Aber er ist sehr nützlich. Wenn ich euch beiden erzählen würde, was wir von dem Besitzer der Wirtschaft über die Gemeinheiten in Brighton erfahren haben, könntet ihr heute nacht kein Auge zutun.« »Dann laß es lieber, Kate«, sagte Tante Deb. »Ich kann sowieso kaum einschlafen.« Onkel George schob den halbvollen Teller weg, als sei ihm plötzlich übel geworden. »Der Magen macht nicht mehr so richtig mit«, sagte er zu mir. »Man wird eben alt.« Tante Deb machte ein sehr besorgtes Gesicht, aber Onkel George erholte sich wieder. »Es war mir ganz entfallen, Kate«, sagte er, »aber während du unterwegs warst, rief Gregory an, um sich mit dir über »Heavens Above‹ zu unterhalten. Ich fragte -141-
ihn, wie es dem Pferd gehe, und er sagte, mit einem Bein sei etwas nicht in Ordnung; es könne jedenfalls am Donnerstag nicht wie vorgesehen in Bristol laufen.« Kate machte ein enttäuschtes Gesicht. »Lahmt er denn?« fragte sie. »Ich könnte schwören, daß Gregory etwas von einem ›Splint‹ gesagt hat. Aber er scheint sich doch nichts gebrochen zu haben, nicht wahr?« »An Pferdebeinen entstehen manchmal kleine Geschwülste, und die nennt man ›Splint‹«, erklärte ich. »Das Ganze dauert nur zwei oder drei Wochen. Danach wird ›Heavens Above‹ wieder ganz gesund sein.« »Schade«, sagte Kate. »Ich habe mich so auf den Donnerstag gefreut. Fahren Sie überhaupt nach Bristol, Alan, wenn mein Pferd nicht starten kann?« »Ja«, sagte ich. »Ich reite auf Palindrome. Kommen Sie doch hin, Kate. Ich würde mich riesig freuen.« Tante Deb richtete sich auf und sah mich mißbilligend an. »Es ist nicht gut für den Ruf eines jungen Mädchens, wenn man es zu oft in Begleitung von Jockeys sieht«, erklärte sie eisig. Um elf Uhr, als sich Onkel George hinter verschlossener Tür seinen Trophäen widmete und Tante Deb ihre Schlaftabletten geschluckt hatte, verließen Kate und ich das Haus, um den Wagen in die Garage zu bringen. Wir hatten ihn in unserer Eile einfach stehenlassen. Ich öffnete Kate die Wagentür, aber sie zögerte. »Sie werden alt«, sagte sie mit trauriger Stimme, »und ich weiß nicht, was ich ohne sie tun würde.« »Sie haben noch viele Jahre vor sich«, meinte ich. »Hoffentlich… Tante Deb sieht manchmal sehr müde aus, und Onkel George war früher viel lebenslustiger. Ich glaube, er -142-
macht sich Sorgen… Wahrscheinlich um Tante Deb… Es scheint etwas mit dem Herzen zu sein…, aber sie sagen mir nie etwas.« Sie zitterte. Ich legte meine Arme um sie und küßte sie. Sie lächelte. »Du bist lieb, Alan.« Ich fühlte mich gar nicht lieb. Am liebsten hätte ich sie in den Wagen gezerrt und wäre mit ihr davongebraust. »Ich liebe dich, Kate«, sagte ich. »Nein«, flüsterte sie. »Sag es nicht. Bitte, sag es nicht.« Sie fuhr mit den Fingern meine Brauen nach. »Warum nicht?« »Weil ich nicht weiß…, ich bin nicht sicher… Ich mag es, wenn du mich küßt, und ich bin gerne mit dir zusammen. Aber Liebe ist ein so großes Wort. Es ist zu wichtig. Ich bin…, ich bin noch nicht…« »Die Liebe lernt man leicht«, sagte ich. »Es ist genauso, wie wenn man ein Risiko eingeht. Man konzentriert sich darauf, weigert sich, Angst zu haben, und schon ist man mitten drin und verliert alle Hemmungen.« »Freilich, und dann sitzt man da«, meinte Kate prosaisch. »Wir könnten ja vorher heiraten«, sagte ich und lächelte sie an. »Nein. Lieber Alan. Nein. Noch nicht.« Und flüsternd fügte sie hinzu: »Es tut mir ja so leid.« Sie setzte sich in den Wagen und fuhr ums Haus herum zur Garage. Ich ging ihr nach, half ihr, die Garagentür zu schließen, und schritt mit ihr zum Haus zurück. An der Schwelle blieb sie stehen, drückte meine Hand und gab mir einen kurzen, schwesterlichen Kuß. Ich wollte ihn nicht. Ich fühlte mich gar nicht wie ein Bruder. -143-
10 Am Dienstag begann es zu regnen. Die Kinder gingen mit schwarzen Regenmänteln, Südwestern und Stiefeln zur Schule. Von William sah man nur noch den Mund. Scilla und ich verbrachten den Tag damit, Bills Garderobe und persönliche Dinge auszusortieren. Das meiste wurde für Henry und William aufgehoben. Scilla legte nicht nur Manschettenknöpfe und zwei goldene Uhren dazu, sondern auch Smokingjacketts, einen Cutaway und einen grauen Zylinder. Ich neckte sie deswegen. »Das ist gar nicht albern«, sagte sie. »In zehn Jahren braucht Henry das alles, wenn nicht schon früher. Er wird dann sehr froh darum sein.« »Wir können genausogut alles in die Schränke zurückhängen und warten, bis Henry und William erwachsen sind.« »Das ist gar keine schlechte Idee«, erwiderte Scilla und legte die beste Reithose Bills beiseite. Als wir mit der Garderobe fertig waren, gingen wir ins Arbeitszimmer hinunter und kümmerten uns um Bills Papiere. Sein ganzer Schreibtisch war voll davon. Er hatte nicht einmal alte Rechnungen und Briefe weggeworfen, und in der untersten Schublade fanden wir ein Bündel Briefe, die ihm Scilla vor der Heirat geschrieben hatte. Sie setzte sich ans Fenster und las sie, während ich das übrige aussortierte. Bill war sehr methodisch vorgegangen. Er hatte die Rechnungen chronologisch geordnet, die Briefe wurden in Schachteln und Aktenordnern aufbewahrt. In den einzelnen Fächern fand ich einen Stoß alter, gebrauchter Umschläge, die auf der Rückseite Notizen trugen. Ich sah sie durch und wollte -144-
sie dann zu dem Stoß legen, der für den Papierkorb bestimmt war. Plötzlich erstarrte ich. Auf einem Umschlag stand in Bills Handschrift der Name Clifford Tudor, darunter eine Telefonnummer und eine Adresse in Brighton. »Kennst du einen Mann namens Clifford Tudor?« fragte ich Scilla. »Nie von ihm gehört«, erwiderte sie, ohne aufzusehen. Wenn Tudor Bill gebeten hatte, für ihn zu reiten, wie er mir auf der Fahrt von Plumpton nach Brighton erzählte, war es ganz natürlich, daß Bill sich Namen und Adresse notiert hatte. Ich drehte das Couvert um. Es stammte von einem Kaufmann aus dem Ort, und der Poststempel war vom Januar. Bill hatte also erst vor kurzem Tudors Adresse erfahren. Ich steckte den Umschlag in die Tasche und sortierte weiter. Ich fand alte Fotografien, ein paar Blätter, auf denen die Kinder herumgekritzelt hatten, Adreßbücher, Gepäckscheine, eine Glückwunschkarte, Schulzeugnisse und mehrere Notizbücher. »Das mußt du durchsehen, Scilla«, sagte ich. »Mach lieber du das«, meinte sie und sah lächelnd von ihren Briefen auf. »Du kannst mir sagen, was es ist, und ich sehe es mir später an.« Bill hatte keine Geheimnisse. In den Notizbüchern hatte er seine Ausgaben niedergeschrieben. Ich fand das neueste Büchlein und blätterte es durch. Unterrichtsgebühren, Heu für Pferde, ein neuer Gartenschlauch, eine Reparatur am Scheinwerfer des Jaguars in Bristol, ein Geschenk für Scilla, eine Wette auf ›Admiral‹, eine Spende. Und das war alles. Danach kamen leere Seiten, die nie mehr beschrieben werden würden. Ich sah mir noch einmal die letzten Eintragungen an. Eine Wette auf ›Admiral‹. Zehn Pfund auf Sieg, hatte Bill -145-
geschrieben. Und das Datum war der Tag seines Todes. Was man auch zu Bill über ›Admirals‹ Sturz gesagt haben mochte, er hatte es als Witz aufgefaßt und trotzdem auf Sieg gesetzt. Ich hätte zu gerne gewußt, was das für ein ›Witz‹ gewesen war. Er hatte ihn Pete erzählt, aber der war nicht aufmerksam genug gewesen. Ich stapelte die Notizbücher aufeinander und machte mich ans letzte Fach. Dort fand ich unter anderem fünfzehn oder zwanzig Wettscheine, wie sie von den Buchmachern bei Rennen ausgegeben werden. Der enttäuschte Wetter wirft sie gewöhnlich weg. »Warum hat Bill diese Wettscheine aufgehoben?« fragte ich Scilla. »Henry hat sie eine Weile gesammelt, kannst du dich nicht entsinnen?« erwiderte sie. »Nachdem sein Interesse erlahmt war, brachte Bill immer noch Scheine mit nach Hause. Wahrscheinlich, um gewappnet zu sein, falls William den Buchmacher spielen wollte.« Ich entsann mich. Ich hatte bei Henry, dem Buchmacher, gegen einen Einsatz von Halfpennies auf viele Pferde gesetzt, aber niemals gewonnen. »Willst du sie für William aufheben?« fragte ich. »Ich denke schon«, meinte Scilla. Ich legte sie wieder in den Schreibtisch und machte Schluß. Es war spät am Nachmittag. Wir gingen ins Wohnzimmer, legten Holz in den Kamin und ließen uns in den Lehnsesseln nieder. Sie sagte: »Alan, ich möchte dir etwas geben, das Bill gehört hat. Bitte laß mich ausreden. Ich habe mich lange gefragt, was dir am liebsten wäre, und ich bin sicher, daß es so richtig ist.« Sie wärmte sich die Hände am Kaminfeuer. »Du sollst ›Admiral‹ haben«, sagte sie. -146-
»Nein«, erklärte ich entschieden. »Warum nicht?« fragte sie enttäuscht. »Liebste Scilla, das ist einfach zu viel«, sagte ich. »Ich dachte, du sprichst von einem Zigarettenetui oder einem ähnlichen Andenken. Du darfst mir ›Admiral‹ nicht geben. Er ist Tausende wert. Du mußt ihn verkaufen oder auf deinen Namen laufen lassen, wenn du ihn behalten willst. Aber du kannst ihn nicht mir geben. Es wäre weder dir noch den Kindern gegenüber fair, wenn ich ihn bekäme.« »Er wäre Tausende wert, wenn ich ihn verkaufen würde – aber das brächte ich niemals fertig, du weißt es genau. Ich könnte es nicht ertragen. Er hat Bill so viel bedeutet. Und wenn ich ihn behalte und starten lasse, muß ich die Rechnungen bezahlen, was gar nicht einfach ist, solange wir die Erbschaftssteuer noch nicht beglichen haben. Wenn ich ihn dir gebe, handele ich auch in Bills Sinn, und du kannst für ›Admirals‹ Unterhalt aufkommen. Ich habe mir alles genau überlegt. ›Admiral‹ gehört dir.« »Dann vermiete ihn mir wenigstens nur«, meinte ich. »Nein, er ist ein Geschenk. Von Bill an dich, wenn du willst.« Ich gab nach und bedankte mich, so gut ich konnte. Am nächsten Morgen fuhr ich ganz früh zu Pete Gregory nach Sussex, um ›Forlorn Hope‹ über die Trainingshürden zu jagen. Es regnete leicht, als ich ankam, und nur, weil ich einen so weiten Weg zurückgelegt hatte, holten wir die Pferde heraus. Es ging nicht sehr befriedigend; ›Forlorn Hope‹ rutschte bereits beim ersten Hindernis aus und hatte dadurch nur noch wenig Begeisterung. Wir gaben es auf und gingen zu Petes Haus hinunter. Ich erzählte ihm, daß ›Admiral‹ mir gehören solle, und daß ich ihn -147-
reiten würde. »Er ist beim Fuchsjagdrennen in Liverpool eingetragen, weißt du das?« »Donnerwetter!« rief ich. Ich hatte noch nie auf der GrandNational-Bahn geritten. »Willst du es versuchen?« »Na, und ob«, sagte ich. Ich verabschiedete mich von Pete, fuhr zur nächsten Bahnstation, parkte dort meinen Wagen und nahm wieder den Zug. Ich verließ den Bahnhof in Brighton, warf einen Blick auf die drei Taxis – sie trugen keine gelben Wappen – und schlug die Richtung zur Zentrale der Marconicars ein, deren Adresse ich im Telefonbuch festgestellt hatte. Die Büroräume befanden sich im Erdgeschoß eines umgebauten Regency-Hauses. Ich betrat die schmale Eingangshalle. Rechts von mir befand sich die Treppe, links waren zwei Türen, während eine dritte mit der Aufschrift ›Privat‹ mir am anderen Ende des Ganges gegenüberlag. Ein Schild an der ersten Tür: ›Auskünfte‹. Ich trat ein. Das Zimmer war früher einmal sehr elegant gewesen, und selbst die Büroeinrichtung konnte diesen Eindruck nicht ganz verwischen. Zwei Mädchen saßen vor Schreibmaschinen. Durch die halbgeöffnete Schiebewand konnte ich in ein anderes Büro sehen, wo ein Mädchen vor einem Vermittlungskasten saß. Sie sprach in ein Mikrophon. »Ja, in drei Minuten kommt ein Taxi zu Ihnen«, sagte sie. »Vielen Dank.« Die beiden Mädchen im vorderen Büro sahen mich erwartungsvoll an. Sie trugen enge Pullover und zuviel Makeup. »Äh…, ich möchte ein paar Taxis mieten… für eine Hochzeit. Meine Schwester heiratet«, fügte ich hinzu. »Wäre das zu machen?« -148-
»O ja, ich denke schon«, erwiderte das erste Mädchen. »Ich werde den Geschäftsführer fragen. Größere Vorbestellungen bearbeitet er selbst.« »Ich möchte nur einen Voranschlag… für meine Schwester. Sie hat mich gebeten, bei allen Firmen vorzusprechen und zu ermitteln, wo es am… äh… günstigsten ist. Ich kann keine Buchung vornehmen, bis ich noch einmal mit ihr gesprochen habe.« »Ich verstehe«, sagte die junge Dame. »Nun, ich werde Sie bei Mr. Fielder anmelden.« Sie ging hinaus, stöckelte den Korridor entlang und verschwand hinter der Tür mit der Aufschrift ›Privat‹. Während ich wartete, grinste ich das andere Mädchen an und hörte der jungen Dame am Mikrophon zu. »Einen Augenblick, Sir. Ich werde mal nachsehen, ob sich ein Taxi in Ihrer Gegend befindet«, sagte sie. Sie drückte auf eine Taste. »Achtung, Wagen in Hove zwei, bitte melden. Achtung, Wagen in Hove zwei, bitte melden.« Es blieb eine Weile still, dann sagte eine Männerstimme aus dem Lautsprecher. »In Hove zwei ist anscheinend niemand, Marigold. Ich könnte in fünf Minuten dort sein. Ich habe eben einen Fahrgast am Langbury Place abgesetzt.« »Gut, Jim.« Sie gab ihm die Adresse, drückte wieder auf eine Taste und sagte in die Sprechkapsel: »In fünf Minuten wird ein Taxi bei Ihnen sein, Sir. Entschuldigen Sie die Verzögerung, aber wir haben keinen Wagen, der Sie früher erreichen könnte. Vielen Dank, Sir.« Sie war kaum zu Ende, als das Telefon wieder läutete. Sie sagte: »Marconicars, Sie wünschen, bitte?« Draußen im Korridor hörte man wieder Stöckelschritte, und das Mädchen kam von Mr. Fielder zurück. »Der Geschäftsführer ist jetzt zu sprechen, Sir«, sagte sie. -149-
»Vielen Dank.« Ich ging den Korridor entlang und betrat durch die offene Tür das Bürozimmer. Der Mann, der sich erhob, um mich zu begrüßen und mir die Hand zu geben, war kräftig, elegant angezogen, etwa Mitte Vierzig. Er trug eine dicke, schwarze Hornbrille, hatte glattes, schwarzes Haar und kalte, blaue Augen. Für einen Büroangestellten in einem Taxiunternehmen schien er mir eine zu massive Persönlichkeit zu sein. Er wirkte irgendwie fehl am Platze. Einen Augenblick lang hatte ich das unbehagliche Gefühl, daß er wußte, wer ich war und was mich hierher geführt hatte. Aber er sah mich gleichmütig an und sagte nur: »Sie wollen eine Blockbuchung für eine Hochzeit vornehmen?« »Ja«, erwiderte ich und erfand diverse Einzelheiten. Er machte sich Notizen, addierte ein paar Zahlen, veranschlagte die voraussichtlichen Kosten und gab mir das Blatt. »Vielen Dank«, sagte ich. »Ich bespreche die Angelegenheit mit meiner Schwester und melde mich dann wieder.« Als ich das Zimmer verließ und die Tür schloß, sah ich mich noch einmal um. Er saß hinter seinem Schreibtisch und starrte mich durch seine Brille unverwandt an. Sein Gesicht war unbewegt. Ich kehrte in das Büro zurück und sagte: »Den Voranschlag habe ich erhalten. Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit.« Ich wandte mich zum Gehen, da fiel mir noch etwas ein. »Wissen Sie übrigens, wo ich Mr. Clifford Tudor finden kann?« fragte ich kurz. Die Mädchen meinten ohne jede Überraschung, sie wüßten es nicht. »Marigold kann es vielleicht feststellen«, erwiderte eine von ihnen. »Ich frage sie.« Marigold drückte auf die Taste. »Achtung, an alle Wagen. Hat -150-
heute schon jemand Mr. Tudor gefahren?« Die Stimme eines Mannes sagte: »Ich habe ihn heute früh zum Bahnhof gebracht, Marigold. Er nahm den Zug nach London.« »Danke, Mike«, sagte Marigold. »Sie kennt alle Stimmen der Fahrer«, meinte eines der Mädchen bewundernd. »Keiner braucht die Wagennummer zu nennen.« »Kennt ihr Mr. Tudor näher?« fragte ich. »Ich habe ihn noch nie gesehen«, erklärte eine junge Dame, und die anderen schüttelten ebenfalls die Köpfe. »Er ist einer unserer Stammkunden. Er nimmt einen Wagen, sobald er einen braucht, wir erledigen das für ihn. Der Fahrer teilt Marigold mit, wohin er ihn bringt. Mr. Tudor bekommt dann monatlich eine Rechnung von uns.« »Angenommen, der Fahrer bringt Mr. Tudor irgendwohin und teilt es Marigold nicht mit?« fragte ich leichthin. »So dumm ist keiner. Die Fahrer bekommen bei Stammkunden Prozente anstelle eines Trinkgeldes, verstehen Sie? Wir schlagen bei den Rechnungen zehn Prozent auf, damit die Stammkunden nicht alle fünf Minuten Trinkgelder geben müssen.« »Eine gute Idee«, meinte ich. »Habt ihr viele Stammkunden?« »Dutzende. Aber Mr. Tudor ist sicher unser bester Kunde.« »Und wie viele Taxis fahren für die Firma?« »Einunddreißig. Ein paar davon stehen natürlich immer in einer Werkstätte, und im Winter läuft manchmal nur die Hälfte davon. Die Konkurrenz ist sehr groß.« »Wem gehören eigentlich die Marconicars?« fragte ich. Sie wußten es nicht, und es war ihnen auch gleichgültig. »Mr. Fielder nicht?« -151-
»Aber nein«, sagte Marigold. »Das glaube ich wirklich nicht. Soviel ich weiß, gibt es einen Vorstandsvorsitzenden, aber wir haben ihn nie gesehen. Mr. Fielder kann nicht so hoch oben stehen, weil er mich an den Abenden und übers Wochenende manchmal vertritt. Obwohl mich natürlich ein anderes Mädchen ablöst, wenn ich dienstfrei habe.« Sie schienen plötzlich alle zu begreifen, daß das Ganze nichts mit der Hochzeit meiner Schwester zu tun hatte. Ich verdrückte mich. Draußen auf der Straße fragte ich mich, was ich jetzt tun sollte. Gegenüber sah ich ein Café, und es war sowieso Zeit zum Mittagessen. Ich betrat das Lokal, in dem es nach Kohl roch, und fand noch einen Tisch am Fenster. Durch die Stores des ›Olde Oake Café‹ hatte ich klare Sicht auf die Büros des Taxiunternehmens, falls mir das etwas nützte. Ein stämmiges Mädchen mit strähnigem Haar gab mir eine maschinengeschriebene Speisekarte. Ich studierte sie bedrückt. Tomatensuppe, Kabeljau gebacken, Bratwürste in Blätterteig, Steak und Nierenpastete, und als Nachtisch Pudding oder Eiercreme. Auf die Gewichtssorgen von Amateurjockeys wurde keine Rücksicht genommen. Ich bestellte Kaffee. Das Mädchen erklärte, ich könne zu Mittag nicht allein Kaffee haben, weil man die Tische brauche. Ich erbot mich, für das ganze Menü zu bezahlen, wenn ich dafür den Kaffee alleine trinken dürfe, und damit war sie einverstanden, obwohl sie mich offensichtlich für einen Sonderling hielt. Der Kaffee war erstaunlich stark und wohlschmeckend. Ich hatte wohl den ersten Aufguß bekommen, dachte ich, und beobachtete den Eingang zu ›Marconicars‹. Im Stockwerk darüber blinkte eine große rote Neonreklame, die im Tageslicht recht blaß wirkte. Quer über das schmale Gebäude verlief der Name ›L. C. Perth‹. Auf dem oberen Teil des großen Fensters der Taxifirma stand, mit gelben Buchstaben -152-
auf schwarzem Grund, ›Marconicars‹, und das oberste Stockwerk war mit einem großen, blauen Schild verziert, das die Aufschrift Jenkins, Großhandel in Hüten‹ trug. Eine ältere Dame, die an meinem Tisch Platz nahm, erklärte mir ohne Umschweife, daß diese Verunstaltung alter RegencyGebäude wirklich überhand nehme und man bisher vergeblich versucht habe, die Anbringung von Neonreklamen zu verbieten, aber die Firma Perth besitze offensichtlich keine verantwortlichen Leute, und die Büroangestellten nähmen die Neonbuchstaben nicht ab, weil sie ihnen nicht gehörten, aber sie seien auch nicht bereit, anzugeben, wer nun der Besitzer sei. Die beiden Stenotypistinnen, und kurz darauf auch Marigold, verließen das Haus. Vier Männer folgten ihr. Niemand kam. Ich trank meinen Kaffee, verabschiedete mich von meiner Tischgenossin und gab es auf. Ich fuhr mit dem Zug zurück, setzte mich wieder in den Wagen und verfügte mich nach London. Ich arbeitete den ganzen Nachmittag im Büro, fuhr nach Hause und ging in dem Bewußtsein, in Brighton nutzlos einen Vormittag verbracht zu haben, zu Bett. Aber am Donnerstagmorgen, als ich erwachte, fiel mir ein Name ein, und ich wußte auch, wo ich ihm schon einmal begegnet war. Im Morgenmantel ging ich hinunter und nahm aus Bills Schreibtisch die für Henry aufgehobenen Wettscheine. Ich fand das Gesuchte. Drei Wettscheine trugen den Namen L. C. Perth. Ich drehte sie um. Auf die Rückseite hatte Bill den Namen eines Pferdes, die Höhe des Einsatzes und das Datum notiert. Ich nahm alle Wettscheine mit auf mein Zimmer und schlug die einzelnen Rennen nach. Ich erinnerte mich an aufgeschnappte Gesprächsfetzen. Und mir wurde allerhand klar. Aber nicht genug, nicht genug.
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11 In Bristol regnete es unaufhörlich. Die Feuchtigkeit zusammen mit der Kälte nahm mir jeden Spaß am Rennen. Kate schickte eine Nachricht, daß sie des Wetters wegen nicht käme, was gar nicht zu ihr paßte, und ich fragte mich, wie es Tante Deb wohl gelungen war, sie zu Hause zu halten. Im Wiegeraum unterhielt man sich vorwiegend über Joe Nantwich. Die Rennsportkommission hatte sein Verhalten beim letzten Rennen am Tag des Hürdenchampionats untersucht und ihm für die Zukunft eine strenge Verwarnung erteilt. Man war allgemein der Ansicht, daß Joe mit sehr viel Glück noch einmal davongekommen sei. Joe selbst stolzierte so aufgeblasen umher wie je. Aus einiger Entfernung zeigte sein rundes, rosiges Gesicht keine Spur der Angst oder Trunkenheit. Man erzählte mir aber, daß er Freitag, Samstag und fast den ganzen Sonntag in der Sauna verbracht hatte, halbtot vor Angst. Er hatte sich sinnlos betrunken und den Alkohol wieder herausgeschwitzt, wobei er dem Badepersonal unter Tränen versicherte, daß ihm hier nichts passieren könne. Es war Sandy, der diese Geschichte erzählte. Zufällig sei er am Sonntagmorgen in die Sauna gegangen, um für das Rennen am Montag ein paar Pfund abzunehmen. Ich stieß auf Joe, als er gerade die Bekanntmachung an der Anschlagtafel las. Er pfiff vor sich hin. »Na, Joe«, sagte ich, »was macht dich denn so fröhlich?« »Alles.« Er grinste. Aus der Nähe bemerkte ich die schmalen Falten um die Mundwinkel und die ein wenig blutunterlaufenen Augen, aber sonst konnte man ihm nichts ansehen. »Man hat mir die Lizenz nicht entzogen. Und ich wurde dafür bezahlt, daß -154-
ich dieses Rennen verloren habe.« »Was?« rief ich entgeistert. »Ich bin bezahlt worden. Du weißt, ich habe es dir erzählt. Das Päckchen mit Geld. Es kam heute früh. Hundert Pfund.« Ich starrte ihn an. »Nun, ich habe doch auch getan, was verlangt war, nicht wahr?« meinte er beleidigt. »Das kann man wohl sagen«, meinte ich. »Und dann diese Drohbriefe. Ich habe die Kerle schön an der Nase herumgeführt. Ich bin übers ganze Wochenende im Bad geblieben, und dort konnten sie mir nichts tun. Ich bin gut davongekommen«, sagte Joe triumphierend, als sei aufgeschoben« schon ›aufgehoben‹. »Es freut mich, daß du dieser Meinung bist«, sagte ich sanft. »Joe, beantworte mir eine Frage. Wie klingt denn die Stimme des Mannes, der dir telefonisch mitteilt, mit welchem Pferd du nicht gewinnen sollst?« »Man könnte nie erraten, wer es ist. Die Stimme ist ziemlich leise. Manchmal beinahe flüsternd, als hätte der Mann Angst davor, gehört zu werden. Aber was macht das schon?« meinte Joe. »Solange er den Zaster liefert, kann er meinetwegen quaken wie ein Frosch.« »Meinst du damit, daß du wieder ein Pferd abwürgst, wenn er es verlangt?« fragte ich. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht«, sagte Joe in der späten Erkenntnis, etwas zu offen gewesen zu sein. Er sah mich von der Seite an und verschwand im Umkleideraum. Pete und Dane diskutierten in der Nähe über Renntaktik, und ich ging hinüber zu ihnen. Pete verfluchte das Wetter, meinte aber, daß ›Palindrome‹ doch etwas leisten müßte. »Auf halbem Weg setzt du dich an die Spitze, dann kann dir nichts mehr passieren. Die anderen taugen nicht viel. Soviel ich sehen kann, bist du ein todsicherer Tip.« -155-
»Prima«, sagte ich automatisch, aber dann erinnerte ich mich plötzlich daran, daß ›Admiral‹ in Maidenhead ebenfalls ein todsicherer Tip gewesen war. Dane fragte mich, ob ich mich bei Kate wohlgefühlt hätte, und nahm meine begeisterte Antwort nicht gerade freudig auf. »Der Teufel soll dich holen, Freundchen, wenn du mich bei Kate ausgestochen hast«, meinte er mit gespieltem Grimm, aber ich hatte das unangenehme Gefühl, daß es ihm ernst war. Nachdenklich ging ich in den Umkleideraum. Sandy stand am Fenster und starrte in den Regen hinaus. »Wir brauchen Scheibenwischer für unsere Brillen«, bemerkte er gutgelaunt. »Schlammbad gefällig?« »Wie wär’s denn am Sonntag in der Sauna?« fragte ich lächelnd. »Ach, davon hast du auch schon gehört?« »Ich glaube, das weiß schon jeder«, erwiderte ich. »Gut. Das geschieht dem ekelhaften Kerl ganz recht«, sagte Sandy grinsend. »Woher hast du gewußt, wo du ihn finden konntest?« »Ich habe seine Mutter gefragt…« Sandy brach mitten im Satz ab, und seine Augen weiteten sich. »Ja«, sagte ich. »Du hast ihm diese Drohbriefe geschickt.« »Was bringt dich denn auf diese Idee?« meinte Sandy gutmütig. »Du machst gern blöde Witze, und außerdem ist dir Joe unsympathisch«, sagte ich. »Der erste Brief wurde ihm in die Jacke gesteckt, als sie in Plumpton im Umkleideraum hing; es mußte also ein Jockey, ein Stallbursche oder ein Mitglied der Rennleitung gewesen sein. Buchmacher, Trainer, Pferdebesitzer oder Personen aus dem Publikum kamen nicht in Frage. Ich kam auf die Idee, daß die Person, die den Zettel in Joes Tasche gesteckt hatte, nicht mit derjenigen identisch war, die ihn dafür -156-
bezahlte, daß er Pferde stehenließ. Diese Person hat sich nämlich seltsamerweise nicht gerächt. Aber ich fragte mich, wer sonst noch ein Interesse daran haben könnte, Joe zu quälen, und da kam ich auf dich. Du wußtest schon vor dem Rennen, daß Joe auf ›Bolingbroke‹ nicht gewinnen sollte. Als er dann doch gewann, sagtest du ihm, daß du eine Menge Geld verloren hättest und dich rächen würdest. Und das hast du ja wohl auch getan. Du bist ihm sogar nachgegangen, um dich an seinen Qualen zu weiden.« »Rache ist süß, du weißt ja. Ich begreife nur nicht, woher du das alles erfahren hast.« »Joe hat mir das meiste davon erzählt«, sagte ich. »Das ist ein Schwätzer. Sein vorlautes Gerede wird ihn eines Tages noch in die größten Schwierigkeiten bringen.« »Ganz bestimmt.« »Hast du ihm erzählt, daß die Briefe von mir stammen?« fragte Sandy, zum erstenmal besorgt. »Nein. Das gäbe nur noch mehr Ärger.« »Dann habe ich dir wenigstens dafür zu danken.« »Und für diesen kleinen Dienst könntest du mir sagen, woher du wußtest, daß Bolingbroke nicht gewinnen sollte?« Er grinste breit, wiegte sich auf den Absätzen hin und her, aber er schwieg. »Mach schon«, sagte ich. »Das ist doch wirklich nicht viel verlangt, vielleicht hilft mir das in der anderen Sache weiter.« Sandy schüttelte den Kopf. »Das nützt dir gar nichts«, meinte er. »Joe hat es mir selbst erzählt.« »Was?« »Er hat es mir selbst erzählt. Im Waschraum, als wir uns vor dem Rennen umzogen. Du weißt doch, daß er immer angeben muß. Ich war eben gerade in der Nähe, und außerdem wußte er, daß ich früher einmal gelegentlich selbst Pferde hatte stehenlassen.« -157-
»Was hat er gesagt?« fragte ich. »Er meinte, wenn ich einmal richtig lernen wollte, wie man ein Pferd abwürgt, dann sollte ich ihn auf ›Bolingbroke‹ beobachten. Na ja, ich ließ mir das nicht zweimal sagen. Ich setzte fünfzig Pfund auf ›Leica‹, die ja gewinnen mußte, wenn sich ›Bolingbroke‹ nicht anstrengte. Und schau dir an, was passierte. Der Trottel verlor die Nerven und schlug ›Leica‹ um zwei Längen. Ich hätte ihn erwürgen können. Fünfzig Pfund sind für mich ein Vermögen.« »Warum hast du dann zehn Tage gewartet, bevor du ihm den ersten Brief gabst?« »Es fiel mir nicht früher ein«, erwiderte er offen. »Aber er hat doch seine Quittung bekommen, nicht wahr? In Cheltenham wäre er beinahe seine Lizenz losgeworden, und übers Wochenende schwitzte er drei Tage lang wie ein Irrer.« Sandy strahlte. »Du hättest ihn in der Sauna sehen sollen. Er war buchstäblich am Ende. Er heulte mir etwas vor und flehte mich an, ich solle ihn verteidigen. Ausgerechnet ich! Ich konnte das Lachen kaum zurückhalten.« »Und in Plumpton hast du ihn auch noch vom Pferd gekippt«, meinte ich. »Das ist gar nicht wahr«, gab Sandy entrüstet zurück. »Hat er dir das erzählt? Der Kerl lügt ja wie gedruckt. Er ist einfach heruntergefallen, ich hab’s doch gesehen. Gute Lust, und ich mache ihm noch einmal Angst.« Seine braunen Augen funkelten. Aber er beruhigte sich rasch wieder. »Na ja… mir fällt schon wieder mal etwas ein. Es eilt ja nicht. Ich mach ihm das Leben schon zur Qual – Würmer in die Stiefel und so weiter. Harmlos«, und Sandy begann zu lachen. Dann sagte er: »Nachdem du als Privatdetektiv schon so erfolgreich bist, wie geht es denn mit der anderen Sache vorwärts?« »Nur langsam«, erwiderte ich. »Aber ich weiß eine Menge mehr als letzte Woche, drum gebe ich die Hoffnung noch nicht -158-
auf. Du hast nichts Brauchbares gehört?« Er schüttelte den Kopf. »Keinen Ton. Du gibst es also nicht auf?« »Nein.« »Na, dann recht viel Glück«, grinste Sandy. Ein Mann von der Rennleitung steckte den Kopf zur Tür herein. »Jockeys an den Start, bitte«, sagte er. Es war Zeit fürs erste Rennen. Sandy setzte seinen Helm auf und knotete die Bänder fest. Dann nahm er die beiden falschen vorderen Schneidezähne heraus, wickelte sie in ein Taschentuch und steckte sie in die Manteltasche. Wie die meisten Jockeys ritt er nie mit falschen Zähnen, aus Angst, sie zu verlieren oder bei einem Sturz gar zu verschlucken. Er grinste mich noch einmal an, hob salutierend die Hand und sauste in den Regen hinaus. Eine Stunde später, als ich hinausging, um ›Palindrome‹ zu reiten, regnete es immer noch. Pete erwartete mich am Sattelplatz. »Ist das nicht ein scheußlicher Tag«, meinte er. »Ich bin bloß froh, daß ich ihn nicht mehr reiten muß. Hoffentlich kannst du gut schwimmen.« »Wieso?« fragte ich verständnislos. »Dann weißt du wenigstens, wie man die Augen unter Wasser offenhält.« Ich glaubte zuerst an einen Witz, aber er meinte es ernst. Er deutete auf die Schutzbrille, die ich um den Hals hängen hatte. »Die brauchst du jetzt nicht. Die Hufe schleudern soviel Dreck hoch, daß du schon nach den ersten hundert Metern nichts mehr sehen könntest.« »Dann laß ich sie unten.« »Nimm sie ab. Sie hindert dich nur«, meinte er. Ich nahm sie also ab, und als ich den Kopf wandte, um das elastische Gummiband über den Helm zu ziehen, bemerkte ich -159-
einen Mann, der am Sattelplatz entlangging. Infolge des Regens waren nur wenige Leute hier, so daß ich ihn genau sehen konnte. Es war Bert, der auf der Straße nach Maidenhead das Pferd hin und her geführt hatte. Einer von den Marconicar-Fahrern. Er sah nicht zu mir herüber, aber sein Anblick war mir so unangenehm wie ein elektrischer Schock. Was hatte er hier zu suchen? Es konnte sein, daß er die hundertvierzig Meilen zurückgelegt hatte, nur, um sich bei Regen Pferderennen anzusehen. Es konnte aber auch nicht sein. Ich starrte ›Palindrome‹ an, der langsam um den Sattelplatz herumgeführt wurde. Ein todsicherer Tip. Ich schauderte. ›Palindrome‹, der todsichere Tip. Irgendwo auf der Rennbahn erwartete mich ein gespannter Draht. Ich war davon überzeugt, ohne es logisch begründen zu können. Ein Zurück gab es aber nicht mehr. ›Palindrome‹ war hoher Favorit und offensichtlich bei bester Gesundheit; er lahmte nicht, hatte keine geplatzten Blutgefäße, nichts, was in letzter Minute ein Zurücktreten erlaubt hätte. Und wenn ich nicht reiten konnte, mußte eben ein anderer Jockey einspringen. Ich konnte nicht einen Fremden hinausschicken. Wenn ich mich rundheraus und ohne jede Erklärung weigerte, ›Palindrome‹ starten zu lassen, würde man mir die Rennerlaubnis entziehen. Falls ich der Rennkommission erklärte, daß jemand versuchen würde, ›Palindrome‹ mit einem Draht zu Fall zu bringen, mußte sicher einer der Offiziellen die Bahn abgehen und die Hindernisse untersuchen, aber er würde nichts finden. Ich war davon überzeugt, daß der Draht wie bei Bill erst in letzter Sekunde angebracht werden sollte. Wenn ich am Rennen teilnahm, aber ›Palindrome‹ hinter den -160-
anderen Pferden gehen ließ, würde der Draht vielleicht nicht angebracht werden. Aber die Jockeys ließen sich infolge der starken Verschmutzung ihrer Rennkleidung kaum voneinander unterscheiden. Ein Mann, der mit dem Draht wartete, würde mich auf alle Fälle an der Spitze erwarten und dementsprechend handeln. Ich sah mir die anderen Jockeys auf dem Sattelplatz an, die jetzt widerwillig ihre Regenmäntel ablegten und die Pferde bestiegen. Es waren ungefähr zehn Männer, von denen ich allerhand gelernt hatte, von denen ich als Kamerad aufgenommen worden war. Wenn ich einen davon für mich stürzen ließ, konnte ich nie wieder zu ihnen gehören. Es nützte nichts. Ich mußte ›Palindrome‹ an der Spitze reiten und das Beste hoffen. Pete sagte: »Was ist denn los? Du siehst aus, als wärst du einem Geist begegnet.« »Mir fehlt nichts«, sagte ich und zog den Mantel aus. ›Palindrome‹ stand neben mir, und ich streichelte ihn. Von jetzt ab war meine größte Sorge, daß er die nächsten zehn Minuten unverletzt überstehen würde. Ich schwang mich in den Sattel, sah auf Pete herab und sagte: »Wenn…, wenn ›Palindrome‹ in diesem Rennen stürzt, würdest du dann bitte Inspektor Lodge im Polizeirevier von Maidenhead anrufen und ihm Bescheid sagen?« »Was zum Teufel…?« »Versprich es zuerst«, sagte ich. »Na schön. Aber ich begreif’s nicht. Du kannst es ihm ja selber sagen, wenn du willst, und außerdem wirst du nicht stürzen.« »Nein, vielleicht nicht«, meinte ich. »Wir sehen uns dann bei der Siegerparade«, sagte er und -161-
schlug ›Palindrome‹ aufs Hinterteil, als ich an den Start ritt. Der Regen schlug uns ins Gesicht, als wir uns aufstellten. Das Startband ging hoch, und wir ritten los. Zwei oder drei Pferde übersprangen das erste Hindernis vor mir, aber dann trieb ich ›Palindrome‹ an die Spitze und gab sie nicht mehr ab. Mit dem Gedanken an Bills Sturz hielt ich Ausschau nach einem Hürdenaufseher, der hinter einem der Hindernisse auftauchen mußte, sobald sich die Pferde näherten. Er würde den Draht entrollen, ihn hochziehen und befestigen… sobald ich das sah, wollte ich ›Palindrome‹ zu früh abspringen lassen, damit er mit der Brust dagegenprallte, wenn er den höchsten Punkt der Sprungbahn bereits überschritten hatte. Dadurch bestand die Chance, daß er den Draht zerreißen würde und auf den Beinen bleiben konnte; wenn wir wirklich stürzten, dann keinesfalls so gefährlich wie Bill und ›Admiral‹. Wir legten die Strecke das erstemal ohne Zwischenfall zurück. Ungefähr eine Meile vor dem Ziel hörte ich Hufgetrappel dicht hinter mir; ich sah mich um. Das Feld hing ziemlich weit zurück, aber zwei Reiter verfolgten mich entschlossen, und sie hatten uns fast erreicht. Ich trieb ›Palindrome‹ an. Er reagierte sofort, und wir gewannen fünf Längen Vorsprung. Niemand überquerte die Rennbahn. Ich sah keinen Draht. Aber ›Palindrome‹ prallte trotzdem dagegen. Ohne die Pferde hinter mir wäre der Sturz nicht so schlimm gewesen. Ich fühlte den plötzlichen Stoß in ›Palindromes‹ Beinen, als wir das letzte Hindernis auf der Gegengeraden übersprangen, und ich schoß wie eine Granate aus dem Sattel. Ein paar Meter weiter prallte ich mit der Schulter auf den Boden auf. Bevor ich mich mehrmals überschlagen hatte, setzten die -162-
anderen Pferde über das Hindernis. Wenn es ihnen möglich gewesen wäre, hätten sie ein Ausweichmanöver versucht, aber sie mußten um ›Palindrome‹ herumkommen, der eben wieder auf die Beine wollte, und ich versperrte ihnen den Weg. Die galoppierenden Hufe trafen meinen Körper. Eines der Pferde erwischte mich am Kopf, und mein Sturzhelm wurde so schwer beschädigt, daß er herunterfiel. In den nächsten furchtbaren Sekunden vermochte ich weder zu denken noch mich zu bewegen, aber ich spürte alles. Als es vorbei war, lag ich auf dem nassen Boden, regungslos und betäubt; ich konnte weder aufstehen noch mich rühren. Ich lag auf dem Rücken, mit den Beinen in Richtung Hindernis. Der Regen prasselte auf mein Gesicht, tropfte durch mein Haar, und ich schien die Augen kaum offenhalten zu können. Durch einen engen Schlitz unter den regennassen Wimpern konnte ich am Hindernis einen Mann sehen. Er kam nicht herüber, um mir zu helfen. Er rollte hastig den Draht auf. Als er den Innenpfosten erreichte, steckte er die Hand in die Tasche seines Regenmantels, holte ein Werkzeug heraus und schnitt den Draht ab. Diesmal hatte er seine Schere nicht vergessen. Er hängte sich die Drahtrolle über den Arm und sah zu mir herüber. Ich kannte ihn. Es war der Fahrer des Pferdetransportwagens. Alle Farben schienen zu verblassen. Die Welt wurde grau, wie auf einem unterbelichteten Film. Das grüne Gras war grau, das Gesicht des Fahrers war grau… Dann sah ich, daß noch ein Mann vom Hindernis her auf mich zukam. Auch ihn kannte ich, und er war kein Taxichauffeur. Ich war so froh, Hilfe gegen den Fahrer zu finden, daß ich vor Erleichterung hätte weinen können. Ich versuchte ihm zu sagen, daß er sich den Draht ansehen sollte, damit diesmal ein Zeuge vorhanden war. Aber ich konnte nicht sprechen. -163-
Er kam herüber, stand neben mir und bückte sich. Ich versuchte zu lächeln und ihn zu begrüßen, aber kein Muskel rührte sich. Er richtete sich auf. Über die Schulter sagte er zum Fahrer: »Er ist bewußtlos.« Er wandte sich wieder mir zu. »Neugieriger Hund«, sagte er und stieß mich in die Seite. Ich hörte, wie meine Rippen krachten, und der Schmerz zuckte heiß durch meinen ganzen Körper. »Vielleicht kümmerst du dich von jetzt an um deine eigenen Angelegenheiten.« Er stieß wieder zu. Meine graue Welt wurde dunkler. Ich war fast bewußtlos, aber selbst in diesem schrecklichen Augenblick arbeitete ein Teil meines Gehirns weiter, und ich wußte, warum der Mann mit dem Draht nicht die Rennbahn überquert hatte. Es war gar nicht nötig gewesen. Er und sein Komplize hatten auf beiden Seiten des Hindémisses gestanden und den Draht hochgehoben. Ich sah, wie der Fuß ein drittesmal zurückgezogen wurde. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er sich meinen Augen näherte, immer mehr wachsend, so daß ich schließlich nichts anderes mehr sah. Er traf mich im Gesicht, und ich verlor schlagartig das Bewußtsein.
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12 Zuerst hörte ich wieder, ganz plötzlich, als hätte jemand einen Schalter betätigt. Eine Frauenstimme sagte: »Er ist noch immer bewußtlos.« Ich wollte ihr sagen, daß das nicht stimmte, aber es ging nicht. Die Geräusche blieben: Rascheln, Rauschen, Klappern, fernes Gemurmel, das Gurgeln in den Wasserleitungen. Ich lauschte, aber ohne besonderes Interesse. Nach einer Weile begriff ich, daß ich auf dem Rücken lag. Meine Glieder waren schwer wie Blei, alles schmerzte, und auf den Lidern schienen Tonnengewichte zu ruhen. Ich fragte mich, wo ich wohl war. Dann fragte ich mich, wer ich sei. Ich konnte mich an nichts erinnern. Alles war zu anstrengend, und ich schlief wieder ein. Als ich wieder erwachte, hatte man die Gewichte von meinen Augen genommen. Ich öffnete sie und fand mich in einem halbdunklen Zimmer. In einer Ecke erkannte ich ein Waschbecken. Daneben stand ein Tisch; dann gab es noch einen Sessel mit Holzlehnen, zu meiner Rechten ein Fenster, vor mir eine Tür. Sie öffnete sich, und eine Krankenschwester kam herein. Sie sah mich freudig überrascht an und lächelte. Sie hatte schöne Zähne. »Na endlich«, sagte sie. »Da wären wir ja wieder. Wie fühlen Sie sich denn?« »Gut«, krächzte ich. Es stimmte nicht. »Ganz bestimmt?« fragte sie und fühlte meinen Puls. »Nein«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. -165-
»Ich sag schnell Dr. Mitcham, daß Sie wach sind, er wird wohl gleich kommen. Geht es noch ein paar Minuten?« Sie schrieb etwas auf eine Tafel, die auf dem Tisch lag, lächelte mir freundlich zu und rauschte hinaus. Ich war also im Krankenhaus. Aber ich hatte noch immer keine Ahnung, was geschehen war. Als Dr. Mitcham kam, wollte er das Geheimnis nur halb aufklären. »Warum bin ich hier?« ächzte ich. »Sie sind von einem Pferd gestürzt«, erwiderte er. »Wer bin ich?« Er sah mich nachdenklich an und klopfte mit dem Ende seines Bleistiftes gegen seine Zähne. Er war ein schlanker junger Mann mit dünnem, blondem Haar und klugen blauen Augen. »Es wäre mir lieber, wenn Sie sich selber daran erinnern könnten. Ich bin davon überzeugt, daß das bald der Fall sein wird. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Zerbrechen Sie sich über nichts den Kopf. Entspannen Sie sich, dann wird Ihr Erinnerungsvermögen schon zurückkehren. Nicht mit einem Schlag, verstehen Sie, aber Sie werden sich schön langsam wieder an alles erinnern, bis auf den Sturz wahrscheinlich.« »Was fehlt mir denn überhaupt?« fragte ich. »Der Gedächtnisverlust ist auf eine Gehirnerschütterung zurückzuführen. Außerdem«, er maß mich von Kopf bis Fuß, »haben Sie ein gebrochenes Schlüsselbein, vier angebrochene Rippen und zahlreiche Prellungen.« »Gott sei Dank nichts Ernstes«, krächzte ich. Er sah mich entgeistert an und begann dann zu lachen. »Nein, nichts Ernstes. Ihr seid doch alle gleich. Einfach verrückt.« »Was meinen Sie mit ›ihr‹«, fragte ich. »Schon gut, Sie werden sich bald erinnern«, sagte er. »Schlafen Sie jetzt eine Weile, wenn Sie können, und sobald Sie wieder wach sind, wird Ihnen vieles klar sein.« -166-
Ich befolgte seinen Rat, schloß die Augen und schlief ein. Ich träumte, daß ich irgendwo hoch oben war, auf den Boden hinabsah, mich immer weiter vorbeugte, bis ich stürzte. »Ich bin von einem Baum heruntergefallen«, sagte ich. Ich hörte einen Ausruf und öffnete die Augen. Am Fuß meines Bettes stand Dr. Mitcham. »Von welchem Baum?« fragte er. »Es war im Wald«, meinte ich. »Ich schlug mit dem Kopf auf, und als ich erwachte, kniete mein Vater neben mir.« Wieder rief jemand etwas neben mir. Ich rollte den Kopf zur Seite. Dort saß er, braungebrannt, gesund, gutaussehend, trotz seiner sechsundvierzig Jahre noch ein junger Mann. »Hallo«, sagte ich. »Wissen Sie, wer das ist?« fragte Dr. Mitcham. »Mein Vater.« »Und wie heißen Sie?« »Alan York«, sagte ich sofort, und mit einem Schlag kehrte mein Gedächtnis zurück. Ich konnte mich an alles erinnern, was bis zu dem Morgen, als ich zu den Rennen nach Bristol fuhr, geschehen war. »Wie bist du denn hierhergekommen?« fragte ich meinen Vater. »Geflogen. Mrs. Davidson rief mich an und erzählte mir, daß du gestürzt bist und im Krankenhaus liegst. Ich hielt es für besser, persönlich nach dem Rechten zu sehen.« »Wie lange…«, begann ich zögernd. »Wie lange Sie bewußtlos waren?« meinte Dr. Mitcham. »Jetzt haben wir Sonntag vormittag. Zweieinhalb Tage also. Nicht übel, wenn man sich überlegt, wie es Sie erwischt hat. Ich habe Ihren Sturzhelm aufgehoben, damit Sie ihn sich ansehen können.« Er öffnete einen Schrank und nahm den Helm heraus, -167-
der mir unzweifelhaft das Leben gerettet hatte. Er war beinahe in zwei Stücke zerteilt worden. »Ich brauche einen neuen«, sagte ich. »Verrückt. Ihr seid alle völlig verrückt«, erklärte Dr. Mitcham. Diesmal wußte ich, was er meinte. »Morgen stehe ich auf«, sagte ich. »Ich habe mich schon ein paarmal verletzt, und auch mein Schlüsselbein war schon gebrochen. Es dauert nicht lange.« »Sie stehen morgen keinesfalls auf«, mahnte Dr. Mitcham. »Sie bleiben mindestens noch eine Woche im Bett, damit die Gehirnerschütterung abklingt.« »Ich kann nicht eine Woche im Bett bleiben«, protestierte ich. »Wenn ich erst so spät aufstehe, habe ich überhaupt keine Kraft mehr, und ich muß doch ›Admiral‹ in Liverpool reiten.« »Wann wäre das?« fragte Dr. Mitcham argwöhnisch. »Am 24. März.« Es blieb kurze Zeit still, während sie nachrechneten. »Das ist ja schon am Donnerstag in acht Tagen«, meinte mein Vater. »Das können Sie sich gleich aus dem Kopf schlagen«, sagte Dr. Mitcham streng. »Versprich es mir«, sagte mein Vater. Ich öffnete die Augen und sah ihn an. Als ich die Besorgnis in seinem Gesicht bemerkte, erkannte ich zum erstenmal in meinem Leben, wieviel ich ihm bedeutete. »Ich verspreche es«, sagte ich. »Ich reite diesen Monat nicht in Liverpool. Aber später mache ich weiter.« »Gut, einverstanden.« Er lächelte erleichtert und stand auf. »Ich komme am Nachmittag wieder.« »Wo wohnst du denn? Wo sind wir jetzt?« fragte ich. »Das ist das Stadtkrankenhaus Bristol, und ich wohne bei -168-
Mrs. Davidson«, sagte er. »Hat es mich beim Rennen in Bristol erwischt? Mit ›Palindrome‹?« erkundigte ich mich. Mein Vater nickte. »Wie geht es ihm? Ist er verletzt?« »Nein«, sagte er. »Er steht wieder bei Gregory im Stall. Niemand beobachtete, wie oder warum er stürzte, weil es so stark regnete. Gregory sagte, du hättest eine Vorahnung gehabt, daß du stürzen könntest, und er bat mich, dir auszurichten, daß er getan hätte, was du von ihm verlangt hast.« »Ich kann mich an nichts erinnern, und ich weiß auch nicht, was ich von ihm wollte«, seufzte ich. »Das ist ausgesprochen unangenehm.« Dr. Mitcham und mein Vater gingen. Ich zerbrach mir den Kopf über meine Gedächtnislücke. Der Rest des Tages verging langsam und mühselig. Ich war schon öfter von Pferden getreten worden, aber nie an so vielen Stellen zugleich. Am späten Abend wurde mein Kopfschmerz ärger, und ich träumte von gräßlichen Dingen. Schweißüberströmt erwachte ich immer wieder, bewegte Zehen und Finger, aus Angst, sie könnten fehlen. Aber kaum sank ich erleichtert in Schlaf, als der Alptraum wiederkehrte. Auf diese Weise verbrachte ich eine so schlechte Nacht, daß ich Dr. Mitcham am nächsten Morgen bat, mir zu beweisen, daß meine Hände und Füße noch vorhanden waren. Wortlos schlug er die Bettdecke zurück, packte fest meine Füße und hob sie hoch, damit ich sie sehen konnte. Ich starrte meine Hände an und verschränkte die Fingerspitzen. Kaum verstand ich selber, daß ich mich grundlos so geängstigt hatte. »Sie brauchen gar nicht verlegen zu sein«, meinte Mitcham. »Wenn man so lange bewußtlos war, funktioniert das Gehirn eben nicht gleich richtig. Ich versichere Ihnen, daß wir Ihnen -169-
nichts verschwiegen haben. Sie hatten weder innere Verletzungen noch mußten wir irgend etwas amputieren. In drei Wochen sind Sie wieder so gut wie neu. Nur mit einer Narbe im Gesicht müssen Sie sich abfinden. Wir haben eine Platzwunde über Ihrem linken Backenknochen nähen müssen.« Da ich schon vorher nicht gerade eine Schönheit gewesen war, störte mich diese Neuigkeit nicht weiter. Ich dankte ihm für seine Geduld, und er deckte mich wieder zu. Plötzlich lächelte er vertrackt und sagte: »Gestern haben Sie mir erzählt, daß Ihnen nichts Ernstes fehlte, und daß Sie heute aufstehen würden, wenn ich mich recht entsinne.« – »Der Teufel soll Sie holen«, sagte ich schwach. »Dann stehe ich eben morgen auf.« Schließlich wurde es Donnerstag, bevor ich auf die Füße kam, und am Samstagmorgen trat ich den Heimweg in mäßigerer Verfassung an, als ich zugeben wollte, aber ich war trotzdem guter Stimmung. Mein Vater, der erst zu Beginn der nächsten Woche abreisen wollte, holte mich ab. Scilla und Polly schnalzten mit der Zunge und machten mitfühlende Bemerkungen, als ich mich aus dem Jaguar stemmte und langsam die Eingangstreppe hinaufstieg. Aber Henry, der mein schwarzgelb verfärbtes Gesicht mit der frischen Narbe interessiert beäugte, begrüßte mich mit den Worten: »Wie geht’s dem gräßlichen Ungeheuer aus dem Weltraum?« »Hau bloß ab, Knirps«, knurrte ich, und Henry grinste fröhlich. Um sieben Uhr abends, als die Kinder schon ins Bett gegangen waren, rief Kate an. Scilla und mein Vater beschlossen, ein paar Flaschen Wein aus dem Keller zu holen und ließen mich im Wohnzimmer ungestört mit ihr telefonieren. »Was ist mit den Brüchen?« fragte sie. »Heilt alles prima«, sagte ich. »Vielen Dank für Brief und Blumen.« -170-
»Die Blumen waren Onkel Georges Einfall«, meinte sie. »Ich sagte, es sei wie zu einem Begräbnis, wenn er dir Blumen schickte, und das fand er so komisch, daß er beinahe erstickt wäre. Für mich war es gar nicht lustig, als ich von Mrs. Davidson erfuhr, daß es dich bald das Leben gekostet hätte.« »Das stimmt ja gar nicht«, erklärte ich. »Scilla hat übertrieben. Trotzdem vielen Dank für die Blumen, ob der Einfall nun von dir oder von Onkel George stammt.« »Ich hätte wohl Lilien schicken sollen, nicht Tulpen«, neckte mich Kate. »Lilien kannst du beim nächsten Mal schicken«, erwiderte ich. »Du lieber Himmel, wird es denn ein nächstes Mal geben?« »Ganz sicher«, sagte ich fröhlich. »Na schön«, meinte Kate, »dann werde ich einen Dauerauftrag erteilen.« »Ich liebe dich, Kate«, sagte ich. »Ich muß sagen, daß es recht angenehm ist, wenn einem das die Leute erzählen«, erwiderte sie. »Leute? Wer hat es noch gesagt? Und wann?« fragte ich, das Schlimmste befürchtend. »Nun ja«, erklärte sie nach einer winzigen Pause, »es war Dane.« »Oh.« »Sei nicht eifersüchtig«, mahnte sie. »Und Dane ist genauso schlimm wie du. Er macht jedesmal ein finsteres Gesicht, wenn er deinen Namen hört. Ihr seid beide recht kindisch.« »Jawohl, gnädiges Fräulein«, sagte ich. »Wann sehen wir uns wieder?« Wir verabredeten uns zum Essen in London, und bevor sie auflegte, sagte ich ihr noch einmal, daß ich sie liebte. Ich wollte -171-
eben den Hörer auf die Gabel legen, als ich ein sehr merkwürdiges Geräusch vernahm. Ein Kichern. Sehr schnell unterdrückt, aber zweifellos ein Kichern. Ich wußte, daß die Verbindung schon unterbrochen war, aber ich sagte in die Muschel: »Bleib einen Augenblick dran, Kate, ich äh – möchte dir etwas vorlesen…, aus der Zeitung. Ich bin gleich wieder hier.« Ich legte den Hörer auf den Tisch, verließ das Wohnzimmer, schlich die Treppe hinauf und platzte in Scillas Schlafzimmer. Da standen die Verbrecher, dicht um den zweiten Telefonapparat geschart. Henry preßte den Hörer ans Ohr, Polly steckte mit dem Kopf bei ihm, und William starrte sie mit offenem Mund an. Sie trugen schon ihre Schlafanzüge. »Was soll denn das heißen?« fragte ich mit strenger Miene. »Du liebes Bißchen«, sagte Henry und ließ den Hörer aufs Bett fallen, als sei er ihm plötzlich zu heiß geworden. »Alan!« stöhnte Polly und wurde rot. »Wie lange habt ihr schon mitgehört?« fragte ich. »Offen gestanden, von Anfang an«, erwiderte Polly beschämt. »Henry hört immer mit«, sagte William stolz. »Halt den Mund«, fuhr Henry dazwischen. »Ihr kleinen Bösewichte«, sagte ich. William schien beleidigt. Er sagte wieder: »Aber Henry hört doch immer mit. Bei allen Leuten. Er paßt auf, das ist doch gut, nicht wahr? Henry paßt immer auf, nicht wahr, Henry?« »Halt den Mund, William«, fauchte Henry, der nun ebenfalls rot geworden war. »Henry paßt also auf, soso?« wiederholte ich und machte ein finsteres Gesicht. Ich trat auf sie zu, aber aus der Strafpredigt wurde nichts. Ich blieb plötzlich stehen und dachte nach. -172-
»Henry, wie lange hörst du schon anderen Leuten beim Telefonieren zu?« fragte ich mild. Er sah mich abwägend an. Schließlich sagte er: »Schon lange.« »Seit Tagen? Wochen? Monaten?« »Ach, schon ewig«, meinte Polly. »Hast du jemals deinen Vater belauscht?« »Ja, oft«, erwiderte Henry. Ich schwieg eine Weile und betrachtete diesen zähen, aufgeweckten kleinen Jungen. Er war erst acht Jahre alt, aber wenn er die Antwort auf meine Fragen wußte, würde er auch erkennen, worauf alles hinauslief und dieses Wissen sein Leben lang mit sich herumtragen. Aber ich drängte weiter. »Hast du ihn zufällig einmal mit einem Mann sprechen hören, der ungefähr diese Stimme hatte?« fragte ich. Dann sagte ich rauh und flüsternd: »Spreche ich mit Major Davidson?« »Ja«, erwiderte Henry ohne zu zögern. »Wann war das?« Ich war jetzt überzeugt davon, daß er das Telefongespräch belauscht hatte, das Bill als Witz vorgekommen war. »Das war die Stimme, als ich Daddy zum letztenmal belauschte«, sagte Henry. »Kannst du dich erinnern, was die Stimme gesagt hat?« »O ja, es war ein Spaß. Als wir ins Bett gehen wollten, läutete das Telefon, und ich rannte hier herein und hörte wie gewöhnlich zu. Der Mann mit der komischen Stimme sagte: ›Werden Sie ›Admiral‹ am Samstag reiten, Major Davidson?‹, und Daddy sagte ja.« Ich wartete, während sich Henry konzentrierte. Er fuhr fort: »Dann meinte der Mann mit der komischen Stimme: ›Sie dürfen auf ›Admiral‹ nicht gewinnen, Major Davidson.« Daddy lachte nur, und der Mann sagte: ›Ich zahle Ihnen fünfhundert Pfund, wenn Sie mir versprechen, daß Sie nicht gewinnen.‹ Und -173-
Daddy sagte, ›gehen Sie zum Teufel‹, und ich hätte beinahe gelacht, weil er uns immer verboten hat, so etwas zu sagen. Dann erklärte der andere Mann, er wolle nicht, daß Daddy gewinne und daß ›Admiral‹ stürzen würde, wenn Daddy nicht mitmache. Daddy sagte: ›Sie sind nicht ganz bei Trost.‹ Dann legte er auf, und ich lief in mein Zimmer, damit er mich nicht erwischte.« »Hast du darüber zu deinem Vater gesprochen?« fragte ich. »Nein«, erwiderte Henry offen, »das ist ja der Nachteil. Man darf ja nicht zeigen, daß man etwas weiß.« »Ja, das kann ich verstehen«, sagte ich und unterdrückte ein Lächeln. Henrys Augen wurden plötzlich größer, als er zu begreifen begann. »Es war kein Spaß, nicht wahr?« fragte er angstvoll. »Nein.« »Aber der Mann hat ›Admiral‹ doch nicht stürzen lassen, oder? Er konnte doch nicht… oder?« sagte Henry verzweifelt. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich glaube nicht«, log ich. Aber Henry starrte mich an, als sähe er durch mich hindurch. »Was ist denn los?« fragte Polly. »Ich verstehe gar nicht, warum sich Henry so aufregt. Nur weil jemand zu Daddy gesagt hat, daß er nicht gewinnen soll, braucht Henry doch nicht so ein Theater zu machen.« »Kann er sich immer so gut an die Worte anderer Leute erinnern?« erkundigte ich mich bei Polly. »Es ist ja jetzt schon vier Wochen her.« »Er hat sicher eine Menge vergessen, aber er erfindet nichts hinzu«, meinte Polly. Und sie hatte recht. Henry log sehr selten. »Ich verstehe nicht, wie er das getan haben könnte«, sagte Henry bebend. »Komm ins Bett und zerbrich dir nicht den Kopf darüber, Henry«, sagte ich und streckte ihm die Hand entgegen. Er nahm sie und ließ nicht mehr los, bis wir sein Zimmer erreicht hatten. -174-
13 Als ich mich am nächsten Morgen mühsam anzog, läutete es, und wenige Augenblicke später erschien Joan, um mir zu verkünden, daß mich ein Inspektor Lodge zu sprechen wünsche. »Ich bin gleich unten«, erwiderte ich und zerrte mein Hemd über den dicken Schulterverband. Die meisten Knöpfe brachte ich zu, verzichtete dafür aber auf eine Krawatte. Der Klebro-Verband um meine Rippen kam mir sehr eng vor, es juckte mich überall, mein Kopf schmerzte, am ganzen Körper hatte ich noch blaue Flecken, zudem hatte ich schlecht geschlafen. Ich nahm meine Socken, versuchte sie mit einer Hand anzuziehen, aber ich konnte mich einfach nicht tief genug bücken. Der Anblick meines recht mitgenommenen, unrasierten Gesichts im Spiegel wirkte wenig erhebend. Ich rasierte mich, so gut es eben ging, fuhr mit dem Kamm durchs Haar, stieg barfuß in die Hausschuhe, fuhr mit einem Arm in mein Jackett, hängte es über die andere Schulter und stakte nach unten. Lodge machte ein sehr merkwürdiges Gesicht, als er mich sah. »Wenn Sie lachen, ›servier‹ ich Ihnen eine. Nächste Woche«, sagte ich. »Ich lache nicht«, erwiderte Lodge, mit Mühe ein ernstes Gesicht bewahrend. »Ich finde das gar nicht komisch«, erklärte ich mit Nachdruck. -175-
»Verstehe.« Ich funkelte ihn an. Mein Vater, der hinter seiner Sonntagszeitung hervorlugte, meinte: »Ich glaube, du brauchst einen Kognak.« »Es ist erst halb elf«, erwiderte ich verärgert. »Bei Notfällen darf man auf die Uhrzeit keine Rücksicht nehmen«, sagte mein Vater und erhob sich. Er öffnete den Eckschrank, füllte einen Schwenker zu einem Drittel mit Kognak und überreichte ihn mir. Ich beschwerte mich, daß das zu stark sei, zu früh komme, und im übrigen bestünde kein Bedürfnis. »Trink aus und halt den Mund«, sagte mein Vater. Wütend nahm ich einen großen Schluck. Der Alkohol wärmte meinen leeren Magen. »Hast du überhaupt schon gefrühstückt?« fragte mein Vater. »Nein«, gab ich zurück. Ich leerte das Glas. Der Alkohol wirkte schnell. Meine schlechte Stimmung verflog, und ein paar Minuten später fühlte ich mich wieder halbwegs auf dem Damm. Lodge und Vater beobachteten mich interessiert, als experimentierten sie mit einem Versuchstier. »Na ja«, gab ich widerwillig zu, »jetzt fühle ich mich besser.« Ich nahm eine Zigarette aus dem silbernen Kästchen auf dem Tisch und zündete sie an. Ich bemerkte, daß die Sonne schien. »Gut.« Mein Vater ließ sich wieder in den Lehnsessel sinken. Er und Lodge waren anscheinend schon miteinander ins Gespräch gekommen, und der Inspektor hatte ihm unter anderem von meinem Abenteuer mit dem Pferdetransportwagen bei Maidenhead berichtet, was in den Briefen an meinen Vater bisher nicht enthalten gewesen war. Ich betrachtete das als Verrat schlimmster Sorte und machte auch keinen Hehl daraus; ich erzählte ihnen, wie Kate und ich den Transportwagen gefunden hatten. -176-
Ich goß noch etwas Kognak in mein Glas und setzte mich auf die Fensterbank. Scilla war im Garten und schnitt Blumen. Ich winkte ihr zu. Lodge nahm ein paar Unterlagen aus seiner Aktentasche. Er setzte sich an den Tisch und breitete sie aus. »Mr. Gregory rief mich am Morgen nach Ihrem Sturz an und erzählte mir davon.« »Warum hat er denn das getan?« fragte ich. »Sie baten ihn darum«, sagte Lodge. Er zögerte zunächst und fuhr dann fort: »Ich habe von Ihrem Vater erfahren, daß Ihr Erinnerungsvermögen beeinträchtigt ist.« »Ja. Das meiste ist mir jetzt wieder klar, aber ich kann mich nicht entsinnen, den Wiegeraum verlassen zu haben, noch weiß ich etwas vom Rennen oder vom Sturz.« Ich wußte nur noch, daß Sandy in den Regen hinausgegangen war. »Warum bat ich Pete, Sie von meinem Sturz zu verständigen?« »Anscheinend dachten Sie, daß Ihnen etwas passieren würde. Inoffiziell habe ich mich deshalb um die Angelegenheit gekümmert. Ich besuchte Gregorys Stallungen und sah mir ›Palindrome‹ an. Er hatte vorne eine schmale Wunde, und Sie dürfen einmal raten, woran er sich verletzt hat.« »O nein«, sagte ich, weil ich es nicht glauben konnte. »Ich erkundigte mich nach den Hindernisaufsehern«, meinte er. »Einer von ihnen war neu und der andere unbekannt. Er nannte sich Thomas Butler und gab eine Adresse an, die nicht existiert. Er erklärte sich freiwillig bereit, am fernsten Hindernis Dienst zu tun, wo Sie stürzten. Wegen des starken Regens und der beachtlichen Entfernung von den Tribünen nahm man sein Angebot gerne an. Dieselbe Geschichte wie in Maidenhead. Nur kassierte Butler diesmal seine Vergütung. Dann ließ ich mir von der Rennleitung die Erlaubnis geben, das Hindernis zu besichtigen, und an beiden Pfosten, in einer Höhe von etwa ein Meter fünfundneunzig, fand ich eine Rinne.« -177-
Es blieb einige Zeit still. »So, so, so«, sagte ich verblüfft. »Es sieht so aus, als hätte ich mehr Glück gehabt als Bill.« »Es wäre mir angenehm, wenn Sie sich wenigstens zum Teil erinnern könnten. Wie kamen Sie auf den Verdacht, daß Sie stürzen würden?« fragte Lodge. »Ich weiß es nicht.« »Es muß sich abgespielt haben, als Sie am Sattelplatz waren.« Er beugte sich vor und sah mich erwartungsvoll an. Aber ich erinnerte mich an nichts, und es fiel mir sogar schwer, mich zu konzentrieren. Ich sah hinaus in den friedlichen Garten. Scilla hatte einen Riesenstrauß Forsythien im Arm. »Ich kann mich einfach nicht erinnern«, sagte ich. »Vielleicht fällt mir alles wieder ein, wenn mir mein Kopf nicht mehr weh tut.« Lodge seufzte und lehnte sich zurück. »Sie werden sich wenigstens entsinnen können, daß Sie mich von Brighton aus anriefen, damit ich für Sie etwas herausfinden sollte?« »Ja, allerdings«, sagte ich. »Sind Sie weitergekommen?« »Es geht. Niemand scheint zu wissen, wem die Marconicars eigentlich gehören. Gleich nach dem Krieg übernahm sie ein Geschäftsmann namens Clifford Tudor…« »Was?« fragte ich erstaunt. »Clifford Tudor, respektabler Bürger Brigthons, britischer Staatsangehöriger. Kennen Sie ihn denn?« »Ja«, erwiderte ich. »Er besitzt mehrere Rennpferde.« Lodge nahm ein Blatt zur Hand. »Clifford Tudor, als Khroupista Thasos in Trikkala, Griechenland, geboren. 1939, als er fünfundzwanzig Jahre alt war, naturalisiert. Er begann als Koch, übernahm aber noch im selben Jahr auf Grund seiner Geschäftstüchtigkeit ein Restaurant. Nach dem Krieg verkaufte -178-
er es mit großem Gewinn, verzog nach Brighton und kaufte für einen Pappenstiel ein altes Taxiunternehmen, das infolge der Kriegsbeschränkungen kaum Profite abgeworfen hatte. Vor vier Jahren verkaufte er, wieder mit Gewinn, die Taxis und steckte sein Geld ins Pavillon Plaza-Hotel. Er ist nicht verheiratet. Das Taxiunternehmen wurde Tudor von Strohmännern abgekauft, und von diesem Augenblick an läßt sich kaum noch etwas aufklären. Es hat so viele Eigentumsübertragungen von Firma zu Firma gegeben, daß niemand festzustellen vermag, wer jetzt der wirkliche Eigentümer ist. Alle geschäftlichen Angelegenheiten werden von einem Mr. Fielder erledigt. Er erklärte, daß er sich mit einer Person, die er den ›Vorsitzenden‹ nennt, telefonisch bespricht, aber dieser ›Vorsitzende‹ rufe ihn jeden Morgen an. Der Vorsitzende heiße Claude Thiveridge, aber er kenne weder seine Adresse noch seine Telefonnummer.« »Da ist doch etwas faul«, meinte mein Vater. »Und ob«, sagte Lodge. »In ganz Kent, Surrey oder Sussex gibt es keinen Claude Thiveridge in den Wahllisten oder anderen amtlichen Zusammenstellungen, auch nicht beim Fernsprechdienst. Die Leute im Telefonamt sind der Meinung, daß mit dem Büro der Firma keineswegs an jedem Vormittag ein Ferngespräch geführt wird, aber dieser frühe Anruf gehört seit vier Jahren zur Tagesordnung. Da sich daraus ergibt, daß es sich um ein Ortsgespräch handeln muß, dürfte feststehen, daß Claude Thiveridge nicht der wirkliche Name dieses Herrn ist.« Lodge rieb sich das Genick und sah mich an. »Sie wissen viel mehr, als Sie bisher zugegeben haben, auch wenn man den Gedächtnisverlust einmal außer acht läßt«, monierte er. »Wollen Sie nicht so freundlich sein und endlich einmal auspacken?« »Sie haben mir noch nicht gesagt, was die Polizei in Brighton von den Marconicars hält«, sagte ich. Lodge zögerte. »Nun, man war ein bißchen empfindlich bei diesem Thema, möchte ich meinen. Man scheint sich verschiedentlich beschwert zu haben, aber Beweismaterial, das -179-
für eine Gerichtsverhandlung ausgereicht hätte, war wohl nicht vorhanden. Was ich Ihnen eben erzählt habe, ist das Ergebnis ihrer Nachforschungen im Laufe der vergangenen Jahre. Sehr viel Erfolg scheint man nicht gehabt zu haben.« »Los, Alan«, meinte mein Vater trocken. »Wir wollen wissen, was da vorgeht.« Lodge sah ihn überrascht an. Mein Vater lächelte. »Mein Sohn ist ein zweiter Sherlock Holmes, wußten Sie das nicht?« fragte er. »Nachdem er sich nach England abgesetzt hatte, mußte ich einen Privatdetektiv anstellen, um weiterhin Betrugs- und Schwindelaffären aufdecken zu können. Wie einer meiner leitenden Angestellten sagte, besitzt Alan einen untrüglichen Instinkt, soweit es sich um Gauner handelt.« »Alans untrüglicher Instinkt funktioniert nicht mehr«, meinte ich düster. »Mach’s nicht so spannend, Alan«, mahnte mein Vater. »Sprich dich aus.« »Na schön.« Ich drückte meine Zigarette aus. »Mir ist noch längst nicht alles klar«, erklärte ich, »aber zusammenfassend kann man wohl folgendes sagen: Die Marconicars betreiben seit den letzten vier Jahren Erpressungen in großem Stil, wobei sie vor allem auf kleinere Betriebe wie Cafés und Wirtschaften losgehen. Vor etwa einem Jahr gerieten sie infolge der Hartnäckigkeit eines der Wirte – er betreibt die ›Blue Duck‹ – in erhebliche Schwierigkeiten. Er hetzte Schäferhunde auf die Kerle.« Ich erzählte meinem Vater und einem verblüfften Lodge, was Kate und ich in der Küche der ›Blue Duck‹ erfahren hatten. »Ex-Stabsfeldwebel Thomkins beeinträchtigte die ungesetzlichen Profite der Marconicars so sehr, daß sich das Geschäft praktisch nicht mehr lohnte. Aber während des Winters scheint auch der legitime Betrieb keinen allzu großen Gewinn erzielt zu haben, wenn man den Stenotypistinnen Glauben schenken darf. Zu dieser Jahreszeit gibt es doch wohl zu viele -180-
Taxis in Brighton. Ich habe jedenfalls den Eindruck, daß der Chef der Marconicars – ihr geheimnisvoller Claude Thiveridge – seinen Schwierigkeiten dadurch abhelfen wollte, daß er sich einer anderen Art von Verbrechen zuwandte. Ich nehme an, daß er die im selben Gebäude befindliche Buchmacherfirma kaufte.« Ich vermeinte, den Geruch nach Kohl in der Nase zu haben, als ich mich an das ›Old Oake Café‹ erinnerte. »Eine ältere Dame erzählte mir, daß das Buchmacherunternehmen vor etwa sechs Monaten einen neuen Besitzer gefunden habe, daß aber der Name geblieben sei. L. C. Perth, in Neonbuchstaben. Sie regte sich maßlos über die Verschandelung dieses alten Gebäudes auf und hatte gemeinsam mit gleichgesinnten Leuten versucht, die neuen Eigentümer zur Abnahme der Reklameschrift zu bewegen. Allerdings konnten sie nicht erfahren, wer die jetzigen Besitzer waren. Es kann nichts mehr mit Zufall zu tun haben, wenn zwei unsolide Firmen mit unsichtbaren, nicht zu ermittelnden Eigentümern in ein und demselben Gebäude untergebracht sind. Sie müssen einer Person gehören.« »Das läßt sich doch daraus nicht folgern. Ich verstehe auch gar nicht, worauf du hinauswillst«, meinte mein Vater. »Das wirst du gleich sehen«, erwiderte ich. »Bill kam ums Leben, weil er sein Pferd nicht daran hindern wollte, ein Rennen zu gewinnen. Ich weiß, daß sein Tod nicht unbedingt geplant war, aber jedenfalls wandte man Gewalt an. Ein Mann mit flüsternder Stimme erklärte ihm telefonisch, daß er nicht gewinnen dürfe. Henry, Bills achtjähriger Sohn« – sagte ich zu Lodge –, »hat die Angewohnheit, am Nebenapparat mitzuhören, und er belauschte jedes Wort. Zwei Tage vor Bills Tod bot die Stimme fünfhundert Pfund, wenn Bill sein Pferd stehenlassen würde, und als Bill nur lachte, erklärte ihm die Stimme, daß ›Admiral‹ dann eben stürzen müßte.« Ich schwieg, aber weder Lodge noch mein Vater sagten etwas. Ich leerte mein Glas und fuhr fort: »Ich kenne da einen Jockey namens Joe Nantwich, der während der vergangenen sechs Monate, also seitdem die Firma -181-
L. C. Perth ihren Besitzer wechselte, regelmäßig hundert Pfund, manchmal sogar mehr, angenommen hat und dafür seine Pferde am Siegen hinderte. Joe bekommt seine Anweisungen telefonisch von einem Mann mit Flüsterstimme, den er nie gesehen hat. Ich wurde, wie ihr ja wißt, von den MarconicarFahrern überfallen, und ein paar Tage später rief mich der Mann mit der Flüsterstimme an, um mir mitzuteilen, daß ich die Warnung endlich zu beachten hätte. Man braucht kein Sherlock Holmes zu sein, um zu erkennen, daß die betrügerischen Rennen und die Erpressungen von ein und demselben Mann inszeniert wurden.« Ich schwieg. »Weiter«, sagte mein Vater ungeduldig. »Die einzige Person, die einem Jockey größere Beträge dafür bezahlen würde, daß er ein Rennen verliert, ist ein betrügerischer Buchmacher. Wenn er weiß, daß ein favorisiertes Pferd garantiert nicht gewinnt, kann er jeden Einsatz auf dieses Pferd ohne Bedenken annehmen.« »Das müssen Sie mir näher erläutern«, meinte Lodge. »Normalerweise versuchen die Buchmacher, ihre Konten so auszugleichen, daß sie gewinnen, gleichgültig, welches Pferd zuerst durchs Ziel geht«, erwiderte ich. »Wenn zu viele Leute auf ein bestimmtes Pferd setzen wollen, nehmen sie die Einsätze an, setzen aber auf dasselbe Pferd bei einem anderen Buchmacher. Wenn dieses Pferd dann siegt, kassieren sie ihre Gewinne bei dem zweiten Buchmacher und zahlen sie an ihre Kunden aus. Nehmen wir einmal an, Sie wären ein betrügerischer Buchmacher, und Joe hätte ein favorisiertes Pferd zu reiten. Sie bedeuten Joe also, daß er verlieren muß. Gleichgültig, wieviel dann bei Ihnen auf dieses Pferd gewettet wird, brauchen Sie sich nicht zurückzuversichern, weil Sie ja wissen, daß Sie nichts auszahlen müssen.« »Ich hätte mir eigentlich gedacht, daß hundert Pfund diesen Gewinn übersteigen«, meinte Lodge, »weil die Buchmacher ja -182-
üblicherweise einen Profit erzielen.« Ich seufzte. »Natürlich ist noch ein bißchen mehr dran«, sagte ich. »Wenn ein Buchmacher weiß, daß er bei einem bestimmten Pferd nichts auszuzahlen braucht, kann er bessere Quoten offerieren. Natürlich nicht so, daß es auffällt, aber immerhin in dem Maße, daß eine Menge zusätzlicher Kunden gewonnen werden. Ein Punkt mehr als jeder andere würde genügen – sagen wir, elf zu vier, während das nächstbeste Angebot auf fünf zu zwei lautet. Glauben Sie nicht, daß da Geld hereinkäme?« Ich stand auf, ging zur Tür und sagte: »Ich werde euch etwas zeigen.« Die Treppe kam mir steiler vor als sonst. Ich ging in mein Zimmer, holte den Rennalmanach und die Wettscheine. Das alles trug ich ins Wohnzimmer hinunter. Ich legte die Scheine vor Lodge auf den Tisch, und mein Vater kam herüber, um sie sich anzusehen. »Das sind ein paar Wettscheine, die Bill seinen Kindern zum Spielen mitgebracht hat«, erläuterte ich. »Drei davon wurden von L. C. Perth ausgegeben, und alle anderen stammen von verschiedenen Buchmachern. Bill ging immer sehr methodisch vor. Auf die Rückseite der Scheine schrieb er das Datum, die Einzelheiten der Wette und den Namen des Pferdes, auf das er gesetzt hatte.« Lodge drehte die drei Perth-Scheine um. Ich nahm den ersten Schein und las vor: »›Peripathetic‹. 7. November. Zehn Pfund auf elf zu zehn gesetzt. Für sein Geld hätte er also elf Pfund gewinnen müssen.« Ich öffnete den Almanach und blätterte den 7. November auf. »›Peripathetic‹ verlor das Zweimeilen-Hindernisrennen in Sandown an diesem Tag um vier Längen. Er wurde von Joe Nantwich geritten. Die Anfangsquote lautete auf elf zu zehn dafür – das heißt, man muß elf Pfund setzen, um zehn zu gewinnen – und war anfangs sogar bei elf zu acht dafür -183-
gestanden. L. C. Perth muß also mit elf zu zehn dagegen ein Riesengeschäft gemacht haben.« Ich nahm das zweite Kärtchen und las: »›Sackbut‹. 10. Oktober. Fünf Pfund bei sechs zu eins gesetzt.« Ich schlug diesen Tag im Almanach auf. »›Sackbut‹ war in Newbury unplaciert, und Joe Nantwich ritt ihn. Die beste Quote der anderen Buchmacher war fünf zu eins, die Anfangsquote sieben zu zwei.« Ich nahm die dritte Karte vom Tisch. »›Malabar‹. 2. Dezember. Acht Pfund bei fünfzehn zu acht gesetzt.« Ich blätterte nach. »›Malabar‹ wurde in Burmingham Vierter. Joe Nantwich ritt ihn. Die Startquote belief sich auf sechs zu vier.« Lodge und mein Vater verglichen die Angaben im Buch mit dem Wettschein. »Ich habe mir auch alle anderen Scheine angesehen«, sagte ich. »Selbstverständlich verloren alle Pferde, sonst hätte Bill ja die Scheine nicht mehr besessen. Aber nur bei einem davon bekam er eine unerwartet gute Quote. Joe ritt das Pferd nicht, und ich halte dieses Beispiel auch nicht für bedeutsam, weil es sich um einen Außenseiter mit einer Quote von hundert zu sechs handelte.« »Reichlich kompliziert, dieses Wettsystem«, beschwerte sich Lodge. »Haben Sie noch nie von dem fanatischen Spieler gehört, der seinem kleinen Sohn das Zählen beibrachte? Eins, sechs-zuvier, zwei…« Lodge lachte. »Ich muß diese Zahlen auf den PerthWettscheinen neben die Angaben im Almanach schreiben, um das Ganze richtig zu begreifen«, meinte er, holte seinen Füllfederhalter heraus und machte sich an die Arbeit. Mein Vater setzte sich neben ihn und sah ihm zu. Ich ging zur Fensterbank und wartete. -184-
Nach geraumer Zeit sagte Lodge: »Ich kann verstehen, warum Sie Ihrem Vater auch in dieser Beziehung fehlen.« Ich lächelte. »Was mich betrifft, so brauchst du uns jetzt nur noch zu sagen, wer das Ganze organisiert«, sagte mein Vater. »Das kann ich leider nicht, Pa«, erwiderte ich. »Kann es jemand sein, den Sie von der Rennbahn her kennen?« fragte Lodge. »Der Betreffende muß doch mit dem Rennsport zu tun haben. Wie steht es mit Perth, dem Buchmacher?« »Möglich. Ich kenne ihn nicht. Selbstverständlich heißt er in Wirklichkeit gar nicht Perth. Der Name ist mit der Firma verkauft worden. Wenn ich wieder starte, werde ich bei ihm wetten, dann sehe ich schon weiter«, sagte ich. »Das kommt überhaupt nicht in Frage«, erklärte mein Vater nachdrücklich. »Und ein Jockey oder ein Trainer oder ein Rennstallbesitzer?« erkundigte sich Lodge. »Da müssen Sie schon noch die Rennleitung und das Sportkomitee dazunehmen«, erwiderte ich ironisch. »Diese Leute erfuhren als erste, daß ich den Draht entdeckt hatte. Der Mann, hinter dem wir her sind, wußte schon sehr bald, daß ich neugierig war. Und dabei hatte ich noch nicht mit vielen Personen gesprochen.« »Leute, die Sie kennen…«, meinte Lodge nachdenklich. »Gregory?« »Nein«, sagte ich. »Warum nicht? Er wohnt in der Nähe von Brighton, also könnte er derjenige sein, der täglich bei den Marconicars anruft.« »Er wäre nie das Risiko eingegangen, Bill oder ›Admiral‹ eine Verletzung zuzufügen«, entgegnete ich. -185-
»Wie kann man so sicher sein?« fragte Lodge. »Ich weiß genau, daß Pete nichts damit zu tun hat«, sagte ich hartnäckig. »Blinder Glaube oder Beweise?« stieß Lodge nach. »Einfach Zutrauen«, gab ich zurück. »Jockeys?« meinte Lodge. »Mir scheint keiner der richtige Typ zu sein«, antwortete ich, »und Sie übersehen wohl auch die Tatsache, daß Pferderennen auf dem Programm erst an zweiter Stelle standen und man sich wahrscheinlich nur deshalb damit befaßte, weil eben zufällig eine wenig einträgliche Buchmacherfirma im Stockwerk über den Marconicars bereits existierte. Ich meine, das alleine mag den Chef der Marconicars bewegen haben, sich mit Rennbetrügereien abzugeben.« »Vielleicht haben Sie recht«, gestand mir Lodge zu. »Es wäre doch möglich, daß der Mann, dem die Marconicars ursprünglich gehörten, auf ungesetzliche Unternehmungen hinauswollte und also einen Verkauf fingierte, um seine Spuren zu verwischen«, meinte mein Vater. »Sie tippen also auf Clifford Tudor?« fragte Lodge interessiert. Mein Vater nickte, und Lodge sagte zu mir: »Was ist Ihre Meinung dazu?« »Tudor taucht überall auf«, sagte ich. »Er kannte Bill, und Bill hatte sich seine Adresse notiert.« Ich steckte meine Hand in die Jackettasche. Der Umschlag war noch da. Ich zog ihn heraus und starrte ihn an. »Tudor erzählte mir, daß er Bill gebeten hätte, eines seiner Pferde zu reiten.« »Wann war das?« fragte Lodge. »Ich nahm ihn vier Tage nach Bills Tod von Plumpton nach Brighton mit.« »Sonst noch etwas?« fragte Lodge. »Tudors Pferde wurden bis vor kurzer Zeit von Joe Nantwich -186-
geritten. Joe gewann einmal auf Tudors Pferd ›Bolingbroke‹, als man ihn angewiesen hatte, zu verlieren… Aber in Cheltenham würgte er eines von Tudors Pferden ab, und Tudor war sehr aufgebracht.« »Schauspielerei«, sagte mein Vater. »Ich glaube nicht, daß Tudor der Mann ist, den wir suchen«, erwiderte ich. »Warum nicht?« fragte Lodge. »Er hat Talent für Organisation, er wohnt in Brighton, ihm gehörte einmal die Taxifirma, Joe Nantwich reitet für ihn, und außerdem kannte er Major Davidson. Bis jetzt scheint doch alles auf ihn zu deuten.« »Nein«, sagte ich müde. »Mir scheint die beste Spur doch bei den Taxis zu liegen. Wenn ich nicht erkannt hätte, daß die Männer im Pferdetransportwagen Taxichauffeure waren, könnte ich mir heute noch keinen Vers drauf machen. Wer immer sie mir auf den Hals gehetzt hat, kann nicht geahnt haben, daß sie mir bekannt waren, sonst hätte er das nicht riskiert. Aber wenn es eine Person gibt, die weiß, daß ich sie erkennen würde, dann ist es Clifford Tudor. Er stand in meiner Nähe, als die Taxichauffeure sich eine Schlägerei lieferten, und er wußte, daß ich Zeit gehabt hatte, sie mir genau anzusehen.« »Ich streiche ihn deshalb noch nicht ab«, erklärte Lodge, sammelte seine Papiere ein und verstaute sie in seiner Mappe. »Verbrecher machen oft die dümmsten Fehler.« »Wenn wir jemals Ihren Claude Thiveridge finden, wird es ganz bestimmt jemand sein, den ich gar nicht kenne. Ein völlig Fremder. Das ist viel wahrscheinlicher.« Ich wollte es gerne glauben. Ich mochte mich nicht einer anderen Möglichkeit stellen, vor der ich bisher zurückgeschreckt war und die ich nicht einmal Lodge unterbreiten wollte. Wer, außer Tudor, wußte vor dem Abenteuer mit dem Transportwagen, daß ich Bills Tod aufklären wollte? Kate. Und wem hatte sie es weitererzählt? -187-
Scilla kam ins Wohnzimmer. Sie trug eine Kupferschale, die mit Forsythien und Narzissen gefüllt war. Sie stellte sie auf den kleinen Tisch neben mir, warf mir einen Blick zu und wandte sich dann an die anderen. »Alan sieht sehr müde aus«, sagte sie. »Was habt ihr mit ihm gemacht?« »Wir haben uns nur unterhalten«, meinte ich lächelnd. »Du wirst gleich wieder im Krankenhaus liegen, wenn du nicht vorsichtig bist«, mahnte sie und bot dann Lodge und meinem Vater Kaffee an. Ich war froh um diese Störung, weil ich mit den beiden nicht diskutieren wollte, was jetzt zu unternehmen war, um Mr. Claude Thiveridge ein Bein zu stellen. Ich mußte näher an Thiveridge herankommen. Er würde wieder zuschlagen und mir dadurch den Weg zu ihm erhellen, wie das Aufblitzen des Mündungsfeuers im Dunkeln das Versteck eines Heckenschützen verrät.
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14 Joe Nantwich stieß vor mir auf den Heckenschützen. Acht Tage nach Lodges Besuch fuhr ich nach West-Sussex zu den Rennen, nachdem ich den Vormittag im Büro zugebracht hatte. Die blauen Flecken waren verschwunden; Rippen und Schlüsselbein zeigten sich verheilt, und sogar die Kopfschmerzen hatten nachgelassen. Fröhlich vor mich hin pfeifend, betrat ich den Umkleideraum und wies Clem meinen nagelneuen Sturzhelm vor, den ich mir am selben Morgen bei Bates in der Jermyn Street für drei Guineas gekauft hatte. Der Wiegeraum war leer, und dem Gemurmel der Zuschauer in der Ferne ließ sich entnehmen, daß das erste Rennen bereits lief. Clem begrüßte mich erfreut und schüttelte mir die Hand. »Ich bin froh, daß Sie wieder da sind, Sir«, sagte er und nahm mir den Helm ab. Mit einem Kugelschreiber notierte er meinen Namen auf ein Stück Klebestreifen, den er dann auf den neuen Helm pappte. »Hoffentlich brauchen Sie nicht schon bald wieder einen.« »Ich starte morgen wieder, Clem«, sagte ich. »Können Sie meine Sachen bringen? Ich nehme den großen Sattel. Das Gewicht spielt keine Rolle, ich reite ›Admiral‹.« »Sie haben sicher drei oder vier Pfund verloren.« »Um so besser«, meinte ich vergnügt und wandte mich zur Tür. »Oh, einen Augenblick, Sir«, sagte Clem. »Ich soll Ihnen von Joe Nantwich ausrichten, daß er Ihnen etwas zu sagen hat.« »So?« sagte ich. »Er erkundigte sich schon am Samstag in Liverpool nach -189-
Ihnen, aber ich wies ihn darauf hin, daß Sie wahrscheinlich hierher kommen würden, nachdem Mr. Gregory schon vorige Woche erwähnt hatte, daß Sie morgen ›Admiral‹ reiten«, erwiderte Clem. »Hat Ihnen Joe gesagt, worum es sich handelt?« »Ja, er möchte Ihnen ein Stück Umschlagpapier zeigen, auf dem etwas geschrieben steht. Sie interessierten sich dafür, sagte er, obwohl ich mir das nicht vorstellen kann – auf dem Papier stand ein Wort, das mir ganz unverständlich war. Er zeigte es mir im Umkleideraum der Rennbahn von Liverpool, faltete das Papier dann zusammen und steckte es in die Brusttasche. Er kicherte die ganze Zeit. Wahrscheinlich hatte er etwas getrunken, aber da unterschied er sich nicht von den anderen Leuten. Es war ja nach dem Grand National. Er sagte, daß er das Geschriebene nicht verstehe, aber es könnte sich um einen Anhaltspunkt handeln. Er ließ sich nicht weiter aus, und ich hatte auch keine Zeit mehr.« »Ich werde schon von ihm erfahren, worum es geht«, meinte ich. »Hat er das Papier eigentlich noch bei sich?« »Ja. Er klopfte auf seine Tasche, als er mich vorhin fragte, ob Sie hier seien, und da hörte ich das Papier knistern.« »Danke, Clem«, sagte ich. Ich ging hinaus. Sandy, der gerade vorbeikam, schlug mir auf die Schulter und meinte: »Freut mich, daß du wieder hier bist, wenn du auch aussiehst wie Narbengesicht persönlich. – Hast du Joe schon gesehen? Der Waschlappen schreit nach dir.« »Ich hab’s gehört«, erwiderte ich. »Ich warte hier auf ihn.« Ein paar Journalisten erkundigten sich bei mir nach meinen Plänen und machten über ›Admiral‹ einige Notizen. Sir Creswell Stampe begrüßte mich mit hoheitsvollem Kopfnicken. Meine Freude, wieder in der alten Umgebung zu sein, wurde -190-
durch den Anblick Danes etwas getrübt, der über den Rasen schlenderte und ernsthaft auf ein unglaublich hübsches Mädchen an seiner Seite einsprach. Sie wandte ihm das Gesicht zu und lachte fröhlich. Es war Kate. Als sie mich sahen, beschleunigten sie ihre Schritte und kamen lächelnd auf mich zu. Kate, die sich schon vor ein paar Tagen beim Mittagessen an mein lädiertes Gesicht gewöhnt hatte, begrüßte mich mit einem fröhlichen: »Guten Tag, Alan«, ohne daß ich etwas von Liebe oder Sehnsucht darin gespürt hätte. Sie legte mir die Hand auf den Arm und schlug vor, daß ich mit ihr und Dane zum Wassergraben gehen sollte, damit wir von dort aus das zweite Rennen beobachten konnten. Ich warf einen Blick auf Dane. Er lächelte schwach; seine dunklen Augen ruhten forschend auf mir. In mir hatte sich alles zusammengekrampft, als ich ihn mit Kate zusammen gesehen hatte; jetzt wußte ich also genau, wie er mir gegenüber eingestellt war. Es war ebenso aus Verlegenheit über das Abflauen unserer Freundschaft als der Wunsch, Claude Thiveridge auf den Fersen zu bleiben, daß ich sagte: »Ich kann nicht gleich mitkommen. Ich muß zuerst Joe Nantwich finden. Vielleicht später…, wenn du dann noch willst?« »Na schön, Alan«, sagte sie. »Vielleicht können wir später miteinander Tee trinken?« Sie ging mit Dane weg und sagte: »Wir sehen uns später«, wobei sie spöttisch lächelte. Ich sah ihnen nach, vergaß, nach Joe Ausschau zu halten, und suchte noch einmal in den Wiege- und Umkleideräumen nach ihm. Er war nicht da. Als ich wieder ins Freie trat, tauchte Pete auf und begrüßte mich überschwenglich. »Sie haben dich wieder ganz schön zusammengeflickt«, meinte er humorvoll. »Du kannst dich wahrscheinlich immer noch nicht richtig erinnern?« »Nein«, erwiderte ich bedauernd. »Manchmal habe ich das Gefühl…, aber es reicht nicht ganz.« -191-
»Vielleicht ist das ganz gut«, meinte er beruhigend und wollte in den Wiegeraum gehen. »Pete«, sagte ich, »hast du Joe irgendwo gesehen? Ich glaube, er hat nach mir gefragt.« »Ja«, erwiderte er, »schon in Liverpool. Er wollte dir dringend etwas zeigen. Eine Adresse, glaube ich, die auf Packpapier geschrieben war.« »Hast du sie gesehen?« fragte ich. »Ja, aber er geht mir auf die Nerven, und ich habe nicht besonders aufgepaßt. Chichester hieß der Ort, glaube ich.« »Weißt du, wo Joe jetzt ist?« fragte ich. »Ich warte schon eine ganze Weile auf ihn, aber er läßt sich nicht blicken.« »Ja, ich habe ihn vor etwa zehn Minuten in der Bar gesehen«, sagte Pete verächtlich. »Jetzt schon!« rief ich. »Dieser Trunkenbold«, meinte er leidenschaftslos. »Ich würde ihm keines meiner Pferde anvertrauen, auch wenn er der einzige Jockey wäre, den es noch gibt.« »Welche Bar war es?« fragte ich. »Was? Ach so, die Bar hinter dem Tattersall, neben dem Toto. Er und noch ein Mann gingen mit dem massigen Kerl hinein, für den er reitet; heißt er nicht Tudor?« Ich starrte ihn an. »Aber Tudor war doch in Cheltenham mit Joe fertig…, es gab sogar einen Mordskrach.« Pete zuckte die Achseln. »Tudor ging mit Joe in das Lokal, und der andere Bursche war nur ein paar Schritte dahinter. Vielleicht nur Zufall.« »Vielen Dank jedenfalls«, sagte ich. Man brauchte nur etwa hundert Meter zurückzulegen und um die Ecke zu biegen, um das Lokal zu erreichen, das Joe aufgesucht hatte. Es war eine lange Holzbaracke, die -192-
unmittelbar an dem hohen Zaun stand, der die Rennbahnanlage von der Straße trennte. Ich drängte mich durch die Schar von Biertrinkern, aber Joe war nicht mehr da. Auch Clifford Tudor nicht. Ich ging wieder hinaus. Das zweite Rennen mußte bald beginnen, und am Toto nebenan warteten ungeduldig die Leute. Männer hasteten über den Rasen auf die Tribünen zu. Im Totogebäude läuteten Glocken, und die Wartenden drängten nach vorn, um ihr Geld loszuwerden, bevor die Schalter geschlossen wurden. Ich blieb unschlüssig stehen. Joe zeigte sich nirgends, und ich beschloß, ihn auf den Tribünen zu suchen. Ich warf noch kurz einen Blick in das Lokal, aber dort hielten sich nur drei Kellnerinnen auf. Nur, weil ich so langsam ging, fand ich Joe. Infolge der Straßenbiegung dahinter standen das Totogebäude und das Lokal nicht in gerader Linie nebeneinander. Die Lücke zwischen den Gebäuden war vorne schmal, sie betrug höchstens 40 Zentimeter, aber der Zwischenraum weitete sich, bis die Entfernung zwischen den Gebäudewänden am Zaun selbst eineinhalb Meter betrug. Ich warf einen Blick hinein, als ich daran vorbeiging. Und da war Joe. Ich wußte das allerdings erst, als ich neben ihm stand. Zuerst sah ich nur einen Mann in der Ecke liegen. Da ich dachte, er könnte krank, bewußtlos oder ganz einfach betrunken sein, ging ich hin. Er lag im Schatten, aber irgend etwas an seiner Gestalt und seiner schlaffen Haltung ließ mich ihn plötzlich erkennen. Er war am Leben, aber es hing an einem seidenen Faden. Hellrotes, schaumiges Blut rann ihm aus der Nase und dem Mundwinkel. Sein rundes, junges Gesicht wirkte immer noch beleidigt, als könne er gar nicht verstehen, was da mit ihm geschehen war. -193-
Joe hatte ein Messer im Leib. Der dicke, schwarze Griff ragte aus seinem gelbweißkarierten Hemd. Er hatte die Augen offen, aber sie waren bereits trübe geworden. »Joe!« flüsterte ich. Er sah mich an und erkannte mich. Ein Muskel in seinem Gesicht bewegte sich; er öffnete den Mund. Mit letzter Kraft versuchte er zu sprechen. Plötzlich schoß ihm Blut aus der Nase, aus dem Mund. Er gab einen erstickten Laut von sich, und tiefes Erstaunen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Dann sank er zusammen, seine Augen rollten nach oben, und Joe war tot. Ich drückte ihm die Lider zu und kauerte hilflos vor ihm. Ich wußte, daß es nutzlos war, aber nach ein paar Augenblicken knöpfte ich sein Jackett auf und suchte in seinen Taschen nach dem braunen Papier, das er mir hatte zeigen wollen. Es war verschwunden, wie ich vermutet hatte. Jemand hatte dafür gesorgt, daß er es mir nicht mehr zu zeigen vermochte. Ich stand auf und ging zu dem schmalen Eingang zurück. Niemand war in der Nähe. Die Stimme des Sprechers erklärte über den Lautsprecher, daß die Pferde sich dem zweiten Graben näherten; das Rennen war also schon zur Hälfte gelaufen, und ich mußte mich beeilen. Ich rannte zum Büro der Rennleitung und riß die Tür auf. Ein grauhaariger Mann mit Brille, der an seinem Schreibtisch saß, sah überrascht auf. Es war der Sekretär der Rennleitung. »Mr. Rollo ist nicht hier?« fragte ich unnötigerweise. »Er beobachtet das Rennen. Kann ich Ihnen behilflich sein?« Mit kurzen Worten und in aller Ruhe erklärte ich ihm, daß Joe Nantwich erstochen zwischen dem Totogebäude und der Bar liege, ein Messer in der Lunge. Ich empfahl ihm, eine spanische -194-
Wand zu beschaffen, die man vor der Lücke zwischen den beiden Gebäuden aufstellen konnte, da sonst jemand den Toten sehen würde, sobald die Zuschauer zum Lokal und zu den Auszahlungsschaltern strömten. Der Mann machte große, ungläubige Augen. »Es ist kein Witz«, sagte ich verzweifelt. »Das Rennen muß bald zu Ende sein. Verständigen Sie wenigstens die Polizei. Das übrige erledige ich.« Er rührte sich immer noch nicht. »Beeilen Sie sich schon«, schrie ich. Aber er hatte den Hörer noch nicht abgenommen, als ich die Tür schloß. Ich hastete zum Sanitätsraum, in dem zwei Krankenschwestern Tee tranken. Ich wandte mich an die jüngere. »Stellen Sie die Tasse weg und kommen Sie sofort mit«, sagte ich. Ich nahm eine Tragbahre, die an der Wand lehnte, und als sie langsam die Tasse absetzte, fügte ich hinzu: »Bringen Sie eine Decke mit. Ein Mann ist verletzt. Bitte beeilen Sie sich.« Die Krankenschwester verzichtete auf Einwendungen, nahm eine Decke und folgte mir. Die Stimme des Sprechers wurde etwas lauter, als er das Finish kommentierte, und nach einer Pause wurde der Sieger angesagt. Ich erreichte die Öffnung zwischen den beiden Gebäuden, als die Namen der Zweit- und Drittplazierten bekanntgegeben wurden. Einige Zuschauer kehrten schon zur Bar zurück. Ich warf einen Blick auf Joe. Niemand schien inzwischen hier gewesen zu sein. Ich stellte die Tragbahre auf, um eine Art Abschirmung zu schaffen. Die Krankenschwester kam angekeucht. Ich nahm ihr die Decke ab und hängte sie über die Tragbahre, damit niemand in den Zwischenraum hineinsehen konnte. »Passen Sie auf«, sagte ich mit erzwungener Beherrschung. »Zwischen den beiden Gebäuden liegt ein Mann. Er ist tot, nicht verletzt. Man hat ihn mit einem Messer ermordet. Bleiben Sie -195-
hier und lassen Sie niemand vorbei, bis ich mit einem Polizisten zurückkomme. Verstehen Sie mich?« Sie schwieg, drehte die Tragbahre etwas zur Seite, damit sie hineinsehen konnte. Dann richtete sie sich kerzengerade auf und sagte fest: »Ich sorge dafür, daß niemand hineingeht.« Ich eilte zum Büro der Rennleitung. Mr. Rollo war diesmal selbst anwesend, und nachdem ich ihm erzählt hatte, was geschehen war, rührte sich endlich etwas. Es ist an einem Renntag immer schwierig, eine Stelle zu finden, wo man allein sein kann. Nachdem ich einen Polizisten zu Joe geführt hatte, brauchte ich ein paar Minuten. Ich überquerte die Rennbahn und stakte durchs Gras zur Mitte der Anlage. Die Frage, die sich mir stellte, war ganz einfach. Sollte ich weitermachen oder nicht? Ich bin kein Held. Ich wollte nicht auch noch mein Leben verlieren. Und jene Idee, die mir angesichts des toten Joe gekommen war, barg ein sehr großes Risiko in sich. Die Pferde für das dritte Rennen gingen an den Start. Geistesabwesend sah ich hinüber. Das Rennen wurde gelaufen; die Pferde kehrten zum Sattelplatz zurück, und ich stand immer noch am selben Fleck. Schließlich trat ich auch den Rückweg an. Die Jockeys bestiegen bereits ihre Pferde für das vierte Rennen, und als ich den Wiegeraum erreichte, packte mich einer der Offiziellen beim Arm und sagte, daß mich die Polizei überall gesucht habe. Ich solle sofort ins Büro der Rennleitung kommen, um meine Aussage zu machen. Ich ging hin und öffnete die Tür. Mr. Rollo, klein und hager, lehnte mit gerunzelter Stirn am Fenster. Sein grauhaariger Sekretär saß immer noch fassungslos am Schreibtisch. Der Polizeiinspektor, der sich unter dem Namen Wakefield -196-
vorstellte, hatte Mr. Rollos Tisch mit Beschlag belegt; er wurde von drei Wachtmeistern unterstützt. Einer davon war mit Notizblock und Bleistift ausgerüstet. Der Rennbahnarzt saß auf einem Stuhl an der Wand, neben ihm stand ein Mann, den ich nicht kannte. Wakefield war schlecht auf mich zu sprechen, weil ich es gewagt hatte, in dieser Situation über eine halbe Stunde unauffindbar zu bleiben. »Wenn Sie endlich soweit sind, Mr. York«, sagte er sarkastisch, »dann können wir vielleicht einmal Ihre Aussage aufnehmen.« Ich sah mich langsam um und erwiderte dann: »Ich ziehe es vor, mit Ihnen allein darüber zu sprechen.« Der grauhaarige, breitschultrige Inspektor brauste auf und stritt mit mir. Schließlich gingen aber alle und ließen mich mit Wakefield und einem Wachtmeister allein, der meine Aussage mitstenografieren sollte. Ich erzählte Wakefield genau, was vorgefallen war. Die ganze Wahrheit, und nichts als die Wahrheit. Dann kehrte ich in den Wiegeraum zurück, und zu allen Leuten, die sich um mich drängten und einen Augenzeugenbericht verlangten, sagte ich, daß ich Joe lebend gefunden hatte. Ja, erklärte ich jedesmal, er hat noch etwas zu mir gesagt, bevor er starb. Was sei das gewesen? fragte man. Nun, es habe sich nur um ein paar Worte gehandelt, und ich zöge es vor, im Augenblick nicht darüber zu sprechen. Ich fügte hinzu, daß ich die Polizei noch nicht davon unterrichtet hätte, es aber nachholen würde, wenn ich es für wichtig genug hielte. Und ich machte ein nachdenkliches Gesicht, als hätte ich den Schlüssel zu der ganzen Affäre in der Hand. Ich ging mit Kate zum Teetrinken, und Pete gesellte sich zu uns. Auch ihnen erzählte ich dieselbe Geschichte, ein wenig beschämt, aber ich wollte um jeden Preis vermeiden, daß sie der -197-
Wahrheit entsprechend anderen Leuten mitteilten, Joe sei gestorben, ohne noch ein Wort zu sagen. Kurz vor dem sechsten Rennen verließ ich die Bahn. Als ich mich am Tor noch einmal umsah, standen Wakefield und Clifford Tudor vor dem Büro der Rennleitung und schüttelten sich die Hände. Tudor, der mit Joe so kurz vor seinem Tode noch zusammengewesen war, hatte anscheinend ›die Polizei bei ihren Nachforschungen unterstützt‹. Zur Zufriedenheit, wie es schien. Ich stieg in meinen Lotus und fuhr in westlicher Richtung davon. Ich ließ die Tachonadel auf über hundert Meilen klettern. Da konnte kein Wagen der Marconicars mit, dachte ich befriedigt. Um aber ganz sicherzugehen, daß ich nicht verfolgt wurde, hielt ich auf einer Anhöhe und beobachtete die Straße hinter mir mit dem Fernglas. Nichts rührte sich. Ungefähr dreißig Meilen von der Rennbahn entfernt parkte ich vor einem Rasthaus und nahm mir für die Nacht ein Zimmer. Ich bestand auch darauf, daß der Wagen in eine verschlossene Garage gebracht wurde. Ich wollte kein Risiko eingehen. Nach dem Essen ging ich auf mein Zimmer und schrieb meinem Vater einen Brief. Ich berichtete ihm von Joes Tod und schilderte, wie ich ihn benützen wollte, um Mr. Thiveridge aus seinem Versteck zu locken. Ich bat meinen Vater, mir das nicht übelzunehmen. Ich tat den Brief in einen Umschlag, ging früh zu Bett und lag vor dem Einschlafen noch lange wach. Auf dem Weg zurück zur Rennbahn am nächsten Morgen hielt ich an einem Postamt und gab den Brief per Luftpost auf. Außerdem kaufte ich mir für vier Shillinge Pennies und ließ sie mir in einer Rolle zusammenpacken. Ich nahm ein frisches Paar Socken aus meinem Koffer und steckte die schwere Rolle in einen davon, um ihn dann fest zuzuknoten. Ich schwang meinen kleinen Totschläger prüfend hin und her. Man mußte einen -198-
Mann damit niederschlagen können, dachte ich. Ich steckte ihn in die Hosentasche und fuhr weiter. Am Rennplatz angekommen, fragte ich einen Wachtmeister, wo ich Inspektor Wakefield finden könne, wenn ich ihn brauchte. Der Wachtmeister erklärte, daß Wakefield im Revier sei und nicht vorhabe, an diesem Nachmittag die Rennbahn aufzusuchen, obwohl er schon in der Frühe hiergewesen sei. Ich bedankte mich, betrat den Wiegeraum und fragte ein paar Leute mit lauter Stimme, ob sie Inspektor Wakefield gesehen hätten, weil ich ihn wegen der letzten Worte Joes sprechen müßte. Mit meinen Nerven stand es nicht zum besten. Ich rechnete damit, daß man mich an eine abgelegene Stelle bugsieren würde, aber ich hoffte, mit Hilfe meines selbstgefertigten Totschlägers den Angreifer unschädlich machen und Inspektor Wakefield übergeben zu können. Wakefield war alles andere als zimperlich, und mit ein bißchen Glück würde sich ein Hinweis darauf ergeben, wer Mr. Thiveridge eigentlich war. Ich zog mich um, wog mich, plauderte mit den anderen Jockeys und wartete. Nichts geschah. Niemand bat mich in eine Ecke, um private Angelegenheiten zu bereden, niemand zeigte besonderes Interesse daran, was Joe vor seinem Tode zu mir gesagt haben könnte. Natürlich war der Mord immer noch Hauptgesprächsthema, aber im Laufe des Tages gewann doch das Interesse an den lebendigen Pferden für die Leute im Wiegeraum die Oberhand. ›Admiral‹ war für das fünfte Rennen gemeldet. Nach dem vierten Rennen hatten sich meine Nerven beruhigt; meine gespannte Erwartung war ruhiger Überlegung gewichen. Ich hielt mich jetzt schon drei Stunden hier auf, und noch nichts war gegen mich unternommen worden. Nicht zum erstenmal dachte ich, daß in Thiveridges Organisation zwischen Ursache und Wirkung immer eine -199-
längere Pause lag. Joes Tod war erst zwei Tage, nachdem er das braune Papier in Liverpool hergezeigt hatte, eingetreten. Ich hatte in Cheltenham von dem Draht erzählt und war erst zwei Tage später gewarnt worden. Man hatte meinen Sturz in Bristol zwei Tage nach meinem Besuch im Büro der Marconicars arrangiert. Ich begann zu argwöhnen, daß das Funktionieren der Organisation immer noch auf den täglichen Anruf Thiveridges bei Fielder abgestellt war und daß Fielder keine Möglichkeit hatte, dieses Verfahren zu beschleunigen. Deprimiert kam ich zu der Auffassung, daß meine sorgfältig einstudierten Lügen jene Ohren gar nicht erreicht hatten, für die sie bestimmt waren. Ich ging zum Sattelplatz, wo ›Admiral‹ und Pete auf mich warteten. »Er ist in Bestform, obwohl er seit Maidenhead nicht mehr startete«, sagte Pete. »Du kannst das Rennen nicht verlieren, also mach am Anfang langsam und gewöhne dich an ihn. Du wirst feststellen, daß er eine Menge in Reserve hat. Bill nahm ihn immer gleich zu Anfang an die Spitze, aber das ist nicht nötig. Er schafft es auch vom letzten Hindernis ab.« »Verstehe«, sagte ich. Pete half mir in den Sattel. »›Admiral‹ ist wieder Favorit«, sagte er. »Wenn du das Rennen verschenkst, bringt dich das Publikum um.« Er grinste. »Ich werd’s schon schaffen«, meinte ich. ›Admiral‹ war so herrlich zu reiten, wie er aussah. Er sprang stets genau im richtigen Augenblick ab; man brauchte ihm keine Hilfen zu geben. Es war ein reines Vergnügen, ihn zu reiten. Petes Rat befolgend, blieb ich die ganze Zeit auf gleicher Höhe mit den anderen, aber am letzten Hindernis trieb ich ›Admiral‹ an. Er flog über das Hindernis, schoß davon, ließ die anderen Pferde stehen und gewann spielend. Als ich abstieg und die Sattelgurte löste, sah ich, daß ›Admiral‹ kaum schneller atmete als vor dem Rennen. Ich tätschelte ihn, bemerkte, daß er kaum schwitzte, und fragte Pete: -200-
»Was schafft er denn um Himmels willen, wenn er sich einmal richtig anstrengt?« »Das National, ohne Frage«, meinte Pete, wiegte sich auf den Absätzen und ließ die Gratulationen der Umstehenden über sich ergehen. Ich grinste, nahm den Sattel unter den Arm und verschwand im Wiegeraum, um mich nach dem Wiegen umzuziehen. Pete rief mir nach, ich sollte mich beeilen, also zog ich mich schnell um und ging mit ihm zur Bar. An der Lücke zwischen den beiden Gebäuden blieben wir stehen und sahen hinein. Man hatte davor einen schulterhohen Holzzaun errichtet. »Eine furchtbare Geschichte«, sagte Pete, als wir das Lokal betraten. »Was hat er dir eigentlich vor seinem Tod noch erzählt?« »Wir sprechen ein andermal darüber«, sagte ich. »Jetzt interessiert mich vielmehr, wo ›Admiral‹ in der nächsten Zeit startet.« Und über unseren Drinks wurde nur von Pferden gesprochen. Als wir zum Wiegeraum zurückkehrten, erwarteten uns zwei Männer in Regenmänteln. Man sah ihnen schon von weitem an, daß sie Kriminalbeamte waren. Einer von ihnen zog einen Ausweis aus der Tasche und zeigte ihn mir kurz. »Mr. York?« »Ja.« »Beste Grüße von Inspektor Wakefield, und Sie möchten doch zum Polizeirevier mitkommen, weil er Sie noch einiges zu fragen hat.« »Gut«, sagte ich und bat Pete, sich mit Clem wegen meiner Sachen in Verbindung zu setzen. »Natürlich«, sagte er. Ich ging mit den beiden Männern zum Ausgang. »Ich hole meinen Wagen vom Parkplatz und folge Ihnen dann -201-
zum Revier«, sagte ich. »An der Straße wartet ein Dienstwagen auf uns, Sir«, meinte der Größere. »Inspektor Wakefield hat uns aufgetragen, Sie mitzubringen, und wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sir, möchte ich es schon lieber so machen, wie er es haben will.« Ich grinste. Das konnte ich verstehen. »Na schön«, meinte ich. Draußen vor dem Tor war ein großer schwarzer Wolseley geparkt, ein uniformierter Fahrer stand daneben, ein Mann mit Mütze saß auf dem rechten Vordersitz. Zu meiner Rechten, vor den Reihen geparkter Pferdetransportwagen, wurden einige Pferde aus ›Admirals‹ Rennen hin und her geführt, damit sich die Steifheit aus ihren Beinen verlor, ehe man sie zur Heimreise verlud. ›Admiral‹ war unter ihnen; Victor, sein Stallbursche, marschierte stolz neben ihm her. Ich erzählte dem Mann zu meiner Rechten, dem kleineren, daß dort mein Pferd sei, als ich einen solchen Schock erlitt, daß mir der Atem wegblieb. Um mich nicht zu verraten, ließ ich mein Fernglas fallen und bückte mich langsam, um es wieder aufzuheben, während meine Begleiter auf mich warteten. Ich hängte mir das Glas über die Schulter, richtete mich auf und sah in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Vierzig Meter trennten uns von der letzten Parkreihe. Niemand war in der Nähe. Ich sah auf die Uhr. Das letzte Rennen mußte eben beginnen. Ich drehte mich langsam herum, ließ meinen Blick an dem Mann zu meiner Rechten vorbei hinüber zu ›Admiral‹ gleiten, der sich jetzt von mir entfernte. Wie stets nach dem Rennen war er in eine Decke gepackt, damit er sich nicht zu schnell abkühlte, und er trug noch immer sein Zaumzeug. Der große Nachteil bei Victor war, daß er nicht gerade zu den Schnelldenkern zählte. Er besaß ein instinktives Gespür für Pferde und eine unglaubliche Geschicklichkeit im Umgang mit -202-
ihnen, aber in anderen Dingen konnte man sich nicht auf ihn verlassen. »Victor«, rief ich, und als er sich umdrehte, bedeutete ich ihm durch Gesten, ›Admiral‹ zu mir zu führen. »Ich möchte nur nachsehen, ob seine Beine in Ordnung sind«, erklärte ich den beiden Männern. Sie nickten und warteten neben mir; der größere trat von einem Fuß auf den anderen. Ich wagte nicht, ein drittes Mal hinzusehen, und außerdem wußte ich, daß ich mich nicht getäuscht hatte. Der Mann zu meiner Rechten trug die Krawatte, die ich außerhalb Maidenheads im Pferdetransportwagen verloren hatte. Ich hatte sie zum 21. Geburtstag von einem Textilfabrikanten geschenkt bekommen, der mit meinem Vater einen Abschluß zu tätigen wünschte. Das Muster war unverwechselbar. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, daß ein junger Kriminalbeamter auf ehrliche Weise zu meiner Krawatte gekommen war, fragte ich mich. Farmer Lawson hatte sie nicht gefunden, und auch keiner seiner Arbeiter gab zu, sie gesehen zu haben. Es war zuviel des Zufalls, daß sie bei einem Mann auftauchte, der mich in einen Wagen bat, um mit mir davonzufahren. Hier war der Angriff, auf den ich gewartet hatte, und beinahe wäre ich blindlings in die Falle gelaufen. Es würde nicht einfach sein, jetzt einen Ausweg zu finden. Der ›Dienstwagen‹ stand kaum zwanzig Schritte vor uns; der Fahrer sah in unsere Richtung. Wenn ich nur im geringsten andeutete, daß mir Zweifel gekommen waren, würden mich die drei in den Wagen stoßen und davonbrausen, so daß nur Victor zurückblieb, auf den kein Verlaß war. Dann blieb mir keine Hoffnung. Von solchen Fahrten kehrte man nicht zurück. Mein Plan, Wakefield einen mutmaßlichen Mörder -203-
vorzuführen, taugte nichts. Mit einem Mann wäre ich noch fertig geworden, aber nicht mit dreien, und überdies saß noch ein vierter im Wagen. Als Victor noch etwa fünfzehn Schritte von mir entfernt war, ließ ich den Riemen meines Feldstechers über die Schulter, den Arm hinunter, in meine Hand gleiten. Plötzlich schwang ich mit ganzer Kraft das Fernglas wie eine Bola um die Beine des Größeren, so daß er das Gleichgewicht verlor und stürzte, warf den Kleineren mit dem einzigen Judogriff, den ich kannte, zu Boden, und rannte auf ›Admiral‹ zu. Die fünf Sekunden, die sie brauchten, um sich von dem unerwarteten Angriff zu erholen, genügten mir. Als sie mir mit entschlossenen Gesichtern nachsetzten, sprang ich auf ›Admirals‹ Rücken, ergriff die Zügel und wendete auf der Hinterhand. Der dritte Mann rannte vom Wagen auf mich zu. Ich brachte ›Admiral‹ in leichten Galopp, wich dem herankommenden Chauffeur aus und ritt auf die den Parkplatz begrenzende Hecke zu. ›Admiral‹ übersprang sie mit einem mächtigen Satz und landete auf dem Grasrand der Straße, wenige Meter von dem schwarzen Wagen entfernt. Der vierte Mann öffnete die Tür und stieg aus. Victor stand da wie eine Salzsäule und riß den Mund auf. Die drei Männer rannten auf das Tor zu. Sie hatten es beinahe erreicht. In der Hand des Mannes, der meine Krawatte trug, blitzte etwas auf. Es war nicht der richtige Augenblick, herauszufinden, ob das Blitzen von einem Messer stammte, wie es für die Ermordung Joes benützt worden war, aber er holte plötzlich aus und warf es nach mir. Ich ließ mich nach vorne auf den Hals meines Pferdes fallen, und das Messer verfehlte mich. Ich hörte, wie es auf der Straße aufschlug. Ich trieb ›Admiral‹ quer über die Straße, ohne mich um die quietschenden Bremsen eines Lastwagens zu kümmern, und er setzte mit einem Sprung über den Zaun ins angrenzende Feld. Der Boden stieg hier steil an, so daß ich die Straße und den -204-
Parkplatz wie auf einem Modell überblicken konnte, als ich anhielt und mich umsah. Victor stand immer noch da und kratzte sich am Kopf. Ich fragte mich, wie lange es dauern würde, ehe er Pete Bescheid sagte. Sobald das letzte Rennen vorbei war, würden sich auf dem Parkplatz die Leute drängen und die Wagen in langer Reihe das Tor passieren. Dann mußte es mir gelingen, ungefährdet zum Rennplatz zurückzukehren. In diesem Augenblick hielt wieder ein schwarzer Wagen hinter dem Wolseley, dann noch einer, und immer wieder einer, bis eine Reihe von acht oder mehr Fahrzeugen an der Straße stand. Es waren Marconicars.
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15 Alle Fahrer stiegen aus ihren Taxis und gingen zum Wolseley. Sie standen um den Wagen herum, und ich saß auf ›Admiral‹ und beobachtete sie. Sie schienen es nicht eilig zu haben, aber ich hatte keinen Zweifel, was geschehen würde, wenn sie mich faßten. Meine Lage war günstig. Sie konnten mit den Taxis nicht die Wiese hinauffahren, weil es unten kein Gatter gab, noch vermochten sie mich zu Fuß zu erreichen. Ich war immer noch davon überzeugt, bei Beendigung des Rennens meinen Gegnern ausweichen und zum Rennplatz zurückkehren zu können. Zwei Dinge geschahen, die das Bild rasch veränderten. Die Männer deuteten an mir vorbei. Ich sah nach rechts und erkannte einen Wagen, der auf der anderen Seite der Hecke die Anhöhe hinunterfuhr. Dort gab es also eine Straße. Als ich mich noch weiter herumdrehte, sah ich zum erstenmal ein großes Gebäude mit Anbauten und Gärten. Drei Taxis lösten sich aus der Reihe und befuhren die Straße zu meiner Rechten, wo sie sich in bestimmten Abständen aufstellten. Ich hatte jetzt Taxifahrer vor mir und zur Rechten, außerdem das große Haus hinter mir, aber ich machte mir noch immer keine Sorgen. Dann tauchte wieder ein Marconicar auf und hielt vor dem Wolseley. Ein stämmiger Mann stieg aus. Er marschierte über die Straße, blieb an der Hecke stehen und deutete mit ausgestrecktem Arm zu mir herauf. Ich fragte mich noch nach dem Grund, als eine Kugel in ungefährer Höhe meiner Füße vorbeipfiff. Der Schuß war nicht zu hören. Als ich ›Admiral‹ wendete, um über die Wiese -206-
davonzugaloppieren, schlug eine Kugel im Boden vor mir ein. Entweder ließ eine Waffe mit Schalldämpfer auf diese Entfernung kein genaueres Zielen zu, oder… ich begann zu schwitzen… der Schütze zielte absichtlich tief, nicht auf mich, sondern auf ›Admiral‹. Die Wiese war nur acht oder zehn Morgen groß, bot also keine Sicherheit. Ich verschwendete wertvolle Augenblicke, als ich das Pferd zum Stehen brachte und mir die Hecke auf der anderen Seite des Feldes ansah. Sie war in halber Höhe mit Stacheldraht durchzogen. Über meine Schulter konnte ich den Mann mit der Pistole die Straße entlanglaufen sehen, die parallel zu meiner Fluchtrichtung verlief. Ich nahm ›Admiral‹ ein bißchen zurück, ritt dann auf die Hecke zu und trieb ihn zum Sprung an. Er überwand sie glatt, ohne auch nur einen Zweig zu berühren. Wir landeten auf einer anderen Wiese, die einer Kuhherde als Weide diente, aber wieder zu klein und zur Straße hin offen war. Außerdem hatte man die Hecke hier reich mit Stacheldraht garniert. Alle Weiden besitzen jedoch ein Gatter, und ich fand es in der gegenüberliegenden Ecke, öffnete es, lenkte ›Admiral‹ auf die nächste Wiese. Sie war nur mit Draht eingezäunt, und ich beschloß, den Abstand zwischen mir und meinen Verfolgern so schnell wie möglich zu vergrößern, weil es für meinen Geschmack hier zu viel Stacheldraht gab. Wenn ich es zuließ, daß mir die Taxifahrer langsam von Grundstück zu Grundstück folgten, konnte ich mich plötzlich in einer Klemme befinden, wo selbst ›Admirals‹ Sprungkraft nicht mehr ausreichte. Ich war froh, daß die Sonne schien, weil ich so wenigstens zu entscheiden vermochte, in welcher Richtung ich mich bewegte. Da ich sowieso schon nach Osten ritt und ein bestimmtes Ziel immer Antrieb gibt, beschloß ich, ›Admiral‹ in seinen Stall in Petes Gestüt zu bringen. -207-
Dazu mußte ich etwa zwölf Meilen zurücklegen, und ich versuchte mich zu erinnern, wie die Landschaft hier aussah. Ich wußte, daß es in nicht allzu großer Entfernung Waldungen gab. Dann ging es wieder über Wiesen bergab, bevor man den kleinen Ort erreichte, wo Pete seine Pferde ausbildete. Über die Straßen in diesem Gebiet war ich nur sehr wenig unterrichtet, und man würde mich von einem Marconicar jederzeit entdecken können. Mit diesem unangenehmen Gedanken beschäftigt, erreichte ich eine Nebenstraße. Ich ritt auf ihr entlang und suchte nach einer Öffnung in der wildwuchernden Hecke auf der anderen Seite, als ein Auto um die Kurve kam und bergauf mir entgegenraste. Ohne ›Admiral‹ Zeit zum Überlegen zu geben, drehte ich ihn zur Hecke und stieß ihm die Fersen in die Rippen. Die Hecke war zu hoch für ihn, und der Sprung kam zu unerwartet, aber er gab sein Bestes. Er sprang mitten hinein in das Durcheinander aus durchhängenden Drähten und Buchenästen, stapfte schwerfällig hindurch und erreichte den etwas höher gelegenen Grund des nächsten Feldes. Es war gepflügt und mit Mangold bepflanzt. Wir kamen nur langsam vorwärts, aber ich trieb ihn immer wieder an, weil hinter mir das Quietschen von Bremsen ertönte. Ein Blick über die Schulter zeigte mir, daß der Fahrer sich durch das von ›Admiral‹ geschaffene Loch zwängte, aber keinen Versuch machte, mich zu verfolgen. Erleichtert sah ich, daß es nicht der Mann mit der Waffe war. Immerhin hatte er ja sein Funkgerät. Binnen einer Minute wußte man in allen Marconicars, wo ich mich befand. Ich brachte noch ein Feld zwischen mich und das Taxi, bevor ich abstieg, um nachzusehen, ob sich ›Admiral‹ verletzt hatte. Zu meiner Erleichterung fand ich nur ein paar Kratzer und eine Rißwunde am Kniegelenk, aus der es leicht blutete. Ich tätschelte ihm den Hals und sprang wieder auf seinen -208-
Rücken. In der Decke war jetzt ein gewaltiger Riß, aber ich beschloß, sie nicht abzunehmen, weil ich mit den Füßen doch mehr Halt hatte. Drei oder vier Grundstücke später begann mit Farn bewachsener Boden, und vor mir lagen die großen Einfriedungen des Forstamtes. Die Bäume, überwiegend Nadelholz, waren in großen, säuberlich abgeteilten Flächen gepflanzt, zwischen denen breite Wege verliefen, die sowohl den Forstbeamten als Straßen dienten als auch bei Waldbränden als Breschen. Sie waren in Abständen von etwa je einer halben Meile angelegt. Ich wollte nach Südosten reiten, stellte aber nach einem Blick auf die Sonne fest, daß die Waldwege fast genau nordsüdlich und ostwestlich verliefen. Das würde mich viel Zeit kosten. Ich lenkte ›Admiral‹ nach Osten, schlug bei der nächsten Kreuzung die südliche Richtung ein, nahm dann die nächste Abzweigung links nach Osten und so weiter, im Krebsgang durch den Wald. Die Baumpflanzungen waren verschieden alt und verschieden groß, und als ich wieder die südliche Richtung einschlug, fand ich zu meiner Linken Bäume, die nur sechzig Zentimeter hoch waren. Das regte mich nicht weiter auf, bis ich etwa hundert Meter links von mir einen Omnibus sah, der anscheinend mitten durch die Pflanzung fuhr. Ich brachte ›Admiral‹ zum Stehen. Wenn man genau hinsah, erkannte man die Pfosten und den hohen Drahtzaun, der die kleinen Bäume von der Straße abgrenzte. Wenn ich mich bei der nächsten Lichtung nach Osten wandte, würde ich genau auf die Straße stoßen. Jenseits der Straße sah es so aus wie hier: regelmäßige Reihen von Nadelbäumen, planmäßig angepflanzt. Ich wußte, daß ich irgendwo irgendeine Straße überqueren mußte. Wenn ich in den Teil des Waldes zurückkehrte, den ich jetzt durchritten hatte, mußte ich die ganze Nacht dort bleiben. -209-
Trotzdem wäre mir etwas mehr Deckung lieb gewesen, dachte ich, als ich den südlichen Weg entlangritt und in die nach Osten verlaufende Lichtung einbog. Die Drahtgatter zur Straße hin standen offen, aber ich hielt an und betrachtete zuerst die andere Seite der Straße. Nicht alle Pflanzungen waren von hohem Gitterdraht umgeben, und auf der anderen Seite bestand der Zaun aus Betonpfosten, durch die drei einfache Drähte liefen. Aus den vorbeifahrenden Wagen starrten mich die Leute neugierig an. Aber nirgends tauchte ein Marconicar auf, und eine Lücke im Verkehr ausnützend, trieb ich ›Admiral‹ auf den Drahtzaun zu. Seine Hufe klapperten laut auf der Teerdecke, dröhnten auf dem Bankett, und dann erhob er sich in die Luft wie ein Vogel. Vor uns tat sich kein Weg auf; es gab nur ziemlich vereinzelt stehende hohe Fichten, und als ›Admiral‹ aufgekommen war, zugehe ich ihn zu sanftem Trab, bevor wir zwischen den Bäumen weiterritten. Als wir einen Weg erreichten, überprüfte ich anhand meiner Uhr und der Sonne, daß er von Osten nach Westen verlief, was zutraf, und galoppierte auf ihm dahin. Der Boden war trocken und federnd; ›Admiral‹ schien nicht müde zu werden. Wir bogen wieder zweimal ab, und der Himmel begann sich zu bewölken. Ich mußte vorsichtig sein. Wenn die Sonne nicht scheint, kann man eine Armbanduhr nicht als Kompaß benützen. Gerade vor mir, etwas zu meiner Rechten, erhob sich ein kleiner, grasbewachsener Hügel. Ich hatte die größeren Bäume hinter mir gelassen und ritt in leichtem Galopp durch Jungwald; die Fichten waren kaum höher als ich und ›Admiral‹ zusammen, und ich konnte den Hügel ganz deutlich sehen. Ein Mann, der sich aus dieser Entfernung nur als Silhouette zeigte, stand auf dem Hügel und winkte mit den Armen. Ich brachte ihn mit mir überhaupt nicht in Verbindung, weil ich glaubte, meinen Verfolgern entkommen zu sein. -210-
Aus einem Weg zu meiner Rechten, den ich noch nicht erreicht hatte, rollte ein großer, schwarzer Wagen heraus und blockierte meinen Pfad. Es war der Wolseley. Die jungen Fichten zu beiden Seiten standen so dicht, daß man nicht hindurch konnte. Ich warf einen Blick über die Schulter zurück. Ein gedrungener, schwarzer Marconicar holperte hinter mir her. Ich war dem Wolseley so nahe, daß ich einen der Männer mit hämischem Grinsen aus dem Fenster blicken sah, und ich beschloß, nicht aufzugeben, selbst wenn wir uns den Hals brechen würden, ›Admiral‹ und ich. Es gab kaum ein Stocken zwischen der Ankunft des Wolseley und meinem Entschluß. Ich preßte ›Admiral‹ die Beine in die Seiten. Ich durfte nicht damit rechnen, daß er es schaffte. Für jedes Pferd gibt es eine Grenze. ›Admiral‹ hatte schon einen schweren Tag hinter sich. Sicher war er der beste Hindernisspringer in England, aber…, die Gedanken zuckten in Sekundenbruchteilen durch mein Gehirn. Dann konzentrierte ich mich verzweifelt auf den Sprung. ›Admiral‹ zögerte kaum. Er machte einen kurzen und einen langen Schritt, setzte an und sprang ab. Unberührt von den sich öffnenden Türen und den Drohrufen der Männer, die aus dem Wolseley stiegen, setzte er über den Wagen hinweg. Er verkratzte nicht einmal den Lack. Beim Aufsprung fiel ich um ein Haar hinunter. ›Admiral‹ stolperte, und ich rutschte von der Decke; nur mit Mühe konnte ich mich an seiner Mähne festhalten. Die Zügel schleiften auf dem Boden, und ich mußte befürchten, daß sich seine Füße darin verfangen würden. Zentimeter um Zentimeter stemmte ich mich wieder nach oben. Ich beugte mich nach vorn, holte die Zügel herauf, und schaffte es schließlich, ›Admiral‹ zu einer etwas langsameren Gangart zu bewegen. Als ich mich wieder -211-
gefangen hatte, sah ich mich um, aber der Wolseley war so weit zurück, daß ich nicht entscheiden konnte, ob er mir folgte oder nicht. Ich erkannte, daß ich die Marconicars unterschätzt hatte, und nur dank ›Admirals‹ Mut noch frei war. Sie operierten mit dem Vorteil, die Gegend hier gut zu kennen, und hatten den Hügel als Beobachtungsstand benützt. Wahrscheinlich hatten sie herausgefunden, daß ich zu Petes Gestüt wollte. Wenn ich weiterritt, würden sie sicher wieder vor mir auftauchen. Ich hatte den Hügel hinter mir gelassen und wandte mich bei der nächsten Lichtung nach rechts, weil in einiger Entfernung wieder höhere Bäume wuchsen. ›Admiral‹ war unermüdlich, aber ewig konnte er das auch nicht durchhalten. Ich mußte so schnell wie möglich ein Versteck erreichen. Ich versprach ›Admiral‹, ihm ein bißchen Ruhe zu gönnen, sobald wir die hohen Bäume erreicht hatten. Es war düster unter den hohen Fichten. Man hatte sie dicht nebeneinander wachsen lassen, damit sie in die Höhe strebten, und die Wipfel vereinigten sich weit droben zu einem Dach, durch das kaum Licht drang. Ich stieg ab und führte ›Admiral‹ tief in den Wald hinein. Es war sehr still und dunkel. Nicht einmal Vögel zwitscherten. Wir wanderten weiter. Auf dem Waldboden verklangen sogar die Hufschläge ›Admirals‹. Wir stießen auf eine Lichtung. Sie war sehr schmal. Ich knotete die Zügel um einen Baum und ging alleine weiter. Am Rande des Weges blieb ich stehen und sah mich um. Es war hier wesentlich heller, und ich konnte ein paar hundert Meter weit sehen. Niemand zeigte sich. Ich ging zurück, band ›Admiral‹ los und führte ihn über die Lichtung. Es gab keinen Überfall. Wir marschierten weiter. ›Admiral‹ hatte schon längst zu schwitzen begonnen, und die ganze Decke war feucht. Jetzt, da er abkühlte, war es nicht gut -212-
für ihn, daß er sie umbehalten mußte, aber ich hatte ja nichts Trockenes. Ich entschied, daß eine feuchte Decke immer noch besser war als gar keine, und stapfte weiter. Nach einer Weile hörte ich Ver kehrslärm, ein gelegentliches Hupen, und sobald ich die Straße in der Ferne sehen konnte, band ich ›Admiral‹ an einen Baum und ging wieder alleine weiter. Das Ende der Pflanzung wurde durch einen Zaun angezeigt, der nur aus zwei starken Drähten bestand. Ich machte mich ziemlich nahe an den Zaun heran, legte mich auf den Boden und kroch weiter, bis ich die Straße überblicken konnte. Nur von Zeit zu Zeit kamen Autos vorbei. Gegenüber gab es keine Forstpflanzungen, auch keine Zäune. £s war natürlich gewachsenes Land, mit einer Mischung aus Bäumen, Rhododendronsträuchern und Brombeerbüschen. Wenn ich dort hinüber könnte, würde mich niemand mehr finden. Ein schwerer Lastwagen fuhr eineinhalb Meter vor meiner Nase entfernt vorbei, eine große Wolke Auspuffgas ausstoßend. Ich steckte das Gesicht in den Nadelboden und hustete. Zwei Limousinen rauschten vorbei, gefolgt von einem Omnibus. Zwei Schulmädchen radelten an mir vorüber, ohne mich zu bemerken, und als ihre schnatternden Stimmen verklungen waren, wollte ich mich hochstemmen und zu ›Admiral‹ zurückkehren. In diesem Augenblick tauchten vorne an der Kurve zwei Marconicars auf. Ich warf mich wieder hin und rührte mich nicht. Sie fuhren langsam an mir vorbei, und obwohl ich nicht aufsah, nahm ich an, daß sie angestrengt in den Wald starrten. Hoffentlich war ›Admiral‹ von hier aus nicht zu erkennen. Die Marconicars überquerten die Straße und hielten, kaum fünfundzwanzig Meter von mir entfernt. Die Fahrer stiegen aus und knallten die Tür zu. Ich riskierte einen Blick. Sie zündeten sich Zigaretten an, lehnten an ihren Wagen und unterhielten sich. Sie hatten weder mich noch ›Admiral‹ gesehen. Noch nicht. -213-
Aber sie schienen es nicht eilig zu haben. Ich sah auf die Uhr. Sechs. Eineinhalb Stunden waren vergangen, seit ich mich vom Rennplatz entfernt hatte. Es würde höchstens noch eine Stunde hell bleiben. Sobald es dunkel wurde, mußte ich mit ›Admiral‹ die Nacht im Wald verbringen, weil er kein Hindernis übersprang, das er nicht zu sehen vermochte. Aus einem der beiden Taxis drang ein klirrendes Geräusch. Der Fahrer steckte die Hand durchs Fenster und holte ein Handmikrophon heraus. Diesmal konnte ich hören, was er sagte. »Ja, wir sind hier. Nein, er hat sie noch nicht überquert.« Wieder quakte das Funkgerät, und der Chauffeur erwiderte: »Ja, ich bin sicher. Ich melde mich sofort, wenn wir ihn sehen.« Er legte das Mikrophon wieder in den Wagen. Mir kam eine Idee, wie ich mir diese Menschenjagd zunutze machen konnte. Langsam rutschte ich in den Wald zurück, ohne den Kopf zu heben. Es war sehr unangenehm, auf dem Bauch dahinzukriechen, aber wenn ich aufstand, würden mich die Fahrer sehen. Als ich mich schließlich ungefährdet erheben konnte, war mein Anzug von oben bis unten beschmutzt. Ich säuberte mich, so gut es ging, und band ›Admiral‹ los. Wir setzten uns in westliche Richtung in Bewegung, blieben aber weit genug von der Straße weg, damit wir nicht gesehen wurden. Ein paar hundert Meter weiter entdeckte ich wieder einen Marconicar am Straßenrand. Ich kehrte um und sammelte einen Arm voll dürrer Zweige. Auf halbem Wege zwischen den beiden Taxis, wo sie beide außer Sichtweite waren, führte ich ›Admiral‹ zum Drahtzaun, damit er ihn sich ansehen konnte. Im Schatten der Bäume ließ er sich nicht allzu deutlich erkennen. Ich steckte die dürren Zweige zur Markierung in den Boden, sprang dann auf ›Admirals‹ Rücken, richtete ihn zum Zaun und wartete, bis ein schweres Fahrzeug erschien. Wenn alles still war, würde man die Huf schlage auf der Teerdecke deutlich -214-
vernehmen, und die Taxifahrer zu beiden Seiten der Kurve durften uns nicht hören. Je länger sie mich im Fichtenwald glaubten, desto besser. Ein Motorrad fegte vorbei, und ich zwang mich zur Ruhe. Endlich erschien ein großer Lastwagen, der mit leeren Milchflaschen beladen war. Ich hätte mir nichts Besseres wünschen können. Ich trieb ›Admiral‹ an, er setzte über den Zaun, galoppierte über die Straße, und Augenblicke später waren wir sicher hinter dem Gebüsch auf der anderen Seite gelandet. Ich hielt hinter dem ersten großen Rhododendronstrauch an, stieg ab und lugte auf die Straße. Ich hatte keine Sekunde zu früh gehandelt. Einer der Marconicars rollte hinter dem Milchwagen her; der Fahrer starrte angestrengt in den Wald. Wenn ein Fahrer annahm, daß ich mich noch dort aufhielt, so glaubten das alle. Ich führte ›Admiral‹ ein Stück, bis ich ohne Gefahr aufsteigen konnte, dann trabten wir langsam dahin. Es gab hier zahlreiche Vertiefungen und Erhöhungen, die mit Brombeerbüschen, kleinen Nadelbäumen und den braunen Überresten von großen Farnen bewachsen waren, deshalb überließ ich es dem Pferd, sich selbst einen Weg zu suchen, während ich mir überlegte, was ich unternehmen sollte. Ich hatte etwa eine Meile zurückgelegt, als wir wieder auf eine Straße stießen. Ich folgte ihr in nördlicher Richtung, ohne jedoch allzu nahe heranzugehen. Ich machte jetzt selbst Jagd. Auf ein einzelnes Taxi. ›Admiral‹ ging geräuschlos auf dem weichen Boden dahin. Plötzlich hörte ich das nun schon vertraute Quaken eines Funkgerätes und die Stimme eines Fahrers. Ich hielt an, stieg ab und band ›Admiral‹ an einen jungen Baum. Dann kletterte ich hinauf. Vor mir sah ich einen Wegweiser, neben dem ein Marconicar stand, von dem nur das Dach und die obere Hälfte -215-
der Fenster sichtbar waren. Ich kroch wieder von dem Baum herunter und tastete in meiner Tasche nach meinem selbstgefertigten Totschläger. Ich fand auch zwei Zuckerstücke, die ich ›Admiral‹ gab. Ich erreichte die Kreuzung, ohne gesehen zu werden, aber als ich vom Inneren eines alten Rhododendronstrauches hinaussah und das Taxi deutlich erkennen konnte, saß der Fahrer nicht im Wagen. Es war ein junger, bleichgesichtiger Mann in einem hellblauen Anzug, und er stand mitten auf der Kreuzung, starrte in alle vier Richtungen, sah nichts und gähnte. Das Funkgerät krächzte wieder, aber er kümmerte sich nicht darum. Ich hatte vorgehabt, mich zu seinem Taxi zu schleichen und ihn niederzuschlagen, bevor er mein Auftauchen melden konnte, aber jetzt wartete ich und verfluchte ihn. Er putzte sich die Nase. Plötzlich ging er auf mich zu. Einen Augenblick lang nahm ich an, daß er mich gesehen hatte, aber er blieb vor einem Brombeerstrauch stehen, drehte mir den Rücken zu und verrichtete seine Notdurft. Es schien unfair, einen Mann in einem solchen Augenblick zu überfallen, und ich weiß, daß ich gelächelte habe, als ich mein Versteck verließ; diese Gelegenheit durfte ich mir nicht entgehen lassen. Ich machte drei schnelle Schritte, holte aus und schlug zu, genau auf den Hinterkopf. Er brach zusammen, ohne einen Laut von sich zu geben. Ich packte ihn unter den Armen und zerrte ihn zu der Stelle, wo ich ›Admiral‹ zurückgelassen hatte. Hastig riß ich die Borte von der Pferdedecke und prüfte ihre Festigkeit. Sie schien allerhand auszuhalten. Ich fischte mein Messer aus der Hosentasche, schnitt die Borte in vier Stücke und fesselte damit den Fahrer an Händen und Knien. Dann zerrte ich ihn zum Baum und band ihm die Handgelenke zusammen. Mit dem vierten Stück der Borte fesselte ich ihn an den Baumstamm. -216-
Ich durchsuchte seine Taschen. Als einzige Waffe führte er einen Schlagring mit Zacken bei sich, den ich an mich nahm. Er kam zum Bewußtsein, sah von mir zu ›Admiral‹, dann wieder zu mir und fuhr erschreckt zusammen, als er begriff, wer ich war. Mit seinem Mut schien es nicht weit her zu sein. Der Anblick des Pferdes unmittelbar über ihm schien ihm mehr Angst einzujagen als alles andere. »Er wird mich zertreten«, schrie er. »Na und?« sagte ich. »Führen Sie ihn weg, führen Sie ihn weg!« brüllte er. ›Admiral‹ wurde unruhig. »Wenn Sie leise sind, tut er Ihnen nichts«, sagte ich zu dem Fahrer, aber er schrie wieder. Ich stopfte ihm das Taschentuch in den Mund, bis seine Augen aus den Höhlen traten. »Jetzt halt den Mund«, sagte ich. »Wenn du still bist, tut er dir nichts. Wenn du schreist, schlägt er aus. Hast du begriffen?« Er nickte. Ich nahm ihm den Knebel ab, und er begann vor sich hin zu fluchen, wenn auch mit leiser Stimme. Ich beruhigte ›Admiral‹ und verlängerte die Zügel ein wenig, damit er Gras abrupfen konnte. »Wie heißt du?« fragte ich den Taxichauffeur. Er spuckte aus und schwieg. Ich fragte ihn noch einmal, und er erwiderte: »Was zum Teufel geht Sie das an?« Ohne Gewissensbisse drehte ich ›Admiral‹ herum, damit der Fahrer die kräftigen Hinterbeine sehen konnte. Sein Mut verließ ihn schnell wieder. Er öffnete den Mund, um zu schreien. »Vorsicht«, sagte ich, »er schlägt aus, wenn du laut bist. Also, wie heißt du?« »John Smith.« »Versuchen wir es noch einmal«, sagte ich und holte -217-
›Admiral‹ näher heran. Der Taxichauffeur begann zu schwitzen. Seine Lippen zitterten. »Blake«, stieß er hervor. »Vorname?« »Corny. Das ist ein Spitzname.« Ich stellte ihm noch ein paar Fragen über die Bedienung des Funkgerätes. Als ich Bescheid wußte, band ich ›Admiral‹ an einen anderen Baum, damit er nicht in der Dunkelheit zufällig auf den Taxichauffeur trat. Bevor ich ging, warnte ich Blake noch einmal. »Schrei ja nicht um Hilfe. Erstens hört dich hier sowieso keiner, und zweitens machst du das Pferd rebellisch. Das ist ein Vollblut, also sehr nervös. Wenn du ihn erschreckst, reißt er sich los und schlägt zu. Solange du den Mund hältst, hast du nichts zu befürchten. Verstanden?« Ich wußte, daß ›Admiral‹ nicht angreifen würde, wenn er sich losgerissen hatte, aber Gott sei Dank wußte es Blake nicht. Er nickte erschöpft. »Ich vergesse schon nicht, daß du hier bist«, sagte ich. »Du brauchst hier nicht zu übernachten. Es geht nicht um dich, aber das Pferd muß in seinen Stall.« Ich tätschelte ›Admiral‹, überzeugte mich, daß die Fesseln an dem demoralisierten Fahrer fest verknotet waren, und eilte durch das Gebüsch zum Taxi. Der Wegweiser war sehr wichtig, denn ich mußte ihn im Dunkeln wiederfinden. Ich schrieb mir alle Namen und Kilometerangaben von sämtlichen Hinweistafeln auf. Dann setzte ich mich ans Steuer. Im Innern des Taxis hörte man anstelle des Quakens eine Stimme aus dem Funkgerät. Der Empfänger war so eingestellt, daß jeder Fahrer den gesamten Sprechverkehr zwischen der Zentrale und allen Taxis verfolgen konnte. Eine Stimme im Lautsprecher sagte: »Hier ist Sid. Er läßt sich nicht blicken. Von hier aus kann ich die Straße auf eineinhalb -218-
Meilen übersehen. Ich möchte schwören, daß er es hier nicht geschafft hat. Der Verkehr ist immerhin so stark, daß er es nicht in einem Zug fertigbringt. Ich sehe ihn auf jeden Fall, wenn er es versucht.« Ich ließ den Motor an und fuhr in südlicher Richtung. Es begann schon zu dämmern. Ich gab Gas. Eine Weile blieb das Funkgerät still. Dann sagte jemand: »Er muß gefunden werden, bevor es dunkel ist.« Obwohl ich es halb erhofft, halb erwartet hatte, ließ mich das heisere, tonlose Flüstern doch zusammenzucken. Ich umkrampfte das Steuerrad. Die Stimme war so nah, daß es mir plötzlich vorkam, als sei auch die Gefahr nähergekommen, und ich mußte erst zum Fenster hinaussehen, bevor ich mich beruhigte. »Wir tun unser Bestes, Sir«, sagte eine andere Stimme respektvoll. »Ich fahre jetzt seit einer Stunde hier auf und ab. Zwei Meilen hinauf und zwei Meilen zurück. Alle geparkten Wagen in meinem Gebiet haben ihre Position nicht verlassen.« »Wie viele von euch sind bewaffnet?« fragte die Flüsterstimme. »Vier im ganzen, Sir. Wir könnten noch mehr Pistolen brauchen.« Nach einer Pause sagte die heisere Stimme: »Ich habe noch eine Waffe hier, aber wir dürfen keine Zeit verlieren. Ihr müßt mit dem auskommen, was ihr habt.« »Jawohl, Sir.« »Achtung, an alle Fahrer. Zielt auf das Pferd. Schießt das Pferd nieder. Der Mann darf nicht mit Kugeln im Leib aufgefunden werden. Habt ihr verstanden?« Eine Anzahl von Stimmen bejahte. »Fletcher, wiederholen Sie Ihre Anweisungen.« Der höfliche Taxifahrer sagte: »Sobald wir ihn entdeckt -219-
haben, schießen wir auf das Pferd. Dann werden die anderen Fahrer herbeigerufen, damit wir den Mann verfolgen und einfangen können. Wir sollen ihn – äh – überwältigen, in eines der Taxis setzen und Ihre weiteren Befehle abwarten.« Ich erkannte seine Stimme. Es war der Fahrer des Pferdetransportwagens. Fletcher. Plötzlich kehrte meine Erinnerung an das Rennen in Bristol zurück. Ich spürte den Regen auf meinem Gesicht, und jetzt konnte ich mich ganz genau an den Fahrer entsinnen, wie er den Draht vom Pfosten geschnitten, aufgerollt und über den Arm gehängt hatte. Da war noch etwas anderes… Aber bevor ich es festhalten konnte, erreichte ich ein Stop-Signal vor einer Hauptstraße. Ich bog nach links ein und hielt Ausschau nach einer Hinweistafel, der ich zu entnehmen vermochte, wie weit ich noch von Brighton entfernt war. Nach einer halben Meile fand ich sie. Elf Meilen. Also noch etwa zwanzig Minuten bis zum Ziel. Ich dachte wieder an das Hindernis in Bristol, aber mir fiel dazu nichts mehr ein. Während der Fahrt nach Brighton lauschte ich ständig der flüsternden Stimme. Sie klang immer drängender, immer wütender. Zuerst fand ich es beinahe unheimlich, Leute zu belauschen, die mich jagten, aber nach ein paar Minuten gewöhnte ich mich daran, achtete immer weniger darauf. Und hätte um ein Haar einen kapitalen Fehler begangen. »Haben Sie etwas zu melden, 23?« fragte die Stimme. Niemand antwortete. Ich achtete kaum darauf. Die Stimme wurde schärfer: »23. Blake, haben Sie etwas zu melden?« Ich erwachte aus meiner Versunkenheit, nahm das Mikrophon zur Hand, drückte auf eine Taste und sagte gelangweilt und näselnd: »Nein.« »Antworten Sie beim nächstenmal ein bißchen schneller«, sagte die heisere Stimme streng. Anscheinend wurden die -220-
einzeln stationierten Taxis überprüft, weil die Stimme noch drei weitere Fahrer fragte, ob sie etwas zu melden hätten. Ich dankte dem Himmel, als ich das Mikrophon abschaltete, daß ich Blakes Stimme nicht für mehr als einen Augenblick hatte imitieren müssen; jedes längere Gespräch hätte mich überführt. Trotzdem folgte ich jetzt den Fragen und Antworten mit mehr Aufmerksamkeit. Die flüsternde Stimme wurde mir immer vertrauter, bis ich Tonfall und Abstufungen unterscheiden konnte. Die Art der Satzbildung und Betonung kam mir bekannt vor, aber ich strengte mein Gehirn immer noch vergeblich an. Und mit einemmal wußte ich Bescheid. Endlich war ich meiner Sache sicher.
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16 Ein Taxifahrer, der sich nach dem Weg zum Polizeirevier erkundigt, wird selbst einem Geistesschwachen verdächtig erscheinen. Ich parkte den Wagen in einer Seitenstraße und hastete um die Ecke. Im nächsten Laden stellte ich dann meine Frage. Es war ein Tabakgeschäft, in dem mehrere Leute warteten, also wandte ich mich an einen der Kunden, einen älteren Mann mit wäßrigen Augen und einer schmierigen Mütze. Er erklärte mir den Weg genau. »Sind Sie in Schwierigkeiten?« fragte er neugierig, als er meinen schmutzigen Anzug sah. »Mein Hund ist entlaufen«, erwiderte ich lächelnd. Ich ging schnell zum Taxi zurück. Zwei kleine Buben lauschten mit offenen Mündern den Stimmen aus dem Funkgerät. Ich stieg ein, blinzelte ihnen zu und sagte: »Heute ist wieder allerhand los in der Kinderstunde, was?« Ihre Gesichter hellten sich auf und sie lachten. Ich fuhr los. Die heisere Stimme sagte: »… um jeden Preis. Es ist mir gleichgültig, wie ihr es macht. Er darf nicht entkommen. Wenn ihr ihn nicht lebend fangen könnt, müßt ihr ihn umlegen. Aber man darf in seiner Leiche keine Kugeln finden.« »Es wäre aber alles viel einfacher, wenn wir ihn niederschießen dürften, Sir«, sagte Fletcher. Ich fand das Polizeirevier ohne Schwierigkeiten. Hundert Meter davon entfernt hielt ich den Wagen an und schloß die Fenster. Aus dem Lautsprecher krächzte es immer noch, und der Mann mit der heiseren Stimme konnte seine ohnmächtige Wut nicht mehr verbergen. Ich hörte noch, wie er Fletcher zugestand, -222-
daß man mich abknallen dürfe, dann stieg ich aus, schloß die Wagentür und ging davon. Das Büro der Marconicars konnte höchstens eine halbe Meile entfernt sein. Ich eilte weiter, hielt aber gleichzeitig Ausschau nach einer Telefonzelle. Die Straßenbeleuchtung wurde eingeschaltet. Die rote Telefonkabine vor einem Postamt war ebenfalls erleuchtet, und obwohl ich wußte, daß ich nicht in Gefahr war, hätte ich Dunkelheit vorgezogen. Ich betrat die Zelle, ließ mir von der Auskunft die Nummer des Polizeireviers in Maidenhead geben und rief dann dort an. Ein Sergeant erklärte mir, daß Inspektor Lodge vor einer Stunde gegangen sei, aber erst nach einigem Drängen rückte er mit der Privatnummer heraus. Ich fütterte den Apparat wieder mit Münzen und gab der Vermittlung die neue Nummer an. Es läutete und läutete. Meine Stimmung sank, denn wenn ich Lodge nicht schnell erreichen konnte, wurde die Chance, den Marconicars ein für allemal den Garaus zu machen, wesentlich geringer. Aber endlich meldete sich eine Frau. »Inspektor Lodge? Einen Augenblick, ich muß mal nachsehen, ob er da ist.« Es blieb einige Zeit still, dann meldete sich Lodge. »Mr. York?« Ich berichtete ihm kurz, was geschehen war. »Ich habe das Taxi in Melton Close, hundert Meter vom Polizeirevier entfernt, abgestellt. Ich möchte, daß Sie die Polizei hier anrufen und den Wagen holen lassen. Sagen Sie den Beamten, daß sie sich die Stimme aus dem Lautsprecher anhören sollen. Unser Freund mit der heiseren Stimme verlangt von den Fahrern, daß sie mich umbringen. Damit können wir die Marconicars ein für allemal unschädlich machen. Einer der Fahrer, die hinter mir her sind, heißt Fletcher. Er steuerte damals den Transportwagen und -223-
montierte auch den Draht in Bristol. Es ist mir jetzt eingefallen. Glauben Sie nicht, daß er auch für Bill Davidsons Tod verantwortlich ist?« »Doch. Wo sind Sie jetzt?« fragte Lodge. »In einer Telefonzelle«, sagte ich. »Gut, dann gehen Sie jetzt zum Taxi zurück und warten Sie dort, während ich mit der Polizei in Brighton telefoniere. Ich verstehe wirklich nicht, warum Sie nicht selber in das Revier gegangen sind und alles erklärt haben.« »Ich dachte, das Ganze hätte mehr Gewicht, wenn es von Ihnen kommt. Und außerdem…« Ich brach ab. Gerade noch zur rechten Zeit hatte ich begriffen, daß ich Lodge nicht sagen durfte, was ich vorhatte. »Sagen Sie den Beamten, daß ich nicht zum Taxi zurückkomme. Ich habe noch ein paar Anrufe zu machen… äh…, ich muß Scilla meine Verspätung erklären und so. Aber Sie beeilen sich doch, nicht wahr? Mr. Claude Thiveridge wird nicht ewig reden, vor allem, wenn es dunkel wird.« »Ich rufe sofort an«, versprach Lodge und legte auf. Ich trat auf die Straße. Ich überlegte ein paar Augenblicke und machte mich dann auf den Weg. Ich rechnete mir aus, wieviel Zeit ich hatte, bevor Lodge die Polizei von Brighton zum Büro der Marconicars schickte. Er mußte anrufen und ausführlich berichten, dann hatten sie das Taxi zu holen, die Gespräche im Funkgerät zu belauschen und sie mitzustenografieren, damit dem Gericht Beweismaterial vorgelegt werden konnte. Sofort danach würden sie sich auf den Weg machen, um den Besitzer der Stimme festzunehmen. Zehn Minuten insgesamt, wenn sie sich beeilten, im besten Fall eine Viertelstunde. Als das Bürohaus auftauchte, schlich ich im Schatten der Gebäude weiter, damit man mich nicht frühzeitig entdeckte. Die Straße war beinahe verlassen, und das ›Old Oake-Café‹ gegenüber hatte bereits geschlossen. -224-
Ein kleiner, schwarzer Wagen parkte am Randstein. Ich sah ihn zuerst nur flüchtig an, dann erkannte ich ihn wieder. Ich blieb stehen. Mit Vorbedacht hatte ich Lodge nicht erzählt, welches Gesicht ich dem Mann mit der Flüsterstimme gab, obwohl es meine Pflicht gewesen wäre. Der Wagen gab mir die Chance, mein Gewissen zu beruhigen. Ich stemmte die Motorhaube hoch, nahm einen Deckel ab, entfernte den Verteilerfinger und steckte ihn in die Tasche. Was immer jetzt auch geschehen mochte, eine schnelle Flucht gab es für Mr. Thiveridge nicht mehr. Ich betrat das Haus und ließ die Tür hinter mir offen. Es war totenstill. Leise schlich ich den Korridor entlang und legte mein Ohr an die Tür zu Fielders Zimmer. Ich hörte nichts. Ich öffnete leise die Tür und warf einen Blick hinein. Leer. Dann versuchte ich es mit der Tür zu meiner Linken, die zu dem Hinterzimmer führte, wo Marigold tagsüber vor ihrem Mikrophon saß. Durch die massive Tür drang kein Laut, aber als ich sie einen Spalt öffnete, hörte ich ein schwaches Summen. Niemand befand sich in diesem Büro. Ich trat ein. Das Summen stammte von der Funkanlage. Ein kleines, rotglühendes Lämpchen zeigte an, daß die Anlage in Betrieb war. Das Mikrophon lag auf dem Tisch. Einen Augenblick lang dachte ich, der Vogel sei in der Zwischenzeit ausgeflogen, aber dann erinnerte ich mich an den Wagen vor dem Haus. Ich bemerkte, daß ein schmales Kabel vom Funkgerät zur Wand lief und oben in der Decke verschwand. Schnell huschte ich die Treppe hinauf und horchte oben an der Tür zum Büro der Firma L. C. Perth. Da die Türen hier alle sehr stabil gebaut waren, hörte ich nur ein zischendes Geräusch, aber das Flüstern war mir inzwischen so vertraut, daß auch die Holzbarriere es nicht zu entstellen vermochte. -225-
Er war da. Die Haare an meinem Hinterkopf begannen zu jucken. Seit ich mit Lodge gesprochen hatte, mußten sieben oder acht Minuten vergangen sein. Da der Polizei von Brighton Zeit bleiben mußte, das Taxi zu finden und die Funkgespräche abzuhören, durfte ich nicht zu früh unterbrechen. Aber ich gedachte auch nicht zu warten, bis die Polizei erschien. Ich zählte ganz langsam bis hundert, und das waren die längsten drei Minuten meines Lebens. Dann drückte ich die Klinke nach unten und öffnete langsam die Tür. Sie knarrte nicht. Ich konnte das nicht erleuchtete Zimmer überblicken. Er saß an einem Schreibtisch, mit dem Rücken zu mir, und schien auf die Straße hinauszustarren. Die Neonschrift blinkte draußen, in Abständen von Sekunden das Zimmer mit einem rötlichen Schein erfüllend. Eine Reihe schwarzer Telefone, in militärischer Ordnung auf einem langen Tisch aufgebaut, warf seltsame Schatten an die Wand. In der Nähe wirkte die flüsternde Stimme nicht mehr so unheimlich, wenn sie sich jetzt auch beinahe bis zur Raserei steigerte. Die offene Tür schien keinen Luftzug verursacht zu haben, denn der Mann am Schreibtisch sprach weiter ins Mikrophon, ohne zu bemerken, daß ich hinter ihm stand. »Bringt ihn um«, sagte er. »Bringt ihn um. Er muß irgendwo im Wald sein. Hetzt ihn. Leuchtet mit den Scheinwerfern in den Wald hinein. Ihr müßt das Netz enger ziehen. Durchkämmt den ganzen Wald. Fletcher, organisieren Sie das. Ich brauche York tot, und zwar schnell. Schießt ihn nieder. Erschlagt ihn.« Der Mann schwieg und atmete keuchend. Seine Hand streckte sich nach einem Glas Wasser aus. Er trank. Fletchers Stimme klang blechern aus dem Lautsprecher: »Wir haben nichts mehr von ihm gesehen, seit er im Wald verschwand. Es kann sein, daß er uns überlistet hat.« -226-
Der Mann am Schreibtisch tobte. »Wenn er entkommt, seid ihr geliefert. Er muß sterben. Ihr könnt mit ihm tun, was ihr wollt. Nehmt die Fahrradketten und die Schlagringe. Wenn er am Leben bleibt, sind wir am Ende, vergeßt das nicht.« Er begann zu kreischen: »Macht ihn fertig…, schlagt ihn in Stücke…« Er wütete wie ein Berserker. Es war klar, daß er nicht mehr alle fünf Sinne beisammen hatte. Es reichte mir. Ich riß die Tür auf und knipste das Licht an. Das Zimmer war plötzlich strahlend hell erleuchtet. Der Mann am Schreibtisch fuhr herum und starrte mich an. »Guten Abend, Onkel George«, sagte ich leise.
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17 Seine Hand zuckte nach vorn, die Finger schlossen sich um eine Pistole. Er zielte auf meine Brust. Ich sah ihm in die Augen und tat einen Schritt nach vorn. Dann kam der Augenblick, auf den ich alles gesetzt hatte. Onkel George zögerte. Ich sah, wie seine Lider zuckten. Nie hatte er selbst eine Gewalttat begangen. Er gehörte zu den Menschen, die sich an Scheußlichkeiten berauschen, ohne sie selbst begehen zu können. Und jetzt fand er nicht sofort den Mut, mich niederzuschießen. Ich ließ ihm keine Zeit, sich zu ermannen. Ein schneller Schritt, und meine Finger umklammerten sein Handgelenk. Er versuchte aufzustehen. Zu spät fand er die Kraft, abzudrücken; die Kugel schlug harmlos in der Wand ein. Ich riß seinen Arm nach hinten und entwand ihm die Waffe. Seine Muskeln waren schlaff. Ich schleuderte ihn in den Stuhl, dann schaltete ich das Mikrophon ab. Weder die Polizei noch die Taxifahrer sollten hören, was ich zu sagen hatte. Etwas knisterte in seiner Brusttasche. Ich riß das Jackett auf und nahm das braune Packpapier heraus. Er rang nach Atem und setzte sich nicht zur Wehr. Ich las, was auf dem Papier geschrieben stand. Joes Anschrift. Ich drehte das Papier um. In einer Ecke standen die Worte: Chichen Itza Chitchen Itsa Chitsen -228-
Irgendwo mußte ich das schon einmal gehört haben. Es schien der Name eines Kaisers zu sein, aber ich konnte mir keinen Vers darauf machen. Trotzdem hatte Joe dafür sein Leben lassen müssen. Ich ließ das Papier auf dem Schreibtisch liegen, in der Hoffnung, die Polizei würde damit etwas anfangen können. Onkel George sah plötzlich alt und krank aus. Ich brachte es trotzdem nicht fertig, Mitgefühl für ihn aufzubringen. Es war ja auch nicht die Sorge um Kates Onkel gewesen, die mich hierher geführt hatte, sondern meine Zuneigung zu Kate selbst. »Die Polizei wird in einer Minute hier sein«, sagte ich langsam. Er zuckte hilflos die Achseln. »Man hat alles abgehört und mitstenografiert, was Sie über Funk durchgaben.« Onkel Georges Augen weiteten sich. »23«, sagte er mit einem Rest von Zorn, »23 hat sich nicht mehr gemeldet.« Ich nickte. »Man wird Sie wegen Anstiftung zum Mord vor Gericht stellen«, sagte ich. »Das bedeutet zumindest lebenslänglich.« Ich machte eine Pause. »Denken Sie nach«, sagte ich nachdrücklich. »Denken Sie an Ihre Frau. Für sie haben Sie das alles getan, nicht wahr? Damit sie den Luxus nicht entbehren mußte, an den sie gewöhnt war? Sie haben ihr die Wirklichkeit zu lange vorent halten. Was wird mit ihr sein, wenn Sie verhaftet, vor Gericht gestellt und vielleicht sogar gehängt werden?« Und was wird aus Kate, fragte ich mich hoffnungslos. Onkel George starrte mich an, und langsam wanderte sein Blick zu der Pistole, die ich noch immer in der Hand hielt. »Es wäre besser«, sagte ich. Eine Weile blieb es still. In der Ferne hörte man eine Sirene auf heulen. Onkel George sah auf. »Die Polizei«, sagte ich. Ich ging zur Tür, drehte mich um und warf Onkel George die Waffe zu. Als seine Hände danach -229-
griffen, trat ich hinaus, schloß die Tür hinter mir und lief die Treppe hin unter. Die Eingangstür stand immer noch offen. Ich eilte hinaus und warf sie hinter mir ins Schloß. Die Sirenen waren verstummt. Im Schatten des Hauses schlich ich mich zur Veranda des Gebäudes nebenan, gerade noch rechtzeitig. Zwei Polizeiautos fuhren heran und hielten vor dem Marconicar-Haus. Oben war alles still geblieben. Der erschreckende Gedanke überfiel mich, daß Onkel George vielleicht einen Polizisten erschießen würde. Mit jener Waffe, die ich ihm selbst in die Hand gedrückt hatte. Als die Polizisten aus ihren Autos stiegen, machte ich einen Schritt auf sie zu, um sie zu warnen. Aber Onkel Georges Zuneigung zu Tante Deb trug den Sieg davon. Der Schuß im Zimmer hinter der Neonschrift war wohl das Beste, was er je für sie getan hatte. Ich wartete ein paar Minuten. Auf dem Gehsteig begannen sich die Neugierigen zu sammeln. Ich gesellte mich unauffällig zu ihnen und ging nach ein paar Minuten unbehelligt davon. Ein paar Nebenstraßen weiter fand ich eine Telefonzelle, die ich betrat, in meiner Tasche nach Münzen suchend. Die Anrufe bei Lodge hatten mein ganzes Kleingeld erfordert. Dann entsann ich mich meines Totschlägers in meiner Tasche. Ich knotete die Socke auf, schüttete ein paar Pennies in meine Hand, steckte vier davon in den Apparat und ließ mich mit Pete verbinden. Er meldete sich sofort. »Gott sei Dank«, sagte er. »Wo zum Teufel bist du denn gewesen?« »Unterwegs in Sussex.« »Und wo ist ›Admiral‹?« »Den habe ich irgendwo auf der Heide an einen Baum gebunden«, erwiderte ich. -230-
Pete brauste auf, aber ich unterbrach ihn. »Kannst du den Transportwagen hinschicken? Der Fahrer soll ihn nach Brighton bringen. Ich erwarte ihn am Hauptkai. Und Pete… hast du eine anständige Karte von Sussex?« »Eine Karte? Bist du verrückt? Weißt du nicht einmal, wo du ihn allein gelassen hast? Hast du wirklich das beste Sprungpferd im ganzen Land an einen Baum gebunden und vergessen, wo es sich befindet?« »Ich finde es schon wieder, wenn du mir eine Karte schickst, aber beeile dich bitte. Ich erzähle dir später alles. Es ist ein bißchen kompliziert.« Ich hängte auf und rief nach kurzem Nachdenken die ›Blue Duck‹ an. Thomkins war selbst am Apparat. »Der Gegner ist erledigt«, sagte ich. »Von den Marconicars hat niemand mehr etwas zu befürchten.« »Das werden viele Leute mit Vergnügen hören«, sagte er begeistert. »Da wäre aber noch einiges zu erledigen«, fuhr ich fort. »Wären Sie interessiert daran, einen Gefangenen zu übernehmen und ihn der Polizei zu bringen?« »Und ob«, sagte er. »Wir treffen uns also sofort am Hauptkai, dann erkläre ich Ihnen alles.« »Ich bin schon unterwegs«, erwiderte Thomkins. Wenige Minuten später erschien er am Kai. Es war schon dunkel, und die Lichter am Strand spiegelten sich auf dem Wasser. Wir brauchten nicht lange auf den Transportwagen zu warten. Pete steckte seinen kahlen Kopf zum Fenster heraus und begrüßte uns. Er, ich und Thomkins stiegen hinten ein, setzten uns auf ein paar Strohballen, und während wir dahinrollten, erzählte ich ihnen alles, was seit Bills Tod geschehen war. Alles, bis auf meinen Besuch im Marconicar-Büro. Ich verschwieg -231-
auch, wer hinter Claude Thiveridge steckte. Ich wußte nicht was in England auf Anstiftung zum Selbstmord stand, und hatte aus mehreren Gründen beschlossen, niemandem davon zu er zählen. Dem Fahrer hatte ich den Zettel mit den Angaben auf dem Wegweiser gegeben, und unter Benützung der von Pete mitgebrachten Karte gelang es ihm, uns in verhältnismäßig kurzer Zeit an Ort und Stelle zu bringen. Sowohl ›Admiral‹ als auch Corny Blake waren noch an ihren Bäumen festgebunden; den einen führten und den anderen trieben wir in den Wagen. ›Admiral‹ begrüßte uns erfreut, aber Blake hatte offensichtlich Bedenken, vor allem, als er Thomkins erkannte. Es kam heraus, daß Blake dem Feldwebel eins mit der Flasche auf den Kopf gegeben hatte. Grinsend zog ich Blakes Schlagring aus der Tasche und gab ihn Thomkins. »Das Arsenal des Gefangenen«, sagte ich. Thomkins streifte den Schlagring über seine Finger, Blake warf einen entsetzten Blick darauf und fiel in Ohnmacht. »Wir fahren am besten zur Rennbahn, wenn es euch nichts ausmacht«, meinte ich. »Mein Wagen steht dort immer noch auf dem Parkplatz, so hoffe ich wenigstens.« Er war noch da. Ich stieg aus, schüttelte Thomkins und Pete die Hand und sah dem Wagen nach, bis die roten Schlußlichter in der Dunkelheit verschwanden. Dann setzte ich mich in meinen Wagen, mißachtete meine Pflicht – ich hätte zum Polizeirevier nach Brighton zurückkehren müssen – und schlug den Weg nach Hause ein. Von unwiderstehlicher Neugier getrieben, machte ich einen Umweg nach Portsmouth, in der Annahme, daß die Stadtbibliothek noch geöffnet sei. Ich hatte Glück. Ich holte mir einen dicken Lexikonband und schlug unter Chichen Itza nach. Diese Schreibweise entpuppte sich als die richtige. Chichen Itza, stellte ich fest, war kein Kaiser, sondern die alte -232-
Hauptstadt der Mayas, einer indianischen Nation, die vor fünfzehnhundert Jahren in Zentralamerika ihre Blütezeit erlebt hatte. Chichen Itza. Ich erhob mich, klappte das Buch zu, stellte es ins Regal und ging zu meinem Wagen hinaus.
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18 Was ich durch meine Liebe zu Kate nicht erreicht hatte, war mir gelungen, indem ich ihre Welt zerstörte. Sie stand vor mir und starrte mich so haßerfüllt an, daß mir fast übel wurde. Sie war endlich zum Leben erwacht, eine richtige Frau geworden. Die gerichtliche Untersuchung über Leben und Tod des George Penn war zweimal vertagt und eben erst beendet worden; Polizisten, Zeugen, Kate und ich standen in der Eingangshalle des Gerichtsgebäudes von Brighton. Das Urteil, das auf Unzurechnungsfähigkeit lautete, war gnädig. Aber vor den Journalisten hatte sich das Ausmaß von Onkel Georges verbrecherischen Handlungen nicht verbergen lassen. L. C. Perth und die Marconicars waren vierzehn Tage lang Thema aller Sensationsberichte gewesen. Daß ich Onkel George zum Selbstmord getrieben hatte, war für Tante Deb kein Heilmittel gewesen. Man hatte ihr die Wahrheit nicht vorenthalten können, der Schock und die Trauer führten zu Herzattacken, deren letzte sich als tödlich erwies. Aber für Kate war es so immer noch das beste, wenn sie auch nichts davon wußte. Meine Kondolenzbriefe waren jedoch unbeantwortet geblieben, auch telefonisch hatte ich sie nicht erreichen können. Und jetzt sah ich, warum. Sie gab mir die Schuld an all dem Leid, das sie zu ertragen hatte. »Ich hasse dich«, sagte sie. »Du widerst mich an. Du hast dich in unser Haus gedrängt und alles angenommen, was wir dir gaben…« Ich dachte an unsere Küsse, und sie schien es auch zu tun… »Zum Dank dafür hast du einen armen, alten Mann in den Tod gejagt und auch noch eine hilflose, alte Frau auf dem Gewissen. Ich habe keinen Onkel und keine Tante mehr. Ich -234-
habe überhaupt keinen Menschen. Warum hast du das getan? Warum konntest du sie nicht in Ruhe lassen? Warum hast du mein Zuhause zerstört? Du wußtest doch, wie sehr ich sie liebte. Ich kann dich nicht ansehen…« Ich schluckte. »Erinnerst du dich nicht an die Kinder, die man von einem Judoexperten in die Schule bringen lassen mußte, damit ihnen nichts passierte?« Aber Kate wandte sich ab. Sie drängte sich durch die Journalisten und stieg in das wartende Taxi. Der Wagen fuhr davon. Ich starrte ihm wie betäubt nach. Nach einer Weile bemerkte ich, daß Lodge neben mir stand und auf mich einredete. »Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Was meinten Sie?« Lodge seufzte. »Es war nicht wichtig… Hören Sie, sie wird schon wieder zur Vernunft kommen, wenn sie erst wieder normal denken kann.« »Wenn ich gewußt hätte, daß George Penn niemand anders als Claude Thiveridge war, hätte ich alles anders gemacht.« »Für die Penns ist es wohl so am besten«, meinte Lodge. »Ein schnelles Ende hat seine Vorteile.« Er hatte wohl zum größten Teil erraten, welche Rolle ich bei Onkel Georges Tod spielte. »Vielleicht haben Sie recht«, erwiderte ich. Er lächelte und wechselte das Thema. »Die Verhandlung gegen die Marconicar-Chauffeure findet diese Woche statt. Sie werden wohl als Zeuge auftreten, nehme ich an?« »Ja«, sagte ich. Man hatte alle Fahrer festgenommen. »Können wir gehen?« fragte ich Lodge. Er nickte, und wir marschierten zu meinem Wagen. -235-
Ich fahre am schnellsten, wenn ich glücklich bin. An diesem Tag fiel es mir leicht, die Geschwindigkeitsbeschränkung einzuhalten. Lodge ertrug mein düsteres Schweigen lange Zeit. »Miss Ellery-Penn war ihrem Onkel sehr nützlich. Er erfuhr durch sie alles, was Sie unternahmen.« Ich hatte lange mit diesem Gedanken gelebt, aber nun, da ihn ein anderer aussprach, hatte das die erstaunlichste Wirkung. Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken. Ich bremste, fuhr den Wagen an den Straßenrand und hielt. Lodge sah mich fragend an. »Was Sie da eben gesagt haben… Ich muß nachdenken«, erklärte ich. Er schwieg eine Weile und fragte dann: »Worüber zerbrechen Sie sich eigentlich den Kopf? Der Fall ist abgeschlossen. Es gibt keine Geheimnisse mehr.« Ich schüttelte den Kopf. »Da ist noch jemand«, sagte ich. »Was meinen Sie damit?« »Da ist noch jemand, von dem wir nichts wissen. Jemand, der Onkel Georges Vertrauen hatte.« »Ausgeschlossen«, erwiderte Lodge. »Wir haben Fielder, de»Geschäftsführer, und alle Angestellten der Firma L. C. Perth verhaftet, obwohl die meisten wieder freigelassen wurden, weil sie keine Ahnung von den wahren Vorgängen hatten.« »Joe würgte lange Zeit, bevor Onkel George der schönen Kate ›Heavens Above‹ schenkte, Pferde ab, und sie war vorher nie bei einem Rennen gewesen. Eine andere Person, die mit Pferderennen zu tun hat, muß für Onkel George gearbeitet haben«, erklärte ich. »Penn brauchte ja nur die Morgenzeitung und einen Rennalmanach, um sich ein Pferd auszusuchen, das er gestoppt haben wollte. Er brauchte auch bei den Rennen keinen Komplizen, abgesehen von seinem Buchmacher.« -236-
»Onkel George verstand nichts von Pferden«, sagte ich. »Das hat er behauptet«, meinte Lodge skeptisch. »Kate erzählte mir, daß er überhaupt keine Ahnung davon hat te. Er fing die Erpressungen vor vier Jahren und die Rennbetrügereien vor nicht ganz einem Jahr an. Zuvor hatte er keinen Grund, etwas vorzuspiegeln.« »Mag sein«, gab er zurück. »Aber es beweist noch gar nichts.« »Er muß einen Kontaktmann bei den Rennen gehabt haben. Wie wäre er sonst auf den Jockey gekommen, der am leichtesten zu bestechen war?« »Vielleicht versuchte er es bei mehreren, bis er endlich einen fand«, sagte Lodge. »Nein. Man hätte allgemein darüber gesprochen.« »Er versuchte es bei Major Davidson«, warf Lodge ein. »Da scheint mir Ihr angeblicher Berater einen schweren Fehler gemacht zu haben.« »Ja«, gab ich zu. »In letzter Zeit wurden aber ein paar Dinge an Onkel George weitergegeben, von denen selbst Kate nichts wußte. Wie erklären Sie das?« »Was für Dinge?« »Joes Packpapier zum Beispiel. In Liverpool erzählte er allen Leuten im Wiegeraum davon. Kate besuchte dieses Rennen nicht. Aber zwei Tage später wurde Joe auf Onkel Georges Befehl hin umgebracht.« Lodge runzelte die Stirn. »Jemand kann sie am Sonntag angerufen und ihr zufällig davon erzählt haben.« Ich dachte an Dane. »Selbst in diesem Fall war es nicht so interessant für sie, daß sie es Onkel George weitererzählt hätte.« »Das weiß man nie«, erwiderte er. Ich trat auf den Anlasser und fuhr weiter. Ich wollte ihm nicht gerne den wichtigsten Grund für meine Annahme nennen, daß noch ein Gegner -237-
existierte: die Überzeugung, daß ich in der durch die Gehirnerschütterung hervorgerufenen Gedächtnislücke wußte, wer es war. Als ich es schließlich doch erwähnte, nahm er es ernsthafter auf, als ich erwartet hatte. Ein paar Minuten später sagte er nachdenklich: »Vielleicht läßt Ihr Unterbewußtsein nicht zu, daß Sie sich daran erinnern, weil Sie diese Person mögen.«
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19 Die beinahe unerträgliche Erkenntnis, daß ich Kate verloren hatte, vergällte mir jeden Tag. Ich hielt es für unwahrscheinlich, daß ich sie jemals wiedersehen würde, und versuchte, mich so vernünftig wie möglich darauf einzustellen. Vierzehn Tage nach der Gerichtsverhandlung ritt ich in Banbury, und Kate war da. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm und hatte tiefe Schatten um die Augen. Ihr Gesicht war blaß und gefaßt; ihre Miene veränderte sich nicht, als sie mich sah. Sie wartete vor dem Wiegeraum und sprach mich an, als ich näherkam. »Alan, ich glaube, ich muß mich für das entschuldigen, was ich neulich zu dir sagte.« Diese Worte kosteten sie offensichtlich große Mühe. »Es ist schon gut«, sagte ich. »Nein…, eben nicht. Ich habe über deine Worte nachgedacht… und über die Kinder, die mit dem Judoexperten in die Schule fuhren…, und ich begriff, daß man Onkel George das Handwerk legen mußte. Es war nicht deine Schuld, daß Tante Deb sterben mußte. Es tut mir leid, daß ich das behauptet habe.« Sie atmete schwer, als hätte sie eine unangenehme Pflicht erfüllt. »Bist du den weiten Weg hierhergekommen, um mir das zu sagen?« fragte ich. »Ja. Es hat mich sehr bedrückt, daß ich so ungerecht war.« »Liebste Kate«, sagte ich, während die Düsternis der vergangenen Wochen mit einem Schlage verschwand, »ich hätte viel darum gegeben, wenn es nicht Onkel George gewesen wäre, glaub mir das.« Ich sah sie scharf an. »Du siehst hungrig aus. Hast du heute schon etwas gegessen?« -239-
»Nein«, erwiderte sie leise. »Dann wird es aber Zeit«, meinte ich, nahm sie beim Arm und führte sie ins Restaurant. Dort sah ich ihr beim Essen zu. Zuerst ging es sehr langsam, aber bald machte sich ihr Appetit geltend, und ihre Wangen bekamen wieder etwas Farbe. Sie machte sich gerade über die zweite Portion her, als sie in freundlichem Ton sagte: »Könntest du nicht auch etwas essen?« »Ich reite doch.« »Ja, ich habe es in der Zeitung gelesen. ›Forlorn Hope‹, nicht wahr?« »Ja.« »Du bist vorsichtig, nicht wahr? Er springt nicht sehr gut, meint Pete.« Ich starrte sie in freudiger Überraschung an, und sie wurde rot. »Kate!« sagte ich. »Ich dachte, du könntest mir nie verzeihen, daß ich so ekelhaft zu dir war. Ich versuchte mir immer wieder vorzusagen, daß ich dich nie mehr sehen will, aber es hatte keinen Zweck. Ich… nahm nicht an, daß du dich noch einmal melden würdest, nach dem Gesicht zu schließen, das du in Brighton machtest. Ich dachte also, daß ich zu dir kommen müßte, wenn du erfahren solltest, daß es mir leid tut, und dann würde ich ja sehen, wie… du reagierst.« »Was hast du denn erwartet?« »Ich dachte, du würdest kalt und abweisend sein, und ich hätte es dir nicht übelnehmen können.« Sie führte ihre Gabel mit einem übergroßen Happen zum Mund. »Willst du also meine Frau werden, Kate?« fragte ich. Sie sagte mit vollem Mund: »Ja«, und aß weiter. Ich wartete geduldig, während sie noch einen Stoß Biskuits und Käse verzehrte. -240-
»Wann hast du denn zum letztenmal gegessen?« fragte ich, als sie endlich die Serviette weglegte. »Ich weiß nicht mehr.« »Ich möchte dich küssen«, sagte ich. »Für Liebespaare sind die Rennbahnen nicht entworfen worden«, meinte sie. »Wie wär’s mit einem Pferdewagen?« »Wir haben nur zehn Minuten«, erwiderte ich. »Ich starte im zweiten Rennen.« Ohne viel Umstände borgten wir uns Petes Transportwagen. Ich nahm sie in die Arme, und diesmal fielen die Küsse ganz unschwesterlich aus. Die zehn Minuten vergingen wie im Flug, und man würde mit dem Rennen nicht auf uns warten. Kate setzte sich auf eine Bank, und ich betrat den Wiegeraum und zog mich um. Clem gab mir die Decke mit den Zusatzgewichten. Ich sah ihn an und dachte: Du nicht, du nicht. Jemand schlug mir auf die Schulter. »Na, wie geht’s dir denn?« rief Sandy. »Was macht unser Sherlock denn?« »Er hat sich pensionieren lassen«, meinte ich grinsend. »Nein, im Ernst? Nach diesem Erfolg?« »Ich bleibe lieber bei den Pferden, das ist weniger riskant.« »Bewahre dir nur deine Illusionen«, sagte Sandy. »Du wirst, auch noch anders denken, wenn du dir so viele Knochen gebrochen hast wie ich.« Er nahm den Sattel unter den Arm und marschierte zur Waage. Auf der anderen Seite stand Dane, mit dem Rücken zu mir. Er hatte Kate und mich vom Parkplatz zurückkommen sehen. Ein Blick auf unsere strahlenden Gesichter genügte ihm. Er hatte Kate mit zwei kurzen Sätzen beglückwünscht, zu mir aber noch kein Wort gesagt. Ich ging an ihm vorbei und begab mich auf den Sattelplatz. Er folgte mir. Pete trainierte unsere beiden -241-
Pferde, und wir mußten zu ihm. Pete trat mitten ins Fettnäpfchen. »Alan, Kate hat mir schon Bescheid gesagt. Gratuliere.« Dane warf ihm einen finsteren Blick zu, und Pete wechselte hastig das Thema. Er sprach über Danes Pferd, und ich sah mich ein bißchen um. Dort drüben, zehn Meter entfernt, stand Clifford Tudor und hielt seinem neuen Jockey eine Standpauke. In einiger Entfernung überwachte Sir Creswell Stampe, wie sein Sohn David in den Sattel gehoben wurde. Überall standen Pferdebesitzer und Trainer, die ihren Jockeys letzte Anweisungen gaben. So viele Leute, die ich kannte. So viele Leute, die ich mochte. Wer von ihnen war es? Pete half mir beim Aufsteigen, ich winkte Kate zu und trabte zum Start. Dane überholte mich. Als er an mir vorbeikam, fauchte er: »Der Teufel soll dich holen.« Er trieb sein Pferd an, und ich konnte ihm keine Antwort geben. Am Rennen nahmen elf Pferde teil. Wir ritten im Kreis herum, während der Starter die Namen aufrief. Sandy bat um die Erlaubnis, absteigen zu dürfen, damit er seinen Sattel fester binden konnte. Der Starter sah auf die Uhr und nickte ungeduldig. Sandy löste die Gurte, richtete den Sattel gerade und band ihn wieder fest. Ich beobachtete ihn, statt mich auf ›Forlorn Hope‹ zu konzentrieren, so daß ich die Schuld an dem Folgenden selbst trug. Ein Gehilfe hob vor der Nase meines Pferdes die weiße Fahne, durch die den Tribünen angezeigt wurde, daß das Rennen gleich beginnen würde. ›Forlorn Hope‹ erschrak, ging hoch wie ein Zirkuspferd und warf mich ab. Ich fiel auf den Rücken und sah, wie ›Forlorn Hope‹ davonrannte. -242-
Ein paar Sekunden lag ich nach Atem ringend da. Sandy kam mit ausgestreckter Hand zu mir, um mir aufzuhelfen. Er lachte und machte irgendeine dumme Bemerkung. Plötzlich überfiel mich ein merkwürdiges Schwindelgefühl, und ich schien unter Halluzinationen zu leiden. Ich lag in der Sonne und spürte Regen im Gesicht. Obwohl ich unverletzt war, hatte ich plötzlich Schmerzen. Es hatte den Anschein, als seien Gegenwart und Vergangenheit durcheinandergekommen. Ich starrte in Sandys Gesicht. Da war das vertraute, breite Grinsen, da waren die lachenden, braunen Augen mit den rötlichen Wimpern, aber was ich gleichzeitig sah, war dasselbe Gesicht, wie es sich mir im strömenden Regen näherte, mit grausamen Augen und grimmig zusammengekniffenem Mund. Ich hörte eine Stimme sagen: »Neugieriger Hund, vielleicht kümmerst du dich von jetzt an um deine eigenen Angelegenheiten«, und ich riß die Hand hoch, um mein Gesicht vor dem Fußtritt zu schützen, der jetzt kommen mußte… Mein Blick wurde klar, Sandy und ich sahen einander in die Augen, als trügen wir einen Kampf aus. Er ließ seine Hand sinken, und die Gutmütigkeit verschwand aus seinem Gesicht, wie bei einem Schauspieler, wenn er seine Rolle ausgespielt hat und das Stück zu Ende ist. Ich hatte die Hand immer noch auf die Wange gepreßt. Ich ließ sie sinken, aber die Geste hatte eine klare Sprache gesprochen. Mir war wieder eingefallen, was am Hindernis in Bristol geschehen war. Ich stand auf. Der Starter fragte mich verärgert, ob alles in Ordnung sei; ich bejahte und entschuldigte mich für die Verzögerung des Rennens. Jemand hatte ›Forlorn Hope‹ eingefangen, und man führte ihn zurück. Sandy, der es nicht eilig zu haben schien, blieb vor mir stehen. »Du kannst nichts beweisen«, sagte er. »Niemand wird mich mit Penn in Verbindung bringen.« -243-
»Das werden wir ja sehen«, meinte ich. »Warum hast du es getan?« »Um Geld zu verdienen, was dachtest du denn?« sagte er verächtlich. »Warum hast du die Pferde nicht selbst abgewürgt? Warum durfte denn Joe das viele Geld verdienen?« »Ich ließ ein paar Pferde stehen. Die Rennkommission lud mich nach dem zweiten Fall vor, und ich kam gerade noch davon. Ich schlug dem Boss vor, Joe einzusetzen. Sollte der doch seine Lizenz verlieren, sagte ich ihm. Aber ich war jedesmal am Gewinn beteiligt.« »Deswegen warst du so wütend, als er auf ›Bolingbroke‹ gewann.« »Richtig.« »Dann hat dir Joe also nicht im Waschraum erzählt, daß er ›Bolingbroke‹ stehenlassen würde. Du wußtest es schon vorher.« »Sehr schlau von dir«, höhnte Sandy. »Und du hast ihn wohl auch in Plumpton vom Pferd gestoßen?« »Na und? Ich verlor fünfzig Pfund Wetteinsatz und die Prämie vom Boss.« »Und warum mußte er sterben?« fragte ich bitter. Der Mann, der ›Forlorn Hope‹ zurückbrachte, war nur noch hundert Meter entfernt. »Der Idiot konnte ja seinen Mund nicht halten«, fauchte Sandy. »Er wedelte mit dem Packpapier herum und wollte dich unbedingt sprechen. Ich sah, was darauf geschrieben stand, und erzählte es Fielder, das ist alles.« »Und hernach hast du Fielder angerufen und ihm gesagt, daß der Job verpfuscht worden sei und Joe vor seinem Tod mit mir gesprochen habe?« -244-
»Ja«, meinte Sandy mürrisch. »Ich habe ja gehört, wie du es bei allen Leuten im Wiegeraum herumerzählt hast.« »Das war eine Lüge«, erwiderte ich. »Joe starb, ohne ein Wort zusagen.« Er starrte mich mit aufgerissenen Augen an, drehte sich um und bestieg sein Pferd. Ich bedankte mich bei dem Mann, der ›Forlorn Hope‹ zurückgebracht hatte, und stieg ebenfalls auf. Die Geduld des Starters war nun zu Ende. »Aufstellen«, sagte er, und die Pferde wurden ausgerichtet. Ich trieb ›Forlorn Hope‹ an den Platz neben Sandy. Ich hatte noch eine Frage zu stellen. »Warum um Himmels willen hast du Penn vorgeschlagen, es bei Major Davidson zu versuchen? Du mußt doch gewußt haben, daß er niemals mittun würde.« »Auf diese Idee kam der Boss, nicht ich«, knurrte Sandy. »Ich ließ ihn durch Fielder warnen, aber es war nichts zu machen. Auch das mit dem Draht war sein Einfall. Und ich wäre besser dran, wenn du bei dem Sturz draufgegangen wärst«, meinte er giftig. Das Startband schnellte hoch, und das Rennen begann. Ich weiß nicht genau, wann Sandy beschloß, mich aus dem Sattel zu stoßen. Vielleicht dachte er an das viele Geld, vielleicht war es nur aus Wut. Als wir uns der zweiten Hürde näherten, trieb er sein Pferd jedenfalls zu mir herüber. Wir befanden uns in der Gruppe hinter den Spitzenreitern, und ich ritt ganz innen, neben dem Geländer. Ich warf einen Blick auf Sandys Gesicht. Er konzentrierte sich auf den nächsten Sprung, aber sein Pferd kam immer näher heran. Er läßt mir nicht viel Platz, dachte ich. Im letzten Moment erkannte ich, daß er mich so weit hinüberdrängen wollte, daß ich ins Hindernis stürzen mußte. Eine gefährlichere Stelle gab es kaum. -245-
Ich zerrte am Zügel. ›Forlorn Hope‹ fiel zurück, und ich trieb ihn nach rechts. Ich schaffte es gerade noch. Die Hürden tauchten plötzlich vor uns auf, und ›Forlorn Hope‹ stürzte die erste davon mit den Vorderbeinen um. Das Pferd dahinter prallte mit ihm zusammen, und der Jockey rief mir ein Schimpfwort zu. ›Forlorn Hope‹ war zu grün für solche Sachen, und ich mußte außer Sandys Reichweite bleiben, wenn ich das Pferd nicht für immer verängstigen wollte. Aber Sandy gab sich nicht zufrieden. Auf der Geraden vor den Tribünen ließ er sich langsam zurückfallen. Er war ein besserer Jockey als ich und hatte ein erfahreneres Pferd. Wenn ich schneller ritt, holte er auf, und wenn ich das Tempo verlangsamte, fiel er ebenfalls zurück. Ich konnte ihn nicht abschütteln. Vor den Zuschauern blieb er fair, aber hinter der nächsten Kurve waren wir praktisch unter uns. Ich überlegte, ob ich überhaupt aus dem Rennen ausscheiden sollte, aber diesen Sieg wollte ich ihm nicht zugestehen. Als wir geschlossen um die Kurve gingen, versuchte es Sandy von neuem. Er trieb sein Pferd nahe an ›Forlorn Hope‹ heran. Ich wurde gegen Dane gepreßt, der zu meiner Linken ritt. Er warf einen Blick hinüber und brüllte: »Geh weg, Sandy. Laß uns ein bißchen Platz.« Sandy gab keine Antwort. Ich fühlte, wie sein Knie unter meinem Schenkel entlangrutschte, bis es in meiner Kniekehle ruhte. Dann riß er sein Bein nach oben. Mein Fuß glitt aus dem Steigbügel, und ich verlor das Gleichgewicht. Ich fiel nach links und klammerte mich krampfhaft an die Mähne meines Pferdes. Ich wußte, daß ich mich nur noch wenige Sekunden lang halten konnte. Dane rettete mich. Er stemmte die Hand gegen meine linke Seite und hob mich buchstäblich in den Sattel zurück. »Danke«, keuchte ich und tastete mit dem rechten Fuß nach dem Steigbügel. -246-
Nicht weit nach der Kurve kamen die nächsten Hindernisse, und ich bemühte mich, das Pferd zu versammeln. Ich wandte den Kopf nach rechts, aber die Sonne schien mir direkt in die Augen. Eine Sekunde lang war ich geblendet. Dann sah ich, daß Sandy noch neben mir ritt. Mir fiel ein, daß an so schönen Tagen auf dieser Bahn die Zuschauer genau in die Sonne sahen, so daß sie nicht genau zu erkennen vermochten, was hier geschah. Was Sandy auch tat, er durfte damit rechnen, daß man ihm nichts anzukreiden vermochte. Beim nächsten Hindernis gewann ich ein paar Meter gegenüber Sandy und Dane, aber wenige Augenblicke später hatte mich Sandy wieder eingeholt. Plötzlich holte er aus. Er hatte die Reitpeitsche in der Hand und zielte auf mein Gesicht. Ich duckte mich. Der Schlag landete auf meinem Helm und fetzte ihn mir vom Kopf. Der Helm rollte über die ganze Bahn. Sandy holte wieder aus. Ich nahm Peitsche und Zügel in die linke Hand und riß den rechten Arm hoch, als er zuschlug. Mehr durch Zufall bekam ich seine Peitsche zu fassen. Verzweifelt zerrte ich daran. Ich riß ihn halb aus dem Sattel und freute mich schon meines Sieges, aber im letzten Augenblick ließ er die Peitsche los und gewann sein Gleichgewicht wieder. Sein Pferd wurde etwas abgetrieben, und ich sah hoffnungsvoll über die Schulter, aber kein anderes Pferd war in der Nähe. Ich warf Sandys Peitsche auf den Boden. Wir näherten uns der nächsten Hürde. Ich hielt Abstand vom Geländer und versuchte, ›Forlorn Hope‹ auszurichten, aber ich spürte, daß Sandy wieder herankam. Mein Pferd übersprang das Hindernis. Sandy setzte mit gewaltigem Schwung über die Hürde und zog unmittelbar vor mir sein Pferd vorbei. ›Forlorn Hope‹ krachte ins Geländer. Wie durch ein Wunder stürzte er nicht. Er prallte zurück, tau -247-
melte, zögerte, und galoppierte weiter. Mein Bein, das unterhalb des Knies zwischen seinem Leib und dem Geländer eingequetscht worden war, schien völlig gefühllos zu sein. Meine Seidenhose war am Knie aufgerissen, und an meinem teuren, handgefertigten Reitstiefel klaffte ein großer Triangel. Ohne es logisch begründen zu können, wurde ich erst jetzt richtig wütend. Sandy war ein paar Längen voraus und hatte sich bisher noch nicht zurückfallen lassen können. Dane kam auf meiner rechten Seite heran. Ich war heilfroh, ihn zu sehen. Er brüllte: »Was zum Teufel ist denn los? Was macht Sandy denn für blöde Witze?« »Das sind keine Witze«, schrie ich. »Er will mich vom Pferd stoßen.« »Warum?« brüllte Dane. »Er hat für George Penn gearbeitet und sehr viel Geld verdient. Jetzt bekommt er nichts mehr. Er gibt mir die Schuld«, schrie ich zurück. »Nicht ohne Grund«, erwiderte Dane. »Ja«, sagte ich. Ich sah zu ihm hinüber, aber ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, weil mich die Sonne blendete. Wenn ihn seine Niederlage bei Kate wirklich so schwer gekränkt hatte, und er machte da weiter, wo Sandy eben aufgehört hatte, besaß ich keine Chancen mehr. Wir ritten auf das nächste Hindernis zu. Sandy wurde bereits langsamer. Dann sagte Dane: »Alan?« »Ja?« »Wollen wir es Sandy heimzahlen?« »Ja. Und nach dem Rennen rufe ich Lodge an. Wenn mir etwas passieren sollte, mußt du ihm Bescheid sagen.« »Einverstanden«, schrie Dane. »Fangen wir an?« Ich nickte. -248-
»Also los«, rief Dane. Er trieb sein Pferd an und näherte sich Sandy von rechts. Ich hetzte ›Forlorn Hope‹ zur Außenseite. Dane übersprang das nächste Hindernis neben Sandy, während ich nicht weit zurücklag. Als ich die beiden erreicht hatte, beschleunigte Dane sein Tempo, so daß sich Sandy zwischen mir und dem Geländer befand. Ich drängte ›Forlorn Hope‹ scharf nach rechts, und Sandys Pferd prallte gegen das Geländer. Sandy schrie auf und schlug mit der Faust zu. Ich knallte ihm die Peitsche auf den Arm. Ich mußte ihn vom Sattel bringen, ohne sein Pferd zu verletzen. Wir kamen in die Kurve. Ich schob Sandys Pferd noch näher an das Geländer heran. Sandy schrie wieder. Ich streckte die Hand aus und stieß mit aller Kraft zu. Sandy kippte aus dem Sattel und fiel ins hohe Gras auf der anderen Seite des Geländers. Dann erreichte ich die Gerade, erschöpft, keuchend und ohne Helm, aber immer noch im Sattel. Sandys Pferd spurtete an die Spitze. Ich wandte den Kopf nach rechts und sah, wie Sandy mit gesenktem Haupt zur Tribüne humpelte. Dane sah ihn auch, drehte sich im Sattel um, grinste und zeigte mit dem Daumen nach oben.
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