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In den Klauen des Tigers Verrat im Höllental Unternehmen »Grüne Hölle«
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In den Klauen des Tigers Verrat im Höllental Unternehmen »Grüne Hölle«
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Ein Fall für TKKG Jetzt im Internet: www.tkkg.de
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Stefan Wolf
In den Klauen des Tigers Verrat im Höllental Unternehmen »Grüne Hölle« Ein Fall für
TKKG T K K G
wie Tim wie Karl wie Klößchen wie Gaby
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cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House
Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform 2. Auflage © 2004 cbj, München Alle Rechte vorbehalten Umschlagbild und Illustrationen: Reiner Stolte, München Umschlaggestaltung: Atelier Langenfass, Ismaning cl · Herstellung: WM Satz und Reproduktion: Uhl+Massopust, Aalen Druck: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-01307-3 Printed in Germany www.cbj-verlag.de
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TIM heißt eigentlich Peter Carsten. Aber tolle Typen haben auch immer einen Spitznamen. Früher wurde Tim von seinen Freunden Tarzan genannt, doch mit dem will er nicht mehr verglichen werden, nachdem er diesen »halbfertigen Bodybuilder« in einem Film gesehen hat. – Tim ist der Anführer der TKKG-Bande, die so bezeichnet wird nach den Anfangsbuchstaben ihrer Vor- oder Spitznamen. Tim ist 14, aber seinem Alter geistig und körperlich weit voraus. Ein braun gebrannter Athlet, besonders veranlagt für Kampfsport und Volleyball. Seit zwei Jahren wohnt er in der berühmten Internatsschule, ist Schüler der 9b. Sein Vater, ein Ingenieur, kam bei einem Unfall ums Leben. Tims Mutter, eine Buchhalterin, müht sich sehr, um das teure Schulgeld für ihren Sohn aufzubringen. Tim ist der geborene Abenteurer, hasst Ungerechtigkeit, mischt sich ein und riskiert immer wieder Kopf und Kragen.
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KARL, DER COMPUTER sitzt im Unterricht neben Tim, wohnt aber nicht im Internat, sondern bei seinen Eltern in der nahen Großstadt. Karl Viersteins Vater ist Professor für Mathe und Physik an der Universität; und wahrscheinlich von ihm hat Karl das tolle Gedächtnis geerbt – aus dem man alles abrufen kann wie aus einem Computer. Karl ist lang aufgeschossen und sieht magersüchtig aus, weshalb körperlicher Einsatz nicht seine Sache ist. Er kämpft lieber mit geistigen Keulen und fühlt sich bei den TKKG-Aktionen zuständig für technische und wissenschaftliche Probleme. Wenn ihn was aufregt, putzt er sofort die Gläser seiner Nickelbrille – und das manchmal so heftig, dass er alle paar Monate eine neue braucht.
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KLÖSSCHEN wird so genannt, weil er so aussieht; und für sein Aussehen gibt es einen Grund: Willi Sauerlich nascht und nascht und nascht. Schokolade ist für ihn Kraftnahrung, auch wenn er davon immer runder wird. Zusammen mit Tim bewohnt er im Internat die Bude ADLERNEST. Klößchens Vater ist Schokoladenfabrikant, und der Sohnemann versteht sich bestens mit seinen Eltern, die im feinsten Viertel der nahen Großstadt leben. Auch als Fahrschüler könnte Klößchen die Internatsschule besuchen, aber zu Hause in der pompösen Villa hat er sich immer nur gelangweilt; deshalb ist er jetzt hier – und wird von Tim mitgerissen in die vielen haarsträubenden Abenteuer, das Markenzeichen der TKKG-Bande.
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GABY, DIE PFOTE muss sich als einziges Mädchen gegen drei Jungs behaupten. Aber alle Trümpfe sind auf ihrer Seite: goldblondes Haar, blaue Augen mit dunklen Wimpern, Anmut, Intelligenz und wenn nötig eine kesse Lippe. Für Tim ist seine Freundin das schönste Mädchen der Welt, und er fühlt sich als ihr Beschützer – vor allem dann, wenn es gefährlich zugeht: ein sehr häufig wiederkehrender Zustand. Gabriele Glockner wohnt bei ihren Eltern in der Stadt und besucht die 9b der Internatsschule als Fahrschülerin. Gabys Vater ist Kriminalkommissar und ein väterlicher Freund der Jungs. Gabys Mutter – von Tim, Karl und Klößchen hochverehrt – betreibt ein kleines Lebensmittelgeschäft. Gaby liebt Tiere und lässt sich von Hunden gern die Pfote geben, was zu dem Spitznamen PFOTE geführt hat. Oskar, ein schwarz-weißer Cockerspaniel, schläft auf ihrem Bettvorleger.
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Stefan Wolf
In den Klauen des Tigers Ein Fall für
TKKG T K K G
wie Tim wie Karl wie Klößchen wie Gaby
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Inhalt 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
Herrenklub bei Sauerlichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leckerbissen für den Tiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Verbrecher entkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kathie, die Schlafwandlerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Größte Gefahr für die Mädchen . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Lehrer rennt um sein Leben . . . . . . . . . . . . . . . . Von Napur belagert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Geiselnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen zwei Bäumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Zuflucht« bei Plockwinds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Betäubungs-Aktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Narkose-Gewehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Herrenklub bei Sauerlichs Die Juni-Sonne brannte, und die beiden Jungens radelten mit Sack und Pack. Tarzan buckelte seinen halb gefüllten Touren-Rucksack, saß aber aufrecht im Sattel. Klößchen und sein Drahtesel waren in gefährlicher Weise überladen. Ein Koffer, angefüllt mit schmutziger Wäsche, balancierte bedrohlich auf dem Gepäckträger. Ein Tornister, der unter anderem drei Kilo Schokolade enthielt, drückte Klößchen nach vorn. Seine Schweißtropfen sprenkelten die Eichen-Allee. Es war Mittag. Feierliche Stille lag über den parkgroßen Gärten. »Willi, uns muss etwas einfallen«, meinte Tarzan. »Sonst werden das die langweiligsten Pfingstferien des Jahres. Aber uns wird schon was einfallen.« »Ich wünsche mir Ruhe.« »Ruhe ist langweilig. Schade um jeden Tag, den man damit vertut.« Klößchen seufzte. Zu längerer Erwiderung reichte sein Atem nicht. Immerhin: Ihr Ziel rückte näher, die prächtige Villa des Schokoladenfabrikanten Sauerlich, Klößchens Vater. Die Jungs erreichten das Tor, bogen in die Einfahrt und rollten bis zur Garage. Klößchen schaffte die letzten Meter in halsbrecherischer Schräglage. Als er hielt, rutschte der Koffer vom Rad. »Puh!«, machte er. »Das nächste Mal nehme ich ein Taxi. Ist ja eine furchtbare Schinderei vom Internat bis hierher.« »Die paar Kilometerchen.« Tarzan sah auf die Armbanduhr. »Karl wird bald kommen.« »Womit dann der Herrenklub vollständig wäre.« Klößchen grinste. »Und niemand stört uns. Niemand macht uns Vorschriften. Niemand triezt uns. Wir können tun und lassen, was wir wollen. Nicht mal dazu sind wir verpflichtet. Deshalb 11
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wünsche ich uns erst mal schöne Pfingstferien.Vielleicht wird’s doch noch was mit meiner Ruhe.« Tarzan lachte. »Ist schon toll, dass wir das ganze Haus für uns allein haben.« »Bis auf Frau Dessart. Aber die würde erst einschreiten, wenn wir Feuer legen oder Wände herausreißen.« Amalie Dessart war die Köchin. Sie hielt hier die Stellung, während Klößchens Eltern sich über Pfingsten auf einer Kreuzfahrt im Mittelmeer befanden. Gestern waren sie abgereist. Tagelange Auseinandersetzungen hatte es gegeben – zwischen ihnen und ihrem einzigen Sohn. Denn natürlich sollte er mit, und seine Teilnahme war schon gebucht gewesen, ohne sein Wissen. Mit Händen und Füßen hatte er sich gesträubt. Nur weil er schon 13 war, sah er davon ab, sich auf den Boden zu werfen und mit den Fäusten zu trommeln. Er wollte nicht mit, sondern hier bei seinen Freunden bleiben. Schließlich hatte er seinen dicken Kopf durchgesetzt. Sauerlichs reisten allein. Und Klößchen durfte Tarzan und Karl zu sich einladen. Strahlend hatte er das seinen Freunden verkündet und hinzugefügt: »So eine Kreuzfahrt ist wirklich das Letzte. Alles alte Leute, und es wird den ganzen Tag nur gefressen.« Tarzan und Karl hatten eine Weile gebraucht, sich von ihrem Erstaunen zu erholen. Dass Klößchen plötzlich Völlerei verurteilte, war ganz was Neues. Sie stellten die Räder neben die Garage, schleppten das Gepäck zum Eingang. Klößchen klingelte und Frau Dessart öffnete. Sie war rundlich, Kochen ihr Lebensinhalt. Sie liebte starke Esser, weshalb Klößchen und sein Vater mit ihrer Sympathie rechnen konnten. Von Frau Sauerlich, die es jede Woche mit einer anderen Diät hielt, ließ sich das nicht behaupten. »Du bist auch dabei, Tarzan?«, wunderte sie sich, nachdem 12
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sie die Jungs herzlich begrüßt hatte. »Ich dachte, nur Karl kommt und du wärst während der Ferien zu deiner Mutter gefahren.« »Das ging leider nicht«, erklärte er. »Meine Mutter ist für ihre Firma geschäftlich unterwegs. Auf der Internationalen Messe in Barcelona. Ausgerechnet jetzt! Ist blöd. Aber was soll man machen! Sie muss arbeiten, schließlich braucht sie das Geld, das sie dabei verdient, nicht zuletzt dafür, um das Internat für mich bezahlen zu können. Dass ich zu Hause allein rumhocke, bringt ja nichts. Da bleibe ich schon lieber im Internat. Na, und dass Willi mich wieder eingeladen hat, ist natürlich spitze.« »Freut mich, dass du hier bist. Und wie ist es mit Gaby? Soll ich für sie das Gästezimmer herrichten?« »Gaby kommt nicht. Sie ist mit ihrem Schwimmverein im Zeltlager.« »Aber nur mit den Mädchen«, ergänzte Klößchen. »Wird euch fehlen, wie?« Amalie Dessart lächelte. »Ach«, meinte Klößchen, »es ist auch mal ganz schön ohne Wei…« An der Stelle fing er Tarzans Blick auf und verbesserte sich: »…äh… wei… weitere Verpflichtungen. Aber Pfote vermissen wir natürlich sehr.« »Vielleicht besuchen wir sie«, sagte Tarzan. »Das Zeltlager ist bei den Singenden Felsen.« »Kenne ich nicht.« Amalie schüttelte den Kopf. »So wird eine Felsgruppe genannt. Steht mitten im Wald. Am Rande des Naturschutzparks, glaube ich. Sind nur 25 Kilometer bis dorthin.« »Nur?«, ächzte Klößchen, der wieder eine fürchterliche Anstrengung auf sich zukommen sah. Denn die Forststraße zu den Singenden Felsen durfte von der Allgemeinheit nur mit dem Rad befahren werden. Amalie lachte.Tarzan knuffte seinen dicken Freund. Dann schleppten sie ihre Siebensachen in Klößchens Zimmer hi13
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nauf. Ein zweites Bett war aufgeschlagen. Für Karl. Amalie hatte ja nur mit ihm gerechnet. Aber Platz für Bett Nr. drei war genügend vorhanden. Die Jungs holten es aus dem Gästezimmer. »Hah!«, sagte Tarzan. »Jetzt weiß ich, was wir tun.« »Erst mal auspacken, ja?« Klößchen ließ nichts unversucht, um Tarzans Tatendurst zu bremsen. Aber der braun gebrannte Anführer der TKKG-Bande schüttelte den Kopf. »Mich interessiert, was aus den Zirkustieren wird, Willi. Darum sollten wir uns kümmern.« Klößchen legte trichterförmig eine Hand hinter sein rechtes, beträchtlich abstehendes Ohr. »Ich verstehe immer Zirkustiere.« »Du verstehst richtig.« »Aha! Jetzt bin ich klüger.« »Gib nicht so an.« Tarzan grinste, wurde dann ernst und erklärte. »Es stand in der Zeitung. Ein kleiner Zirkus, ein Familienunternehmen, ist Pleite gegangen. Aus wirtschaftlicher Not musste er sich auflösen. Die wenigen Artisten, die nicht zur Familie Zeisig – ja, Zeisig – gehören, haben schon das Weite gesucht, denn das Nahe sieht trostlos aus.« »Zirkus Zeisig?« Klößchen setzte sich aufs Bett. »Hört sich an wie eine Vogelschau.« »Das Unternehmen hieß Zirkus Belloni. So was klingt gemäßer. Die Familie Zeisig war der Inhaber. Aber nur ein Dutzend Tiere ist übrig geblieben. Der hiesige Tierschutzverein – so stand es in der Zeitung – hat sich ihrer angenommen. Damit sie in einen halbwegs brauchbaren Stall kommen, wurde ihnen ein verlassenes Bauerngehöft zugewiesen. Draußen vor der Stadt im Heinrichstal, wo…« »Kenne ich«, unterbrach Klößchen. »Das Heinrichstal ist gar kein Tal, sondern flach wie ein Blechkuchen. Dahinter beginnt das Waldgebiet. Gibt da eine Menge Himbeersträu14
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cher, im Heinrichstal – meine ich. Haben denn die Viecher was zu futtern?« »Bestimmt. Dass der Tierschutzverein was locker macht, ist doch klar. Wer sonst wäre so selbstlos, wenn es um unsere Schöpfungskameraden geht? Aber ich könnte mir vorstellen, da sind auch private Spenden willkommen. Es sollen Raubtiere dabei sein. Und die fressen viel Fleisch.« Klößchen fletschte die Zähne und ließ das Grollen eines hungrigen Löwen vernehmen. »Hunger tut weh. Das weiß keiner besser als ich. Die armen Löwen. Du meinst, wir sollten was spenden, wie?« »Das meine ich. Vorschlag: Sobald Karl da ist, fahren wir hin.« Klößchen nickte. »Für die hungrigen Löwen verzichte ich auf meine Ruhe. Was spenden wir denn? Ein Pfund Aufschnitt?« »Warum nicht eine Curry-Wurst und eine Tüte Pommes frites?« »Du meinst, Aufschnitt ist nicht das Richtige?« »Nicht wenn du pfundweise spendest. Was so ein Löwe vertilgt – dagegen bist du ein bescheidener Esser.« »Hm. Stimmt eigentlich. Nur wenn’s um Schokolade geht – da schlage ich zu wie ein Rudel verhungerter Wölfe. Wir könnten…« Das Weitere blieb ungesagt, denn unten ertönte die Türglocke. Das musste Karl sein. Er war’s auch, stand – als sie öffneten – mit einem geschulterten Campingbeutel vor der Tür und grinste über sein Windhundgesicht. »Wir überlegen gerade, wie viel Aufschnitt wir spenden«, sagte Klößchen. »Was ist?« Karl rückte an seiner Nickelbrille. Dann entdeckte er Amalie, die aus der Küche blickte, und begrüßte sie. 15
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»Ihr wollt Aufschnitt zum Abendbrot?«, erkundigte sich die Köchin. Immerhin hatte sie das Wort aufgeschnappt. »So weit haben wir noch gar nicht gedacht«, lachte Tarzan. Für sie und Karl wiederholte er, worum es ging. Amalie machte ein bestürztes Gesicht. Sie war sehr tierlieb. Viel hätte nicht gefehlt und Tränen wären über ihre Pausbacken gekullert – bei dem Gedanken an hungernde Zirkustiere. Doch plötzlich hellte sich ihre Miene auf. »Ja, Jungs, da wüsste ich was. Für Pfingsten hatte ich eigentlich – für uns alle – jedenfalls habe ich ein ganzes Spanferkel eingekauft. Es liegt in der Tiefkühltruhe. Wenn wir auf den Braten verzichten, wäre das doch eine herrliche Spende. Der Löwe, der das erhält, wird sich hinterher die Tatzen lecken.« »Eine tolle Idee!« Tarzan schlug die Hände zusammen. »Ich verzichte auf Spanferkel und möchte nur Gemüse.« »Ich auch«, gab Karl seine Stimme ab. Klößchen schien nicht so glücklich zu sein. Er schluckte zwei Mal. Die Vision (Erscheinung) eines bruzzelnden Spanferkels sammelte ihm die Spucke im Mund. Wenigstens eine dicke Scheibe hätte er den Raubtieren gern vorenthalten. »Also gut«, nickte er. »Dann wird das eben ein etwas mageres Pfingsten – diesmal. Gott sei Dank, habe ich immer noch meine Schokolade.«
* Sie radelten seit einer halben Stunde. Die Großstadt lag hinter ihnen. Eine schmale Straße, auf der Schlamm in der Sonne trocknete, führte an Feldern vorbei in Richtung Heinrichstal. Tarzan sah zu dem blaugrünen Strich am Horizont. Das war der Waldrand. Mehrere Straßen führten hinein – in den so genannten Großen Wald. Über sechzig Kilometer dehnte er sich nach Westen aus und fast mit gleicher Länge von Nord 16
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nach Süd. Teil des Großen Waldes war der Naturschutzpark, wo es so ursprünglich zuging wie vor Jahrhunderten. …und bei den Singenden Felsen, dachte Tarzan, ist das Zeltlager der Mädchen – mit Gaby. Wir müssen unbedingt hin. Egal ob wir willkommen sind. Können uns ja nützlich machen, wenn wir ihnen Holz spalten oder zeigen, wie man ein Zelt richtig aufbaut. Jedenfalls wäre es doof, wenn wir Gaby eine Woche nicht sehen. Aber auf die Nase binden werde ich das keinem. Karl fuhr hinter ihm. Als hätte er seine Gedanken gelesen, fragte er: »Wie viele Mädchen sind eigentlich im Zeltlager?« »Zwölf. Und die beiden Trainerinnen vom Schwimmklub.« »Macht 14 linke Hände«, lachte Karl. »Ob die wohl ein Zelt richtig aufstellen können?« Himmel!, dachte Tarzan. Habe ich etwa laut gedacht und vor mich hin gemurmelt? »Die Pauker sind auch im Wald«, rief Klößchen aus dritter Position. »Nicht alle«, sagte Tarzan. »Soviel ich weiß, nur die jüngeren. Man könnte sagen, die netten.« »Ist wohl der Versuch«, meinte Karl, »unter Kollegen so was wie eine Gemeinschaft herzustellen.« Hoffentlich klappt es, dachte Tarzan. Was zu den jüngeren Schülern der großen Internatsschule durchgedrungen war, betraf die so genannte Wald-Party der Pauker. Über Pfingsten fand die statt. Assessor Keup, auch Wolfi genannt, gehörte – wie man wusste – eine angeblich schöne Blockhütte. Irgendwo im Großen Wald. Geerbt hatte er die, und bei schönem Wetter verbrachte er dort manches Wochenende. Jetzt, über Pfingsten, hatte er ein Dutzend Kollegen und Kolleginnen dorthin eingeladen. Sie wollten grillen, die Natur fernab von Großstadt und Internat genießen, sich von Mücken piesacken und von der Sonne ansengen las17
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sen. Natürlich hatten sie auch ein großes Fass Bier mitgenommen. »Wenn wir Gaby besuchen«, sagte Tarzan, »könnten wir auch nach den Steißtrommlern sehen.« »Ich glaube«, meinte Karl ironisch, »die werden ganz verrückt vor Freude.« »Die sind genauso froh, dass sie uns nicht sehen«, merkte Klößchen an, »wie wir froh sind, dass wir sie nicht sehen, Tarzan! Das Ferkel rutscht!« Tarzan hielt an und schob es zurecht. Umhüllt von einer Frischhaltetüte wurde es auf seinem Gepäckträger transportiert. Das tiefgefrorene Fleisch war schon etwas angetaut. Klößchen hatte eine Tüte mit fünf Kilo Mohrrüben auf dem Gepäckträger. Die waren allerdings nicht für die Löwen bestimmt. Die Jungen fuhren weiter. Ein gerölliger Weg zweigte von der Straße ab. Hinter einem flachen Hügelkamm erhoben sich die Dächer des ehemaligen Heinrichstal-Gehöfts. Die Gebäude verwahrlosten, wie die drei Freunde beim Näherkommen sahen. Der letzte Frühjahrssturm hatte einen Teil der Dächer abgedeckt. Viele Fensterscheiben waren zerbrochen. Die Ställe standen etwas abseits. Zwischen Wohnhaus und Scheune parkten zwei Autos. Stille herrschte. Es war früher Nachmittag. Die Sonne stand hoch. Es war heiß. Tarzan fiel auf, dass weit und breit kein Vogel sang. Nicht mal Feldlerchen waren zu sehen. Ein scharfer, durchdringender Geruch lag in der Luft. Als sie langsam näher fuhren, war nichts zu hören als das Knirschen der Reifen im Sand und Klößchens japsender Atem. »Richtig gespenstig!«, sagte Karl. 18
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Auch Klößchen empfand das so. Aber dann wandte sein Sinn sich Praktischem zu. »Fehlte nur«, meinte er, »die Viecher sind längst weg. Dann aber nichts wie zurück. Damit wir das Spanferkel…« Weiter kam er nicht. Eine Stimme wie aus einer anderen Welt fegte die Stille weg: ein zorniges, röhrendes, durch Mark und Knorpel dringendes Brüllen. Es hallte noch in den Ohren, als das Raubtier längst alle Luft aus seinem mächtigen Brustkorb gestoßen hatte und wieder schwieg. Klößchen wäre fast vom Rad gefallen. »Hoffentlich ist der Löwe im Käfig«, flüsterte er schreckensbleich. »Ich glaube, das war kein Löwe«, meinte Tarzan, nicht minder beeindruckt. »So brüllt nur ein Königstiger.« »Stimmt!«, nickte Karl. »Habe ich im Zoo gehört.« »Ist doch völlig wurscht!«, rief Klößchen. »Da beißt der eine wie der andere. Wir müssen vorsichtig sein.« »Nun beruhige dich mal«, lachte Tarzan. »Das Kätzchen ist bestimmt hinter Gittern. Was denn auch sonst! Ein Königstiger frei herumlaufend – das wäre nicht auszudenken. Das Gebrüll kam aus dem Stall. Sicherlich sind dort die Raubtierkäfige untergebracht.« Sie hatten jetzt die Scheune erreicht und hielten an. Tarzan wollte nach dem Spanferkel greifen. Aber eine Bewegung lenkte ihn ab. Im Schatten hinter dem halb geöffneten Scheunentor stand jemand. Tarzan wandte den Kopf. Es war ein Mann. Er hatte die Beine gespreizt, um fester zu stehen, schwankte etwas und hielt den Kopf schief. Die linke Hand umklammerte eine Flasche, die noch halb gefüllt war mit bernsteinfarbener Flüssigkeit – Schnaps, offenbar. »Guten Tag!«, sagte Tarzan. »Sind Sie der Zirkusdirektor Zeisig?« »Häh?« 19
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Der Mann kam zwei Schritte heran, stützte sich dann gegen den Torpfosten. Total betrunken, stellte Tarzan fest. Mit so einem als Direktor hatte der Zirkus natürlich keine Chance. Oder betrinkt der Kerl sich aus Kummer? Er war groß, der Mann, und in jungen Jahren sicherlich imponierend gewesen. Jetzt hatte er sich in ein verschwommenes Abziehbild seiner selbst verwandelt: ausgemergelt, müde, schlaff. Schwarzes Haar hing strähnig über die Ohren. Furchen gruben sich in das Gesicht. Unter den schwarzen Augen quollen Tränensäcke. Die große Nase war rot geädert, womit eine gewisse Sorte von Trinkern sich der Umwelt verrät. Ein schwarzer Mongolenbart umrahmte das eckige Kinn. Gekleidet war er nachlässig. Er roch nach Stall und nach Schnaps. »Ich fragte, ob Sie Direktor Zeisig sind«, sagte Tarzan geduldig. »Was? Ich?«, schnappte der Betrunkene. »Sehe ich denn aus wie der Alte?« Mit dem ist nichts anzufangen, dachte Tarzan. Aber wenn der hier die Aufsicht hat, dann – Himmel! – wäre Willis Befürchtung wegen der Raubtiere gar nicht so abwegig. Betrunken wie der ist, vergisst er doch glatt, die Käfige zu schließen und… Sein Gedankenfluss wurde unterbrochen. Vom Wohnhaus her rief jemand: »Hallo, ihr da!«
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2. Leckerbissen für den Tiger Das könnte Zeisig sein. Tarzan hatte sich umgedreht. Ein schmächtiger, zart aussehender Mann war aus dem Bauernhaus getreten. Er mochte älter sein als der Betrunkene, wirkte aber nicht halb so verbraucht. Sorgen hatten das sensible (feinfühlig) Gesicht geprägt. Es war glatt rasiert, sein Haar grau, die Miene freundlich. Auf die schmalen Schultern schienen unsichtbare Zentnerlasten zu drücken. Tarzan hörte, wie der Betrunkene hinter ihm ausspuckte, schob dann sein Rad zu dem Schmächtigen hinüber, gefolgt von seinen Freunden. »Guten Tag. Wir wollen zu Direktor Zeisig.« »Das bin ich.« Tarzan stellte sich und seine Freunde vor. »Wir wissen aus der Zeitung, wie es dem Zirkus Belloni ergangen ist, Herr Zeisig, und dachten uns… Nun, wir verfügen über keine großen Mittel, haben aber eine kleine Futterspende mitgebracht. Fünf Kilo frische Möhren und für die Raubtiere ein ganzes Spanferkel.« Zeisig lächelte. Dann gab er jedem die Hand. »Das ist nett von euch. Die Spende nehme ich gern an.« »Ein ganzes Spanferkel. So was Tolles hat Napur noch nie gefressen. Da wird er bestimmt zum Feinschmecker. Was die Raubtiere betrifft, Jungs, da macht ihr euch leider falsche Vorstellungen. Der Zirkus Belloni hat nur ein einziges gehabt: einen prächtigen Königstiger. Napur. Vor Jahren gab’s auch noch eine Tigerin. Aber die starb an Altersschwäche. Napur ist in der Blüte seiner Jahre. Eigentlich ein Jammer, dass er nun im Zoo endet.« »Im Zoo?«, fragte Tarzan. Zeisig nickte. Er sah an den Jungen vorbei zur Scheune. Besorgnis schien in seinen Augen aufzuflackern, als er den Betrunkenen beobachtete. 21
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»Aber wollt ihr nicht reinkommen«, sagte er gastfreundlich. »Ihr seht erhitzt aus. Ich habe Cola für euch.« Gern nahmen sie die Einladung an. Doch Tarzan entging nicht, dass Zeisig damit noch etwas anderes beabsichtigte: Offenbar sollte der Betrunkene nicht mithören. Sie stellten ihre Tretmühlen an die Hauswand. Tarzan nahm das noch gut gekühlte Spanferkel unter den Arm. Klößchen brachte die Mohrrüben. Zeisig führte seinen Besuch in einen Raum mit niedriger Decke. Der Versuch, ihn wohnlich einzurichten, war gescheitert. Immerhin gab’s einen Tisch, wacklige Stühle, Regale, wo einige Lebensmittel lagerten, und ein Feldbett. Zeisig schenkte Cola für alle ein, wog das Spanferkel in den Händen, schätzte es auf mindestens 30 Pfund Gewicht und bedankte sich herzlich. Mit schmerzlichem Lächeln sagte er: »Als Zirkusdirektor bin ich am Ende meiner Karriere angelangt – nach immerhin 26 Jahren.Aber die Umstände haben sich verschworen gegen Familienunternehmen unserer Art. Die Zeit ist nicht mehr danach. Nur ein ganz großer Zirkus mit wirklichen Sensationen und Attraktionen (Zugnummer) kann überleben. Zu uns kommt man im Zeitalter des Fernsehens nicht mehr. Kein Publikum, keine Einnahmen – und das Ende sieht aus wie hier.« »Tut uns leid«, sagte Tarzan. »In der Zeitung war nur ganz allgemein von Ihren Tieren die Rede. Wie viele haben Sie? Und was wird aus ihnen?« »Übrig geblieben sind sechs Ponys, vier Schimpansen, ein Lama, ein Dromedar und Napur, der Tiger. Für alle ist – Gott sei Dank! – gesorgt. Der hiesige Zoo übernimmt sie, kauft sie uns sogar ab. Morgen werden die Tiere abgeholt.Alle. Es wird mir ins Herz schneiden.Aber ich kann nichts mehr für sie tun.« »Unser Zoo«, sagte Karl, »gilt in der ganzen Welt als vorbildlich. Ihre Tiere werden es gut haben.« 22
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Zeisig nickte. Tarzan hatte es auf der Zunge, danach zu fragen, was aus der Zirkusfamilie werde. Aber das war wohl doch etwas indiskret (taktlos) und er getraute sich nicht. Doch Zeisig gehörte zu jenen vertrauensseligen Menschen, die keinen Argwohn kennen und immer das Herz auf der Zunge haben. Er hielt es für selbstverständlich, seinen jungen Zuhörern die persönlichsten Dinge zu erzählen. Dass er eine tüchtige Frau und drei Kinder habe. Dass die Kinder volljährig seien und die Familie in der Stadt eine Wohnung gefunden hätte. Man wolle hier bleiben, endlich sesshaft werden. Das wäre zwar eine große Umstellung, aber für die Kinder das Beste. »Robert und Nino, meine Söhne«, erklärte er, »haben Arbeit gefunden. Im Zoo. Als Tierpfleger. Davon, weiß Gott, verstehen sie was. Ich weiß, sie werden ihre Arbeit gut machen. Meine Frau arbeitet seit voriger Woche in einem Büro. Leni, meine Tochter, will Kinderschwester werden und bemüht sich um einen Ausbildungsplatz. Ich musste bislang noch hier bleiben, um auf die Tiere zu achten. Aber«, er lächelte, »demnächst übernehme ich eine Handelsvertretung. Für Tierfutter. Für Hunde- und Katzenfutter. Ihr seht, der Schuster bleibt zumindest in der Nähe seiner Leisten.« »Ob wohl auch Spanferkel zu Ihrem Sortiment (Warenauswahl) gehören werden?«, scherzte Tarzan. »Bestimmt nicht«, lachte Zeisig. »Und der… äh… Herr da?« Tarzan wies mit dem Daumen über die Schulter zum Fenster. »Ist auch seine Zukunft schon gesichert?« Ein Schatten schien sich über Zeisigs Gesicht zu legen. »Das ist Carlo Tomasino«, sagte er. »Er heißt tatsächlich so. Er ist Dompteur. Früher war er eine Weltsensation. Dann…hm… jedenfalls, es ging abwärts mit ihm. Und vor drei Jahren kam er zu mir. Napur gehört ihm.« 23
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»Ach.« Tarzan wunderte sich. »Und er willigt ein, dass der Tiger in den Zoo kommt? Was ja gut ist«, fügte er rasch hinzu. »Er… also, Carlo kann nichts mehr bestimmen. Er ist sozusagen entmündigt.« »Deshalb?« Tarzan machte eine Bewegung, als trinke er aus einer Flasche. Zeisig nickte. »Carlo ist Alkoholiker,Trinker, nur noch selten nüchtern. Seine Karriere endet in einer Entziehungsanstalt. Auch für ihn ist heute der letzte Tag, wo er tun und lassen kann, wie er’s sich denkt. Ich hoffe, er ist noch zu retten. Denn wenn er so weitermacht, gebe ich ihm nicht mehr lange. Nicht nur dass er sich selbst zerrüttet – er ist auch eine Gefahr für seine Umwelt.« »Wieso?« »Er ist gefährlich. Gewalttätig. Er bildet sich ein, alle wären gegen ihn.« »Schlimm.« »Der Alkohol hat sein Gehirn kaputt gemacht. Er leidet unter Wahnvorstellungen. Er sieht Dinge, die überhaupt nicht existieren.« »Wir«, sagte Tarzan, »lehnen Alkohol ab.Wir rauchen auch nicht.« »Aber ich esse Schokolade«, meldete Klößchen sich zu Wort. »Manchmal etwas zu viel. Deshalb hacken alle auf mir rum. Wahnvorstellungen hatte ich allerdings noch nie, obwohl ja Schokolade als Genussmittel gilt.« »Aber sie ist keine Droge«, lächelte Zeisig. Dann hob er lauschend den Kopf. Auch die Jungs hörten, dass ein Auto sich näherte. Nach dem Säuseln des Motors zu urteilen, handelte es sich um eine Chaussee-Wanze kleinsten Formats. »Meine Tochter Leni«, sagte Zeisig. »Sie hängt so an den Tieren, dass sie jeden Tag herkommt. Besonders der Ab24
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schied von ihrem Lieblingspony wird schwer fallen. Ich glaube, sie wird Stammgast im Zoo werden.« Die Jungs wandten sich zum Fenster. Aber der Wagen war schon hinter der Scheune verschwunden, das Motorengeräusch verstummt. »Zeigen Sie uns die Tiere?«, fragte Tarzan. »Selbstverständlich. Gern.« »Napur ist doch… im Käfig?«, erkundigte sich Klößchen. »Dort ist er immer«, nickte Zeisig. »Sein Leben hat sich in seinem fahrbaren Käfig abgespielt. Oder im Käfig der Manege.Was anderes kennt er gar nicht. Den Manegenkäfig, das Zelt, die Wohnwagen – das ist alles verkauft. Damit hat sich Napurs Lebensraum noch mehr eingeengt. Aber ab morgen wird das besser – wenn er sich im Freigehege des Zoos tummeln kann.« Er sah zur Uhr. »Es ist zwar noch etwas früh. Aber euch zuliebe verlege ich die Fütterung vor. Wollen wir doch mal sehen, wie ihm das Spanferkel schmeckt.« Als sie hinausgingen, sagte Tarzan: »Ist es Carlo eigentlich recht, dass er in die Entziehungsanstalt kommt?« »Nein. Leider nicht. Er rebelliert (sich auflehnen) dagegen. Er ist uneinsichtig. Er begreift nicht, dass es zu seinem Besten geschieht und – vielleicht – seine einzige Rettung ist.« Umso erstaunlicher, dachte Tarzan, dass er nicht die Kurve kratzt. Wer würde sich denn ein Bein ausreißen, um ihn zu finden? Niemand. Weshalb bleibt er dann? Wegen Napur? Hängt er an seinem Tiger? Will er bis zur letzten Minute mit ihm zusammenbleiben? Traurig, traurig! Ist ein abstoßender Kerl, dieser Carlo. Trotzdem tut er mir leid. Der Platz vor dem Wohnhaus brütete in der Sonne. Sie gingen zu den Ställen. Tarzan trug das Spanferkel, das sich nicht mehr tiefgefroren, sondern mundgerecht anfühlte – jedenfalls für ein Raubtier mit unempfindlichen Zähnen. 25
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Klößchen hatte die Mohrrüben, mit denen er die Ponys füttern wollte. Carlo war nicht zu sehen. Neben den beiden Autos stand jetzt ein drittes – ein ältlicher Kleinwagen, an dem der Rost herzhaft nagte. Zeisig führte die Jungs in den großen Stall. Vormals hatten hier Kühe wiedergekäut. Jetzt machten sich hübsche Ponys über Heu und Hafer her. Klößchen ergänzte ihre Nahrung mit Mohrrüben. Nebenan standen das Lama und das Dromedar. Sie glotzten recht einfältig. »Die Schimpansen kann ich euch leider nicht zeigen«, sagte Zeisig. »Die sind in einem Tierheim untergebracht.« Er führte die Jungs wieder ins Freie und ging auf das zweite Stallgebäude zu. Die Tür stand offen. Der durchdringende Geruch, den sie vorhin schon gespürt hatten, wehte ihnen entgegen: Ausdünstung des Tigers. Sein Käfig – lang wie ein mittlerer Campingwagen, aber schmäler – stand im Halbdunkel. Die stabilen Gitterstäbe glänzten wie poliert. Stroh raschelte. Es handelte sich um einen Käfigwagen, den man – sobald der Zirkus weiterzog – an ein Fahrzeug angehängt hatte. Freilich wurden dann die Gitterwände ringsum mit hölzernen Jalousien abgedeckt. Sonst hätte Napur beim Anblick der anderen Verkehrsteilnehmer getobt. Und diese wiederum wären durch ihn irritiert (verunsichert) gewesen. Grüngelbe Augen schillerten aus dem Halbdunkel. Ein mächtiger Schädel, dunkel gestromt, presste sich an die Stäbe. Gewaltige Tatzen stemmten sich auf den Holzboden und scharrten im Stroh. Der lange Schweif peitschte. »Nicht zu nah rangehen!«, warnte Zeisig. »Wenn er blitzschnell durchs Gitter langt, ist der Prankenhieb tödlich.« »Ein herrliches Tier!«, sagte Tarzan. »Und riesenhaft. Ich wusste gar nicht, dass Tiger so groß werden können. Die im Zoo sind kleiner.« 26
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»Da hast du recht!«, nickte Zeisig. »Napur ist ein besonders schönes Exemplar. Wir haben ihn lange nicht gewogen. Aber er ist schon ein gewaltiger Kerl.« »Trotzdem wirkt er geschmeidig«, meinte Karl. »Er hat mächtige Muskeln unter dem Fell.« Die Grundfarbe war gelbbraun, aber schwarze Streifen zogen sich vom Kopf bis zur Schwanzspitze. »Jetzt geben wir ihm das Spanferkel«, sagte Zeisig. Er griff nach einer Eisenstange, die sich vorn gabelte, und spießte das – von seiner Frischhaltehülle befreite – Spanferkel auf. Napur ließ ein erwartungsvolles Knurren hören. Es klang ein bisschen erstaunt. Auch ohne Uhr schien er zu wissen, dass noch nicht Fütterungszeit war. Aber seine phosphoreszierenden (im Dunkel nachleuchten) Augen ließen keinen Blick von dem Leckerbissen. »Wer will’s ihm servieren?«, fragte Zeisig. »Danke, nein!«, lehnte Klößchen ab. »Napur bringt es fertig und zieht mich an der Eisenstange durchs Gitter – wenn ich nicht rechtzeitig loslasse.« Auch Karl verzichtete. Tarzan hatte sich zurückgehalten. Aber jetzt nahm er die Eisenstange. Unter dem Gitter war an einer Stelle genügend Abstand zum Käfigboden, um dem Tiger Fleischbrocken durchzuschieben. Er schien hungrig zu sein, bäumte sich plötzlich auf, sprang zur Futterluke und schlug wild mit den Pranken. Ein heiseres Geifern drang aus dem aufgerissenen Rachen. Mächtige Fangzähne schimmerten. Eine kalte Gänsehaut überzog Tarzans Rücken, als er das Spanferkel mit der Eisenstange durch den Gitterspalt zwängte. Mit einer Tatze riss Napur es weg.Als wäre es Beute, schlug er die Zähne hinein. Knochen krachten. Dann hörte man ihn schmatzen und schlingen. Im Handumdrehen war nichts mehr übrig. 27
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»Ich glaube, zum Raubtierdompteur wäre ich nicht geeignet«, ließ Klößchen sich kleinlaut vernehmen. »Selbst jetzt ist es beängstigend, ihm zuzusehen. Herr Tomasino hat Mut.« »Er hat Napur als winziges Kätzchen bekommen und buchstäblich mit der Flasche großgezogen«, erklärte Zeisig. Sie beobachteten Napur noch einen Moment und verließen dann den Stall. Zeisig wollte die Jungs mit seiner Tochter bekannt machen. »Leni ist sicherlich in der Scheune«, meinte er, »um für die Ponys Hafer abzufüllen.« Fliegen schwirrten. Klößchen wischte sich Schweiß von der Stirn. Verstohlen holte er ein Stück halb aufgeweichter Schokolade aus der Tasche und schob es sich rasch in den Mund. Karl polierte nachdenklich seine Brillengläser. Sein vergeistigter Blick schien nach innen gerichtet – auf sein Computergedächtnis, wo sicherlich viel Wissenswertes über Tiger gespeichert war. Hoffentlich verschont er uns damit, dachte Tarzan amüsiert. Das hat Zeit bis zum Heimweg. Dann kann er meinetwegen loslegen. Jetzt bin ich erst mal gespannt auf Fräulein Leni. Gäbe es den Zirkus Belloni noch, wäre sie immerhin eine Zirkusprinzessin. Sie näherten sich der Scheune, kamen an den Autos vorbei, und Zeisig sagte gerade, dass der Mercedes Tomasino gehöre und der Chevrolet ihm selbst. In diesem Moment hörten sie den Schrei. Eine Frauenstimme schrie. Es kam aus der Scheune. »…Hilfe!… Um Himmels willen! Er…« Das andere erstickte. »Leni!«, brüllte Zeisig. Er sprang vorwärts. Gefolgt von den Jungs, rannte er zum Eingang der Scheune. 28
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Durchzwängen mussten sie sich. Bis auf einen schmalen Spalt war das Tor jetzt geschlossen. Tarzan war hinter Zeisig der Zweite, und er sah gerade noch, was sich abspielte. Tomasino drehte durch. Blut drängte in sein verwüstetes Gesicht. Tomatenrot war es und aufgeblasen wie ein Ballon. Mit beiden Armen hielt er ein Mädchen umklammert. Leni mochte 18 oder 19 sein. Langes dunkles Haar floss ihr über die Schultern. Sie war zart, etwas sommersprossig und auf grazile Weise hübsch. Dass Tomasino sie küssen wollte – und zwar mit Gewalt, war offensichtlich. Um sie am Schreien zu hindern, presste er ihren Mund auf seine Schulter. Aber jetzt bemerkte er die Störung, ließ Leni los und wandte sich Zeisig zu. Trotz seiner Trunkenheit bewegte sich der Dompteur sicher und schnell. Zeisigs Faustschlag wehrte er ab. Dann traf Tomasino den Zirkusdirektor hart im Gesicht. Zeisig stürzte zu Boden. Tomasino wollte nach ihm treten, hinterhältig und unfair. Aber Tarzan sprang ihn an. Den vorgestreckten Ellbogen rammt er dem Kerl vor den Magen. Tomasinos schwarze Augen traten wie Ping-Pong-Bälle hervor. Sein Gesicht schien zu platzen. In Hüfthöhe knickte er ab. Langsam fiel er zu Boden, wo er keuchend liegen blieb. Zeisig blutete aus dem Mundwinkel. Aber seine Augen waren klar. Tarzan half ihm auf. »Mein Gott!« Leni zitterte. »Ganz plötzlich ist er über mich hergefallen. Erst hat er mir noch geholfen. Aber dann hat was ausgehakt bei ihm. Es ist schrecklich.« Zeisig atmete schwer. Sein Gesicht war kreidebleich. Für einen Moment presste er die Hände an die Schläfen. Dann wandte er sich Tomasino zu. »Nur weil du morgen in die Anstalt kommst, sehe ich da29
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von ab, dich der Polizei zu übergeben, du Lump. Aber wir sind fertig miteinander. Ich will dich nie wieder sehen.« Der Dompteur rührte sich nicht. Sein Gesicht war jetzt fahl. Ein tückischer Blick war auf Zeisig gerichtet. Völlig meschugge (verrückt)!, dachte Tarzan. Dem hat der Schnaps wirklich das Gehirn zerstört. Zeisig nahm seine zitternde Tochter bei der Hand und führte sie hinaus. Die Jungs folgten ihnen. Zeisig stellte sie vor. Klößchen schien von dem Mädchen begeistert zu sein. Jedenfalls bekam er rote Ohren, als sie ihm die Hand gab.Verstohlen himmelte er sie an. Dass er nur aufgeweichte Schokolade bei sich hatte, also nichts, was er anbieten konnte, wurmte ihn sehr. »Vielen Dank für dein Eingreifen«, sagte Zeisig zu Tarzan. »Ohne dich stünde es jetzt schlecht um mich. Leider habe ich nicht übertrieben, als ich sagte, dass Carlo zu einer Gefahr geworden ist für seine Umwelt. Es kommt anfallsweise. Dann weiß er nicht mehr, was er tut.« Sie gingen ins Wohnhaus zurück und unterhielten sich noch lange. Die Jungs erzählten von ihrer Schule und der Stadt, in der die Zeisigs sich noch nicht so gut auskannten. Die wiederum revanchierten sich (sich erkenntlich zeigen) mit spannenden Geschichten aus dem Zirkusleben. Später hörten sie, wie Tomasino in seinen Wagen stieg und wegfuhr. »Darf der noch fahren – wenn er ständig betrunken ist?«, erkundigte sich Tarzan. Zeisig hob die Achseln. »Es ist sonderbar, aber er hat noch nie einen Unfall gehabt. Er fährt langsam und vorsichtig. Wahrscheinlich würde es krachen, wäre er nüchtern.« »Kein gutes Beispiel!«, sagte Karl. Tarzan griff in die Tasche und zog ein weinrotes Streichholzbriefchen hervor, das er Zeisig hinhielt. 30
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»Ist sicherlich Ihres. Es lag in der Scheune.Vielleicht haben Sie’s verloren, als Sie stürzten.« Zeisig schüttelte den Kopf. »Das gehört mir nicht.« Achselzuckend steckte Tarzan es wieder ein. Falls dieses Reklamebriefchen – denn es trug einen Aufdruck – Tomasino gehörte, würde der darauf verzichten müssen. Denn dem hätte er es bestimmt nicht zurückgegeben. Klößchen hatte nur Augen für Leni, blickte aber verlegen zu Boden, sobald sie sich an ihn wandte. Offenbar gab es ihm seine Begeisterung ein, als er sagte: »Ich würde ja gern dabei sein, wenn morgen die Tiere abgeholt werden. Dürfen wir wieder kommen?« »Aber selbstverständlich!«, versicherte Zeisig. Leni fügte hinzu: »Ihr seid doch jetzt unsere Freunde.« »Dann bis morgen früh!« Klößchen strahlte. Zeisigs Mundwinkel, wo Carlos Faustschlag ihn getroffen hatte, war angeschwollen und schmerzte. Aber er wollte nicht zum Arzt. »Ich muss hier bleiben und die Tiere bewachen. Ist sowieso die letzte Nacht. Wenn ich deswegen«, er befühlte die Schwellung, »nicht schlafen kann, nehme ich eben eine Tablette.« »Lieber nicht, Papa!«, sagte Leni. »Das ist doch dieses starke Zeug.« Für die Jungs fügte sie erklärend hinzu: »Ich habe mal eine genommen und war danach wie betäubt. 20 Stunden habe ich geschlafen. Selbst dann bekam ich die Augen kaum auf.« Zeisig lächelte. »Das ist auch nichts für kleine Mädchen – sondern nur für Notfälle.« Inzwischen ging es auf den Abend zu. Die drei Freunde verabschiedeten sich, nachdem Zeisig versichert hatte, Carlo sei jetzt bestimmt zur Vernunft gekommen und – von ihm – nichts mehr zu befürchten. »Vorausgesetzt er kommt überhaupt noch mal zurück.« 31
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»Hat er hier sein Quartier?«, fragte Tarzan. »Seit er seinen Wohnwagen verkauft hat, schläft er in der Scheune. Ihm macht das nichts aus.« Die Sonne stand schon tief, als die Jungs sich auf ihre Tretmühlen schwangen. Die Zeisigs winkten ihnen nach. Klößchen renkte sich fast den Arm aus, so heftig erwiderte er. Als der Hügelkamm hinter ihnen lag, sagte Karl: »Wie ihr sicherlich wisst, gehört Napur zu der Gattung der Panthera tigris, laienhaft auch Tiger genannt. Diese Großkatzen bewohnten in elf Unterarten Vorder- und Hinterindien bis nach Korea, die Mandschurei und Mongolei sowie Sibirien. Auch Sumatra und Bali. Der sibirische Tiger erreicht eine Rumpflänge – also ohne Schwanz – bis zu drei Metern. Auch der Bengalische oder Königstiger ist sehr groß, wie wir gesehen haben. Napurs Geburtsland wäre – hätte man ihn in Freiheit zur Welt gebracht – Vorderindien. Normalerweise schreckt der Tiger vor den Menschen zurück, hat eine angeborene Scheu vor uns. Und die Schauergeschichten, die über ihn als blutgierige Bestie in Umlauf sind, treffen nicht zu. Am liebsten jagt er Wildschweine, Kleinhirsche, Affen, Frösche und sogar Fische. Er…« »Und Spanferkel!«, warf Klößchen ein. »Unterbrich mich nicht mit deinen unsachlichen Bemerkungen«, wies Karl ihn zurecht. »Ist ja schließlich nicht ohne Bedeutung, wenn du erfährst, dass Napur einer der Letzten seiner Art ist.« »Wieso?«, fragte Klößchen. »Weil die Tiger vom Aussterben bedroht sind – wie viele andere Tierarten auch. Vor 60 Jahren gab es noch über 100000 – weltweit. Aber gelangweilte Maharadschas, englische Kolonialherren und amerikanische Dollarmillionäre haben sie gejagt. Ohne Risiko, auf sicherem Rücken des Jagdelefanten hockend, haben sie diese herrlichen Katzen 32
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abgeknallt. Übrig geblieben sind – ihr werdet es nicht glauben – 4000! Inzwischen werden die Tiger geschützt und in Nationalparks gehegt. Trotzdem gibt es immer noch Wilderer, die nach den Fellen jagen. Für Pelzmäntel. Oder für Bettvorleger – wie sie noch vor nicht allzu langer Zeit von deutschen Kaufhäusern in ganzseitigen Inseraten angeboten wurden: 14000 Euro das Stück. Man kann als ausgestorben betrachten – weil es nur noch jeweils zehn oder 20 Exemplare gibt –: den Kasparischen Tiger, den Chinesischen Tiger, den Sumatra-Tiger, den Java-Tiger, den Bali-Tiger. Nur bei dem Bengaloder Königstiger und dem Indochina-Tiger ist eine Rettung noch möglich.« »Hoffentlich haben die Bemühungen Erfolg«, sagte Tarzan. »Aber nach deiner Schilderung sind Tiger die reinsten Schmusekätzchen. Dabei weiß ich, dass sie durchaus auch zu Menschenfressern werden können.« »Das stimmt«, räumte Karl ein. »Alte Tiger, die als Jäger nicht mehr so flink sind, können sich zum Man Eater (Menschenfresser) entwickeln. Das Gleiche gilt, wenn ein Tiger angegriffen, gereizt oder verwundet wird. Dann wird er zum schrecklichsten Gegner.« Sie fuhren gemächlich. Sie hatten ja Zeit. In der Ferne tauchte die Silhouette (Schattenriss) der Stadt auf. Mit ihren Wahrzeichen, den Kirchtürmen und Hochhäusern. Na also! Tarzan lächelte vor sich hin. War Karl, der Computer, seinen Vortrag doch noch losgeworden! »Wenn Napur erst mal im Zoo ist«, sagte Klößchen und zeigte mal wieder sein goldiges Herz, »sollten wir ihn regelmäßig besuchen. Aber nicht mit leeren Händen. Jeweils zu Pfingsten – und zu Weihnachten, natürlich – müssen wir ihm ein Spanferkel spendieren.« »Gute Idee!«, lobte Tarzan. »Ich bin dabei. Mit finanzieller Beteiligung, meine ich.« »Ich auch!«, sagte Karl. 33
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3. Zwei Verbrecher entkommen Der Tag versprach sonnig zu werden, aber der frühe Morgen war noch kühl. Tau lag auf den Gräsern. Klare Luft füllte die wolkenlose Himmelskuppel. Weit vor der Stadt, wo es um diese Zeit sehr ruhig zuging, kreuzen sich zwei Landstraßen. Allee-Bäume grenzen ab zu den Feldern. Dahinter ist der Waldrand. Dunst waberte zwischen den Bäumen. In seinem Schutz wagten sich Rehe auf die Wiese zur Äsung. Dicht bei der Kreuzung glänzte die Fahrbahn fettig und dunkel. Ausgelaufenes Öl machte den Boden glatt wie eine Curling-Bahn (Eisschießen). Welches Fahrzeug das Öl während der Nacht oder im Morgengrauen verloren hatte, konnte später nicht festgestellt werden. Und war auch ohne Bedeutung, denn über verschüttete Milch braucht man nicht mehr zu reden.Was auch für Öl gilt. Fest stand jedenfalls, dass es sich nicht um eine Falle, sondern um einen unglücklichen Zufall handelte. Zwei Fahrzeuge näherten sich der Kreuzung aus verschiedenen Richtungen. Der schwere Lastwagen der Speditionsfirma SICHER UND SCHNELL kam aus der Stadt.Wagner, ein junger Fahrer, hatte noch nichts geladen, wollte zur nahen Kreisstadt und war etwas unausgeschlafen. Er hatte letzte Nacht mit seiner Braut gefeiert, und der schwere Wein steckte ihm noch in den Haarspitzen. Freilich hinderte ihn das nicht, die 250-PS-Maschine mit Vollgas zu fahren. Die Straße war frei. Und trocken. Und die Sicht reichte weit. Und im Übrigen: Wer in einem so stabilen Führerhaus sitzt – was kann dem passieren? Das zweite Fahrzeug näherte sich aus Richtung Hängenbach. Es war kastenförmig und grün: ein Transporter der Justiz-Vollzugsanstalt (Gefängnis) Hängenbach. 34
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Zwei Strafgefangene wurden zur Stadt überführt – in eine Haftanstalt, die ausbruchsicher war. Georg Hardtke und Otto Fensel galten als gefährliche Berufsverbrecher. Ihrer Sehnsucht nach Freiheit war jedes Risiko recht. Sie hatten mehrjährige Strafen vor sich – wegen bewaffneten Banküberfalls. Mit Handschellen gefesselt, saßen sie jetzt im Kastenraum. Die kleinen Fenster ließen nur wenig Morgenlicht herein. Im Zwielicht dösten die beiden vor sich hin: mürrisch, wütend über ihre Lage und das Schicksal und die verdammte Polizei, die sie doch wieder erwischt hatte. Hardtke war 50 Jahre alt und mehrfach vorbestraft. Sein Dreieck-Gesicht – mit sehr schmaler Stirn – wirkte roh. Eine Hautkrankheit hatte Spuren hinterlassen. Seine Haut war narbig und fleckig wie ausrangiertes Fußballleder. Er hatte riesenhafte Hände mit kurz bekauten Fingernägeln. Langsames Denken war ihm angeboren. Aber wenn er zu einem Ergebnis gekommen war und einen Entschluss daran anknüpfte, hielt er stur daran fest. »Mist?«, sagte er jetzt durch die Zähne. »Was?« »In Hängenbach wäre es leichter gewesen. Irgendwann hätten wir die Platte geputzt (abhauen).« »Wem sagst du das!« »Wie?« »Ich meine, du hast recht.« Fensel seufzte. »Klar habe ich recht. Jetzt können wir uns auf acht Jahre Knast einrichten.« »Ohne mich.« »Hah! Was willst du denn machen? Selbst bei bester Führung wird’s nicht weniger. Nicht bei uns! Dafür sind wir schon zu oft drin gewesen.« »Wenn du damals nicht«, begann Fensel, »den dämlichen…« 35
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»Fang nicht schon wieder an!«, unterbrach Hardtke seinen Komplizen. »Ich habe keine Schuld. Du hast… Aber das ist jetzt egal! Sie haben uns erwischt. Wir sitzen im Dreck. Und ich weiß nicht, wie wir rauskommen.« »Ich auch nicht.« Beide Fahrzeuge – der Laster der Speditionsfirma SICHER UND SCHNELL mit Wagner am Lenkrad und der Gefangenentransporter – hatten sich inzwischen der ölverschmierten Kreuzung ein gutes Stück genähert. »Letzte Nacht habe ich was Komisches geträumt«, sagte Fensel. »Es gab ein Erdbeben, und die Knastbude, in die wir jetzt kommen, fiel zusammen wie ein Kartenhaus. Du hast einen Zementbrocken auf die Rübe gekriegt.« Er grinste. »Aber mir ist nichts passiert. Ich habe dich dann rausgeschleift und wir sind zusammen getürmt. Schöner Traum, was?« »Ein blöder Traum!« »Weshalb?« »Na, wenn man dann aufwacht, und es ist alles nicht wahr – kann man glatt die Nerven verlieren. War ich verletzt?« »Was?« »Ich meine, ob der Zementbrocken mich stark beschädigt hat?« »War nicht weiter schlimm. Hat ja keinen wichtigen Körperteil getroffen. Stell dir vor, er wäre dir auf die Füße gefallen.« »Hahah!« Nach Hardtkes gequältem Lachen redeten sie nicht mehr. Der fällt wirklich auf alles rein, dachte Fensel. Dem kann man erzählen, was man will – er glaubt es.Aber wenn ich ihm jetzt sage, dass ich überhaupt nichts geträumt habe, würde er wütend werden. Hätte mir einen Kumpel suchen sollen, der mehr Fantasie hat. Dann säßen wir jetzt nicht hier. Fensel starrte auf die Handschellen an seinen Gelenken, 36
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und die miese Stimmung – dieses Gemisch aus Niedergeschlagenheit und Hass – nahm wieder Besitz von ihm. Fensel war erst 32, stand aber seinem Komplizen an Vorstrafen nicht nach. Er hatte eine hellblonde Hippie-Mähne, rosige Haut und blassblaue Augen. In der Unterwelt hatte man ihm den Spitznamen »Vanille« gegeben. Den hasste er. Sein schwerer Körper neigte zum Fettansatz.Arme und Beine waren kurz geraten, und der Kopf saß – fast ohne Hals – auf den Schultern. Während die beiden sich unerquicklichen Gedanken hingaben, war die Stimmung vorn in der Fahrerkabine etwas besser. Justizwachtmeister Schneider saß am Lenkrad. Sein Kollege Zieseler biss gerade in sein Frühstücksbrot. Den Kaffee aus der Thermosflasche hatte er schon getrunken. Aber als Morgenmuffel, was angeboren war, fühlte er sich immer noch dösig. Beide waren erfahrene Beamte, und Transporte wie dieser gehörten zu ihrer Routine (Fertigkeit). Sie trugen Dienstpistolen, und in Zieselers Uniformjacke steckten die Schlüssel, mit denen die Handschellen der Häftlinge sich öffnen ließen. Ein kleines Fenster – aus schlagfestem Glas und zusätzlich vergittert – verband den Transportraum mit der Fahrerkabine. Ab und zu drehte Zieseler sich um, um nach den beiden zu sehen. Jetzt gähnte er. »Immer noch müde?«, fragte Schneider. »Ab neun bin ich ansprechbar.« »Entschuldige, dass ich rede«, lachte Schneider. »Wird ein schöner Tag.« »Für uns bestimmt. Für die beiden weniger.« Sie fuhren jetzt zwischen den Allee-Bäumen. Noch 100 Meter bis zur ölverschmierten Kreuzung. 37
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»Der rast wie ein Verrückter!«, sagte Schneider. »Wer?« Zieseler hatte für einen Moment die Augen geschlossen. Sein Kollege deutete nach vom. Wagners schwerer Laster kam ihnen entgegen. Er fuhr zu schnell, befand sich aber – wie auch der Gefangenentransporter – auf der Vorfahrtsstraße. Nach rechts und nach links, wo die kreuzende Straße verlief, war freie Sicht, nichts und niemand zu sehen. Kein Grund also für Wagner, das Tempo zu mindern. Mitten auf der Kreuzung begegneten sich die Fahrzeuge. Normalerweise wären sie aneinander vorbeigefahren. Dass die Kreuzung schmal war – das allein hätte keine gefährliche Situation geschaffen. Aber da war die große Öllache. Sie reichte von Rand zu Rand. Im Schatten der Chaussee-Bäume fiel sie kaum auf, war nur aus der Nähe zu erkennen. Wagner sah sie in letzter Sekunde. Er erschrak. Instinktiv trat sein Fuß auf die Bremse. Eine falsche Reaktion! Plötzlich schien das tonnenschwere Fahrzeug sich selbstständig zu machen. Es schlitterte und brach nach links aus. Wagner schrie auf. Er sah noch die entsetzten Gesichter der beiden Justizbeamten hinter der Windschutzscheibe – dann geschah das Unglück. Im spitzen Winkel stieß die gewaltige Motorhaube des Lasters gegen den grünen Transporter. Er wurde an der Seite getroffen. Stahlblech kreischte, verformte sich, riss auf. Die Wucht des Zusammenstoßes warf den Transporter aus der Bahn. Auch seine Vorderräder gerieten jetzt auf die Öllache. Schneider versuchte gegenzulenken, aber es war zu spät. Mit kaum verminderter Geschwindigkeit raste der Transporter in den Chaussee-Graben. Und stürzte um. Im selben Moment stieß der Speditionslaster frontal gegen einen Allee-Baum, knickte ihn, rutschte mit dem linken Vor38
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derrad in den Graben und kam endlich zum Stillstand. Der Motor soff ab. Wagner war mit der Stirn gegen den Rahmen der Windschutzscheibe geprallt. Halb bewusstlos hing er über dem Lenkrad. Blut lief aus einer zentimeterlangen Platzwunde. Der Gefangenentransporter lag auf der rechten Seite. Der Motor war verstummt. Blech knisterte. Das linke Vorderrad drehte sich sinnlos in der Luft. Zusammenstoß und Aufprall hatten die Hecktür aufgesprengt. Das Sicherheitsschloss war geborsten. Hardtke hatte einen fürchterlichen Ruck verspürt. Er war hinausgeschleudert worden, aber weich auf fauligem Laub und feuchter Erde gelandet. Trotz gefesselter Hände hatte er sich nichts verstaucht oder geprellt. Benommen richtete er sich auf. »Mann!« Fensel torkelte gebückt aus dem Kastenraum, trampelte über eine der Türhälften und hob die gefesselten Hände. »Georg! Ein Wunder! Wir sind frei.« »Frei?« Hardtke stand auf. »Du blutest im Gesicht.« »Was? Na und? Wen interessiert das? Ist nur ’ne Schramme! Kapierst du nicht? Wir können abhauen. Ein herrlicher Unfall! Das ist unsere Chance!« Hardtke blickte zur Fahrerkabine. »Und die beiden Bullen?«, fragte er gedämpft. Auch Fensel wandte den Kopf. Vorn rührte sich nichts. »Wir brauchen die Schlüssel für die Handschellen«, zischte Fensel. Sie liefen nach vorn. Es gab keine Windschutzscheibe mehr. Samt Rahmen und in einem Stück hatte sie sich »verabschiedet«. Sie war aufs Feld gesegelt, lag dort und fing Strahlen der Morgensonne ein. Schneider und Zieseler lagen übereinander auf der Sitzbank der Fahrerkabine. Beide waren bewusstlos. Zieseler 39
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hatte Schnittwunden im Gesicht. Schneider stöhnte leise. Sein rechter Arm war gebrochen, wie sich später herausstellte. Zieseler hatte sich mehrere Rippen gequetscht und würde wochenlang einen elastischen Verband tragen müssen. »Los! Hilf mir!« Fensel packte Zieseler am Oberarm und zerrte ihn so weit aus der Fahrerkabine heraus, dass er die Taschen der Uniformjacke durchwühlen konnte. Einen Moment später hatte er die Schlüssel gefunden. Rasch befreiten die beiden Verbrecher sich von den Handschellen. »Jetzt nichts wie weg!«, murmelte Hardtke. Fensel nahm den Justizbeamten die Pistolen ab. Beim Speditionslaster, der – etwa 20 Meter entfernt – quer stehend die Fahrbahn blockierte, regte sich was. Die Fahrertür wurde aufgestoßen. Wagner taumelte heraus. Augenblicklich hob Fensel eine Pistole. »Leg dich auf den Boden!«, brüllte er. »Gesicht nach unten! Keine Bewegung!« Wagner glotzte. Er begriff nicht. Sein Kopf dröhnte. Ihm war übel und die Knie hatten sich in Pudding verwandelt. So gesehen, war es ihm recht, sich hinzulegen. Fensel befahl ihm noch, mindestens 20 Minuten so zu verharren, dann rannten beide Verbrecher über das Feld dem nahen Waldrand entgegen. Irgendwo in der Ferne schnatterte ein Hubschrauber. Auf den Landstraßen war es ruhig. Schwer atmend – nach raschem Lauf über feuchte Erde – blieben sie unter den ersten Bäumen stehen. »Hier beginnt der so genannte Große Wald«, keuchte Fensel. »Kenne mich aus in der Gegend. Ein endloses Gebiet. Weiter drin beim Naturschutzpark ist der Wald wie Urwald.Tolle Verstecke für uns. Es gibt Wochenendhäuser. Und eine stinkvornehme Bungalow-Siedlung, wo die ganz Rei40
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chen wohnen, denen die Stadtluft zu miefig ist. Georg, hier findet uns niemand.« »Und wenn die Bullen Suchhunde einsetzen?« »Glaube ich nicht. Die denken doch, dass wir uns zur Stadt durchschlagen und dort Kontakte aufnehmen, die uns weiterhelfen. Die denken, wir krallen uns einen Wagen und hauen ab. Aber wir, Mann, wir wandern jetzt querwaldein zu den Singenden Felsen.«
* Sie hatten geschlafen wie die Murmeltiere. Jetzt nahmen sie ein tolles Frühstück ein. Amalie trug es auf. Sie strahlte, weil es den Jungen so gut schmeckte. Tarzan sagte, es wäre fürstlich und die morgendliche Abfütterung im Internat damit nicht zu vergleichen. Klößchen bestätigte das, indem er heftig nickte. Reden konnte er nicht. Seine Backentaschen waren gefüllt wie bei einem Hamster. Karl, sonst ein schlechter Esser, griff zum dritten Mal zu. Sonnenlicht fiel in das Sauerlich’sche Frühstückszimmer. Im großen Garten hinter der Villa summten Bienen von Blüte zu Blüte. Für Tarzan ein Grund, rasch noch einen Löffel Honig zu nehmen. Er mochte Süßes sonst nicht.Aber Honig war eine Ausnahme. »Und jetzt ins Heinrichstal!«, sagte Klößchen. Als sie durch die Eingangshalle gingen, öffnete Amalie die Küchentür. »Kommt ihr zum Mittagessen?« »Selbstverständlich!«, sagte Klößchen. Dann fiel ihm ein, dass es nur Gemüse gab – und kein Spanferkel. »Äh… wahrscheinlich«, schränkte er ein. »Ich fahre noch mal in die Stadt«, sagte Amalie, »und hole den Rinderbraten ab, den ich gestern bestellt habe.Wenn der Tiger so gut gefüttert wird, sollt ihr nicht darben.« 41
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»Wir sind pünktlich zurück, Frau Dessart!« Klößchen rieb sich die Hände. Als sie im Freien waren, sagte er: »Sie ist wirklich eine Perle. Die Frau, die ich mal heirate, muss so gut kochen können wie sie.« »Ob meine Zukünftige kochen kann, ist mir völlig egal«, meinte Tarzan. »Wichtig ist, dass wir uns gut verstehen. Und gemeinsame Interessen und Ziele haben. Kochen und Essen rechne ich nicht dazu.« Klößchen grinste. »Gaby kocht aber schon recht gut. Ihre Mutter bringt’s ihr bei.« »Wie kommst du auf Gaby?« »Ach nur so. Weiß man denn, wie das Schicksal so spielt?« »Du spinnst mal wieder! Was dir so einfällt, wenn du gut gegessen hast! Dass Pfote einsame Spitze ist, wissen wir alle. Wirklich sehr hübsch. Und sportlich. Und begabt. Und ein toller Charakter, sonst wäre sie nicht in der TKKG-Bande. Aber sie ist auch ein ganz schöner Dickkopf – und dass sie von uns einen heiratet, kann ich mir nicht vorstellen.« »Mich oder Willi bestimmt nicht«, stellte Klößchen lachend fest. »Aber du kämst infrage.« »Blödsinn!« »Ich mache so meine Beobachtungen«, stellte Karl geheimnisvoll fest. »Ja, welche denn?« Kaum hatte Tarzan das ausgesprochen, ärgerte er sich. Seine Stimme klang allzu begierig. »Na, wenn du mit irgendwas wieder mal Kopf und Kragen riskierst, flippt sie aus vor lauter Angst. Wenn du’s dann heil überstanden hast, kriegt sie ganz blanke Augen.« »Das ist menschliche Anteilnahme. So empfindet sie für jeden von uns. Darauf kann ich mir nichts einbilden. Im Übrigen liegt das heiratsfähige Alter noch weit vor uns. Auf die Drahtesel, Freunde! Herr Zeisig erwartet uns. Und«, fügte er anzüglich hinzu, »vielleicht ist auch Leni da. Dann könntest du ja mal fragen, Willi, wie es um ihre Kochkünste steht.« 42
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»Verstehe nicht, was du meinst«, behauptete Klößchen mit errötetem Mondgesicht. Sie fuhren los. Es war später als beabsichtigt. Tarzan legte Tempo vor. Heute, am Pfingstsamstag, herrschte hektische Betriebsamkeit in der Stadt. Jedermann schien rasch noch was einzukaufen und die Straßen verstopften sich. Aber die Jungs auf ihren Rädern kamen zügig voran. Außerhalb der Stadt folgten sie der verschmutzten Straße. Bevor sie den gerölligen Feldweg erreichten, wurden sie von einem Polizeiwagen überholt. Zwei Uniformierte saßen darin und ein Zivilbeamter. Tarzan erkannte, dass es sich um Kommissar Blüchl handelte – einen Kollegen von Gabys Vater, Kommissar Glockner. Freilich – im Gegensatz zu Glockner war Blüchl sehr unbeliebt. Er galt als Wichtigtuer und benahm sich sehr harsch. Aus schmalen Augen beobachtete Tarzan, wohin der Wagen fuhr. Geradeaus? Nein! Jetzt bog er ab – zum Heinrichstal-Gehöft. Um Himmels willen! Also war was passiert! »Hat Tomasino wieder einen Anfall gekriegt?«, meinte Karl, der sich die gleichen Gedanken machte. »Vielleicht weigert er sich, in die Entziehungsanstalt zu gehen«, rief Klößchen. »Ich fahre mal voraus!« Tarzan legte einige Radumdrehungen zu.Weit vor seinen Freunden erreichte er das Gehöft. Zeisigs Chevrolet parkte zwischen den Gebäuden. Der Polizeiwagen stand daneben. Tomasinos Mercedes war verschwunden. Im ersten Stall wieherte ein Pony. Im hinteren Stallgebäude, wo Napur war, redeten Männerstimmen aufgeregt durcheinander. Tarzan stellte sein Rad ab und rannte zum Eingang. »…ist mir völlig unerklärlich«, sagte Herr Zeisig gerade. In seiner Kehle schien was zu zittern. »Unerklärlich?«, fuhr Blüchl ihn an. »Ich denke, Sie haben hier gewacht. Sie sind verantwortlich für das Vieh.« 43
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»Ja, schon. Aber… ich… konnte wegen einer Verletzung nicht schlafen und habe ein starkes Beruhigungsmittel genommen. Offenbar hat das wie eine Narkose gewirkt. Erst als meine Tochter mich vorhin weckte, kam ich zu mir. Sie war aus der Stadt hergekommen, hat das hier entdeckt und ist dann gleich zurückgefahren, um Sie zu verständigen. Hier ist ja leider kein Telefon.« Tarzan stand im Eingang. Die vier Männer kehrten ihm den Rücken zu. Vor Napurs Käfig hatten sie sich aufgebaut, und sie starrten hinein, als gäbe es was Besonderes zu sehen. Aber es gab nichts – der Käfig war leer. Tarzan räusperte sich und alle drehten sich um. »Hau ab!«, sagte Blüchl durch die Zähne. »Du hast hier nichts zu suchen.« Er war ein großer fleischiger Kerl mit rötlicher Haut und dicken Lippen. Seine Stirnglatze sah so appetitlich aus wie verdorbene Lachsscheiben. »Den Jungen kenne ich«, sagte Zeisig rasch. »Er besucht mich. Hallo, Tarzan!« Tarzan grüßte und sein Gruß schloss die andern mit ein. »Napur ist verschwunden«, sagte Zeisig und versuchte ein Lächeln. »Aus dem verschlossenen Käfig. Hat sich in Luft aufgelöst. Es ist unerklärlich.« »War Carlo Tomasino noch mal hier?«, fragte Tarzan. »Er kam gestern Abend zurück und schlief dann in der Scheune«, nickte Zeisig. »War aber heute Morgen nicht mehr da.« »Das ist ohne Bedeutung«, sagte Blüchl ungehalten. »Oder wollen Sie mir weismachen, der Dompteur hätte den Tiger – einen riesenhaften Tiger! – am Halsband mitgenommen?« »Natürlich nicht!« Zeisig atmete tief. »Das ist unmöglich. Napur gehorchte ihm zwar, aber nur im Manegenkäfig. Ich verstehe wirklich nicht…« Seine Stimme versickerte. Kopfschüttelnd starrte er zu Boden. 44
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Hinter Tarzan knirschten Reifen im Sand. Seine Freunde waren angelangt. Er sagte ihnen, was passiert war. Augenblicklich zog Klößchen den Kopf ein und spähte angstvoll umher. »Wusste ich’s doch! Dem Biest ist nicht zu trauen. Bestimmt hat es sich durch die Gitterstäbe gezwängt. Und jetzt denkt es, ich bin so ein Spanferkel…« »Nun mach dir nicht gleich in die Hose«, sagte Karl. »Wahrscheinlich hat Tomasino den Tiger irgendwo eingesperrt.Weil er nicht will, dass Napur in den Zoo kommt. Oder weil er ein Druckmittel braucht – nach Art der Erpresser –, um sich selbst vor der Entziehungsanstalt zu bewahren. Denn dass Trinker dort freiwillig hingehen, ist ja kaum zu erwarten, wie man weiß.« »Mit deinem scharfen Verstand ist wirklich immer zu rechnen«, sagte Tarzan anerkennend. »Toller Einfall.« Er wandte sich an die Beamten. »Sie haben sicherlich gehört, was mein Freund Karl Vierstein sehr richtig äußerte. Dass Carlo Tomasino so was ausheckt, ist nicht unwahrscheinlich. Ein überzeugendes Motiv, nicht wahr? Und noch etwas kommt hinzu.« Er trat in den Stall und näherte sich dem Käfigwagen. »Gestern«, sagte er, »stand das Gefährt hier!« Er wies auf die Stelle. »Etwa zwei Meter weiter links.« »Stimmt das?« Blüchl sah Zeisig an. Der Zirkusdirektor rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht. Offensichtlich wirkte das starke Schlafmittel noch. »Kann sein. Ja. Wenn Tarzan es sagt. Also, im Moment erinnere ich mich nicht.« »Bengel, spiel dich nur nicht auf«, wurde Tarzan von Blüchl angeschnauzt. »Deine Mitarbeit ist hier nicht gefragt. Verschwinde!« »Wie Sie wünschen«, erwiderte Tarzan. »Ich mache nur darauf aufmerksam, dass der Käfigwagen von Tomasino – ver45
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mutlich – weggefahren wurde. Er brauchte nur mit seinem Mercedes rückwärts durch den sehr breiten Eingang zu stoßen und den Raubtierwagen anzukoppeln. Er hat Napur irgendwohin gebracht und den Käfigwagen zurück. Spricht alles für die Theorie meines Freundes. Guten Tag!« Er wandte sich ab, ging zu seinem Rad und wartete, bis seine Freunde neben ihm waren. »Dieser Molch!«, sagte er wütend. »Sieht aus wie Marzipan in Himbeersoße und benimmt sich auch so. Unsereins will zur Aufklärung beitragen und wird angepfiffen.Aber das verspreche ich dir, Karl: Sollte sich deine Idee bewahrheiten, dann erzähle ich den Zeitungsreportern, dass du sie hattest. Zuerst hattest! Blüchl wird nämlich, wenn es so ist, bestimmt behaupten, er wäre darauf gekommen.« Klößchen sah über die Schulter, als lauere Napur zähnefletschend hinter ihm: »Und was wird jetzt?« »Große Suche nach Tomasino. Was sonst!« »Um von ihm zu hören, wo der Tiger ist?« »Klar.« »Hm. Wollen wir nicht schnellstens nach Hause fahren? Fenster und Türen geschlossen halten und uns Amalies Kochkünsten widmen?« »Feigling!« »Möchtest du diesem Vieh begegnen?« »Wir werden ihm nicht begegnen. Tomasino hat es irgendwo eingesperrt.« Karl sagte: »Das wird aber viel Aufregung geben. Denn dass Blüchl den Dompteur gleich findet, glaube ich nicht.« Tarzan lächelte. »Den Dompteur finden wir.« »O Gott!«, ächzte Klößchen. »Und wenn er den bengalischen Kater bei sich hat… Nun hör aber auf, Tarzan! Außerdem: Wie willst du ihn denn finden?« Tarzans Lächeln verstärkte sich. »Ich habe einen Hinweis. Einen klitzekleinen Hinweis. Vielleicht bringt er nichts, viel46
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leicht trifft er ins Schwarze. Wie auch immer – dieser grausliche Blüchl erfährt davon nichts.« »Wovon?«, fragte Karl. »Erinnert ihr euch? Gestern, nach der Keilerei in der Scheune, habe ich das Streichholzbriefchen aufgehoben. Dachte, es gehöre Zeisig. Aber das war nicht so, wie wir wissen. Also kann es nur Tomasino gehören. Und ist ihm aus der Tasche gefallen, als ich ihm eins auf die Verdauungszentrale gab.« Karl pfiff durch die Zähne. »Was stand denn drauf?« »Die Anschrift einer Kneipe. Oder Bar. Was weiß ich. Die Grotte – Spitzeder-Straße… Die Nummer weiß ich nicht mehr. Aber das finden wir schon.« »Sieh doch nach!«, sagte Klößchen. »Hab’s ja nicht mehr, sondern weggeworfen.Von dem Kerl wollte ich nichts in der Tasche haben.« »Und du meinst, dort erfahren wir, wo er steckt?«, fragte Karl. »Hoffentlich. Aber fassen wir doch mal die Tatsachen zusammen. Der Zirkus – vielmehr das, was von ihm übrig blieb – ist noch nicht lange hier. Ein Typ wie Carlo Tomasino findet schwer Anschluss. Bei den Zeisigs war er unten durch. Also sucht er sich – zumal er dauernd schnäpselt – woanders einen Kreis. Und sei’s auch nur den Wirt einer billigen Spelunke. Und wenn’s ihm dort gefällt, geht er eben immer wieder hin. Das heißt, allzu billig kann die Grotte nicht sein. Denn Kneipen der unteren Kategorie (Klasse) führen keine Reklamestreichhölzer.« Klößchen, der mit Blickrichtung zum Stall stand, sagte: »Sie kommen.« Tarzan vergeudete keinen Blick, sondern stieg auf sein Rennrad und setzte sich an die Spitze der Dreiergruppe. Inzwischen war es heiß geworden. Die amtlichen Wetterfrösche prophezeiten (vorhersagen) für Pfingsten Hitze und 47
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Sonnenschein. Blechkarawanen würden sich in Bewegung setzen: aus der Großstadt hinaus in die grüne Natur. Und im Großen Wald – so groß der auch war – kribbelte und wimmelte es dann sicherlich wie in einem Ameisenhaufen: Camping, Picknick, Jogging und Wanderlust. Ob sich wohl die Mädchen in ihrem Zeltlager gestört fühlen, überlegte Tarzan, wenn die Menschenmassen anrücken? Und die Pauker bei ihrer Waldfete (Fest)? Auch auf dem Rückweg zur Stadt wurden sie von dem Polizeiwagen überholt. Blüchl hatte den Kopf weggedreht, als existierten die Jungs nicht. Zur »Grotte« fuhr der bestimmt nicht. Tarzan grinste. Wie man sah: Schlechtes Benehmen hatte Folgen. Blüchl tappte im Dunkeln, was Tomasino betraf. Die Jungs kannten die Spitzeder-Straße, einen AsphaltLindwurm im Vergnügungsviertel der Stadt, bei Tag ziemlich tot, aber nach Einbruch der Dunkelheit prallvoll mit Leben. Das lag an den zahlreichen Etablissements (Vergnügungsstätten), von denen Nachtbummler sich anlocken ließen wie Motten vom Licht. Es gab Weinlokale, Bars, Diskotheken und exotische (fremdländische) Lokale. Mancherorts konnte man angeblich Rauschgift kaufen. Oder Diebesbeute. Und bei Nacht wimmelte die Gegend von zwielichtigen Typen. Das hier zuständige Polizeirevier hatte die meisten Einsätze. Die TKKG-Freunde erreichten die Straße und begannen, nach der »Grotte« zu suchen.
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4. Kathie, die Schlafwandlerin Keins der Mädchen war vor Mitternacht eingeschlafen, zu aufregend die erste Nacht im tiefen Wald. Sie hatten lange getuschelt in ihren Dreier-Zelten – von denen vier aufgebaut waren. So kam es, dass am Morgen alle verschliefen. Sogar Lotte Weimar und Isabell Renke, die beiden Trainerinnen des Schwimmklubs, ließen sich nicht vom Sonnenlicht wecken. Golden und grell fiel es durch die Baumwipfel auf das Zeltlager der Mädchen. Lotte und Isabell waren junge Frauen. Die eine arbeitete als Sportlehrerin an einer Grundschule, die andere als Sozialfürsorgerin bei der Stadt. Ihr Zweier-Zelt wies die meisten Flickstellen auf. Es war schon lange in Betrieb. Jetzt wurde der Reißverschluss des Eingangs geöffnet. Lotte, bekleidet mit einem sandfarbenen Trainingsanzug, kroch ins Freie, blinzelte, rieb sich die Augen – im Knien – und holte tief Luft. »Aufstehen, meine Damen! Es ist heller Tag.« Sie musste ihre Aufforderung wiederholen, ehe in den anderen Zelten sich was regte. Gaby wohnte – wie sie es großartig nannte – mit zwei Schwimmklubfreundinnen zusammen: mit Inge Esting und Kathie Lorenz. Inge war zart und braunhaarig, hatte dunkle Kulleraugen und – wie auch Gaby – ihren Hund mitgebracht. Er hörte auf den eindrucksvollen Namen Man Eater (Menschenfresser) und ließ sich bequem in der Handtasche transportieren oder vorn in der Bluse tragen. Man Eater war ein rehfarbiger Rehpinscher, ein freches Kerlchen in Westentaschenformat, und kaum ein Jahr alt. Oskar – Gabys schwarzweißer Cockerspaniel – liebte ihn wie einen Sohn. Auch jetzt leckte er ihm zur morgendlichen Begrüßung über die Schnauze und Man Eater wedelte freudig mit seinem – nur andeutungsweise vorhandenen – Stummelschwanz. 49
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Beide Hunde wuselten aus dem Zelt, waren gleich die Muntersten von allen und tollten – nachdem sie an mehreren Sträuchern das Bein gehoben hatten – im Lager umher. Die Mädchen sahen zu und lachten. Gaby schüttelte ihr goldblondes Haar. Mit zwei Fingern bog sie ihre langen, dunklen Wimpern nach oben. Ihr Pony war – ausnahmsweise mal – kurz geschnitten, zweckmäßig also, wenn man sich in freier Wildbahn fernab der Zivilisation tagelang aufhalten will. Freilich – so ganz auf Zivilisation verzichteten die jungen Damen nicht. In aparten Rucksäcken hatten sie alles mitgebracht, was zum leiblichen Wohl und zur Schönheitspflege gehört. In der Nähe murmelte ein quellklarer Bach. Während die zwölf Mädchen sich dort wuschen, bereiteten die Trainerinnen auf einem Spirituskocher heißen Tee für alle. Beim Bach wurde gekichert, geschrubbt, gespritzt und gebibbert – denn das Wasser war kalt. Kathie Lorenz wirkte müde. »Sag mal, Kathie.« Gaby hatte die kalte Abreibung beendet und schlüpfte in T-Shirt und Jeans. »Warst du heute Nacht noch unterwegs?« »Unterwegs? Wieso?« Kathie trug ihr rötliches Haar so kurz wie ein sportlicher Junge. Sie hatte grüne Augen und viele Sommersprossen im milchigen Teint. Sie war hübsch und eine gute Delfin-Schwimmerin. »Hast du’s nicht gemerkt«, Gaby lachte. »Du lagst vorhin verkehrt herum auf dem Schlafsack. Drauf, wohlgemerkt, nicht drin! Und der Zelteingang war offen. Und irgendwann heute Nacht war mir auch, als hätten die Hunde kurz angeschlagen. Ich war aber zu müde, um darauf zu achten. Ich dachte, ich träume.« Kathie lächelte verlegen. »Ich… ich war mal kurz weg.« »Ach so.« »Nein, nicht was du denkst. Ich musste nicht verschwinden, sondern…« Sie stockte. 50
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»Ja?« Kathie senkte die Stimme. »Ich kann nichts dafür, weißt du. Ich bin Schlafwandlerin.« »Wie? Ach?« Gaby machte große Augen. »Du schlafwandelst? Da müssen wir ja aufpassen auf dich. Dass du dich nicht im Wald verirrst. Sag mal, wie ist denn das?« »Schlafwandeln ist angeboren. Meistens kommt es nur bei Kindern und Jugendlichen vor. Nach der Pubertät (Reifezeit) verliert sich diese dumme Gewohnheit. Im Allgemeinen, jedenfalls. Dass ich schlafwandele, merke ich selbst gar nicht. Das ist es ja eben. Meine Eltern haben mich dabei beobachtet. Sonst wüsste ich nicht, dass ich unter Somnambulismus – das ist das Fremdwort dafür – leide. Dass ich dabei aufwache, kommt selten vor. Etwa zwei Stunden nach dem Einschlafen passiert es. Ich steige aus dem Bett. Mit geöffneten Augen tappe ich durch die Wohnung, völlig sinnlos, mit tastend ausgestreckten Händen, ohne Ziel. Trotz geöffneter Augen sehe ich nichts. Ich bin dann – wie alle Schlafwandler – in einer Tiefschlafphase, also völlig weg. Ich tappe umher, gehe ins Bett zurück, lege mich lang und schlafe weiter. Am nächsten Morgen weiß ich von nichts.« »Und wie kann man dich wach machen?« »Indem man mich aufweckt – aber das muss ziemlich energisch geschehen –, oder wenn ich mich schmerzhaft stoße.« »Aha!« »Wir wohnten früher im sechsten Stock eines Hochhauses, Gaby.Als meine Eltern merkten, dass ich schlafwandele, sind wir in eine Parterre-Wohnung umgezogen. Es kommt nämlich vor, dass Schlafwandler Fenster öffnen und hinaussteigen. Man weiß von tödlichen Unfällen.« »O weh!« Kathie lächelte. »Heute Nacht bin ich aufgewacht. Und zwar bei den Singenden Felsen. Ich muss also über die Lich51
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tung marschiert sein und dann das lange Stück die Forststraße entlang.« »Nicht zu fassen! So weit?« Die beiden Mädchen standen jetzt neben ihrem Zelt und bürsteten sich die Haare. Oskar und Man Eater jagten sich übermütig. Die Trainerinnen hatten 14 stabile Picknick-Becher auf den kleinen Klapptisch gestellt und füllten Tee ein. Dichter Wald umgab die Lichtung, auf der die Zelte standen. Hohes Gras wuchs. Bienen summten. Unter den Bäumen breiteten sich weiche Moosbänke aus. Es gab Brombeer- und Himbeerranken. Farne standen hoch. Vorn berührten sich die Lichtung und das Ende der Forststraße. An der Stelle verbreiterte sie sich zu einem sandigen Platz, wo Fuhrwerke wenden konnten. In einiger Entfernung türmten sich die Singenden Felsen zu einer eindrucksvollen Kulisse auf: bis zu 30 Meter hohe Felsbrocken, die eine fußballfeldgroße Fläche bedeckten. Wenn in stürmischen Herbstnächten der Wind über Kanten und durch Spalten fuhr, entstanden Geräusche wie ferner Gesang. Nächtliche Wanderer hatten berichtet, wie schauerlich das klang. Daher hatten die Felsen ihren Namen. »Wahrscheinlich«, Kathie lächelte, »ist das ein Rekord für Schlafwandler. Die Strecke, meine ich.« Sie legte ihre Bürste weg. Gaby kämmte noch. »Und was hat dich geweckt, Kathie?« »Ich bin gegen einen Baum gelaufen. Aber mein Kopf war härter. Kann auch sein, dass das Auto mich geweckt hat.« »Ein Auto?« »Es hielt bei den Singenden Felsen, so ein komischer Campingwagen, glaube ich.« »Sonderbar. Über die Forststraße darf man doch nur fahren, wenn man eine Sondererlaubnis hat.« »Vielleicht hatte der Mann die. Es war jedenfalls ein heller Mercedes mit einem Wohnwagen als Anhänger. Die Schein52
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werfer waren abgeblendet. Aber im Mondlicht sah ich, dass ein Mann sich am Anhänger zu schaffen machte. Er ist dann eingestiegen und weggefahren. Mir wurde so kalt, dass ich klapperte. Ich war immerhin barfuß. Bin dann zurückgelaufen. Komm, der Tee ist fertig.« Es wurde ein lustiges Frühstück. Alle saßen im Gras. Tee und Butterbrote schmeckten. Die Sonne wärmte. Inge Esting kam als Letzte dazu. Mit spitzen Fingern hielt sie ihre Zahnbürste von sich. »Hat jemand eine zweite mit?«, fragte sie. »Meine kann ich nicht mehr benutzen. Ist mir in den Dreck gefallen – genau an der Stelle, wo Man Eater sich ›gelöst‹ hat.« Die andern lachten. Isabell Renke sagte, sie hätte – wohlweislich – Ersatz-Zahnbürsten eingepackt. »Dann kann ich mich von dir trennen«, sagte Inge zu ihrem Gebissschrubber, »auch wenn du ganz neu bist.« Lachend fügte sie hinzu: »Und damit ich mich wie ein richtiges Rübenschwein fühle, werde ich jetzt die Umwelt verschmutzen.« Sprach’s, holte aus und warf den Beißwerkzeug-Reiniger mit beachtlichem Schwung in die Büsche. »Mit dem andern Abfall machen wir das aber nicht«, meinte Lotte Weimar. »Sonst müssen wir anschließend den Wald putzen.« Gaby beobachtete Oskar. Wie von der Sehne geschnellt, war er losgesaust. Er verschwand zwischen den Büschen. Sie hörte sein Schnüffeln und wie er rumorte. Dann kam er zurück: stolz, schwanzwedelnd, mit tapsigen Sprüngen. Er lief zu Inge und setzte sich vor sie. Im Maul – deutlich sichtbar für alle – hielt er die Zahnbürste. »Da hast du’s«, lachte Gaby. »Ein schlauer Hund apportiert und bringt zurück, was du wegwirfst. Oskar wird dir schon vormachen, wie man sich im Wald verhält. Beachte bitte den vorwurfsvollen Blick.« 53
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»Ist ja schrecklich!«, rief Inge in komischer Verzweiflung. »Wie soll ich das Ding denn jetzt loswerden?« Aber dann lobte sie Oskar und ließ sich die Zahnbürste geben. Man Eater durfte sie beschnuppern, zeigte aber wenig Interesse. Zum Apportieren (herbeibringen) hatte er nur selten Lust. Für heute stand eine ganztägige Wanderung auf dem Programm der Mädchengruppe. Man wollte kreuz und quer durch den Wald. Isabell Renke, die sich in Botanik gut auskannte, würde Pflanzen und Bäume erklären. Nach dem Frühstück zogen alle ihre Wanderschuhe an. Die Zelte wurden geschlossen. Drei Rucksäcke enthielten den Tagesproviant. Beim Tragen wollten die Mädchen sich stündlich abwechseln. Wenig später verschwanden sie im Gänsemarsch auf einem schmalen Pfad, der in Richtung Naturschutzpark führte. Alle waren in bester Stimmung.
* »Dort ist sie!« Klößchen, der neben Tarzan fuhr, streckte die Hand aus. Er meinte die »Grotte«. Warum das Lokal so hieß, war von außen nicht ersichtlich. Es handelte sich um eine Tagesbar, wo man auch kleine Gerichte erhielt – und hausgemachten Kuchen, wie eine Ankündigung im Aushangkasten verriet. Die Jungs waren abgestiegen und studierten die Preisliste. »Nichts für Taschengeldempfänger«, murmelte Karl. »Ich hätte gegen ein zweites Frühstück nichts einzuwenden.« Klößchen überprüfte bereits den Inhalt seines Portmonees. »Einen Hawaii-Toast könnte ich mir gestatten. Und anschließend Schokoladentorte. Hm?« Tarzan blickte die Straße entlang. Sie badete im Sonnen54
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licht. Wagen parkten zu beiden Seiten, denn dieser Teil war Einbahnstraße. Nur wenige Leute waren unterwegs. Die meisten Vergnügungslokale hatten geschlossen, aber die »Grotte« war geöffnet. Er trat einen Schritt zur Seite und beugte sich zur Fensterscheibe vor. Viel konnte er nicht erkennen. Vielleicht führte das Lokal seinen Namen auf das düstere Licht zurück. Die Beleuchtung reichte nicht aus. Die beiden straßenseitigen Fenster waren schmal, die Scheiben zudem dunkel getönt. Das Lokal zog sich als langer Schlauch in die Tiefe des Hauses.Vor einer Bar luden Hocker zum Sitzen sein. Entlang der anderen Wand reihte sich Nische an Nische. Holzwände, an denen Weinlaub aus Plastik hing, teilten sie ab.An der Theke war niemand. Ob jemand in den Nischen saß, konnte man von hier aus nicht sehen. Hinter der Theke stand ein stämmiger Mann. Er polierte den Bierdruckapparat hingebungsvoll. »Ich sehe Tomasino nicht«, sagte Tarzan. »Aber er ist da. Wenn nicht hier, dann in einem andern Lokal.« »Wieso bist du so sicher?«, fragte Karl. »Sein Wagen steht dort. Der helle Mercedes. Am Kennzeichen erkenne ich ihn. Kommt, Jungs, wir gehen rein.« Erst sicherten sie ihre Drahtesel mit dem Kabelschloss, denn Fahrraddiebe gibt’s bekanntlich zu jeder Tageszeit. Die »Grotte« roch nach Tabakrauch und Bier. Der Mann hinter der Theke wandte den Kopf. Er hatte ein bulliges Gesicht mit kleinen Augen. Sicherlich konnte er mit einem Blick abschätzen, wie viel Geld ein Gast in der Brieftasche hatte – und wie viel er hier lassen würde. Das war sein einziges Interesse. Die Einschätzung der Jungs fiel miserabel aus. Die würden – wenn’s hoch kam – eine »Drei-Cola-Zeche« machen. Nur ein knappes Nicken erwiderte ihren Gruß. Aber das konnte Tarzan nicht abschrecken. Ganz selbstverständlich schwang er sich auf einen Barhocker. Karl fühlte sich ermu55
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tigt und tat es ihm nach. Klößchen hatte etwas Mühe, auf den hohen Hocker zu klettern.Als er endlich saß, wäre er beinahe umgekippt, hielt sich aber am Thekenrand fest und wurde zusätzlich von Tarzan gestützt. »Ja?«, fragte der Wirt. »Für mich eine Cola«, sagte Tarzan, »bitte«. Karl nahm das Gleiche. Klößchen wollte was essen, aber ihm wurde beschieden, die Küche sei noch geschlossen, weshalb er dann auch eine Cola nahm. Der Wirt servierte lustlos und griff wieder zum Lappen, um weiterzupolieren. Die Toiletten sind hinten, dachte Tarzan. Auf dem Wege dorthin kann ich in sämtliche Nischen sehen. Bin gespannt, ob er da ist. Schon wollte er mit einem »Komme gleich wieder« vom Sitz steigen, als die Stimme sich vernehmen ließ: heiser, etwas lallend, unverwechselbar. Sie kam aus einer der hinteren Nischen. »Heh, Bossert! Noch ’nen Doppelten!« »Kommt sofort!«, antwortete der Wirt. Karl machte eine überraschte Bewegung. Klößchen stieß fast sein Glas um. »Das iiist er«, flüsterte er – laut genug, dass Bossert nichts überhören konnte. Er schenkte gerade Schnaps ein, hielt inne und sah her. Gleichmütig erwiderte Tarzan den Blick. Bosserts Aufmerksamkeit erlosch. Er füllte das Glas, trat am anderen Ende hinter der Theke hervor und brachte Tomasino den Schnaps. »Er sitzt in der drittletzten Nische.« Tarzan sprach so leise, dass nur seine Freunde ihn verstehen konnten. »Einer von uns muss Kommissar Glockner anrufen. Karl, bitte! Mach du das! Wir passen hier auf, dass Tomasino nicht abhaut. Aber mach ihn nicht unnötig scheu. Vielleicht erkennt er dich, 56
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wenn du an der Nische vorbei zum Telefon gehst. Besser, du nimmst die Fernsprechzelle am Ende der Straße.« »Gut!« Karl trank aus, schlenkerte seine langen Glieder vom Hocker und verließ die »Grotte«. Bossert, der jetzt wieder polierte, deutete auf Karls leeren Platz. »Bezahlt ihr für den?« »Er kommt wieder«, antwortete Tarzan. In Tomasinos Nische wurde ein Stuhl gerückt. Aus den Augenwinkeln beobachtete Tarzan, wie der Dompteur sich hervorschob. Er trug eine ausgebeulte Cordjacke und sah so ungepflegt aus wie gestern. Unsicheren Schritts kam er heran, wobei er eine dicke Brieftasche aufklappte. Im trüben Licht schien er die Jungs nicht zu bemerken, oder sein Alkoholpegel vernebelte den Blick. »Zahlen, Bossert!« »Das macht, Carlo, ja… genau 44!« Tomasino brummelte was. Vielleicht schien ihm die Rechnung zu hoch. Ein 50-Euro-Schein flatterte über die Theke. »Stimmt so!« Bossert nickte, als wären sechs Euro Trinkgeld hier selbstverständlich, und gab dem Betrunkenen die Hand. Als Tomasino herankam, vertrat Tarzan ihm den Weg. »Herr Tomasino!«, sagte er scharf. »Sie können jetzt nicht weg. Die Polizei will mit Ihnen reden und wird jeden Moment hier sein.« Die schwarzen Augen des Dompteurs verengten sich. Erkennen flammte auf wie ein Funke. Ein tückischer Ausdruck trat in das verwüstete Gesicht. »Ach«, sagte er leise. »Der Bengel! Der Schläger! Der… Dass ich mit dir abrechne, Freundchen, habe ich mir geschworen.« Seine Hand griff in die Tasche. »Willi, geh hinter mich!«, sagte Tarzan, und das ließ Klöß57
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chen, der sich zwischen ihm und Tomasino befand, sich nicht zwei Mal sagen. Ein Schnappmesser lag in Tomasinos Faust. Mit einem metallischen Geräusch fuhr die Klinge aus dem Griff. »Das kann nicht Ihr Ernst sein.« Tarzan packte einen der Hocker. »Lassen Sie das Messer fallen und nehmen Sie Vernunft an! Sonst machen Sie sich unglücklich!« Im Gesicht des Dompteurs sammelte sich Blut. Es lief rot an. Violett, fast schwarz hoben sich Tränensäcke und Augenhöhlen davon ab. Er sah grässlich aus, der Kerl. »Wenn Sie mich angreifen, schlage ich Sie nieder«, drohte Tarzan, wusste aber, dass hier Worte nichts bewirkten. Tomasino machte einen Schritt auf ihn zu. Beistand kam von unvermuteter Seite. Von Bossert. Der griff unter die Theke, hob den Arm, schwang den Gummiknüppel nur so hoch wie nötig und klopfte Tomasino locker ins Genick. Es war dosiert. Viel konnte dabei nicht kaputtgehen. Aber die Behandlung reichte. Tomasino verdrehte die Augen. Das Messer fiel ihm aus der Hand. Er wollte sich an der Theke festhalten, sackte aber zu Boden und riss dabei einen Hocker um. Ausgestreckt schien es ihm auf dem roten Teppichboden zu gefallen. Jedenfalls – er blieb liegen und schloss die Augen. »Danke!«, sagte Tarzan. »Das war elegant und fast schmerzlos. Ich musste ihn gestern schon prügeln, als er ein Mädchen anfiel. Bei dem stimmt’s nicht mehr.« »In meinem Lokal gibt’s keine Schlägerei«, knurrte Bossert. »Was hast du da von der Polizei gesagt?« »Tomasino wird gesucht. Alles andere werden Sie noch hören.« Schweigen breitete sich aus. Bossert legte den Gummiknüppel vor sich auf die Theke. Karl kam zurück, stutzte, nahm dann hastig die Brille ab und rieb die Gläser am Ärmel. Er habe, berichtete er, den 58
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Kommissar nicht zu Hause erreicht, sondern im Präsidium, wo er – wieder mal – zusätzlich Dienst mache. Heute jedenfalls. Herr Glockner käme sofort. »Von dem verschwundenen Tiger wusste er noch nichts«, sagte Karl leise. »Ich habe ihm alles erzählt. Nur Büchl«, er grinste, »blieb unerwähnt. Der wird sich wundern, wenn er merkt, dass das jetzt nicht mehr sein Fall ist.« Tarzan sagte, so sei es prima, und beobachtete Tomasino, der schnarchende Laute von sich gab. Dann warteten sie.
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5. Größte Gefahr für die Mädchen Kommissar Glockner war ein großer, stabiler Mann mit schütterem Haar und wachsamen Augen. Mit der TKKGBande war er nicht nur durch seine Tochter Gaby herzlich verbunden. Bei vielen Gelegenheiten hatte er geholfen. Für ihn gingen die Jungs durchs Feuer. Begleitet von einem uniformierten Polizisten, betrat er die »Grotte«. Carlo schlief noch. Kein weiterer Gast war gekommen. Bossert polierte wieder am Bierdruckapparat und die Jungs hatten inzwischen ihre Zeche bezahlt. »Hast du ihn niedergeschlagen?«, wurde Tarzan von Glockner gefragt, nachdem der Kommissar die Jungen begrüßt haue. Sie berichteten ihm, was passiert war, und Glockner sprach kurz mit dem Wirt, woher er den Dompteur kenne und ob der irgendwas über seinen Tiger geäußert habe. Aber dabei kam nichts ans Licht. Bossert bezeichnete Carlo als einen – im Allgemeinen friedlichen – Gast, der in den letzten Wochen häufig gekommen sei und kräftig getrunken habe. Der Uniformierte untersuchte ihn. Carlo regte sich bereits, schlug die Augen auf und starrte wütend um sich. Er konnte sich aufsetzen, wurde unter den Achseln gefasst und in die Höhe gestemmt. Jetzt stand er – unsicher zwar, aber immerhin wie jemand, der ärztliche Hilfe nicht braucht. »Ich muss Sie festnehmen«, erklärte ihm Glockner. »Sie haben Peter Carsten in gefährlicher Weise bedroht.« Er hielt ihm das Schnappmesser vors Gesicht, etwas zu nah offenbar, denn Tomasino begann zu schielen, um es deutlich zu sehen. »Außerdem«, fuhr Glockner fort, »werden Sie polizeilich gesucht. Ihr Tiger ist aus seinem Käfig verschwunden. Ein gefährliches Tier. Sagen Sie uns, wo Sie ihn hingebracht haben!« Carlo Tomasino spuckte aus. Ob er einen üblen Ge60
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schmack auf der Zunge hatte oder ob er Geringschätzung ausdrücken wollte, war nicht ersichtlich. »Heh!«, sagte Bossert. »Mein Teppichboden, du Ferkel!« »Wo haben Sie Ihren Tiger?«, wiederholte der Kommissar seine Frage. Ein Grinsen – breit wie ein Froschmaul – zeichnete sich auf das zerfurchte Gesicht. Plötzlich schien er belustigt zu sein – aber das war wohl mehr Schadenfreude. »Wo… wo… Napur ist, ja?« »Wo ist er?«, sagte Glockner. »Möchtest du… wissen, ver… verdammter Bulle, was? Jaaa, jetzt zeige ich’s euch. Jetzt lernt ihr… lernt ihr Carlo Tomasino kennen. Auf mir rumtrampeln … mich einweisen… mich entmündigen… das wollt ihr doch! Dafür kriegt ihr euer Fett. Ihr alle! Napur ist meine Waffe.« »Was soll das heißen?« Carlo beleckte die Zähne. Es wirkte, als hätte er das seinem Tiger abgeguckt. »Mein Napur… den habe ich letzte Nacht ausgesetzt. Über die Forststraße habe ich ihn in den Großen Wald gefahren. Und dann freigelassen. Um zwei Uhr morgens – bei den Singenden Felsen.« Es wurde so still, dass das Tropfen des Bierhahns wie ein Wasserfall zu rauschen schien. Freigelassen? Bei den Singenden Felsen? Tarzans Bauchmuskeln verkrampften sich schmerzhaft. Ein kalter Schauer rieselte ihm über die Haut. Unmöglich! Das wäre… eine Wahnsinnstat! Eine Katastrophe! Ein unglaubliches Verbrechen! Bei den Singenden Felsen ist doch das Mädchenlager! Und der Wald voller Menschen – ganz abgesehen vom Wild! Das kann Tomasino nicht… Oder? Ist der noch normal? Dieses Wrack? Sein Verhalten gestern sagt alles. Nein, der lügt nicht. Der blufft nicht. Der will nicht nur erschrecken. Es stimmt! 61
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Er sah Gabys Vater an. Glockners Gesicht war kreideweiß. Seine Stimme klang, als käme sie aus einem blechernen Automaten. »Wiederholen Sie das!« Tomasino lächelte tückisch. Er flüsterte: »Der Tiger ist frei. Bei den Singenden Felsen im Großen Wald habe ich ihn ausgesetzt. Letzte Nacht!« »Herr Kommissar!« Der Polizist fiel Glockner in den Arm. Gabys Vater trat zurück, strich sich über die Stirn und presste die Zähne zusammen. »Sofort zum Präsidium, Müller! Wir müssen… O Gott!« Er packte Tomasino und riss ihn mit sich zur Tür. Tarzan sah noch, wie Bossert Mund und Augen aufsperrte – dann folgte er den drei Männern. Wachtmeister Müller öffnete eine der Hintertüren und zwang den sich wehrenden Dompteur auf den Rücksitz des Polizeiwagens. »Wenn Sie nicht vernünftig sind«, fuhr er den Kerl an, »lege ich Ihnen Handschellen um.« Tomasino fügte sich. Glockner saß bereits am Lenkrad. Müller stieg hinten ein. »Darf ich mit?«, fragte Tarzan. »Bitte!« Glockner nickte. »Nehmt mein Rad und kommt nach«, rief Tarzan seinen Freunden zu. Denn für sie und die drei Tretmühlen war im Polizeiwagen kein Platz. Dann glitt er auf den Beifahrersitz und Glockner fuhr an. Sofort schaltete er Sirene und Blaulicht ein. Das fegte die Straßen vor ihnen frei. Die anderen Autos rückten zur Seite und hielten. Von der Seite beobachtete er Glockner. Der Kommissar sah aus, als hätte er die schlimmste Nachricht seines Lebens erhalten. Der Mund zuckte. In den Augen stand Entsetzen. 62
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Tarzan klappte die Sonnenblende herab und sah in den kleinen Spiegel. Himmel, ich seh ja genauso aus! Das ist, weil wir jetzt beide wahnsinnige Angst haben – Angst um Gaby. Und dann schwor er sich in diesem Augenblick: Wenn ihr etwas zustößt – wenn der Tiger sie anfällt, bringe ich Tomasino um. Egal was mit mir wird. »Wie groß ist das Tier?«, fragte Glockner. Tarzan spürte, dass die Frage ihm galt. »Leider sehr groß. Und in bester Verfassung. Er sieht gefährlich aus. Gestern wurde er reichlich gefüttert und müsste eigentlich noch satt sein.« Glockner nickte. Der betrunkene Tomasino hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Sein Kopf sank auf die Brust. Der Kiefer hing herab. Sie erreichten das Präsidium. Müller kümmerte sich um den Dompteur. Glockner jagte in langen Sätzen die Stufen hoch. Tarzan wich ihm nicht von der Seite. Er wusste, was kommen würde – kommen musste, wenn hier alles Dienstliche erledigt war. Und da wollte er dabei sein – um jeden Preis. »Warte in meinem Büro!«, sagte Glockner. »Ich verständige den Chef« Damit meinte er den Polizei-Präsidenten. Wegen eines Fahrraddiebstahls oder ähnlicher Delikte (Straftat) durfte man den nicht behelligen. Aber was jetzt anlag, war an Gewicht kaum zu überbieten: eine Gefahr für die Allgemeinheit – unberechenbar, unabsehbar, nicht abzuwenden mit herkömmlichen Mitteln. Kaum hatte Tarzan sich in Glockners Büro in eine Ecke gesetzt, kamen die ersten Kollegen des Kommissars herein. Er kannte die meisten und musste wiederholen, was er wusste. Bestürzung breitete sich auf den Gesichtern aus. »Gaby ist in dem Zeltlager«, sagte einer der Beamten. 63
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»Himmel, ich möchte jetzt nicht in Emils Haut… ich glaube, ich würde durchdrehen, könnte keine vernünftige Entscheidung treffen und…« Er verstummte. Glockner, der mit Vornamen Emil hieß, stürmte herein, warf die Tür zu und trat hinter seinen Schreibtisch. »Wie weit seid ihr informiert?« »Ich habe Ihren Kollegen alles berichtet«, sagte Tarzan. »Gut! Es erübrigt sich auszuführen, wie katastrophal die Situation ist, dass wir ein Unglück kaum verhindern können. Aber wir werden alles tun. Bei den Singenden Felsen ist das Zeltlager mit zwölf Mädchen und zwei Aufsicht führenden Frauen. Es gibt keine Telefonleitung dorthin. Im Wald befindet sich wahrscheinlich schon eine große Anzahl von Pfingstausflüglern. Von den verstreut stehenden Wochenendhäusern ist mit Sicherheit eins belegt. Zehn oder zwölf Lehrer der Internatsschule sind dort während der Feiertage. Ebenfalls bewohnt sind sämtliche Häuser der bekannten Waldsiedlung Lerchenau. Acht Häuser, meines Wissens, mit ebenso vielen Familien. Kinderzahl ist unbekannt. Ferner: Am Westrand des Waldes befindet sich eine Schafherde mit etwa 500 Tieren – unter der Obhut eines Schäfers.« Er hielt inne, starrte für einen Moment auf die Schreibtischplatte und zwang sich zur Ruhe. »Ich habe folgende Maßnahmen mit dem Chef abgesprochen«, fuhr er fort. »Alle Zufahrtstraßen zum Wald – alle Wege in den Wald werden sofort abgesperrt. Mit allen verfügbaren Mitteln. Die Leitung übernimmst du, Paul«, wandte er sich an einen energischen Typ. »Dein Standort ist die Einsatzzentrale.« Paul nickte und war schon an der Tür. »Der Chef«, sagte Glockner, »hat bereits einen Mannschaftshubschrauber vom Bundesgrenzschutz losgeschickt. Das einzige Gefährt entsprechender Größe, das auf die Schnelle verfügbar war. Der Hubschrauber landet bei den 64
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Singenden Felsen und nimmt die Mädchen und die beiden Betreuerinnen auf. Diese Gruppe ist am stärksten gefährdet. Dass wir sie so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone rausbringen, ist jetzt das Wichtigste.« Gott sei Dank! Tarzan seufzte vernehmlich. Das war ja die Lösung. So ein Hubschrauber machte das im Handumdrehen. Ein Lob der Technik und den Errungenschaften des 20. Jahrhunderts! »Sechs Streifenwagen«, erklärte Glockner, »mit bewaffneten Scharfschützen befahren sofort sämtliche Waldwege nach einem bestimmten Plan. Unablässige Lautsprecher-Durchsagen werden Wanderer und Camper warnen. Willibald, du übernimmst die Strategie (Feldherrnkunst). Du, Robert, verständigst die Leute in Lerchenau telefonisch. Die Anschlüsse werden soeben festgestellt. Die Leute sollen in ihren Häusern bleiben, Fenster, Türen und möglichst auch Jalousien schließen. Zu ihrem Schutz schicken wir zwei Streifenwagen mit Bewaffneten hin. Ich glaube, das wär’s im Moment.« Ein Gemurmel erhob sich. Wer nicht für den Katastrophenplan TIGER eingeteilt war, blieb noch. Jeder versuchte, tröstende Worte für Glockner zu finden. Aber sein Gesicht war wie versteinert. Himmel!, dachte Tarzan. Hoffentlich meldet sich der Hubschrauberpilot gleich über Funk, sobald die Mädchen an Bord sind. Erst dann können wir aufatmen. Mit dem Hubschrauber-Einsatz hatte er, Tarzan, nicht gerechnet, sondern damit, dass Glockner und Kollegen mit Fahrzeugen zu dem Zeltlager rasen würden. Dabei sein zu dürfen, wenn Gaby gerettet wurde – darauf hatte er gehofft. Es klopfte. Ein bebrillter Mann trat ein. Glockner redete ihn mit »Doktor« an und wies auf einen Stuhl. Wie Tarzan später erfuhr, handelte es sich um den Polizei-Psychologen (Seelenforscher). Zu seinen Aufgaben ge65
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hörte es, sich um Straftäter zu kümmern, deren geistige und seelische Gesundheit fraglich war. »Tomasino«, sagte er, »sperrt sich nicht mehr, sondern spricht ganz offen. Sein Motiv ist Hass. Er hasst alles und jeden, besonders die Mitmenschen. Seine Persönlichkeit ist weitgehend zerstört. Immerhin hat er ausführlich über Napur geredet. Ich bin kein Zoologe (Tierforscher), habe aber doch Folgendes begriffen: Napur ist fünf Jahre alt und wurde in Gefangenschaft geboren. Das heißt, er kennt die Freiheit nicht, die er jetzt hat, und wird eine Weile brauchen, um sich zurechtzufinden. Das heißt, wir können damit rechnen, dass er anfangs scheu ist, sogar verstört. Aber nach und nach werden seine natürlichen Instinkte durchbrechen. Spätestens wenn der Hunger sich meldet, erwacht auch der Jäger in ihm. Damit ist – im günstigsten Fall – nach zwei Mal 24 Stunden ab letzter Fütterung zu rechnen. Dann wird er Wild töten, vielleicht auch – wenn sie ihm unabsichtlich zu nahe kommen und er sich bedroht fühlt – Menschen.« »Aber es gibt keine Garantie dafür, dass seine Zurückhaltung so lange anhält?«, fragte Glockner. »Das nicht. Es kann sein, dass er jederzeit tötet, wenn er erschreckt oder gereizt wird. Nur die Jagd nach der Beute findet – wahrscheinlich – noch nicht statt.« »Kein Trost«, sagte einer der Männer. Der Psychologe hob die Achseln, als müsse er sich entschuldigen. Tarzan sah auf seine Armbanduhr. Der Hubschrauber musste längst gelandet sein. Wieder öffnete sich die Tür. Kommissar Blüchl schob seine lachsfarbene Glatze herein. »Wie ich höre, Glockner, bearbeiten Sie jetzt den Fall.« Gabys Vater nickte. »Ich bin unmittelbar betroffen«, sagte er. »Meine Tochter ist im Wald.« »Oh! Na, so schnell beißt auch ein Tiger nicht.« Er be66
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merkte Tarzan und sein Blick wurde giftig. Sicherlich konnte er sich denken, wie die Zusammenhänge waren. Und dass die Jungs in voller Absicht nicht ihn, sondern Kommissar Glockner verständigt hatten. Aber Büchl verbarg seinen Unmut. Er sagte: »Es hängt zwar nicht mit dem Fall Tiger zusammen. Aber Sie sollten es trotzdem wissen, Glockner. Heute Morgen kam es auf der Straße nach Hängenbach zu einem Verkehrsunfall. Ein Gefangenentransporter wurde von einem Laster gerammt und kippte um. Dabei konnten zwei schwere Jungs – Georg Hardtke und Otto Fensel – entkommen. Sie haben sich die Pistolen der Justizbeamten angeeignet. Möglicherweise verstecken sie sich im Großen Wald. Jedenfalls müssen Sie bei der Suche nach dem Tiger mit einer Begegnung rechnen.« »Danke, Büchl! Ich werde daran denken.« Büchl verschwand. Glockner machte sich eine Notiz. Es kommt aber wirklich alles zusammen, dachte Tarzan. Von einem ruhigen Pfingstfest kann keine Rede sein. Es sei denn, Napur spaziert freiwillig in seinen Käfig zurück. Glockners Telefon klingelte. Während er dem Anrufer lauschte, wich der letzte Blutstropfen aus seinem Gesicht. »Ja«, sagte er heiser. »Habe alles mitbekommen.« Er legte auf. Sein Blick war leer. Mit einer Stimme, die nicht ihm zu gehören schien, sagte er: »Der Pilot des Hubschraubers hat sich über Funk gemeldet. Er konnte landen, hat aber niemanden angetroffen. Das Lager der Mädchen ist verlassen. Nichts deutet auf überstürzte Flucht hin. Alles ist aufgeräumt. Die Zelte sind verschlossen. Im Umkreis des Lagers befindet sich niemand. Das heißt, die Gruppe ist – vielleicht schon vor Stunden – zu einer Wanderung aufgebrochen. Was ja auch zum Programm gehört. Das Netz der Wanderwege ist – wie wir wissen – riesig, kaum zu überblicken. Wir wissen nicht, wo die Mädchen jetzt sind.« 67
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Lähmendes Entsetzen griff um sich. Tarzan fasste sich. »Aber der Hubschrauber könnte sie suchen. Aus der Luft hat er Überblick.« Glockner nickte. »Der Pilot überfliegt das Waldgebiet und versucht, sie ausfindig zu machen. Aber bei mehr als sechstausend Quadratkilometern ist das wie die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen.Außerdem ist der Wald rund um den Naturschutzpark sehr dicht. Über Pfaden und Wanderwegen schließen sich die Zweige.Wir können nur auf einen Zufall hoffen. Außerdem bestünde auch dann noch die Schwierigkeit, dass der Pilot die Gruppe nicht warnen kann. Denn dass er gleich eine Waldwiese zum Landen findet, ist unwahrscheinlich. Auch von den patrouillierenden Streifenwagen verspreche ich mir wenig. Auf schmalen Wanderwegen ist für die kein Durchkommen.« Er stand auf. Sein Gesicht spiegelte übermenschliche Beherrschung. Er öffnete die Schreibtischlade, nahm seine Dienstpistole heraus und legte das Halfter um. »Du willst in den Wald«, sagte einer der Kollegen. Es war mehr Feststellung als Frage. Glockner nickte. Niemand sagte was dazu. Glockner sagte: »Ich weiß nicht, ob es sinnvoll ist und ob ich irgendwas ausrichten kann. Aber hier hocke ich nur rum. Was hier zu regeln ist, ist geregelt. Meine Tochter ist bei den Mädchen. Ich werde versuchen, die Gruppe zu finden.« »Weiß deine Frau schon Bescheid?« Glockner schüttelte den Kopf »Sie kann noch weniger tun als ich. Aber die Angst um Gaby… Nein! Je später Margot davon erfährt, umso besser!« Er wandte sich zur Tür. »Sagt bitte dem Chef, wo ich bin und dass mit mir nicht mehr zu rechnen ist.« »Viel Glück!«, wünschten seine Kollegen. Aber die Stimmen klangen nach berechtigtem Zweifel. 68
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Tarzan wartete, bis die Tür sich hinter Glockner schloss. Dann stahl er sich hinaus. Auf dem Platz vor dem Polizei-Präsidium ging es lebhaft zu. Der Straßenverkehr flutete. Als Glockner die Tür seines Dienstwagens öffnete, stand Tarzan neben ihm. Der Kommissar furchte die Stirn. »Wenn du denkst…«, begann er. Aber zum ersten Mal, seit sie sich kannten, wurde er von dem Jungen unterbrochen. »Sie lehnen es sicherlich ab, mich mitzunehmen, Herr Glockner. Schön! Dann fahre ich eben mit meinem Rad in den Wald. Und keine Absperrung wird mich daran hindern. Das schwöre ich Ihnen. Wenn ich mit Ihnen fahre, ist das ziemlich ungefährlich. Dagegen wäre es mit dem Rad sehr riskant. Aber das ist mir egal. Es geht um Gaby.« Für einen Moment sahen sie sich an. Nichts regte sich in Glockners Gesicht. »Steig ein!«, sagte er dann.
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6. Ein Lehrer rennt um sein Leben Sie hatten tüchtig gefeiert letzte Nacht. Jetzt am Vormittag waren alle etwas träge.Aber schließlich – Ferien sind auch für gestresste Lehrer da. Deshalb würden sie heute eine ruhige Kugel schieben – und fingen auch gleich damit an. Assessor Keups Wochenendhaus stand am Rande einer kleinen Waldlichtung, etwa fünf Kilometer von den Singenden Felsen entfernt. Ein morastiger Weg, der von der Forststraße abzweigte, führte hierher. Das Gebäude war eine Blockhütte, aus ungeschälten Stämmen gefügt, mit einem Holzschindeldach und sechs Fenstern, deren Läden jetzt geöffnet waren. Es gab zwei Räume. Den größeren zierten wohnliche Möbel, allerdings einfachster Bauart. Der andere war zum Matratzenlager für neun Personen hergerichtet: für fünf junge Lehrer und vier aparte Kolleginnen. An der Rückwand der Hütte befand sich ein Plumpsklo. Nebenan plätscherte quellfrisches Wasser in einen hölzernen Zuber: das Freiluft-Badezimmer. Der Zulauf erfolgte durch verrostete Rohre von einer nahen Quelle. Über die Lichtung zogen verheißungsvolle Düfte. Auf einem Holzkohlengrill schmorten Bratwürste, Koteletts, ungeschälte Kartoffeln, Tomaten und Zwiebeln. Das sollte das Frühstück werden, beziehungsweise das Mittagessen – oder beides zusammen. Denn bisher hatte noch keiner gegessen, sondern sich mit starkem Kaffee begnügt und – falls erforderlich – einer Kopfwehtablette. Die vier Damen trugen Bikinis, ruhten in Liegestühlen und sonnten sich.Ab und zu wurde eine dreiste Mücke abgewehrt oder erneut Bräunungsöl aufgetragen. Keine der vier hatte gut geschlafen. Das Matratzenlager war ungewohnt. Edeltraut Merkat, einer blonden Biologie-Lehrerin von 29 Jahren, tat der Rücken weh. Schöne Erholung!, dachte sie. 70
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In einer ländlichen Pension hätte ich’s jetzt bequemer. Aber was soll’s! Wir sind eine nette Runde. »Wolfi!«, rief ihre Kollegin Silke Drewes. »Da brennt was an. Musst die Schnitzel wenden.« »Wird besorgt!«, antwortete Wolfgang Keup. Er trat zum Grill und sah, dass ein Stückchen Fleisch in die Glut gefallen und schon völlig verkohlt war. Alles Übrige war noch lange nicht fertig. Die fünf Lehrer saßen rund um einen Gartentisch und drei von ihnen spielten Skat, zwei kiebitzten. Das schien zu faszinieren, denn sie hatten keinen Blick übrig für die BikiniSchönheiten und die Natur ringsum. »Du gibst«, sagte Wolfi und schob Werner Pechowski die Karten zu. »Schöne Kavaliere!«, sagte Silke leise. »Sind eben Kollegen!« Edeltraut richtete sich auf. »Ich glaube, ich kriege einen Sonnenbrand.« »Sei bloß vorsichtig!«, warnte Martha, ohne die Augen zu öffnen. »Bloß bin ich fast«, lachte Edeltraut. Jutta, die Vierte, atmete tief, war offenbar eingeschlafen. Sonnenbrand brauchte sie nicht zu befürchten. Sie hatte pechschwarzes Haar und braune, pigmentreiche Haut. Edeltraut erhob sich. »Ich geh mal zur Quelle und plantsche.« Niemand antwortete. Niemand kam mit. Edeltraut spürte leichte Kopfschmerzen. Offenbar hatte sie schon zu lange in der Sonne gelegen. Als sie in den Schatten unter den Bäumen trat, wurde ihr taumelig zumute. Aber nur für einen Moment. Sie zwinkerte, weil die Augen etwas tränten, ging über weiches Moos, durch raschelndes Laub und über schilfrige Gräser. Bei der Quelle war der Boden feucht und kühl. Sie stellte sich in das nur wadentiefe Wasser und wusch sich das Gesicht. 71
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Im Wald war Vogelkonzert. Ein Specht hämmerte ganz in der Nähe. Insekten summten. Als Edeltraut sich aufrichtete, hatte sie Wasser in den Augen – als wäre sie beim Schwimmen getaucht und jetzt an die Oberfläche gestoßen. Quellwasser hing perlig in ihren rostfarbenen Wimpern. Für einen Moment sah sie alles verschleiert – auch die dichten, hohen Farne unter den Bäumen, etwa 20 Meter entfernt. An einer Stelle hatte das grüne Blattwerk sich geteilt. Reglos schwebte dort der mächtige Schädel eines Tigers: braungelb mit dunklen Streifen. Grüne Augen glitzerten. Amüsiert schloss Edeltraut die Augen. Na, so was!, dachte sie. Habe ich einen Sonnenstich? Oder bin ich verkatert? Gleich sehe ich noch einen rosa Elefanten! Nicht zu glauben, was für Halluzinationen (Sinnestäuschungen) man hat! Sie rieb sich das Wasser aus den Augen und sah abermals zu den Farnen. Der Tigerschädel war verschwunden. Na also! Leichter Wind strich über die Farne. Sie bewegten sich sanft. Edeltraut tauchte die Arme ins Wasser und ging dann zur Hütte zurück. Erst wollte sie von ihrer Wahrnehmung erzählen, um zur allgemeinen Belustigung beizutragen. Aber dann verwarf sie den Gedanken. Es hätte sie wohl doch in ein etwas schiefes Licht gerückt und der Spaß wäre – wie sie meinte – nur auf ihre Kosten gegangen. Wolfi Keup trat eben aus der Hütte, führte die Hand zum Mund, schluckte etwas und spülte mit Bier nach. »Das ist schon deine zweite Kopfschmerztablette«, lachte Werner Pechowski. Wolfi grinste verlegen. »Hoffentlich hilft sie gegen Gespenster?« »Gespenster?«, fragte ein anderer Kollege. 72
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Wolfi setzte sich wieder an den Tisch und griff nach seinen Karten. »Was man eben so sieht«, meinte er nebenhin, »wenn man einen über den Durst getrunken hat.« »Hast du die Waldfee gesehen?« Lachend knallte Pechowski den Herzbuben auf den Tisch. »Nee, einen Tiger.« »Was?« Edeltraut schrie so schrill, dass ihre Kolleginnen aus den Liegestühlen hochfuhren. »Einen… einen Tiger?« Verwundert blickten die Männer sie an. »Ich weiß«, sagte Wolfi, »dass es im deutschen Wald keine Tiger gibt. Nicht mal Nashörner, hahah. Aber Licht und Schatten, Sonne und Bier und die eigene Einbildung gaukeln einem die seltsamsten…« »Ich habe auch einen Tiger gesehen«, unterbrach Edeltraut. »Eben. In den Farnen bei der Quelle. Einen gewaltigen Tigerschädel. Nur für einen Moment und mit Wasser in den Augen. In meinen Augen, meine ich. Deshalb – ich glaubte auch, ich spinne.« Für einen Moment sagte keiner was. Langsam drehte Wolfi sich um. Mit flacher Hand schirmte er die Augen gegen das Sonnenlicht ab. Er sah lang und aufmerksam hinüber zu den dichten Büschen auf der anderen Seite der Lichtung. »Dort habe ich ihn gesehen. Auch nur den Kopf. Ganz kurz. Dann war er verschwunden.« »Das ist doch unmöglich«, sagte Pechowski, »im Naturschutzpark sind zwar Luchse ausgesetzt, aber keine Tiger. Vielleicht habt ihr eine Wildkatze…« »Werner!«, fiel Edeltraut ihm ins Wort. »Ich habe Biologie und Zoologie studiert. Ich kann einen Tiger von einer Wildkatze unterscheiden.« »Klar, aber…« 73
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»Werner, es war ein Tiger!«, wurde er abermals unterbrochen – allerdings von Wolfi. »Na, schön! Der Wald wimmelt also von Tigern. Mir soll’s recht sein. Spielen wir weiter? Du bist dran.« »Warum regt ihr euch auf«, meinte ein anderer Kollege. Und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: »Ist doch klar, was da läuft. Wir werden geärgert.« Alle grinsten, nachdem sie begriffen hatten. »Du meinst«, sagte Pechowski leise, »unsere lieben Schüler haben uns aufs Korn genommen?« »Wer denn sonst?« »Hm. Könnte stimmen. Es müssen Externe sein. Die Heimschüler sind alle nach Hause gefahren. Dass wir hier die Natur anbeten, hat sich sicherlich rumgesprochen. Es soll ja immer noch Tigerfelle als Bettvorleger geben. Mit ’nem dicken Schädel dran. Damit wollen sie uns Angst einjagen.« »Aber er hat die Zähne gefletscht«, sagte Wolfi. »Also – das nun bestimmt nicht. Das hast du dir eingebildet.« Pechowski grinste. »Bin gespannt, wer im Fell steckt.« Wolfi seufzte erleichtert. »Den Bengeln verderbe ich den Spaß. Wenn der Kopf wieder auftaucht, nehme ich eine Grillwurst und gehe auf ihn zu – als wollte ich ihn füttern.« Seine Kollegen lachten. Alle hatten sich umgewandt und suchten Büsche und Sträucher mit Blicken ab. Rund um die Lichtung wuchsen auch Farne und hohes Gras. Kein Tiger zeigte sich. »Sie überreizen die Sache nicht«, sagte Wolfi. »Sie sind geschickt.« »Wahrscheinlich verträgt ihr Tigerschädel keinen zweiten Blick«, meinte Pechowski. »Ist sicherlich so alt, dass das Sägemehl rausrieselt.« »Macht gefälligst ein besorgtes Gesicht!«, sagte ein anderer. »Sonst merken sie, dass wir ihr Spiel durchschaut haben.« 74
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In der Ferne quirlte ein Hubschrauber durch die sonnenhelle Luft. Er schien sehr tief zu fliegen, dicht über den Baumkronen. Und das am Pfingstsamstag!, dachte Edeltraut ärgerlich. Das fällt unter ruhestörenden Lärm. Dagegen sollte man vorgehen. Unglaublich! Soll doch der Bundesgrenzschutz seine Übungen sonst wann abhalten! »Da!«, zischte Pechowski. »Rechts neben der Eiche!« Wolfi kniff die Augen zusammen. »Ich sehe nichts.« »Die Büsche haben sich bewegt. Dort sind die Lümmel. Aber sie pirschen nach rechts. Ich kann’s ganz deutlich an der Bewegung der Zweige verfolgen. Sie umrunden die Lichtung, um näher an uns heranzukommen.« »Ich werde sie erschrecken«, wisperte Wolfi. »Das ist noch wirkungsvoller. Ich steige durchs Rückfenster, schlage im Wald einen Bogen und komme hinter sie. Mit Gebrüll treibe ich sie auf die Lichtung. So weit kommt’s noch, dass wir uns von Pennälern (Schüler einer höheren Schule) veräppeln lassen.« »Ich finde es toll, dass sie sich so viel Mühe machen.« Edeltraut lächelte hinter ihrer Sonnenbrille, die sie jetzt aufgesetzt hatte. »Dann werde ich mal.« Wolfi stand auf. Ohne Hast trat er in die Hütte. Hier war es schattig und kühl. Er ging in den Schlafraum, stieg über die Matratzen zur Rückwand und öffnete das Fenster. Es befand sich neben dem Plumpsklo. Er kletterte hinaus, sprang auf den weichen Boden und huschte zu den Büschen. Sie wuchsen hier nicht so dicht wie vorn an der Lichtung. Er zwängte sich durch, überstieg ein Gewirr von Brombeerranken, trat Blaubeerkraut nieder und spähte nach links. Dort mussten sie irgendwo sein, die Jungs. 75
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Sicherlich einige besonders Unternehmungslustige aus der Mittelstufe, dachte er. Aber er hatte keine Vorstellung, wer es sein könnte. Er war jetzt an einer Stelle, wo nur Bäume standen, man also Überblick hatte. Er wollte noch tiefer in den Wald, um hinter die Kinder zu kommen. Aber die schienen sich im Eiltempo zu nähern. Zwischen Holundersträuchern standen die Farne hüfthoch. Sie bewegten sich, zitterten, als zwänge sich ein großes Tier durch. 30, höchstens 40 Meter war das entfernt. Wolfi Keup blieb stehen, starrte dorthin – und in diesem Moment wurde ihm klar: Auch der sportlichste Junge kann sich unmöglich so rasch auf allen vieren bewegen. Es musste tatsächlich ein Tiger sein! Vor den Farnen senkte sich der Boden zu einer Mulde. Sonnenlicht fiel schräg durch die Wipfel. Ein breiter Strahl war wie ein Spotlight (Scheinwerferlicht) auf wogende Farne gerichtet. Jetzt teilten sie sich. Wolfis Blut stockte. Seine Augen weiteten sich. Entsetzen schien seinen Herzschlag zu lähmen. Ungläubig starrte er den riesenhaften Tiger an. Langsam schob sich die Großkatze hervor. Glitzernde Augen waren auf ihn gerichtet. Napur hatte ihn geortet, lange bevor Wolfi die Bewegung im Grünen bemerken konnte. Jetzt zögerte der Tiger. Er wusste, dass er einen Menschen vor sich hatte. Aber es war nicht Tomasino, sein Herr, auch kein anderer vom Zirkus. Es war ein Zweibeiner mit fremdem Geruch, und Napur wollte sich klar darüber werden, was von ihm zu erwarten sei. Erhielt er von dem jetzt das Fressen? Oder war der selber ein Fressen – Beute? Sollte er ihn anspringen, niederreißen, mit einem einzigen Prankenhieb töten? Wolfis Herzschlag setzte wieder ein. Seine Knie begannen zu zittern. Er ahnte, dass er einen durchdringenden, weithin 76
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wahrnehmbaren Angstgeruch ausströmte – und dass er verloren war. Mindestens 50 Meter trennten ihn von der Hütte. Niemals konnte er das schaffen. Mit drei Sprüngen würde der Tiger ihn einholen. Was wohl in der Zeitung stehen wird, schoss es ihm durch den Kopf, wenn ich tot bin? Zerfetzt, zermalmt, halb von einer Bestie verspeist! Im Wald vom Tiger getötet. Grotesk! Ist das Vieh vom Himmel gefallen? Woher kommt es? Hinter Napur schwankten Farne. Wolfi begriff. Der Tiger war nervös, peitschte mit dem Schwanz und duckte sich jetzt. Unverwandt bannten die grün schillernden Augen das Opfer an seinen Platz. Sekunden verstrichen – Ewigkeiten für den Mann. Dann wurde ihm bewusst, dass ihn nur wenige Schritte von einer mächtigen Sumpfeiche trennten. Die untersten Äste befanden sich über Kopfhöhe, waren aber – unter normalen Umständen – im Sprung zu erreichen. Wolfi wusste nicht, ob er die Kraft dazu hatte. Und ob er sich hochziehen, auf den Ast schwingen und weiter hinaufklettern konnte. Aber er wusste, dass der Tiger auf ihn zuschnellen würde, sobald er sich bewegte, sobald er zum Baum rannte. Ein Wettlauf, buchstäblich, auf Leben und Tod. Wolfi atmete tief, presste dann die Luft aus den Lungen und hob den linken Fuß etwas an. Jetzt! Er warf sich nach vorn, rannte um sein Leben, sprang auf die Eiche zu und hörte im selben Moment das hölzerne Krachen von Ästen und Zweigen. Der Tiger setzte seinem Opfer nach – als sause ein gelber Blitz durch den Schatten des Waldes.
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Am Waldrand, wo die Forststraße begann, hatte man einen großen Parkplatz angelegt. Er war leer. Ein Dutzend Wagen mit enttäuschten Ausflüglern war Glockner und Tarzan auf dem Herweg begegnet. Polizisten hatten die Leute zurückgeschickt. Zwei Streifenwagen blockierten den Anfang der Forststraße. Uniformierte mit Maschinenpistolen blickten unentwegt unter die Bäume. Hier reichte die Sicht ziemlich weit. Es gab kein Unterholz, keine Büsche – der Wald war zur Parklandschaft ausgedünnt. Eichhörnchen jagten die Stämme hinauf. Meisen hopsten auf dem Parkplatz herum und pickten auf, was aus den Abfallkörben quoll. Schilder geboten, die Natur sauber zu halten.Aber das schienen zu wenige zu lesen. Glockner redete durchs offene Fenster mit den Beamten. »Wir haben noch mal Glück gehabt«, erklärte ein Wachtmeister stramm. »Der große Ansturm der Naturfreunde kommt erst noch. Es können nur wenige sein, die schon im Wald sind. Jede Zufahrt ist abgeriegelt. Wir ziehen einen dichten Kordon (Postenkette) um den Wald. Posten zu Posten unterhält Sprechfunkkontakt. Rein kommt niemand mehr, Herr Kommissar.« »Die Lautsprecherwagen sind drin?« »Jawohl, Herr Kommissar. Aber leider dringen die Durchsagen nicht so weit, wie es nötig wäre. Ich habe darauf geachtet, als Berta sieben (Bezeichnung für Streifenwagen) hier abfuhr. Die Durchsagen waren bald nicht mehr zu hören.« Glockner nickte und gebot, die Straße frei zu machen. Der Wachtmeister sah Tarzan neugierig an, fragte aber nichts. Sie fuhren weiter. Tarzan blickte zurück. Hinter ihnen schloss sich die Absperrung. Die Straße war sandig, aber fest. Alle naselang zweigten Wege ab. 78
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Gleich auf dem ersten Kilometer kamen sie an einem Waldschlepper, einem Fahrzeug der Forstarbeiter, vorbei. Es war halb mit Schichtholz beladen, aber keine Menschenseele in der Nähe. Hinter dem Fahrzeug hatten Forstarbeiter ihre Werkzeuge abgelegt: Äxte, Scheitkeile, Spalthämmer, hackenähnliche Dinger mit langem Stiel, Wendehaken, um Stämme zu bewegen, und Schäleisen, die wie große Schaber aussehen. Eine kompliziert erscheinende Entästungsmaschine war dabei – und eine Motorsäge. Glockner fuhr schnell. Tarzan sah, wie ein Eichelhäher davonglitt. Sie passierten ein Rundholzpolter (aufgeschichtete Stämme). Immer wieder säumten Schichtholzbänke (zu Raummetern geschichtetes Holz) die Fahrbahn. Der Wald wurde dichter. Aber zwischendurch sorgten Kahlschläge für freie Flächen, Platz für Pflanzgärten. Der Wagen rollte an einer Dickung vorbei, dann an Stangenholz, dünnen Stämmen, die so sperrig standen, dass Tarzan nicht so tief in den Wald hineinsehen konnte. Er achtete auf jeden Schatten, jede Bewegung – aber der Tiger zeigte sich nicht. Dann wandelte sich das Bild endgültig. Dichtes Unterholz unter hohen Nadelbäumen begleitete sie ständig. Hier konnten nur Tiere durchschlüpfen. »Kennst du die Waldsiedlung Lerchenau?«, fragte Glockner. »Ich war noch nicht dort.« »Sie liegt weiter nördlich und ziemlich stadtnah. Eine gut ausgebaute Straße führt drei Kilometer durch den Wald. Dann ist man da. War ein Blödsinn, im schönsten Waldgebiet so eine Ansiedlung zuzulassen. Aber während des zweiten Weltkrieges befand sich dort ein kleiner Rüstungsbetrieb. Davon blieb nichts nach 1945. Irgendwer kaufte das Gelände 79
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und setzte später durch, dass dort schicke Häuser entstanden. Sind sehr wohlhabende und ein bisschen spleenige (verschroben) Leute, die Lerchenauer. Aber – auch das muss es geben.« »Meinen Sie, dass die in Gefahr sind? Von den Singenden Felsen bis Lerchenau – das müssen fast 20 Kilometer sein. Luftlinie.« Glockner nickte. »Soviel ich weiß, schaffen Tiger das in einer Nacht.« »Eher ist doch zu erwarten, dass er sich tiefer in den Wald zurückzieht und nicht der Stadt entgegenläuft.« Der Kommissar hob die Achseln. »Bei einem Tiger mit Napurs Lebensgeschichte kann das niemand vorhersagen.« Sie hörten Hubschraubergeräusch. Es kam näher. Der Himmel dröhnte. Ein mächtiger Schatten glitt über sie hinweg. Tarzan verrenkte sich den Hals und sah noch den Heckrotor. »Der sucht und sucht…«, murmelte Glockner. Tarzan presste die Fäuste aneinander. Gaby darf nichts passieren, dachte er. Und den andern auch nicht. Himmel, der Wald ist doch voller Wild. Soll der Tiger sich ein Reh, einen Hirsch, ein Wildschwein holen! Gebe der Himmel, dass er nicht auf die Gruppe trifft.Aber sicherlich singen die Mädchen. Das würde ihn – egal ob sie gut oder schlecht singen – verscheuchen. Oder sie kichern und albern. Welchen Tiger interessiert das? Es besteht eine Chance, dass alles gut geht. Ja, bestimmt! »Beim Lager werde ich versuchen, die Spur aufzunehmen«, sagte Glockner. »Wir werden es versuchen, Herr Glockner.« »Du bleibst im Wagen!« »Klar! Ich schlafe inzwischen ein bisschen.« »Sei vernünftig, Tarzan. Ich kann nicht auf uns beide auf80
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passen. Gegen den Tiger ist meine Pistole eine lächerliche Waffe. Du bleibst beim Lager, riegelst dich im Wagen ein und wartest auf die Mädchen.« »Die sind entweder schon zurück oder sie kommen nicht vor heute Abend.« »Trotzdem gehe ich allein.« »Herr Glockner, bitte! Ich bin Ihnen bestimmt kein Klotz am Bein. Nicht umsonst nennt man mich Tarzan. Ich kann hervorragend klettern. Bevor der Tiger eine Pranke hebt, sitze ich ganz oben im Baum.Außerdem – Napur und ich, wir kennen uns. Vielleicht mag er mich. Schließlich habe ich ihm das Spanferkel gebracht.« Glockner lächelte knapp. »Daraus ist noch keine Freundschaft entstanden, Tarzan. Tiger denken da anders.« »Dann bleibt immer noch meine affenartige Kletterkunst.« »Du bist sehr mutig. Das weiß ich seit Langem. Aber bedenke bitte, was auf mich zukäme, wenn dir was zustieße. Außerdem habe ich dich gern wie einen eigenen Sohn.« Tarzan schwieg. Er sah nach vorn, wo die Singenden Felsen sich wie steinerne Riesen aus dem Wald hoben, und dachte: Und ich mag Sie wie einen Vater, Herr Glockner. Aber das sprach er nicht aus. Stattdessen sagte er: »Trotzdem möchte ich unbedingt mitkommen. Vier Augen sehen mehr als zwei. Ich bin gut im Fährtenlesen.« Der Kommissar seufzte. Es klang, als willige er ein. Sie fuhren an den Singenden Felsen vorbei und erreichten das Ende der Forststraße. Glockner hielt auf dem Wendeplatz. Spuren im Sand zeigten, dass hier der Hubschrauber gelandet war. Tarzan deutete auf die Waldlichtung rechter Hand. »Dort! Die Zelte!« Schmetterlinge gaukelten über die Wiese. Von den Mädchen war nichts zu sehen. 81
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Bevor sie ausstiegen, überprüfte Glockner seine Waffe. »Viel zu kleines Kaliber für einen Tiger.« Er schob sie ein paar Mal im Lederhalfter hin und her und stellte fest, dass sie ziemlich locker saß – zu locker. »Ich muss aufpassen, dass sie nicht rausrutscht.« Den Wagen schlossen sie nicht ab. Vielleicht bot er irgendwem Zuflucht vor dem Tiger, wenn Mensch und Tier hier aufeinandertrafen. Tarzan lief zu den Zelten und sah sich um. Was der Pilot festgestellt hatte, traf zu. »Jetzt können wir raten, wohin sie sich gewandt haben«, sagte Glockner. Hinter dem Wendeplatz verlief ein schmaler Pfad von Nord nach Süd. War die Gruppe ihm gefolgt? Oder war sie auf der Forststraße zurückgewandert bis zu einer der zahlreichen Abzweigungen? Auch der Pfad bot zwei Möglichkeiten – in nördliche und in südliche Richtung. Auf einem verwitterten Hinweisschild stand NATURSCHUTZPARK. Ein Pfeil wies nach Norden. »Das wäre ein lohnendes Ziel«, meinte Glockner. »Ich könnte mir denken, sie sind dorthin gewandert.Aber wir wissen nicht, wie viel Vorsprung sie haben.« Tarzan schlug vor, sich zu trennen. Er wollte in die andere Richtung. Aber damit kam er bei dem Kommissar nicht an. Er verbot es rundheraus. In scharfem Tempo marschierten sie los. Nach kurzer Strecke entdeckte Tarzan ein verlorenes Papiertaschentuch. Es sah so neu aus, dass es erst kurze Zeit auf dem Pfad liegen konnte und duftete schwach nach Kölnischwasser. Die Entdeckung beflügelte sie. Sie schöpften Hoffnung und fielen in Trab. In diesem Moment hörten sie den Tiger. Er war kilometerweit entfernt – in Richtung Stadt. Aber sein zorniges Gebrüll schien den Wald mühelos zu durch82
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dringen. Napur brüllte voller Wut, heiser, geifernd, aus tiefer Brust. Es war, als hätte sich dieser deutsche Wald im Herzen Europas in tropische Wildnis verwandelt.Alle anderen Tiere erschraken. Der Gesang der Vögel verstummte. Rot- und Rehwild flüchtete angstvoll. Selbst eine Rotte Sauen, die sich in der Nähe von Wolfi Keups Wochenendhaus befand, zog sich ängstlich ins modrige Dickicht zurück.
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7. Von Napur belagert Er hatte abgeschlossen mit dem Leben. Er gab sich keine Chance. Aber er wollte nicht tatenlos abwarten, dass der Tiger ihn niederstreckte. Deshalb sprintete er so schnell wie noch nie in seinem Leben – auf die Eiche zu, den starren Blick auf den untersten Ast gerichtet. Er hörte, wie der Tiger auf ihn zuschnellte, hatte jetzt die Eiche erreicht und sprang. Es war zu früh. Er merkte sofort, dass seine ausgestreckten Hände den Ast nicht berühren würden – und die Todesangst schien sich in seinen Muskeln als eine Art Explosion zu entladen. Das war wie zusätzlicher Schwung. Der Sprung verlängerte sich. Sein Körper erhielt Auftrieb, gewann Höhe – die Hände schlugen wie Haken auf den armdicken Ast. Wolfi Keup hing, klammerte sich fest, schaukelte. Nur wenig mehr als ein Meter trennte seine Füße vom Boden. Wie Streichhölzer brachen die Zweige eines Strauches unter dem Gewicht des Tigers. Er hetzte heran. Klimmzug. Wolfi schwang ein Bein über den Ast. Seine Arme zitterten. Für einen Moment schien er das Gleichgewicht zu verlieren. Geistesgegenwärtig warf er sich dem Stamm zu. Mit Gesicht und Brust prallte er dagegen. Er umarmte die Sumpfeiche, fühlte die raue Rinde, stand jetzt auf dem Ast – war aber noch immer in der Reichweite des Tigers. Rasch zog er sich auf den nächsten Ast und auf den nächsten… Der Baum erzitterte. Mit einem gewaltigen Sprung schnellte sich Napur am Stamm hinauf. Nur um Zentimeter verfehlte seine linke Vordertatze die Füße des Mannes. Die andere Tatze landete auf dem unteren Ast und krallte sich fest. Entsetzt sah Wolfi den Kopf des Tigers dicht unter sich, sah 84
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den aufgerissenen Rachen mit dolchartigen Zähnen und das Glitzern in den Augen des Dschungeljägers. Heißer, nach Aas riechender Atem stieß ihm entgegen. Tiger können klettern!, fiel ihm ein. Er zitterte. Angstschweiß tropfte von seiner Nasenspitze. Das Herz hämmerte gegen die Rippen, als wollte es hinaus. Sekundenlang starrten Mensch und Tiger sich an. Napurs Tatze glitt ab. Er fiel zurück auf den Boden. Wolfi kletterte weiter, war aber am Ende seiner Kraft. Er wusste nicht, dass Tiger zwar ausgezeichnete Schwimmer sind, ihnen aber – im Gegensatz zu den kleinen Katzen – Klettern nicht liegt. In beträchtlicher Höhe schmiegte er sich an den Stamm. Er flog buchstäblich am ganzen Körper. Zähnefletschend starrte Napur zu ihm herauf, geiferte vor Wut darüber, dass ihm die Beute entkommen war. Wolfis Zähne klapperten. Seine Kollegen fielen ihm ein. Er konnte das Dach seiner Hütte sehen, aber nicht, was sich auf der Lichtung abspielte. »Geht ins Haus!«, schrie er. »Hier ist ein echter Tiger. Eine Bestie! Werner, Heinz, Silke, Jutta, Edeltraut – rettet euch in die Hütte.Verrammelt Fenster und Tür! Um Himmels willen, beeilt euch!« Ein langer Augenblick verging. Dann ertönte Pechowskis belustigte Stimme. »Machst du Witze? Steckst wohl mit den Burschen unter einer Decke, wie? Oder frisst dir der Tiger aus der Hand?« »Ich bin auf einem Baum. Ich habe mich auf die Eiche gerettet. Es ist kein Witz! Geht ins…« Napur unterstrich die Warnung auf seine Weise. Der Körper streckte sich. Der Kopf wurde erhoben. Aus dem geöffneten Rachen drang das furchtbarste Gebrüll, das dieser Wald je gehört hatte. 85
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Danach herrschte Stille ringsum. Selbst die Bienen schienen nicht mehr zu summen. Napur wandte sich ab, schien zu begreifen, dass der Mann dort oben als Beute nicht mehr infrage kam. Geschmeidig pirschte er auf die Hütte zu. »Er kommt.« Wolfi kreischte mit sich überschlagender Stimme. »Er kommt zur Hütte. Rettet euch!« Er hörte erschreckte Stimmen, Rufe. Einen Moment später fiel vernehmlich die Tür zu. »Das Hinterfenster ist offen«, schrie Wolfi. Den Tiger sah er nicht mehr. Dicht belaubte Bäume und Büsche nahmen die Sicht. Er hörte Rumoren. Offenbar wurden auch die Fenster geschlossen, die Laden vorgelegt. Seine Kollegen igelten sich ein. Er schloss die Augen. Ich lebe, dachte er. Er hat mich nicht erwischt. Mein Gott! Aber woher kommt das Vieh? Es muss irgendwo entlaufen sein. Aus einem Zoo? Einem Zirkus? Egal! Ich sitze hier sicher. Die in der Hütte sind’s auch. Aber wie verhält sich der Tiger? Wird er uns belagern? Selbst wenn er abhaut, sich nicht zeigt, kann er immer noch in der Nähe sein. Und die Wagen stehen… Himmel!… die sind mindestens 300 Meter entfernt. Mit zwei Fahrzeugen waren sie hergekommen. Er als Hüttenbesitzer hatte Erlaubnis, die Forststraße und den Seitenweg bis hierher zu befahren. Absichtlich hatten sie die Fahrzeuge so entfernt abgestellt. In freier Natur wollten sie die Benzinkutschen nicht sehen. Jetzt erwies sich das als Falle. Während Wolfi auf der Sumpfeiche hockte, breitete sich im Wochenendhäuschen lähmendes Entsetzen aus. Das Gebrüll des Tigers hatte alle Zweifel beseitigt. Die Frauen waren zu Tode erschrocken. Die Männer bemühten sich, ihre Angst nicht zu zeigen. Hinzu kam Verwirrung. Ein Tiger? Hier? War das denn möglich? 86
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Als Pechowski – von Wolfis Warnung alarmiert – das große Rückfenster sichern wollte, sah er den Tiger. Zielstrebig glitt er durch die Büsche heran, sprang über die Brombeerranken und hielt auf Pechowski zu. Das darf nicht wahr sein! Ein Albtraum! Der Lehrer riss die schweren Holzläden zu, legte den Riegel vor, schloss das Fenster, horchte. Kratzte draußen eine mächtige Tatze? Eisige Schauer rannen ihm über die Haut. Er lief in den Wohnraum, wo die andern wie eine Herde verstörter Schafe beieinanderstanden. »Pst. Ich habe ihn gesehen.« Er ärgerte sich, dass seine Stimme wackelte. »Ein… ein riesiger Kerl. Ein Königstiger, glaube ich. Leute«, er lachte, was so blechern klang wie das Klappern einer leeren Konservendose, »wir wollten ihn mit Grillwurst füttern. Haben gedacht…« Er verstummte. Deutlich hörten alle das Schnüffeln: ein scharfes Zischen an der Türritze. Der große Raum verfügte über vier Fenster. Alle waren verrammelt. Das zweite Fenster des Schlafraums war gar nicht erst geöffnet worden – damit also rundum alles dicht. Halbdunkel herrschte. Nur Spuren von Sonnenlicht sickerten durch die Ritzen der Fensterläden. Jetzt ertönte ein Fauchen. Eine Pranke schlug gegen das Holz. Die Tür erzitterte. »Nein!« Silke kreischte. Sie und ihre Kolleginnen wichen in die entfernteste Ecke zurück. Jutta, die unter anderem Religion unterrichtete, begann, mit lauter Stimme zu beten. »Halt den Mund!«, fuhr Pechowski sie an. »Fehlte noch, dass wir hysterisch werden. Das Vieh kann uns gar nichts.Wir sind sicher wie in Abrahams Schoß.« Jutta verstummte. Auch das Fauchen hatte aufgehört. Auf dem Vorplatz ertönte metallisches Scheppern. 87
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»Jetzt hat er den Grill umgeworfen«, murmelte Pechowski. »Um Himmels willen, die Glut! Hoffentlich entsteht kein Waldbrand.« »Kann nicht«, meinte ein Kollege. »Das Gras war vom Tau noch klatschnass.Aber er frisst unser Grillgut, der Mistkerl!« Und mit dem kläglichen Versuch, einen Witz zu reißen, fügte er hinzu: »Man wird uns drankriegen wegen Tierquälerei. Das Fleisch ist stark gewürzt. Das verträgt so ein Vieh nicht.« Niemand lachte. Pechowski trat zu einem der Fenster. Der Spalt zwischen den Läden war in Augenhöhe fingerbreit. Ein Splitter hatte sich abgelöst. Er konnte hinaussehen. »Ihr werdet es nicht glauben«, sagte er. »Der Kater leckt eine Bierpfütze auf. Die Gläser sind umgestürzt und er schleckt unser Pils. Leute, sobald er betrunken im Gras liegt, gehen wir raus und fesseln ihm die Pfoten.« »Lass mich mal sehen«, sagte einer der Kollegen. Aber als er durch den Spalt lugte, war der Tiger verschwunden. Dann lauschten alle und trauten ihren Ohren nicht. Motorengeräusch näherte sich. Das Fahrzeug preschte heran. Kurz darauf kurvte der mit zwei Scharfschützen besetzte Polizeiwagen auf die Lichtung und hielt vor der Hütte. Mit schussbereiten Maschinenpistolen stiegen die Beamten aus. Wohl noch nie wurden Ordnungshüter so herzlich willkommen geheißen. Sie waren auf der Forststraße gewesen, hatten das Brüllen des Tigers gehört und dann den richtigen Weg eingeschlagen. Wolfi konnte aus seiner luftigen Höhe herabsteigen. Er war immer noch schreckensbleich. Von den Polizisten erfuhren die Lehrer, was sich ereignet 88
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hatte. Noch nachträglich schockte die Angst. Rasch wurde zusammengepackt. Die pfingstliche Waldparty war beendet, bevor sie richtig begonnen hatte. Die Hütte wurde verrammelt. Die Beamten sicherten nach allen Seiten, aber Napur schien verschwunden. Hatte das Motorengeräusch ihn vertrieben? Unter dem Schutz der Beamten bestiegen die Lehrer ihre beiden Fahrzeuge. Der Streifenwagen begleitete sie bis zum Waldrand. Erst dort atmeten sie auf. Jetzt konnte nichts mehr passieren.
* Von alldem ahnten Karl und Klößchen nichts, als sie beim Polizeipräsidium eintrafen. Sie erkundigten sich nach Glockner und Tarzan. Ein Kollege des Kommissars informierte sie. Er hatte auch beobachtet, dass Tarzan mit Glockner weggefahren war. »Soviel ich weiß, will Kollege Glockner die Mädchengruppe suchen«, sagte er. Die Jungs bedankten sich, stellten Tarzans Rennrad – mit dem sie sich nicht länger belasten wollten – auf den Hof des Präsidiums und überlegten dann, was zu tun sei. »Fahren wir doch erst mal ins Heinrichstal«, schlug Karl vor. »Es liegt am Weg.Wir können Zeisig sagen, was inzwischen passiert ist. Er wird am besten wissen, wie man Napur behandelt. Wäre ja ein Jammer, wenn der Tiger erschossen wird.« Klößchen fand die Idee gut und hoffte heimlich, auch Leni anzutreffen. Sie hatte es ihm angetan. Zu dumm nur, dass er immer für Mädchen schwärmte, die so viel älter waren als er! »Was meinst du«, fragte er, »nimmt Glockner Tarzan in den Wald mit?« 89
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»Könnte schon sein.« »Das ist aber für beide gefährlich.« »Noch gefährlicher für die Mädchen. Die ahnen ja nicht, dass da ein Tiger rumschleicht.« »Ich könnte Tomasino erwürgen!« Klößchen griff wütend in die Luft, dann aber gleich wieder zum Lenker, denn das Vorderrad stieß gegen einen Stein und stellte sich quer. »Der ist nicht normal«, sagte Karl. »Wahrscheinlich verschwindet er für den Rest seines Lebens in einer Heilanstalt.« »Als Strafe ist das so schlimm wie Gefängnis.« »Schlimmer.« Es war später Vormittag, als sie das verlassene Gehöft im Heinrichstal erreichten. Zeisigs Straßenkreuzer und Lenis Blechwanze parkten vor dem Wohnhaus. Der Zirkusdirektor und seine hübsche Tochter waren damit beschäftigt, eine Plastikwanne voller großer Fleischstücke in den Kofferraum des Chevrolets zu verladen. »Wir haben Tomasino gefunden«, rief Klößchen. »Sie können sich nicht vorstellen, was der…« »Wir wissen schon alles«, fiel Leni ihm ins Wort. Sie war blass. Ihrem Vater stand Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. »Carlos Wahnsinnstat«, sagte er, »hat sich herumgesprochen. Die Männer vom Zoo, die vorhin unsere Tiere abgeholt haben, berichteten uns. Das Polizeipräsidium hat sich nämlich an Dr. Jansen gewandt, den Tierarzt des Zoos. Weil man wissen wollte, wie ein Königstiger sich in Freiheit verhält.« Klößchen nickte, grinste Leni an, wobei er rot wurde, und deutete dann auf die Fleischbrocken. »Und das?« »Wir wollen in den Großen Wald«, erklärte Leni, »und das Fleisch auslegen. Ich habe es gleich besorgt, als wir hörten, was mit Napur ist. Hier!« 90
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Sie nahm eine Plastikflasche aus dem Kofferraum. »Das ist ein Schlafmittel, das auch Tiere vertragen. Damit präparieren (vorbereiten) wir das Fleisch. Wenn Napur davon frisst, schläft er ein. Er könnte dann in seinen Käfig gesteckt werden – und wäre gerettet. Er bliebe am Leben.« Ihre Stimme zitterte. »Wäre prima«, nickte Klößchen. »Und eine echte Möglichkeit. Jetzt meint natürlich jeder, der Schutz der Allgemeinheit gehe vor. Stimmt ja auch. Der Tiger darf niemand anfallen.« »Sie jagen ihn bereits«, sagte Zeisig traurig. »Sogar ein Hubschrauber ist eingesetzt. Aber der eignet sich nicht zur Tigerjagd.Aus der Luft werden sie ihn nicht entdecken.Tiger meiden freies Gelände. Sie pirschen dort, wo der Wald am dichtesten ist. Sie lieben sumpfige, morastige Stellen. Und sie reißen nur so viel Beutetiere, wie sie auch fressen. Sie lassen nichts übrig, sondern kehren immer wieder zum Riss zurück, selbst wenn das Fleisch schon fault und stinkt. Ratzekahl fressen sie alles auf, ehe sie das nächste Tier töten. Das Märchen von der Mordlust ist erlogen.« »Aber sie fallen auch Menschen an, wenn sie gereizt sind«, wandte Karl ein. Das musste Zeisig zugeben. »Dr. Jansen will uns helfen«, sagte Leni. »Er ist auch Tierfänger und besitzt ein Narkose-Gewehr.« »Das tötet nicht«, erklärte Zeisig, »sondern verschießt Betäubungspfeile. Hoffen wir, dass Dr. Jansen bald kommt.« »Warum kommt er denn nicht gleich?«, fragte Karl. »Er wird im Zoo gebraucht. Ein Gorillaweibchen ist erkrankt und muss sofort operiert werden. Aber anschließend kommt er zum Wald.« Zeisig strich sich über die Augen. »Hoffentlich lebt Napur dann noch. Damit die Polizisten nicht gleich das Feuer eröffnen, wollen wir die Aktion mit dem Betäubungsfleisch machen. Meine Söhne Robert und 91
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Nino wissen Bescheid und warten wahrscheinlich schon am Waldrand.« Die Jungs durften im Wagen mitfahren. Die Räder blieben beim Gehöft zurück. Zeisig wollte nicht irgendeine der Straßen oder irgendeinen der Wege benutzen, die in den Wald führten, sondern die Forststraße – um möglichst rasch zu den Singenden Felsen zu kommen. Dass Napur sich noch in diesem Teil des Waldes aufhielt, war zu vermuten. Unterwegs begegneten ihnen zahlreiche Ausflügler, die in die Stadt zurückfuhren – mit Auto oder Rad. Ihr Ziel war der Große Wald gewesen, aber die Polizei hatte alle zurückgeschickt. In Richtung Wald fuhren jetzt nur noch wenige. Denn über Rundfunk ließ die Polizei halbstündlich mitteilen, dass die Gegend abgesperrt und nicht mehr zugänglich sei, weil sich dort ein entsprungener Tiger aufhalte. Wer sich trotzdem auf den Weg machte, hatte entweder die Nachrichten versäumt oder Neugier gepachtet. Der Chevrolet erreichte den Waldrand, wo die Forststraße begann. Auf dem Parkplatz stand ein Dutzend Fahrzeuge. Die Insassen hatten die Scheiben herabgekurbelt. Ferngläser waren in die braunen Schatten unter den Bäumen gerichtet. Kameras mit langen Objektiven wurden probeweise in dieselbe Richtung gehalten. »Einige sind von der Presse«, meinte Karl. »Die andern sind sensationslüstern. Foto-Safari auf einen Tiger – und das gleich vor der Stadt. Das kommt ja wirklich höchst selten vor.« Der Wachtmeister, mit dem Kommissar Glockner vorhin geredet hatte, stoppte den Chevrolet. »Sie sind Herr Zeisig, ja?«, sagte er, wobei er sich zum Fahrerfenster beugte. »Ich weiß bereits, was Sie vorhaben. Von Ihren Söhnen.« Er wies auf zwei junge Männer, die vom 92
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Parkplatz herankamen. »Aber ich kann Sie nicht durchlassen. Ich habe eindeutige Weisungen.« »Es geschieht auf unsere Verantwortung«, erwiderte Zeisig. »Außerdem wird uns nichts passieren. Napur kennt uns. Wir sind ihm fast so vertraut wie Tomasino. Uns wird er nicht anfallen. Wir wollen ihn retten. Er soll leben.« »Ich habe meine Anweisungen«, sagte der Wachtmeister knapp. »Bitte, fahren Sie auf den Parkplatz oder kehren Sie um. Die Forststraße ist gesperrt.« Die Zeisigs – auch Robert und Nino beteiligten sich – versuchten, den Wachtmeister umzustimmen.Aber der wich und wankte nicht, blieb zwar höflich, schaltete aber auf stur. Dann wurde aller Aufmerksamkeit auf die Forststraße gelenkt. Die beiden Fahrzeuge der Lehrer und der begleitende Streifenwagen näherten sich. In Windeseile sprach sich herum, wie angriffslustig Napur sich bei Wolfi Keups Wochenendhaus aufgeführt hatte. »Sehen Sie jetzt«, sagte der Wachtmeister zu den Zeisigs, »was für eine Bestie das ist! Nein, in den Wald kommt mir niemand. Wäre unverantwortlich. Ist schon schlimm genug, dass wir bis jetzt nicht wissen, wer sich drin aufhält. Und dass unsere Möglichkeiten,Wanderer, Camper, Zelter und Naturfreunde zu warnen, gering sind. Die richtig Zünftigen – die haben doch kein Radio mit. Und die Lautsprecher-Durchsagen der Streifenwagen – ach, du meine Güte!« Klößchen fragte, ob Kommissar Glockner hier durchgekommen wäre. Der Wachtmeister bejahte. »War ein Junge bei ihm im Wagen? So ein braun Gebrannter mit dunklen Locken.« »Ja, der war dabei.« Mehr erfuhren sie nicht. Der Wachtmeister und seine Kollegen mussten andere Leute zurückhalten, beziehungsweise ihnen erklären, weshalb die Welt hier vorläufig ende. 93
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»Jetzt ist Dr. Jansen unsere einzige Hoffnung.« Leni schluchzte. »Wenn er nicht bald kommt, werden sie Napur erschießen. Mir hat er immer die Hand geleckt, wenn ich ihm Fleisch durchs Gitter gab.« Unwillkürlich blickte Klößchen auf ihre Hände. Na, Gott sei Dank! – alle zehn Finger waren noch dran.
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8. Die Geiselnahme Schweiß strömte Glockner vom Gesicht. Er hatte den Kragen geöffnet und keuchte. Auch Tarzan war erhitzt. Über 40 Minuten Dauerlauf lagen hinter ihnen. Die Sonne stand hoch. Es schien ein Tropentag zu werden.Wo waren die Mädchen? Nur einmal hatten sie das entfernte Gebrüll des Tigers gehört, dann nichts mehr. Näherte er sich? Lief er in eine andere Richtung? Sie waren niemandem begegnet. An jeder Abzweigung, jeder Wegkreuzung, jeder Gabelung mussten sie sich erneut entscheiden, welcher Strecke sie folgten. Es war jedes Mal die Hölle. Eine falsche Entscheidung – und die Aussicht, die Gruppe einzuholen, war zunichte. Immerhin – bis jetzt schienen sie auf dem richtigen Wege zu sein. Spuren wie weggeworfenes Bonbonpapier oder frische Orangenschalen bestätigten das.Wobei allerdings offen blieb, ob der Abfall von den Mädchen stammte. Immer wieder gabelte sich der Weg. Man konnte verrückt werden.Auch jetzt standen sie vor zwei Möglichkeiten. Links oder rechts? Jedes Mal hatten Wegweiser die Richtung zum Naturschutzpark angezeigt. Hier hatte der Sturm das Schild heruntergerissen. Verrostet lag es im Blaubeerkraut. »Wahrscheinlich rechts.« Glockner blieb stehen und wischte sich übers Gesicht. »Dort ist das Gras niedergetreten.« »Links aber auch.« Tarzan wies auf geknicktes Zittergras. »Verdammt! Was nun?« Sie waren ratlos. Dickicht umgab sie. Am blauen Himmel kreisten Falken. Nur ein kurzes Stück konnte man in beide Wege blicken. Dann bogen sie sich zur Kurve und grüne Wände verstellten die Sicht. 95
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Plötzlich hob Tarzan die Hand. »Moment mal! Ich höre Stimmen.« Jetzt hörte auch Glockner sie: Mädchenstimmen offenbar. »Das sind sie«, rief Tarzan. »Sie kommen zurück.« Er wies auf den rechts verlaufenden Weg. Nur wenige Meter mussten sie ihnen entgegengehen. Dann kam die Gruppe um die Kurve, angeführt von den Schwimmtrainerinnen Lotte Weimar und Isabell Renke. Tarzan seufzte erleichtert. Glockner fühlte sich, als wären Zentnerlasten von seinen Schultern genommen. Die Frauen blickten erstaunt. Hinter ihnen marschierten die Mädchen im Gänsemarsch. Wo ist denn Gaby?, dachte Tarzan. Und Oskar? Ich sehe auch Inge nicht. Und ihr Man Eater? »Herr Glockner!«, rief Lotte Weimar erstaunt. Man kannte sich. »Wie kommen Sie denn hierher?« Isabell Renke machte große Augen. »Wir sind auf der Suche nach Ihnen«, erklärte der Kommissar. »Nicht nur wir. Polizei ist im Wald. Und ihr habt sicherlich den Hubschrauber bemerkt. Auch der sucht. Um es kurz zu machen: Ein – man kann sagen, geistesgestörter – Dompteur hat letzte Nacht bei den Singenden Felsen einen Königstiger freigelassen. Er ist irgendwo im Wald. Und stellt eine riesige Gefahr dar für jeden, der ihm begegnet. Das ganze Gebiet ist inzwischen abgesperrt. Niemand kann mehr rein in den Wald. Aber das Problem war: Wie kriegen wir euch raus – zumal wir euch nicht fanden.« Dass ein Dutzend weibliche Wesen vor Schreck sprachlos ist, kommt selten vor. Glockner und Tarzan erlebten es. Sie sahen nur bleiche Gesichter um sich. Die Mädchen drängten sich zusammen. Ängstliche Blicke richteten sich auf das Dickicht rechts und links. Tarzan behielt die Biegung im Auge. 96
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Wann kamen denn die Nachzügler endlich – Gaby und Inge mit den beiden Hunden? »Bummelt meine Tochter?«, fragte Glockner. Lotte Weimar schluckte. »Wissen Sie, wir wollten zum Naturschutzpark wandern. Sind aber umgekehrt vorhin, weil drei von uns fehlen: Gaby, Inge Esting, Kathie Lorenz und die beiden Hunde. Sie hingen ein bisschen zurück, haben dann wohl den Anschluss verloren, ohne dass wir was merkten, und sind… ja, ich nehme an, sie sind falsch abgebogen.« Glockners eben noch erleichterte Miene schien einzusinken. Verdammt, verdammt, verdammt! Tarzan ballte die Fäuste. Geht denn alles schief? Und gestern dachte ich noch, das würden langweilige Pfingstferien! Ein einziger Tiger bringt alles in Aufruhr. Er zeigte auf den zweiten Weg. »Bestimmt sind sie dort lang. Das Gras ist frisch geknickt. An den anderen Abzweigungen hing der NaturschutzparkWegweiser. Da ist ein Irrtum kaum möglich.« Glockner nickte. Dann blickten sie in die Höhe. Das Schnattern des Hubschraubers hatten sie schon vorher gehört, aber nicht beachtet. Jetzt hing er über ihnen wie ein riesenhaftes Insekt am Sommerhimmel, zerspellte die Luft in nicht mal 100 Meter Höhe und ging langsam noch niedriger. »Er hat uns entdeckt«, rief Tarzan. »Jetzt sucht er einen Landeplatz.« »Dort vorn«, Lotte Weimar wies in die Richtung, aus der sie gekommen waren, »ist eine Waldlichtung. Nur etwa 300 Meter entfernt.« »Sofort dorthin!«, gebot Glockner. »Sobald der Hubschrauber gelandet ist, gehen alle an Bord. Tarzan und ich suchen dann die drei Nachzügler.« 97
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Er brauchte die Mädchen nicht anzutreiben. Sie liefen, so rasch sie konnten, blieben aber dicht beieinander. Offenbar hatte der Hubschrauberpilot die Lichtung entdeckt. Die Maschine setzte zur Landung an und verschwand jetzt hinter den Wipfeln hoher Tannen. Ohrenbetäubender Lärm füllte den Wald. Tarzan hielt sich zurück. Er wusste: Für die nächsten Minuten war der Kommissar unabkömmlich. Er musste dafür sorgen, dass die Mädchen dem landenden Hubschrauber nicht zu nahe kamen, und den Pilot anweisen. Dabei kann ich nichts tun, dachte Tarzan. Aber ich kann die drei Mädchen suchen.Vielleicht kommt’s auf jede Minute an. Wenn die Hunde bellen, könnte das den Tiger anlocken. Das Gehör… ja, das Gehör ist sein schärfstes Sinnesorgan. Darauf verlässt er sich, wenn er jagt – nicht auf Nase oder Augen, wie man im Allgemeinen glaubt. Er verlangsamte den Schritt. Jetzt verschwand Glockner hinter der Kurve. Tarzan machte kehrt, rannte zur Gabelung zurück und folgte dem anderen Weg. Er ahnte nicht, was ihm bevorstand. Inzwischen hatte Glockner mit den jungen Damen die Lichtung erreicht. Sie sahen gerade noch, wie der Mannschaftshubschrauber aufsetzte. Seine Rotorblätter quirlten die Luft, dass ringsum sich die Büsche bogen. Laub und Gräser wirbelten umher. Frisches Grün wurde von den Ästen gerissen. Anke Schnitzer, der jüngsten Teilnehmerin, saß die Angst vor dem Tiger im Nacken. Kaum sah sie, dass die Hubschrauberkufen den Boden berührten, rannte sie los. »Halt!«, schrie Glockner. Aber seine Warnung ging unter im Lärm der Maschine. Nur noch wenige Meter – und Anke wäre in den Bereich der sich immer noch drehenden Rotorblätter geraten. Es hätte sie – buchstäblich – den Kopf kosten können. 98
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Glockner sprang hinterher. Im letzten Moment erwischte er Anke am Arm. Er riss sie zurück. Beide stolperten. Glockners Fuß geriet unter eine im Zittergras verborgene Wurzel. Er stürzte, fiel aber weich und fing den Aufprall geschickt mit den Händen ab. Dass er dabei seine Pistole verlor, merkte er nicht. Sie verschwand im hohen Gras. »Um Himmels willen, Kind!« Anke begriff, wie unbesonnen sie sich verhalten hatte, und begann zu weinen. Glockner tröstete sie und erklärte ihr und den andern, wie gefährlich der Nahbereich eines landenden Hubschraubers sein kann. »Wo ist denn Tarzan?«, fragte er dann. Niemand hatte ihn gesehen. »Dieser Draufgänger ist doch nicht zu halten. Natürlich sucht er die Mädchen.« Inzwischen hatte der Pilot den Motor abgestellt. Glockner machte sich mit dem Mann bekannt, erklärte ihm die Lage und erfuhr, dass etwa vier Kilometer von hier – in südlicher Richtung – ein kleines Zeltlager auf einer Waldwiese stünde. »Sonst habe ich niemanden gesehen, Herr Kommissar.Was freilich nicht heißt, dass keine Wanderer unterwegs sind. Aus der Vogelschau ist der Wald größtenteils wie ein grünes Dach.« Mädchen und Frauen waren an Bord gegangen. Auch der Pilot blieb hier. Vorsichtshalber schloss er die Türen, obwohl es in der Maschine sehr heiß war. Vielleicht, dachte Glockner, während er im Trabtempo zurücklief, kommen mir die vier gleich entgegen. Er lauschte. Dass Oskar seinen Freund Tarzan mit freudigem Gebell begrüßte, war selbstverständlich.Aber nichts war zu hören. 99
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Glockner erreichte die Gabelung und folgte dem anderen Weg. Stille umgab ihn. Es war noch heißer geworden, sein heller Sommeranzug unter den Achseln und am Rücken vom Schweiß durchnässt. Zum Glück trug er bequeme Sportschuhe. Der Weg schlängelte sich. Buchen und Eichen wechselten sich mit Kiefern ab. Es gab viel Unterholz. In der Nähe schien der Boden moderig zu sein. Hinter der nächsten Biegung zog sich der Weg auf einer Länge von 500 Metern schnurgerade hin. Rechts breitete sich eine Schonung mit kaum mannshohen Tännchen aus. Dort war auch, dicht am Weg, der Ansitz eines Jägers: Vier stabile Pfähle trugen die roh gezimmerte Baumhütte. Sie befand sich etwa sechs Meter über dem Boden. Eine wacklige Leiter führte hinauf. Glockner blieb stehen. Nicht weil ihn der Ansitz interessierte. Nicht weil er vom Laufen ausgepumpt war. Auch nicht weil er in diesem Moment nach einem gewohnheitsmäßigen Griff zum Pistolenhalfter seine Waffe vermisste. Vielmehr: Er spürte, dass sich in seiner Umgebung etwas veränderte. Die Singvögel schwiegen plötzlich. Der Wald schien den Atem anzuhalten. Dafür gab es nur eine Erklärung: Der Tiger! Er musste in der Nähe sein. Meine Pistole!, schoss es Glockner durch den Kopf. Wo habe ich sie verloren? Beim Hubschrauber – als ich stürzte? Sicherlich. Zurück also? Auch wenn er sich zur Umkehr entschieden hätte – es wäre nicht mehr möglich gewesen. Etwa 100 Meter vor ihm trat der Tiger auf den Weg. Er kam von links, aus dem dichten Wald, verhielt, wandte den Kopf und starrte Glockner an. 100
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Die Lefzen zogen sich zurück und gaben das Furcht erregende Gebiss frei. Der Schwanz peitschte den Boden. Dann kam die riesenhafte Bestie auf ihn zu. Für Sekunden war der Kommissar wie gelähmt. Er hatte sich nicht ausmalen können, wie groß das Tier war, wie gefährlich es wirkte. Mit langen Sprüngen legte Napur die Strecke zurück. Glockner warf sich herum. Der erste Impuls war, um sein Leben zu rennen – auch wenn ihn das nicht gerettet hätte. Dann sah er den Ansitz, von dem ihn nur wenige Meter trennten. Er jagte die Leiter hinauf. Sie kippelte. Die vierte Sprosse fehlte. Beinahe wäre er abgestürzt. Keuchend kam er oben an. Als er auf die letzte Sprosse trat, zerbrach sie wie morscher Zunder. In derselben Sekunde wurde an der Leiter gerüttelt. Der Tiger sprang an ihr hoch. Glockner warf sich nach vorn, landete mit der Brust auf dem Boden des Hochstandes, hielt sich fest und kroch vollends hinauf. Als er sich umwandte, sah er, wie Napur die Leiter erklomm. Tatze über Tatze zog er sich hoch. Die Lücke bei der vierten Sprosse war bereits überwunden. Glockner fasste die Holme und stieß die Leiter um. Napur fiel auf den Rücken. Neben ihm polterte die Leiter auf den Weg. Ein Prankenhieb zerschmetterte einen der Holme. Dann reckte Napur den Schädel. Mit zornigem Gebrüll schleuderte er dem Zweibeiner dort oben seine Wut entgegen. Schwer atmend kniete Glockner nieder. Knapp, ganz knapp war er mit dem Leben davongekommen. Jetzt versuchte er, sich vor dem Tiger zu verbergen, um nicht dessen Wut anzustacheln. Durch die Ritzen zwischen den dünnen Stämmen, die den Boden bildeten, beobachtete er das Tier. 101
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Napur zog enge Kreise unter dem Hochsitz und starrte immer wieder herauf. Wie sicher war der Ansitz? Die vier Pfähle würden Napurs Ansturm nicht standhalten. Wenn er sich gegen sie warf, würde der Hochstand umkippen. Er kann mich runterschütteln wie eine reife Pflaume, dachte Glockner. Wenn er auf die Idee kommt! Aber er ist ein Tier. Es denkt nicht. Es handelt instinktiv – in seiner begrenzten Vorstellungswelt. Was wird er tun? Napur geiferte zornig. Aber allmählich schien sein Interesse zu erlahmen. Plötzlich stand er still. Glockner sah, wie die Schnurrhaare zitterten. Er schien zu lauschen. Sein Kopf war in die Richtung gewandt, wo Tarzan und die Mädchen sich befinden mussten. In diesem Moment hörte Glockner das Hundegebell. Es war weit entfernt – endlos weit, drang kaum bis hierher, wurde fast vom Summen der Bienen übertönt. Dennoch erkannte Glockner, dass es Oskar war. Elegant setzte der Tiger sich in Bewegung. Schnell lief er den Weg entlang. Anfangs schien es ihn nicht zu stören, dass er gänzlich ungedeckt war. Dann gewann der angeborene Instinkt die Oberhand und er wich unter die Bäume.Aber an der Richtung änderte sich nichts. Glockner konnte seinen Weg anhand der wippenden Zweige verfolgen. Er war wie gelähmt. Seine Hände wurden eiskalt. Er wusste: In wenigen Minuten hatte der Tiger die Kinder erreicht. Trichterförmig legte er die Hände vor den Mund. »Taaarzaaan!«, rief er mit aller Kraft seiner Lungen. »Der Tiger kommt auf euch zu! Der Tiger kommt! Klettert auf Bäume! Bringt euch in Sicherheit!« Er ließ die Hände sinken und horchte. Er lauschte auf Antwort. Aber er hörte nichts. 102
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Oskar bellte nicht mehr. Der Tiger war verschwunden. »Mein Gott!«, flüsterte Glockner. »Gaby, Tarzan – steigt auf die Bäume! Klettert, so hoch ihr könnt!«
* Die beiden Verbrecher hockten zur selben Zeit hinter dichtem Gebüsch und glotzten zu den Häusern hinüber. Georg Hardtkes Dreieck-Gesicht war starr. Ihm schmerzte jeder Knochen. Außerdem spürte er Hunger und Durst. Immer wieder tastete er nach der Pistole; die er dem Justizwachmann abgenommen hatte und die jetzt in seinem Gürtel steckte. Otto Fensel, genannt »Vanille«, strich sich über die borkigen Lippen. Seit Stunden träumte er von einem kühlen, schäumenden Bier. Seine rote Haut war von der Sonne noch röter geworden. In der blonden Hippie-Mähne klebten Tannennadeln und Schweiß. Fensel hielt seine Pistole ständig in der Hand. Ein langer Vormittag in Freiheit lag hinter ihnen. Aber es war enttäuschend gewesen. Strapaze, Hunger, Durst. Und sie wussten nicht, wie es weitergehen sollte. Sie waren im Wald umhergeirrt, hatten den Hubschrauber gehört und – aus der Ferne – die Polizisten gesehen. Als sie sich dem Waldrand näherten, bemerkten sie die Postenkette und der Schreck fuhr ihnen wie heißer Stahl in die Knochen. Jetzt befanden sie sich waldseitig hinter Lerchenau. Aus acht Häusern, aufwendigen Bungalows mit Swimmingpool und allem Drum und Dran, bestand diese Siedlung. Gepflegter Rasen umgab die Gebäude. Zum Nachbarn hin war genügend Abstand. In den Garagen standen teure Autos. Zwei parkten auf der Straße. 103
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Dort parkte auch der Streifenwagen. Nur einer. Ursprünglich hatte man im Polizeipräsidium zwei vorgesehen, aber die Absicht dann geändert. Ein Wagen mit zwei Scharfschützen genügte, fand man, um die Lerchenauer – ausnahmslos Geldadel – vor dem Tiger zu schützen. Dass es um den ging, davon ahnten die beiden Verbrecher freilich nichts. »Kein Aas zu sehen.« Fensel stöhnte. »Sie werden drin sein. In ihren Hütten. Bei der Hitze.« »Klar. Wo auch sonst.« »Außerdem haben sie Schiss. Vor uns.« »Es ist nicht zu glauben!« Fensel schüttelte seinen VanilleKopf »So ein Aufgebot! Bullen über Bullen. Hubschrauber! Streifenwagen. Und alles wegen uns!« »Da kannst du mal sehen, wie Steuergelder sinnlos vergeudet werden.« »Stimmt.« »Es käme den Staat billiger«, Hardtke kratzte sich im Genick, »wenn man uns laufen ließe.« »Die wollen’s aber wissen. Mistvolk. Die bieten auch noch Bundesgrenzschutz auf, um uns zu kriegen.« »Zu viel Ehre!« Sie schwiegen eine Weile und beobachteten die Häuser. Vor einigen Fenstern waren die Jalousien herabgelassen. »Jedenfalls«, nahm Hardtke das Thema wieder auf, »lasse ich mich nicht einfangen. Wer mir zu nahe kommt – also, ich schieße mir den Weg frei.« »Ich auch.Aber ich möchte wissen, zum Henker, woher die so genau wissen, dass wir im Wald stecken.« »Gesehen hat uns keiner.« »Bestimmt nicht.« Fensel kaute auf der Unterlippe. »Was ist nun das Beste: Im Wald bleiben? Oder durch die Postenkette schleichen, sobald es dunkel wird?« »Und dann?« 104
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»Ja, wenn ich das wüsste.« »Eben! Draußen knallen sie uns ab, wenn wir nicht gleich die Hände heben. Hier verhungern wir. Uns in der Stadt zu verstecken, ist sinnlos. So wie wir aussehen – ein Blinder mit ’nem Krückstock würde uns erkennen.« »Bis jetzt sagst du nur, was nicht geht«, maulte Hardtke. »Wir müssen in eins der Häuser.« »Willst du noch länger Kohldampf schieben? Mir klebt die Zunge am Zäpfchen. Wir gehen rein in eine dieser stinkfeinen Hütten, krallen uns Mama, Papa und die lieben Kinderlein und haben mehr Geiseln, als wir brauchen. Kapiert?« »Heiße Sache.« »Anders geht’s nicht mehr.Wenn die Bullen unseretwegen alles aufbieten, was sie haben, wollen wir uns nicht lumpen lassen.Aber du sollst sehen: Keine Hand rührt sich, wenn wir einer Geisel den Ballermann an die Rübe halten, in einen schicken Schlitten steigen und abzischen. Ab in ’ne grenznahe Gegend, kapiert? Sind wir erst mal im Nachbarland, sieht alles viel besser aus.« Hardtke grinste. »Wollte schon seit Langem wieder mal verreisen.« »Na, also!« Durch die Zweige beobachteten sie die Häuser. Ein L-förmiger Bungalow aus hellem Naturstein war nur durch den Garten von ihnen getrennt. Der Jägerzaun verlief vor dem Gebüsch, hinter dem sie hockten. Im Garten wuchsen Sträucher. Als Deckung zum Anschleichen reichte das. Auf der Terrasse standen Gartenmöbel und eine rot geblümte Hollywood-Schaukel. »Wir schleichen nach links«, sagte Fensel. »Dann ist das Haus zwischen uns und dem Streifenwagen. Über den Zaun! Geduckt zur Terrasse! Und rein in die Bude. Die Terrassentür ist nur angelehnt. Das sehe ich. Wahrscheinlich sind nur die beiden drin, die sich am Fenster gezeigt haben. Wir müs105
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sen so schnell sein, dass sie nicht um Hilfe rufen und nicht ans Telefon können.« »Klar.« Am Fenster hatten sie einen Mann und eine junge Frau gesehen. Hardtke nahm seine Pistole in die Hand. Das Gebüsch zog sich am Zaun entlang und bot Deckung. Die Polizisten saßen im Streifenwagen und schienen sich zu langweilen.Weder sie noch die Lerchenauer rechneten damit, dass der Tiger hier auftauchte. »Es müsste schon ein sehr bescheuerter Tiger sein«, sagte Eduard von Plockwind in diesem Moment zu seiner Frau. Sie saßen im Kaminzimmer, tranken japanischen SenchaTee aus zierlichen Tässchen und ärgerten sich über den Hausarrest, den die Polizei ihnen verordnet hatte. Eduard war ein Endfünfziger mit viel Geld, das er aus drei Fabriken zog, die ihm sein seliger und tüchtiger Vater vererbt hatte. Ursprünglich waren es fünf Fabriken gewesen. Zwei hatte Edu, wie er sich von Freunden gern anreden ließ, zu stark gemolken – finanziell. Sie waren Pleite gegangen. »Ich weiß nicht, ob es schlaue und dumme Tiger gibt«, erwiderte Susanne, seine Frau. »Für mich sind alle gleich. Am liebsten mag ich sie als Mäntel.« Susanne, eine kühle Blondine mit berechnenden Augen, war 22 Jahre jünger als Edu. Um diesen Unterschied nicht zu augenfällig zu machen, hielt er Diät, mühte sich jeden Morgen auf dem Hometrainer (Standfahrrad) ab und färbte sich die grauen Schläfen. Von Arbeit hielt er nicht viel. Vom Geldausgeben umso mehr. Und Susanne half ihm dabei. Außerdem hatten sie die Jagdleidenschaft für sich entdeckt. Susanne büffelte zurzeit für die Jägerprüfung. Edu hatte sie schon vor Jahren abgelegt und sich eine Menge Trophäen in Wald und Flur zusammengeschossen. Damit freilich konnte man vor Freunden und Bekannten kaum noch Eindruck 106
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machen. Deshalb reisten die beiden regelmäßig in tropische Jagdgründe, und Edu ballerte auf alles, was zum Töten freigegeben war. Er hatte afrikanisches Wild erlegt, sogar einen Elefanten. Immer vom sicheren Ansitz aus – was ihn aber nicht hinderte, für jede Trophäe die abenteuerlichste Geschichte zu erfinden, in der es nur einen kaltblütigen Helden gab: ihn. Sogar seiner Frau servierte er großmäuliges Jägerlatein. Wobei er sich freilich auf Ereignisse beschränken musste, die sie nicht miterlebt hatte. Um ihn bei Laune zu halten, tat sie so, als glaube sie alles. Mittlerweile konnte Edu kaum noch unterscheiden: zwischen der Wirklichkeit und dem, was seine Fantasie daraus machte. »Raubtiere sind unterschiedlich«, sagte er jetzt. »Es gibt mutige und feige, blöde und gescheite Tiger. Keine Ahnung, wie dieser Napur ist. Würde ihn gern erlegen. Ein Tiger fehlt mir noch in meiner Sammlung. Was meinst du, soll ich den Polizeipräsidenten anrufen und mich ihm als Großwildjäger zur Verfügung stellen?« »Lass es lieber. Sonst erzählt Weber-Brinkmann hinter deinem Rücken, du tätest das nur, um in die Zeitung zu kommen.« Tilo und Rosemarie Weber-Brinkmann gehörten zu ihren liebsten Freunden, was aber üble Nachrede – auf Gegenseitigkeit – nicht ausschloss. Edu schüttelte missbilligend den Kopf, was den liebsten Freunden galt. Susanne nippte an ihrem Tee. Sie las in einem Mode-Journal, das 12 Euro kostete, aber fast nur Anzeigen enthielt. Sie las jede Anzeige und überlegte, was sie kaufen musste, weil es ihre Freundinnen vielleicht schon hatten oder auch nicht, sodass es höchste Zeit wurde, sich darum zu bemühen. Edu stand auf, trat zum Kamin und nahm die schwere 107
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Großwildbüchse vom Haken. Das Gewehr war doppelläufig. Mit dem Kaliber konnte man eine Hausmauer durchlöchern. Im Gewehrschrank hatte die Waffe ihren angestammten Platz. Aber neuerdings hing sie hier. Darauf hatte Susanne gedrungen. Denn es machte sich so dekorativ und lenkte die Neugier der Gäste – und Gäste hatten sie häufig – gleich auf das richtige Thema. »Werde die Donnerbüchse mal laden«, sagte er. »Vielleicht ist Napur doch ein bisschen bescheuert. Stell dir vor, er steht plötzlich im Garten.« Er lachte. »Dann könnte der Kürschner schon Maß nehmen und du kriegtest deinen Tigerfellmantel zum Geburtstag. Nein, eher!« Er ging nach nebenan, kam mit zwei Patronen zurück und lud das Gewehr. Susanne las das Inserat einer Schönheitsfarm, von der sie noch nicht gehört hatte. Als die Terrassentür aufgestoßen wurde, hielt Edu das Gewehr in der Hand. Aber die Mündung des Doppellaufs wies zu Boden. »Hände hoch!«, zischte Fensel durch die Zähne. »Nein!«, verbesserte er sich sofort. »Lass die Knarre fallen, Mann!« Seine Pistole war auf Edu gerichtet. Hardtke, der sich hinter seinem Komplizen vorbeidrängte, zielte auf Susanne. Ihr Mund klappte auf. Schreck trat in ihre blassblauen Augen. Polternd schlug das Jagdgewehr auf den Parkettboden. Edu, um Zentimeter geschrumpft, reckte die Hände zum Himmel. »Was… was…«, stammelte er, »ist… das?« »Das ist ein Überfall!«, zischte Fensel ihn an. »Ihr seid jetzt unsere Geiseln.« Hardtke schloss die Tür. Vor den Fenstern zog er die Vorhänge zu. 108
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»Keine Zicken!«, warnte Fensel die Plockwinds. »Wir sind die Ausbrecher, nach denen hier gesucht wird. Wir haben nichts zu verlieren, wie ihr sicherlich wisst. Aber mit euch als Geiseln kommen wir raus aus dem Wald.« »Ausbrecher?« Susanne hatte die Sprache wiedergefunden. »Mag ja sein, dass Sie ein Ausbrecher sind. Aber davon ist hier nichts bekannt.« »Ach nee?«, höhnte Fensel. »Und der Streifenwagen mit den beiden Bullen draußen? Und die Postenkette am Waldrand? Und der Hubschrauber, der dauernd die Gegend absucht? Das alles ist wohl zufällig, wie?« »Aber… aber«, Edu bemühte sich, seine Stimme zu festigen, »die… die suchen doch nicht nach Ihnen. Es geht doch um den Tiger!« »Was? Um welchen Tiger?« »Ein Tiger – ein riesiger Königstiger – steckt im Wald. Sein Dompteur, ein Geistesgestörter, hat ihn ausgesetzt.« Fensel und Hardtke sahen sich an. »Wenn du jetzt lachst«, sagte Fensel, »haue ich dir in die Schnauze.« »Ich lache nicht«, meinte Hardtke. »Ich würde viel lieber weinen. Du bist wirklich der letzte Idiot. Jetzt haben wir also zwei Geiseln, obwohl wir gar keine brauchen. Was nun?« »Geiseln kann man immer gebrauchen«, beharrte Fensel. »Wir sind hier. Jetzt machen wir’s uns erst mal gemütlich.«
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9. Zwischen zwei Bäumen Tarzan war weit gelaufen. Seine Sinne waren gespannt. Er horchte auf jedes ungewöhnliche Geräusch. Ständig suchten seine Blicke den Wald ab. Aber nichts deutete darauf hin, dass der Tiger sich in der Nähe befand. Habe ich eigentlich Schiss?, überlegte er. Dass ich mich unbehaglich fühle, ist ja schließlich normal. Wem ginge das nicht so? Wenn Napur auftaucht, kann ich nur hoffen, dass der nächste Kletterbaum nahe ist. Himmel, wo stecken die Mädchen? Kann doch nicht angehen, dass die wie blind in die falsche Richtung rennen. Und Oskar und Man Eater? Wieso haben die nicht gemerkt, dass die Frauchen den falschen Weg wählten? Natürlich, weil sie auf Wildfährten schnüffelten und das viel interessanter war – interessanter als die Spuren von Frau Weimar, Frau Renke und neun anderen Mädchen. Oskar und Man Eater, die Fährtenhunde! Dass ich nicht lache! Mehrmals drehte er sich um. Kam Gabys Vater ihm nach? Sicherlich! Aber er war noch nicht zu sehen. Plötzlich traten die Bäume zurück. Eine idyllische Waldwiese breitete sich aus. Erstaunt sah er ein gutes Dutzend Zelte. Fünf Mädchen standen dort. Im nächsten Moment sauste Oskar mit Freudengeheul auf ihn los. Gott sei Dank! Tarzan tätschelte seinen vierbeinigen Freund, der immer wieder an ihm hochsprang. Gaby, Inge und Kathie standen mit zwei etwa 16-jährigen fremden Mädchen zusammen. Erstaunen malte sich auf Gabys Gesicht. »Tarzan, wie kommst du denn hierher?« Seit gestern Vormittag in der Schule hatten sie sich nicht mehr gesehen. Ihm schien es, als sei inzwischen eine Ewigkeit vergangen. 110
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»Frag lieber«, lachte er, »wie ich euch gefunden habe. Tag, allerseits. Und um gleich zur Sache zu kommen«, er wurde ernst: »Ihr seid in höchster Gefahr. Hier im Wald streift ein Tiger rum. Ein richtiger Königstiger. Sein Dompteur – ein Trinker, der nicht mehr alle Tassen im Schrank hat – hat ihn letzte Nacht bei den Singenden Felsen freigelassen. Alle Zufahrtswege zum Wald sind inzwischen von der Polizei abgesperrt. Die Polizei versucht, jeden, der hier rumkraucht, rauszuholen. Aber das Gebiet ist zu groß. Habt ihr den Hubschrauber bemerkt? Auch der sucht nach euch. Dein Vater und ich, Gaby, wir sind euch gefolgt. Die andern haben wir vorhin gefunden. Die sitzen bereits im Hubschrauber. Aber ihr drei Unglücksvögel habt euch verlaufen. Ihr seid in den falschen Weg eingebogen.« »Also doch!« Gaby war schreckensbleich. Offenbar hatte es wegen des Weges bereits Zweifel gegeben. »Ein Tiger, sagst du?« Kathie konnte es nicht fassen. »Hoffentlich kein Man Eater«, lachte Tarzan. Davon fühlte Inges Rehpinscher sich angesprochen. Spielerisch sprang er Tarzan an. Winzige Pfoten stießen ihm gegen die Beine. Er lachte und streichelte das winzige Hündchen. »Ist das euer Zeltlager?«, fragte Tarzan die fremden Mädchen. Sie hießen Lore und Petra, waren Pfadfinderinnen und campierten hier mit einer großen Gruppe seit gestern Mittag. »Und wo sind die andern?« Tarzan stöhnte. »Geht die Sucherei also von vorn los. Wir…« »Wir sind mit Rädern hier«, unterbrach ihn Lore. »Die andern sind heute Morgen nach Heißenberg gefahren. Zu der bekannten Barock-Kirche.« Heißenberg lag südlich des Großen Waldes. Die Kirche war eine bekannte Ausflugsstätte. 111
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»Dann besteht keine Gefahr für die Mädchen«, stellte Tarzan fest. »Mit den Rädern sind sie schnell – und längst in Heißenberg angekommen. Zurück können sie nicht mehr. Gut! Eine Sorge weniger!« Kathie blickte zu Boden. Der Schreck verschleierte ihre grünen Augen. »O Gott! Dann war ich also heute Nacht Zeuge, wie der Tiger freigelassen wurde!« »Wie bitte?«, fragte Tarzan. Kathie erzählte ihr nächtliches Erlebnis zum zweiten Mal, wie sie schlafwandelnd bis zu den Singenden Felsen gelaufen war und dort den Mann mit Auto und Anhänger bemerkt hatte. »Aber von einem Tiger habe ich nichts gesehen.« »Der ist wahrscheinlich sofort ab in die Büsche.« Kathie erschauerte. »Himmel, er hätte uns alle fressen können.« »Vielleicht haben Oskar und Man Eater seinetwegen angeschlagen«, meinte Inge und blickte aus dunklen Kulleraugen erschreckt um sich. So, dachte Tarzan. Jetzt werde ich mal dafür sorgen, dass die Mädchen in Sicherheit kommen. Trotz drohender Gefahr – die ganze Zeit hatte Gaby ihn mit leuchtenden Augen angesehen. Sie brauchte nur zwei und zwei zusammenzuzählen, um zu wissen, was sich abgespielt hatte. Also hatte nicht nur ihr Vater nach ihr – und der Mädchengruppe – gesucht.Tarzan hatte sich ihm angeschlossen, vielmehr – wie sie ahnte – sich nicht abschütteln lassen. Dass ihn nicht nur Hilfsbereitschaft und Abenteuerlust dazu bewegten, konnte sie sich denken. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen. Aber das traute sie sich dann doch nicht – vor vier Mädchen und zwei verspielten Hunden. »Ich bringe euch jetzt zum Hubschrauber.« Tarzan übernahm die Führung, wie gewöhnlich. 112
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Die Hunde wurden angeleint. Lore und Petra holten noch rasch ihre Taschen aus einem der Zelte. Alles andere blieb zurück. »Es sind drei, vielleicht sogar vier Kilometer bis zum Hubschrauber«, erklärte Tarzan. »Wir…« Er verstummte. In der Ferne, aber leider nicht sehr fern, brüllte der Tiger. Schaurig war es anzuhören. Mensch und Tier fröstelten. Ganz offensichtlich war Napur voller Wut. »Das… das war er, ja?« Inge zitterte. Tarzan nickte. Er sagte nicht, was er dachte. Nämlich dass Kommissar Glockner auf den Tiger gestoßen war. Er lauschte. Fiel ein Schuss? Nein, nichts! Auch das Gebrüll war verstummt. »In die Richtung müssen wir zurück«, sagte er. »Hm. Will nicht hoffen, dass das Vieh uns den Weg abschneidet.« Das hätte er nicht sagen dürfen. Bleiche Gesichter und entsetzte Mädchenaugen ließen ihn seine Offenheit bereuen. »Keine Sorge!«, beruhigte er sie schnell. »Der Hubschrauber holt uns raus. Ihr braucht nichts zu befürchten.« Während er überlegte, wie jetzt am klügsten zu handeln sei, sprang Oskar einem Eichhörnchen nach. Weit kam er freilich nicht. Die – immerhin sechs Meter lange – Leine hielt ihn zurück. Das Eichhörnchen sauste einen Fichtenstamm hoch. Oskar, den das ärgerte, bellte lauthals.Was so viel hieß wie: Komm doch her, wenn du Mut hast! »Ruhig, Oskar!«, gebot Tarzan. »Tiger haben scharfe Ohren. Musst ihn ja nicht unbedingt anlocken.« Der schlappohrige Cockerspaniel wurde friedlich. Man Eater kratzte sich mit dem Hinterlauf am Kopf. In diesem Moment hörten sie die ferne Stimme. »Mein Papi…«, rief Gaby aufgeregt. »Pst!« Tarzan hob die Hand. 113
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Er verstand nicht alles. Der Wald fing die Worte auf, schluckte sie, trug nur wenige weiter. Immerhin: »…Tiger kommt auf euch zu…« Das glaubte er verstanden zu haben. »Dein Vater warnt uns, Gaby. Der Tiger kommt auf uns zu. Wahrscheinlich hat er Oskars Gebell gehört. Los, auf die Bäume! Aber schnell!« Wer was in der Hand hielt, ließ es fallen. Petra schluchzte vor Angst. Drei Buchen am Südrand der Waldwiese boten sich als Kletterbäume an. Tarzan half den Mädchen, schob sie hinauf, stützte, wo es nötig war, und feuerte sie an, höher zu klettern. Gaby und Kathie saßen auf einem Baum. Tarzan reichte Oskar hinauf. Er strampelte, aber sein Frauchen schnauzte ihn an. Erschrocken hielt er still. Gaby presste ihn an sich, schnürte ihn mit der Leine an sich fest. Sie und Kathie waren in fünf Meter Höhe, wo sie sich in eine Astgabel lehnten. Lore war gewandt bis in die Krone einer Buche geturnt. Um sie brauchte er sich nicht zu kümmern. Petra, die etwas pummelig war, benötigte Hilfe. Beide Hände musste er ihr unter den Hosenboden legen und die nicht unbeträchtliche Last auf den untersten Ast stemmen. Von dort konnte sie weiterklettern. Ein erschreckter Schrei ließ ihn herumfahren. Inge saß auf dem dritten Baum, hatte ihren Man Eater im Arm gehabt und schon eine gewisse Höhe erreicht. Aber jetzt war das Unglück passiert. Der zappelnde Rehpinscher hatte sich befreit. Er fiel hinunter. Tarzan sah gerade noch, wie vier kleine Pfoten auf einem weichen Mooskissen landeten. Die Leine fiel hinterher. Und Man Eater, verstört von dem Sturz, raste los wie ein Irrer. 114
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»Mein Hund!«, schrie Inge. »Der Tiger wird ihn fressen.« Ihre Stimme kickste vor Angst. Trotzdem machte sie Anstalten, von der Buche herunterzusteigen. »Bleib oben!«, schrie Tarzan sie an. »Ich hole ihn.« Dann rannte er dem Rehpinscher nach. Offenbar hatte der kleine Kerl sich wehgetan. Er flitzte hin und her, ließ sich nicht einfangen, missverstand Tarzans Bemühen, hörte auf keinen Lockruf und keinen Befehl und floh jetzt zum Waldrand. Nicht zu fassen, wie flink dieser Zwerg war. Tarzan spurtete über die Wiese. Der Boden war uneben. Damit kam das Hündchen zurecht. Für Tarzan war es ein gefährliches Hindernisrennen. Er konnte straucheln, sich den Knöchel verstauchen oder gar brechen. Und dann… Gute Nacht! Der Tiger war unterwegs. Er musste gleich hier sein. Erst am Waldrand, reichlich 100 Meter vom Wege entfernt, erwischte Tarzan den Hund. Und das nur, weil er sich mit einem Hechtsprung auf die Leine warf. Man Eater wurde unabsichtlich umgerissen, als die Leine sich straffte. Er zappelte, sprang auf, verharrte zitternd und wurde von Tarzan Hand über Hand herangeholt. »Ist ja gut, Man Eater! Ich tu dir doch nichts.« Er streichelte ihn und der Kleine beruhigte sich. Ein Schreckensschrei, der sich eher wie ein Winseln anhörte, machte ihn aufmerksam. Er wandte den Kopf. Was er sah, ließ sein Blut erstarren. Der Tiger war da. Er hatte die Mädchen entdeckt. An dem Baum, auf dem Gaby und Kathie mit Oskar saßen, richtete er sich auf. Oskar winselte. Durch die Zweige konnte Tarzan erkennen, wie die Mädchen sich am Stamm festklammerten. 115
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Napur unternahm ein paar Kletterversuche, hatte aber keinen Erfolg. Tarzan, noch im Gras liegend, erlebte den mulmigsten Augenblick seines jungen Lebens. So also, dachte er, ist es, wenn man richtiges Fracksausen hat. Man Eater, Unglückswurm! Das hast du uns eingebrockt! Wenn Napur uns bemerkt, hilft auch kein Beten. Himmel, was mache ich? Kein Kletterbaum in der Nähe. Höchstens der! Es war der astlose Doppelstamm einer Fichte. V-förmig ragten die nur schenkeldicken Stämme in eine Höhe von etwa zwölf Metern. Das V war sehr schmal. Selbst in fünf Meter Höhe betrug der Abstand nur zwei Armlängen. Wenn ich mich hochschiebe wie in einem Kamin, überlegte Tarzan, Rücken gegen den einen, die Füße gegen den andern Stamm gepresst und den Hund vor der Brust – das müsste gehen. Der Doppelstamm stand nur wenige Schritte entfernt. Vorsichtig robbte er darauf zu. Mit einer Hand hielt er Man Eater die winzige Schnauze zu. Wieder begann das Hundchen zu zappeln. Tarzan atmete auf, als er hinter dem Baum war. Der Tiger versuchte es jetzt an der Buche, auf der Lore saß. Wütende Tatzenhiebe fetzten Rinde ab. Langsam, um ihn nicht aufmerksam zu machen, stieg Tarzan zwischen die Stämme. Er trug ein Sommerhemd und einen seiner dünnen roten Pullis. Beides war verschwitzt und klebte auf dem Körper. Als er sich jetzt wie ein Kaminkletterer zwischen den Stämmen hinaufschob, wurde das für seinen Rücken zur Qual. Die Rinde war rau, Harz herausgetreten. Buckel im Holz und Aststümpfe zerfetzten Pulli und Hemd. Er spürte, wie seine Haut aufriss, wie er blutete. Aber es half nichts. Er 116
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musste hinauf. Sich windend wie ein Aal, bewegte er den Rücken, die Füße fest gegen den zweiten Stamm gestemmt. Man Eater zappelte auf seiner Brust herum. Mit einer Hand verschloss er ihm die Schnauze. Napur, enttäuscht und gereizt, wandte sich jetzt dem dritten Baum zu. Dabei sah er in Tarzans Richtung – und entdeckte ihn. In diesem Moment schien der Tiger logisch zu denken. Inge, die sehr hoch geklettert und damit unerreichbar war, interessierte ihn nicht mehr. Anders war es mit Tarzan und dem Rehpinscher. Die konnte er erreichen. In mächtigen Sprüngen jagte er heran. Erst zweieinhalb Meter trennten Tarzan vom Boden. Er erkannte die Gefahr und hörte die angstvollen Rufe der Mädchen. Mit aller Kraft zwängte er sich zwischen den Baumstämmen aufwärts. Ein spitzes Holzstück bohrte sich zwischen die Schulterblätter. Er wimmerte vor Schmerz, biss sofort die Zähne zusammen, atmete keuchend und wand sich höher und höher. Drei Meter… Weite Sätze brachten den Tiger heran. Dreieinhalb Meter… Und weiter! Und weiter! Und… Napur sprang. Neben Tarzans Füßen schlugen dolchartige Krallen in den Stamm. Der Baum erzitterte. Beinahe hätte Tarzan mit den Füßen den Halt verloren. Der Tiger fiel auf den Boden zurück. Bevor er abermals sprang, hatte Tarzan sich einen Meter weiter gearbeitet. Die Angst wirkte wie ein Raketentriebsatz. Man Eater winselte. 117
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Napurs zweiter Sprung war gegen den anderen Stamm gerichtet. Diesmal verfehlte er Tarzans Hosenboden um eine Prankenlänge. Reichte die Höhe? Hoffentlich steigerte er sich nicht bei seinen Sprüngen. Tarzan verbiss sich die Schmerzen und zwang den zerschundenen Rücken ein weiteres Stück hinauf. Dann musste er mit einer Hand hinter seinen Kopf greifen und sich am Stamm festklammern. Unter jedem Anprall des Tigers schwankten die Stämme wie Halme im Wind. Er kämpfte, um nicht herauszurutschen. Mit dem freien Arm umschlang er den kleinen Hund, presste ihn an sich. Seine Hand war schweißig und drohte abzugleiten an Man Eaters seidigem Fell. Wie eine zusammengedrückte Stahlfeder war Tarzans Körper gespannt. Lange, das spürte er, würde er das nicht aushalten. Doch wenn seine Muskeln versagten, war sein Schicksal besiegelt. Wütend sprang der Tiger immer wieder an den Stämmen hoch. »Hau ab, Mistvieh!«, schrie Tarzan ihn an. »Ich schmecke überhaupt nicht. Ich bin austrainiert und zäh wie ein alter Geier. Ich habe viel zu viele Kilometer drauf. Mit Speckstreifen müsstest du mich spicken, damit ich genießbar werde. Ich bin kein Spanferkel! Hau ab, blöder Kater! Sieht so dein Dank aus für die Futterspende?« Man Eater hatte seine Schnauze befreit und jaulte in höchsten Tönen. Gleich bricht mir der Rücken ab, dachte Tarzan. Aber es war alles richtig – auch wenn’s mich jetzt erwischt. Gaby ist in Sicherheit. Nur das zählt. Dafür lohnt sich alles. Aber ich will nicht runterstürzen. Ich stürze nicht ab. Hah! Stunden118
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lang kann ich’s aushalten, noch länger! Ist doch herrlich hier oben. Und wozu bin ich so sportlich! Gesunde Waldluft erfrischt. Ich bin ein Zweig der beiden Stämme. Ich kann gar nicht runterfallen! Napur sprang ein letztes Mal. Dann verharrte er hingekauert – mit bedrohlich gefletschten Zähnen. Tarzan nahm die Hand vom Stamm, zog sein Taschenmesser hervor und warf es dem Tiger auf den Kopf. Zusammengeklappt. Es traf ihn zwischen den glitzernden Augen. Verblüfft fuhr er hoch. Anmutig wischte er sich mit der Tatze über das Gesicht. Dann beschnüffelte er das Messer. In diesem Moment hörte Tarzan den Hubschrauber. Donnernd näherte er sich im Tiefflug. Die Mädchen begannen zu rufen und wie wild zu winken. Beinahe hätten sie ihre T-Shirts ausgezogen, um damit zu signalisieren. Nur der hitzebedingte Verzicht auf Unterwäsche hinderte sie daran. Offensichtlich hatte der Pilot das Zeltlager entdeckt. Er hielt darauf zu. Napur schien von Panik befallen. Verstört sprang er hin und her, dann jagte er in langen Sprüngen in den Wald hinein. Tarzan sah ihm nach, bis das gelbbraune Fell im Grün des Unterholzes verschwand. »Man Eater«, sagte er zu dem Rehpinscher, »dein großer Namensvetter ist getürmt. So schnell kommt der nicht wieder.« Langsam rutschte er hinunter. Jetzt, da die Gefahr vorbei war, schien der brennende Schmerz auf dem Rücken unerträglich zu sein.Tarzan konnte nicht mehr rutschen. Aus drei Meter Höhe sprang er hinab. Er landete auf weichem Boden, ließ den Hund los, behielt aber die Leine in der Hand und ging dem landenden Hubschrauber entgegen. 119
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Eilig kletterten die Mädchen von den Bäumen. Kaum hatte der Hubschrauber aufgesetzt, sprang Glockner heraus. Gaby stürmte ihm in die Arme. Kathie, Lore und Petra führten einen so albernen Freudentanz auf – wie man ihn vernünftigen Mädchen nicht zugetraut hätte. Alle waren aus dem Häuschen. Inge kam Tarzan entgegen. Sie hatte feuchte Augen, als sie ihm die Leine aus der Hand nahm. »Man Eater«, sagte sie, indem sie sich zu ihrem Hund hinabbeugte, »dass du noch lebst, verdankst du Tarzan. Jeder andere hätte Hund Hund sein lassen, nur an seine Sicherheit gedacht und einen günstigen Kletterbaum gesucht. Jetzt weißt du, Man Eater, was es heißt, wenn jemand tierlieb und wahrhaft mutig ist.« »Das mit der Tierliebe stimmt«, sagte Tarzan. »Das andere nicht. Ich hatte furchtbaren Schiss.« Die andern hatten ihn umringt. Gaby legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Um Gottes willen! – Wie sieht denn dein Rücken aus!« »Der Baum war leider nicht gefüttert.« Tarzan grinste. »Tut schon nicht mehr weh.« »Rohes Fleisch!«, sagte Glockner. »Die Haut ist runtergescheuert. Ich sah, wie du zwischen den Bäumen stecktest. Im Hubschrauber ist Verbandszeug. Du wirst sofort verpflastert.« Kein Wort verlor er darüber, dass Tarzan eigenmächtig nach den Mädchen gesucht hatte. Alle gingen an Bord. Der Hubschrauber hob ab und schwenkte die Nase ostwärts, in Richtung Stadt. Tarzan musste sich über zwei Sitze legen. Glockner entfernte allen Schmutz aus den Wunden und pinselte sie mit Jod, bevor er Pflaster auflegte. Gaby ging ihm zur Hand, war die Besorgnis in Person und fragte den geschundenen Patienten ein dutzend Mal, ob es schmerze. 120
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»Das Jod brennt ein bisschen«, sagte er durch die Zähne, »ist aber ganz angenehm.« Hemd und Pulli konnte er abschreiben. Trotzdem musste er nicht mit freiem Oberkörper zurückkehren. Der Pilot hatte eine zweite Jacke bei sich, eine Art Windbluse, wie Flieger sie tragen. Sie passte Tarzan hervorragend. Er sah geradezu schick darin aus.
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10. »Zuflucht« bei Plockwinds In Zeisigs Chevrolet war es brütend heiß. Er stand auf dem Parkplatz an der Forststraße.Alle vier Türen waren geöffnet, aber das nutzte nicht viel. Robert und Nino, Zeisigs sympathische Söhne, dösten auf den Rücksitzen. Ihr Vater saß regungslos hinter dem Lenkrad. Leni meistens neben ihm. Aber ab und zu sprang sie auf und sah nach dem – für Napur bestimmten – Fleisch im Kofferraum. Ihre Besorgnis war sinnlos. Denn selbst wenn die großen Brocken vergammelten, hätte Napur sie nicht verschmäht. Tiger sind Aasfresser. Karl und Klößchen wanderten auf dem Parkplatz umher, kehrten aber immer wieder zum Wagen zurück. Alle warteten auf den Tierarzt Dr. Jansen. Doch der kam und kam nicht. Die Operation des Gorillaweibchens schien viel Zeit zu beanspruchen. »Kann verstehen, dass die Zeisigs sich um Napur sorgen«, sagte Karl. »Für uns ist der Tiger eine gefährliche Bestie, aber ihnen bedeutete er viel in all den Jahren. Er war der Star des kleinen Zirkus. Und ist Leni ans Herz gewachsen.« »Sie hat einen guten Charakter«, urteilte Klößchen. »Sie ist tierlieb.« »Himmel, käme dieser Jansen doch! Mit seinem NarkoseGewehr könnte er den Polizisten zuvorkommen. Wenn die den Tiger sehen, werden sie vor lauter Angst mit ihren Maschinenpistolen wie die Wahnsinnigen schießen. Da hat das Tier keine Chance.« »Ob er schon jemanden gefressen hat?« »Woher soll ich das wissen? Der Wald ist groß.« Allmählich belebte sich der Parkplatz. Die Eltern der Mädchen, die von Glockner und Tarzan gesucht wurden, trafen ein. Im Radio hatten die Leute von der 122
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Katastrophe gehört. Jetzt wollten sie zu ihren Kindern. Die Polizisten mussten fast Gewalt anwenden, um sie daran zu hindern. Es kam zu erregten Auseinandersetzungen. Wachtmeister Pongartz, der hier mit seinen drei Kollegen die Zufahrt verteidigte, hatte alle Hände voll zu tun. Aber dann verwandelten sich Angst und Sorge in Jubel. Über das Sprechfunkgerät in einem der Streifenwagen erfuhr Pongartz, dass man die Mädchen gefunden hatte und der Hubschrauber – mit allen an Bord – gleich zum Rückflug starten werde. Der Pilot gab das durch. Auch, dass Glockner und Tarzan sich im Helikopter (Hubschrauber) befanden. Karl und Klößchen, die das mit als Erste erfuhren, rannten sofort zum Chevrolet, um die Zeisigs zu informieren. Kaum war das geschehen, lief Klößchen zu den Streifenwagen zurück. Er fühlte sich heute als Hans-Dampf-in-allenGassen und wollte unbedingt mehr hören. Quer gestellt blockierten die Polizeifahrzeuge die Straße. Die rechte Vordertür des einen war geöffnet. Wachtmeister Pongartz stützte sich mit einem Ellbogen aufs Dach. Den Hörer des Sprechfunkgerätes hielt er ans Ohr. »Wie?«, sagte er in diesem Moment. »Verstehe ich nicht. Die Straße nach Lerchenau ist nicht gesperrt? Aber wieso denn? Das sollte Berta zwölf übernehmen! Ist weiter nördlich bei der Campingplatz-Zufahrt? Ja, so ein Unsinn! Ich habe… Ach so, nein! Na, wer fährt schon nach Lerchenau .… nein, bestimmt kein Unglück. Ich kann hier niemanden entbehren, Herr Oberkommissar. Der Ansturm ist happig. Aber wenn Berta vier das übernimmt…« Mehr hörte Klößchen nicht. Bei ihm hatte eine Idee gezündet. Er war versucht, zum Chevrolet zu rennen, so schnell seine stämmigen Beine ihn trugen. Doch er fühlte Pongartz’ Blick im Rücken und entschied sich für Eile mit Weile. 123
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Nur das letzte Stück rannte er. Japsend kam er beim Wagen an. »Wir können in den Wald. Ja, doch! Die Zufahrt nach Lerchenau ist frei. Durch einen Organisationsfehler, durch ein Missverständnis bei der Polizei. Aber sie schicken gleich einen Streifenwagen hin. Nur wenn wir schneller sind…« »Alle in den Wagen!«, gebot Zeisig. Sie mussten ordentlich zusammenrücken, waren sie doch jetzt immerhin zu sechst. Klößchen saß neben Leni, was er himmlisch fand. Und als sie ihn wegen seiner Pfiffigkeit lobte, schwoll ihm die Brust vor Stolz. Zeisig kannte den Weg und fuhr rasch. Unterwegs kamen sie an einem Halbdutzend Zufahrten zum Wald vorbei. Überall sperrten Polizisten ab. Die Straße nach Lerchenau lag günstig, nämlich in einem Winkel, in den die anderen Polizeiposten nicht einsehen konnten. Eine Lücke in der sonst lückenlosen Absperrung! Streifenwagen Berta vier war noch nicht zu sehen. Auf jaulenden Reifen zog Zeisig den Straßenkreuzer in die Kurve. »Eigentlich«, sagte er, »müsste ich euch, Karl und Willi, hier absetzen.« »Weshalb denn das?«, forschte Klößchen. »Weil wir euch nicht mitnehmen können, wenn wir nach Napur suchen.« »Wir sind Ihnen bestimmt nicht hinderlich«, begann Klößchen, wurde aber von Zeisig unterbrochen. »So meine ich das nicht. Ich weiß, ihr wärt gut zu gebrauchen. Aber die Gefahr ist zu groß. Ich muss nochmals daran erinnern: Uns tut Napur nichts. Uns kennt er. Von uns hat er täglich sein Fressen erhalten.« »Aber für unsere Sicherheit könnten Sie nicht garantieren«, meinte Karl. 124
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»So ist es. Einen Hund kann man zurückpfeifen – oder festhalten, wenn er auf jemanden losgeht. Bei einem Tiger ist das nicht möglich.« »Schade«, sagten Karl und Klößchen wie aus einem Mund. Und Karl dachte: Hm. Gott sei Dank! Ich hätte furchtbaren Bammel gehabt. Aber wer gibt das schon zu? Und Klößchen dachte: Noch mal Glück gehabt! So zieht man sich mit Anstand aus der Affäre (Angelegenheit). Aber Leni denkt sicherlich, ich wäre sehr mutig. Sie fuhren jetzt über eine gewundene, gut ausgebaute Straße in Richtung Lerchenau. Sie wurde von Ahornbüschen, Holunder und Weiden gesäumt. Nur an einigen Stellen konnte man in den Wald sehen. »Ich könnte mir vorstellen«, sagte Zeisig, »dass zum Schutz der Lerchenauer einige Polizisten in der Siedlung sind. Sollen ja sehr reiche und einflussreiche Leute dort sein. Die überlässt man«, er lächelte bitter, »nicht einfach einer wilden Bestie. Damit man uns nicht bemerkt, werde ich vor Lerchenau halten – und den Wagen verstecken, wenn möglich. Ihr, Karl und Willi, riegelt euch ein.« »Dürfen wir das Radio anstellen«, sagte Karl, »damit es nicht so langweilig wird.« »Selbstverständlich.« Der bullige Motor des Straßenkreuzers lief wie auf Samtpfoten. Lärm verriet sie bestimmt nicht. Etwa einen halben Kilometer vor der Siedlung fanden sie ein Versteck. Zeisig lenkte den Wagen auf einen schmalen Weg, der zwischen die Büsche führte – zu einer Müll-Deponie. Von der Straße aus konnte der Wagen nicht mehr gesehen werden. Die Zeisigs stiegen aus. Robert und Nino hoben die Wanne mit den Fleischbrocken aus dem Kofferraum. Leni trug die Plastikflasche mit dem Schlafmittel. 125
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Bevor sie unter den Bäumen verschwanden, winkten sie den Jungs zu. »Hoffentlich passiert ihnen nichts«, meinte Karl. »Napur ist jetzt über zwölf Stunden in Freiheit. Vielleicht ändert sich sein Verhalten bereits. Vielleicht kennt er die alten Freunde nicht mehr. Vielleicht kommt doch die Bestie durch!« »Und das sagst du jetzt, wo sie weg sind!«, empörte sich Klößchen. »Glaubst du, meine Bedenken hätten sie zurückgehalten?« »Nee, bestimmt nicht. Außerdem siehst du zu schwarz. Ich wette, Leni könnte auf Napur reiten, wenn sie wollte.« »Hm.« Klößchen streckte die Beine aus. Er saß hinten, Karl vorn. Draußen summten Insekten. Nicht nur Bienen, sondern auch grün schillernde Fliegen, komische Käfer und anderes Insektenvolk, das von der Müll-Deponie angelockt wurde. Sie ließen die Fenster nur spaltweit geöffnet. Karl stellte das Radio an. Aber die Musiksendung im dritten Programm gefiel ihnen nicht. Klößchen sagte, er hätte fürchterlichen Hunger. Nicht mal Schokolade wäre zur Hand. Ob er das noch lange aushalten könnte, wüsste er nicht. Sein Magen knurre schon lauter als Napur im schlimmsten Zorn. Außerdem… »Nun hör endlich auf!«, sagte Karl. »Im Wald zittern alle, weil ein gefährlicher Tiger rumschleicht. Tarzan und der Kommissar haben Kopf und Kragen riskiert – und du denkst nur ans Essen.« »Das liegt an meinem hohen Grundumsatz«, erwiderte Klößchen. Diesen Begriff hatte er irgendwo aufgeschnappt. Er wusste zwar nicht genau, was das bedeutete. Aber es schien mit erhöhtem Nahrungsbedürfnis zusammenzuhängen. Deshalb schlussfolgerte er messerscharf: »Ich brauche eben mehr als andere. Du brauchst ja fast gar nichts.« 126
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»Ich esse genug. Aber ich bin nicht so verfressen wie du. Oder glaubst du, dein Speck wächst von allein. Heh, hör mal! Der Hubschrauber kommt zurück.« Er schien über der Forststraße zu fliegen, hatte jetzt den Waldrand erreicht und landete auf dem Parkplatz. Das Dröhnen der Rotorblätter war deutlich zu hören. »Kann lange dauern, bis die Zeisigs zurückkommen«, sagte Karl. »Stunden«, nickte Klößchen. »Sie wollen die Fleischbrocken hier und dort auslegen, sozusagen überall. Das ergibt eine hübsche Strecke. Das dauert auch und mein Magen… jaja, ich bin ja schon still.« Er schwieg etwa fünf Sekunden. »Wir könnten querfeldein zum Parkplatz zurückgehen. Dort ist jetzt bestimmt was los.« »Ich würde mich lieber mal in Lerchenau umsehen.« »Gute Idee.« Klößchen überlegte, ob es dort wohl einen Kiosk mit Süßigkeiten gäbe. Er war noch nicht dort gewesen. Immerhin, eine geringe Aussicht bestand. Oder fuhren die Lerchenauer wegen jedem Einkauf in die Stadt? Die Jungs verließen den Wagen. Karl meinte noch, klauen werde ihn wohl niemand. Dann stiefelten sie die Straße entlang. Es war still, die Zufahrt am Waldrand jetzt sicherlich abgesperrt, daher die Straße wie tot. Nach längerem Marsch sahen sie die Siedlung. Wald umgab sie. Acht prächtige Grundstücke lagen sich paarweise gegenüber. In den Gärten sprühten die Rasensprenger glitzernde Diamanten in die Luft. Auf der einzigen Straße stand ein Streifenwagen. In seinen Scheiben spiegelte sich die Sonne. Die Jungen konnten nicht sehen, ob jemand darin saß. »Kein Kiosk! Mist!«, fluchte Klößchen. »Was?« »Nichts. Habe nur laut gedacht.« Sie duckten sich hinter einen Strauch und beobachteten. 127
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Nichts rührte sich. Nur die geparkten Wagen – auf der Straße und in den geöffneten Garagen – verrieten, dass die Bewohner anwesend waren. Neugierig pirschten die Jungs etwas näher; bis hinter ein Grundstück, dann durch einen schmalen Weg, der – sozusagen als Querstraße – Lerchenau Nr. 4 von Lerchenau Nr. 6 trennte. Mannshohe Hecken rechts und links schirmten gegen Blicke ab. Von hier aus konnten die Jungs nicht in die Gärten sehen. Aber sie wurden auch nicht gesehen. Sie erreichten die Einmündung zur Straße. Vorsichtig schob Klößchen den Kopf um die Ecke – und starrte auf die Pistolentasche eines Polizisten. Sie befand sich etwa 20 Zentimeter vor seiner Nase. »Habe ich doch richtig gesehen«, sagte eine Stimme über ihm. Klößchen blickte auf – in das rote, gutmütige Gesicht eines Polizisten. Er war hünenhaft. Im Arm hielt er eine Maschinenpistole. Flucht? Ausgeschlossen. Auch Karl sah das ein. »Ihr Schlingel!«, sagte der Mann. »Wollt wohl den Tiger ausfindig machen, was? Wurde euch nicht ausdrücklich gesagt, dass ihr das Haus nicht verlassen dürft?« »Doch… doch… ja«, stotterte Karl. »Zwei… zweimal wurde es gesagt.« Klößchen grinste. »Weil… weil… der Tiger gefährlich ist.« »Genau!«, nickte der Polizist. »Aber ihr konntet eure Neugier nicht bezähmen, seid durch die Hintertür ausgerissen. Jetzt aber zurück! Wo wohnt ihr?« »Dort!« Karl hob einen Arm und wies vage nach vorn. »Bei den Plockwinds? Aha! Na, los! Worauf wartet ihr? Ins Haus, Kinder. Bevor der Tiger kommt und euch als Vorspeise nimmt.« Er lachte. Karl und Klößchen tauschten einen Blick. »Ja«, meinte Karl. »Es war wirklich dumm von uns. Wir ge128
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hen wieder rein. Aber«, er lächelte hinter seinen Brillengläsern, »auf demselben Weg, ja, damit sich unsere lieben Eltern nicht aufregen. Wieder durchs… äh… Rückfenster. Komm, Willi!« »Halt!«, gebot der Polizist. »Das könnte euch so passen.« Er wackelte mit dem Zeigefinger. »Euch Banditen traue ich nicht. Ist wohl besser, ich liefere euch ab. Im Gleichschritt – marsch!« Den beiden sank das Herz in die Hose. Es schien unausweichlich, dass ihre Lüge entdeckt wurde. Wie konnten sie verhindern, dass damit auch das Vorhaben der Zeisigs ans Licht kam? Schrecklich! Warum sind wir nicht im Wagen geblieben! Wir haben Vertrauen missbraucht. So etwa dachten beide, als sie von dem Polizisten über die Straße geführt wurden. Ein zweiter saß im Streifenwagen, wie sie jetzt sehen konnten. Er grinste. Die Einfahrt stand offen. Karl ging hindurch. Neben ihm betrat Klößchen das fremde Grundstück. Er schwitzte Blut und Wasser. Der Schatten des Polizisten, eben noch schräg hinter ihnen, fiel zurück. Wie auf Kommando sahen sie sich um. Er stand in der Einfahrt und passte streng auf sie auf. »Los, los!« Er winkte sie weiter. Es war ein langes Stück Weg bis zur Haustür. Sie erreichten sie, blieben stehen und drehten sich abermals um. Der Polizist hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Er blickte her und klopfte ungeduldig mit der freien Hand ans Hosenbein, seitlich. »Wir müssen klingeln«, sagte Karl leise, »und irgendwie rein. Hoffentlich ist wer zu Hause.« »Aber was sagen wir?« »Die Wahrheit – sobald wir drin sind. Müssten schon sehr gemeine Leute sein, wenn sie uns deshalb verpetzen.« 129
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Er klingelte. Klößchen schielte nach links und bemerkte hinter dem zweiten Fenster eine Bewegung. Aber die Gardine ließ nur ahnen, dass dort jemand stand. Es dauerte eine Weile. Der Polizist hatte Wurzeln geschlagen. Aber es wäre noch schlimmer gewesen, wenn er sie bis zur Haustür begleitet hätte. Jetzt wurde sie geöffnet. Von einer Frau. Sie war sehr elegant in ihrem grauseidenen Hauskleid, außerdem blond, hatte kühle Augen und ein irgendwie erstarrtes Gesicht. Es wirkte beinahe wie eine Grimasse. »Entschuldigung!«, sagte Karl. »Dürfen wir einen kleinen Moment reinkommen? Der Polizist dort schickt uns. Er will, dass wir von der Straße verschwinden. Wegen des Tigers.« Die Frau zögerte, blickte nach links, als müsse sie von jemandem, der sich hinter der Tür verbarg, Erlaubnis einholen. Dann nickte sie. Karl und Klößchen traten ein. Hinter der Tür stand ein massiger Typ. Er hatte ein krebsrotes Himbeergesicht und eine Hippie-Mähne wie Zuckerwatte. Er trug verschmutzte Drillich-Klamotten und verbarg eine Hand hinter dem Rücken. Argwöhnisch starrte er die Jungen an. Die Frau schloss die Tür. Der Hippie nahm die Hand hervor. Sie hielt eine Pistole. »Ganz ruhig seid ihr jetzt!«, befahl er. »Sonst kriegt ihr eins auf den Schädel, dass euch die Ohren schlackern. Rein in die Bude, aber dalli!« Verdattert sahen die Jungs von ihm zur Frau. Sie hob die Achseln. »Zwei bewaffnete Ausbrecher haben uns als Geisel genommen. Ihr hättet euch ein anderes Haus aussuchen sollen.« 130
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Karl nahm seine Brille ab und begann, die Gläser zu putzen. Klößchen schloss endlich wieder den Mund. Bei allen Heiligen!, dachte er. Das darf doch nicht wahr sein! Draußen der Tiger! Hier zwei Ausbrecher! Und um der Polizei zu entgehen, tappen wir voll in die Sch… Scheint aber wirklich ein Pechtag zu sein. Fensel scheuchte alle ins Kaminzimmer. Dort stand Hardtke mit der Waffe in der Hand und ließ Edu von Plockwind nicht aus den Augen. Fensel stieß Klößchen die Pistole vor die Brust. »Was ist wirklich los, Dickwanst? Raus mit der Sprache! Und keine Märchen, sonst haue ich dich windelweich! Weshalb schickt der Bulle euch rein?« »Er… er denkt, dass… wir hier wohnen«, stotterte Klößchen. »Das kam nämlich so…«
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11. Betäubungs-Aktion Der Hubschrauber landete. Durchs Fenster sah Tarzan, wie die Reporter ihre Kameras zückten. Die meisten Mädchen entdeckten ihre Eltern und konnten nicht schnell genug aus dem Hubschrauber klettern. Glockner, Gaby und Tarzan gingen mit Oskar als Letzte von Bord, nachdem sie sich bei dem Piloten bedankt hatten. Seine Tüchtigkeit hatte maßgeblich zum guten Ausgang des Unternehmens beigetragen. Nicht jeder hätte die riskanten Landemanöver auf dem unebenen Boden der Waldwiesen gewagt. Lächelnd beobachtete Tarzan die rührenden Familienszenen. Mütter und Väter schlossen ihre Töchter in die Arme. Sie waren dem Tiger entkommen, dem Leben wiedergeschenkt. Ein heller Wagen preschte über die Straße heran, eine Staubfahne hinter sich. Glockner schirmte die Augen gegen das Sonnenlicht ab. »Das kann doch nicht wahr sein«, sagte er. »Die Mami kommt. Aber so ist sie noch nie gefahren.« Der Wagen hielt vor ihnen, während Gaby von einem Bein aufs andere tanzte. Frau Glockner hatte Freudentränen in den Augen. Sie ließ ihr Töchterchen nicht mehr los. Oskar schlug Purzelbäume vor Freude. Dann kniff Margot Glockner ihrem Mann in die Wange. »Und mich hast du nicht verständigt! Ich weiß. Damit ich mich nicht aufrege, weil ich ohnehin nichts ändern kann. Das ist lieb gemeint, aber bin ich denn aus Zucker? Erst eine Nachbarin, die die Meldung im Radio hörte, hat’s mir gesagt. Als ich dann den Polizeipräsidenten anrief, hörte ich, dass ihr beide im Wald seid.« Lächelnd strich sie Tarzan über die braunen Locken. »Dich 132
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hat nichts und niemand zurückhalten können, nicht wahr? Ich weiß, was dich bewegt hat. Du wärst mit bloßen Händen auf den Tiger losgegangen, um Gaby zu retten.« Sie strahlte ihn an. Gaby strahlte ihn an. Der Kommissar schmunzelte. Sogar Oskar schien für einen Moment nur seinen Freund anzuhimmeln. Tarzan spürte, wie er vor Verlegenheit rot wurde. »Ihr Mann, Frau Glockner, hat mir… äh… erlaubt, dass ich ihn begleite.« »Erlaubt?«, sagte Glockner. »Er hat mich gezwungen. Entweder ich nähme ihn mit, oder er führe mit dem Rad in den Wald, um nach Gaby zu suchen. So war’s!« Er lachte. »Rückblickend muss ich sagen: Ich bin sehr froh,Tarzan, dass du dabei warst. Einzelheiten, Margot, erfährst du gleich.Wie geht’s deinem Rücken, Tarzan?« »Ist schon vergessen.« Jetzt stürzten Reporter herbei. Der Kommissar berichtete. Tarzan wurde interviewt. Und unentwegt klickten die Kameras. Bilder wurden geschossen von Tarzan. Von Tarzan und dem Kommissar. Vom Kommissar. Von Glockner, Gaby und Tarzan. Von Tarzan und Gaby. Und schließlich eine Art Familienfoto mit allen vieren. Natürlich war auch Oskar überall mit drauf. Und in einer Zeitung war später zu lesen, sein wütendes Gekläff hätte den Tiger davon abgehalten, den Baum zu erklettern, auf den Gaby und Kathie sich geflüchtet hatten. Dass Tarzan wegen des Rehpinschers in lebensbedrohliche Lage geraten war, wurde aufmerksam vermerkt. Und die nächste Fotoserie entstand: mit Tarzan und Man Eater. Wobei der Hundezwerg sich wie ein Star aus dem Schaugeschäft verhielt und Tarzan immer wieder übers Gesicht leckte. Irgendwann war auch dieser Rummel vorbei. Da der Glockner’sche Dienstwagen sich noch bei den Singenden Felsen befand, übernahm Gabys Mutter die Fuhre. 133
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Zunächst brachte sie ihren Mann und Tarzan zum Polizeipräsidium. Dann fuhr sie mit Gaby und Oskar nach Hause. Für die Polizei war noch nichts ausgestanden. Zwar waren Gaby und die anderen Mädchen gerettet, aber die Gefahr für die Allgemeinheit bestand nach wie vor. Napur befand sich in Freiheit. Wie er sich verhielt, davon hatte Tarzan eine Kostprobe erhalten. Man wusste jetzt: Der Tiger war gereizt, verstört, verunsichert durch die neue Situation. Er hatte sich auf seine Instinkte besonnen. Seine Angriffslust war erwacht. Auf dem Hof des Präsidiums fand Tarzan sein Rad vor. Ein Kollege des Kommissars berichtete, Karl und Klößchen wären hier gewesen. Er rief bei Sauerlichs an. Von Amalie Dessart, der Köchin, hörte er: Nein, niemand hier.Aber sie wollte gleich wissen, ob die Jungs denn nun zum Abendessen nach Hause kämen. »Vielleicht. Nein. Ich glaube, ja«, sagte Tarzan – und kam sich recht blöd vor. »Entschuldigung, Frau Dessart, aber ich weiß es wirklich nicht. Bis jetzt stand alles Kopf. Das erzählen wir Ihnen noch. Sie werden staunen. Bestimmt bringen wir großen Hunger mit. Bis nachher!« Wo sind meine Freunde?, überlegte er. Sie wissen, dass der Kommissar und ich in den Wald wollten. Vielleicht sind sie beim Parkplatz an der Forststraße gewesen. Er fragte den Kommissar, ob eine Möglichkeit bestünde, mit dem Polizeiwachtmeister, der dort die Absperrung leitete, Kontakt aufzunehmen. Die gab es, natürlich. Glockner übernahm das. Per Sprechfunk ließ er sich mit Pongartz verbinden. Der meldete stramm: »Jawohl, Herr Kommissar. Die beiden Jungen waren hier. Ein kleiner Dicker mit Segelohren und ein langer Dünner mit Nickelbrille. Sie kamen mit den Zeisigs. Ach übrigens – ich konnte wirklich nicht zulassen, dass die mit ihrem Betäubungsfleisch nach dem Tiger suchen. Ein Ansinnen war das!« 134
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Er erklärte, worum es gegangen war, und dass er niemanden in den Wald reingelassen habe. Tarzan genügte das. Ihm schwante was und deshalb wollte er seine Freunde möglichst schnell aufstöbern. Hatten Karl und Klößchen, angestachelt von seinem Verhalten, sich für Zeisigs Vorhaben begeistert? Wollten auch sie in den Wald, um Napur mit dem präparierten Fleisch zu betäuben? Klößchen war in Leni verschossen, ihm daher alles zuzutrauen. Karl, der Computer, nutzte gern eine Gelegenheit – hin und wieder –, um sich als tatkräftig zu beweisen. Begingen die beiden jetzt heldenmütig eine Rieseneselei? Aber vielleicht hatten die Zeisigs ihren Plan aufgegeben – und alle waren im Heinrichstal. Er verließ das Polizeipräsidium, schwang sich aufs Rad und legte Tempo vor. Als er bei dem verlassenen Gehöft ankam, empfing ihn Stille. Keine Menschenseele war da, auch kein Tier. Lenis Chaussee-Wanze stand auf dem Hof.An der Hauswand lehnten die Drahtesel seiner Freunde, mit dem Kabelschloss aneinandergekettet. Tarzan hielt sich nicht auf, sondern fuhr weiter zum Parkplatz an der Forststraße. Dort ging es jetzt ruhiger zu. Die Neugierigen hatten die Geduld verloren. Die Gaffer waren in die Stadt zurückgekehrt. Nur einige Reporter hielten noch aus. Denn Napur konnte jeden Augenblick für eine Sensationsmeldung sorgen. Aber das wäre dann wohl kaum was Erfreuliches gewesen. Wachtmeister Pongartz gab sich, als hätte er das Abendland gegen feindliche Horden verteidigt. Insgeheim rechnete er sicherlich mit einer Beförderung – oder wenigstens mit einer Belobigung, denn nach seiner Ansicht war keine Maus durch die Sperre geschlüpft. 135
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Zu Tarzan, den er – mit Recht – für Kommissar Glockners Schützling hielt, war er nicht dienstlich, sondern freundlich. »Nein, deine beiden Freunde sind nicht wieder hier gewesen«, beantwortete er dessen Frage. »Halten Sie es für möglich, dass die Zeisigs im Wald sind?« »Ausgeschlossen. Wäre ja auch…« Er verstummte, lehnte sich an den Streifenwagen und ließ die Unterlippe hängen. Ihm schien was einzufallen. Der etwas stiere Blick verriet angestrengtes Nachdenken. »Zum Teufel!«, fluchte er dann, was bestimmt gegen die Dienstvorschrift war. »Dieser kleine Dicke! Der wird doch nicht etwa…« Er sprach nicht weiter. »Sie denken an was Bestimmtes?«, forschte Tarzan. Pongartz nickte. »Dein dicker Freund stand neben mir, als ich die Meldung von der Panne erhielt. Ich glaube, das hat er gehört.« »Panne?« »Ein Versehen der Einsatzleitung. Streifenwagen Berta zwölf sollte die Zufahrt nach Lerchenau sperren, wurde aber zu einer anderen Straße dirigiert. Dadurch war die Zufahrt für eine Weile offen. Wenn die Zeisigs sich beeilt haben – also, es könnte sein, meine ich. Himmel! Ob die reingefahren sind?« Bestimmt!, dachte Tarzan. Aber er schüttelte entschieden den Kopf. »Das glaube ich nicht.« »Aber wenn dein dicker Freund es ihnen erzählt hat.« »Der erzählt wenig«, behauptete Tarzan. »Meistens kriegt er den Mund nicht auf. Wird schon alles in Ordnung sein. Tschüss!« Er überließ Pongartz seinen Zweifeln, radelte über den Parkplatz und dann querfeldein am Waldrand entlang. Hier verlief weder Straße noch Weg. Der Boden war holperig. 136
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Ihm tat sein Rad leid. Er stieg ab und schob, bis er außer Sichtweite war. An dieser Stelle buchtete der Waldrand sich ein. Im Nu war Tarzan unter den Bäumen. Sein Rad schiebend, lief er über Stöcke und Wurzeln. Die Richtung wusste er ungefähr. Später stieß er auf die Straße, die nach Lerchenau führte. Unbehelligt radelte er auf die Siedlung zu. Er erreichte den Weg, der zur Müll-Deponie abzweigte. Seinen scharfen Augen entging nicht, dass frische Reifenspuren hineinführten. Niedergedrücktes Gras hatte sich noch nicht wieder aufgerichtet. Er war neugierig, sah nach und entdeckte Zeisigs Chevrolet. Also doch! Der Kofferraum ließ sich öffnen. Er roch streng – geradezu unappetitlich – nach gammeligem Fleisch. Aber es war nicht mehr da. Unverantwortlich, dachte Tarzan, dass die Zeisigs Karl und Klößchen mitgenommen haben! Die Zirkusleute kann ich verstehen. Mag ja sein, dass Napur für sie keine Gefahr ist. Für Karl und den gut durchwachsenen Willi aber umso mehr. Er fuhr bis Lerchenau, versteckte dort sein Rad im Gebüsch, umging die Siedlung und achtete darauf, dass er nicht gesehen wurde. Natürlich bemerkte er den Streifenwagen. Hinter Lerchenau wurde der Wald dichter. Tarzan trabte los auf gut Glück. Und das Glück war mit ihm. Etwa einen Kilometer weiter stolperte er über einen der – für Napur ausgelegten – Fleischbrocken. Ein Fliegenschwarm hatte sich darauf niedergelassen. Alles summte und sirrte und war ziemlich eklig. Die Richtung stimmte also. Er trabte weiter, begann zu schwitzen, zog die Fliegerjacke aus und band sie sich um die 137
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Hüften. Später zog er die Jacke wieder an, weil Mücken und Bremsen sich für seinen verpflasterten Rücken interessierten. Er war jetzt weit genug vorgedrungen, um Lautsignale zu geben. »Haaallooo!«, rief er durch den Trichter seiner Hände. Aus einem dichten Gebüsch, kaum 30 Meter vor ihm, kam die Antwort. »Hallo! Wer da?« Er erkannte Zeisigs Stimme. Die vier Zirkusleute waren beieinandergeblieben und staunten nicht schlecht, als Tarzan plötzlich vor ihnen stand. Sie wirkten ziemlich erschöpft, hatten alles Fleisch ausgelegt und befanden sich bereits auf dem Rückweg. »Und wo sind Karl und Willi?«, fragte Tarzan. Zeisig erklärte, sie wären beim Wagen zurückgeblieben. »Dort sind sie nicht«, berichtete Tarzan. »Hm. Könnte mir denken, die haben sich gelangweilt. Oder – was noch wahrscheinlicher ist: Willi hat’s wieder mal vor Hunger nicht ausgehalten. Bestimmt sind sie zum Heinrichstal gelaufen. Das ist ja nicht weit.« Dann erzählte er, wie es ihm und dem Kommissar bei der Suche nach den Mädchen ergangen war. »Noch mal möchte ich Napur nicht begegnen«, meinte er abschließend. Die Zeisigs zeigten betroffene Gesichter. »O weh!«, meinte der Zirkusdirektor. »Dann war unsere Mühe umsonst! Wenn Napur vorhin noch so tief im Wald war, kommt er bestimmt nicht in dieses Gebiet. Nur ein besonderer Grund könnte ihn hertreiben. Aber ich wüsste nicht, was.Wir können nur hoffen, dass ihn keiner der Scharfschützen aufspürt. Dr. Jansen bleibt unsere einzige Hoffnung.« »Dann haben wir hier nichts mehr verloren«, meinte Leni. Gemeinsam gingen sie zurück. 138
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Tarzan holte sein Rad, ohne dass er von den beiden Polizisten bemerkt wurde. Ihm widerstrebte zwar, es in den ungelüfteten Kofferraum zu legen. Andererseits wollte er das Angebot der Zeisigs, mit ihnen zu fahren, nicht zurückweisen. »Jetzt ist die Zufahrt natürlich gesperrt«, sagte der Zirkusdirektor. »Aber ich glaube kaum, dass es Ärger gibt. Die Polizisten wissen ja nicht, dass wir unerlaubt in den Wald reingefahren sind. Wenn einer der Lerchenauer hinauswill – per Wagen, wird man ihm das bestimmt nicht verwehren.« »Zumal man im Wagen verhältnismäßig sicher ist«, nickte Leni. Sie stiegen ein, Zeisig manövrierte den Chevrolet rückwärts zur Straße. Dann rollten sie dem Waldrand entgegen.
* Die Verbrecher hatten alle Gardinen und Vorhänge geschlossen. Im großen Kaminzimmer herrschte gedämpftes Licht. Und so war auch die Stimmung – jedenfalls bei Edu von Plockwind, seiner Frau Susanne, Klößchen und Karl. Fensel und Hardtke zeigten Zuversicht. Sie hatten den Eisschrank geplündert und Delikatessen vorgefunden, die sie nicht mal dem Namen nach kannten. Sie hatten etliche Biere getrunken. Jetzt sah die Welt wieder besser aus. Sie konnten sogar über den grotesken Umstand grinsen, der ihnen Karl und Klößchen als zusätzliche Geisel zugespielt hatte. »Wir hauen ab, sobald es dunkel ist«, sagte Fensel. »Aber erst muss der Streifenwagen weg sein«, nickte Hardtke. »Das wird nicht mehr lange dauern. Die Treibjagd auf den Tiger ist sicherlich bald aus.« Fensel saß bei einem der Fenster, sodass er die Straße im Auge behielt. 139
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Hardtke hatte eine Flasche Bier in der Hand und lief beim Kamin auf und ab. Die Plockwinds hockten auf der Couch. Die Angst hatte Edu versteinert. Seit einer halben Stunde rührte er sich nicht. Nur die rollenden Augen verrieten, dass er am Leben war. Seine angebliche Kühnheit hatte heute offenbar Ausgang. Er bot das Bild eines Großwildjägers, über den die Tiere sich kaputtgelacht hatten. Susanne blieb kühl, trank immer noch Tee und ärgerte sich mehr über ihren waschlappigen Mann als über die Ausbrecher. Jetzt zeigt er, wie er wirklich ist, dachte sie. Bin gespannt, was für eine Geschichte er darüber erfindet. Karl und Klößchen hatten Klubsessel belegt. Karl zermarterte sein Computer-Gehirn, suchte nach einem risikolosen Ausweg, fand aber nichts. Klößchen nährte seinen Hass gegen die Verbrecher. Todfeinde waren das. Seine, jedenfalls. Aus besonderem, unverzeihlichen Grund. Er hatte nämlich, als die beiden ihre Fressorgie begannen, um ein Häppchen gebeten – wegen nagendem Hunger. Erhalten hatte er nichts. Jedenfalls nichts außer Spott. »Bist fett genug, Dickwanst«, hatte Fensel gesagt – und sich über das dritte Stück Schokoladentorte hergemacht. »Und wie?«, fragte Hardtke jetzt. »Was meinst du?« Fensel trank einen Schluck aus der Bierflasche. »Wie hauen wir ab? Wen nehmen wir mit?« Fensel grinste. »Plockwind wird gefesselt und im Keller eingesperrt. Seine Alte und die beiden Rotzlöffel nehmen wir mit.« Jetzt wird er auch noch beleidigend, dieser Saukerl!, dachte Klößchen. »Ist dein Wagen aufgetankt?«, wandte Hardtke sich an Edu. 140
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Der rührte sich nicht. »Heh!« Fensel stieß ihn mit der Waffe an und der Hausherr erschrak. »Ob Sprit in deiner Karre ist?« »Ja, äh… der Tank müsste voll sein.« »Was für ’n Wagen?« »Ich habe einen Mercedes. Meine Frau fahrt einen Alfa.« »Den Mercedes nehmen wir«, meinte Fensel. Er blickte zur Straße hinaus und beobachtete, wie der hünenhafte Polizist mit dem roten Gesicht aus dem Wagen stieg. Das war kein Grund zur Panik. Rotgesicht machte regelmäßig die Runde um die Siedlung. So auch jetzt. Er nahm seine Aufgabe ernst und behielt den Waldrand im Auge. Mit festem Schritt verschwand er aus Fensels Blickfeld. »Ich seh mich mal um«, sagte Hardtke. »Bestimmt sind transportable Werte im Haus. Du kommst mit und zeigst mir’s«, wandte er sich an Susanne. »Ich meine Geld, Schmuck, Goldmünzen. Klar?« Susanne blieb sitzen. »Ich werde Ihnen nicht dabei helfen, uns auszuplündern«, sagte sie. »Nein?« Hardtke wog seine Pistole in der Hand. »Soll ich dir mal erzählen, wie viele Frauen ich schon verdroschen habe? Und dass es mir nicht darauf ankommt, mit dir die Reihe fortzusetzen?« Brutalität stand in seinem Dreieck-Gesicht. Niemand zweifelte, dass er seine Drohung wahr machen würde. Susanne erbleichte. Mit hängenden Schultern stand sie auf und kam seiner Aufforderung nach.
* Zweige bogen sich und schnellten zurück. Äste brachen. Hohes Gras strich über seine Flanken. Napur, der Königstiger, jagte durch den Wald. 141
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Er war aufgeregt, fast verängstigt. Dieses donnernde Ungetüm war vom Himmel auf ihn herabgestoßen, war ein übermächtiger Feind. Dann hatte es ihn verfolgt – durch den halben Wald. So jedenfalls empfand er die Landung des Hubschraubers im Zeltlager der Pfadfinderinnen und den späteren Heimflug. Zufällig hatte der Hubschrauber dabei den Tiger vor sich hergetrieben. Während der Helikopter stadtwärts flog, war Napur unter dem schützenden Dach des Waldes vor ihm geflohen. Eine Hetzjagd. Sie hatte ihn überfordert, denn seine Ausdauer war begrenzt. Er hatte nur im Käfig gelebt, zwar einen tiefen Brustkorb und gewaltige Muskeln entwickelt, aber keine Gelegenheit gehabt, seine Ausdauer zu trainieren. Erschöpfung ließ ihn taumeln. Doch er jagte weiter. Hunger wühlte in seinen Eingeweiden und der Schlund schien ausgetrocknet. Eine vage Sehnsucht erwachte in ihm. Sie betraf sein bisheriges Leben: die Ruhe und Geborgenheit in seinem Käfig. Die Liebkosungen der Menschen, die er von klein auf kannte. Das regelmäßige Fressen, mit dem sie ihn versorgt hatten. Verglichen damit war dieser Wald eine Hölle. Napur kannte kein Ziel. Aber er behielt die einmal eingeschlagene Richtung bei. Der Hubschrauber hatte sie bestimmt. Ohne es zu wissen, näherte Napur sich dem Waldrand in der Nähe von Lerchenau. Er mied Wege und Forststraße. Kein Wanderer begegnete ihm.Auch die Streifenwagen, die noch immer im Wald unterwegs waren, kreuzten nicht seine Route. Alles Wild floh vor ihm. Eichelhäher, die Polizisten des Waldes, warnten. Napur stieß auf Fährten, aber die Beute war weit. Dann hatte er Glück. In einer Dickung fand er ein veren142
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detes Reh. Mit Heißhunger stürzte er sich auf den Kadaver. Sein gewaltiges Gebiss zermalmte Knochen. Er fraß sich satt. Anschließend leckte er sich die Tatzen und ruhte eine Weile auf dem modrigen Boden einer Mulde. Trägheit machte ihn schwer. Dennoch pirschte er weiter, wobei er etwas von der ursprünglichen Richtung abkam. Jetzt hielt er auf Lerchenau zu. Er stieß auf einen der präparierten Fleischbrocken. Mit mäßigem Interesse beschnüffelte er ihn. In hungrigem Zustand wäre er sicherlich darüber hergefallen, ohne den merkwürdigen Geruch wahrzunehmen. Aber jetzt war sein Bauch voll, und das Betäubungsmittel hätte ihn beinahe veranlasst, seine Tigernase zu rümpfen. Er rührte den Brocken nicht an. Er lief weiter – auf Lerchenau zu. Er sah die Häuser. Aber die verunsicherten ihn nicht. So was kannte er. Langsam schob er sich unter den Bäumen hervor. Dann verhielt er. Jenseits der Gärten, auf der Straße, bewegte sich jemand. Weinschenk, der Polizist mit dem roten Gesicht, hielt den Atem an. Seit er hier war mit seinem Kollegen, hatte er an kaum was anderes als an den Tiger gedacht. Aber jetzt – jetzt sah er ihn. Was für ein herrliches Tier! Weinschenk liebte Katzen. Freilich – sein Siam-Kater zu Hause war ein paar Nummern kleiner. Auf den schieße ich nicht!, dachte er. Wollte nicht dieser Tierarzt mit seinem Narkose-Gewehr kommen? Er blickte über den Garten, beobachtete Napur. Der Tiger stand wie aus Bronze gegossen. Sonnenlicht setzte helle Tupfer auf sein – eher dunkles – Fell. Jetzt bewegte er den Kopf zur einen, dann zur anderen Seite. Er war etwa fünf Meter von der Rückseite des Plockwind’schen Grundstücks entfernt. 143
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12. Das Narkose-Gewehr Als sie sich dem Waldrand näherten, stand der Streifenwagen quer auf der Fahrbahn. »Die machen aber wirklich ’ne Schau draus«, sagte Zeisig. »Oder sie gehen inzwischen Kaffee trinken«, lachte Tarzan, »und verlassen sich darauf, dass an dem Streifenwagen kein Fahrzeug vorbeikommt.« Das wäre tatsächlich nicht möglich gewesen, denn die schmale Straße wurde von Gräben begrenzt. Doch die Besatzung – zwei jüngere Polizisten – hatte ihren Posten selbstverständlich nicht aufgegeben. Dass die vermeintlichen Lerchenauer zur Stadt wollten, schien ihnen begreiflich. Ein schlaksiger Uniformträger stieg aus, während sein Kollege den Streifenwagen mit mehreren Manövern parallel zum Randstreifen ausrichtete. »Tag!« Der Schlaksige trat zu Zeisig ans Fenster, grüßte und gestattete sich ein wissendes Lächeln. »Wird’s ungemütlich in Lerchenau?«, meinte er vertraulich. »Bis jetzt ist alles in Ordnung«, sagte Zeisig. »Der Tiger lässt sich nicht blicken, wie?« »Jedenfalls haben wir ihn nicht gesehen«, erwiderte Zeisig – und hätte am liebsten hinzugesetzt: leider! »Für Schutz ist ja gesorgt«, meinte der Schlaksige. Dann drehte er sich um. Sein Kollege hatte gerufen, hielt sich den Sprechfunkhörer ans Ohr und gestikulierte (Bewegungen machen). Das Fenster war geöffnet. »Was ist?«, rief der Schlaksige. »Der Tiger ist in Lerchenau«, rief sein Kollege. »Weinschenk hat ihn gesehen. Ein gewisser Dr. Jansen kommt her. Das ist wohl dieser Tierarzt mit seinem Narkose-Gewehr.« 144
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Na also!, dachte Tarzan. Napur, du Biest, hättest mir zwar fast den Hinten abgebissen. Aber das ist nun mal Tigerart. Keine Feindschaft deshalb! Jetzt hast du eine Chance. Hoffentlich halten die Lerchenauer Polizisten sich zurück. Bitte, keine MP! Bitte, Dr. Jansen! Bitte, das Narkose-Gewehr! Leni jubelte. Zeisig hatte die Hände zusammengepresst – wie zu einem herzhaften Gebet. Robert und Nino sprangen bereits auf die Straße. Verdutzt beobachtete der schlaksige Polizist diesen Freudenausbruch. »Was ist denn los?« »Verstehen Sie nicht?«, rief Zeisig. »Napur kann gerettet werden. Jetzt kann er am Leben bleiben. Es ist unser Tiger. Wir sind vom Zirkus Belloni.« Der Polizist zog sich die Mütze in die Stirn. »Ich staune. Sie hängen ja an dem Raubtier wie an einem Hund. Hm. Na ja! Warum nicht! Ich bin Aquarianer! Ich habe Zierfische zu Hause. Manche nur halb so groß.« Er zeigte seinen kleinen Finger. »Aber mir ist jeder ans Herz gewachsen.« Jetzt hieß es: Warten auf Dr. Jansen. Er kam bald. Er war jung, hatte blauschwarzes Haar und ein kerniges Gesicht. Tarzan mochte ihn auf Anhieb. Eilig erklärte er den Zeisigs, dass er eher nicht hätte kommen können, die Operation des Gorillaweibchens wäre unaufschiebbar gewesen. »Ist geglückt!«, strahlte er. »Und jetzt werden wir Napur einschläfern.« Er wies auf das Narkose-Gewehr, das im Fond seines Wagens lag. »Ich war gerade beim Parkplatz Forststraße angekommen, als die Meldung eintraf. Wir können annehmen, dass Napur noch in der Nähe von Lerchenau ist.« »Bestimmt!«, nickte Zeisig. »Können wir mit Ihnen fahren, Herr Doktor? Leni und ich. Und – natürlich! – Tarzan will auch mit. Währenddessen fahren meine Söhne mit dem 145
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Chevrolet zum Heinrichstal-Gehöft und holen Napurs Käfig. Denn den werden wir – hoffentlich – brauchen.« So wurde es gemacht. Während der Fahrt bewunderte Tarzan das Narkose-Gewehr. Offenbar unterschied es sich kaum von einer herkömmlichen Jagdwaffe. Aber um das genau zu beurteilen, fehlten ihm die Vergleichsmöglichkeiten. »Das Geschoss ist ein kleiner Pfeil«, erklärte Dr. Jansen. »Er enthält das Betäubungsmittel. Er dringt natürlich nicht in den Körper des Tieres ein, sondern bleibt oberflächlich. Das Mittel wirkt rasch, aber nicht sofort. Ein angreifender Tiger könnte sein Opfer noch töten. Sagen wir so: Mit dem angetragenen Betäubungsgeschoss kann er noch 50 bis 100 Meter laufen. Dann haut’s ihn um und er schläft selig.« Sie fuhren nach Lerchenau hinein und hielten hinter dem Streifenwagen. Weinschenk, der rotgesichtige Polizist, war sofort zur Stelle und zeigte, wo der Tiger gestanden hatte. »Dort, neben dem Gebüsch! Genau hinter dem Plockwind’schen Grundstück.« Dr. Jansen nahm sein Gewehr. Zeisig schüttelte Weinschenk die Hand und sagte, wie dankbar er ihm war – weil er, statt auf Napur zu feuern, Dr. Jansen angefordert hätte.Auch Leni bedankte sich und Weinschenks Rotgesicht wurde noch röter vor Freude. Er murmelte was von einem Siam-Kater. Aber daraus wurde niemand klug, zumal die Zeisigs und Dr. Jansen schon dem Waldrand zustrebten. Kategorisch (unbedingt) hatten sie abgelehnt, Tarzan mitzunehmen. »Du musst das einsehen«, hatte Zeisig gesagt. »Helfen kannst du uns nicht. Aber du gefährdest dich selbst und uns bist du hinderlich.« Ohne Protest stieg Tarzan in den Fond des Streifenwagens. Er wusste, dass Zeisig recht hatte. Es wäre kindisch und unreif gewesen, jetzt seine Abenteuerlust zu befriedigen. 146
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»Bist du der Junge, der die Mädchen gefunden hat?«, fragte Weinschenk, als Dr. Jansen und die Zeisigs unter den Bäumen verschwunden waren. Tarzan bejahte. Weinschenk sagte, das fände er toll. »Ich war ja nicht allein«, schränkte Tarzan ein. »Kommissar Glockner hat mich mitgenommen. Zusammen haben wir die Mädchen gefunden. Gaby war auch dabei. Das ist Kommissar Glockners Tochter. Sie gehört zu unserer Bande.« Er erzählte ausführlich und die Polizisten waren ganz Ohr. Durchs geöffnete Fenster lauschten sie immer wieder zum Wald hin. Aber dort blieb alles ruhig. »Gaby, die Tochter von Kommissar Glockner«, erklärte Tarzan abschließend, »ist das einzige Mädchen in unserer Bande, der TKKG-Bande.« »Wieso nennt ihr euch TKKG?«, fragte der zweite Polizist. Er war ein gemütlicher Papi-Typ mit Bierbauch. »TKKG sind die Anfangsbuchstaben unserer Namen, beziehungsweise Spitznamen. T wie Tarzan, das bin ich. K wie Karl, noch mal K wie Klößchen. Und, wie gesagt, Gaby. Eigentlich müsste noch ein O dran. Denn Oskar, Gabys Hund, ist auch immer dabei.« »Ich habe einen Kater«, lachte Weinschenk. »Klößchen – das ist wohl ein Dickerchen?« »Er ist ziemlich rund, aber ein prima Kerl. Leider liebt er Schokolade über alles.« »Genauso sah einer der Plockwinds-Jungen aus«, meinte Weinschenks Kollege. »Komisch!« Er schmunzelte. »Sein Bruder war das krasse Gegenteil: lang und dünn. Kein Genießer, mehr ein durchgeistigter Typ. Und dann diese Nickelbrille! Die Natur macht sogar Geschwister ganz unterschiedlich.« »So ist es«, bestätigte Weinschenk. Tarzan hatte Ohren wie Bratpfannen. »Wenn ich Sie richtig verstehe«, sagte er vorsichtig, »sind 147
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Ihnen zwei Jungs begegnet.Alter etwa 13. Der eine klein und dick, mit Segelohren und freundlichem Mondgesicht. Hat beige Shorts an und einen braunen Pulli. Der andere ist schlaksig wie ein Windhund, trägt Jeans und ein helles Hemd. Habe ich recht?« »Du kennst die Plockwinds-Jungen?«, fragte Weinschenk. »Was meinen Sie nur mit Plockwinds-Jungen? Die beiden sind meine Freunde. Der eine heißt Willi Sauerlich, genannt Klößchen. Der andere ist Karl Vierstein, auch Computer genannt. Seit fast zwei Stunden suche ich nach ihnen.« »Und die sind nicht mit den Plockwinds«,Weinschenk deutete zum Haus, »bekannt, verwandt oder…« »Keine Spur. Aber was war denn nun?« Weinschenk erzählte, wie er die beiden erwischt hatte. »Mir geht ein Seifensieder auf«, lachte Tarzan. »Karl und Klößchen wollten nicht zugeben, dass sie heimlich – zusammen mit den Zeisigs – in den Wald eingedrungen sind. Deshalb wohl die Behauptung, sie würden hier wohnen.« »Diese Lauser!«, meinte Weinschenk. »Sauber haben sie mich reingelegt.« Er lächelte. »Und die Leute haben sie tatsächlich reingelassen«, amüsierte sich Tarzan. »Da ist meinen Freunden aber ein schlauer Vorwand eingefallen. Na ja, jetzt sind sie natürlich über alle Berge. Möchte nur wissen, wohin!« »Nee, nee!«, sagte Weinschenk. »Die sind noch im Haus.« »Wirklich? Das kann nicht sein!« »Wir haben aufgepasst wie die Schießhunde«, erklärte Weinschenks Kollege. »Dachten uns nämlich, dass die vielleicht doch noch mal nach dem Tiger sehen wollen. Wir sind extra ein paar Meter weitergefahren, damit wir auch die Rückfront im Auge haben. Von den Plockwinds hat sich keiner gezeigt – und deine Freunde auch nicht.« »Vielleicht war es Sympathie auf den ersten Blick«, meinte Weinschenk, »und die vier trinken jetzt Kaffee. Den Plock148
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winds hätte ich das zwar nicht zugetraut. Die sahen mir ein bisschen etepetete (geziert) aus. Aber man kann sich täuschen.« Und wie Sie sich täuschen, Herr Weinschenk!, dachte Tarzan. Wir sind hier angekommen wie die Großwildjäger. Dr. Jansen mit seinem Narkose-Gewehr, der zweite Wagen, das Hin und Her und Gerede. An allen Fenstern hingen Leute und glotzten, was es Neues gäbe. Nur bei dem PlockwindBungalow blieb alles tot wie in einem Mausoleum (Grabgebäude). Sie müssen uns bemerkt haben. Warum kommen Karl und Klößchen nicht raus? Er verfiel in Schweigen. Er überlegte.Was war da drin passiert? Er ging Möglichkeiten durch, die ihm alle blöd erschienen. Dann – wie der Blitz aus heiterem Himmel – durchzuckte eine Idee sein Gehirn. Was hatte der unsympathische Kommissar Blüchl heute Morgen in Glockners Büro erzählt? Ein Gefangenentransporter war bei einem Verkehrsunfall umgekippt. Zwei schwere Jungs hatten sich befreit. Hardtke und Fensel – oder so ähnlich. Sie hatten die Pistolen der Wachleute und versteckten sich möglicherweise im Großen Wald, weshalb Blüchl ja vor der Begegnung gewarnt hatte. Im Großen Wald? Warum nicht hier? Waren sie in das Haus eingedrungen? Hatten sie die Plockwinds als Geisel genommen? Saßen Karl und Klößchen jetzt auch in der Patsche? Und die Ganoven in der Mausefalle, weil sie die Polizei vor der Nase hatten und deshalb nicht rauskonnten? Wäre irre. Aber möglich! Gerade wollte er seine Vermutung äußern, als mit großem Getöse Nino und Robert zurückkamen. Der große Käfigwagen, den sie an den Chevrolet angekoppelt hatten, rumpelte und schaukelte. Sie hatten sich mächtig beeilt, fuhren am Streifenwagen vorbei und hielten. Tarzan und die Polizisten stiegen aus. 149
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»Noch nichts?«, fragte Robert, während Nino die Gittertür des Käfigs öffnete. Weinschenk schüttelte den Kopf »Nein, aber…« Er stockte.Alle fuhren herum und blickten zum Waldrand. Deutlich hatten sie den Schuss gehört. Und zwar ganz in der Nähe, vermutlich hinter den Büschen. Hatte Dr. Jansen geschossen? Wer sonst! Und dann tauchte der Tiger auf. Er brach durch die Büsche, verharrte, hob den mächtigen Schädel und sah her. Er entdeckte seinen Käfig, und plötzlich schien er nur noch ein Ziel zu kennen: zurück in das warme Nest. Heim in die bewährte Umgebung. Er sprang über den Zaun, war jetzt im Plockwind’schen Garten. Aber er taumelte. Seine Pranken schienen einzuknicken. Noch ein paar Sprünge. Er schleppte sich. Der Kopf hing nach vorn. Noch ein paar Schritte. Er wirkte hilflos. Mühsam erreichte er die Terrasse. Er wollte am Haus vorbei, zur Straße, zum Käfig. Aber er schaffte es nicht mehr. Langsam fiel er auf die Seite. Reglos blieb er liegen. Robert und Nino sprangen mindestens meterhoch in die Luft – vor Freude. Die Polizisten atmeten auf. »Jansen hat ihn getroffen«, jubelte Nino. »Unser Napur. Betäubt ist er. Jetzt wird alles gut.« Sie flankten über den Zaun. Durch den Vorgarten rannten sie am Haus vorbei zu ihrem Tiger. Die Polizisten folgten ihnen. Bei den andern Häusern wurden Fenster geöffnet. Alle Blicke konzentrierten sich auf Napur. Jedermanns Aufmerksamkeit war auf die Terrasse gerichtet. Nur Tarzan zog sich unauffällig zurück, schien einfach nicht den Mut zu haben, den andern zu folgen. Er trat zum Streifenwagen, ging dann die Straße entlang und an der Plockwind’schen Garage vorbei. Er wusste: Alle im Haus blickten jetzt zur Terrasse – hatten nur Augen für das Schau150
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spiel vor ihrer Nase. Wobei die Ausbrecher, falls sie sich dort befanden, vermutlich Blut und Wasser schwitzten. War doch die Polizei jetzt sozusagen auf Armlänge herangerückt. Wie der Blitz sauste Tarzan durch die Einfahrt, rannte um die Garage herum, befand sich auf der Schmalseite des Bungalow-Seitenflügels und sprang zu einem der Fenster. Es war nicht geschlossen, sondern spaltweit geöffnet, die Scheibe aus geriffeltem Milchglas. Ein Badezimmer? Er blickte hinein. Alles war rosa: Wanne, Waschbecken, Duschkabine, Bidet (Sitzbecken), sogar die Klosettschüssel. Braun waren nur die Handtücher. Er kletterte hinein, schlich zur Tür, horchte, öffnete sie lautlos und linste in einen kurzen Flur. Hier befand er sich in dem Winkel des Hauses, der der Terrasse am fernsten war. Weiter hinten murmelten Männerstimmen. Fremde Stimmen. Wie ein Schatten glitt er durch den Flur. Links stand eine Tür offen. Er sah in eine Art Herrenzimmer und entdeckte den Gewehrschrank. Die Front war aus Glas. Er konnte die Jagdwaffen sehen. Ein Drilling (Jagdgewehr mit drei Läufen) war dabei. Er pirschte weiter und hatte die Diele fast erreicht, als ihm Schritte entgegenkamen. Wie ein Wiesel sauste er zurück – und ins Herrenzimmer. Dort stellte er sich hinter die Tür. Schwere Schritte näherten sich. Der Mann ging vorbei. Tarzan hörte, wie er auf den Boden spuckte. Der Hausherr war das bestimmt nicht. Er linste um die Ecke und sah einen massigen Kerl, dem die strohblonde Hippie-Mähne bis auf den Kragen hing. In der rechten Hand hielt er eine Pistole. Er schien aufgeregt zu sein, stieß die Tür zum Badezimmer auf, entdeckte das geöffnete Fenster und schloss es sofort. Offenbar inspizierte (nachprüfen) er, ob ringsum alles dicht war. 151
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Er betrat auch die andern Räume im Seitenflügel und überzeugte sich, dass die Fenster verriegelt und die Ausgänge verschlossen waren. Auf dem Rückweg kam er ins Herrenzimmer. Zwei Schritte machte er auf den – jetzt geöffneten – Waffenschrank zu. Dann traf ihn der Gewehrkolben mit voller Wucht im Genick. Ohne einen Piep stürzte Fensel zu Boden. Er war bewusstlos, sein Ausflug in die unverdiente Freiheit beendet. Tarzan wischte sich über die Stirn, atmete aus, schluckte zwei Mal, löste dann den Riemen vom Drilling und fesselte dem Bewusstlosen die Hände. Die Pistole legte er auf den Waffenschrank, wo sie nicht zu sehen war. Mit dem – ungeladenen – Drilling schlich er zur Diele. Die Tür zum Kamin- bzw. Terrassenzimmer war angelehnt. »Pssst!«, zischte eine Stimme. »Seid ruhig!, sage ich euch! Sonst könnt ihr was erleben!« Durch den Türspalt sah Tarzan die Plockwinds, seine Freunde und einen unangenehmen Kerl mit rohem Gesicht. Er stand neben dem Fenster. Die Gardine war geschlossen. Aber man konnte hindurchsehen: auf die Terrasse. Robert und Nino bemühten sich offenbar um den Tiger. Weinschenk und sein Kollege standen mit respektvollen Mienen dabei. Durch den Garten näherten sich Dr. Jansen, Zeisig und Leni. Hardtkes Gesicht war fahl. Die Pistole steckte ihm vorn im Hosenbund. Aber nicht an ihr hielt er sich fest, sondern an einer Bierflasche. In diesem Moment wurde Tarzan von Klößchen bemerkt. In seinem Mondgesicht rundeten sich die Augen. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder, blickte in die andere Richtung und bemühte sich um eine arglose Miene. Während Tarzan noch überlegte, ob er den zweiten Aus152
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brecher anspringen oder ihn mit vorgehaltener Waffe zur Aufgabe zwingen sollte, stand Klößchen auf. »Ich verdurste«, murmelte er. »Bitte, Frau von Plockwind! Darf ich mal aus Ihrer Teetasse trinken?« Ohne die Erlaubnis abzuwarten, marschierte er um den Tisch herum und holte sich die Tasse. Sie war randvoll. Klößchen blinzelte Tarzan kurz zu, ging zurück – und dicht an Hardtke vorbei. Der achtete nicht auf ihn, sondern starrte durch die Gardine. Dass er Klößchen unterschätzte, wurde sein Verhängnis. Aus kürzester Entfernung klatschte ihm der heiße Tee ins Gesicht. Aufschreiend prallte Hardtke zurück. Aber schon hatte Klößchen ihm die Pistole aus dem Gürtel gerissen. Mit ihr sprang er hinter die Couch, während Hardtke sich die Augen wischte. Die Bierflasche war zu Boden gepoltert.Vergeblich suchte der Verbrecher nach seiner Pistole. »Alle Achtung, Willi!«, sagte Tarzan. »Das war eine Glanzleistung und enorm mutig.« Zitternd stand Klößchen hinter der Couch. Offenbar begriff er erst jetzt, was er getan hatte. »Ging… ging ja nur, weil ich… dich sah. Da wusste ich, dass… der andere Schweinekerl flachliegt. Und du mir ja notfalls auch zu Hilfe kämst.« »Keine Bewegung!«, fuhr Tarzan den Ganoven an, der jetzt seine Augen vom Tee befreit hatte und sich zum Sprung duckte. »Keine… Bewegung!«, befahl auch Klößchen. Er wedelte mit der Pistole herum, hielt aber die Mündung nach oben. Aus Versehen berührte er den Abzug. Krachend entlud sich der Schuss. Klößchen schrie auf und ließ die Pistole fallen. Über dem Kamin zersprang ein wertvoller Keramikteller, von der Kugel getroffen. Und Hardtke riskierte alles, in153
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dem er sich mit einem langen Hechtsprung auf die Pistole warf. Seine Hand schloss sich um den Kolben. Dann gingen in seinem Schädel die Lichter aus. Tarzan hatte abermals mit dem Drilling zugeschlagen. »Was ist denn da los?«, rief Weinschenk vor der Terrassentür. Er klopfte an die Scheibe, konnte aber nicht hereinsehen, weil auch hier die Vorhänge geschlossen waren. Karl sprang auf und öffnete die Tür. »Siehst du, Edu«, sagte in diesem Moment Susanne von Plockwind, »so kann man handeln, wenn man wirklich kaltblütig ist, Großwildjäger!«
* Was jetzt geschah, war Sache der Polizei. Jedenfalls im Hinblick auf Fensel und Hardtke. Schon die Abendmahlzeit durften sie im Gefängnis einnehmen. Später wurde ihnen für die neuerlichen Straftaten abermals der Prozess gemacht. Zu den Jahren, die sie abbrummen mussten, kamen etliche hinzu. Tomasino wurde in eine Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen, was für ihn das Beste war. Napur wurde in den Städtischen Tierpark gebracht, kam bald wieder zu sich und erhielt – zunächst – ein schönes Gehege ganz für sich allein. Schon am nächsten Tag rückte er als Attraktion (Zugnummer) an den ersten Platz. Die Zoo-Besucher drängten sich, um ihn zu sehen. Denn alle wussten natürlich, wie er – fast einen Tag lang – die Polizei in Atem gehalten hatte. Am Pfingstmontag erhielt Napur Besuch von alten Bekannten: Tarzan, Karl, Klößchen, Gaby, Herr und Frau Glockner,Amalie Dessart, die Zeisigs und sogar, immer noch schaudernd, Wolfi Keup – sie alle ließen es sich nicht neh154
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men, den prächtigen Tiger in seiner neuen Umgebung zu bewundern. »Also, wenn ich an deine Befürchtung denke, die Pfingstferien könnten langweilig werden«, sagte Klößchen zu Tarzan, »so sehe ich kühnste Erwartungen übertroffen.« »Hoffentlich geht’s auch so weiter«, lachte Tarzan, »denn die Ferien sind ja noch nicht zu Ende.« ENDE
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Meisterdetektiv Beppo Schnüffl Schlaftrunken stolpert unser Detektiv in seinen nächsten Fall. Aber er hat die Augen offen und ist – im wahrsten Sinne des Wortes – absolut im Bilde.
Hilferuf um Mitternacht Ratekrimi von Stefan Wolf Das Telefon schreckt Beppo aus tiefem Schlaf Er reibt sich die Augen und sieht zur Uhr. Mitternacht. Wer um diese Zeit anruft, ist sicherlich in Not. Und richtig! Eine Stimme dringt durch die Leitung. »Herr Schnüffl, bitte! Können Sie gleich zu mir kommen? Eine dunkle Gestalt schleicht ums Haus und ich wohne doch so einsam am Waldrand. Mein Name ist Benjamin Klecks. Ich bin der berühmte Porträtmaler (Porträt = Bildnis vom Menschen). Huch! Eben hat der Kerl durchs Fenster geglotzt. Ich glaube, es ist Krawutschke. Der hasst mich, weil ich ihn angezeigt habe, als er im Wald Giftmüll verbuddeln wollte. O Gott! Ein Fenster ist offen. Ob er hört, was ich sage?« »Ihre Adresse!«, drängt Beppo. »Bin sofort da.« Dackel Gottfried begleitet ihn und es wird ein langer Weg durch die finstere Nacht. Über Klecks hat Beppo in der Zeitung gelesen. Klecks ist ein besonderer Künstler, denn er malt am liebsten sich selbst. 99 Selbstportäts habe er angefertigt, heißt es. Endlich erreichen sie das einsame Haus. Hinter den Fenstern ist Licht. Kaum dass Beppo an der Tür läutet, wird auch schon geöffnet. »Haben Sie sich beeilt!«, ruft Klecks. Er ist dick wie ein Fass und über seinem Mopsgesicht wölbt sich 158
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eine Glatze. »Aber Sie können gleich wieder abfahren. Denn es war falscher Alarm. Der Kerl hat sich verzogen.« Beppo blickt an ihm vorbei in die Diele, wo sieben Gemälde hängen. Alles Portäts von ein und derselben Person. Wahrscheinlich der Meister Klecks persönlich, denkt Beppo. »Darf ich einen Moment reinkommen, Herr Klecks? Gottfried braucht einen Schluck Wasser. Sie wissen ja, wie Dackel sind: nachts immer durstig.« »Gern!«, lärmt Klecks und watschelt voran. Auch im Wohnraum sind die Wände behangen mit Selbstporträts. »Und jetzt heraus mit der Wahrheit!«, sagt Beppo und packt den Dicken. Mit einem Polizeigriff dreht er ihm die Arme auf den Rücken. »Sie sind nicht Klecks. Sie sind Krawutschke. Wo ist der Kunstmaler?« Vergeblich wehrt sich der Dicke. Verbissen will er dann schweigen, wird aber von Gottfried in die Wade gezwickt. »Aufhören!«, schreit er. »Stimmt, ich bin Krawutschke. Den Klecks habe ich gefesselt, geknebelt und in den Keller gesperrt.Aus Rache! Dass Sie herkommen, wusste ich – denn ich habe das Telefongespräch belauscht.« Während Gottfried den Übeltäter bewacht, befreit Beppo den Maler. – Woran erkannte der Meisterdetektiv, dass er nicht Klecks vor sich hatte? Lösung: siehe Seite 314
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Stefan Wolf
Verrat im Höllental Ein Fall für
TKKG T K K G
wie Tim wie Karl wie Klößchen wie Gaby
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Inhalt 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.
Panik bei Porsche-Hubi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie man einen Zahnarzt beschwindelt . . . . . . . . . . Lohmann verschenkt seine Beute . . . . . . . . . . . . . . . Die Folgen des Einbruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bestechungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nur Champagner und Rosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wer stahl Emmas Puderdose? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Streit der alten Damen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trick 17 von Miss Apfelbacke . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fünfzig Zentner deutscher Käse . . . . . . . . . . . . . . . . Was die Autokarte verrät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Feuer im Kofferkeller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gefangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Panik bei Porsche-Hubi Sie werden mich steinigen, dachte Tarzan, zumindest beschimpfen, jedenfalls mordswütend auf mich sein. Aber, zum Henker, so was kann nun mal passieren! Wie peinlich mir die Sache ist, kann ich gar nicht sagen. Aber erklären muss ich’s. Also ran an die Speckseiten! Es war an einem Freitagmorgen im Spätsommer. Gleich begann der Unterricht. Mit schiefem Lächeln trat Tarzan vor seine Klasse, die 9b. Er klatschte die Hand auf den Jeansschenkel, dass es knallte. Das verschaffte Aufmerksamkeit. Dreißig Gesichter, oder ein paar weniger, wandten sich ihm zu. Aha! Der Klassensprecher hatte was zu melden. Klößchen wusste schon alles und stützte sein Mondgesicht in beide Hände. Karl rückte an seiner Nickelbrille, obwohl sie saß, als wäre er damit geboren. Gaby thronte auf ihrem Sitz wie die Lorelei (Rheinnixe) auf ihrem Felsen, kämmte zwar nicht das Goldhaar, stieß sich aber mit den Wimpern am Pony und ließ Erstaunen aus beiden Blauaugen leuchten. »Also«, sagte Tarzan, »der Kunstunterricht fällt heute aus. Porsche-Hubi ist krank. Äh… hm.« Die Mitteilung löste nicht gerade Wehklagen aus.Aber Bedauern malte sich auf viele Gesichter. Porsche-Hubi, wie der Referendar Dr. Hubert Knoth genannt wurde, war ein affenstarker Kumpel und deshalb beliebt. »Krank?«, fragte Eugen Glattmann aus der sechsten Reihe. »Wieso? Gestern war er noch gesund. Ist es ansteckend?« »Er hat sich den Arm gebrochen«, antwortete Tarzan. »Genauer gesagt: Ihm wurde der Arm gebrochen. Allerdings unabsichtlich. Nämlich gestern Abend beim Judo-Training. Ihr wisst ja, dass Porsche-Hubi ein knallharter Judoka ist. War ein Sportunfall. Mir tut’s unheimlich leid.« In der Stille setzten sich die letzten viereinhalb Worte auf etliche Gehirne. 163
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Gaby sprach aus, was in der Luft lag. »Heißt das, du hast ihm den Arm gebrochen?« »Wie gesagt, unabsichtlich.« Tarzan starrte in eine Ecke, als liefe dort ein Film ab. Aber die Ecke war leer. Gleich brüllen sie mich nieder, dachte er. Gaby wird mich einen Rohling heißen. Dass wir die beiden letzten Stunden frei haben – daran denkt natürlich kein Aas. Ist leider kein Argument.Wohin kämen wir, wenn die Methode Nachahmer fände! Trotzdem – alles hat zwei Seiten. Es kommt nur auf den Blickwinkel an. Zu seiner Verblüffung schrie niemand. »Schlimmer Bruch?«, fragte Glattmann. »Ich glaube«, nickte Tarzan. »Jedenfalls muss Hubi nachher ins Krankenhaus. Er kriegt Gips bis zur Schulter. Es ist der linke.« »Immerhin kann er noch Auto fahren«, meinte Karl. »Rechtsarmig geht das.Auch mit dem Porsche. Sportunfall ist Sportunfall. Dass du fair bist, weiß jeder. Ich wette, dich trifft keine Schuld.« »Wette gewonnen«, bestätigte Tarzan. »Aber ich war echt down (niedergeschlagen). Porsche-Hubi konnte sich seinen Schmerzen gar nicht widmen. Er musste mich trösten.« Gaby pustete gegen ihren Pony, obwohl er sie beim Sprechen nicht hinderte – hing er doch nur in die Augen und nicht auf die Lippen. »Wieder mal erweist sich jedenfalls, dass Kampfsport gefährlich ist. Besonders dieses Würgen, zu Boden schmeißen und Knochen verbiegen. Wie friedlich ist Tischtennis! Wie ungefährlich Rückenschwimmen!« »Dann schwimm mal im Nil«, feixte Klößchen. »Da leckt sich der Krokodil-Opa alle 188 Zähne, wenn er dich kommen sieht.« »Erstens schwimme ich nur in raubtierfreien Gewässern«, 164
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konterte (abwehren) Gaby. »Zweitens hast du dich beim Krokodilzähne-Zählen verzählt. Drittens wärst du der richtige Leckerbissen – für eine ganze Panzerechsen-Familie.« »Mit Willi kämen sie gut durch den Winter«, rief Glattmann, und die Klasse prustete. Weiterer Gedankenaustausch unterblieb. Dr. Walzmann, der sie während der ersten Stunde bändigen sollte, erschien in der Tür. Nach der Begrüßung teilte er mit, dass heute kein Kunstunterricht stattfinde. Wegen Erkrankung des Dr. Knoth. Die Klasse grinste. Walzmann hielt das für Schadenfreude und war entsetzt über die innere Rohheit der heutigen Jugend. Gaby erfasste das und warf Tarzan einen Blick zu, der ihm wie ein nasses Handtuch um die Ohren klatschte. Stell das richtig!, hieß der Blick. Mach den Mund auf! Wozu bist du der Klassensprecher! Tarzan tat’s, erklärte, dass die Heiterkeit der Klasse der verspäteten Mitteilung gelte, die sozusagen ein alter Hut sei, man vielmehr Porsche-Hu… äh… Dr. Knoths Armbruch überaus bedauere – und er selbst, der Verursacher, seit gestern Abend an Zerknirschung leide. Walzmann atmete auf. Insgeheim nahm er zurück, was er gedacht hatte. Dann quälte sich der Unterricht, unterbrochen von angenehmen Pausen, bis zur vierten Stunde. Danach war Feierabend. Während die Klasse auseinanderlief, scharte Gaby ihre TKKG-Freunde um sich. »Was nun? Ihr seht aus, als denkt ihr nur ans Wochenende. An selbstsüchtige Freizeit. Und Porsche-Hubi sitzt im Gips. Ich finde, so geht es nicht. Er will Pauker werden. Er ahnt, dass er beliebt ist. Wenn sich jetzt kein Typ um ihn kümmert, schlägt ihn der Frust (Enttäuschung).« »Um ihn kümmern?«, fragte Klößchen. »Du meinst, er braucht Pfleger? Zum Zähneputzen und Waschen und wenn 165
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er sich unterm linken Schulterblatt kratzen will, wo er mit dem rechten Arm nicht hinreicht. Aber wenn…« »Blödsinn!«, zischte Gaby ihn an. »Hubi ist ja nicht hilflos. Dennoch sollten wir zwischenmenschliches Bewusstsein einbringen und ihn besuchen. Klar?« Die Jungs nickten. Tarzan sah auf die Uhr. »Wahrscheinlich ist er aus dem Krankenhaus zurück und der Gips schon getrocknet.« »Bei einem Krankenbesuch bringt man was mit«, erinnerte Karl. »Blumen!« Klößchen strahlte, stolz über seinen Einfall. Gaby verdrehte ihre Blauaugen, als simuliere (tun, als ob) sie Ohnmacht. »Blumen! Würdest du dich über Blumen freuen?« »Nur über Schokolade«, erwiderte Klößchen. »Aber Porsche-Hubi mag keine. Er mag Wein. Den können wir ja unterwegs besorgen, wenn wir gleich zu ihm fahren. Im Supermarkt gibt’s welchen für 1,95 Euro.« »Du Geizknochen!«, meinte Tarzan. »Wir schenken was Anständiges. Nicht das Billigste. Wir nehmen den Wein für 3,95 Euro. Der andere ist gepantscht.« Das hatte er gelesen. Getrunken hatte er sein Lebtag noch keinen. Gaby und Karl nickten beifällig. Klößchen sagte, auch das wäre ihm recht. Dann machten sie sich auf die Socken, holten zunächst ihre Drahtesel und radelten durchs Tor der großen Internatsschule auf die Zubringerstraße, die Chaussee, die über Felder zur Großstadt führt, denn bekanntlich liegt die Schule ein schönes Stück außerhalb. Der Septembertag war sonnig und mild. Aber der Herbst meldete bereits seine Rechte an. Die Nächte wurden zunehmend kühler, und im satten Laub der Büsche und Sträucher flirrten die Silberfäden des Altweibersommers. Dr. Hubert Knoth – Kunsterzieher, Judoka und Porsche166
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fahrer – wohnte nicht, wie die anderen Pauker, im Internat, sondern in der Stadt. Er wollte sich von seiner Studentenbude, die er schon jahrelang hatte, nicht trennen. Wie die externen Stadtschüler, zu denen ja auch Gaby und Karl gehörten, kam er jeden Morgen zur Penne – mit seinem fast neuen Porsche, einer Silberrakete, die er seit genau viereinhalb Monaten besaß. Er war Autonarr. Kollegen und Schüler wussten das. Seinen Porsche hätte er nachts am liebsten neben das Bett gestellt. Was aber technisch nicht möglich war, denn Hubi bewohnte im sechsten und obersten Stock eine Art AtelierApartment mit gewaltigem Dachfenster, durch das man den Großstadthimmel sah. Die TKKG-Bande kannte die Bude. Zum Tee hatte Hubi sie und andere eingeladen. Er war wirklich ein Kumpel und bemühte sich um echten Kontakt zu den Kids (Kindern). Beim Supermarkt kaufte Karl den Wein, der dann doch etwas teurer war, was aber niemanden wurmte. Klößchen hatte seine unverzichtbare Wegzehrung, seine Schokolade, vergessen. Er geriet fast in Panik, flitzte in den Supermarkt und erstand zwei Tafeln. Jetzt stimmte sein seelisches Gleichgewicht und der Tretmühlen-Vierer konnte wieder Fahrt aufnehmen. »Und wenn er nicht da ist?«, meinte Karl. »Wir hätten vorher anrufen sollen.« Dazu war es jetzt zu spät. Aber sie hatten Glück. Als sie in der Sperlings-Gasse ankamen, stand der Porsche vor dem Haus. Das allein besagte noch nichts. Doch Tarzan befühlte die Karosserie über dem Motor und spürte die Wärme. »Noch warm. Er ist eben zurückgekommen.Vorsicht, Karl! Gleich verlierst du den Wein.« Die Sperlings-Gasse verstand sich als ein Ausläufer der Altstadt, lag zwar fern von der Universität, besaß aber noch den Glanz alter Zeiten: mit hohen Jugendstil-Häusern und 167
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Stuck-Fassaden. Die lückenlosen Häuserzeilen standen sich freundlich gegenüber. Die Gasse war breit und bog sich, sodass man nicht vom Anfang zum Ende sehen konnte. Parkraum fehlte. Ab frühem Abend reihte sich Wagen an Wagen. Die TKKG-Bande stellte die Drahtesel zusammen. Jeder wurde mit dem Kabelschloss gesichert. Sie traten ins Haus. Karl trug die Weinflasche. Im Parterre hatte man die Wände gekachelt. Es gab einen ältlichen Fahrstuhl, aber der war heute defekt (kaputt), jedenfalls außer Betrieb. Klößchen grummelte Flüche hinter geschlossenen Zahnreihen, weil er jetzt sechs Stockwerke hochsteigen musste. Die Treppe wand sich, umschlang den Treppenschacht. In jeder Etage beugte Klößchen sich übers Geländer. »Damit… bekämpfe ich den Schwindel«, japste er. »Bin nämlich nicht schwindelfrei.« »Auch andere lügen«, lachte Tarzan. Endlich waren sie oben. Neben Hubi wohnte eine Kunstmalerin. Jedenfalls hing ein Messingschild an der Tür: Nicole Tepler – Kunstmalerin. »In die, heißt es«, wisperte Gaby, »soll er verknallt sein. Einer aus der 11a will das gehört haben. Finde ich gut. Hubi ist Kunsterzieher, sie Malerin. Gleiche Interessen verbinden.« »Ich bin auch sehr froh«, grinste Tarzan, »dass du dich für Judo interessierst.« »Waaaaas?« Immerhin ergriff sie seinen Arm und versuchte, ihn abzureißen. Tarzan ließ es zu, während Karl und Klößchen lächelten. »Jetzt ist er lang genug«, meinte er schließlich. »Ich kann mich in der Kniekehle kratzen. Aber die richtige Technik muss ich dir noch beibringen.« Gaby war total erschöpft. Für einen Moment lehnte sie sich an Tarzan. Rasch drückte er seine Nase in ihr Gold168
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haar. Dann standen sie vor Porsche-Hubis Tür und Karl klingelte. Im Apartment stürzte ein Schrank um. So hörte es sich an. Dr. Knoth öffnete. Hoppla!, dachte Tarzan. Wie sieht er denn aus? So kaputt kann kein Arm sein. Was ist los, Hubi? Knoths sportgestählte Figur hing ungewohnt schlaff im Sommerpullover, der keine Ärmel besaß. Der linke Arm war eingegipst von den Fingern bis zur Schulter, der Ellbogen angewinkelt. Knoth hatte rotblondes Haar und ein sympathisches Lausbubengesicht. Sonst war es frisch und eher rot. Jetzt wurde es überzogen von wachsener Blässe. Erschreckt starrte er die vier Freunde an. »Gott sei Dank! Ihr seid’s«, murmelte er matt. »Kommt rein.« Die vier tauschten Blicke. Dann folgten sie der Aufforderung. Die Diele war dunkel und führte in das große Apartment, wo die Decke schräg war. Zwei Dachfenster sorgten für Helligkeit. Das größere ließ sich nicht öffnen. Das andere war eine Luke. Unwillkürlich blickte Tarzan in den blauen Himmel hinauf, wo eine Passagiermaschine im Steilflug Höhe gewann. Hubis Einrichtung entsprach einer Studentenbude. Alles war ein wenig schlampig, aber man konnte sich wohlfühlen. »Wir wollten nach Ihnen sehen«, sagte Gaby. »Wie geht’s mit dem Arm? Wir haben eine Flasche Wein mitgebracht.« »Nett von euch. Danke! Setzt euch. Hm! Guter Wein.« Er übernahm die Flasche von Karl und studierte das Etikett. »Den trinke ich gern.« Ein Seufzer folgte – so lang, dass er bis ins Parterre reichte. Dann versuchte Porsche-Hubi ein Lächeln, aber er war kein Schauspieler. Die TKKG-Freunde erschraken. Hatte er solche Schmerzen, der Junglehrer? Musste der Arm amputiert (operativ abnehmen) werden? 169
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»Sie sehen aus wie der Tod auf Latschen«, sagte Tarzan. »Ich könnte mich zerreißen, dass das passiert ist. War’s schlimm im Krankenhaus?« »Im… Ach, du meinst den Bruch? Das ist harmlos.« Rechtshändig wischte er mit wegwerfender Geste durch die Luft. »Glatt und unkompliziert. In vier Wochen stehe ich wieder auf der Matte. Dann, Tarzan, nehme ich dich in den Würgegriff, dass dir die Ohren abfallen.« Er lachte. Es klang gespenstisch. »Also keine schlimme Sache?«, stieß Tarzan nach. »Überhaupt nicht.« »Ich war schon ganz ausgerastet. Aber jetzt bin ich wieder voll drauf.Von Ihnen, Doktor, kann man das nicht sagen.Wen erwarten Sie denn? Sie waren eben sehr erleichtert, als Sie merkten, dass wir’s sind. Können wir Ihnen helfen? Ich meine, wenn Krawall im Karton ist, können Sie mit einem Arm keinen aufmischen.« Porsche-Hubi blickte ihn an, als sähe er ihn nicht. Seine Augen wirkten wie feuchte Pflastersteine. Dass er nicht heulte, verdankte er seiner inneren Haltung. Aber die hielt nicht lange. Kopf und Schultern sackten nach vorn. Der gesunde Arm baumelte. Gips stieß an die Tischkante. Knoth schnüffelte. »Ich… bin ein Schwein«, flüsterte er. »Ein Lügner. Pfui, was für ein mieser Kerl! Ich schäme mich und habe es nicht besser verdient.« Die vier Freunde erstarrten. Dass ein Pauker solche Geständnisse ablegte, war noch nicht da gewesen. Im Allgemeinen handelte es sich um unnahbare Typen, die immer recht hatten und eventuelle Zweifel an sich selbst einbruchsicher im Gemüt verwahrten. Porsche-Hubi war offenbar anders. Vielleicht, dachte Tarzan, wächst da eine Pauker-Generation (Generation = Gesamtheit der Altersgenossen) heran, die 170
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auf kleineren Pferden sitzt, jedenfalls nicht auf dem hohen Ross. »Nö«, sagte Gaby. »Sind Sie nicht. Kein Schwein und kein Lügner. Da kennen wir Sie besser als Sie sich selbst. Und uns können Sie glauben. Nicht wahr?« Sie blickte die Jungs an. Heftiges Nicken antwortete. Klößchen war so aufgeregt, dass er sich eine halbe Tafel Vollmilch-Nuss hinter die Zähne schob. »Doch!«, sprach Knoth mit gesenktem Kopf zu dem reinigungsreifen Teppich. »Ich verachte mich. Aber damit will ich euch nicht belasten. Das muss ich mit mir ausmachen.« Damit kam er bei Gaby schlecht an. Ihre Neugier war geweckt, ihre Hilfsbereitschaft im Anmarsch. »Wir werden Ihnen helfen«, rief sie. »Was es auch ist. Unsere Verschwiegenheit kennen Sie. Worum geht’s?« Er zögerte, blickte auf, zwinkerte heftig und begriff, dass er schon zu viel gesagt hatte – in seiner seelischen Pein. Ein Zurück hätte sein Ansehen vor den Pennälem (Oberschülern) nicht mehr gerettet. »Versprecht mir bei eurer Ehre und bei – Oskars Gesundheit –, dass ihr zu niemandem darüber redet. Ich erzähle es auch nur, um euch vor einem ähnlichen Fehler zu bewahren. Denn es ist verabscheuungswürdig, wenn man seinen eigenen Vater belügt – ja, betrügt. Noch dazu, wo ich mich glänzend mit ihm verstehe. Meine Mutter lebt schon lange nicht mehr. Und Papa ist wirklich in Ordnung.« Die TKKG-Freunde schwiegen, dass es in den Ohren schallerte. Gaby wagte kaum zu atmen. Porsche-Hubi lehnte sich zurück. »Ihr kennt meinen Wagen«, begann er. »Er ist gebraucht gekauft. Als ich ihn damals erwarb, war ich noch Student. Ich stand kurz vor dem Examen. Gut, Papa hat mich nicht gerade knapp gehalten. Aber der Wagen sollte 20000 Euro kosten. Und das war er auch wert. Mein Vater ist Zahnarzt, müsst ihr 171
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wissen. Er hat Kohle wie Heu, aber auch strenge Maßstäbe. Er meint, dass man sich so einen Superschlitten erst verdienen muss. Für einen Junglehrer ist ein Porsche viel zu teuer, zumal ein Referendar nicht gerade klotzig Kohle einfährt. Ich meine, das Gehalt ist…« Er blies in die hohle Hand. »Und ob ich später als Pauker übernommen werde, steht sowieso in den Sternen. Aber – und da fängt die Schweinerei an – ich wollte die Karre haben.« »Aha!«, sagte Klößchen. Drei strafende Blicke trafen ihn. Er tat, als merke er’s nicht, und zog sich eine Hand voll Schokoladenkrümel rein. »Ich malte mir aus«, erzählte Knoth, »mit welchem Hohngelächter mein alter Herr reagiert hätte. Also griff ich zur List. Ich stamme, wie ihr vielleicht wisst, aus dem Oldenburgischen. Das ist weit von hier. Ungefährlich also, dachte ich. Ich rief Papa an. Ich sagte: Bevor mir die Sache durch die Lappen geht, will ich’s dir wenigstens erzählen. Es wäre eine einmalige Geldanlage. Ich könnte nämlich Gemälde erwerben. Es handelt sich um einen Notverkauf. Als Kunststudent kann ich die Sache beurteilen. Himmel, Papa!, sagte ich. Wenn ich da zugreifen könnte! Von den Gemälden würde ich mich nie wieder trennen. Was sage ich euch, Kids. Wir redeten nicht lange. Im Hintergrund stöhnte ein Patient mit aufgebohrtem Zahn. Mein alter Herr willigte ein. Denn mit dem Problem, Geld wertbeständig anzulegen, schlägt er sich ständig rum. Warum nicht mal Gemälde? Er überwies mir das Geld. Ich kaufte den Porsche. Rauskommen, dachte ich damals, kann’s nicht. Drei Jahre bin ich jetzt hier. Besucht hat er mich kein einziges Mal. Und später, dachte ich, male ich mir meine Geldanlage selbst oder erwerbe bei Gelegenheit was.« »Au Backe!«, stieß Klößchen durch schokoladenbraune Zähne. Seine Freunde beachteten ihn nicht. 172
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»Ich ahne was«, sagte Tarzan. »Denn ein Unglück kommt ja selten allein.« Porsche-Hubi nickte. »Gestern der Armbruch. Und heute… heute kommt mein Vater.« »Wann?«, fragte Tarzan. Knoth sah auf die Armbanduhr, die er jetzt rechts trug. »In reichlich einer Stunde ist er hier. Er kommt mit der Lufthansa. Er bleibt auch höchstens zwei Stunden und fährt dann per Bahn weiter nach Bad Wiesentau. Dort findet ein Kongress statt. Kein Zahnärzte-Kongress, sondern… Papa ist nämlich Vorsitzender einer tollen Vereinigung. Sie nennt sich ›Bürger schützen Wald und Umwelt‹. Tja, da ist er engagiert, was ich gut finde. Sind alles namhafte Leute, und die hauen auf den Putz, um von der Welt noch was zu retten. Er freut sich darauf, mich hier zu besuchen. Als Mann schneller Entschlüsse und gezielter Überraschungen rief er mich vorhin an. Ich glaubte, mich trifft der Schlag. Wie angestochen bin ich unter meiner gläsernen Dachschräge hin und her gerannt. Ich habe jetzt noch mehr Panik als Füße in den Schuhen und Sch…« Er sah Gaby an und verstummte. Wieder breitete sich dröhnende Stille aus. Uih!, dachte Tarzan. Jetzt dampft der Naturdünger. Dr. Knoth, der Zahnklempner, wird sich natürlich der Gemälde entsinnen. Dass er sie sehen will, ist klar. Sein Blick strich durchs Apartment und fiel auf die drei bescheidenen Kunstdrucke an der Wand. »Ist Ihr Vater vielleicht kurzsichtig, Herr Doktor?«, erkundigte sich Klößchen in diesem Moment. »Das wäre günstig. Vielleicht hält er dann die drei Lappen da für 20000-EuroGemälde im Notverkauf. Oder versteht er was von Kunst?« Porsche-Hubi hätte beinahe gelächelt. »Er ist nicht kurzsichtig. Zwar kein Kunstkenner.Aber mit den Drucken kann ich ihn nicht täuschen. Das Furchtbare ist, 173
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dass ich das Vertrauen meines Vaters missbraucht habe. Verstehst du jetzt, Gaby, wie ich mich verachte? Es gibt keine Entschuldigung. Ich war blind und bedenkenlos in meiner idiotischen Vernarrtheit zu dieser Karre. Ein Auto! Was ist das schon? Eine Maschine. Leblos. Eine Konstruktion. Ein Nichts gegen die Beziehung zwischen zwei Menschen, gegen das Einvernehmen zwischen Vater und Sohn. Es ist das erste und einzige Mal, dass ich meinen Vater belogen habe. Diese Enttäuschung möchte ich ihm ersparen. Nicht aus Feigheit, sondern seinetwegen! Himmel, könnte ich’s ungeschehen machen – sofort würde ich die Karre verbrennen.« »Der Porsche kann nichts dafür«, knurrte Tarzan. »Der fährt nur und denkt sich überhaupt nichts. Dass er sie verführt hat, ist nicht seine Schuld.Wäre es nicht das Beste, wenn Sie Ihrem Vater die Wahrheit sagen?« Knoth schüttelte den Kopf. »Jetzt… kann ich das nicht«, flüsterte er. »Vielleicht später, wenn… Jetzt würde es ihn seelisch umwerfen. Das weiß ich. Aber was soll ich tun? Ich sehe keinen Ausweg.« »Leihen!«, rief Tarzan. Die Idee hatte in seinem Kopf gezündet wie die Lunte am Pulverfass. »Leihen Sie sich drei, vier Gemälde! Echte, wertvolle! Das muss doch möglich sein. Als Kunststudent haben Sie doch sicherlich Kunstsammler kennengelernt. Und Sie benötigen die Gemälde nur für zwei Stunden.« Knoth Augen leuchteten auf. Dann schüttelte er den Kopf. »Die Idee ist gut, Tarzan. Aber ich weiß niemanden.« »Überlegen Sie! Es muss jemanden geben.Wir haben noch gut eine Stunde.« Der Junglehrer senkte den Kopf »Es ist vergebens. Eher gelingt es mir, im Landesmuseum ein paar Bilder zu stehlen.« Karl schnellte vom Sitz hoch. Mit einer Hand riss er sich die Nickelbrille von der Nase. Mit der andern wies er zur Wand. 174
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Alle erschraken. Es kam zu plötzlich. Gaby und Tarzan, die mit dem Rücken zur Wand saßen, blickten sich um. Aber keine gespenstische Erscheinung malte ihr Menetekel (Warnung) an die Raufasertapete. Was ansonsten dort hing, war noch weniger wert als die drei Kunstdrucke. »Die Malerin!«, stieß Karl hervor. »Nebenan wohnt doch eine Kunstmalerin. Vielleicht, Doktor Knoth, befinden sich Kunstwerke hinter dieser Mauer. Gemälde, deren Wert Ihr Vater nicht abschätzen kann. Ist die Dame nett? Ist sie zugänglich? Wenn Sie ihr erklären, in welcher Tinte sie sitzen, hilft sie bestimmt.« »Das ist echter Gehirngipfel«, meinte Tarzan. »Absolute Spitzenidee, Karl. Wozu ins ferne Landesmuseum schweifen, Herr Doktor? Die Kunst liegt so nahe, nämlich nebenan. Ich finde das tierisch. Tapern wir mal rüber, ja?« Knoths Gesicht färbte sich rot, dann blass, wieder rot und blieb schließlich käsig. Sein Gipsarm wackelte. Mit der rechten Hand bürstete er sich wild durch den Rotschopf. »Also… hm… theoretisch Klasse. Aber, um ehrlich zu sein, bis jetzt habe ich keinerlei Kontakt zu Fräulein Tepler. Sie ist irre jung. Erst 20, schätze ich. Ob sie wirklich schon toll malt – ich weiß nicht. Ich wollte mich ihr kollegial (kameradschaftlich) nähern. Aber sie meidet mich wie die Pest. Sie ist verdammt hübsch. Ernähren kann sie sich von ihrer Kunst noch nicht. Jedenfalls arbeitet sie tagsüber. Hat wohl irgendwo einen Job. Sie geht morgens aus dem Haus und kehrt erst abends zurück. Jetzt ist sie leider nicht da. Sonst, ja, sonst würde ich sie fragen.« »Wieder ’ne Fehlanzeige«, stellte Klößchen fest und biss verzweifelt in die zweite Tafel Schokolade. Tarzan stand auf, sagte, er wäre gleich wieder da, verließ die Wohnung und trat vor die Tepler’sche Tür. Kennerhaft 175
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prüfte er das Schloss. Es war ein Sicherheitsschloss. So ein Mist! Er ging zu den andern zurück. Vier Augenpaare sahen ihn erwartungsvoll an. »Vorn kommen wir nicht rein«, murmelte er und schob einen Stuhl unter das schwenkbare Fenster in der Dachschräge, unter die so genannte Luke. Der Klappriegel, mit dem man das Fenster öffnete, lag unter einem Gummiwulst, der den Stahlrahmen polsterte. Wenn man an der richtigen Stelle von außen eine Ahle durchstieß. »Die Wohnung nebenan hat ganz bestimmt das gleiche Fenster«, dachte er laut. »Das ist die Lösung, Leute. Da kommen wir rein. Aber erst krieche ich mal aufs Dach und äuge in die Tepler’sche Behausung, ob’s dort überhaupt Bilder gibt. Vielleicht bemalt sie Bauernschränke, die Dame Nicole.« »Willst… du… etwa…. einbrechen?«, fragte Gaby entgeistert. »Klar. Falls drüben Bilder sind, leihen wir sie für zwei Stunden. Sobald sich Hubis Vater… äh… na ja, sobald er sich verabschiedet hat, bringen wir die Gemälde wieder rüber. Nicole Tepler merkt überhaupt nichts. Dafür verbürge ich mich. Ist doch die Kiste! Oder was dagegen?« Die andern sahen ihn an, als wäre er bescheuert wie eine Bürste.
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2. Wie man einen Zahnarzt beschwindelt Er war weit gefahren: ziellos, irgendwohin – eigentlich nur, um wegzukommen aus der Gegend, wo die Polizei nach ihm suchte. Besonders anstrengen würde sie sich allerdings nicht, denn er hatte niemanden umgebracht. Und die Beute des Bankraubs betrug ganze 12700 Euro. Das war kein Grund, um bundesweit nach ihm zu fahnden. Nach ihm? Niemand hatte ihn erkannt. Niemand wusste, dass er der Bankräuber war. Sie hätten ohnehin nur nach dem großen – nein, dem kleinen – Unbekannten fahnden können. Deshalb machte er sich keine Sorgen. Ottmar Lohmann war Profi, ein reisender Ganove ohne Anhang. Verbrechen markierten seinen Weg quer durch Europa.Aber nur zwei Mal hatten ihn die Bullen erwischt: als Jugendlichen, als er anfing, und dann vor 21 Jahren, als er in Berlin einen Geldtransport überfiel. Jetzt war er alt und verbraucht und begnügte sich mit lächerlichen Coups – wie ein menschenfressender Tiger, der an Rheuma leidet und die Zähne verliert. Dass seine zweifelhafte Laufbahn zu Ende ging, darüber war er sich klar. Rentenansprüche hatte er nicht, und die Behörden seines italienischen Wohnsitzes hielten ihn für einen Berufsinvaliden, der vom Ererbten zehrte. Seiner Zukunft sah Lohmann kleinmütig entgegen. Kam ein Alter in Armut auf ihn zu? Das werde ich nicht zulassen!, hatte er sich hundert Mal geschworen. Ein letzter Coup, eine große Sache, sollte den nötigen Zaster für einen komfortablen Lebensabend einfahren. Was ihm da vorschwebte, war die Sache mit der »tickenden Bombe«, ein pickelharter Plan. Jetzt, als Sonnenglut über der Ebene lagerte, fiel ihm das 177
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ein. Eigentlich wollte er erst nächste Woche in die Startlöcher gehen.Aber die Landstraße, der er jetzt folgte, führte schnurgerade zur Stadt: wo er den flash (Erleuchtung) in action (Handlung) verwandeln wollte. Es war die Großstadt, die er so lange gemieden hatte. Himmel, wann war er das letzte Mal hier gewesen? Vor 19, nein 20, ja 21 Jahren. Bevor sie ihn in Berlin erwischten? Er quetschte Denkerfalten auf seine Ganovenstirn, sein Hirn blätterte Kalender und Jahre auf. Aber so ganz genau wusste er’s nicht mehr. Das war ja auch kackegal. Er hatte gelesen, was er wissen musste. Hier gab es die Nosiop-Chemie AG. Der sollte es an den Kragen gehen. Gnaski hatte einiges ausbaldowert (ermittelt). Gnaski würde mitmachen. Es ging nur zu zweit. Und Gnaski war ein verlässlicher Kumpel. Außerdem wohnte er hier. Erinnerungen stiegen in Lohmann auf, während er sich der Stadtgrenze näherte. Erinnerungen an Magda Tepler! Das war eine Frau gewesen! Seltsam, dass er ihren Namen noch wusste, ihr Gesicht noch deutlich vor sich sah. Dutzende andere Freundinnen hatten keine Spur in seinem Gemüt hinterlassen. Magda Tepler war eine Ausnahme. Ob sie noch lebte? Fast ohne es zu merken, hatte er die Ebene nördlich der Stadt durchquert. Vor dem blauen Mittagshimmel hob sich die Stadt ab – mit ihren Wahrzeichen: Kirch-, Fernseh- und Sende-Türmen, den Hochhäusern, startenden und landenden Flugzeugen und der Dunstglocke, die heute ein bisschen wie Schwefel aussah. Die ersten Vorstadthäuser tauchten auf. Lohmann hielt und zog den Stadtplan zurate, den Gnaski ihm geschickt hatte. Aha! Dortlang also! Viel hatte sich verändert. Die Stadt platzte aus allen Nähten, schwappte über aufs Umland. In diesem Ballungsgebiet ließ sich gut arbeiten – für ihn jedenfalls. 178
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’ne halbe Stunde, dachte er, dann habe ich was gefunden für den Handgeld-Coup. Handgeld brauchte er noch. Gnaski machte nur mit, wenn er vorher Kies sah.Vorschuss – war dessen Lieblingswort. Na, schön! Sollte er haben. Aber nicht von den 12 700 Ascheeiern, die in Lohmanns Brieftasche steckten. Nein, das ging extra. Ein kleiner Überfall fürs Handgeld, am besten jetzt gleich. Lohmann grinste mit schiefen Zähnen, als er witternd durch einen geschäftigen Vorort rollte. Läden säumten die Hauptstraße. Kneipen und Imbisslokale saugten Gäste an. In den Nebenstraßen ging’s ruhiger zu. Nicht gerade wie auf einem Friedhof bei Dauerregen, aber doch im Schleichschritt. Lohmanns Fiat bummelte an parkenden Wagen vorbei. Er blickte rechts und blickte links. In der Nebenstraße einer Nebenstraße fand er das Objekt nach seinem Geschmack: ein Juweliergeschäft. Es sah verheißungsvoll aus, nämlich klein und recht schäbig. In solchen Läden, wusste er, konnte man kiloweise Billigschmuck absahnen, gar nicht zu reden vom Kleingeld in der Kasse. Billigschmuck ließ sich leicht zu Geld machen – jedenfalls leichter als die Kronjuwelen der englischen Königin. Er fuhr eine Schleife und dann stadtauswärts, bis er zwischen Abbruchhäusern einen Behelfsparkplatz fand, wo nur ein Müllcontainer stand, randvoll mit Schutt. Er parkte dahinter und stellte den Motor ab. Niemand konnte ihn beobachten. Nach dreimaligem Rundblick hatte er das festgestellt. Er klappte die Sonnenblenden herab. Im Spiegel musterte er sein durchfurchtes Gesicht. Er war ein großer, knochiger Typ mit schmalen Lippen. Wie immer bei seinen Überfällen stülpte er sich die blonde 179
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Lockenperücke über den schütteren Graukopf. Mit dem Gesicht war es schwieriger. Trotz der Jahre und der Enttäuschungen zeigte es noch markante Linien und ein kantiges Profil. Ein angeklebter Schnauzbart und die Sonnenbrille verbargen es leidlich. Links unter der Achsel steckte die schwere Pistole. Rechts in der Brusttasche ein fester Briefumschlag mit den 12 700 Euro. Er fuhr zu dem Juweliergeschäft zurück. Mittagszeit. Jedermann schaufelte Kalorien in sich rein oder pennte. In der Straße war nichts los. Nur Sonnenglut floss zwischen den Häuserzeilen wie in einem Kanal. Er parkte nahe beim Juweliergeschäft, stieg aus und schlenderte zum Schaufenster. Kein Kunde war im Laden. Die Verkäuferin – eine junge Frau – drehte ihm den Rücken zu und sortierte Goldkettchen in eine Vitrine. Dann mal los, Ottmar!, befahl er sich lautlos. Er trat zum Eingang.
* »Nein!«, sagte Gaby. »Das kommt nicht infrage. Du kannst nicht bei Nicole Tepler einbrechen. Das wäre Einbruch. Einbruch ist strafbar. Kleinliche Gesinnung liegt mir fern. Aber ich bin die einzige Tochter von Kommissar Glockner – und ganz seiner Meinung, was das BGB betrifft.« »Was ist denn das, ein Gehbehbäh?«, fragte Klößchen. »BGB«, sagte Karl, »ist die Abkürzung für Bürgerliches Gesetzbuch. Pfote will damit sagen, dass sie Straftaten verabscheut. Aber, Pfote«, wandte er sich an sie, »da haben wir doch schon andere Dinger gedreht, ohne dass du unter deinen moralischen Bedenken zusammengebrochen wärst. Kriminell war es nie, höchstens ungewöhnlich in der Wahl der Mittel, aber immer zum Nutzen von irgendwem – sind wir 180
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doch selbstlos, hilfreich und gu… jedenfalls finde ich’s spitzenmäßig, was Tarzan vorhat. Es schadet keinem. Aber es hilft Dr. Knoth – und vor allem seinem Vater, der seinen Blutdruck schonen kann, weil er die Enttäuschung vermeidet. So ein Mann muss sich seine Kraft erhalten – für Wald und Umwelt.Wer sonst tut denn was dafür? Alle bejammern das Sterben der Bäume. Aber kein Umweltverpester verstopft deshalb seinen Fabrikschornstein. Nein, da braucht es Leute wie Dr. Knoth senior, einen Zahnarzt, der nicht nur gegen Karies (Zahnfäule) kämpft, sondern auch für höhere Ziele. Gönn es ihm, Pfote, dass er sich den Glauben an seinen referendarischen Sohn erhält. Dass dieser ihm Kunstwerke zeigt und nicht die Nachtseite seiner Seele.« Klößchen zuckte zusammen, als von Karies die Rede war, und dachte an seinen lieben Vater, den Schokoladen-Hersteller, der gewissermaßen dafür sorgte, dass den Zahnärzten die Patienten nicht knapp wurden. Gestern erst hatte die 9b im Biologie-Unterricht erfahren, was eine Symbiose ist, nämlich das Zusammenleben zweier Organismen (Körper) zu beiderseitigem Vorteil. Nee, dachte Klößchen. Trifft nicht zu. Knoth senior hat vielleicht Vorteile. Er kann mehr bohren, weil Schokolade den Zähnen schadet. Aber mein Vater… hm! Na ja, reparierte Kau-Instrumente können wieder vollsaftig in die Schoko reinhauen. Also… Ach, was strenge ich überhaupt meine Gehirnzellen an? Karl spinnt wieder. Aber dessen Ausführungen hatten Gaby überzeugt. Zumindest erlahmte ihr Widerspruch. »Einbruch bleibt Einbruch, aber… zugegeben: Wenn es um die gute Tat geht, geht auch mein Papi ungewöhnliche Wege. Doch er trägt dann voll die Verantwortung.« »Die trage ich auch«, sagte Tarzan. Das klang wie ein Fingerschnippen. Er war ungeduldig und wollte endlich aufs Dach. Das ganze Gesülze drückte ihm 181
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schwer auf den Keks, zumal die Zeit wie Sand durch die Finger lief und man noch Nägel in die Wand hauen musste, um die geliehenen Kunstwerke aufzuhängen – falls es die gab, nebenan. »Sag das nicht«, rief Gaby, »als wäre Verantwortung nichts! Wer bei ungewöhnlichen Maßnahmen die Verantwortung übernimmt, riskiert… Jedenfalls hält er bei einem Misserfolg den Kopf hin.« »Pfote«, sagte Tarzan, »es sollte nicht geringschätzig klingen. War nämlich so nicht gemeint. Du weißt: Wenn es einen gibt, für den wir uns alle in Stücke reißen lassen – dann für deinen Vater. So, und jetzt steige ich aufs Dach. Vielleicht palavern wir um Methusalems (biblischer Urvater) Schnurrbart. Auch den kriegen wir nie.« »Mein Gott!«, flüsterte Porsche-Hubi. »So zieht eins das andere nach sich. Ich bin ein Lump und ihr wollt für mich Kopf und Kragen riskieren. Sogar euer Gewissen schlagt ihr k.o.« Tarzan grinste, stieg auf den Stuhl, öffnete das schwenkbare Fenster und schwang sich per Klimmzug hinauf und hinaus. Heiß brannte die Mittagssonne auf die Ziegel. Sie glühten, büßten aber nicht an Griffigkeit ein. Das Dach war schräg. Vorn, bei der Dachrinne, gähnte ein sechsstöckiger Abgrund. Dort war der Hinterhof. Auf die Ziegel gepresst, robbte Tarzan durch Taubendreck zu dem Atelierfenster hinüber. Wie vermutet: Es war genau das Gleiche. Das sah er beim Näherrobben. Außerdem sah er Schornsteine, andere Dächer und die Hochhaus-Parade in halber Kilometer Entfernung. Ein Täuberich brüstete sich und blickte erstaunt. Als er abschwirrte, hatte Tarzan die Tepler’sche Luke erreicht. Durch die ziemlich schmutzige Scheibe blickte er hinein. 182
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Klecks und Pinsel! Das war ja ein richtiges Maler-Atelier. Ob Kunstwerke rumstanden oder nur Schund, konnte er von hier, aus der Bauchlage, nicht entscheiden. Er zerrte sein Super-Taschenmesser aus der Jeanstasche. Es ersetzte eine Werkzeugkiste, fast. Er klappte die Ahle auf. Leider bohrte er fünf Löcher in den Gummiwulst – das war Sachbeschädigung –, bevor er den Riegel hinunterdrücken konnte. Das reichte noch nicht. Aber der Zufall bescherte ihm ein Stück rostigen Draht. Es klemmte unter einem Dachziegel. Durch Loch Nr. fünf gezwängt, ließ sich der Riegel damit senkrecht stellen. Das Fenster schwang auf Tarzan turnte hinein. Das Atelier! Es gab zwei Staffeleien, beschmierte Paletten, Farbtuben, Töpfe mit Flach-, Haar-, Rund- und Grundierpinseln, Flaschen mit Firnis und Malmittel, Palettenmesser und Malspachtel, Keilrahmen und Leinwand. Die Staffeleien waren leer, aber – Gott sei Dank! – vier fertige Bilder lehnten an der Wand. »Na, also«, begrüßte er sie, »für drei Stunden, höchstens, seid ihr Porsche-Hubis Gäste, ihr…« Sein Grinsen, mit dem er ohne Anstrengung 32 gesunde Zähne zeigte, wurde schmaler. Was dort an der Wand lehnte… Himmel, diese Kostbarkeiten genau hatte Porsche-Hubi erst neulich im Kunstunterricht vorgeführt. Allerdings nicht im Original, sondern auf Kunstdruck-Fotos. Himmel, das waren doch Tafelbilder altdeutscher Meister! Grünewald. Cranach. Und wie sie alle hießen, die Malermei… die Kunstmalermeister aus der Zeit um 1500. Gemalt waren die Prächtigkeiten auf Holz. Besaß Nicole Tepler solche Schätze? Ließ sie Millionenwerte hier einfach so rumstehen? Oder… Wie tausend Volt durchschoss ihn der Gedanke. Oder war 183
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das hier Diebesgut? Gehörte die Kunstmalerin zur Firma Klemm und Klau, Abteilung Kultur? Er trat näher, kniff – wie er das mal bei Kunstkennern gesehen hatte – die Lider zusammen und sank schließlich auf die Knie, um die Entdeckung ganz aus der Nähe zu machen. Ein Bild war fertig, die Farbe aber noch frisch. Bei den andern fehlten hier und da einige Feinheiten. Dennoch war klar zu erkennen, wie großartig sie gemalt waren – diese Fälschungen. Aha! Wenn das so war! Kein Wunder, dass sich die KunstTussi von Porsche-Hubi nicht anmachen ließ. Sie musste damit rechnen, dass er um Besichtigung ihrer Tätigkeit bat.Was sie ihm verwehren musste, die Fälscherin. Nicht zu glauben!, dachte er. Ich breche ein, um zu entleihen, und stoße auf so was.Aber sie hat Talent, die Tepler! Und ihre Schöpfungen helfen uns. Er sah auf die Uhr. Noch 46 Minuten, falls Hubis Berechnung stimmte. Er nahm eines der trockenen Tafelbilder, stieg hinaus, kroch übers Dach und reichte die Beute durch die Knoth’sche Luke. »Vorsichtig, bitte!« Karl nahm das Bild in Empfang. »Es kommen noch drei«, sagte Tarzan in den allgemeinen Jubel hinunter. »Sorgt bitte für das richtige Anbringen. Der Lichteinfall sollte nicht zu freundlich sein.« Im Eiltempo erledigte er den Transport. Nachdem er das letzte Bild, das feuchte, Karl übergeben hatte, ließ er sich durch die Luke hinunter. Jetzt jubelte keiner mehr. Die Stille schien aus dem Weltraum zu kommen. Nur Klößchen raschelte mit dem Silberpapier. Aber die Schokolade war ratzeputz alle. Staunen überzog Gabys Gesicht.Tarzan fand das süß – wie 184
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jeden Ausdruck an ihr. Ob sie zürnte, verzagte, ausflippte oder motzte – süß war sie immer. Manchmal so süß wie eine Löwin mit Bauchschmerzen. Karl polierte seine Brille. Porsche-Hubi glotzte die Tafelbilder an. »Ich hätte Erdkunde studieren sollen«, murmelte er. »Oder Chemie. Aber nicht Kunstgeschichte. Dann würde ich jetzt nichts merken.« »Dann wären Sie beknackt wie ein Holzwurm«, meinte Tarzan. »Dass die Dinger gefälscht sind, merkt doch jeder, der mit drei Kreuzen unterschreiben kann. Und nicht nur an der frischen Farbe merkt er’s. Ich könnte mich belustigen. So kommt man einer Kunstgewerblerin auf die Spur. Hahahah!« »Hahahah«, sagte Knoth – mit einer Stimme, als hätte er nicht einen Arm, sondern alle viere gebrochen. »Das ist jetzt das dritte Unglück. Nach Armbruch und Besuchs-Ankündigung meines Papas raubt mir diese Erkenntnis die letzte Illusion (Luftschloss). Dass ich ein Mistkerl bin, weiß ich. Aber sie, die schöne Nicole Tepler, die hielt ich für blütenweiß.« »Sie muss ja kein weiblicher Abgrund sein«, sagte Gaby, »nur weil sie Bilder fälscht. Ich finde, sie macht es gut. Wenn irgendein Bildungs-Fuzzi, ein Geisteszwerg, so was kauft – für viel Asche – und denkt, es sei echt und sich freut, dann ist er voll drauf auf seinem Kunsterlebnis und happy. Kunst sollte ja nicht nur für wenige sein, sondern möglichst für alle.« Knoth verdrehte die Augen. »Gaby, das hast du völlig falsch verstanden. Klar! Kunst soll für alle sein, nicht nur für die Euro-Scheichs, die sich ihr Privatmuseum einrichten. Aber Kunst soll es sein. Kunst! Nicht Fälschung! Fälschung ist Handwerk! Kunst hat nichts mit Besitz zu tun.Wenn echte Kunst im Museum steht, ist sie für alle da – während der Öffnungszeiten.« 185
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Gaby lächelte. »So habe ich’s eigentlich gemeint. Ich will doch nur Ihre Lie… Nachbarin verteidigen. Jetzt sollten wir die Bilder endlich aufhängen. Ihr Papa dürfte in einer halben Stunde hier sein.« Klößchen machte mit, schlug sich mit dem Hammer den linken Daumennagel lila und ein – kleineres – Loch in die Wand. Porsche-Hubi beschränkte sich auf geistige Mitarbeit. Am Handwerklichen hinderte ihn seine Verletzung. Als die Bilder hingen, blickte er verzückt umher. »Das ist jetzt keine Bude mehr. Das ist ein Palast! Was ihr für mich getan habt, vergesse ich euch nie.« »Geschenkt!«, sagte Gaby. »Mir macht vielmehr Gehirnweh, wie wir uns zu Fräulein Tepler verhalten. Das ist nämlich nach allem der vierte Hammer, der hier voll auf den Pudding haut. Wenn wir sie anzeigen – ja, woher wissen wir denn von ihrer Fälscherei? Wir müssten den Einbruch bekennen. Dann sitzen wir drin im Verdruss.« »Diesem Problem widmen wir uns, nachdem wir den Zahnarzt abgehandelt haben«, schlug Tarzan vor. »Die Notverkauf-Objekte sind hier. Alles hängt. Dr. Knoth wird bald antanzen und wir machen eine Mücke und…« »Kommt ja gar nicht infrage!«, sagte Porsche-Hubi. »So weit kommt’s. Ihr macht die Arbeit und ich schließe euch aus vom gemütlichen Teil. Mein Papa liebt die Jugend. Von euch wird er begeistert sein. Pfeift auf euer Internats-Mittagsmahl. Bei mir gibt es Knäckebrot und Erdnussbutter. Gaby und Karl können zu Hause anrufen, ausrichten, dass ihr meine Gäste seid. Für euch«, er meinte Tarzan und Klößchen, »stehe ich beim EvD (Erzieher vom Dienst) gerade.« Begeisterung bei allen. Lediglich Klößchen hielt sich etwas zurück. Unauffällig stieß er Tarzan an. »Weißt du, welchen Schlangenfraß die uns heute Mittag serviert hätten?« 186
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»Kohlrouladen mit Zementkartoffeln«, behauptete Tarzan, weil er wusste, dass sein dicker Freund dieses Menü am wenigsten schätzte. »Dann lieber Strohbrot mit Erdnusspüree«, nickte Klößchen. Gaby war in die Küche geeilt, nicht um Brote zu bereiten, sondern um für Dr. Knoth senior den Tisch zu decken. Sie fand nur benutztes Geschirr und keine fünf Tassen, die zusammenpassten. Karl half beim Spülen. Tarzan erhielt Geld von Porsche-Hubi und sauste zur nächsten Konditorei, um Käsekuchen zu besorgen. Den mochte der Zahnarzt besonders gern. Wein, Cognac und Kaffee waren in ausreichender Menge vorhanden. Gaby improvisierte (etwas ohne Vorbereitung tun), stellte fünf unterschiedliche Kuchenteller auf den Tisch, dazu eine Sammeltasse, eine Keramiktasse Marke Kameradenbetrüger, eine Tasse mit dem Aufdruck DEUTSCHE SCHLAFWAGENGESELLSCHAFT, eine Tasse mit dem Aufdruck eines stadtbekannten Hotels und einen Porzellanbecher in Form einer Birne, den Hubi auch zum Zähneputzen benutzte. Er war ziemlich verlegen ob seines Hausstandes und führte entschuldigend an, dass er ja vor Kurzem noch Student gewesen sei. Aber ein Gebraucht-Porsche für 20000 Euro musste es sein, dachte Tarzan. Ts… ts… ts… Gaby hatte Kaffee gebrüht. Der Duft durchzog das Atelier-Apartment. Hubi ging umher, als hätte er eine Eintrittskarte gelöst. Bewundernd betrachtete er die Tafelbilder aus fast jedem Blickwinkel. Sie wirkten enorm. »Also, in den Knast schicken wir sie nicht«, meinte er dann. »Das wäre nicht fair. Sie muss eine Chance kriegen. Seid ihr einverstanden, wenn ich sie seelisch bearbeite? Ich werde ihr klarmachen, dass es sooo nicht geht. Ich wette, sie hält dann 187
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innere Einkehr, stiftet selbst gemachte Gemälde fürs Altersheim und tut nie wieder unrecht.« »Klar sind wir einverstanden«, sagte Gaby, ohne die Jungs zu fragen. »Umkehr ist wichtiger als Sühne.« »Außerdem«, nickte Hubi, »ist sie bestimmt nur die Künstlerin, die Aufträge ausführt. Der Anstifter ist der Übeltäter. Ihm sollte man auf die Finger klopfen.« »Mit dem Hammer«, pflichtete Klößchen bei. »Damit er sich’s merkt.« Dr. Knoth senior kam zehn Minuten früher als erwartet, aber die Farbe des vierten Tafelbildes wäre ohnehin nicht mehr getrocknet. Er war rundlich und agil (flink) wie ein Schwarm Köcherfliegen. Dass er im Frühherbst seines Lebens stand, merkte man nur am Silberglanz-Haar. Ein Taxi hatte ihn hergebracht. Sechs Etagen hatte er seinen Flugzeugkoffer hochgeschleppt, als er plötzlich vor der Tür stand. Porsche-Hubi umarmte seinen Papa. »Das sind meine jungen Freunde«, stellte er die TKKGBande vor, »Schüler der 9b und mir… äh… immer zur Hand.« Dr. Knoth begrüßte sie herzlich. »Lächle mal etwas breiter«, sagte er zu Gaby. Und dann: »Tadellose Zähne! Weiter so, kleines Fräulein!« Als Tarzan begrüßt wurde, grinste er den Zahnarzt an, als wollte er ihn fressen. »Wolfsgebiss!«, lobte Knoth. »Mehr von euch und ich müsste mich umschulen lassen.« Er klopfte auf Hubis Gipsarm. »Tut’s weh?« »Jetzt nicht mehr.« Was gelaufen war, wusste der Senior. Sein Sohn hatte es am Telefon mitgeteilt. Man setzte sich. Käsekuchen. Der Kaffee schmeckte. Knoth versorgte seinen schwitzenden Sohn mit endlosen Nachrichten aus der oldenburgischen Heimat. 188
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Klößchen stieß Tarzan an, neben dem er saß, und wies bedeutungsvoll zur Wand, wo sich die Tafelbilder im Glanz ihrer Schönheit sonnten. Tarzan bleckte die Zähne. Sein Blick schlug bei Klößchen ein wie ein Schwinger mit Anlauf. Beschwichtigendes Nicken löste das aus. Und Klößchen grapschte sich das dritte Stück Käsekuchen. »Ah!«, sagte Dr. Knoth senior in diesem Moment. »Das sind sie wohl? Donnerwetter!« Er stand auf und betrachtete das Tafelbild links neben der Tür. »Ein echter Brueghel (niederländischer Maler)?« Er hatte seine Lesebrille gegen die Weitsichtbrille ausgetauscht und bewunderte die Kunstwerke. »Das eigentlich weniger«, sagte Hubi. »Sondern?« »Ein Unbekannter. In der Manier Cranachs. So um 1500. Leider habe ich keine Expertise (Gutachten eines Sachverständigen). Mit Expertise wären die unbezahlbar.« Dr. Knoth nickte zufrieden und setzte sich wieder an den Tisch, wo neben der Kaffeetasse sein Lieblingscognac wartete. Hubi hatte sich und ihm eingeschenkt. Dr. Knoth zündete eine der schweren Zigarren an, die ihm sein Arzt unter Anwendung schlimmster Prognosen (Vorhersagen) verboten hatte. Sie prosteten sich zu. Tarzan schämte sich. Der Schwindel war überstanden. Aber es war nicht recht, diesen neuen Oldie für dumm zu verkaufen. Trotzdem besser so!, beruhigte sich Tarzan. Die Notlüge frommt (nutzt) Hubi – und damit auch dem Papa. Bis jetzt hatte Dr. Knoth mit keiner Silbe erwähnt, wann er weitermüsse nach Bad Wiesentau, nachher. Hatte er etwa genügend Zeit mitgebracht? Würde er noch hier sein, wenn Nicole Tepler zurückkam? Oh!, dachte Tarzan. Dann bricht drüben der Wahnsinn aus. 189
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Vielleicht fällt die Tepler um. Oder sie ruft die Polizei? Bitte, lieber Dr. Knoth, bleib nicht zu lange! Wir müssen sie doch rechtzeitig rüberschaffen, die Werke des Unbekannten in der Manier Cranachs.
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3. Lohmann verschenkt seine Beute Lohmann trat in das Juweliergeschäft, murmelte einen Gruß und stieß mit geübter Bewegung den Metallkeil unter die Tür, womit es unmöglich wurde, sie von außen zu öffnen. Die Verkäuferin wandte sich um. Ein freundliches Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Aber nur für einen Moment. Dann erstarrte es. Seine schwere Pistole war auf sie gerichtet. »Das ist ein Überfall! Tun Sie, was ich sage, und Ihnen wird nichts…« Er sprach nicht weiter. Offenen Mundes glotzte er die Verkäuferin durch die Sonnenbrille an. Das war Magda! Magda Tepler, wie sie leibt und lebt! Magda, wie sie damals gewesen war – mit 24 Jahren. Das herzförmige Gesicht! Die Veilchenaugen! Das honigfarbene Haar… Nein!, dachte er. Das darf nicht wahr sein. Habe ich Beulen an der Birne? Bin ich im Wunderland? Sie rührte sich nicht, erwiderte seinen Blick, schien aber keine Angst zu haben. Ein trotziger Zug verhärtete ihren Mund – ganz wie bei Magda, damals. »Wie… wie heißen Sie?«, fragte er rau. Draußen rumpelte ein Lastzug vorbei. Der Boden bebte ein bisschen. Lohmann hatte ohnehin das Empfinden, er stehe auf schwankendem Grund. »Ich?« Ihre Stimme klirrte. »Nicole… Nicole Tepler.« Sie wollte noch fragen, wieso ihn das interessiere, unterließ es aber. Ihn nur nicht reizen, den Kerl! Er atmete tief »Sie… heißen wie Ihre Mutter. Mit Nachnamen, meine ich. Sie… sie heißt ja… äh… Magda. Nicht wahr?« Ihre Veilchenaugen verdunkelten sich. »Woher kennen Sie meine Mutter?« 191
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Er antwortete nicht. Langsam senkte er die Pistole. Verwirrung nahm ihm die Worte. Auf der Straße war es jetzt ruhig. Dann bellte ein Hund. Aber nicht vor dem Geschäft, sondern gegenüber: hinter einer Hofeinfahrt. O Mann! In Gedanken schlug sich Lohmann die Pistole an den Kopf. Bin ich also doch im Wunderland! Er wusste nicht, was er tun sollte. Er dachte: Das fehlt noch, alter Idiot, dass du jetzt weich wirst! Zum Henker, ist sie dufte. Wie Magda! Tatsächlich wie Magda! Er räusperte sich, während er sie unverwandt beglotzte. Gespannte Wachsamkeit trat plötzlich auf ihr Gesicht. »Sie tragen eine Perücke«, sagte Nicole. »Das macht Sie jünger. Aber Sie müssen fast 60 sein. Sie sind Ottmar Lohmann!« So musste es sein, wenn man reif ist für die Klapsmühle. Er blickte über die Schulter zur Straße. Niemand. Und der Keil blockierte die Tür. Du bist hier, um zu rauben!, sagte er sich. Mann, was ist los mit dir? In Lebensgröße stand die Antwort vor ihm. Magdas Tochter. Ihr Ebenbild. Unfasslich! »Sie wissen meinen Namen. Hat Magda von mir erzählt?« »Oft. Sehr oft. Alles, was sie von Ihnen wusste, hat sie mir erzählt.Alles. Sie hat immer geglaubt, dass Sie eines Tages zurückkommen. Damals, Ottmar Lohmann, haben Sie meine Mutter sitzen lassen. Sie wusste, dass Sie ein… ein Verbrecher sind und sich niemals ändern werden. Trotzdem«, sie seufzte, »muss sie vernarrt gewesen sein in Sie.« Er schluckte. »Lebt sie noch?« »Meine Mutter ist vor fünf Jahren gestorben.An Krebs. Sie hat es nicht leicht gehabt. Sie war nie verheiratet. Wer nimmt denn eine Frau mit – unehelichem Kind. Ja, mit mir! Leider war auch bekannt, dass der Vater ein… gesuchter Bankräuber ist.« 192
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Er glaubte, nicht richtig zu hören. Lampenfieber bei Überfällen – das hatte er schon vor Jahrzehnten verlernt. Aber jetzt hämmerte sein Herz und unter den Achseln brach Schweiß aus. »Soll… das… heißen…«, stotterte er. »Das soll heißen, dass Sie – dass du, Ottmar Lohmann, mein Vater bist. Das ist Tatsache. Erschrocken, mein Herr?« Zorn trat in ihr Gesicht. »Du hast Mutter sitzen lassen und dich nie wieder gemeldet. Du Verbrecher! Natürlich – woher solltest du wissen, dass es mich gibt. Aber erwarte nicht, dass ich jetzt Vater zu dir sage! Eben wolltest du mich überfallen. Bitte, bediene dich! Ich bin hier nur angestellt. Und zum 30. des Monats hat man mir ohnehin gekündigt. Dann sitze ich auf der Straße.« Minutenlang sah er sie an. Seine Augen schimmerten feucht. »Hätte ich gewusst, dass es dich gibt«, sagte er, »wäre vieles anders gekommen. Vielleicht wäre auch mein Leben anders verlaufen. Da!« Er griff in die Brusttasche und zog den Umschlag mit dem Geld hervor. »Für dich, Nicole! Es sind 12700 Euro. Mehr habe ich im Moment nicht. Aber bald… Jedenfalls komme ich bald zu Geld. Zu klotzig viel Kies. Dann kriegst du mehr, kriegst was ab, klar? Tut mir leid, Kleines, dass ich mich nie um dich gekümmert habe. Alles tut mir leid. Der Magda werde ich… äh… Blumen aufs Grab legen.« »Mutter ist leider nicht hier begraben.« »Nein?« »In Schreierhau – bei den Großeltern.« Von denen wusste er nichts. Die Pistole steckte er weg. Er trat vor seine Tochter. Den Geldumschlag legte er in ihre Hände. Scheu berührte er ihre Wange. 193
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»Ist das wirklich für mich?« Sie schnüffelte. »Es kommt noch mehr, meine Tochter. Wie gesagt: noch mehr!« Er wandte sich um, ging zur Tür und nahm den Metallkeil weg. »Du stehst im Telefonbuch?« Sie nickte. »Ich melde mich bei dir. Wahrscheinlich schon morgen.« Sie saugte die Mundwinkel ein und blickte zu Boden. Lohmann verließ das Geschäft. Er wandte sich nach rechts, ging drei Schritte bis zur Hausecke und lehnte die Schulter an die Wand. Was habe ich falsch gemacht?, dachte er. Bin ich so lächerlich? Sie hat sich das Lachen verbissen. Weshalb? Beinahe wäre sie rausgeplatzt. Ist es so komisch, wenn einen – mit 20-jähriger Verspätung – väterliche Gefühle überkommen? Er war Profi, trotz allem, und kein Dummkopf. Zwischen diesem Haus und dem benachbarten Gebäude führte ein Durchlass zum Hof. Die beiden vergitterten Fenster an der Schmalseite gehörten zum Juweliergeschäft. Hineinsehen konnte er nicht. Milchglasscheiben verhinderten das. Aber die Fenster waren – ob der Hitze – angekippt, also spaltweit geöffnet. Als er Nicoles Stimme hörte, schlich er neben das Fenster. An die Wand gedrückt, horchte er. Sie hatte das Geld gezählt. Tatsächlich! Der Umschlag enthielt 12700 Euro. Es war gebündelt zu je 1000 Euro. Hinzu kamen sieben gefaltete Hunderter. Nicole kicherte noch immer. Mit bebendem Zwerchfell ging sie in das kleine Büro nebenan, wo das Telefon stand. Sie wählte. Eine Frauenstimme meldete sich. »Halt dich fest, Mutter!«, kicherte sie. »Du errätst nicht, wer eben hier war. Ottmar Lohmann! Ja, der! Deine Jugend194
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sünde. Ist ein alter Knacker geworden. Ausgelutscht wie ’ne Eistüte. Aber dem Foto von damals ähnelt er noch. Trotz seiner Verkleidung mit Perücke und Schnurrbart. Muss ein starker Typ gewesen sein vor 20 Lenzen. Ein bisschen spürt man das. Erkannt habe ich ihn nur, weil er mich berauben wollte. Ja, er ist immer noch derselbe. Hat’s aber nicht getan. Er sah nämlich gleich, dass ich deine Tochter bin. Wozu Ähnlichkeit gut ist. Was?« Sie kicherte eine steile Tonleiter hinauf. Mit der freien Hand warf sie das honigfarbene Haar nach hinten. »Mutterherz, er war gerührt. Weißt du, was ich ihm weisgemacht habe? Dass er – stell dir vor! – dass er mein Vater wäre! Ja, er hat’s geglaubt, der Sparkassenschreck. Bevor er abhaute, hat er mir ein Geschenk gemacht. 12700 Flocken – wahrscheinlich frisch aus dem Sparschwein. War alles, was er hatte. Aber ich kriege noch mehr. Was ein richtiger Ganove ist, der hat Ehre. Und bei einer Tochter wie mir lässt er sich nicht lumpen. Bald, Mutter, rollen die Nachzahlungen für Unterhalt an. Das bedeutet: Er hat hier was vor.« Was Magda Tepler erwiderte, konnte Lohmann – draußen an die Wand gepresst – nicht verstehen. Ihm flimmerte das Licht vor den Augen. So eine Schlange! Wie die ihn aufs Kreuz gelegt hatte, das konnte er kaum glauben. Da habe ich eine Tochter gehabt, dachte er, für drei Minuten – und gleich wieder verloren. Und du, meine Süße, hast für 12700 Euro Münze gehabt – und gleich wieder verloren. Er sah sich um. Niemand beobachtete ihn. In dem Parterre-Fenster schräg gegenüber döste ein Kater. Sein gescheckter Schweif hing in den Blumenkasten. Lohmann nahm Perücke und Bart ab, stopfte alles in die Jackentasche, schob die Sonnenbrille auf den grauen Stoppel-Schnitt hoch und stakte zurück. Wut stand ihm dick in den Augen. Er spürte, wie die Hals195
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schlagader an den Kragen klopfte. So eine Schlange! Natter! Und Magda lebte – und hatte wahrscheinlich genauso gekichert. Er stieß die Tür auf und stampfte über die Schwelle. Beinahe hätte er den Eingang wieder verkeilt – aus alter Gewohnheit. Doch er ließ den Keil, wo er war, und auch die Pistole. Nicole kam aus dem Büro. Heiterkeit färbte ihr Herzgesicht rosig. Lachtränen milchten den Blick. Sie sah den Kunden verschwommen. »Guten Tag! Bitte, was kann ich für Sie…« Dann erkannte sie ihn. »Ach! So… so siehst du aus… ohne Perücke.« »Ja, so sehe ich aus. Ich bin noch mal zurückgekommen, wie du siehst. Dass Magda tot ist, greift mir zu sehr ans Herz. Bitte, erzähl noch von ihr. Woran ist sie gestorben?« »An… ja, an Krebs. Wie ich sagte.« »Vorhin sagtest du, ihr Herz hätte nicht mehr mitgemacht.« »Ihr… also, ja. Zum Schluss war es so.Aber die eigentliche Ursache… Herzversagen? Davon habe ich kein Wort erwähnt.« Die Lachtränen waren getrocknet. Jetzt sah sie ihn deutlich. »Her mit dem Geld, du Kanaille! Wenn du einen Vater brauchst, dann such dir einen Dummen. Mich auszunehmen, was, das kam dir gelegen! Du Dreckstück! Magda hat dir wohl nicht nur ihre Schönheit vererbt. Hinterhältig und durchtrieben war sie schon damals. Aber bei einer so knackigen Schnitte sieht unsereins nur das Gehäuse. Mitnehmen wollte ich sie sowieso nicht. Dass ich damals verduftet bin, war richtig, richtig, richtig! Trotzdem, du Luder, will ich Magda jetzt sehen. Wo finde ich sie? Aber erst rückst du den Kies raus.« 196
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Ihre Lippen zitterten. Das war nicht gespielt. Sich von Geld zu trennen, fiel ihr so schwer, als müsste sie dem kleinen Finger Adieu sagen. »Lohmann, dreh jetzt nicht auf. Du hast doch was Großes vor. Dabei können wir dir helfen. Ja, Mutter und ich.Wir sind nicht die Tugendschäfchen – auch wenn wir so aussehen. Wir kennen die richtigen Typen. Und was die Kohle betrifft, werden wir uns einig«, sagte Nicole hastig. Hätte ich bloß nicht gesagt, dass ich klotzig viel Kies einfahre – in Bälde, dachte er wütend. Sie hat’s richtig gedeutet. Und nun? Wenn ich sie zur Feindin habe, kann sie mir schaden. Ein Hinweis an die Bullen – und die haben mich am Kragen. Nee, keinen Zoff, Ottmar! Nicht jetzt und nicht hier. Außerdem – vielleicht können sie mir wirklich nützen, die beiden. Gegen eine kleine Beteiligung. Gnaski ist auch nicht mehr der Jüngste und schon ziemlich zittrig im Sprunggelenk. »Einig? Hm«, zischte Lohmann durch die Zähne. Er trat zur Tür und spähte hinaus. Die Mittagszeit war vorbei. Die Straße belebte sich. Nicht gerade wie die Fifth Avenue in New York, wie der Kudamm in Berlin, wie die Champs Elysees in Paris, wie die Via Veneto in Rom oder wie der Piazza S. Marco in Venedig – doch einige Leute schlenderten am Schaufenster vorbei. Eine Oma blieb stehen und besah sich die Zuchtperlenkette. Hau ab!, dachte er. Mach deinen Taper (Gang) zum Altersheim. Aber die Oma sah kaufwütig aus und so, als hätte sie das Geld in der Handtasche. »Wo können wir hier ungestört reden?«, fragte er. »Ich will nicht, dass deine Kunden mich sehen.« Ihre schlanke Hand wies zur Bürotür. »Da steht sogar ein Whisky für dich.« Sie gingen nach nebenan, wo der Laden 197
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seine Schäbigkeit enthüllte – mit billigen Büromöbeln, einer defekten Kaffeemaschine, Uralt-Tapeten und einem Tresor von 1920. Das Telefon stand auf dem Schreibtisch. Lohmann schloss das Fenster. »Aha!«, sagte sie. »Da hast du gelauscht, ja?« »Wo ist der Kies?« Widerwillig öffnete sie ihre Handtasche. Er nahm den Umschlag und steckte ihn ein, ohne nachzuzählen. Dass sie nichts abgezweigt und in der Bluse versteckt hatte, verstand sich von selbst. »Also«, sagte sie, »wenn du…« Sie hielt inne. Die Ladentür wurde geöffnet. Jemand trat ein. Die Oma!, dachte Lohmann. Aber es waren Männerschritte – und nicht nur von einem Mann. Nicole zuckte die Achseln. Als sie in den Laden zurückging, lehnte sie die Tür an. Lohmann griff nach der Whiskyflasche, die neben der Kaffeemaschine stand und noch halb voll war. Er mochte Whisky. Allerdings war der hier eine billige Marke. »Fräulein Nicole Tepler?«, fragte nebenan eine heisere Männerstimme. »Ja«, antwortete sie. »Ich bin Kommissar Dolp«, stellte sich der Mann vor. »Das ist Inspektor Schanarowski. Wir sind von der Kripo, Dezernat elf. Wir haben einen Durchsuchungsbefehl. Hier! Wenn Sie sich bitte überzeugen wollen.« Stille. Lohmann versteinerte. Seine Hand umklammerte die Flasche. Nicht fallen lassen! Nicht fallen lassen! Halt sie fest, Ottmar! »Ei… ei… einen Durchsu…«, stotterte Nicole. »Wen… was… wollen Sie denn durchsuchen? Dieser Laden hier ge198
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hört mir doch nicht.« Sie gewann ihre Fassung zurück. »Ich bin nur Angestellte. Das Geschäft gehört Franz-Anton Kläcksl. Dem Inhaber der bekannten Kunst-Galerie K.Wenn Sie ihm…« »Sie haben mich missverstanden«, unterbrach Dolp. »Der Laden hier interessiert uns nicht. Es geht um Ihre Wohnung. Sie bewohnen ein Atelier in der Sperlings-Gasse. Das interessiert uns.« Ihre Stimme splitterte. »W… wa… warum?« »Ein Kunsthändler hat Sie angezeigt. Nein, natürlich nicht Ihr Chef Franz-Anton Kläcksl. Sondern jemand, dessen Name im Moment nichts zur Sache tut. Offenbar wurden Sie von ihm beobachtet. Er behauptet, Sie fälschen Gemälde. Sie sind doch Kunstmalerin?« »J… ja.« Sie holte tief Luft. Sogar Lohmann hörte, wie der Stoff ihrer Seidenbluse knirschte. »Aber… ich fälsche nicht. Ich… male nur zu meinem Vergnügen.« Ihre Stimme strafte sie Lügen, knispelte nämlich, als sähe sie sich bereits hinter Gittern. »Ich muss Sie bitten, uns zu Ihrer Wohnung zu begleiten«, sagte Dolp formell. Sie kam nicht ins Büro. Sie ließ ihre Tasche hier. Damit mich die Bullen nicht bemerken, dachte Lohmann und dankte ihr das. Er hörte, wie die drei das Geschäft verließen und wie Nicole die Eingangstür abschloss. Er trank aus der Flasche. Eine Kunstmalerin? Donnerwetter! Saß sie jetzt in der Patsche? War was dran an der Beschuldigung? Das werde ich von Magda hören, dachte er. Durch die Hintertür verließ er das Geschäft. Er schloss von außen ab. Den Schlüssel warf er durch das zweite Fenster, das noch spaltweit geöffnet war, hinein. Er fiel neben die Toilettenschüssel. 199
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Porsche-Hubi beruhigte sich allmählich. Sein Vater war bester Laune und redete über sein Lieblingsthema: den Schutz von Wald und Umwelt und geschützten Pflanzen. Die TKKGFreunde hörten aufmerksam zu. »Um unsere Natur zu erhalten, müssen alle zusammenwirken in Staat und Gesellschaft«, sagte der Zahnarzt. »Um das rechte Verständnis für den Naturschutz muss deshalb verstärkt geworben werden. Wir alle sind aufgerufen, die natürlichen Lebensräume, Pflanzen und Tiere und unsere Umwelt zu schützen. Sonst sieht es hier bald aus wie auf dem Mond.« »Beim Naturschutz könnte ich mich einklinken«, meinte Tarzan. »Das wäre jede Anstrengung wert.« Seine Freunde pflichteten bei. Klößchen fügte hinzu, besonders die Kakaobäume müssten geschützt werden. Dem Zahnarzt ging dieser Hintersinn nicht auf. Er wusste weder von Klößchens Herkunft noch von dessen unseliger Leidenschaft für alles, was Schokolade hieß – und aus Kakao hergestellt wird. Immerhin: Dr. Knoth nickte. Er hatte nichts gegen Kakaobäume, fühlte sich aber auch für andere Pflanzen verantwortlich – und erläuterte: »Kakaobäume – gut! Aber bleiben wir mal im Lande. Zig Pflanzen sind hier bedroht. Sie stehen unter Schutz, wobei zu unterscheiden ist zwischen vollkommen geschützten Arten, die weder gepflückt noch von ihrem Standort entfernt werden dürfen, und teilweise geschützten Arten. Bei denen dürfen die oberirdischen Pflanzenteile gesammelt werden. Allerdings nur außerhalb von Naturschutzgebieten und Nationalparks und nur in unbedeutenden Mengen und zu privaten Zwecken. Vollkommen geschützt sind zum Beispiel der Deutsche Enzian, die Gemeine Küchenschelle, der Gelbe Eisenhut, die Einknolle, die Bergkiefer und viele, viele andere.Teilweise geschützt sind die Duftende Schlüsselblume, der Geißbart und… Aber damit will ich euch nicht langweilen. Das gehört auf den Kongress, zu dem 200
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ich nachher noch weitermuss. Nach Bad Wiesentau. Besonders die Umweltverschmutzer werden wir uns vornehmen. Zum Glück liegt Direktor Gisen-Häpplich ganz auf meiner Linie.« »Ahhh«, dehnte Klößchen. »Herr Gisen-Häpplich ist doch der Direktor der Nosiop-Chemie AG, nicht wahr? Mein Vater kennt ihn gut. Sie sind im selben Klub. Rotations-Klub – oder so ähnlich…« Die Knoths schmunzelten. Offenbar hieß der Klub anders. Und der Zahnarzt setzte ahnungslos einen Hammer drauf, sagte nämlich: »Dann ist dein Vater wohl auch Industrieller und hat mit Giftmüll zu tun. Hätte ich wissen müssen. Ihm wäre eine Einladung zum Kongress zugegangen und…« »Papa, nein!«, rief Porsche-Hubi mit Lachtränen in den Augen. »Dass bei Herrn Sauerlich Giftmüll anfällt, kann man nun wirklich nicht behaupten. Er ist Schokoladenfabrikant.« »Jetzt verstehe ich«, lachte Dr. Knoth, »wieso dir die Kakaobäume am Herzen liegen, Willi. Gut, die schützen wir auch. Ebenso wie die Weinstöcke. Dass ich Direktor GisenHäpplich für den Naturschutz gewinnen konnte, war gar nicht so einfach. Bei ihm fällt an, was wir tickende Bomben nennen.« »Hört sich gefährlich an«, sagte Gaby und machte neugierige Augen. »So nennen wir bestimmte Tankwagen«, erklärte Dr. Knoth. »Sie sind randvoll mit gefährlichem Gift, ohne das in gewissen Chemie-Werken nichts geht. Vor Zeiten wurden diese Gifte einfach in der Umwelt abgeladen. Sie wurden verbuddelt oder in Flüsse, Teiche und Meere geleitet. Heute müssen wir das büßen.Viele Gewässer sind so tot wie ein Fass Jauche. Kein Fisch könnte darin überleben. Und wo man die Gifte vergraben hat, ist der Boden verseucht. So ergab sich die Frage: Wohin mit dem Gift? Gelöst ist das Problem noch 201
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lange nicht. Aber das Gift wird wenigstens nicht mehr in die Umwelt geleitet, sondern in Lagerstätten aufbewahrt oder – falls das möglich ist – vernichtet. Die Tankwagen, die tickenden Bomben, bringen es hin. Sie rollen durch unser Land.Wir begegnen ihnen, denken vielleicht, das seien Molkereiwagen mit Magermilchjogurt und ahnen nicht, wie gefährlich der Inhalt ist. Hin und wieder verunglückt ein Tankwagen. Wenn die Giftbrühe ausläuft, ist was los.« Er schnitt ein Gesicht, als hätte er den Weltuntergang schon drei Mal als Augenzeuge erlebt. »Diese flüssigen Gifte gefährden vor allem das Grundwasser«, meinte Karl. »Wenn das passiert, dann Gute Nacht. Dann können wir baden gehen. Vielmehr: Das können wir dann nicht!« Die Knoths nickten. Tarzan sah unauffällig zur Uhr. Wann kam Nicole Tepler zurück? Die Zeit wurde knapp. »Gisen-Häpplich«, sagte Gaby, »ist ein seltener Name. Vielleicht ist Emma Gisen-Häpplich mit Ihrem Chemie-Direktor verwandt, Herr Dr. Knoth.« »Du kennst die Seniorin?«, fragte der Zahnarzt erstaunt. »Sie ist seine Mutter.« »Letztes Jahr zu Weihnachten hat sie für unseren Schwimmklub 1000 Euro gestiftet. Damals habe ich das Rückenschwimmen über 200 Meter gewonnen. Sie werden es nicht glauben, aber die alte Dame gab mir wertvolle Tipps. In ihrer Jugend«, Gaby lachte, »so vor 100 Jahren etwa, war sie selber eine begeisterte Schwimmerin. Auch Rückenkraul. Jedenfalls habe ich dank ihrer Tipps meine Wende verbessert.« Auch Dr. Knoth lachte. »Über 100 ist die alte Dame bestimmt nicht. Als ich ihr das letzte Mal begegnete, war sie sehr munter. Zu munter.« »Am liebsten wäre sie mitgeschwommen«, nickte Gaby, 202
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»als wir die Klubmeisterschaft hatten. Einen der vorderen Plätze hätte ich ihr zugetraut.« Jetzt wurde es Zeit für Dr. Knoth. Porsche-Hubi rief ein Taxi. Dass ihm die Silberrakete gehörte, die unten vor dem Haus stand, durfte Dr. Knoth senior vorläufig nicht wissen. Mit Händeschütteln und freundlichen Worten verabschiedete er sich von der TKKG-Bande. Sein Sohn begleitete ihn hinunter.
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4. Die Folgen des Einbruchs Gaby räumte ab. Karl half freiwillig. Klößchen bedurfte einer Aufforderung. Tarzan sagte: »Gott sei Dank! Das ging wie geleckt. Vater und Sohn scheiden in Eintracht. Später findet hier ein Zimmerbrand statt und die Kunstwerke sind vernichtet. Asche! Zu Asche geworden. Das wäre eine Erklärung für ihren Verbleib.« »Oder ein Wasserrohrbruch«, rief Klößchen. »Bei der Überschwemmung wurden die Bilder hinweggeschwemmt und sind im Gully (Abfluss) verschwunden.« »Kriminelle Gedanken«, sagte Gaby. »Ich halt mich da raus, ihr Ganoven.« Tarzan hängte die Bilder ab, lehnte sie unter der Luke an die Wand und zog sich einen Stuhl heran. Porsche-Hubi kam keuchend durch die Eingangstür. »Pst! Pst!« Er ließ die Tür offen, reckte den Hals wie eine Giraffe und lauschte ins Treppenhaus hinunter. Im Nu standen die vier bei ihm. Unten fiel die Haustür zu. Das Geräusch war entfernt, aber deutlich zu hören. Schritte erklangen, flink-leichte von Damenschuhen und das schwere Tappen mehrerer Männerfüße. Zu dritt kamen sie herauf. Eine klägliche Frauenstimme sagte: »Wirklich! Ich sage es noch einmal. Es ist Verleumdung. Ich… habe mal altdeutsche Malerei restauriert (ausgebessert). Ansonsten male ich modern – so modern: Sie würden denken, eine Salatschnecke sei über die Leinwand gelatscht.« Es war der schwache Versuch, das Unheil mit einem Scherz abzuwenden. Aber keiner der Männer lachte. »Wir tun nur unsere Pflicht, Fräulein Tepler«, sagte einer. »Für den Durchsuchungsbefehl können wir nichts.« 204
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Klößchen öffnete den Mund. Tarzan legte sofort seine Hand auf den Eingang dieser Schokoladenhöhle, bevor sein dicker Freund eine Unüberlegtheit rauslassen konnte. Porsche-Hubi wich zurück, schob die Tür zu – bis auf einen Durchguck-Spalt – und war im Gesicht so weiß wie sein Gipsarm. »Zu spät!«, wisperte Tarzan. »Jetzt schaffen wir’s nicht mehr. Ich könnte die Bilder nur durch die Dachluke reinschmeißen. Aber was nützte das der Pinseltussi? Es wäre wie der letzte Nagel zu ihrem Sarg.« »Pst!«, zischte Porsche-Hubi, dem der reine Angstschweiß ausbrach. Gaby blitzte Tarzan mit ihren Blauaugen an.Wie konnte er sich so dickfellig äußern – wo doch eine Nachwuchs-Künstlerin am Rande des Abgrunds balancierte. Mehrere Augen spähten – übereinander – durch den Türspalt ins Treppenhaus. Sie kamen. Der ältere Kripo-Beamte war von den vielen Stufen völlig geschafft. Im Gesicht des jüngeren blühten die Pickel vor Verlegenheit. Die Dienstzeit hatte ihn noch nicht abgestumpft gegen weiblichen Liebreiz. Nicole Tepler hatte die Blässe einer Gefängnisinsassin. Das also ist sie, dachte Tarzan. Hm. Na ja! Hübsch, wer den Typ mag. Aber kein Vergleich zu Gaby. Wenn Hubi sich verknallt hat… ist das seine Sache. Das also ist sie, dachte Gaby, die ihren Kopf unter Tarzans Kinn geschoben hatte. Ganz hübsch. Aber mehr wie eine Bardame, nicht wie eine Malerin. Kann man überhaupt danach gehen? Picasso (spanischer Maler) sah auch mehr wie ein Hoteldirektor aus und Goethe wie sein Küchenchef.Aber ich glaube, ich kann die Farbklatscherin doch nicht so gut leiden – wie ich aufgrund ihrer Gemälde vermutet hätte. Die hat so was Geziertes im Getue – und viel zu hohe Absätze. 205
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Nicole Tepler schloss ihre Wohnung auf. Die drei traten ein. Dann war Stille im Treppenhaus. Sachte drückte Hubi die Tür zu. Klößchen klatschte die Hände zusammen, dass es wie ein Pistolenschuss klang. »Ihr… ihr kann ja überhaupt nichts passieren«, erklärte er aufgeregt. »Habt ihr daran schon gedacht? Die Beweise ihrer Fälscherei«, er dehnte die nächsten Worte wie einen Gartenschlauch, mit dem zwei Elefanten Tauziehen machen, »sind ja hier.« »Tatsächlich«, grinste Karl. »Also wirklich! Ich wäre nicht drauf gekommen. Gut, Willi, dass du’s uns sagst. Die Bilder sind hier, die gefälschten. Wir entlasten Nicole Tepler. Ohne das zu wollen. Man könnte auch sagen, wir sind Mitwisser. Also Komplizen. Es sei denn, wir gehen rüber und erklären den Zivil-Gendarmen, was Sache ist.« »Und wie sind wir an die Tafelbilder gekommen?«, fragte Tarzan. »Durch Einbruch? So lobenswert, wie wir vorhin schon erörterten, ist das auch wieder nicht. Lieber bin ich Mitwisser, solange nur wir das wissen.« »Sie braucht eine Chance«, murmelte Porsche-Hubi. »Wenn das jetzt gut geht, führe ich sie zurück auf den rechten Weg. Vielleicht bringe ich sie so weit, dass sie sich selbst anzeigt. Das macht immer einen hervorragenden Eindruck. Reue erweicht die steinernen Herzen der Richter.« Er wankte zum Tisch und goss sich einen Cognac ein. Wahrscheinlich brauchte er den für seinen Arm. Sie warteten. Niemand redete. Alle lauschten nach nebenan. Aber dort herrschte Ruhe. Die Kripo-Beamten durchsuchten das Atelier, ohne die Wände aufzustemmen oder in den Fußböden zu bohren. Ob sie was fanden – was Verdächtiges? Einen Beweis? Möchte wissen, wie man ihr auf die Spur gekommen ist!, dachte Tarzan. 206
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Klößchen aß den restlichen Kuchen auf. Karl hatte sich vor die Bilder gekniet und begutachtete sie aus der Nähe.Tatsächlich!, dachte er. In der Manier Cranachs, wie Hubi gesagt hat. Nachher muss ich meinen Freunden unbedingt Wissenswertes über die beiden bedeutenden Maler Cranach erzählen. Hubi macht ja den Mund nicht auf, obwohl er bestimmt säckeweise Bescheid weiß. Über Lucas Cranach, den Älteren, und Lucas Cranach, den Jüngeren. War ja eine ganze Familie, die den Pinsel schwang – im 16. Jahrhundert. Das wird ein Vortrag! Gaby saß neben Tarzan und lehnte den Kopf an seine Schulter. Die Ereignisse ermüdeten die hübsche 13-jährige für einen Moment. Tarzan rückte seine Schulter zurecht, damit seine Freundin es bequem hatte. Ihr Haar duftete nach – Natur, einfach himmlisch. Man müsste Gaby unter Naturschutz stellen, überlegte er, jedenfalls vollkommen schützen. Sodass sie weder gepflückt noch von ihrem Standort entfernt werden darf – wie Dr. Knoth sehr richtig sagte. Na ja, unter meinem Schutz steht sie sowieso. Darauf fahre ich noch ganz anders ab als auf Gemeine Küchenschelle, Gelben Eisenhut oder Einknolle. Die Minuten verstrichen, 18 insgesamt. Ohne einen zweiten Cognac hätte Hubi das nicht überstanden. Tarzan runzelte bereits die Stirn, missbilligend. Ein Judoka, der nicht trainierte, sollte wenigstens gesund leben. Diese Alkohol-Orgie war das Gegenteil. Hubi, bleib Vorbild! Nebenan ging die Wohnungstür. Augenblicklich waren die fünf auf Horchposten. »Tut uns leid, Fräulein Tepler!«, sagte der ältere KripoBeamte. »Und nichts für ungut. Auf Wiedersehen. Das heißt – lieber nicht.« Diesmal lachten alle drei. Nicoles Gekicher klang wie Erkältung. Wahrscheinlich schleiften ihre Nerven am Boden, 207
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und sie verstand die Welt nicht mehr – was die Tafelbilder betraf. Die Polizisten zogen ab. Hubi öffnete die Tür und horchte so lange, bis er sicher war, dass sie das Haus verlassen hatten. »Ich gehe jetzt hinüber«, verkündete er entschlossen. »Und… und erkläre alles.« »Rasch!«, gackerte Klößchen. »Bevor sie die Polizei anruft und den Diebstahl meldet.« »Hast schon bessere Witze gemacht, Willi«, sagte Knoth. Er warf einen Blick in den Spiegel – vermutlich um festzustellen, ob ihn der Gipsverband kleide. Aber Weiß war nicht seine Farbe. Zu seinem Osterfeuer-Haar hätte besser ein dunkles Blau gepasst oder das helle der Gemeinen Küchenschelle, die bekanntlich zu den Hahnenfußgewächsen gehört. Hubi trat auf den Flur und schloss die Wohnungstür hinter sich. Karl öffnete die Tür wieder. Sie hörten, wie er klingelte. Drüben wurde ihm aufgetan. Ich wette, ein Tränenschleier verhängt jetzt ihre violetten Augen, dachte Tarzan. Sie ist verstört wie ein Reh, das sich im dunklen Wald fürchtet. »Ist gut gegangen, wie?«, sagte Dr. Knoth junior durch enge Zähne. »Was… Sie, Herr Doktor? Oh! Was… meinen… Sie?« »Darf ich Sie für einen Moment zu mir rüberbitten«, krächzte er. Karl riss die Tür weit auf. Hubi erschien. Er lächelte grimassenhaft. Pustekuchen!, dachte Tarzan. Kein Tränenschleier. Sie ist schon wieder obenauf und voller Misstrauen. Nicole Tepler blieb stehen. Ihre Veilchenaugen blinzelten. Ihr Blick strich über die TKKG-Bande. Im honigfarbenen 208
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Haar steckten vier Schmuckkämmchen. Eins war verrutscht. Sie trug ein Spätsommerkleid mit Erntefarben und wirkte groß – wegen der enormen Absätze. »Das sind meine Schüler«, sagte Hubi. »Ich bin ihnen freundschaftlich verbunden. Sie wissen alles. Aber, bitte, treten Sie doch ein, Fräulein Tepler.Auf einen Kaffee.Auf einen Cognac. Kuchen ist auch noch da.« Letzteres entsprach nicht der Wahrheit. Klößchen hatte die Reste vertilgt, aber deshalb kein schlechtes Gewissen. »Hallo!«, sagte Nicole Tepler und zwang sich zu einem Lächeln. Sie schritt über die Schwelle. Mitten im Atelier blieb sie stehen. Ihr Blick klebte an den Tafelbildern, den gefälschten. »Und Sie können nicht mal die Polizei verständigen«, lächelte Hubi, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Aber keine Sorge. Sie kriegen die Bilder zurück. Oder nein! Ich kaufe sie. Allerdings – bezahlen muss ich in Raten. Es sei denn, Sie überlassen sie mir zum Freundschaftspreis.« »Sie werden mich nicht anzeigen?« Vorsichtig nahm er ihre Hand, beugte sich über die schlanken Finger und küsste sie. »Ich verehre die Künstlerin – und die Frau.« Sie lächelte knapp und entzog ihm die Hand. Klößchen, hinter Hubi verborgen, übte Handküsse, indem er wie wild auf nicht vorhandene Finger küsste. Man konnte auch meinen, er verschlinge eine Portion Kalbsbraten. »Ich verstehe nicht«, flüsterte Nicole. »Wie… sind Sie in meine Wohnung gekommen? Ich habe doch ein Sicherheitsschloss.« »Aber nicht an der Dachluke«, sagte Tarzan. »Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass sie noch ein bisschen geöffnet war? Leider musste ich die Gummipolsterung anbohren. Aber deshalb regnet es nicht rein. Sind nur ganz kleine Löcher.« Jetzt wackelten ihr doch die Knie. Sie setzte sich rasch. 209
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Hubi nahm die Gelegenheit, um die TKKG-Freunde namentlich vorzustellen. Als Klößchen an der Reihe war, sagte er: »Freut mich sehr, eine so bedeutende Kunstgewerblerin kennenzulernen. Wenn ich malen könnte wie Sie, würde ich nicht in der Art der Kraniche fälschen, sondern mir selbst was ausdenken, statt abzupausen. Malen Sie doch in der Manier von Nicole Tepler.« Nilpferdzart, wie immer, hatte er das Thema aufs Tablett gehoben. Einstimmiges Schweigen folgte. Nicole zerrte an ihren Fingern. Dann richtete sie die Veilchenaugen auf Hubi. »Ja, ich fälsche Bilder. Gerade Ihnen bin ich aus dem Weg gegangen, Herr Doktor. Ich befürchtete, Sie würden mich auf meine Arbeit ansprechen.« »Jetzt sprechen wir Sie an«, sagte Gaby. »Was Sie tun, ist Betrug.« »Ich… ich wollte schon lange damit aufhören. Aber… ich brauchte das Geld. Viel bekomme ich nicht dafür. Nur… Außerdem gebe ich zu, dass es mir Spaß gemacht hat, die alten Meister zu kopieren (nachbilden). Doch nun ist Schluss damit. Das verspreche ich euch.« Gaby öffnete schon die Lippen zur Erwiderung, aber Knoth kam ihr zuvor. »Lassen Sie mich zunächst mal erklären, weshalb wir bei Ihnen eingebrochen sind.« Er tat’s, ohne seine Rolle zu beschönigen, löste auch keine Heiterkeit aus und fuhr fort: »So sind wir Ihnen zufällig auf die Schliche gekommen.Wir haben beschlossen, Sie nicht anzuzeigen. Das sollen Sie selbst tun. Selbstanzeige beinhaltet Reue. Damit sind Sie schon halb aus dem Schneider. Außerdem halten wir Sie nur für das missbrauchte Werkzeug des eigentlichen Missetäters. Sie haben doch bestimmt einen Auftraggeber. Er ist der Schuldige.« Tarzan beobachtete die junge Frau. 210
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Sie klapperte ein bisschen mit den Zähnen und bewegte heftig die Zehen. Ihr gelangen schüchterne Augenaufschläge und ihre Miene war wie das Unglück persönlich. Aber ihre Augen blieben eissalat-kühl. Wahrscheinlich suchte sie nach einem Ausweg, spürte aber, dass sie die fünf nicht eintüten konnte. »Ja«, hauchte sie. »Er hat mich dazu gedrängt. Es ist…« Sie zögerte. »Aber wenn ich das sage…« »Sie müssen es sagen«, stieß Knoth nach. »Es ist mein Chef. Franz-Anton Kläcksl von der Galerie K. Er… er… findet immer wieder Dumme, denen er die Fälschungen andreht. Ich meine, so viele habe ich noch nicht…aber… einige – wenige – sind’s.« »Kläcksl?«, erkundigte sich Klößchen. »Malt der auch?« »Nein. Er ist Geschäftsmann. Absolut unkünstlerisch. Er«, sie schluchzte, »verdient klotzig an meiner Arbeit, der Saukerl! Aber er gibt mir nur wenig.« »Dann sind Sie auch etwas weniger schuldig«, schaltete Karl sich ein. »Soweit ich die rechtliche Seite beurteilen kann, wird man Sie nicht ins Gefängnis stecken.Aber mit der Selbstanzeige sollten Sie nicht bis Weihnachten warten, sondern lieber gleich das Hasenherz in beide Künstlerhände nehmen. Gabys Vater ist Kripo-Kommissar, nämlich der bekannte Emil Glockner. Wenn Sie sich ihm anvertrauen, können Sie mit Verständnis rechnen.« »Gute Idee, Karl!«, lobte Knoth – und ließ keinen Blick von Nicole. Er schmachtete sie an, was sie natürlich bemerkte und mit zartem Lächeln vergalt. »Ihr habt recht«, gestand sie ein. »Nur… da wäre noch… Also, ich glaube, die Anständigkeit verlangt es, dass ich Kläcksl über meine Absicht verständige.« Kläcksl, den Saukerl!, dachte Tarzan. Eben hat sie ihn noch Saukerl genannt. Jetzt ist er ihr eine Geste der Fairness wert. Was soll das? 211
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»Finde ich gut«, nickte Knoth. »Sagen Sie’s ihm.Wollen Sie anrufen?« »Das wäre einfach. Aber sieht wie kneifen aus. Nein, ich scheue mich nicht, ihm gegenüberzutreten. Obwohl… Er ist manchmal sehr unbeherrscht. Und jetzt geht es ihm an den Kragen. Ich habe Angst. Ich hätte keine Angst, wenn ihr alle mich begleitet. Ist das zu viel verlangt?« »Nein, aber nein«, rief Porsche-Hubi. »Gern. Wenn wir mit meinem Wagen fahren… nein, zu eng! Außerdem – ist die Galerie K. nicht ganz in der Nähe?« »Keine drei Minuten«, strahlte sie. »Kommt ihr mit?«, fragte Knoth die TKKG-Bande. »So eine Frage!«, meinte Gaby. Tarzan nickte wie die andern, aber er wunderte sich. In Nicoles Veilchen-Pupillen lag ein lauernder Ausdruck. Als schätze sie ab. Was hatte sie vor? Worauf hoffte sie? Überleben werden wir’s bestimmt, dachte er.Wegen so ein bisschen Betrug wird kein Gauner erwägen, fünf Zeugen zu beseitigen. Außerdem bin ich ja dabei und Gaby steht unter meinem Schutz. Wohl denn!
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5. Bestechungsversuch Auf hohen Giebeln und Dächern über der Sperlings-Gasse saßen Tauben. Sie gurrten, und die Nachmittagssonne, deren Strahlen schon recht schräg fielen, beglänzte ihr Gefieder. Zwischen den Häusern lagen Schatten. Hier war wenig Betrieb. Hausfrauen aus dem Viertel kauften in Tante-EmmaLäden ein, schwatzten ein bisschen oder führten ihren Waldi Gassi. Porsche-Hubi und Nicole gingen voran, er als verletzter Judoka, sie in Trippelschritten, als müsse sie zwischen den Knien eine Zeitung festhalten. Sicherlich hat sie Muffengang, dachte Tarzan, ergo (folglich) auch Bauchschmerzen. Ihre Schuld. Warum fälscht sie für diesen Kläcksl! Geldnot ist keine Entschuldigung. Er schritt hinter den beiden. Den Arm hatte er Pfote um die Schultern gelegt. Sie fröstelte etwas. Sein Arm wärmte, und jetzt stimmte auch der Gleichschritt, denn den anfänglichen Ungleichschritt hatte er mit einem Zwischenhupfer ausgeglichen. Klößchen und Karl bildeten das doppelte Schlusslicht. Als der kurze Weg zur Galerie K. an einem Süßwarenladen vorbeiführte, empfahl sich Klößchen für einen Einkauf auf die Schnelle. Als er die Gruppe wieder einholte, ragten SchokoTafeln aus beiden Gesäßtaschen. Außerdem kaute er. Karl überlegte, ob dies der richtige Moment sei, über die beiden Cranachs zu referieren (berichten). Ehe er die Gedanken sammeln konnte, war die Sechsergruppe dem Ziel auf Tuchfühlung nahe. Man stand nämlich vor einem modernen Geschäftshaus am Rande des Viertels. Hier brodelten die Abgase. Der Verkehrsstrom floss wie Hochwasser und in die Kneipen ringsum fielen die Feierabend-Typen wie Heuschrecken ein. Die Büros hatten gerade geschlossen und nicht jeder strebte gleich heimwärts zu Tisch und TV. 213
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Das Geschäftshaus war schmal. Im Parterre beherbergte es einen Laden für Orientteppiche. Eine Messingtafel mit geknicktem Pfeil verwies auf die GALERIE K – Gemälde, Spiegel, Schmuck. Sie befand sich im ersten Stock. Die Treppe am Ende der Laden-Passage führte hinauf. Nicole ging voran, mit Porsche-Hubi knapp auf den Fersen. »Was wir jetzt wohl erleben«, flüsterte Gaby. »Kläcksl wird entlarvt. Aber ihr ist es peinlich.« Nicole wartete vor einer gläsernen Eingangstür, die frische Goldbuchstaben trug und einen Blick in die Galerie gestattete, wo die Wände voll gehängt waren mit Spiegeln in kostbaren Rahmen und – mindestens zwei Dutzend Tafelbildern in der Manier Cranachs. »Sind die alle von Ihnen, Nicole?«, fragte Hubi offnen Mundes. »Die? Eh…ja. Aber… Also ich hatte mal eine Schaffensperiode, wo es mir einfach so aus der Hand lief. Habe die Kopien runtergebrettert, dass Kläcksl nur staunen konnte. Wie ich sehe, hat er wenig verkauft.« »In Ihrer Schaffensperiode haben Sie wohl geschuftet für zehn«, meinte Tarzan. Nicole fand die Bemerkung nicht nett, wie man von ihrer Miene ablesen konnte, verkniff sich aber die Erwiderung, stieß vielmehr die Tür auf und trat ein. Aus dem Nebenraum eilte Kläcksl heran. Er musste es sein. Tarzan hatte das Gespür. Auch der Blick, mit dem der Galerist (Kunsthändler) seine Fälscherin bedachte, verriet einiges. Zum Beispiel die stumme Frage: Bringst du Kunden? Oder was ist los? »Das ist Herr Franz-Anton Kläcksl«, erklärte Nicole mit blecherner Stimme. Damit war für ihren Chef alles klar. Grinsend verbeugte er sich vor Dr. Knoth. 214
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»Ich freue mich, mein Herr, dass Sie zu mir gefunden haben. Sicherlich auf Empfehlung. Ja, Fräulein Tepler ist Expertin (Fachmann).« Der Studienreferendar legte Eis in seine Miene. Aber bevor er den Mund öffnen konnte, redete Nicole. »Es… verhält sich anders. Wir sind aufgeflogen. Dr. Knoth und seine jungen Freunde wissen, dass ich… eh… die alten Meister fälsche. Sie waren in meiner Wohnung und… Noch schlimmer ist, dass mich einer Ihrer Konkurrenten angezeigt hat, Herr Kläcksl. Jedenfalls war zuvor die Kripo bei mir und hat mein Atelier durchsucht. Gefunden wurde dabei allerdings nichts. Dass Sie mein Auftraggeber sind, konnte ich Dr. Knoth nicht verschweigen.Aber ich habe auch betont, dass Sie mit… eh… dieser Methode echte Kunst einem großen Interessentenkreis zugänglich machen. Und… eh… sehr großzügig…« Sie sprach nicht zu Ende, seufzte stattdessen und nestelte an einem ihrer Haarkämmchen. Der Veilchenblick beschwor Kläcksl, jetzt das Richtige zu tun. Er tat’s. Er hatte verstanden. Der Schreck warf ihn nicht um. Nur das schmierige Grinsen verlor etwas an Ausdruck. Großzügig…!, dachte Tarzan. Damit hat sie das Stichwort gegeben. Das ist es. Jetzt wird sich erweisen, was sie die ganze Zeit im Schilde führte. Großzügig soll er sich zeigen, dieser Betrüger. Das heißt: uns bestechen. Kläcksl war klein und fett, aber flink auf den Beinen. Aus seinem Maßanzug stieg Toilettenwasserduft. Die Haare gingen ihm aus und in dem feisten Gesicht klebte das Grinsen. Es bedeutete nichts, denn die Augen blieben unbeteiligt wie die Vertiefungen einer Doppelsteckdose. Er war ein Geschäftemacher, den kein Betrug schreckte. Hauptsache, die Kasse stimmte. Seltsam!, dachte Tarzan, wie diese Typen sich gleichen. Sie sehen unterschiedlich aus. Aber alle verbreiten den gleichen Geruch: den der Geldgier – und sonst nichts. 215
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»Sie gestatten, bitte!« Kläcksl trat zur Tür und schloss von innen ab. Mit verstärktem Grinsen wandte er sich um. Sogar die Hände rieb er sich, als hätte Nicole eine Freudenbotschaft verkündet. »Machen wir es kurz, Dr. Knoth. Sie vermitteln nicht den Eindruck, als wären Sie auf Rosen gebettet. Ihr Schweigen soll mir was wert sein. Nennen Sie Ihren Preis. Und was diese Halbstarken betrifft, da ist ein Zuschuss zum Taschengeld immer willkommen. Nicht wahr?« Er grinste Karl an, der ihm am Nächsten stand. Karl sagte: »Soll ich Ihnen aufs linke Auge spucken, aufs rechte – oder mitten ins Gesicht?« »Ich sammle schon Spucke«, fiel Klößchen vollmundig ein. »Meine ist braun. Ein schokoladiges Fälscherbraun. Dann sehen Sie aus wie bekleckst, Herr Kläcksl.« Der Galerist wich zurück. Und Nicole beeilte sich mit den Worten: »Herr Kläcksl! Wie können Sie! Das klingt ja wie ein Bestechungsversuch. So nicht! Wir waren auf dem falschen Weg, Sie und ich. Aber ich bin jetzt umgekehrt. Ich stelle mich der Polizei und hoffe auf Nachsicht. Dass ich Sie mit hineinziehen muss, tut mir leid.« Zum Abschießen, diese Honigblondine!, dachte Tarzan. Sie hat gehofft, dass wir umkippen und uns in Geldscheine einwickeln lassen. Aber äußerlich steht sie auf Reue, weil sie in die Enge getrieben ist. Hubi merkt’s nicht. Der ist hingerissen. Und Verliebtheit macht blind.Aber nicht jeden. Ich jedenfalls sehe Gaby absolut deutlich. Weniger deutlich sah Kläcksl seine Lage. »Schnauze, Nicole!«, blaffte er. »Schön dämlich von dir, dich so erwischen zu lassen. Aber das ist jetzt meine Sache. Heh, Sie, Dr. Knoth! 5000 auf die Hand. Alles klar?« »Machen Sie sich nicht lächerlich«, sagte Hubi. Der Galerist missverstand das. »Na, gut. 7000. Und die Wänster kriegen…« 216
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»Jetzt spucke ich ihn an«, zischte Klößchen, der nur noch durch eine Pfifföffnung in den Lippen sprechen konnte – sonst wäre ihm die Spucke ausgelaufen. Tarzan hielt ihn zurück. »Zu viel Mühe. Fräulein Tepler, ich sehe da ein Telefon. Gaby wird ihren Vater anrufen. Dann erstatten Sie Ihre Selbstanzeige. Längstens in zehn Minuten ist Kommissar Glockner hier. In der Zwischenzeit kann uns Herr Kläcksl seine Kunstwerke zeigen. Ob das wirklich Spiegel sind? Oder ist das nur versilbertes Glas?« In diesem Moment verlor Kläcksl die Fassung. Sein Gesicht lief tomatenrot an. Mit einem Wutschrei stürzte er sich auf Nicole, um sie an den Haaren zu reißen. Hubi sprang dazwischen. Mit einem Arm fegte er den Dicken zu Boden. Aber Kläcksl rollte über seinen Bauch wie über einen Medizinball, schnellte hoch und sprang hin zur Wand. In rasender Eile begann er, die gefälschten Tafelbilder herunterzureißen. Er war bei Nr. drei, als Tarzan Hand an ihn legte, ihn mit einem Armhebelgriff auf die Knie zwang. »Da bleiben Sie! Und keine Bewegung! Das fehlte noch! Die Beweise einsammeln und durch die Hintertür ’ne Mücke machen. Gaby! Treib mal Fräulein Tepler ans Telefon, damit sie sich endlich der Gerechtigkeit stellt – wo’s doch mit der Bestechung nicht geklappt hat.« Nicole Tepler verstand die Anspielung. Ein RasiermesserBlick traf Tarzan, bevor sie mit Gaby zum Telefon trat. Kläcksl schwitzte. Während Gaby telefonierte, zischelte er: »Lass mich los, Junge! 8000 in bar, wenn ich durch die Hintertür rauskann.« Drohend trat Klößchen näher – mit aufgepumpten Wangen. Er hatte mitgehört und wusste nicht mehr, wohin mit seiner Schokoladenspucke. »Schluck runter!«, meinte Tarzan. »Oder spuck ins Klo, bevor dir die Schokoladensoße aus den Ohren quillt.« 217
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Kommissar Glockner kam nach knapp acht Minuten. Er war immer sehr schnell, aber wenn seine einzige Tochter um Hilfe ersuchte, wurde er zur Rakete. Die TKKG-Jungs schätzten ihn als ihren – besten – väterlichen Freund. Seine hochgewachsene Gestalt füllte den Rahmen der Glastür, als er die Galerie K betrat, gefolgt von zwei Assistenten. Was sich dann abspielte, war kriminalistische Routine. Die Galerie wurde durchsucht. Dr. Knoth half. Als Sachverständiger für Kunst stellte er fest – mit Bestürzung: Nahezu jedes Stück, das hier angeboten wurde als echt und kostbar, war gefälscht. Nicoles Anteil, zum Glück, beschränkte sich auf die Tafelbilder. Aber Kläcksl erwies sich als gigantischer Betrüger. Er wurde festgenommen. Nicole nicht. Immerhin musste sie mit zum Präsidium. Aber nach Aufnahme des Protokolls würde man sie wieder in die Freiheit entlassen – versprach Emil Glockner dem besorgten Studienreferendar, der schon die Überlegung ins Auge fasste, für die schöne Nicole einen Anwalt zu besorgen. »Sie ist das kleinste Licht in der Sache«, wurde er von Glockner beruhigt. »Nicht nötig also, dass Sie sich deshalb bemühen. Sie muss natürlich irgendwann vor Gericht. Aber das wird glimpflich ausgehen für sie.« Karl, der zuhörte, nickte zufrieden, hatte er doch die Rechtslage richtig eingeschätzt, vorhin. Gaby verabschiedete ihren Papi mit einem Kuss auf die Wange. Die Galerie wurde geschlossen. Die Kripo-Beamten nahmen Kläcksl mit, der jetzt wie Braunbier und Spucke aussah. Nicole Tepler wackelte hinterher und versuchte, den Eindruck zu erwecken, sie gehöre zu den Beamten und nicht zu den Ertappten. Die TKKG-Freunde sahen dem Polizeiwagen nach, als er sich vom Bordstein löste. Hubi seufzte, weil er Nicole jetzt entbehrte. 218
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»Nie wieder sammle ich so viel Spucke«, sagte Klößchen. »Komme mir vor wie überschwemmt.« »Weil’s Kakao ist«, sagte Karl. »Hoffentlich geht für Fräulein Tepler alles gut aus«, meinte Hubi. »Um mal ehrlich zu sein«, sagte Tarzan: »So berauschend finde ich sie nicht. Ich glaube, sie hat es faustdick hinter den Öhrchen.« »Sie ist ein bezauberndes Geschöpf – einschließlich der Ohren.« Total blind, dachte Tarzan. Blind und nur einen gebrauchsfähigen Arm. Hoffentlich geht das gut! Sie marschierten zur Sperlings-Gasse zurück. Unterwegs sagte Porsche-Hubi: »Was man von anderen fordert, muss man auch selbst tun. Dazu bin ich jetzt bereit. Fräulein Tepler hat die Wahrheit bekannt, hat aufrichtig bereut und sich durch Selbstanzeige der Polizei gestellt. Wie könnte ich da länger an meiner Lüge festhalten. Ihr habt meinen Vater kennengelernt, Kids. Es war übel, ihn so hinters Licht zu führen. So schlecht ist sein Blutdruck nun auch wieder nicht. Und selbst ein älterer Herr muss begreifen, dass sein eigen Fleisch und Blut nicht nur das Pralle darstellt. Im Gegenteil! Dr. Hubert Knoth, der ich bin, ist auch nur ein Mensch – und kann allem widerstehen, aber nicht der Versuchung. Mein Porsche war die Versuchung. Ich bin gestrauchelt. Dazu stehe ich, verdammt noch mal! Jetzt bin ich so weit, jawohl. Nachher rufe ich meinen Vater an – und gestehe ihm alles.« »Nur nichts überstürzen«, sagte Karl. »Ich meine, bringen Sie’s ihm schonend bei. Vielleicht lacht er, wenn er hört, was sich daraus ergeben hat – aus dem verzweifelten Vorhaben, Ihre Atelier-Wohnung mit Kunstwerken auszustatten. Ein Gauner ist aufgeflogen und die Fälscherin Ihnen… äh… na ja, das werden Sie ihm erklären.« 219
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»Werde ich!«, nickte Hubi. »Und euch danke ich. Ihr wart großartig, wie immer.« Sie waren angelangt vor seiner Adresse. Niemand hatte die Drahtesel angerührt, niemand den Porsche bespuckt. Man verabschiedete sich. Für Tarzan und Klößchen wurde es höchste Zeit, zur Internatsschule zurückzuradeln. »Sonst verpassen wir auch noch das Abendessen«, meinte Klößchen – mit einer Miene, als handele es sich um das Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft. »Ich muss noch zu Karstadt und für Oskar Hundekuchen holen«, sagte Gaby. »Ist dort am preiswertesten. Bei einer 10-Kilo-Packung lohnt sich der Umweg. Mein Schlappohr frisst nämlich zurzeit wieder wie eine siebenköpfige Raupe.« »Könnte mir nicht passieren«, lachte Klößchen, »weil ich auf Hundekuchen nicht stehe.« Hubi war im Haus verschwunden. Karl deutete Aufbruch an, indem er sich aufs Rad schwang. Klößchen öffnete eine Tafel Schokolade. Auf die stand er. Und Stärkung für den Rückweg war nötig. »Dann bis morgen.« Zärtlich legte Tarzan einen Arm um seine Freundin. Karl und Klößchen guckten weg, als er sie rasch auf den Mundwinkel küsste. Sie pustete gegen ihre Ponyfransen und stupste ihre Nase an seine. Die Sonne stand tief. Eine frühe Dämmerung breitete sich über die Stadt. Es war unsagbar schwer, sich voneinander zu trennen. Jedenfalls für Gaby und Tarzan. Aber der nächste Tag kam bestimmt und darauf freuten sich beide.
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6. Nur Champagner und Rosen Kommissar Glockner hielt Wort. Es dauerte wirklich nicht lange – im Polizei-Präsidium. Nicole wiederholte ihre Aussage, belastete Kläcksl, unterschrieb das Protokoll, gelobte Reue und Besserung sowieso – was sie aber nicht unterschrieb, und konnte absocken. Sie winkte sich ein Taxi und nannte die Adresse ihrer Mutter als Ziel. Magda Tepler wohnte in einem der Vororte, wo allabendlich Laternenparker die Straßen verengten. In einer Pflasterstein-Straße klebten Reihenhäuser aneinander: auf einer Seite zu neunt, auf der anderen zu zwölft. In der NeunerReihe bewohnte Magda das Eckhaus. Es gab schlechtere Adressen, zum Beispiel die Abbruchhäuser oder die Baracken beim Müllplatz. Nicole entlohnte den Fahrer, gab ihm auch ein klitzekleines Trinkgeld und stöckelte dann zum Haus. Nach dem zweiten Klingeln öffnete sich die Tür. Mutter!, wollte Nicole rufen und eben jener um den Hals fallen, aber ihre Gefühlsaufwallung fiel auf den Rücken wie ein vom Baum geschüttelter Maikäfer. »Hallo, Tochter!«, grinste Ottmar Lohmann. »An dich habe ich gar nicht mehr gedacht«, erwiderte sie. »Man braucht einen engen Kamm, um sich die Laus aus dem Pelz zu kämmen, wie?« »Wenn ich dein Vater wäre, würde ich dich jetzt an den Ohren ziehen. Komm doch rein. Es ist gemütlich bei Magda.« Die ältere der beiden Teplers saß im Wohnraum und leckte soeben ein Likörglas aus. Auf dem Tisch stand ein zweites Glas. Sie feiern das Wiedersehen, dachte Nicole. Alte Liebe rostet nicht. »Mutter!«, rief sie – und fiel eben jener um den Hals. 221
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Eierlikör!, stellte sie dabei am Geruch fest und fuhr fort: »Du ahnst nicht, woher ich jetzt komme.« »Jedenfalls nicht von der Polizei«, lachte Magda Tepler. »Dort habe ich angerufen. Habe gesagt, meine Tochter wäre – irrtümlicherweise – aus dem Geschäft abgeholt worden. Ein gewisser Kommissar Dolp, mit dem ich verbunden wurde, erklärte mir dann, alles wäre tatsächlich ein Irrtum gewesen. Oder eine neidvolle Verleumdung seitens der Konkurrenz. Kläcksl-Konkurrenz. Jedenfalls hätte man sich von deiner Lauterkeit überzeugt und…« »Alles Kokolores!«, fiel Nicole ihr in den Eierlikör-Wortschwall. »Ich komme eben von der Polente. Kläcksl sitzt hinter Gittern und mir haben nur meine unschuldigen Blauaugen geholfen. Ach, Gottchen! Meine Tasche liegt ja noch im Geschäft.« »Bei euch mischen zu viele Bullen mit«, nörgelte Lohmann. »Habt ihr keinen besseren Umgang?« »Was will dieser Alt-Ganove?«, fragte Nicole. »Hat er dich überfallen?« Magda lachte wieder. Sie hatte schon mehrere Gläser ausgeleckt. Lohmann hielt sich mehr an die teure HimbeergeistFlasche. Teuer war wirklich nur die Flasche, der Inhalt nämlich umgefüllt aus einer anderen – billigen. »Es ist noch wie früher«, stellte Magda fest. »Nur nicht so frisch. Aber er meint, ich hätte mich überhaupt nicht verändert. Na ja, ein bisschen schon, Ottmar. Die Jahre vergehen und man wird nicht jünger. Aber man muss auch nicht so abwracken wie du. Solltest mal eine Vitamin-Kur machen.« Lohmann schenkte sich einen Schnaps ein und grinste. Unglaubliche Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter, dachte er. Nur dass Magda schon 20 Jahre länger die Schadstoffe der Umwelt erträgt. Aber ein Gesicht. Und dieselbe Kleidergröße. 222
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»Also?«, fragte Magda ihre Tochter. »Haben dich die Bullen doch noch mal belästigt?« »Da ist ein irrer Streifen gelaufen«, nickte Nicole und erzählte. Als sie fertig war, wischte Lohmann durch die Luft. »Hast Schwein gehabt. In der Sache kommt nicht viel nach. Aber mit der Fälscherei ist erst mal Schluss. Es beeindruckt mich enorm, dass du so schön zeichnest. Aber, zum Kiff-Kaiser!, Gemälde lohnen doch nicht. Hättest du Banknoten gefälscht…« »…säße ich jetzt im Knast«, unterbrach ihn Nicole. »Außerdem fühle ich mich als Künstlerin. Ich bin eine. Mir fehlt nur der große Durchbruch.« »Vielleicht kommt er, wenn du im Winter aufs Eis gehst«, witzelte Lohmann. »Ich bin mehr für Handfestes.« »Seit er hier hockt«, sagte Magda, »versuche ich, aus ihm rauszukitzeln, was er vorhat. Wie hat er gedröhnt bei dir, Nicole? Dass du bald noch mehr Kies kriegst. Dass die Nachzahlungen anrollen. Nun, Ottmar!«, wandte sie sich – mit nur geringfügigem Schielblick – an ihn. »Lass mal den Kater aus dem Schlafsack! Wo hängen die Mäuse? Wo willst du pflücken?« »Dabei wollt ihr mir helfen, wie?«, grinste er. »Ich sagte ja«, erklärte Nicole, »dass wir gute Verbindungen haben. Vielleicht ist in der Richtung was drin.« Lohmann stierte hinüber zum Fernsehapparat, der sich zurzeit ausruhen durfte und ziemlich hässlich aussah. Ein altes Modell. Womöglich nur mit Schwarz-Weiß-Programm. Eine dicke Staubschicht bedeckte ihn. Was Reinlichkeit betraf, hatte Magda nicht viel Ehrgeiz. Sie trank lieber Eierlikör. Die beiden sind echt, dachte Lohmann. Außerdem habe ich schon zu viel rausgelassen. Muss ich ihnen also auch den Rest auf die Näschen binden. Aber ohne Namen, versteht sich. 223
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»Mit einem Wort«, röhrte er, »ist das nicht erklärt. Ich versuch’s mit wenigen. Gibt es da also eine Chemie-Firma, die ’ne Brühe verarbeitet, in die ich nicht mal spucken würde. Reines Gift, sozusagen. Einen Schluck und du siehst die Radieschen von unten. Schüttest du die Brühe auf freies Feld, kannst du das Feld vergessen. Und die Brühe sickert tiefer und tiefer – bis runter ins Grundwasser. Das schmeckt dann wie Jauche und ist noch viel schädlicher. Klar?« »So was gibt’s«, nickte Magda. »Davon liest man jeden Tag in der Zeitung. Es kommt sogar als saurer Regen runter.« »Hm.« Lohmann war nicht ganz ihrer Meinung. Aber das war jetzt ohne Belang. »Was die Giftbrühe betrifft, ist mein Plan allererste Wahl. Also: Das Zeug wird im Tankwagen vom Werk weit, weit weggebracht – zur Giftmüll-Beseitigung. Oder so ähnlich.Vielleicht auch nur in eine Gegend, wo keiner zuguckt, wenn sie’s auskippen. Jedenfalls: Das Zeug ist im Tankwagen unterwegs.« »Davon habe ich gelesen«, meinte Magda. »Steht oft in der Zeitung.« Zeitung liest sie offenbar regelmäßig, dachte Lohmann – und fuhr fort: »Ich reiße mir einen der Tankwagen, einen besonders giftigen, unter den Nagel. Versteht ihr? Er wird entführt. Gekidnappt. Den Wagen verstecke ich. Ich weiß auch schon, wo. Dann setze ich das Chemie-Werk unter Druck, ’ne halbe Million – oder die Brühe fließt aus.« Beifall heischend sah er die beiden an. »Das Gift ist doch Abfall?«, vergewisserte sich Nicole. Er nickte. »Warum sollten die dir dann so viel Geld für den Dreck geben?« »Nicht für das Gift, Nicole! Sondern für die Folgen. Ich drohe damit, das Grundwasser zu vergiften, außerdem die Obst- und Gemüse-Plantagen, die Schrebergärten, die Sandböden der Kinderspielplätze, den Rasen der Sportstadien – 224
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und was weiß ich. Nach einem begrenzten Atomkrieg – begrenzt auf diese schöne Stadt und zwei, drei umliegende Landkreise – wäre die Katastrophe nicht größer. Kapiert? Damit drohe ich, auch wenn’s ein bisschen übertrieben ist. Die Presse wird das Ende Westeuropas daraus machen und die Chemie-Werk-Verantwortlichen haben die Hosen voll. Jede Wette!« »Wieso haben sie die Hosen voll?«, forschte Magda. »Weil sie als Giftproduzenten sowieso von allen Seiten angeschossen werden und enorm unbeliebt sind. Egal was sie herstellen – Gift ist im Spiel. Da braucht es sich gar nicht um Lebensmittelkonserven zu handeln oder um Arzneien – wer mit Gift rumtut, ist der Teufel persönlich. Weil er das weiß, hat er Schiss. Er wird sonst was machen, um Aufsehen zu vermeiden – befürchtet er doch, dass man ihm als Naturvernichter und Umweltschänder sonst gänzlich den Hahn abdreht. Nicht den Gas-, sondern den Geldhahn und die staatlichen Zuschüsse, die ja bevorzugt in solche Betriebe fließen. Das heißt also: Nur zu gern werden mir die Verantwortlichen die halbe Million überreichen.« Magda drehte ihr Glas zwischen den Fingern. »Ich glaube, deine Rechnung geht auf.« Auf Nicoles Wangen pinselte die Begeisterung Flammen. »Garantiert! Aber warum denn so billig? Warum nur 500000? Warum nicht eine Million?« »Das wäre ja unverschämt«, meinte Lohmann – und verschwieg geflissentlich, dass er selbstverständlich eine Million verlangen – und bestimmt auch erhalten werde. Doch da die beiden Damen auf Beteiligung hinarbeiteten, wollte er den wahren Gewinn verschleiern. Sind doch die Anteile von einer halben Million kleiner als von einer Million. »Das sind Einzelheiten, über die wir noch sülzen können«, meinte Magda. »Mich interessiert jetzt vor allem, welches Chemie-Werk du meinst, Ottmar?« 225
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Er grinste wie die Gerissenheit persönlich. »Sage ich nicht.« »Hast du das gehört, Nicole? Er hat kein Vertrauen zu uns.« Sie blinzelte ihrer Tochter zu. Die sah Lohmann an, als täte er ihr leid. »Ein Geheimniskrämer, aha!« »Ihr kriegt ja was ab«, meinte er maulig. »Aber die Sache ist meine Sache.« Jetzt blinzelte Nicole ihrer Mutter zu. »Wollen wir mal quizzen (raten), dass ihm die Resthaare steil stehen?« »Ich fange an«, feixte Magda. »Aber erst schenken wir uns noch einen Willkommenstrunk ein.« Nicole verzichtete. Ihr Magen säuerte, litt nämlich noch an den Aufregungen des Nachmittags – aber nur der Magen. Ihr wetterhartes Gewissen hätte ganz andere Fehlschläge verdaut. »Also«, sagte Magda, »da ich die Gegend hier kenne, von Kindestagen an, tippe ich auf ein bestimmtes Chemie-Werk. Was, Ottmar, hältst du von der Nosiop-Chemie AG?« Lohmann weitete die Augen, als sehe er einen Grauen Star auf sich zukommen. »Häh? Wieso?« »Also richtig geraten«, freute sich Magda. »Aber du errätst nie, woher wir unsere Infos (Informationen = Nachrichten) beziehen.« »Nö. Errate ich nicht.« »Über den Giftmüll der Nosiop AG«, übernahm Nicole die Erklärung, kichernd, »wissen wir nahezu alles. Von unserer Tante.« »Arbeitet die dort?« Die beiden Damen nahmen das als Witz auf und gackerten wie die ersten Agrar-Zulieferer für Eierlikör (Agrar = Landwirtschaft). »Agathe Tepler«, lachte Magda, »ist ein stinkreiches altes 226
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Mädchen. So vornehm, dass sie ihre Diät-Pillen nur mit Messer und Gabel isst. Wir sind die armen Verwandten. Dass wir ziemlich abenteuerlich leben, ahnt sie nicht mal. Sie ist nämlich ein bisschen bescheuert. Ab und zu lässt sie uns was zukommen. Eine milde Gabe. Zu Weihnachten immer. Aber nicht nur. Nein, an Nicole hat sie einen Narren gefressen.« »Was hat ’n das mit der Nosiop-Chemie zu tun?«, unterbrach Lohmann. »Wart’s nur ab, du Tankwagen-Kidnapper. Agathe besitzt in vornehmster Gegend eine Etagen-Wohnung. Das und ’ne Menge Moos hat ihr ein gewisser Georg von Würmel hinterlassen, als er vor zehn Jahren starb. Sie war seine Lebensgefährtin, zwar nie seine Angetraute, aber – nach neuerer Rechtsprechung – trotzdem voll erbberechtigt. Die andere Etagen-Wohnung im Hause Hornissen-Weg 12 wird von ihrer Freundin gehalten. Ein alter, gefährlicher Drachen ist das – und ekelhaft rüstig. Sie heißt Emma Gisen-Häpplich. Ich nehme an, du begreifst jetzt, falls du wenigstens ein bisschen Bescheid weißt über die Besitzverhältnisse bei der Nosiop-Chemie. Emma Gisen-Häpplich ist die Senior-Chefin, sitzt zwar auf dem Altenteil, redet aber ihrem lieben Sohn, dem Direktor Günter Gisen-Häpplich, immer noch dazwischen. Außerdem erzählt sie Agathe alles, was das Werk betrifft. Und Agathe erzählt’s uns, weil sie sonst keinen Gesprächsstoff hat. Wie es so ist bei alten Leuten: Entweder sie erzählen dir das gestrige Fernsehprogramm oder den Stuss von anno Tobak (früher).« »Aha!«, nickte er. »Und? Liege ich richtig mit meinem Plan?« »Ich glaube, ja«, sagte Magda. »Wahrscheinlich schätzt du auch den Direktor Gisen-Häpplich richtig ein. Der ist verwundbar, wenn’s um seine Giftstoffe geht. Da hat er eine ganz dünne Haut.« 227
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Zufriedenheit überzog Lohmanns Gesicht wie Creme. Er schnüffelte an seinem Schnaps, bevor er ihn runterkippte. »Du willst also den Tankwagen entführen«, Magda legte den Kopf schief »Natürlich nicht allein.« »Natürlich nicht. Ein Kumpel hat Vorarbeit geleistet. Bert Gnaski war früher ein guter Mann. Jetzt ist er schon ein bisschen… Na, es wird schon klappen.« Er sah die beiden an, als erwarte er ein Hilfsangebot. Aber sie schwiegen. Magda leckte wieder ihr Glas aus. Dann: »Und wo versteckt ihr die Giftkutsche?« Es hatte keinen Sinn mehr, Teile seines Plans zurückzuhalten. Lohmann entschloss sich zum absoluten Vertrauen. »Im Höllental. Kennt ihr sicherlich. Ist auf kurzem Wege zu erreichen, wenn wir den Wagen auf der Autobahn geschnappt haben. Gnaski kennt sich dort aus. Es gibt da einen Stollen, der in den Felsen getrieben ist.Vor Jahrzehnten sollte das ein Tunnel durch den Berg werden. Wurde dann überflüssig wegen der Fertigstellung der Autobahn, aber der Stollen ist immer noch da. Gnaski sagt, er reiche so an die 80 Meter in den Felsen rein. Und sei breit und hoch genug, um den Tankwagen aufzunehmen. Vorn ist der Stollen verbarrikadiert – zugeschalt mit Brettern und so.Wegen Einsturzgefahr. Kinder könnten drin spielen, obwohl dort Abfalle gären und Ratten wie im Schlaraffenland leben. Jedenfalls – wir entfernen die Bretter, verstecken den Tankzug, machen vorn wieder dicht – und noch ein bisschen dichter als vorher, damit auch bestimmt keiner reinlinst. Dann leiern wir die Erpressung an und am nächsten Tag sind wir reich.« »Wenn es so schön gelaufen ist«, sagte Magda, »werden wir dir und Gnaski gratulieren.« »Ich bedanke mich im Voraus.« Er schenkte sich Schnaps ein. Zwischen Magda und Nicole flogen Blicke hin und her – 228
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mit Lichtgeschwindigkeit. Stummes Einverständnis. Sie wussten bereits, was sie wollten. »Leider ist Gnaski, wie ich schon andeutete, etwas taperig«, befand Lohmann über seinen Komplizen. »Wenn ihr einen guten Mann habt, würde ich den mit reinnehmen – für entsprechenden Anteil. Hah?« Magda schüttelte den Kopf. »Dafür weiß ich niemanden.« »Ich auch nicht«, sagte Nicole. Nanu! Verließ sie der Schneid? Lohmann blickte in diese und in jene Veilchenaugen, konnte aber nichts feststellen. Auch gut! Es wäre nur ein Entgegenkommen gewesen, seinerseits. Da er sie zwangsweise hatte einweihen müssen in seinen Plan, hätte er auch gegen direkte Beteiligung nichts eingewendet. Aber wenn sie nicht wollten… Jetzt ging es noch um den Schweigegeld-Anteil – oder wie immer sie das nennen wollten. »An welche Summe dachtet ihr denn?«, erkundigte er sich. »Ich meine, ihr gehört ja nun dazu. Dir, Magda, bin ich seit damals verpflichtet. Nicole ist dein Ebenbild. Ich habe euch ins Herz geschlossen. Da gebe ich gern.« Wenn sich’s in Grenzen hält, setzte er in Gedanken hinzu. Diesmal bedurfte es keiner Blick-Verständigung zwischen den Damen. »Das wäre ja das Schärfste«, meinte Magda, »wenn wir dir einen Mitwisser-Anteil aus dem Kreuz leiern. Wir sind doch keine Erpresser. Nein, Ottmar! Du schuldest uns nichts. Was zwischen uns damals war, ist vergangen. Wenn du – nach erfolgreichem Coup – mir und Nicole ein kleines Geschenk machst, sei dir das unbenommen. Aber, bitte, nicht mehr als einen Blumenstrauß. Oder eine Flasche Champagner. Das wäre reichlich genug.« Er glaubte zu träumen. Hatte er richtig vernommen? Waren die beiden nicht ganz dicht – unter ihren honigblonden Locken? Sie beanspruchten nichts. Das war der Gipfel 229
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der Bescheidenheit – und ein Mount Everest (höchster Berg der Welt) der Dummheit.Aber bitte sehr! Wenn die zufrieden waren mit ihrem Eierlikör – und dem kargen Erlös aus der Fälscher-Pinselei! »Wenn’s geklappt hat«, versprach er, »tanze ich an mit ’ner Kiste Champagner – und allen Rosen des Spätsommers.« »Das wird ein Fest«, lächelte Magda. Nicole stand auf, sagte, sie werde sich jetzt in der Küche ein Quarkbrot mit Schnittlauch bereiten, und reichte dem verblüfften Lohmann die Hand. »Ich verabschiede mich schon mal, falls du nicht mehr da bist, wenn ich aus der Küche zurückkomme.« Ob es ihn vielleicht auch nach Quarkbrot mit Schnittlauch gelüste, fragte sie nicht. Magda war satt vom Eierlikör. Nachdem er sein Glas geleert hatte, räumte Lohmann das Feld. Er küsste Magda – aber nicht so leidenschaftlich wie früher und auch nur auf die Wangen. »Morgen komme ich wieder«, drohte er an. »Ihr seid so bezaubernd. Durch euch beide, Magda, erwacht mein Familiensinn. Dass ich Weib und Kind entbehre, wird mir jetzt schmerzlich bewusst. Eine Familie wie euch beide – mein Gott! Das wäre was für den Lebensabend. Und wie anspruchslos ihr seid, wie bescheiden! Wie billig ihr mich kommt.« Er lachte. »Champagner und Rosen.Andere würden versuchen, mir das Fell über die Ohren zu ziehen.« Als er gegangen war, kam Nicole aus der Küche. Über den Rand ihrer Brotschnitte hing der Quark wie eine winterliche Dachlawine. »Es ist kein Schnittlauch mehr da, Mutter.« »Nimm doch Zwiebeln.« »Damit ich danach rieche, was?« »Ist nicht schlimmer als bei Schnittlauch. Fred stört sich sowieso nicht daran.« 230
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Gemeint war Friedrich Petullje, Fred genannt, ein übler Bursche, den Nicole seit Jahresfrist als ihren Verlobten betrachtete. Er wohnte nicht weit von hier und stand fünf Minuten – nachdem Nicole ihn telefonisch verständigt hatte – vor der Tür. Er wirkte älter als 26, war sehr groß und wie aus Stahldraht gebaut. Von seinen grünen Augen behauptete er, dass er damit auch in finsterster Nacht sehen könnte. Seine braunen Locken überließ er alle drei Wochen der Feinschnittschere des namhaftesten Frisörs in der Stadt. Mit der Rasur nahm er es nicht so genau. Der Stoppelbart kratzte zwar, wenn Nicole mit ihm schmuste. Aber die Bartschatten gehörten nun mal zu seiner wilden Erscheinung. Er war nur fünf Jahre zur Schule gegangen, dann über ein Jahrzehnt mit einem Zirkus umhergereist – als Tierpfleger. Inzwischen machte er sein Geld als Unternehmer, besaß nämlich drei Billard-Salons in der Stadt. Dort trafen sich Unterwelt-Typen und solche, die es unbedingt werden wollten. Schweigend hörte er sich an, was ihm Mutter und Tochter – nicht ohne Aufregung – erzählten. »Hört sich gut an«, sagte er schließlich durch den linken Mundwinkel. »Fetter Fisch, den ihr da am Haken habt. Gut, gut, wirklich, Mädchen, gut! Fragt sich, an welcher Stelle wir einsteigen.« »Lass den Idioten die Dreckarbeit machen«, schlug Magda vor, »wir sind zur Stelle, sobald das Lösegeld anrollt.« »Vielleicht lässt es sich so einrichten«, steuerte Nicole ihre Heimtücke bei, »dass Lohmann auffliegt, nachdem wir ihm den Kies abgenommen haben. Dann sind die Bullen zufrieden und suchen nicht länger. Höchstens nach dem erpressten Geld. Aber alle glauben, das hätte er, Lohmann, irgendwo versteckt, unauffindbar. Uns gibt’s gar nicht. Denn nicht mal 231
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Lohmann wird ahnen, dass wir dahinterstecken. Ist dein Job, Fred! Lass dir was einfallen!« Er runzelte die Stirn.Vorschriften von Weibern – das hatte er nicht gern. Auch nicht von seiner süßen Nicole. Andererseits wusste er genau, wie gerissen die beiden waren. »Mal sehen!«, meinte er vage. »Vielleicht so. Vielleicht anders. In jedem Fall steuern wir den Zaster in unsere Taschen. Ihr müsst mit dem Alten in Verbindung bleiben. Damit wir wissen, wann und wie wo was läuft. Sonst was Neues?« »Ich male nicht mehr«, lächelte Nicole. »Das kam so…«
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7. Wer stahl Emmas Puderdose? Im Kaufhaus ging es zu wie in einem Bienenstock – besonders jetzt, zehn Minuten vor Geschäftsschluss. Das Personal war in Gedanken schon daheim. Die Damen an den Kassen legten ruckartig die antrainierte Freundlichkeit ab. Gaby schleppte die 10-Kilo-Tüte Hundekuchen. Sie wog mindestens einen halben Zentner, fand sie. Und wurde von Minute zu Minute schwerer. Aber für ihren Oskar scheute Gaby keine Last. Scharen von Käufern eilten umher. Den Rolltreppen ging fast die Puste aus, standen doch mindestens drei auf jeder Stufe. Vor den Lifttüren bildeten sich Menschentrauben. Jedermann war mit Einkaufstüten beladen, hatte also kräftig den Umsatz gefördert. Gaby eilte zur Treppe. Karl hatte sie hergebracht und war dann nach Hause geradelt. Zwar schritt draußen die Dämmerung munter voran, aber Gabys Heimweg führte ab hier nur durch belebte Straßen, konnte also aller Voraussicht nach nicht gefährlich werden für den weiblichen Anteil der TKKG-Bande. »Entschuldigung!«, rief Gaby. Versehentlich hatte sie eine ältere Dame gerempelt. Sie war schmächtig und zerbrechlich. Der Rempler warf sie fast aus der Bahn. Aber statt, wie befürchtet, in einer Schauvitrine zu landen, gewann sie ihr Gleichgewicht zurück und hastete zur Abwärts-Rolltreppe. Da ist man nun höflich, dachte Gaby, und keiner guckt zu. Verwundert sah sie der Dame nach. Es war wirklich eine Dame.Von hinten wirkte sie sehr elegant. Sie trug sogar Sommerhandschuhe und für die Herstellung ihrer Handtasche hatte man einem besonders schönen Krokodil ein großes Stück Haut abgezogen. 233
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Im Weitergehen untersuchte Gaby die Hundekuchen-Tüte, die den Rempler abgefangen hatte. Kaputt? Sie war heil. Höchstens, dass sich zwei, drei Kuchen in Krümel verwandelt hatten. »Jiiihhh – ist das nicht Gaby Glockner«, stieß eine Stimme wie ein Raubvogel auf sie herab. Pfote blickte auf. Zu der Stimme gehörte eine Dame. Sie stand oberhalb der drei Stufen, mit denen sich die Damenkonfektions-Abteilung gegen den Hintergrund abgrenzte. Im Hintergrund waren der Notausgang und die Damen-Toiletten. Ulkige Welt!, dachte Gaby. Die reinste Kicher-Kiste! Da sülzen wir vorhin von ihr, und jetzt laufe ich ihr in den Weg – was pro Jahr höchstens drei Mal vorkommt, abgesehen von Weihnachten, wenn sie für unseren Schwimmklub spendet. »’n Abend, Frau Gisen-Häpplich!«, rief sie. »Ja, ich bin’s! Auch eingekauft?« Emma Gisen-Häpplich hatte ein Gesicht wie ein alter Sioux-Indianer, und so war auch ihr Wesen: immer auf dem Kriegspfad. Sie war hoch in den Siebzigern, aber geistig und körperlich in Bestform. Außerdem bevorzugte sie junge Mode, was ihren Sohn, den Nosiop-Direktor Günter GisenHäpplich, nicht selten in Verlegenheit brachte. »Eingekauft? Nein! Doch nicht hier. Nicht hier, Gaby! Bin doch nicht meschugge.Wollte nur mal aufs Klo. Und jetzt hat man mich bestohlen! Diese Bestien! Aber das hat ein Nachspiel. Du musst die Diebin gesehen haben! Wie sah sie aus?« »Wen? Eine Diebin? Hier?« Emma kam die Stufen herunter, umarmte Gaby mit einem Arm, nahm ihr mit dem andern die 10-Kilo-Tüte weg und zog die 13-jährige mit sich. »Wir gehen zum Direktor. Die Tüte ist viel zu schwer für dich. Du hast also die Diebin gesehen?« 234
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Mein Gott!, dachte Gaby. Für mich zu schwer, aber sie trägt sie unterm Arm wie Make-up-Watte. »Ich habe niemanden gesehen, Frau Gisen-Häpplich. Das heißt, doch! Eine Frau hatte es eilig. Ist wie der Wind zur Rolltreppe und hat mich fast umgerissen.Wo hat man Sie bestohlen? Auf der Toilette?« »Dort!«, nickte Emma. »Genau dort. Kam die Frau aus der Richtung?« »Ich glaube, ja.« »Dann haben wir sie. Wenn das Stadtviertel abgesperrt wird – und alle Ausfallstraßen, dann… Aber erst gehen wir zum Direktor.« Es gongte. Eine Lautsprecherstimme in allen Räumen und Abteilungen teilte mit, sinngemäß, dass sich die Kunden jetzt gefälligst hinausscheren sollten. Allerdings wurden höfliche Worte verwendet, etwa »verehrt« und »bitte«. Gaby durfte miterleben, wie Emma sich zum Direktor durchfragte. Das heißt, sie fragte nicht lange, krallte sich vielmehr eine junge Verkäuferin und befahl ihr, sie hinzuführen. Widerspruch kam gar nicht erst auf. Dann stürmte Emma das Büro des Direktors, der nichts ahnend hinter seinem Schreibtisch saß und fürchterlich erschrak. »Ihr Haus ist ein Saustall«, stellte Emma fest. »Ich bin Emma Gisen-Häpplich und weiß, was ich sage. Sorgen Sie dafür, junger Mann«, der Direktor war mindestens 58, »dass sich so was nicht wiederholt. Handtaschendiebe auf der Damentoilette! Pfui! Sie ist aus Schlangenleder und sieht so aus!« Sie übergab Gaby die Hundekuchen-Tüte, um beide Arme frei zu haben. Ihre mehrkarätig behängten Hände malten ein Hängebauchschwein in die Luft. »Mein ganzer Kram ist drin, Direktor. Schlüssel, Papiere, Geld. Wie komme ich jetzt nach Hause?« Der Direktor lächelte gequält. »Verzeihung, gnädige Frau. Wenn ich richtig verstehe, hat man Sie bestohlen?« 235
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Emma sah Gaby an. »Ein Blitzmerker! Und das in leitender Stellung. Gleich wird er im Namen des Hauses bedauern. Im Stillen wünscht er mich natürlich zum Teufel. Aber so leicht mache ich’s ihm nicht.« »Aber gnädige Frau…«, rief er – und versuchte, seine Zehn-Stunden-Tag-Nerven zur Ruhe zu bringen. »Ohne Schlüssel«, unterbrach sie ihn, »kann ich nicht mal meinen Wagen benutzen.« Ihre dezent geschminkten Runzellippen bildeten eine energische Linie. »Ich muss telefonieren, junger Mann. Dann kann Gaby die Diebin beschreiben. Sie hat sie nämlich gesehen. Und Gaby ist die Tochter von Kommissar Glockner, mit dem Sie sich gutstellen sollten, junger Mann. Geben Sie her!« Damit schnappte sie sich einen der Telefonhörer, und dem Direktor blieb nur, mit steinerner Miene aufs Knöpfchen zu drücken, um eine Amtsleitung einzuklinken. »Wählen Sie!«, gebot Emma – und diktierte die Nummer. »Das ist mein Sohn«, erklärte sie dabei. »Auch ein Direktor. Aber in unserem Werk wird nicht geklaut. Günter ist zwar total abgenabelt, aber jetzt kann er mal seine Mutterliebe beweisen und mich heimfahren. Er besucht mich ohnehin viel zu selten. Ich… Nanu, da ist sie ja.« Am anderen Ende der Leitung wurde soeben abgehoben. Aber das interessierte Emma nicht mehr. Sie legte auf. Dann stieß sie an Gaby vorbei und grapschte sich die Schlangenledertasche, die soeben von einer Verkäuferin hereingebracht wurde. Das gibt’s nicht, dachte Gaby. Das muss man erlebt haben. Emma, die Schreckliche. Aber ein Herz wie aus Gold. Falls ich lachen muss, stopfe ich mir die Faust in den Mund. »Habt ihr die Diebin?«, fragte Emma. »Leider nicht, gnädige Frau«, antwortete die Verkäuferin. »Die Tasche wurde auf der Damentoilette gefunden. In einem Abfallkorb.« 236
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Der Direktor hätte sich ohrfeigen können, dass für eine Zehntelsekunde seine Mundwinkel zuckten. »Grinsen Sie nicht!«, sagte Emma. »Ich weiß, was Sie denken. Ich hätte meine fünf Sinne nicht mehr beisammen, denken Sie, und hätte mit dem Papiertaschentuch auch die Tasche in den Abfallkorb… Von wegen! Sie lag auf dem Beckenrand. Als ich mich umdrehte, war sie plötzlich weg. Mal sehen!« Kurzerhand kippte sie den Inhalt auf den Schreibtisch. »Da!« Triumphierend zeigte sie auf eine Stelle, wo nichts lag. »Die Puderdose fehlt. 22-karätiges Gold. Glauben Sie mir nun?« »Nicht eine Sekunde, gnädige Frau, habe ich daran gezweifelt. Ihr Geld ist noch da?« Emma zählte ein dickes Bündel Hunderter durch. »Sonderbar! Da fehlt nichts.« »Sind Sie sicher, gnädige Frau, dass Sie die Puderdose bei sich hatten? Vielleicht liegt sie bei Ihnen zu Hause.Wie leicht irrt man sich da! Mir geht es genauso.« »Wieso?«, fragte Emma. »Pudern Sie sich?« »Wie…? Ich meine doch nur. Als Beispiel. Bei mir war es das Zigarettenetui. Auch aus Gold. Ich dachte, ich hätte es in meiner Handgelenktasche. Aber da war’s nicht. Verloren!, dachte ich. Schade! Und dann«, er strahlte sie an, »lag es zu Hause.« »Verstehe! Dass Sie Ihre fünf Sinne nicht beisammen haben, wollen Sie mir jetzt anhängen. Kein Wunder, dass es in Ihrem Hause so zugeht.Wie viele Zigaretten rauchen Sie pro Tag?« »Wie bitte? Ich bin Nichtraucher.« »Aha! Dann ist wohl das Zigarettenetui auch nur ein Beispiel. Gaby, komm! Hier haben wir nichts mehr verloren. Die Diebin ist sowieso schon verschwunden!« 237
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Jetzt durfte Gaby die Hundekuchen-Tüte tragen. Emma beschäftigte sich mit ihrer Tasche. Die Rolltreppen standen still. Im Erdgeschoss eilten die letzten Kunden zum Ausgang. Gaby hüpfte mit Emmas Sturmschritt mit. Draußen dunkelte es angenehm. Abendluft wehte sie an. »Mein Wagen steht dort drüben im Halteverbot«, sagte Emma. »Da lassen wir ihn. Der Strafzettel ist sowieso dran. Wollen wir in die Milchbar oder ins Café? Während wir uns stärken, beschreibst du mir die Diebin.« »Von der habe ich leider fast gar nichts gesehen«, dämpfte Gaby die großen Erwartungen. »Sie überholte mich. Dabei stießen wir zusammen. Ich kann nur die Rückfront beschreiben. Es war jedenfalls eine ältere Dame. Ziemlich klein, zerbrechlich, heller Mantel, heller Hut – ein modischer – und Kroko-Tasche. Mehr weiß ich nicht.« »Hm. Das trifft auf viele zu. Trinken wir trotzdem einen Tee zusammen? Ich habe dich lange nicht gesehen. Bist gewachsen und noch hübscher geworden. Du schwimmst doch noch?« »Wie eine Forelle«, lachte Gaby. »Also gut! Drüben beim Café habe ich mein Rad geparkt. Aber lange kann ich nicht bleiben.« Sie überquerten die Straße. Dass Emma die Grünphase der Fußgängerampel benutzte, war sicherlich Zufall. Im Café fanden sie einen Fenstertisch und Emma bestellte für beide. Sie werde doch zur Polizei gehen, meinte sie dann, und Anzeige erstatten. Denn Ordnung müsse sein. Dann ließ sie das Thema fallen, als wäre die Puderdose aus Blech statt aus purem Gold – und erkundigte sich nach Gabys Freunden. Das war ein abendfüllendes Thema und während der nächsten zehn Minuten redete nur Gaby. Emma stellte abschließend fest: »Karl wird also immer schlauer, Klößchen immer dicker und Tarzan bricht alle sport238
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lichen Rekorde. Ist er nun wirklich dein richtiger Freund – oder noch so genierlich (schüchtern) wie früher?« Gaby errötete etwas. »Mein Freund war er schon immer, Frau Gisen-Häpplich, und zurückhaltend nur, weil ich ihm so viel bedeute. Er ist durch und durch ritterlich.Aber jetzt, hm, sind wir echt, total echt befreundet. So richtig, wie es sein muss.« »Ich hoffe, ich erlebe eure Hochzeit noch. Wehe, du lädst mich nicht ein. Vor allem will ich ihn endlich kennenlernen, deinen Freund. Dabei«, sie kniff ein Auge zu, »habe ich was mit euch vor. Dass ihr die tüchtigsten Spürnasen und Helfer seid, habe ich begriffen. Also brauche ich euch. Morgen ist Samstag. Da habt ihr Zeit. Ich lade euch ein. Abgemacht?« »Wenn meine Freunde Zeit haben, kommen wir. Worum geht es?« »Ihr sollt mir helfen, meine Puderdose zu beschaffen. Gegen Belohnung, versteht sich. Ich habe da einen bestimmten Verdacht.« »Einen Verdacht?« Gaby nippte an ihrem Tee. »Aber es wird schwer sein, ihr den Diebstahl nachzuweisen«, nickte Emma. »Ich denke nämlich an meine… eh… Freundin. Wir wohnen im selben Haus. Bin gespannt, ob du morgen in Agathe Tepler die Frau erkennst, mit der du zusammengeprallt bist. Doch selbst wenn…« »Tepler?«, rief Gaby. »Sie heißt Tepler?« Emma bestätigte. »Ich habe nämlich heute eine Nicole Tepler kennengelernt«, erklärte Gaby, »eine Kunstmalerin.« »Das ist die Tochter ihrer Nichte. Eine… hm, na ja, ich würde sagen: zweifelhafte Person.Agathe ist, Gott sei Dank!, anders, aber zu naiv, um zu durchschauen, dass sich ihre Verwandtschaft auf abschüssiger Bahn befindet. Mit Agathe hatte ich jetzt Streit. Offener Auseinandersetzung weicht sie aus. Weil ihre Nerven – Gott, ach Gott! – so anfällig sind. 239
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Aber dass sie mir hintenherum eins auswischt, traue ich ihr zu. Na, wir werden sehen. Erst mal nehme ich sie mir vor. Morgen kommt ihr. Falls du Agathe erkennst, lass dir nichts anmerken. Ich kann mir nämlich denken, wo die Puderdose geblieben ist. Trinkst du noch einen Tee?« Gaby lehnte ab, musste nämlich heim, wo ihre Mutter schon wartete – von Oskar, dem Vierbeiner, gar nicht zu reden. Für Hundekuchen war er zu jedem Kunststück bereit. Irgendwann würde er sogar den einarmigen Handstand meistern.
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8. Der Streit der alten Damen Für Stadtfahrten bevorzugte Emma ihren englischen Sportwagen. Er war hart gefedert. Auf schlechten Straßen tat man gut daran, nicht versehentlich die Zunge zwischen die Zähne zu schieben. Gleichwohl preschte Emma durch den anbrechenden Abend zum Hornissen-Weg. Sie nahm sechs Kreuzungen, während das Ampelgelb schon zum Rot umsprang, verursachte – in einem Vorort – eine Vollbremsung wegen einer streunenden Katze und landete schließlich mit quietschenden Reifen in ihrer Garage. Fünf Zentimeter vor der Rückwand kam der Roadster (offener Sportzweisitzer) zum Halt. Emma schlenkerte ihre Tasche und ging durch den Garten. Das Zwei-Familienhaus war prächtig. Im Obergeschoss brannte Licht. Dort verbrachte Agathe Tepler ihren Lebensabend. Seit Emma hier eingezogen war und sich die beiden angefreundet hatten, entdeckte Agathe eine bemerkenswerte Reiselust an sich – die eigentlich nicht ihrer zarten Gesundheit entsprach und auch nicht der Geduld entfernt wohnender Verwandtschaft. Aber zu einem Umzug, der etwas Raum zwischen sie und Emma gebracht hätte, konnte Agathe sich nicht entschließen. Sie öffnete, als Emma bei ihr klingelte. »Lad mich zum Abendbrot ein!«, sagte Emma und marschierte in Agathes Küche, um sich dort niederzulassen. »Dann berichte ich dir die Sensation des Tages. Es ist unglaublich. Die Welt wird von Tag zu Tag schlechter, von Nacht zu Nacht auch. Hast du Kalbsbries gekocht?« »Aber schon gestern«, sagte Agathe, »ich esse es kalt. Schmeckt auch. Hoffentlich reicht es für uns beide.« »Du isst ja nicht viel«, meinte Emma. Agathe Tepler war in ihrer Jugend sicherlich eine zarte 241
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Schönheit gewesen, jetzt ein zerbrechliches Weiblein mit welkender Haut. Sie trug viel Schmuck. Würde war ihr angeboren und verlor sich selbst dann nicht, wenn sie bei winterlichem Glatteis hart auf den Hintern fiel. Folgsam teilte sie ihr Abendessen mit Emma. Dazu gab es einen Schluck Sherry. Emma aß und redete gleichzeitig. Erstaunen überzog Agathes Gesicht. »So weit der Vorgang.« Emma bediente sich aus der Sherry-Flasche. »Und jetzt sage ich dir, welcher Plan dahintersteckt!« »Plan?« Agathes papierdünne Lider flatterten. »Als ich meinen Schlüsselbund anfasste«, erklärte Emma, »fühlte ich den Fettbelag. Wie die Wachsschicht auf der Haut gewisser Apfelsorten. Aber meine Schlüssel kommen mit Wachs nicht in Berührung. Du verstehst, was ich meine?« »Nein!« »Mein Gott!« Emma verdrehte die Augen. »Du siehst dir doch jeden Krimi im Fernsehen an. Weißt du nicht, dass man einen Schlüssel nur in ein Stück Wachs drücken muss, um einen Abdruck zu erhalten. Davon macht man ein Duplikat (Doppel; gemeint: Zweitschlüssel) und der Einbruch kann stattfinden. Natürlich war ich noch rasch bei der Polizei. Aber das sind vielleicht Helfer! Die haben mich angeguckt, als wäre ich übergeschnappt. An den Schlüsseln konnten sie nichts feststellen. Der eine Beamte meinte, so was käme vom Handschweiß. Wo niemand trocknere Hände hat als ich! Von meinem Verdacht habe ich nichts gesagt. Du bringst das schon in Ordnung. Einem jungen Menschen muss man eine Chance geben. Auch wenn’s so weit mit ihm gekommen ist.« »Ich verstehe kein Wort!« Agathe war noch hungrig, ließ aber den Eisschrank zu. »Was soll ich in Ordnung bringen?« »Na, was wohl! Von deiner Großnichte Nicole spreche ich. Nicht mal du weißt genau, wovon sie und ihre Mutter Magda 242
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leben. Und ich in meiner Gutmütigkeit lade Nicole ein. Du weißt doch, wie sie meine Kostbarkeiten bestaunt hat. Sogar geschätzt hat sie, was das alles bei einem Kunsthändler einbringen würde und…« »Willst du behaupten«, stieß Agathe Tepler mit schriller Stimme hervor, »Nicole hätte dich in der Damentoilette bestohlen, um bei dir einzubrechen…?« »Nun reg dich nicht auf. War ja sehr geschickt von ihr, die Puderdose rauszunehmen, andererseits das Geld drinzulassen – damit ich verwirrt bin und nicht auf das Wachs an den Schlüsseln achte und…« »Ich reg mich aber auf«, rief Agathe. »Das ist eine ungeheuerliche Verleumdung. In meiner Familie gibt’s so was nicht. Du kannst nicht so töricht sein, dass du…« »Es ist nun mal Tatsache.« Emma trank ihren Sherry. »Ach? Und hast du nicht einen Neffen«, trumpfte Agathe auf, »der ständig in Geldnöten steckt.« »Lass Heinz aus dem Spiel. Er ist zurzeit in Tokio, außerdem kein Verbrecher. Und er wäre wohl aufgefallen auf der Damentoilette, nicht wahr?« »Er wohl. Aber nicht eine seiner zahllosen Freundinnen. Oder hast du Nicole vielleicht gesehen – auf der Damentoilette?« »Nicht direkt. Doch bei diesen leichtfertigen Mädchen weiß man ja, wie das geht. Eine Perücke! Ein anderes Make-up, und schon… Richtig! Da war eine. Und dann war sie plötzlich verschwunden. Wenn ich jetzt darüber nachdenke – das könnte sie gewesen sein.« Agathe Tepler stand auf. Ihre Finger glätteten die Falten des Plissee (Pressfalten)-Rockes. Mit erhobener Stimme verkündete sie: »Ich lehne es ab, mich auf diesem Niveau (Stufe) auseinanderzusetzen. Nicole ist über jeden Verdacht erhaben. Entweder du entschuldigst dich oder ich will dich hier nicht mehr sehen.« 243
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»Du wirst schon merken, wer recht behält.« Emma gestattete sich ein geringschätziges Lächeln und schritt aus der Wohnung. Eine Treppe tiefer schloss sie ihre eigene auf, legte die Tasche ab und trat in den Wohnraum. Kostbarkeiten füllten ihn und die Hausbar war mit zahlreichen Likören bestückt. Und ich wette, sie war’s, dachte Emma.Aber Haussuchung wäre zwecklos. Die Puderdose ist schon woanders, nämlich bei dieser Nicole. Wer verschafft mir Gewissheit? Das könnten Gaby und ihre Freunde übernehmen, morgen.
* »Der Samstag«, sagte Klößchen, »ist wirklich das Beste an der Woche. Besser noch als der Sonntag. Denn da droht gegen Abend schon der Montagmorgen. Der ist sozusagen das Schlechteste an der Woche – mit Frühaufstehen und Unterricht. Ohne den Montagmorgen wäre wiederum der Sonntag noch besser als der Samstag, weil man sich nämlich schon erholt hat. Außerdem ist sonntags das Essen besser.« »Wieso?«, fragte Tarzan. »Isst du sonntags andere Schokolade?« »Ich meine doch nicht Schokolade, sondern den Schokoladenpudding, den es nur Sonntagmittag gibt – in unserer schokoladenfeindlichen Schule.« »Ich finde jeden Tag gut«, meinte Tarzan. »Jeden Tag, an dem was los ist. Ist nichts los, machen wir eben was los. So einfach ist die Schokoladenkiste. Mir fällt jedenfalls auf, dass du samstags noch schneckiger fährst als sonst. Nun mach doch mal Dampf in die Waden!« Das war ein bisschen ungerecht, denn Klößchen dampfte schon wie heiß angerührter Schokoladenpudding, während sie jetzt auf ihren Stahlrossen die letzten Meter stadtwärts bezwangen. 244
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Es war ein heller Spätsommer-Vormittag. Von Wiesen und Weiden hob sich der Dunst. Die Bäume belaubten sich bunt, und in der Stadt war die übliche Einkaufs-Hektik ausgebrochen – schlimmer als Grippe. Auf Schleichwegen erreichten die beiden das Altstadtviertel, wo Gaby wohnte. Vor dem Lebensmittelgeschäft ihrer Mutter waren Obst- und Gemüsekisten ausgestellt. Soeben kam Gaby aus dem Laden, füllte eine Tüte mit Weintrauben und wollte in den Laden zurück. Tarzan pfiff wie ein Düsenjäger, der durch die Schallmauer bricht. Von den Dächern flogen Tauben auf, erschreckt. Eine ältere Dame, die im dritten Stock eines Altbaus ihre Blumenkasten-Petunien tränkte, verlor fast das Gießkännchen. Mehrere Passanten blickten zum Himmel und wunderten sich, wo denn der Kondens-Streifen sei. Gaby gewahrte ihre Freunde und winkte mit der Weintraubentüte. »Sie hilft im Geschäft. Fleißig, fleißig!«, keuchte Klößchen, dem jetzt die zwei Liter Frühstückskakao aufs Zwerchfell drückten. Tarzan bremste neben seiner Freundin und begrüßte sie vom Rennrad herab mit einer Schmusebacke Wange an Wange. »’n Morgen, Pfote!« Sie kniff ihn in die Nase, während Klößchen in die noch geöffnete Tüte griff und sich eine Hand voll Weintrauben pflückte. »Das ist für eine Kundin«, zischelte Gaby. »Ach so. Na ja. So roh sind sie ohnehin nicht gesund. Trauben-Nuss-Vollmilch – das ist die richtige Mischung.« »Er hat wieder seinen Schoko-Koller«, sagte Tarzan. »Ist Karl schon da?« Er fehlte noch. Stattdessen kam Frau Glockner aus dem Laden, Gabys Ebenbild – nur eben um die richtige Anzahl Jahre älter. Sie verabschiedete eine Kundin, der noch die 245
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Weintraubentüte – unberechnet in den Einkaufskorb gelegt wurde. Es waren sehr reife Trauben. Sie mussten weg. Und kleine Geschenke erhalten bekanntlich die Kunden – besonders wenn Tante-Emma-Läden gegen Großmärkte ankämpfen wie David gegen Goliath. »…und ein schönes Wochenende, Frau Müller-Mehltau!«, wünschte Gabys Mutter der Kundin. Dann wandte sie sich an Tarzan. »Na, werde ich auch so begrüßt wie Gaby?« Lachend nahm sie Tarzan in den Arm, dann auch Klößchen, dem anschließend die gute Laune aus allen Poren quoll. Gaby hängte sich bei ihrer Mutter ein. »Wenn du sehr viel zu tun hättest, Mami«, schmeichelte sie, »würden wir alle dir helfen. Willi wäre für Obst und Gemüse zuständig, besonders fürs Sauerkraut, Tarzan für den Süßwarenbereich und ich für die Delikatessen (Feinkost). Karl wäre der richtige Mann an der Kasse.Aber es ist ja ein ruhiger Tag, nicht wahr? Außerdem müssen wir uns vom Schulstress erholen.« »Und ihr seid eingeladen bei Frau Gisen-Häpplich«, erinnerte Margot Glockner. »Lasst sie nicht warten. Die alte Dame ist bestimmt schon seit halb fünf auf den Beinen.« »Leidet sie unter Schlaflosigkeit?«, erkundigte sich Klößchen. »Höchstens unter Unrast«, antwortete Gaby. »Sie hat so viel Pfeffer, dass sie alles in den Schatten stellt. Der Kaufhaus-Direktor hätte sich gestern am liebsten unter seinem Schreibtisch verkrochen.« »Wer?«, forschte Tarzan. Einzelheiten waren noch nicht bekannt. Gaby hatte ihre Freunde lediglich angerufen, vorhin, und Emmas Einladung, die keinen Widerspruch zuließ, kundgetan. Und befürwortet. Klar, dass sich die männlichen TKKG-Mitglieder voll aufgeschlossen zeigten. Tarzan wäre sogar einer Einladung zum Bundeskanzler gefolgt, hätte Gaby das Spaß gemacht. 246
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Frau Glockner ging in den Laden zurück. Gaby erzählte. Sie war noch ganz am Anfang, als Karl auf seinem Rad um die Ecke bog. So erfuhr auch er gleich, was Sache war im Hinblick auf Puderdose und Emmas Freundin Agathe Tepler, der Großtante von Nicole. »Irre klein – die Welt. Manchmal jedenfalls.« Tarzan schüttelte seinen Lockenkopf. »Wer wen kennt – hier in der Stadt! Also, das legt einen glatt aufs Kreuz, wenn man den Durchblick checkt.« »Dann könnten wir loseiern.« Gaby trat etwas zur Seite und prüfte ihren Anblick in der Schaufensterscheibe. Sie trug viel Hellblau, ihre Lieblingsfarbe, zu den Jeans weiße Turnschuhe. Die Pferdeschwanzfrisur ließ die Ohren frei und im Blusenausschnitt schimmerte ein Goldkettchen. Tarzans Blicke umflossen sie. Wird nie langweilig, sie anzusehen!, dachte er.Auch in hundert Jahren nicht.Aber dann brauche ich sicherlich ’ne Brille. »Nehmen wir Oskar mit?«, meinte er. »Klar, nehmen wir ihn mit.« Gabys Liebling war oben in der Wohnung und schon ausführlich Gassi gewesen, aber immer bereit, die nächsten Tagesmärsche in Angriff zu nehmen – auf seinen vier Hundepfoten. Sein schwarz-weißes Fell war gebürstet. Die langen Spaniel-Ohren – die der Fachmann Behänge nennt – strotzten von Naturlocken. Jedenfalls leugnete Gaby entschieden, sie hätte ihm über Nacht Lockenwickler eingedreht. Oskar liebte die Jungs, am meisten Tarzan. Die Begrüßung dauerte. Er leckte, schleckte, sprang wie ein Gummiball, fiepte vor Glück, wurde schließlich gebändigt und an die Leine gehängt. Dann benahm er sich sittsam und lief neben Gabys Rad. In Gänse-Formation rollten sie durch die Innenstadt in Richtung Hornissen-Weg, wo die Spätsommer-Gärten ihre Farbenpracht entfalteten. »Emma fährt einen englischen Schönwetter-Sportwagen«, 247
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teilte Pfote mit. »Oben ohne. Ohne Verdeck, meine ich.Wenn’s regnet, nimmt sie sicherlich einen andern.« »Sie ist wohl ein sportlicher Typ«, vermutete Klößchen. »Sportlicher als du.« »Donnerwetter!«, grinste er. »Das will was heißen!« Die Doppelgarage neben dem Zwei-Familienhaus stand offen und neben dem Roadster eine schwere Limousine. Emmas Zweitwagen? Wenn ja, dann verließ sich Agathe Tepler wohl ausschließlich auf Taxis. Sie stellten ihre Tretmühlen in den Garten und gingen zur Tür. Bevor Gaby klingeln konnte, wurde geöffnet. Hallo, Häuptling!, dachte Tarzan und: Na, sportlich ist sie bestimmt, die Emma. Sieht ja aus wie von Prärie-Stürmen gegerbt. Ist aber wohl rein deutsch und eine geborene Gisen oder Häpplich. Emma trug ähnliche Textilien wie Gaby, allerdings in Gelb. Dazu ein geflochtenes Stirnband. »Da seid ihr ja«, freute sie sich. »Pünktlich wie die Maurer – wenn die Pause machen, meine ich. Hallo, Gaby! Hast deinen Oskar mitgebracht. Ist der süß! Beißt er? Und du bist der Willi, wie? Tag, Karl! Oder? Nein, das ist der Tarzan.« Ihn fasste sie besonders kritisch ins Auge, befahl zwar nicht, dass er stramm stehe während der Musterung, prüfte ihn aber schließlich auch im Detail, indem sie die Hand um seinen Oberarm legte. Grinsend spannte er die judogestählten Muskeln an, dass die Seniorin nur staunen konnte. »Äußerlich bist du offenbar gut genug für Gaby«, stellte sie fest. »Über deine inneren Werte muss sie entscheiden. Bist ja ihr Freund, nicht meiner.« Gott sei Dank!, dachte er. Und sagte: »Ich tue mein Bestes. Und meine charakterlichen Macken verwachsen sich noch. Außer Rachsucht, Neid und dem Hang zur Lüge bin ich fast fehlerfrei. Und wenn ich Ihnen erst meine Wadenmuskeln vorführe, werden Sie von mir begeistert sein.« 248
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Emma lachte so herzhaft, dass ihr die Tränen kamen. »So ist es richtig, Tarzan. Ich weiß, wie ich meiner Umwelt auf den Wecker falle. Aber das ist mir egal. Dir offenbar auch.« »Er prügelt«, sagte Klößchen, »wenn er über seine Umwelt herfällt. Auf den Keks falle ich ihr, der Umwelt – meine ich. Ist mir aber auch ziemlich schnurz. Solange es Schokolade gibt, bringt mich nichts aus der Ruhe.« »Dann liege ich wohl richtig im Trend (Richtung)«, meinte Emma, »mit meinem Kakao. Zwei Liter habe ich für euch gekocht. Es gibt zweites Frühstück. Kommt rein.« Klößchen war der Erste am Tisch. Er langte auch zu. Seine Freunde aßen nur Anstandshäppchen. Oskar rollte sich vor Gabys Füßen zusammen, seufzte tief und schlief ein. Emma fragte Gaby, ob die Jungs Bescheid wüssten hinsichtlich der Puderdose. Gaby bejahte. »Agathe steckt dahinter«, sagt Emma. »Müsste mich sehr täuschen, wenn es nicht so wäre. Sie ist zwar meine Freundin. Aber das bedeutet ja nicht den ganzen Tag Sonnenschein. Die Puderdose habe ich von ihr. Ein Geschenk. Anstandshalber schleppe ich das Ding mit mir rum. Aber ich habe schon mehrfach mit dem Gedanken gespielt, die Puderdose bei Gelegenheit zu verlieren.« »Weshalb?«, forschte Klößchen. »Wertvoll ist sie. Wegen des Goldes. Aber keine Spitzenleistung in Bezug auf Geschmack. Sie ist wie eine Auster gearbeitet. Der Verschluss klemmt. Wer nicht genau hinsieht, denkt, ich hätte einen Waffelkeks in der Handtasche. Jedenfalls habe ich neulich im Bridge-Klub leichtsinnigerweise verlauten lassen, dass sie mich ankotzt. Vermutlich hat Agathe es erfahren. Ihr glaubt ja nicht, wie die alten Tanten dort schnattern. Agathe wurde ganz unleidlich. Wir haben uns gestritten, aber wieder versöhnt – so lauwarm versöhnt. Nun vermute ich, dass sie mir mit dem Diebstahl eins auf den Hut 249
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geben will. Im Kaufhaus ist Agathe nämlich oft. Sie könnte also die Diebin sein.« »Aber Frau Tepler wäre Ihnen doch aufgefallen«, sagte Tarzan. »Oder haben Sie die Handtasche längere Zeit aus den Augen gelassen?« »Hm. Offen gestanden, ja! Nicht längere Zeit, aber während ich mal musste, lag die Tasche im Vorraum. Hatte sie total vergessen. Ist keine Alterserscheinung, falls ihr das denkt. Was solche Sachen betrifft, war ich schon immer sehr nachlässig.« »Hm. Dann ist es also möglich, dass Frau Tepler Ihre Tasche erkannte und zugriff«, stellte Tarzan fest. Emma nickte. »Gesten Abend habe ich schweres Geschütz aufgefahren, den Verdacht nämlich ihrer Großnichte Nicole angehängt. Gaby kennt diese Person und…« »Wir alle kennen sie«, stellte Karl richtig. »Umso besser. Ich tat so, als glaubte ich…« Sie berichtete, was sich zwischen ihr und Agathe abgespielt hatte. Dann fuhr sie fort: »Wachs an den Schlüsseln – davon stimmt natürlich kein Wort. Ich befürchte auch nicht, dass bei mir eingebrochen wird. Ich habe ihr nur einen Schuss vor den Bug gesetzt. Sie soll nicht denken, ich sei blöd.« »Und jetzt?«, fragte Tarzan. »Ich brauche Verbündete, um Agathe zu überführen. Macht ihr mit?« »Was stellen Sie sich vor?«, fragte Gaby. »Wie ich Agathe kenne, hat sie die Puderdose gleich weitergegeben. Sie ist nicht der Typ, der Sore (Diebesbeute) in seinen vier Wänden aufbewahrt. Nein, nicht Agathe. Wem also schenkt sie die Gold-Auster? Natürlich ihrer Großnichte Nicole. Weiß der Teufel, was sie an der findet. Aber sie mag sie nun mal. Ich stelle mir vor, dass ihr Nicole beobachtet – und die Puderdose bei ihr entdeckt. Dann wäre der Fall gelöst.« 250
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»Hm. Gelöst schon«, sagte Tarzan. »Aber warum wollen Sie ihn lösen? Sie mögen die Gold-Auster nicht. Jetzt sind Sie das Ding los. Über den Charakter Ihrer Freundin Agathe wissen Sie Bescheid.Warum also die Suppe noch mal aufkochen, wo sie doch gerade abkühlt?« Emma blickte ihn eine Weile an und schmunzelte dann mit beiden Mundwinkeln. »Die Frage, Tarzan, habe ich mir noch gar nicht vorgelegt. Vordergründig gesehen, hast du recht. Warum nicht einfach Schwamm drüber und Klappe zu! Da muss ich wohl mal einen Blick in meine Seele werfen.« Hoffentlich braucht sie kein Fernglas!, dachte er und nahm noch ein Schinkenröllchen. »Tja«, sagte Emma, »mir geht es erstens darum, dass ich mich nicht ungestraft bestehlen lasse. Zweitens schon gar nicht von Agathe. Drittens, dass ich ihr den Triumph nicht gönne. Und letztlich möchte ich nicht wie eine dumme Alte dastehen, die man nach Belieben beklauen kann.« Den TKKG-Freunden genügte das als Erklärung. »Wir sollen also Nicole Tepler beobachten«, sagte Karl. »Einfacher wäre, Sie schicken die Polizei hin und…« »Auf keinen Fall!«, fiel Emma ihm ins Wort. »Um nichts in der Welt bringe ich meine Freundin Agathe in Schwierigkeiten. Sie als Diebin bloßstellen, sie der Polizei überantworten – niiiiie! Die Sache ist ganz privat und bleibt es auch. Ihr seid vertrauenswürdig. Erweist sich, dass mein Verdacht zutrifft, werdet ihr zu niemandem darüber reden. Das versprecht ihr, nicht wahr? Wie ich die Sache sehe, würde es euch keine Schwierigkeiten machen, Nicole auf den Pelz zu rücken.« »Nee«, sagte Tarzan. »Ein Kinderspiel. Ich weiß auch schon, wie.Wir könnten sie reinlegen, dass sie nicht weiß, woher der Westwind weht. Ob aus Süd oder Ost.« »Dann engagiere ich euch«, Emma klopfte auf den Tisch. »Was ist euer Preis?« 251
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»Meinen Sie Geld?«, fragte Karl. »Für Geld sind wir nicht zu haben. Das würden wir höchstens jemandem abnehmen, den wir nicht leiden können. Für den wiederum krümmt kein TKKG-Mitglied einen Finger. Wenn Sie uns belohnen wollen – Erfolg vorausgesetzt –, dann bitte in anderer Weise.« »Finde ich saustark«, sagte Emma, die nicht nur modisch mit der Jugend Schritt hielt. »In welcher Weise also?« »Indem Sie dort spenden, wo Geld Segen bringt. Bei den SOS-Kinderdörfern oder/und beim Tierschutzverein. Zum Beispiel.« »Mache ich!«, rief Emma. »Aber damit ihr nicht ganz leer ausgeht, seid ihr für morgen Abend eingeladen. Nein! Keine Angst! Nicht bei mir, sondern bei meinem Sohnemann, dem Direktor Günter Gisen-Häpplich von der Nosiop-Chemie AG. Bei seinem letzten Gartenfest des Jahres versammelt er alle möglichen und unmöglichen Typen um sich. Ich werde die Älteste sein, und ihr, meine Begleiter, seid garantiert die Jüngsten.«
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9. Trick 17 von Miss Apfelbacke Wo der Hornissen-Weg in die Brombeer-Allee mündete, hielten sie. Oskar beschnupperte gleich einen Baum und hinterließ seine Marke, wobei er das Hinterbein über Kopfhöhe hob. Klößchen maulte wie einer der gleichnamigen Affen. Er hätte das zweite Frühstück bei Emma gern noch ausgedehnt – bis zum frühen Nachmittag oder so. Aber seine Freunde lechzten nach Taten und nicht nach Schinkenröllchen, Kakao und selbst gemachter Erdbeermarmelade. Gaby lehnte ihr Rad an die Ruhebank, die fußmüde Vorort-Wanderer zum Verweilen einlud, und pustete gegen den Pony. Er musste geschnitten werden. Spätestens gestern. »Du weißt auch schon, wie«, sagte sie zu Tarzan. »Wie willst du die schöne Nicole reinlegen?« Tarzan hatte einen Turnschuhfuß auf die Lehne der Bank gelegt. Jetzt beugte er sich vor und berührte mit der Stirn das gestreckte Knie, was Rückschlüsse zuließ auf sehr dehnfähige Sehnen. Während er das Dehnbein wechselte, sagte er: »Ja.« »Ja, was?« »Ja, ich weiß. Ja, wir können sie reinlegen.« »Nämlich?« Er legte den Kopf aufs andere Knie, verharrte und sprach zu seinem Bein. »Vor Emma habe ich’s nicht ausgebreitet. Je geheimnisvoller unsere Methode ist, umso höher fällt ihre Spende aus. War übrigens Klasse, dein Vorschlag, Karl.« Karl lächelte. Klößchen sagte: »Tierheim ist ja klar. Aber was sind denn diese Esst! Oh! Esst! – Kinderdörfer? Verpflegungsstationen?« Gabys Pupillen verschwanden unter dem Goldpony. »Du 253
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liest wohl nichts außer Schokoladen-Anzeigen. SOS! Nie gehört? Das ist das internationale Seenotzeichen. Die Abkürzung für einen Hilferuf in englischer Sprache. Manche behaupten, es bedeute save our ship (rettet unser Schiff)! Andere sagen, es bedeute save our souls (rettet unsere Seelen)! In SOS-Kinderdörfern finden elternlose Kinder eine Heimat. Was Besseres für die Armseligsten unter den Kleinen gibt es nicht. Aber sie sind auf Spenden angewiesen. Deshalb!« »Werde meinen lieben Vater veranlassen, dass er eine größere Sendung Schokolade spendet.« Klößchen zog sein Taschentuch hervor und schlang einen Knoten hinein. Nicht vergessen!, hieß das. »Wir fahren zu Nicole«, griff Tarzan das Hauptthema wieder auf. »Unter einem Vorwand statten wir ihr einen Besuch ab. Der Vorwand muss glaubwürdig sein, damit sie nicht misstrauisch wird. Willi ist der Vorwand.« »Ich?«, fragte Klößchen. »Wieso bin ich glaubwürdig? Ich meine…« »Dein Anliegen ist glaubwürdig«, unterbrach Tarzan. »Du willst nämlich Malunterricht bei ihr nehmen. Klar? Du fühlst dich zum Künstler berufen. Porsche-Hubi soll nichts davon wissen, sondern überrascht sein, wie toll du dich plötzlich im Unterricht machst.« Gaby hatte sich auf die Bank gesetzt. Jetzt ließ sie den Oberkörper fallen, bis der Kopf zwischen den Knien hing. Ihr Rücken bebte. Ihr Zwerchfell schmerzte. Das Kichern zerriss sie fast. Karl nahm seine Brille ab und wischte sich Lachtränen aus den Augen. Gekränkt sah Klößchen die beiden an. »Was gibt’s denn da zu wiehern? Ich weiß, dass ich nicht besonders gut male. Umso nötiger erscheint mir der Nachhilfe-Unterricht. Könnte ich schon leinwandstark pinseln in der Manier der Kraniche…« 254
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»…Cranachs«, verbesserte Karl. »Kraniche sind die hier!« Er bewegte die Arme wie Flügel. »Ist ja egal!«, motzte Klößchen. »Jedenfalls will ich mich endlich kulturell vervollständigen, nämlich malen – auf dass sich die Nachwelt um meine Bilder… Nein, nicht die Nachwelt! Dann bin ich ja schon verblichen. Die Jetzt-Welt soll sich um meine Bilder reißen. Und die Vorwelt soll bedauern, dass es mich noch nicht gegeben hat. Und die Unterwelt – ja, die soll ihre besten Fälscher an die Staffelei zwingen, damit sie malen in der Manier Willi Sauerlichs.« Gaby wäre fast von der Bank gefallen. Glucksend hielt sie sich fest. Tarzan biss in den Hosenstoff über seinem Knie und verharrte eisern in dieser Haltung. »Dass du Unterricht nimmst, Willi«, sagte er gepresst, »dazu kommt es, meine ich, doch gar nicht. Dein Anliegen ist nur der Vorwand, um der Tussi auf die Bude zu rücken. Wir sind freundlich wie Immobilienmakler, die ein Kartenhaus als Atombunker anpreisen oder ein Luftschloss als Bürohaus verkaufen.Wir sülzen mit ihr. Dann begibt sich Gaby ins Bad. Weil sie mal muss. Ist natürlich nicht wahr. Gaby spioniert nur. Vielleicht liegt dort die Puderdose und…« »Da legt man keine Puderdose hin!« Gaby richtete sich auf. »Sie könnte feucht werden. Schon ist der Puder zu Kleister geworden. Man merkt wirklich, dass du keine Ahnung hast von weiblicher Lebensart. Puder und Make-up gehören auf die Frisierkommode. Und die steht im Schlafzimmer.« »Du könntest ohnmächtig werden, Pfote«, schlug Karl vor. »Wir legen dich aufs Bett und…« »Überflüssig«, schnitt Gaby ihm das Wort ab. »Emmas Puderdose ist auch nicht im Schlafzimmer. Eine Gold-Auster, wie beschrieben, reist in der Handtasche umher.« Für einen Moment schwiegen alle. 255
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Dann meinte Klößchen: »Vielleicht nehme ich aber doch Malunterricht. Schaden kann’s ja nicht.« »Willi!«, wies Gaby ihn zurecht. »Es geht darum, dass wir bei Nicole die Puderdose entdecken. Dann ist Agathe Tepler überführt, vermutlich, und Emma zufrieden. Ergo (folglich) spendet sie. Darum geht’s. Nicht um dich als Künstler.« Karl, der Computer, überlegte, ob dies der Moment sei, über die Cranachs, den Älteren und den Jüngeren, einen Vortrag rauszulassen, der eine aktuelle (für den Augenblick wichtige) Bildungslücke seiner Freunde geschlossen hätte. Aber… nein, er entschied sich anders und verschob die Cranachs auf später. »Wenn Nicole die Puderdose hat, werde ich sie ihr entlocken«, sagte Gaby. »Verlasst euch auf mich. Zittern wir ab!« Oskar scharrte im Laub unter einer Kastanie und freute sich dann, dass die Pause vorbei war. Sie radelten. Oskar hechelte. Es ging auf Mittag. Das Verkehrsaufkommen der Innenstadt dünnte sich aus. Vor Pommes-Buden drängten sich Ketschup-Fans. Die TKKG-Bande wurde überholt von einem Notarztwagen mit eingeschaltetem Blaulicht. In der Sperlings-Gasse verwöhnten Sonnenstrahlen die südseitige Häuserzeile. Die andere bekam mal wieder nichts ab. Porsche-Hubi war zu Hause. Jedenfalls parkte sein Wagen auf dem angestammten Platz. Die Haustür war offen, der Fahrstuhl noch nicht repariert worden. Die TKKG-Bande stieg die Treppe hinauf. Bei Nicole Tepler klingelten sie vergeblich. »Sie ist nicht da«, sagte Porsche-Hubi und schob den Kopf aus seiner Behausung. Ein 100-Volt-Lächeln strahlte auf. »Ah, ihr seid’s. Grüß euch, Kids! Herein zu mir! Habt ihr euch in der Tür vertan?« »Nicht direkt«, sagte Tarzan, während sie Hubis Aufforderung folgten. 256
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Er sah heute viel besser aus, hatte wieder Farbe im Gesicht, als wäre ihm die Puderdose zur Nutzung überlassen worden. Sogar der Gipsarm wirkte gesünder. In seiner Atelierwohnung quoll heiße Musik aus einer Stereo-Anlage. Und auf dem Tisch stand ein Junggesellen-Festmahl, bestehend aus einem Glas Wein und zwei Knäckebroten mit Erdnussbutter. Von den gefälschten Tafelbildern war nichts mehr zu sehen. »Die Polizei hat sie abgeholt«, erklärte er traurig. »Trotzdem werde ich sie kaufen, sobald sie wieder freigegeben sind. Aber nicht, um meinen Vater hinters Licht zu führen. Nein! Im Gegenteil! Hätte ich gestern Mittag gewusst, was ich jetzt weiß – nie hätte ich diesen Schwindel angeleiert. Er ist nämlich gar nicht so – mein Vater, meine ich.« »Sie haben mit ihm gesprochen?«, fragte Gaby. »Noch gestern Abend«, nickte Hubi. »War ein teures Telefonat. Ich habe alles gebeichtet. Statt mich runterzuputzen, hat er sich halb totgelacht. Meine Angst sei Strafe genug. Im Übrigen – er konnte kaum reden, so hat er gelacht.Vor allem über die Folgen deines Einbruchs,Tarzan.Wer hätte auch geahnt, was sich daraus ergibt.« Und wie die Folgen weitere Folgen nach sich ziehen, dachte der. Aber von der Aktion Puderdose, Hubi, verraten wir dir noch nichts. »Wir wollen Nicole Tepler besuchen«, sagte Klößchen. »Und sie fragen, ob… äh… ob sie mir… also, mich interessiert, wie das in der Manier der Kraniche… der Cranachs so geht. Ich meine, vielleicht gibt sie mir Malunterricht.« Hubi, der Klößchens einschlägige Begabung kannte, drückte Zweifel wie Altersfalten in sein Gesicht. Vielleicht wollte er seine Angebetene vor einem Nervenzusammenbruch bewahren. »Tja, Willi, also ausreden will ich dir das nicht. Aber vielleicht wäre Geigenunterricht oder Töpfern geeigneter für 257
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dich. Zeichnerisch ist dein Talent nicht so ausgeprägt. Doch… ob oder nicht, das musst du entscheiden.« Jedenfalls werde ich Nicole nicht vor ihm warnen, setzte er in Gedanken hinzu. Wäre unfair. Klößchen, den offenbar ein Formen- und Farbenrausch erfasst hatte, zeigte eine verbissene Miene. Jetzt erst recht!, hieß das. Ich werde lernen, wie man malt. Und wenn’s nur darauf rausläuft, dass ich unser ADLERNEST tünche. »In dieser Angelegenheit also«, ließ sich Karl vernehmen, »hätten wir Nicole gern gesprochen. Sie wissen nicht zufällig, wann sie zurückkommt – oder wo sie steckt?« »Sie ist bei ihrer Mutter«, sagte Hubi. »Olympia-Weg eins. Weiß nicht, wo das ist. Sie sagte nur, ihre Mutter wohne dort. Und weil Samstag ist, fahre sie hin.« Aha!, dachten die vier. Also los! Aber sie machten Gesichter, als könnten sie kein H2O-chen (H2O = ehem. Formel für Wasser) trüben. »Ich will ja nicht indiskret (taktlos) sein«, meinte Gaby neugierig. »Mich interessiert nur: Wie läuft es denn so? Ich meine, ist Nicole privat so nett, wie Sie glauben?« »Sie ist entzückend!« Hubi hätte fast die Augen verdreht. »Aber sehr, sehr zurückhaltend. Vielleicht verübelt sie uns doch, dass wir sie als freischaffende Künstlerin entlarvt und vernichtet haben – ihre Fälscherei, immerhin. Um Franz-Anton Kläcksl, diese fette Kröte, ist es nicht schade.« Mitnichten wäre es schade um den, stimmte die TKKGBande zu. Dann putzten die vier Freunde die Platte, versammelten sich bei ihren Stahlrossen im Licht der Mittagssonne und tätschelten Oskar, der brav dort gewartet hatte, angebunden natürlich. »Olympia-Weg«, sagte Karl, »ist gebongt (geht in Ordnung). Weiß, wo das ist.« Weil die andern das nicht wussten, radelten sie hinter Karl her, zu dem Vorort hinaus, fast zum anderen Ende der Stadt. 258
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Klößchen wehklagte wie üblich über bohrenden Hunger. Zu seinem Unglück kamen sie an zahllosen Gasthäusern vorbei, die Küchendüfte verbreiteten wie frische Dunghaufen das andere Aroma (Duft). »Grompf! Gulp! Haps-Haps! Krack! Knabber! Knurps! Mampf! Schmatz!«, gab Klößchen Laute von sich, die er offenbar für appetitanregend hielt, sie allerdings auch nicht zu den feinen Tischmanieren zählte. Seine Freunde ließen sich nicht beeindrucken. Nur Oskar blickte jedes Mal erstaunt und wedelte mit seinem Stummelschwanz. In seinem schlauen Hundehirn dämmerte ihm, dass auch Klößchen offenbar ganz versessen war auf – Hundekuchen. Olympia-Weg Nr. 1 erwies sich als das Eckhaus in einer Neuner-Reihe von Wohnschachteln, denen der Putz abfiel und die Dachziegeln zerbröselten. Überall parkten Blechkutschen. Die Mittagsstille wurde nur von 20 oder 30 Radios gestört, deren Programme – wegen geöffneter Fenster und Überlautstärke – gut zu vernehmen waren. Immerhin hatten die meisten Hörer denselben Popmusik-Sender eingeschaltet. Das klang nicht mehr wie Vielfach-Stereo, sondern fast schon wie Platzkonzert. Neue Gegend!, dachte Tarzan. Wenn’s dunkel wird, gehen sie wahrscheinlich mit Messern aufeinander los. Auf Nicoles Mutter bin ich gespannt. Dem Briefkasten-Schild entnahm er, dass sie Magda hieß. Dann standen die vier vor der Haustür. Und Gaby wollte gerade ihren schlanken Daumen bemühen, um auf die Klingel zu drücken. Im selben Moment wurden Stimmen laut hinter der Tür. Man näherte sich, offenbar, um jemanden zu verabschieden. »Also dann, Ottmar!«, sagte eine Frau. »Ja, bis später!«, heiserte er. »Heute Nachmittag passiert’s. Gnaski hat alles ausbaldowert. Da kann nichts mehr schief259
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gehen, und dann rollt die Kohle an. Tschüss, Mädels! Ich mach mich vom Acker, ihr Süßen!« »Komm gut aufs Gehöft!«, rief Nicole. Mit einer Handbewegung wischte Tarzan seine Freunde samt Oskar die drei Steinstufen hinunter, in den handtuchbreiten Vorgarten zurück, möglichst dicht zur Straße. Gerade noch rechtzeitig, bevor die Tür geöffnet wurde. Denn was man dort redete, war nicht für fremde Ohren bestimmt. Sogar Klößchen hatte rechtzeitig geschaltet. Und machte ein Ich-weiß-von-nichts-Gesicht. Ein großer, knochiger Typ trat aus dem Haus. Sein kantiges Faltengesicht spiegelte ein unfrohes Leben und Erfahrungen, auf die er sicher gern verzichtet hätte. Aber der Raubvogelblick glitzerte. Vielleicht hatten die beiden Teplers, die Mädels, die Süßen, ihn angemacht. Eine der Süßen stand hinter ihm – und war für die TKKGFreunde sofort als Nicoles Mutter zu erkennen. Ottmars Blick streifte die Kinder nur. Dann küsste er Magda die Fingerspitzen und trollte sich straßenwärts, wobei er Oskar fast auf die Vorderpfote getreten wäre. »Heh!«, begehrte Gaby auf, die ihren Liebling in letzter Sekunde zurückzog. »Treten Sie meinen Hund nicht!« Aber Ottmar überhörte das und stiefelte weiter zu seinem Wagen. »Wollt ihr zu mir?«, fragte Magda. »Sie sind sicherlich Frau Tepler«, nahm Tarzan das Wort. »Wir wollen zu Ihrer Tochter Nicole. Dr. Knoth meinte, sie wäre hier. Wir sind… also, Ihre Tochter kennt uns.« »Ach, ihr?«, tönte Nicoles Stimme aus dem Hintergrund. »Kommt rein!« Das war’s, was die vier wollten, obschon Nicole nicht vor Begeisterung übersprudelte. Sie lächelte etwas säuerlich, was keiner Erklärung bedurfte. Sie gab keinem die Hand. Den Vierbeiner bemerkte sie erst, als er ihre Waden beschnup260
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perte. Schön fand sie das nicht. Sie streckte auch keine Hand aus zum Streicheln. Vielleicht hielt sie ihn für tollwutverdächtig oder fürchtete sich vor Hundeflöhen. Tarzan wusste, was sich gehörte, und machte sich und seine Freunde Frau Tepler bekannt. »Wir haben ein Anliegen«, erklärte er dann. »Das heißt, Willi hat’s. Er ist begeistert von Ihnen als Künstlerin, Fräulein Nicole.« Das entsprach sogar der Wahrheit, denn vor ihren künstlerischen Fähigkeiten konnte man nur den Hut ziehen. »Er möchte bei Ihnen Malunterricht nehmen.« »Was? Malunterricht?« »Malunterricht«, bestätigte Klößchen. »In der Manier Cranachs. Oder so.« »Du meine Güte! Genügt es euch nicht, dass ihr mir ein Bein gestellt habt. Soll ich eurem Mops auch noch zeigen, wie man Leinwand beschmiert. Tut mir leid. Ich unterrichte niemanden. Vielleicht erbarmt sich mein Nachbar, wenn sein Gipsarm geheilt ist.« »Oh!«, sagte Gaby. »Sie lassen aber heute ihren Verdruss raushängen, dass man fast drauftritt. Sie sollten sich geehrt fühlen. Stattdessen beleidigen Sie unseren Willi – nur weil er nicht über Ihre Wespentaille verfügt. Himmel, wie mich das grämt! Mir fällt ja das ganze Blut in die Füße. Bin ich bleich, Tarzan?« Der begutachtete ihren Aprikosen-Teint und nickte heftig. »Totenbleich! Siehst aus wie… Übelkeit und umgerührt.« Gaby funkelte ihn an. Dass er auf ihr Spiel einging – gut! Aber so auf die Düse zu drücken, brauchte er nun auch wieder nicht. »Ja, schrecklich!« Sie schlug die Hände vors Gesicht, begann dann, wie wild in den Winzig-Taschen ihrer Jeans zu stochern. »O Gott! Wo habe ich denn mein Make-up-Döschen nur, damit ich mich wieder mit Frische versorgen kann.« 261
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Die beiden Teplers glotzten. Dass sich ein frischestrotzender Teenager wie Gaby schon anmalte, ging ihnen nicht in den Geist. Aber Gabys Schau lief noch weiter. »Mit Ihnen bin ich böse, Nicole«, jammerte sie. »Nachher gehen wir nämlich zu einer Schul-Party, wo Miss Apfelbacke gewählt werden soll, die Spätsommerkönigin mit dem herbstzarten Teint. Und wie sehe ich jetzt aus? Das verdanke ich Ihrer schlechten Laune. Mich trifft so was sehr. Da erhole ich mich stundenlang nicht. Mist, verdammter! Wo ich doch Zweite oder Dritte geworden wäre.« »Du siehst aber gut aus«, stellte Magda mit dümmlicher Miene fest. »Nicht so gut, wie es sein soll. Frau Tepler, bitte, könnten Sie mir nicht mit etwas Make-up aushelfen – mit einem Hauch Rosenklar für die Wangen. Oder – nein, Sie bevorzugen damenhafte Tünche. Nicole liegt wohl mehr auf meiner Linie. Hätten Sie etwas Puder, Nicole?« Jetzt war’s raus. Fantastisch unauffällig, wie sie das angeleiert hat, dachte Tarzan. Aber Zweifel beschlichen ihn. Konnte nicht jeden Moment Teplersches Misstrauen aufbranden? Nichts brandete. In ihren Gehirnen stellte sich keine Verbindung her zwischen der TKKG-Bande und Tante Agathe. Nicole seufzte nur kurz und knipste dann ein gehässiges Lächeln an. »Wart mal!«, verkündete sie. »Ich habe da einen Farbton. Der ist genau richtig für dich. Ein Wangenhauch für alle, die noch nicht 17 sind. Nur für jüngste Jugend.« Sie griff nach einem Ungetüm von Leinenbeutel und wühlte darin. Auf flacher Hand hielt sie Gaby die Puderdose hin. Tatsächlich, wie eine Auster!, dachte Tarzan. Ganz aus Gold. Geschmacklos. Und der Verschluss klemmt. 262
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Gaby bemühte sich, ihn zu öffnen, während der Triumph nicht nur aus ihren Blauaugen leuchtete. Auch das Blut, das angeblich in die Füße entwichen war, kehrte zurück und loderte in den Wangen. Mit verhaltenem Feixen beobachteten die Jungs, wie Gaby sich Emmas Teenager-Make-up auf Wangen und Näschen tupfte. »Vorher gefielst du mir besser«, sagte Tarzan. »Jetzt siehst du mehr aus wie Miss Zitronenschale, nicht wie Miss Apfelbacke.« Gaby zeigte ihm die Zähne wie eine Tigerin und puderte weiter. »Ich finde es irre gut«, meinte Klößchen. »Irgendwie gespenstig. Du siehst nicht gerade aus wie schwer krank, Pfote, aber ein bisschen wie ’ne Horror-Tussi.« »Kümmere du dich um deine Taille«, pfiff sie ihn an. »Mit meinen Apfelbacken mache ich, was ich will.« Sie gab Nicole die Puderdose zurück, bedankte sich und stand auf. Tarzan musste sich bremsen, um nicht mit Hand oder Taschentuch Gabys Gesicht zu entstäuben. »Also mit dem Malunterricht für Willi ist es nichts?«, fragte Karl nochmals. Schließlich waren sie deshalb gekommen, angeblich. »Dazu habe ich weder Zeit noch Lust«, schüttelte Nicole den Kopf »Mich drücken jetzt andere Sorgen. Würde ich ihm was beibringen«, sie wies auf Klößchen, »hieße es anschließend, ich hätte ihn zum Fälschen verführt.« »Nie würde ich das machen«, entgegnete Klößchen. »Aber ich kann verstehen, dass Sie ausrasten. So ein Berufsverbot trifft hart. Besonders wenn man den Cranach gut draufhat. Den müssen Sie sich jetzt aus der Glocke (Kopf) reißen und mit was anderem rummachen. Probieren Sie’s mal mit ’nem Bastelkurs. Denn Ende des Jahres ist wieder Weihnachten.« 263
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»Ach, hau ab, du Kullerpfirsich!«, schimpfte Nicole. »Ihr andern auch. Euer Anblick ätzt. Ihr ödet mich an.« Damit waren der Freundlichkeiten genug ausgetauscht und die TKKG-Bande verließ das Haus. Draußen warfen sie sich auf die Tretmühlen, jagten mit Oskar an der Leine – um die nächste Ecke und hielten. Wer sie beobachtete, musste denken, der Wahnsinn sei ausgebrochen, denn die vier fielen fast aus dem Sattel vor Lachen. Oskar wedelte. Klößchen setzte sich auf den Bordstein und strampelte mit den Beinen. Gaby hielt sich an Tarzan fest, kichernd. Karl musste seine Nickelbrille trocknen. »Miss Apfelbacke!«, japste Tarzan. »Das war die Idee! Hochachtung, Pfote! Und dieser selbstlose Einsatz! Hast nicht mal den Anstrich gescheut. Aber Willi hat recht, Horror-Tussi! Das Mehl muss runter.« Sie hielt still, während er ihr Gesicht mit dem Taschentuch säuberte. »Sieht noch etwas fleckig aus«, kommentierte (erläuterte) Karl. »Wie nach einer Magenkrankheit. Nach Lepra (Aussatz, Krankheit) oder so.« »Ihr habt ja keine Ahnung, was schön ist«, kicherte sie. »Das weiß sowieso nur die Schönheits-Industrie.« Tarzan feuchtete sein Taschentuch mit Spucke an und polierte Gabys Nase. »Und die Kosmetik-Hersteller schreiben es den dummen Weibern dann vor. Auhhh!« Gabys Schwinger hatte ihn auf den kurzen Rippen erwischt. »Was heißt das – dumme Weiber?« »Na, ich meine doch nur solche wie die Teplers, die sich dämonische Kosmetik-Fratzen aufschwatzen lassen.« Er schob sein Taschentuch in die Hose. »Leute, ist euch klar, was für ein bretterhartes Programm wir heute noch draufhaben? Damit meine ich nicht, dass wir Emma jetzt Mitteilung machen – nach erfolgreichem Ab264
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schluss der Aktion Puderdose. Ich sehe da eine ganz andere Kiste, die wir abfeiern müssen.Was dieser Ottmar rausließ, ist doch ein irrer Hinweis.« »Ich dachte, mich fegt’s aus den Sandalen, als ich hinlauschte«, nickte Gaby. »Wie hat er gedröhnt: Heute Nachmittag passiert’s. Gnaski hat alles ausbaldowert. Kohle rollt an.« »Wortwörtliche Wiedergabe!«, nickte Tarzan. »Ausbaldowern ist Ganovensprache und bedeutet: einen Coup auskundschaften. Das hat also ein gewisser Gnaski gemacht. Hübscher Name! Und so häufig. Ob der im Telefonbuch steht?« »Ich wette, Emma hat eins«, sagte Karl. »Da können wir nachsehen.«
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10. Fünfzig Zentner deutscher Käse Es läutete Sturm am Eingang der oberen Etagenwohnung im Hause Hornissen-Weg 12. Agathe Tepler öffnete. Draußen stand Emma. Genugtuung ersetzte das fehlende Puder auf ihren Wangen. Schon wollte Agathe die Tür zuknallen. Aber Emma hielt einen Finger an die Kante. Und den Finger zu zerquetschen – nein, das hätte Agathe nicht vermocht. Nicht mal bei einem als Hausierer oder Zeitschriftenwerber getarnten Räuber. »Ich komme nur, um den Beweis anzutreten«, sagte Emma über die – größtenteils echten – Zähne. »Deine Nicole! Also doch ein Miststück! Jetzt steht es fest. Vier Detektive habe ich auf sie angesetzt. Und was fanden die bei ihr? Meine Puderdose! Verstanden? So, jetzt bist du dran.« »Du… du… hast…?« Agathe musste sich gegen die Türfüllung stützen. Ihr Bridge-Klub-Gesicht wurde durchscheinend wie Klarsichtfolie. »De… tektive? Und gleich viiiiier!« »Was denkst du denn? Halbheiten mache ich nicht. Deine Großnichte! So ein kriminelles Stück. Und ich hatte doch recht – mit meiner Einschätzung, was sie betrifft. Recht hatte ich wie ein Politiker, der Unheil prophezeit. Stimmt auch immer. Ja! Drei Sekunden habe ich meine Tasche aus den Augen gelassen. Nicht mal! Ihr genügte das, um…« »Drei Sekunden?«, schrillte Agathes Stimme – laut genug, dass die TKKG-Freunde, die eine Treppe tiefer auf Lauschposten standen, alles hörten. »Fünf Minuten! Mindestens!« Agathe hob ihren zittrigen Sopran (höchste Singstimme). »Fünf Minuten warst du in der Kabine. Und die ganze Zeit hat deine Tasche in der Fensternische…« Sie stockte. Erschrocken über sich selbst, klappte sie den Mund zu. »Woher weißt du das?« Emma heuchelte Erstaunen. 266
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Agathe blickte zu Boden. Dann trat sie zur Seite. »Komm rein!«, sagte sie. »Ich habe Torte gebacken. Wir machen uns Tee.« Emma rührte keinen Fuß. »Von Nicole weißt du das nicht. Oder? Nicole hat also nichts damit zu tun. Aber dass du das warst…« Sie lächelte plötzlich wie anno 1829 die Häuptlingstochter »Tanzende Bisamratte« nach ihrem ersten, heimlichen Zug aus der Friedenpfeife, was man damals noch »den Nebel trinken« nannte. »Also,Agathchen, um ehrlich zu sein: So ein bisschen im Verdacht hatte ich dich gleich. Aber warum, zum Henkerskarren!, wirfst du dich so in die Kriminalität?« »Ich weiß nicht.« Agathe nestelte an ihrer Diamantkette, die sie auch beim Staubwischen trug. »Ich bin dir nicht gefolgt. Es war Zufall. Ich sah noch, wie du in die Kabine gingst. Deine Tasche lag einfach so rum. Erinnerst du dich, wie ich mich am Tag zuvor über deine Überheblichkeit geärgert habe? Weil du damit alles kaputtmachst und deine Umwelt schikanierst. Die Puderdose – dieses schöne Erbstück – hat dir auch nicht gefallen. Jetzt habe ich sie Nicole geschenkt. Ich glaube, Emma, ich wollte dir einen Denkzettel geben.« »Das ist dir gelungen!« »Bist du mir sehr böse?« »Jetzt nicht mehr. Und du mir?« »Auch nicht mehr. Ich sehe es ja ein. Du kannst nicht aus deiner Haut.Aber – ja, pudern solltest du sie. Sonst sieht man doch, dass du nicht mehr 20 bist.« »Die paar Jahre mehr«, lächelte Emma. »Auf die Puderdose verzichte ich. Lass sie dem Mädchen. Zu ihm passt sie besser. Was die Torte betrifft, bin ich gleich da. Meinen Tee bitte stark. Ich muss erst noch die Detektive verabschieden.« »Ach? Sind sie unten? Alle vier?« »Alle vier. Ihren Polizeihund haben sie auch dabei.« Agathe zog sich schleunigst in ihre Wohnung zurück. Die 267
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nächsten Minuten gestalteten sich schwierig für sie, musste sie doch einerseits für den Tee sorgen, andererseits hinter der Gardine lauern, um den Abgang der Detektive zu erleben. Aber das verpasste sie leider, weil just in dem Moment der Teekessel pfiff. Eine Etage tiefer bedankte sich Emma bei der TKKGBande, die offenbar stark unter Zeitdruck stand. Immerhin hatte Karl inzwischen in Emmas Telefonbuch geblättert, unter G – und schließlich seinen Freunden verkündet: »Es gibt nur einen Gnaski. Bert Gnaski. Sudelfeld 19. Das klingt wie Kloaken-Allee (Kloake = Abwässerkanal), was? Hoffentlich ist das unser Mann.« Jetzt verabschiedeten sie sich von Emma. Die muntere Seniorin erinnerte nachdrücklich an die Einladung für den morgigen Abend – bei ihrem Sohnemann, dem Nosiop-Direktor Günter Gisen-Häpplich. »Ist notiert«, grinste Klößchen und klopfte mit flacher Hand an seinen Kopf »Und weisen Sie das Personal bitte auf meinen – eher starken – Appetit hin. Damit es zu keinem ernährungsmäßigen Engpass kommt für die anderen Gäste.« »Sei unbesorgt«, lachte Emma. »Ein Spanferkel ist für dich reserviert – ganz zu schweigen vom Nachtisch.« Klößchen war zufrieden und ließ sich von seinen Freunden ins Freie schleifen. »Wir haben Gnaski im Kopf und du denkst ans Futtern«, schimpfte Tarzan. »Tempo, Freunde! Der Nachmittag bricht an. Und da soll es passieren, wie jener Ottmar verkündet hat.« »Weißt du den Weg?«, fragte Gaby. »Nein«, sagte Tarzan. Auch Karl war überfragt. »Kloaken-Allee?«, schüttelte Klößchen den Kopf. »Nie gehört.« 268
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»Das war doch nur mein Vergleich«, ereiferte sich Karl. »Gnaski wohnt Sudelfeld 19.« »Ach so.« Klößchen schwang einen strammen Schenkel über den Sattel. »Dann folgt mir. Das kenne ich.«
* Es war Samstagmittag auf dem Autobahn-Abschnitt südlich der Stadt. Ottmar Lohmanns Wagen parkte auf dem Rastplatz STEINEICHE. Lohmann saß am Lenkrad. Mal spähte er in den Rück-, mal in den Außenspiegel. Außerdem lutschte er an einem Bonbon. Der Rastplatz war klein, nur zum kurzen Verschnaufen angelegt. Ohne Tankstelle, ohne Raststätte. Um dringenden Bedürfnissen nachzukommen, eignete sich der Hintergrund nicht. Nur wenige Büsche boten Schutz vor neugierigen Blicken. Freies Feld erstreckte sich bis in die Ferne. Lohmann war zurzeit der Einzige hier. Auf der Autobahn zischten Ausflügler südwärts.Ab und zu donnerten Lastzüge vorbei. Jetzt scherte ein pflaumenblauer Lieferwagen aus, rollte auf den Rastplatz, verlangsamte und hielt hinter Lohmanns Wagen. Bert Gnaski stieg aus. Er trug einen Monteursanzug. Die Schirmmütze hatte er sich tief in die Stirn gezogen. Er kam heran, öffnete die Beifahrertür und glitt auf den Sitz. »Hallochen!«, grinste er – und schüttelte Lohmann die Hand. »Hallo, Bert!« Er hatte ihm 2000 Euro Handgeld überlassen.Teils als Vorschuss, teils fürs Ausbaldowern des Coups.Als er Gnaski jetzt musterte, keimten Zweifel in ihm auf. War das noch der Gnaski von früher, der verlässliche Kumpel? 269
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An Jahren unterschieden sie sich kaum. Aber Gnaski litt offenbar an vorzeitiger Verkalkung. Früher hatte er kaum mal gelächelt. Jetzt grinste er ständig – wie ein Idiot. In seinem schrumpligen Affengesicht blinzelten nervöse Augen. Sein künstliches Gebiss war schlecht gearbeitet. Oft musste er ganz rasch die Kiefer schließen, damit’s ihm nicht rausfiel. Körperlich wirkte er allerdings fit. Er war groß und massig, besaß breite, aber stark abfallende Schultern. An der linken Hand fehlte der Daumen. Was das betraf, hatte er verschiedene Les- bzw. Hörarten auf Lager. Mal gab er zum Besten, er hätte den Daumen beim Holzhacken verloren. Mal – die verirrte Pistolenkugel eines Polizisten hätte den Finger abgetrennt. Mal war er mit dem Daumen in der Tür eines anfahrenden Zuges hängen geblieben. Es waren keine schönen Geschichten. Aber er erzählte sie trotzdem. »Alles klar?«, fragte Lohmann. »Alles klar.« Lohmann sah auf die Uhr. »Kurz nach halb zwei. Es läuft an. Gehen wir’s rasch noch mal durch.« Gnaski nickte. »Was ich weiß, weiß ich von dem Tank-Fahrer, als der besoffen war in der Kneipe und mit mir noch einen und noch einen gehoben hat. So konnte ich ihn aushorchen. Habe ich später noch mal überprüft. Hat alles gestimmt. Kannst dich drauf verlassen, Ottmar.« »Das will ich hoffen. Also: Um 14 Uhr startet der Tanklaster ›Tickende Bombe‹ bei der Nosiop AG. Er erreicht bald die Autobahn und fährt in südliche Richtung. Uns interessiert nur, dass der Fahrer Kurt Weinhard immer den Rastplatz Obermühle anfährt – obschon’s nahe bei der Stadt ist.« »Macht er«, nickte Gnaski, »weil dort die Pommes-Bude ist, wo die Frau die besten Bouletten macht, die es gibt. Habe ich auch schon gekostet. Die schmecken. Sind wenig Semmeln drin, aber viel grüner Pfeffer. Weinhard steht drauf. Für 270
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ihn macht sie immer besonders große. Die nimmt er mit. Als Verpflegung.« »Und Weinhard parkt immer ganz hinten, wo der Wald beginnt. Damit sein Wagen nicht auffällt, richtig?« »Ist richtig. Eigentlich soll er nämlich durchfahren bis Aschenberg. Aber dort gibt’s die Bouletten nicht.« »Ich fahre jetzt voraus«, nickte Lohmann. »Beim Rastplatz Obermühle stelle ich meinen Wagen ab. Ich schlage mich hinten in die Büsche. Die Gegend habe ich mir angesehen. Ist wie bestellt. Kein Aas pinkelt dort, weil vorn die Toiletten sind. Die meisten parken auch vorn. Ich warte also in den Büschen. Mich darf niemand sehen. Du weißt, ich bin vorbestraft. Werde ich erkannt, fliege ich auf. Und mit ’ner Maske kann ich nicht auf dem Rastplatz rumrennen. Ich bin also dort. Dann kommst du, hast dich nämlich vor unseren Tankwagen gesetzt, geleitest ihn, ohne dass der was merkt. Weinhard parkt. Du parkst neben ihm. Mit deiner Karre verdeckst du die Sicht nach hinten. Sobald Weinhard aussteigt, hältst du ihm deine Kanone unter die Nase. Er wird in die Büsche gescheucht. Sind ja nur ein paar Schritte. Dort empfange ich ihn. Er wird gefesselt und geknebelt. Dann übernehme ich die ›Tickende Bombe‹. Du folgst mit deinem Wagen. Bei der nächsten Abfahrt geht’s runter von der Autobahn. Zwanzig Minuten noch, höchstens, und wir sind im Höllental. Wir stopfen den Tankwagen in den alten Stollen, der mal ein Tunnel werden sollte. Wir machen den Eingang dicht und fertig ist die Laube. Dann fahren wir mit deinem Wagen zum Rastplatz zurück, damit ich meine Karre hole. Prachtvoll! Du sollst sehen, es gelingt.« Gnaski schob mit zwei Fingern sein Gebiss zurecht. »Aber wenn nun der Tunnel einstürzt?« »Warum sollte er? Der hält seit Jahrzehnten.« »Hast du einen Führerschein für Lkw?« »Nein.« 271
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»Hm. Hoffentlich wirst du nicht angehalten.« »Doch nicht auf dem kurzen Stück.« Gnaski blinzelte, massierte sich dann mit zwei Fingern die Lider. »Bist du in Ordnung, Bert?« »Bin ich. Ich sehe nur manchmal nicht gut. Liegt vielleicht daran, dass ich so viel vor der Glotze sitze.« »Hast du eine Brille?« »’ne Sonnenbrille. Aber die liegt zu Hause. Hab sie vergessen.« Hoffentlich packt er’s, dachte Lohmann.Viel ist nicht mehr mit ihm los. O Mann! Noch diesen einen Coup. Dann kannst du dich von mir aus einsalzen lassen. »Es wird Zeit, Bert. Am besten, du bist jetzt bereit.« Gnaski nickte, verstärkte sein permanentes (ständiges) Grinsen, stieg aus und stolperte zu seinem Wagen zurück. Erst beim dritten Versuch sprang der Motor an. Der pflaumenblaue Lieferwagen rollte ein Stück näher an die Ausfahrt und hielt. Von dort aus konnte Gnaski alles sehen, was in südliche Richtung fuhr. Auch den Nosiop-Tankwagen, die »Tickende Bombe«. Aber so lange wartete Lohmann nicht. Er fuhr los, winkte Gnaski zu, erspähte eine Lücke im Fahrzeugstrom und fädelte sich ein. In gemütlichem Tempo rollte er zum Rastplatz OBERMÜHLE. Keine zehn Minuten waren vergangen, als er an den Tanksäulen vorbeifuhr, das überfüllte Rasthaus rechts liegen ließ, auch den Pkw-Parkplatz mied und seinen Wagen nach hinten lenkte, wo die Lastzüge halten durften. Dichte Büsche begrenzten das Gelände. Hinter dem Buschgürtel begann Wald. Denn, wie erwähnt, alles, was man auf Rastplätzen erledigt – sich erfrischen, essen, trinken und das Gegenteil –, fand vorn statt, in den dafür vorgesehenen Einrichtungen. 272
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Es war heiß, mittagsheiß, aber der Himmel zur Hälfte von Grauschleiern verdeckt. Sie spannten sich langsam nach Süden aus. Spätnachmittags kriegte das Schönwetter bestimmt einen Dämpfer. Auf dem Lkw-Parkplatz stand nur ein Möbeltransporter. Er war riesig, konnte sicher die Einrichtung einer überladenen Zehn-Zimmer-Villa aufnehmen. Die Fahrer – zwei – hatten eben ihre Schwerarbeiter-Mahlzeit beendet, nämlich ein halbes Kilo Hartwurst und fünf Semmeln pro Nase vertilgt, wischten die Taschenmesserklingen am Hosenbein ab, rülpsten kräftig und machten sich startbereit. Lohmann beobachtete zufrieden, wie der Lkw-Riese zischend und rumpelnd abzog, fuhr zum Pkw-Parkplatz zurück, ließ seinen Wagen dort und schlenderte zu den Büschen. »Wirklich ein günstiger Platz! Hier waren sie unbeobachtet, wenn sie – nachher – Kurt Weinhard überwältigten und Besitz ergriffen von der »Tickenden Bombe«. Eine Million!, dachte er. So viel wird und muss mir das einbringen. Gnaski wird mit ’nem Butterbrot abgespeist. Alles andere ist für meinen Lebensabend. Wenn ich mich nur entscheiden könnte – verdammt! –, ob ich den in Oberbayern verbringe oder an der Côte d’Azur. Beides ’ne affenstarke Gegend und geeignet für unsereins, für die Lohmanns mit den Taschen voll Kohle. Er grinste wie Gnaski und zog sich hinter die Büsche zurück. Das Laub färbte sich bunt, hing aber noch dicht, sozusagen Blau an Blau. Deshalb war die Sicht nicht so gut wie vom Rathausturm. Aber das war auch nicht nötig. Was Sache war, kriegte er mit. Im Übrigen zerrte er sich jetzt eine schwarze Strumpfmaske über den Schädel. Sie hatte Sehschlitze und einen zum Atmen. Leider bestand sie nur zu 30 Prozent aus Kunstfaser, aber zu 70 Prozent aus Baumwolle. Das wärmte. Lohmann schwitzte bald, dass er sich die salzigen Tropfen 273
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fortwährend aus den Augen wischen musste. Dann – sein Herz hüpfte – war es so weit. Gnaskis pflaumenblauer Lieferwagen rollte heran. Statt zu parken, kurvte er umher, als sei er auf der Suche nach Stecknadeln im Heuhaufen oder dem verlorenen Groschen. Hinter ihm aber nahte, massig wie ein Schlachtschiff, der Tanklaster. Meine »Tickende Bombe«!, dachte Lohmann.Wunderbar! Wie gewaltig! Und randvoll mit Gift. Mit flüssigem Gift! Mit der berüchtigten Nosiop-Jauche! Willkommen, was du auch bist! Was auch in dir schwimmt – Arsenik, Strychnin, Zyankali, Blausäure, Brom, Chlor, Bleiweiß, Grünspan, E 605, Kohlenoxid, Kupfervitriol, Rattengift oder… Andere Gifte kannte er nicht. Aber das war ihm auch schnuppe. Er sah nicht sehr deutlich – wegen der Blätter an den Büschen und dem Schweiß in den Augen. Er sah nur die Umrisse des metallisch glänzenden Tankwagens. Von dessen Silberhaut prallte das Sonnenlicht ab. Blitze zuckten über den Rastplatz wie ein Privatfeuerwerk. Fünf Schritte links von Lohmanns Versteck hielt das Ungetüm. Bremsen fauchten. Der Motor verstummte. Gnaskis pflaumenblaue Kutsche war ziellos umhergeirrt. Jetzt setzte sie sich hart neben den Tankzug, als suche sie Schutz im Schatten seiner Flanke. Lohmann spähte. Aus dem Lkw-Führerhaus seilte sich ein Mann ab, buchstäblich, denn er war kurz geraten: ein Fernfahrer-Zwerg. Vom Führerhaus bis zum Boden – das war viel Höhe für ihn. Deshalb kletterte er. Das sah aus, als benutze er Seil, Pickel und Dülfersitz. Als er unten anlangte, stand Gnaski schon hinter ihm – mit der Wumme in der Hand. »Hände hoch!«, hörte Lohmann das harsche Kommando. 274
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»Keine Bewegung! Das ist ein Überfall. Ab in die Büsche! Los, los! Glotz nicht so. Ist ’n Überfall! Begriffen? Mensch, nimm die Hände runter! Was sollen denn die Leute denken!« Aber die, vorn beim Rasthaus und an der Tankstelle, konnten nichts sehen. Die beiden Wagen schirmten ab. »Hierher!«, rief Lohmann gedämpft. Er zog Stricke und Knebeltuch aus der Tasche. Außerdem hatte er ein Fläschchen Chloroform (Betäubungsmittel) eingesteckt, nebst einer Faustvoll Watte. Sie tanzten an. Der kleine Fahrer hatte sich in sein Schicksal ergeben und drängelte als Erster durch die Büsche. Gnaski hielt ihm seinen Ballermann an die Birne. Es war nur ein Gas- und Schreckschuss-Revolver. Aber er wirkte echt, als hätte schon Buffalo Bill mit ihm im Wilden Westen gewütet. »Guten Tag!«, grüßte der Tank-Fahrer, als er vor Lohmann stand. »Was? Ach so! Ja, Tag auch. Aber es ist kein guter für dich, Weinhard.« Weinhard war ein Mittfünfziger, hatte ein kleines Gesicht und den gesunden Teint des Nichtrauchers und Nichttrinkers. Wahrscheinlich aß er täglich sein Müsli und war auch jetzt guter Laune. Er lächelte sogar. »Leute, ich staune! Das ist mein fünfter Überfall. Ja, das fünfte Mal, dass ich ausgeraubt werde. Na ja, ist nicht mein Käse. Haha! Aber ihr macht es jetzt anders, ja? Sonst werde ich doch immer erst hinter der Grenze geschnappt. Immer erst in Italien. Gehört ihr zu der Bande? Euch kenne ich noch nicht. Nur eins ist mir rätselhaft. Welchen Großhandel beliefert ihr eigentlich? So viel Käse für den Eigenverbrauch – das ist doch unmöglich.« Lohmann glotzte durch seine Sehschlitze. »Was?« »Ja!«, bekräftigte Gnaski und bohrte dem Kleinen die 275
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Schreckschussmündung ins Ohr. »Was sabbelst du da? Wie meinst du? Und red keinen Blödsinn, Weinhard.« »Weinhard? Warum nennen Sie mich Weinhard? Ich heiße Max Braun.« »Dann bist du ein Aushilfsfahrer, Braun?«, forschte Lohmann. »Ich? Nee! Wieso? Ihr seid wohl doch von einer anderen Bande. Dann wisst ihr’s noch nicht. Seit 32 Jahren bin ich Fernfahrer bei der Zentral-Molkerei. Zwei Mal die Woche mache ich die Strecke nach Mailand runter. Und vorvoriges Jahr habe ich die Ehrenurkunde gekriegt für 30-jährige…« »Was quatscht du?«, fuhr Lohmann ihn an. »Wieso Zentral-Molkerei? Du gehörst doch zur…« Gerade noch rechtzeitig biss er sich auf die Zunge. Der kleine Braun blickte zu ihm auf, wandte sich Gnaski zu, zuckte verwundert die Achseln und verscheuchte eine Wespe, die von seinem Rasierwasser angelockt war. »Was beförderst du?«, fragte Lohmann. »Was ist in deinem Laster?« »Käse. Was denn sonst?« »Käse?«, wiederholte Gnaski blöde. »Giftiger Käse?« »Giftig? Wieso giftig? Na, hört mal! Jetzt werde ich aber böse. Ich komme von der Zentral-Molkerei und transportiere Käse nach Italien. Zweieinhalb Tonnen (50 Zentner). Besten deutschen Markenkäse. Vorwiegend Emmentaler, Edamer, Tilsiter, Romadur, Limburger, Harzer, Liptauer, Schmelz-, Rahm- und Frischkäse. Was soll daran giftig sein? Auf dem Rückweg habe ich dann Bel Paese, Gorgonzola und Parmesan geladen. Jawoll!« Lohmann sah Gnaski an. »Duuu… Sieh nach, ob das stimmt!« Der Ganove rannte zum Laster. Mit der Nase strich er an der Seitenwand entlang, als wollte er sie ablecken. Aus dieser geringen Entfernung konnte er lesen, was dort stand. 276
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Aber er glaubte es noch nicht. Er prüfte auch das Nummernschild. Dann stieg er ins Führerhaus, fand die Schlüssel, lief zum Heck, öffnete die Tür und beglotzte die Ladung. Der Duft, der ihm entgegenschlug, reichte. Als er zurückkam, war er schuldbewusst, als hätte er einem Baby die Rassel geklaut. »Ehrlich, Ott…« »Pst! Mensch!« »Ach so, ja! Also – ist ’n Irrtum. Weil…« »Doch nicht vor ihm, du Armleuchter!«, wetterte Lohmann. Unter seiner Strumpfmaske herrschten etwa 48 Grad. Aber er durfte sein Gesicht nicht zeigen. Mit erzwungener Ruhe wandte er sich an Braun. »Das Ganze ist… eine Verwechslung.Also, wir fesseln dich jetzt.Wenn wir weg sind, kannst du um Hilfe rufen.Wir brauchen nur Vorsprung. Verstanden?« Braun ließ sich fesseln. Ist ein Jubiläum (Ehrentag), dachte er. Zwar ’ne Verwechslung, aber für mich trotzdem die fünfte Gefangennahme.Werde ich feiern, wenn ich zurück bin. Fünf Mal! Welcher Kollege kann das aufweisen? Keiner! Ich halte den Rekord. Bin absolute Spitze. Das dicke Ende kam freilich noch. Denn als sie ihn gefesselt hatten, tränkte Lohmann seine Watte mit Chloroform. Den Bausch drückte er Braun auf Mund und Nase. Der zappelte und versuchte, durch die Ohren zu atmen, was aber nicht gelang. Der Betäubungsduft erledigte ihn. Mit einem gequälten Seufzer sank er zurück. Die beiden Ganoven konnten sich in Ruhe verzupfen. Lohmann packte Gnaski am Arm. »Mensch, Bert! Wie konnte das passieren?« »Ottmar, die Wagen sind sich so ähnlich. Sind so wie Zwillinge! Sind ganz gleich. Auch die Nummernschilder sind gleich. Nur ein Buchstabe ist anders. Den, den ich nicht gese277
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hen habe vorhin, weil er schnell fuhr. Und meine Augen sind nicht mehr so.« Dieser Idiot!, dachte Lohmann. Vermasselt mir alles! Haben wir jetzt die »Tickende Bombe« verpasst? Hat Weinhard ausnahmsweise mal vorn geparkt, um rascher an seine Bouletten zu kommen? Er äugte zum Rasthaus, wo auch die Pommes-Bude, der Imbissstand, die Schnellfresse war. Aber nirgendwo parkte ein Lastzug. Nur Ausflügler rasteten, labten sich und hofften, dass das Wetter noch hielt, obwohl besagte Grauschleier nun schon zwei Drittel des Himmels überzogen. Gnaski rang die Hände und trat von einem Fuß der Schuhgröße 46 auf den andern. »Wo ich doch alles gut ausbaldowert habe. Genau! So ein Unglück! Aufgeschrieben habe ich’s mir. Sonntag, der 19.! Um 14 Uhr ist, wo Weinhard startet und…« »Waaas?«, blaffte Lohmann, der keine Maske mehr trug, aber aussah, als hätte sein Kopf in der Bratröhre gelegen. »Ich denke, heute!« »Heute. Ja.« »Was faselst du dann von Sonntag, dem 19.?« »Ist heute.« »Bert, komm! Bleib ganz ruhig! Musst nicht durchdrehen. Warst doch früher ein Ass. Heute ist Samstag, der 18.! Verstanden, du Treibhausbanane, du Piepen-Pig (Geldschwein). Ein Fuzzi wie du sollte auf Stütze leben (von staatlicher Unterstützung) und mir nicht den flash (Geistesblitz) versauen.« Gnaski duckte sich, als erwarte er Prügel, konnte aber sein Grinsen nicht abstellen. Offenbar war das ein Schaltfehler im Gesichtsmuskelbereich. »Auf meinem einfachen Kalender, Ottmar, den ich benutze, ist heute der 19.! Doch!« »Dann ist es der falsche Kalender«, sagte Lohmann, nach278
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dem er drei Mal tief durchgeatmet hatte, »vielleicht der vom Vorjahr oder vom nächsten Jahr. Oder von 1820. Oder ein japanischer. Dort geht ja die Sonne früher auf. Kackegal, Mann! Stimmt das nun wirklich? Sonntag, der 19.? Start 14 Uhr?« »Stimmt ehrlich!«, beteuerte Gnaski. »Ehrlich wahr! Weiß es genau, weil der Tank sonntags fahren soll, wo nicht so viel Verkehr ist wie sonst. Weil Berufsverkehr nicht ist, wo die meisten Unfälle passieren. Und eine Ausnahmegenehmigung fürs Wochenende haben sie.« »Das leuchtet mir ein«, nickte Lohmann. »Gott sei Dank! Dann ist nichts verloren. Also morgen das Ganze noch mal. Aber richtig, Bert! Denk an die Kohle. Ich brauch sie. Du brauchst sie. Also holen wir sie uns. Trink heute keinen Schnaps. Geh früh ins Bett. Und bring morgen deine Sonnenbrille mit. Los, jetzt in den Wagen und ab, bevor der kleine Braun die Pupillen auf Durchblick schaltet. Chloroform wirkt nicht ewig.« Jeder stieg in seinen Wagen. Sie rauschten ab. Aber Lohmann hielt kurz bei der Pommes-Bude und erstand zwei Bouletten. Er wollte wissen, ob die wirklich so gut waren.
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11. Was die Autokarte verrät Das Sudelfeld wirkte nicht besudelt, sondern leidlich sauber, war eine bescheidene Straße, die am Bahndamm verlief, wo die Anwohner mit Geduld oder geballten Fäusten die Geräusche ertrugen: die Pfiffe der Loks und das Rattern der Räder. Etwa alle zehn Minuten schickte die Bundesbahn irgendeinen Zug vorbei, und sei’s manchmal nur, um fünf Pendler aus einem Vorort per Triebwagen wieder nach Hause zu bringen. Die TKKG-Freunde radelten an Haus Nr. 19 vorbei. Es lag im Winkel, duckte sich in den Schatten des Bahndamms. Auf drei Seiten wurde es umwuchert von einer Hecke, die aussah wie der Inhalt einer Seegras-Matratze. Das Haus war eine Bude, klein und verrußt. Auf der vierten Seite lehnten sich Bretterschuppen an. Sicherlich fielen sie nach dem Gerumpel eines vorbeifahrenden Güterzugs wie Kartenhäuser in sich zusammen. Aber Gnaski stellte sie immer wieder auf. »Die Adresse stimmt jedenfalls«, sagte Tarzan über die Schulter. »Gut gemacht, Willi. Jetzt fragt sich nur, ob dieser Gnaski unser Gnaski ist, ob er ausbaldowert und zu jenem Ottmar gehört, der die Teplers meine Süßen, meine Mädels nennt.« Sie hielten am Ende der Straße, wo das Sudelfeld sich stadtwärts krümmte und seinen Namen änderte.Ab hier hieß die Prachtstraße Hinter-dem-Bahndamm. »Er scheint ein Single (Alleinstehender) zu sein«, meinte Gaby. »Nur sein Bert Gnaski steht am Zauneingang. Außerdem sind die Gardinen so dreckig und speckig – nein, der hat keine Frau.« »Ich kenne einen Mitbürger«, grinste Karl, »der hat eine Frau und drei Töchter zwischen 16 und 20. Außerdem hat er Gardinen wie Speckschwarten.« 280
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»Es gibt eben Weiber«, nickte Klößchen fachmännisch, »die haben null Bock auf Hausputz und Wäsche. Aber Gnaskis Hütte ist wirklich zu klein. Da lebt höchstens noch ein Sittich (Papagei). Und wenn mit Bert auf derselben Welle, dann ist es ein Wellensittich. Haha.« »Ich seh mir den Typ mal an«, beschloss Tarzan. »Ich klopfe an die Tür und sage… äh… ja, was sage ich denn? Idee, komm raus!« Er tippte sich mit der Fingerspitze auf die dunklen Locken. »Ja, ich sage…« »Du bist Lehrling bei der Bahnpolizei«, fiel ihm Klößchen ins Wort, »und musst überprüfen, ob das Haus auch nicht zu dicht am Gleiskörper steht.Wenn er bei dem Wort Polizei zusammenzuckt oder bleich wird, dann baldowert er auch, und wir wissen, er ist es.« »Das ist kein sehr guter Vorschlag, Willi«, meinte Karl, »nicht mal ein guter. Bei der Bahnpolizei gibt es nämlich keine Lehrlinge.« Tarzan hatte inzwischen einen kleinen Notizblock aus der Gesäßtasche gezogen. »Eine Spendenliste«, erklärte er. »Ich mache eine Straßensammlung. Meinen Schülerausweis habe ich mit. Ich sammle für die SSV, die Schüler-Selbstversorgung. Gibt’s ab sofort – warum nicht? Ich weiß, Gaby, du hast rechtliche Bedenken. Straßensammlung ohne amtlichen Auftrag und Ausweis ist verboten, weil strafbar. Aber ich verwende es ja nur als Vorwand. Und Gnaski spendet sowieso nichts.« »Wenn aber doch«, meinte Klößchen hoffnungsvoll, »dann verfressen wir’s, ja?« »Wenn aber doch«, schüttelte Tarzan den Kopf, »dann weise ich seine 50 Cent zurück und erkläre, es sei nur ein Test über die Spendenfreudigkeit der Bevölkerung angesichts mieser Wirtschaftslage und steigender Arbeitslosigkeit. Wartet hier. Bin gleich zurück. Dann wissen wir wenigstens, was für ein Typ dieser Typ ist.« 281
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Oskar wollte mit. Aber Gaby hielt ihn zurück. Tarzan radelte zu Nr. 19, lehnte sein Stahlross an den Zaun und flankte über die Latten, weil das zünftiger war als die Benutzung der Pforte. Es gab keine Türklingel, nur einen verrosteten Briefkasten. Tarzan klopfte. Er ließ Vorsicht walten, damit die Tür nicht aus dem Rahmen fiel – immerhin war das Klopfen zu hören. Doch niemand öffnete. Er sah auf die Uhr. Viertel nach zwei. …heute Nachmittag passiert’s, hatte dieser Ottmar gesagt. War Gnaski dabei? Begann der Nachmittag bei denen ganz früh, etwa schon mittags? Wenn ja, dann passierte – bittschön – wo was? Wahrscheinlich kommen wir ein bisschen zu spät, dachte er. Hätten Emma auf später verschieben sollen. Er ging zur hinteren Hausecke, um durch eins der hinteren Fenster zu spähen, wo die Gardinen vielleicht nicht so theatervorhangdicht hingen wie frontseitig. Schon wollte er um die Ecke huschen, als er mit erhobenem Fuß stoppte. Geröll rieselte. Schritte. Schleichschritte. Jetzt barst ein trockener Ast. Knacks! Dann raschelten Blätter, als zwänge sich jemand durch Büsche, aber verstohlen – nicht wie ’ne Wildsau, die am Volkswandertag GOLDENER RUCKSACK teilnimmt. Mit einem Auge spähte Tarzan um die Ecke. Hinter dem Häuschen, etwa 80 Zentimeter von der Mauer entfernt, verlief ein Zaun. Er bestand nur aus zwei Drähten, aber er sorgte für Abgrenzung. Unterstützt wurde er von einer Reihe dürftiger Büsche. Sie hatten schmutzige Blätter, wuchsen nämlich am Fuße des Bahndamms, der hier steil anstieg und das Häuschen – sogar dessen Schornstein – überragte. Der Mann war über den Bahndamm geturnt, hatte sich 282
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durch die Büsche gezwängt, überstieg jetzt die beiden Drähte und duckte sich an die Hauswand. Sehen konnte ihn niemand – außer Tarzan. Die hohe Seegras-Hecke verstellte die Sicht straßauf. Straßab standen die Schuppen. Wenn das Gnaski ist, dachte Tarzan, fresse ich den Besen, mit dem sie den Bahndamm fegen. Der Mann mochte Ende zwanzig sein, war groß und elastisch, hatte grüne Augen und gepflegte braune Locken, die er sicherlich morgens und abends schamponierte. Rasiert war er nicht so gut.Aber er hatte seinen besten Anzug an, den aus majonäsegelber (Majonäse – Würzsoße aus Öl und Eidotter) Rohseide. Jedenfalls konnte Tarzan sich nicht vorstellen, dass der Anschleichtyp einen noch besseren Anzug besaß. Will dasselbe wie ich, dachte Tarzan. Ausbaldowern! Hah! Das nervt aber, Fiffi! Für zwei ist der Garten zu klein. Ich bin ja rücksichtsvoll. Aber du zertrittst Gnaskis Radieschen. Der Fiffi war in die Kniebeuge gesunken und spähte – mit der Nase auf dem Fenstersims – durch eine Scheibe ins Haus. Dann drückte er gegen das Fenster. Offenbar ließ es sich öffnen. Denn er schwang ein Bein hinein und war dann verschwunden. Da springt doch das Huhn aus dem Suppentopf! Tarzan schlich an der Wand lang zum Fenster.Was will der? Ein Einbrecher? Ein Krösus (Geldsack) in Seidenschale, der hier auf Beute geht? Hier? Er stand jetzt neben dem Fenster und riskierte wieder ein Auge. Es war ein winziger Wohnraum, angefüllt mit SperrmüllMöbeln. Der Tisch wackelte, als der Fiffi sich drüberbeugte und mit beiden Händen draufstützte.Auf dem Tisch lag – ausgebreitet, aber kein Ersatz für eine Damastdecke – eine große Land- oder Autokarte. Mit schwarzem Filzschreiber hatte jemand Markierungen und Notizen angebracht. 283
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Der Fiffi luchste, dass ihm die Augen dick raustraten. Überraschung malte sich zwischen seine Bartstoppel, und er bewegte die Lippen beim Lesen wie jemand, der das inzwischen verlernt hat, weil er sich nur noch mit dem Videorecorder (Speichergerät für Fernseh-Aufnahmen) und der Glotze abgibt. Was sucht der?, überlegte Tarzan. Die Land- oder Autokarte entzückt ihn. Hat er sich verfahren? Und jetzt entdeckt er die Auffahrt zur Autobahn? Der Typ räusperte sich, spuckte unfein auf den Boden, studierte die Karte noch einmal, tippte mit dem Finger auf einige Stellen und nickte zufrieden. »Aha!«, murmelte er. »So läuft das Spielchen… Ja, wenn’s so läuft«, er grinste, als unterhielte er sich mit dem besseren Teil seiner Seele, »dann zieht euch warm an, ihr Giftnapper.« Er sagte… napper mit langem a, nicht… näpper, was ein Mindestmaß an Englisch-Kenntnissen verraten hätte. Aber nach Kenntnissen sah er nicht aus.Was er kannte und wusste, hatte er nicht in der Schule erworben, sondern garantiert in einer halbseidenen Umgebung, wo die großen Ganoven majonäsefarbene Anzüge trugen. Er klaute nichts. Er sah auch nicht nach, ob Gnaski sein Sparschwein mästete oder wertvolle Briefmarken sammelte. Er wandte sich zum Fenster und Tarzan sauste wie ein geölter Sonnenstrahl hinter die Ecke zurück. Oben auf dem Bahndamm klirrten die Schienen. Betonschwellen ächzten. Ein Hauptsignal knarzte. Beide Arme stellten sich halb schräg, was bekanntlich »Langsamfahrt« heißt. Der ICE-Zug (Intercity-Express), der jetzt volle Pulle heranraste, missverstand das wohl, oder der Zugführer schlief. Jedenfalls sauste der Spuk vorbei, dass sich die Büsche im Fahrtwind bogen. Aber dann wurde der Wind doch zum Säuseln und der Express minderte sein Tempo. Tarzan spähte um die Ecke. 284
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Der Fiffi hatte gewartet. Jetzt kletterte er heraus, verhakte seinen Gucci-Schuh auf der Fensterbank und fiel fast auf die Nase. Es war klüger, ihn laufen zu lassen, befand Tarzan und beobachtete, wie der Kerl den Bahndamm hinanstieg. Dabei raffte er seine majonäsefarbenen Hosenbeine wie eine Dame ihr Abendkleid, wenn sie auf dem Müllplatz spazieren geht. Er fluchte auch, der Typ, denn der Schotter war rußig und ölig. Seine Treter konnte er abschreiben. Nachdem der jenseitige Hang ihn geschluckt hatte, lief Tarzan zum Fenster. Es war geschlossen, aber nicht verriegelt. Er drückte es auf und stieg ein. Die Bude roch, als wäre der Kammerjäger (Ungeziefer-Bekämpfer) da gewesen. Neugier brannte in Tarzan wie ein mittleres Fieber. Er stürzte sich auf die Karte. Eine Autokarte! Aha! Von der Stadt, der Großstadt, und von der angrenzenden Welt. Die reichte etwa 50 Kilometer nach allen vier Seiten, und Gnaski – wer sonst? – hatte mit Schönschrift gemalt. Es sah ein bisschen aus wie das Stenogramm (Kurzschrift) einer Neandertaler-Sekretärin. Doch Tarzan konnte es lesen. Ein fetter schwarzer Kreis umschloss den Autobahn-Rastplatz OBERMÜHLE. Daneben war vermerkt: Nosiop-Brummi, Kurt Weinhard, 19., nicht vor 14 Uhr! Ein Pfeil wies auf eine Gegend, die sich HÖLLENTAL nennt. Tarzan kannte das Tal, war einmal dort gewesen und dann nicht wieder. Vermerkt war: Alter Tunnel!!! Beim dritten Ausrufungszeichen fehlte der Punkt. Den alten Tunnel kannten nicht nur die Maulwürfe. Den kannte jeder, der jemals im Höllental Him- oder Brombeeren gesucht hatte. Sicherlich – hinein konnte man nicht. Bau285
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arbeiter hatten ihn zugestopft wie einen Flaschenhals, aber nicht mit Zement, sondern mit Bohlen und Balken, die nun schon seit Jahren verrotteten. Tarzan starrte die Karte an. Eine Generalstabskarte? Unterlage zu einem Plan? Nosiop? Aha! Aha! Brummi? War da ein Lastkraftwagen gemeint? Der Fiffi blickt durch, ärgerte sich Tarzan, ich verstehe nur Bahnhof. Welches Spielchen läuft da? Und wieso brauchen Giftschnapper oder -napper warme Klamotten? Augenblicke später war er bei seinen Freunden. Während er berichtete, fuhr ein Triebwagen vorbei – fünf Minuten danach ein Güterzug, der’s nicht eilig hatte. »Höchst seltsam«, sagte Gaby und meinte Tarzans Neuigkeiten. »Jedenfalls brodelt da was«, nickte Karl. »Es betrifft diesen Ottmar und Gnaski, den Bahndamm-Siedler. Der Fiffi interessiert sich dafür. Und die beiden Teplers kennen Ottmar. Nicht von ungefähr haben sie ihm gewünscht, er möge gut aufs Gehöft kommen. Ist ’ne kumpelhafte Verabschiedung, das.« »Was mich beunruhigt«, sagte Tarzan, »ist der Hinweis auf den Nosiop-Brummi. Nosiop! Nosiop! Am liebsten würde ich Emma fragen. Aber das tun wir nicht. Sonst ist morgen der Rastplatz von drei Polizei-Hundertschaften umstellt. Gift gibt es jedenfalls bei der Chemie-AG. Und was ein Giftnapper ist…« »…näääpper!«, wurde er von Klößchen verbessert. »Ist ’n englisches Wort.« »Jaaah«, nickte Tarzan. »Aber der Fiffi hat’s treudeutsch ausgesprochen. Vielleicht kann er nur chinesisch, der arme Hund. Also – was ein Gift-Entführer ist, kann ich mir vorstellen.« »Morgen ist der 19.«, sagte Gaby. Klößchen seufzte. »Ich ahne, was auf uns zukommt. Wir 286
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werden rechtzeitig auf dem Parkplatz sein, die Glotzer weiten und die Löffel aufrichten, die Rüssel in den Wind halten und voll auf dem Kiew sein, damit…« »… auf dem Quivive (wachsam) sein«, fiel Tarzan ihm ins Wort. »Kiew ist eine Stadt, nämlich die Hauptstadt der Ukraine (Republik in Osteuropa). Wenn man beides so ausspricht wie du, klingt es tatsächlich gleich. Im Übrigen hast du recht. Morgen Mittag sind wir dort. Und wenn da was abrollt, steht der Vorteil auf unserer Seite. Denn wir kennen alle, die wahrscheinlich beteiligt sind: die Teplers, Ottmar, den Fiffi und… nur Gnaski noch nicht. Und diesen Kurt Weinhard nicht, wer auch immer das sein mag.« »Vielleicht ist das Gnaski?« Über Tarzans Schulter blickte Gaby straßab. Tarzan und Karl, die der Richtung den Rücken wiesen, gruppierten sich etwas anders. Nicht so, dass es verdächtig wirkte, aber so, dass sie schauen konnten. Ein pflaumenblauer Lieferwagen näherte sich. Er hielt vor dem Zaun. Ein stämmiger Oldie stieg aus. Er trug Monteursanzug und Schirmmütze. Unter dem Schirm grinste ein Affengesicht. Er schien müde zu sein. Durch die Pforte schlurfte er zum Haus, wo er aufschloss und verschwand. »Der sieht blöd genug aus«, sagte Gaby. »Dem traue ich zu, dass er seine beschriftete Autokarte rumliegen lässt.« »Vielleicht hält er alle Menschen für gut«, lachte Tarzan, »und glaubt nicht an Einbrecher.« »Frag ihn doch, ob er für die Schüler-Selbstversorgung spendet«, grinste Klößchen. »Dann wissen wir Bescheid.«
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12. Feuer im Kofferkeller Friedrich »Fred« Petullje ahnte nicht, dass es da vier Jugendliche gab, die ihn Fiffi nannten. Wahrscheinlich hätte er dann noch mehr Wut rausgedampft als wegen der versauten Hosenbeine. Die hatten Schmutz abgekriegt bei der BahndammKletterei. Er stoppte seinen Wagen vor Olympia-Weg Nr. 1 und federte zum Eingang, wo ihm aufgetan wurde, bevor er klingeln konnte. Nicole hatte ihn gehört. Aber wie sah sie aus! Sie blieb auch im Halbdunkel der Diele, dass kein Passant sie sehen konnte. Petullje erhielt einen Schmatz auf die Bartstoppeln und federte mit ihr ins Wohnzimmer. »Auf deinen Anruf haben wir vergeblich gewartet«, sagte Magda. Sie war wie Nicole gekleidet. »Habe nicht angerufen«, sagte er – und griff nach der Flasche mit dem Eierlikör. Mutter und Tochter – von Weitem hätte man sie für Männer gehalten. Sie steckten in Arbeits-Overalls und standen unten in klobigen Männerstiefeln. Die Overalls waren weit und so ausgestopft, dass die weiblichen Rundungen der beiden gänzlich verschwanden. Sackartige Masken mit Sehschlitzen lagen auf dem Tisch. Und Handschuhe. Und filzige Hüte, deren sich kein Waldschrat geschämt hätte. Vor der Couch stand eine abgewetzte Aktentasche. Sie enthielt zwei Pistolen. Die eine war kaputt. Für die andere gab es seit 20 Jahren keine Munition mehr.Aber zum Drohen eigneten sich die Waffen vorzüglich. Petullje hatte sich eine Riesenportion Eierlikör eingefüllt. Trotzdem knirschte er mit den Zähnen. »1200 habe ich hingelegt für den Anzug! Und wie sieht er jetzt aus? Wer reinigt mir das?« 288
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»Warst du im Rübenacker?«, fragte Nicole. »Quatsch! Bin über den Bahndamm geklettert!« »Was war denn?« »Nichts war. Morgen ist es! Bin hin zum Rastplatz, habe Lohmann und diesen Trottel beschattet. Mit dem Fernglas. Mist haben sie gebaut, den falschen Mann entführt, einen – haltet euch fest! – einen Käsefahrer. Als sie’s merkten, sind sie ab. Ich wollt’s genau wissen und bin haste-was-kannste zu Gnaskis Bude gezischt. War der richtige flash (Einfall). Jetzt weiß ich, warum dieser Pflaumenheini den Überfall vermurkst hat. War ein Irrtum im Datum. Auf der Karte steht l9.!« Er berichtete Einzelheiten. Das ergötzte die Damen. Sie kicherten. Auch sie tranken Eierlikör. Im Eisschrank fand sich eine zweite Flasche. Es wurde ein lustiger Nachmittag.
* Der Sonntag zeigte einen bedeckten Himmel und der Wind kühlte ab. Aber mit Regen war nicht zu rechnen, laut Wetterbericht. Das konnte bedeuten, dass es bald wie aus Kübeln goss oder ein neuer Hochsommer ausbrach. Tarzan hatte den Vormittag in der Turnhalle verbracht, bis zum Geht-nicht-mehr trainiert – Judo, vor allem –, anschließend einen Brief an seine Mutter geschrieben und dann noch Zeit gefunden, zwei Kapitel in einem spannenden Geschichtsbuch zu lesen. Er lag auf dem Bett. Wiederholt sah er auf die Uhr. Er und Klößchen wollten die Ersten sein beim Mittagessen. Damit sie früh genug wegkamen. Klößchen hatte bis in die Puppen gepennt. Dann war er darangegangen, seinen Schrank aufzuräumen, was seit Ende der Sommerferien auf dem Programm stand. Aber er hatte 289
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immer wieder einen Grund gefunden, sich vor dieser entsetzlichen Arbeit zu drücken. Stöhnend und unter halblauten Flüchen kramte er rum. Ein riesiger Karton füllte sich mit Krimskrams, der in die Mülltonne gehörte. Aber Klößchen meinte, zum Wegwerfen sei das Zeug noch zu schade. »Ich bring’s runter in den Kofferkeller«, verkündete er. »Ich fülle es in meine beiden Reisekoffer. Georg«, das war der Chauffeur der Sauerlichs, »kann es dann abholen.« »Pass auf, dass du dir nicht den Hals brichst«, Tarzan blätterte eine Seite um. »Im Kofferkeller ist die Deckenleuchte kaputt.« »Brennt kein Licht?« »Es brennt kein Licht.« »Unmögliche Zustände in dieser Anstalt!«, schimpfte Klößchen. »Wie soll ich da meine Koffer finden – unter Hunderten? Ach so! Ich habe ja Streichhölzer.Wo sind sie denn?« Er kramte wie ein Geisteskranker, lange vergebens, fand sie aber dann in dem Karton mit dem Plunder – ganz unten. »So eine Schufterei!«, maulte er. »Und das sonntags! Jetzt spachteln wir erst mal, ja? In den Kofferkeller gehe ich nachher.« Auch Tarzan hatte Hunger. Sie verließen das ADLERNEST und liefen die Treppe hinunter. Vor dem Speisesaal machte Studienrat Pflümer einen Schüler zur Schnecke, einen kleinen, spilligen, der auf den Namen »Fels, Edler von Seufzerhausen« hörte, aber nicht danach aussah. Er war knapp zwölf und hatte im Klo geraucht. Bei geschlossenem Fenster. Pflümer, ein Nichtraucher, hatte die Missetat erschnuppert und dem Edlen eine reingehauen, dass dessen rechte Gesichtshälfte brannte. Auch derartige Züchtigung war verboten, aber wenn Pflümer Sonntagsdienst hatte als EvD (Erzieher vom Dienst), kannte sein Grant (schlechte Laune) keine 290
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Grenze. Er war ein großer, fetter Typ, der seinen Bauch vor sich herschob wie ein Geländewagen seinen Kuhfänger. Tarzan und Klößchen latschten vorbei, waren im Speisesaal die Ersten, löffelten ihre Nudelsuppe mit Rindfleisch und ließen sich den Schweinebraten munden. Tarzan verzichtete auf Nachtisch. Klößchen aß ihn mit Widerwillen. Es war kein Schokoladenpudding, sondern Obstsalat. Klößchen sah sich in seinem Urteil bestätigt: »Wirklich unmögliche Zustände in dieser Anstalt«, knurrte er. Tarzan sagte: »Wir brechen jetzt auf. Abgemacht ist, dass wir Gaby und Karl um halb zwei auf dem Rastplatz treffen.« »Ist es eigentlich weit bis dorthin?« »Spaziergang«, meinte Tarzan, um seinen Freund nicht zu entmutigen. Denn der Weg – der kürzeste –, den er ausgesucht hatte, erstreckte sich immerhin auf 26 Kilometer. Sie gingen ins ADLERNEST zurück. Tarzan vertauschte sein weißes Speisesaalhemd gegen einen kampferprobten Pulli und schob das Mehrzweck-Taschenmesser in seine Jeans. Klößchen überwand seinen inneren Schweinehund und schnappte sich den gefüllten Karton, um ihn wie angekündigt in den Kofferkeller zu bringen. »Ich warte unten im Flur«, sagte Tarzan. Dort stand er dann, nahe dem Eingang, lehnte eine Schulter an die Wand und ging zum xten Mal alle Möglichkeiten durch, die Ottmar, Gnaski, den Fiffi, die Teplers und den Nosiop-Brummi betrafen. Sollte der genappt – entführt werden? Wäre ja idiotisch. Aber… Man wird sehen. Himmel, wo bleibt Willi? Hat er sich im Keller verlaufen? Minuten waren verstrichen.Aber jetzt kam Klößchen.Wie von Hornissen gejagt, schoss er um die Ecke, schreckensbleich bis in den Kragen. Er hatte Ruß im Gesicht. »Tarzan, der… der… Keller brennt! Verdammt! Ich…« »Waaas?« 291
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»Weiß auch nicht, wieso? Weil das blöde Licht nicht geht. Mir ist ein Streichholz… Also, das brannte. Und da ist der Berg mit dem Abfallpapier…« Mehr hörte Tarzan nicht. Er flitzte los, nahm fünf Stufen auf einmal und stieß in den Keller hinab, der sich unter dem mächtigen Haupthaus beinahe wie eine Katakombe (unterirdische Grabanlage) verzweigte. Aus dem Kofferkeller quoll Rauch. Es roch nach brennendem Gepäck. Flammen loderten. Aber es war noch kein Großfeuer, keine Bedrohung für die Schule, geschweige denn eine Katastrophe. Nur drei leere Koffer brannten. Tarzan schnappte den Feuerlöscher und erstickte die Flammen unter einer dicken Schicht Schaum. Klößchen sah wohlgefällig zu. »Gute Idee!«, lobte er. »Das mit dem Feuerlöscher. Habe nicht dran gedacht. Ich wollte einen Wassereimer holen. Das zischt zwar schöner, aber er wirkt nicht so.« »Mensch, Willi, du…« Absätze knallten auf die Treppe. Fettleibiger Atem keuchte. Erst kam Pflümers Bauch um die Ecke, dann er. Und jetzt dieser Sonntags-Irre!, dachte Tarzan. Das schafft uns. Er sollte recht behalten. »Habt ihr geraucht?«, brüllte Pflümer. Die Zigarre möchte ich sehen, dachte Tarzan, die so riecht. Total beknackt! »Ich habe nicht geraucht«, erklärte Klößchen empört. »Nur den Keller angezündet. Aus Versehen.« Dann wurde er hochgestochen. »Weil die Finsternis meine Orientierung erschwerte, musste ich ein Zündholz entflammen. Ein Funke ist auf die Makulatur (Altpapier) gefallen, die dann…« »Hier wird nicht gezündelt«, schrie Pflümer. »Euer Leichtsinn legt noch die Anstalt in Schutt und Asche. Unverantwortlich! Aber das hat ein Nachspiel. Hier geblieben!« 292
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Niemand hatte sich gerührt. Immerhin riskierte er einen Blick in den Kofferkeller. Dort glomm oder kokelte nichts. Der Brandgeruch hing nur noch schwach in der Luft und verflüchtigte sich mehr und mehr. »Ihr kommt mit zum Direktor!«, befahl Pflümer. »Sofort.« Nein!, dachte Tarzan. Jetzt geht es schief. Wir müssten längst auf den Tretmühlen hocken. Schutt und Asche! Die Zeit wird zu knapp. Gaby und Karl warten. Das Unternehmen Obermühle-Höllental rollt ab. Und wir erklären dem Sonntags-Irren und dem Direx, wie das… Heh! Rettung! Der ist ja nicht da. »Darf ich mir den Hinweis gestatten«, sagte Tarzan mit ungewohnter Höflichkeit, »dass Herr Direktor Dr. Freund nicht im Hause ist. Getrost also können wir bis morgen…« »Ihr habt Stubenarrest«, sagte Pflümer durch die Zähne. »Geht sofort auf eure Bude. Dort bleibt ihr, bis der Herr Direktor kommt. Und wehe, ich erwische euch im Park oder draußen.« Auch der Park ist draußen, du Grollschieber! Tarzan hätte ihn am liebsten vors Schienbein geholzst. Jetzt verlief die Zeit wie die Spur eines Sandflohs im Sand. Aus der Traum! Sie trotteten die Treppe hinauf. Pilümer keuchte hinter ihnen drein. Er führte sie ab wie ein Wachhabender im Gefängnis. Es fehlte nur noch der Säbel. Bis zum zweiten Stock kam der Studienrat mit. Dann machte er kehrt. Im ADLERNEST sagte Klößchen: »Schöner Sonntag ist das, das ist er! So ein Kack!« »Jedem kann mal ein Streichholz aus der Hand fallen«, sagte Tarzan. »Aber wenn du es fallen lässt, dann bestimmt im döööfsten Moment. Jetzt sind wir hier eingekerkert. Und wie sieht’s auf dem Rastplatz aus? Gaby und Karl warten auf uns. Sie brauchen unsere Unterstützung. Schließlich sind wir die halbe TKKG-Bande.« 293
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»Wir türmen!«, schlug Klößchen vor. »Mit der Strickleiter. Aus dem Fenster. Wie nachts schon so oft.« Tarzan schloss für einen Moment die Augen. »Willi! Pflümer wird uns jede halbe Stunde kontrollieren. Mich mag er ohnehin nicht. Außerdem ist heller Mittag. Im Hof und im Park latschen Dutzende rum. Was meinst du, was wir für ein Publikum haben, wenn wir uns abseilen!« »Hm. Stimmt! Geht nicht!« Klößchen riss seinen Schrank auf und griff nach einer Tafel Milchschokolade. Seelenpein und Schuldgefühle erzeugten mörderischen Hunger bei ihm.Während er futterte, dachte er laut. »Vielleicht kommt der Direx etwas früher aus der Stadt zurück – und lässt uns dann laufen. Sonntags speist er zuweilen im Posthotel. Da ziehen sie zurzeit ’ne Kanadische Woche ab. Mit Rentierbraten, Bärentatzen und großer Salatplatte nach Art der Schwarzfuß-Indianer. Wenn… Ach, nützt ja doch nichts. Bis 14 Uhr schaffen wir’s nie. Selbst wenn der Direx beizeiten antanzt, sind wir per Drahtesel nicht schnell genug. Da brauchten wir einen Porsche.« »Porsche?« Tarzan fletschte die Zähne. »Willi, das ist es! Einen Porsche! Den brauchen wir! Und Hubi dazu.« »Meinst du Porsche-Hubi?« »Wen sonst! Wenn der uns nicht raushaut, dann keiner. Außerdem ist er schärfstens motorisiert, kann also echt Zeit gutmachen, die wir hier verlieren, weil du den Kofferkeller abfackelst, statt dein Gerümpel auf Halde zu legen. Klar?« »Nee!« »Warte hier! Ich sause ans Telefon.« Er sauste hinunter, aber nicht ohne Vorsicht, um Pflümer zu vermeiden. Der eierte hier und in den Nebengebäuden rum und suchte Übeltäter, an denen er seinen Sonntagsgrimm wetzen konnte. O Sankt Florian!, dachte Tarzan. Schutzheiliger der Brand294
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stifter – oder so, gib, dass Porsche-Hubi zu Hause ist! Bemüh dich gefälligst! Sonst bist du schuld, wenn die Ganoven ein affenstarkes Gerät (Sache) abziehen. Ungesehen von Pflümer, schlüpfte er in die Besenkammer, wie die Telefonzelle im Parterre-Flur genannt wurde. Während er Porsche-Hubis Rufnummer kurbelte, flipperten seine Gedanken von einem »Wenn« zum nächsten »Aber« und gebaren den Entschluss, dass jetzt nur noch Offenheit half – über das, was sie vorhatten, was sie verhindern wollten und über die mutmaßlich Beteiligten: allen voran Nicole Tepler, von der Hubi behauptet hatte, sie sei ein bezauberndes Geschöpf – einschließlich der Ohren. »Hubert Knoth«, meldete sich der Dr. paed. (doctor paedagogiac = Doktor der Erziehungswissenschaft). »Ich bin’s, der Tarzan«, sagte Tarzan. »Wir brauchen Ihre Hilfe. Sofort und mit Wucht. Es liegt Folgendes an…« Es wurde ein langes Gesülze, obwohl Tarzan sich kurz fasste. Ohnehin redete nur er. Hubi stieß erschreckte Laute aus, zerbrach doch eins seiner Traumschlösser, und er fiel aus rosaroten Wolken auf den Boden der Wirklichkeit. »Das… das… kann ich nicht glauben«, wehrte er sich, »dass sie«, Nicole war gemeint, »noch Schlimmeres vorhat als die Fälscherei. O Gott! So was! Aber ich stell mich den Tatsachen. Jetzt will ich’s wissen, ob ich Tür an Tür mit einer Ganovin wohne und… Bockmist, verdammter! Mein Wagen! Natürlich würde ich euch loseisen von Pflümer, diesem… äh… Kollegen. Aber gestern habe ich – weil ich doch zurzeit mit dem Gipsarm langsam trete – habe ich den Wagen also zur Inspektion (Überprüfung) gegeben, gestern. Die Werkstatt ist gleich um die Ecke und heute natürlich geschlossen.« »Sie waren unsere letzte Hoffnung«, sagte Tarzan mit Grabesstimme. »Und ihr hofft nicht vergebens«, rief Hubi. »Jetzt hole ich meinen Wagen – wenn nötig breche ich ein. Aber wahr295
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scheinlich steht er auf dem Hof. Dann bin ich draußen in der Penne. Dem Kollegen Pflümer erkläre ich, dass ich euch brauche – für eine Umweltaktion, die mein Papa anleiert. Von dem ich euch übrigens grüßen soll. Haltet euch bereit!« »Sie sind Spitze!«, rief Tarzan. Aber Hubi hatte schon aufgelegt. Warten nervt. Dieses Warten nervte besonders.Tarzan lauerte am ADLERNEST-Fenster. Alle drei Sekunden beugte er sich hinaus. Er konnte zum Parkplatz sehen. Dort standen die bescheidenen Autos jener Pauker, die hier wohnten. Hubis Porsche stand dort noch lange nicht – und kam nicht. Offenbar hatte die Werkstatt ihn schon zum Teil auseinandergebaut. Oder der Mechanikerlehrling war damit auf Wochenend-Spritztour – ohne Wissen des Meisters oder gar des Kunden. Klößchen stopfte Schokolade in sich rein und sagte: »Es ist ein Unglück, wirklich grässlich! Nie wieder wedele ich im Kofferkeller mit offenem Feuer. Aber schuld ist der Pflümer. Wieso gibt er uns Arrest? So gewaltig war die Feuersbrunst nun auch wieder nicht.« Tarzan behielt die Uhr im Auge. Die Zeit raste. Als der Porsche endlich kam, war es 13.51 Uhr. Hubi stürmte ins Haupthaus – auf der Suche nach Pflümer. »Ich glaube, er ist im Speisesaal«, rief Tarzan hinunter. Dann standen sie oben an der Treppe und zählten die Sekunden. »Soll er ihn doch mit dem Gipsarm k.o. schlagen«, knirschte Klößchen und wischte sich Schokolade aus dem Mundwinkel. Hastige Schritte hinter der Biegung. Hubi sah die beiden, schwenkte seinen Gipsarm und blieb stehen. »Es kann losgehen, Kids!«
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13. Gefangen Sie rasten wie die Blöden. Hubi benutzte die Autobahn. Klößchen saß hinten, Tarzan auf dem Beifahrersitz. Alle hatten sich angegurtet. Wegen der hohen Geschwindigkeit durfte Hubi die Hand, die gesunde, nicht vom Lenkrad nehmen. Wenn er einen anderen Gang einlegte – was er gern und häufig tat –, trat er die Kupplung durch und sagte: »Jetzt!« Sofort schnappte Tarzan den Schaltknüppel und bemühte sich, den gewünschten Gang zu finden.Anfangs hatte das Getriebe geratscht, aber jetzt ging die Sache wie geschmiert. »Stark!«, meinte Klößchen. Der Rastplatz OBERMÜHLE kam in Sicht. Hubi hatte abgebremst und kuppelte. Tarzan legte den dritten Gang ein. Sie rollten an voll besetzten Tanksäulen vorbei, auch am Rasthaus, dann an der Imbiss-Station. Dort, aber fünf Drahtesellängen entfernt, standen Gaby und Karl. Sie mopsten sich. Beider Mienen vereinten sich zu einem Ausdruck: dem Vorwurf der Unpünktlichkeit. Außerdem blitzte Erstaunen auf. »Ich dachte, ihr kommt per Rad«, sagte Gaby. Tarzan hatte sie auf den unteren Teil der Stirn geküsst, weil jetzt der Pony gekürzt war. »Dr. Knoth weiß Bescheid«, sagte er. »Ohne seine Hilfe wären wir überhaupt nicht gekommen. Aber von der Panne reden wir nachher. Ist ja jetzt irre spät, zu spät. Was war?« »Nischt!«, grinste Karl. »Wir sind auch ziemlich spät eingetrudelt, weil von Pfotes Rad dauernd die Kette absprang. Haben gehofft, ihr wärt hier und schon stark auf dem Posten. Haben keinen Verdächtigen ausgemacht, keinen Bekannten. Auch nicht den Nosiop-Brummi.« »Wahrscheinlich habt ihr von Anfang an Gespenster gesehen«, Porsche-Hubi lachte erleichtert, »und Nicole Tepler ist so unschuldig wie frischer Schnee auf der Zugspitze. Tja, dann war’s wohl falscher Alarm.« 297
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Gaby schüttelte ihre Goldmähne und wies auf die Imbissstation. »Als wir uns eben eine Durst-Cola holten, haben wir die Ohren gespitzt. Die Bouletten-Wirtin hat sich mit einem Mann unterhalten. Alles haben wir nicht mitgekriegt, aber gestern ist hier offenbar was gelaufen. Überfall oder so. Auf, wie sie sagte, den kleinen Max Braun, einen Lkw-Fahrer.« »So was kommt vor«, wiegelte Hubi ab. »Nicole war das nicht.« Aber Tarzan sagte: »Infos (Nachrichten) sind das halbe Leben. Ich kauf mal eine Boulette. Die kann dann essen, wer will.« »Ich opfere mich freiwillig«, sagte Klößchen. Tarzan stiefelte zur Pommes-Bude. Deren Vorplatz war überdacht. Stehfressertische standen dort, waren zum Teil mit Senf und Ketschup bekleckert. Zurzeit weilte niemand an ihnen. Aber an der Theke lungerte ein Typ rum, der Cola mit Weinbrand mischte und eine karierte Jacke trug. Die blonde Frau hinter der Theke erzählte ihm was. Der Mann machte Stielaugen und drückte sein Erstaunen mit einem Karpfenmaul aus. Über der Theke – hoch genug, dass es die Köpfe verschonte – hing ein Schild. F. DELLE, die Bouletten-Königin – stand dort eingeschnitzt. »Fricka?, ist das denn die Möglichkeit!«, stieß der Karierte soeben durch sein Karpfenmaul. Offenbar war er der Nächste, der die Neuigkeit hören wollte. Fricka?, dachte Tarzan. Wohl eine geborene Schwedin, die Frau Delle. So sieht sie auch aus. Eine echte Bouletten-Königin. Und ihr Mann ist sicherlich der Bockwurst-King. »Ehrlich, Heinz! Ein richtiger Überfall. Zwei Typen haben den kleinen Max Braun überwältigt. Hinten am Waldrand, wo die Laster parken.« Fricka zischte alle S-Laute, als hätte sie Zahnlücken. »Haben ihn gefesselt und betäubt und hinter die Büsche gelegt. Das war alles. Es handelte sich nämlich um 298
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ein Versehen. Auch Gangster irren sich.« Sie lachte und streifte Tarzan mit einem Blick. Aber der war noch unentschlossen, zog an der Unterlippe und bewunderte Bouletten, Käsesemmeln, Wurstbrote und Bratwürste. »Ein Versehen?«, fragte Heinz. »Ja. Sie haben sich geirrt. Max Braun fährt ja den Käse nach Mailand. Aber seinen Brummi haben sie nicht angerührt. Polizei war hier und hat rumgeschnüffelt. Mich haben sie auch gefragt. Aber mir ist nichts aufgefallen.« Heinz äugte zum hinteren Rand des Parkplatzes. »Ach, nee! So nah! Die Ganoven werden immer dreister. Wo war’s genau? »Vor der hohen Birke dort.Wo vorhin Kurtchen Weinhard stand. Also was der ist, enttäuscht der mich sehr. Hat mit seinem Brummi geparkt. Gleich habe ich die extragroßen Bouletten für ihn fertig gemacht, wie immer. Aber denkste, er kommt? Kommt er nicht. Dann ist er weggefahren. Mit der Boulettentüte habe ich gewinkt, aber er… also, komisch! Wenn ich’s mir genau überlege, war’s gar nicht Kurtchen Weinhard, der am Lenkrad saß. Der Mensch sah anders aus. Das erklärt dann auch, warum er keine Bouletten genommen hat.Wiederum meine ich, war’s doch Kurtchen Weinhard, der den Tanklaster reinfuhr.« Sie wandte sich an Tarzan. »Was soll’s denn sein, Junge?« Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Frau Bouletten-Königin, ich könnte Sie umarmen. Sie ahnen nicht, wie Sie mir, uns, geholfen haben. Frau Delle. Imbissen werde ich später. Jetzt peitscht uns die Eile.« Er warf der verdutzten Fricka eine Kusshand zu und rannte zurück zu den andern. »… sind zu spät gekommen, Leute. Der Überfall war schon. Wenn mich nicht alles täuscht, liegt dort hinter den Büschen ein gewisser Kurt Weinhard, der Fahrer des No299
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siop-Brummis, liegt dort gefesselt und betäubt. Und seinen Wagen haben die Ganoven gekidn… ja, Willi, ich weiß – äääpt. Sehen wir mal nach.« Sie fanden den Fahrer. Er war bewusstlos, außerdem gefesselt und geknebelt – und roch nach Cloroform. Tarzan flitzte zur Imbissstation. »Frau Delle, dort hinten liegt einer, dem erging es wie gestern dem kleinen Max Braun, ist im gleichen Zustand sozusagen und vermutlich jener Weinhard, der sonst die Bouletten kauft. Eine Frage, Königin: Wann fuhr der NosiopBrummi vom Platz?« Sie verdatterte, stierte wie der Karierte, der wohl den Mund nie wieder schließen würde, und Tarzan musste seine Frage wiederholen. »Weiß… weiß ich nicht genau«, antwortete sie. »Ist aber noch nicht lange her. Kurtchen also auch? Da muss ich gleich die Polizei anrufen.« »Darum wollte ich Sie bitten«, nickte er. »Und wenn Sie sich bitte auch um den Bewusstlosen kümmern! Hier wird er gebracht.« Seine Freunde und Hubi schleppten ihn. Er war ein Leichtgewicht und keiner überanstrengte sich. Tarzan löste Gaby ab. Kaum war der Fahrer Frau Delles Obhut übergeben, quetschten sich die fünf in den Porsche. »Und ab ins Höllental!«, meinte Tarzan. »Dort, da wette ich, hebt sich der Vorhang zum zweiten Akt. Bin gespannt.« Sie zischten über die Autobahn. Tarzan schaltete – wie gehabt. Klößchen berichtete, weshalb sie sich verspätet hatten. Karl lachte. Hubi lenkte einarmig. »Ehe ich’s vergesse«, sagte Gaby, die hinter Tarzan saß und interessiert seinen Schaltkünsten zusah, »am späten Vormittag hat Emma – ich meine, Frau Gisen-Häpplich hat angerufen. Wir sollen schon um 16 Uhr zum Gartenfest kommen. Wir sind nämlich eingeladen«, fügte sie erklärend für Hubi 300
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hinzu, »bei ihrem Sohn, dem Nosiop-Boss Günter GisenHäpplich.« »Um 16 Uhr?«, jaulte Klößchen. »Hoffentlich schaffen wir das! Hoffentlich kommen wir überhaupt hin. Hör ich doch schon, wie mein Spanferkel pfeift. Und der Nachtisch auch.« »Seit wann pfeifst du auf Nachtisch?«, lachte Karl. »Da ist er!«, rief Tarzan. Und richtig! Vor ihnen – brav auf der Kriechspur, denn es ging erheblich bergan – rollte ein metallgraues Straßenmonster mit der Aufschrift NOSIOP-CHEMIE AG. »Zieht die Köpfe ein!«, sagte Tarzan. »Wahrscheinlich sitzt einer von denen drin, die uns kennen.« Mit einem Affenzahn preschten sie vorbei. Klößchen peilte durchs Heckfenster. »Es ist Ottmar. Nur Ottmar.« Und schon überholten sie Gnaskis pflaumenblauen Kombi, der ebenfalls die Kriechspur benutzte. »Gnaski persönlich«, meldete Klößchen. »Er grinst, meint aber nicht uns, grinst wohl immer. Sonst keiner. Soso!« »Aber keine Spur von Nicole Tepler«, frohlockte Hubi. »Ich bin überzeugt, dass sie in dieser Sache nicht mitmischt. Ist mir überhaupt ein Rätsel. Wieso und weshalb entführt man einen Chemie-Tankwagen? Was der intus hat, ist zur Vernichtung bestimmt.« »Man kann viel Unheil damit anrichten«, meinte Tarzan. »Wie mit Zündhölzern«, nickte Klößchen. »Ist aber kein Vergleich.« Ein Hinweisschild verkündete, dass die nächste Abfahrt benutzen könne, wer nach Eipenhausen, Plögdorf, Taulstadt, zum Angerwieser-See oder ins Höllental wolle. Hubi bremste und kuppelte. Tarzan legte den Gang ein. Dann war’s nicht mehr weit. Das Höllental schnitt einen Berg in zwei Teile, in einen großen und einen kleinen. Eine miese Straße führte hinein. Sie 301
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endete als Sackgasse, und wer das wusste, machte rechtzeitig kehrt. Mit dem Tunnel hatte man, vor Zeiten, den größeren Bergesteil durchstechen wollen. Später war im Höllental eine Kiesgrube entstanden. Ganz am Ende gab es Spalten im Fels, aus denen bisweilen schweflige Dünste quollen. Das war weder angenehm noch gesund. Darum erhielt das Tal seinen wenig sympathischen Namen und niemand ging hin. »Verstecken wir uns beim Tunnel!«, schlug Tarzan vor. »Aber wo lassen wir den Wagen?« »Da gibt es Möglichkeiten zuhauf«, sagte Karl. Und tatsächlich! Das schmale Tal bot sich dar wie ein Dschungel: randvoll mit Bäumen, Büschen, Pflanzen und Unkraut – alles, was auf feuchtem Boden und im Schatten gedieh. Hubi lenkte den Porsche hinter eine Gebüschwand rechts der Schlaglochstraße, hinter einen Verhau aus Faulbaum, Schlehdorn, Hartriegel, Holunder und Liguster. Nur eine Lücke führte in das Versteck. Die Räder drückten sich ziemlich tief in modrigen Boden.Aber Hubi meinte, er kriege sein Lieblingsspielzeug nachher wieder flott. Sie liefen zur Straße. Nein, niemand konnte den Porsche sehen. Und die Spur, die er hinterlassen hatte, wäre nur einem Indianer aufgefallen. Sie hasteten zum Tunnel. Auf der linken Seite des Tals, kurz vor dem Ende, stieg eine Felswand fast senkrecht empor, etwa bis zur Höhe eines dreistöckigen Hauses. Die Felswand war nackt. Oben knickte sie ab und der weitere Anstieg des Berges verlief sanft. Dort wuchsen Bäume und Sträucher. Ein unzulänglicher Drahtzaun begrenzte die Kante – damit kein Wanderer, der von oben kam, in den Abgrund stürzte. Durch das Loch in der Felswand, den Tunneleingang, passte ein Lastwagen. Rechts und links war dann noch so viel Platz, dass ein Dickwanst sich vorbeiquetschen konnte. Oben 302
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wurde es knapp. Aber der Nosiop-Brummi würde wohl die Decke nicht berühren, wie Tarzan mit schätzendem Blick feststellte. Der Eingang war – ziemlich dürftig – mit Bohlen und Brettern versperrt. Durch viele Lücken stieß der Tunnel seinen schwarzen Atem. Ein Schild warnte: BETRETEN VERBOTEN! EINSTURZGEFAHR! Sie wählten einen Strauch, der ein ganzes Stück entfernt war. Hinter ihm setzten sie sich auf bemooste Steine, und Tarzan spendierte Gaby sein ausgebreitetes Taschentuch als Unterlage, damit der Hosenboden ihrer Jeans sein himmlisches Blau behielt. »Hier sind wir die Einzigen«, stellte er fest. »Weit und breit kein Aas. Schlau, diese Typen. Ich nehme an, sie werden den Brummi in den Tunnel stopfen. Dann ist er erst mal weg vom Fenster. Ja, und dann? Dass sie den Inhalt in Flaschen abzapfen und als Wundermittel verkaufen – gegen Blasenkatarr (Katarr = Schleimhautentzündung) oder Hühneraugen – also, das glaube ich nicht. Bleibt nur, sie wollen der Chemie AG eins auswischen. Vielleicht soll Gisen-Häpplich den Tanker zurückkaufen?« »Das wäre Erpressung«, sagte Gaby. »Pst!« Hubi hob den Gipsarm. »Sie kommen.« Der Brummi rollte heran. Er hielt vor dem Tunneleingang. Der Kombi folgte. Auch er hielt. Ottmar und Gnaski stiegen aus. Nur wenige Worte wurden gewechselt. Jeder holte sich eine Brechstange aus dem Kombi. »Ran an die Arbeit, Bert!«, gebot Ottmar. Sie griffen den Verhau an, als gelte es, ihn umzubringen. Sie hebelten, stemmten, stießen, zerbrachen, wuchteten und rissen. Balken lösten sich, Bohlen, Bretter, Latten und Pfosten. Sie zerrten alles beiseite und nach etwa einer halben Stunde schweißtreibender Schufterei hatten sie den Eingang freigelegt. 303
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»Achtung!«, flüsterte Tarzan. »Wir sind nicht mehr allein. Hinter den Haselsträuchern drüben bei der Hainbuche sitzt wer. Was Dunkles bewegt sich. Ich glaube, es sind mehrere.« Sie duckten sich noch tiefer.Aber Gefahr, entdeckt zu werden, bestand nicht. Ihr Versteck war günstig gewählt. Ottmar und Gnaski hatten einer Bierflasche den Hals gebrochen und labten sich mit großen Schlucken. Der Bahndamm-Anrainer grinste ständig, Ottmar jetzt auch. Er klopfte seinem Komplizen auf die Schulter, stieg in den Brummi und ließ den Motor an. Vorsichtig lenkte er den Wagen in den Tunnel. Gnaski wies ihn ein, sprang mal nach links, mal nach rechts, peilte und benahm sich wie ein Idiot. »Musst mehr links, Ottmar! Vorsicht! Links, wo hier die Seite ist. Etwas! Jaaah! Jetzt rechts! Halt!« Der schwarze Tunnelschlund nahm den Tankwagen auf. Auspuffgase krochen über den Talboden. Jetzt verstummte der Motor. Wie weit der Brummi hineingefahren war, konnten Hubi und die TKKG-Freunde aus ihrem Blickwinkel nicht feststellen. Aber mehr als eine Speerwurfweite war es sicherlich nicht. Ottmar kam zurück. Hinter den Haselsträuchern rührte sich nichts. Aber da ist wer!, dachte Tarzan. Irrtum ausgeschlossen! Die beiden Ganoven begannen, den Eingang zu verbarrikadieren (versperren), arbeiteten wie wild, brauchten aber länger als beim Abbau. Als sie endlich – fast – fertig waren, als nur noch ein schmaler Spalt an der Seite Durchlass gewährte, schlackerten ihnen die Knie. Sie waren nicht mehr die Jüngsten und zur körperlichen Ertüchtigung wahrscheinlich zu faul. »Gleich ist es geschafft, Bert«, keuchte Ottmar. Sie schleppten den vorletzten Balken zum Spalt. 304
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Die Haselsträucher rauschten. Tarzan traute seinen Augen nicht, als die drei Gestalten hervortraten. Alle hielten Pistolen in den Händen und waren maskiert. Im Gleichschritt rückten sie vor. Der Große, der in der Mitte ging, federte. Die beiden andern schritten, als hätten sie einen Laufsteg der Haute Couture unter den Füßen. Gnaski und Ottmar merkten nichts. Sie keuchten zu laut und waren wohl nicht nur in den Beinen schlapp, sondern auch in den Ohren. »Umdrehen und Hände hoch!«, befahl der Große in schneidendem Ton. Die beiden Schwerarbeiter verhielten. Langsam wandten sie sich um. Ihre Mienen erstarrten. Gnaskis Grinsen blieb. »Das ist der Fiffi«, wisperte Tarzan. »Erkenne ihn an der Stimme. Und am Gang.« Das musste wohl sein, denn mehr war von keinem der Vermummten wahrzunehmen. Sie steckten in Arbeits-Overalls, hatten sich sackartige Masken übergestülpt und obendrauf Hüte. Es sah gefährlich aus.Was die beiden kleineren Gangster anging, da hegte Tarzan einen bestimmten Verdacht. »Wa… wa… was… soll das?«, stammelte Ottmar. »Schnauze!«, fuhr der Fiffi ihn an. »Und keinen Widerstand. Sonst seht ihr die Radieschen von unten. Ab hier ist das unser Spiel. Klar? Jetzt übernehmen wir.« Ottmar begriff. Ganz plötzlich kam er auf den Trichter und in seinem Faltengesicht glühte der Zorn. »Verrat!«, brüllte er. »Wer hat uns verraten? Das geht nicht mit rechten Dingen zu! ’ne Gemeinheit ist das! Wir machen die Dreck- und die Schwerarbeit, schuften und malochen und haben am Anfang den Geistesblitz, und jetzt legt uns ein verdammter Verräter aufs Kreuz. Wer seid ihr? Leute, wir können uns doch einigen. Warum denn Zoff (Streit) um das bisschen Jauche?« 305
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»Niemand hat euch verraten«, entgegnete der Fiffi. »Aber ich beobachte dich, Lohmann, seit du in der Stadt bist. Dich, deinen Trottel und die beiden Weiber, bei denen du dich rumdrückst. Inzwischen ist mir klar, was du vorhast, ’ne kleine Erpressung, wie? Willst der Nosiop-Chemie AG ’ne Stange Geld aus dem Kreuz leiern – andernfalls mixt du die Giftbrühe ins Grundwasser.Aber damit läuft jetzt nichts mehr. Du trittst ab. Und wenn du dich muckst, dann für immer.« Er zog Handschellen aus der Tasche, Stahlarmbänder, die man kaufen kann in Waffengeschäften, und warf sie den beiden vor die Füße. »Gnaski! Fessel ihm die Hände auf den Rücken! Aber richtig! Sonst blase ich dir ein Loch in die Rippen.« Gnaski gehorchte. Ottmar Lohmann knirschte mit den Zähnen. Das half ihm nichts. Er wurde von seinem Komplizen gefesselt. Dann trat einer der Vermummten vor, die bis jetzt kein Wort gesagt hatten. Er fesselte Gnaski und überprüfte Lohmanns stählerne Acht. Der dritte Ganove zog Tücher und Stofffetzen aus seinem Overall. Gnaski sperrte gehorsam den Mund auf und erhielt seinen Knebel. Lohmann wollte nicht. Der Fiffi schlug ihn mit der Pistole auf die Nuss. Nicht so, dass er umfiel. Aber es tat bestimmt weh. Nachdem auch Lohmann geknebelt war, meinte der Fiffi: »Wir binden sie an die vordere Stoßstange des Tankwagens. Nein, nur den einen. Den andern an die hintere. Da können sie eine Weile über ihre Dummheit nachdenken.« Er stieß die beiden vor sich her. Alle fünf zwängten sich durch den Spalt und verschwanden im Tunnel. »Es ist nicht zu fassen!«, flüsterte Porsche-Hubi. »Ein Verbrechen! Ein echtes Verbrechen! Bis vorhin habe ich nicht daran geglaubt. Jetzt hat sich’s gezeigt. Und wie! Die einen haben den Tankwagen entführt, der den Giftmüll spazieren 306
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fährt. Die andern ernten. Und das Ganze wird ’ne Erpressung. Also, Kids, das haut den stärksten Eskimo vom Schlitten ins Himbeereis und mir zittert der Gipsarm. Seit meinem Examen (Prüfung) auf der Uni war ich nicht mehr so aufgeregt.« Gaby nickte mitfühlend. Sie war, als voll berechtigtes TKKG-Mitglied, Nervenkitzel gewöhnt. Karl grinste wohlwollend. Klößchen machte eine wegwerfende Bewegung, was in etwa bedeutete: kleine Fische! Das macht uns keine Flatter (Angst). Da sind wir an ganz anderen Horror gewöhnt. Armer Hubi!, dachte Tarzan. Gleich wirst du dich noch mehr aufregen. Gleich kommt’s schlimmer. Wenn nämlich die beiden maulfaulen Ganoven ihre Gesichtstarnung lüften. Es dauerte nicht lange und die drei kamen zurück. Kaum im Freien, führten sie sich auf wie die lustigsten Patienten der Landesheilanstalt, machten Freudensprünge im Ringelreigen, rissen dabei die Hüte herunter – und die Masken. Der Fiffi, der sich als Erster enttarnte, überraschte niemanden. Außer Tarzan kannte ihn keiner. Und Tarzan nickte zufrieden: Ja, es war der aus der Gnaski-Bude. Aber dann! Warnend stieß Tarzan den Studien-Referendar an. Der hätte auch beinahe einen Schrei der Enttäuschung ins stille Tal geschickt. Dass Magda Tepler unter einer Maske zum Vorschein kam, tat ihm nicht weh. Ihr war er noch nie begegnet. Aber Nicoles Demaskierung (Entlarvung) traf ihn wie ein Keulenhieb auf die Nase. Tränen traten ihm in die Augen und er fletschte die Zähne. Zusätzlich zum Arm war ihm jetzt auch das Herz gebrochen. »Pst! Pst!«, machte Nicole und strich ihr Honighaar aus der schweißfeuchten Stirn. Ihr Herzgesicht glühte. Verwegenheit loderte in den Veilchenaugen. »Hören darf uns der Lohmann 307
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nicht.Wittert Verrat, dieser Lachsack! Aber er denkt nicht an uns. Gut, was! Alles klar, Fred?« »Besser konnte es nicht laufen«, erwiderte der und klapste Magda aufs Hinterteil – wohl eine Geste des Übermuts. »Ihr beide schiebt Wache! Haltet eure Knarren bereit. Dass nicht in letzter Sekunde ein blöder Pilzsammler antanzt und den Tankwagen entdeckt statt Pfifferling, Speisetäubling und Hallimasch! Ich bau mal die Röhre zu.« Die Damen fanden das in Ordnung, hielten lässig die Pistolen am Schenkel und luchsten ins Gelände, aber ohne Misstrauen. Denn nichts störte den Frieden des Tals. Nur ein Eichelhäher schimpfte. Vermutlich hatte er mit seiner Häherin Ärger. Die fünf Beobachter lagen bäuchlings und streckten die Nasen ins Moos. Spontanes Eingreifen wäre nicht ratsam gewesen. Angesichts dreier Pistolen hielt selbst Tarzan Geduld für eine Tugend. Der mit Fred angeredete Fiffi ächzte wie der NachtschichtVorarbeiter beim Turmbau zu Babel. Er hatte bestimmt manikürte Fingernägel.Trotzdem gelang es ihm, mit dem letzten Balken den letzten Spalt am Eingang zu schließen. »So«, meinte er und überprüfte seine Handflächen nach Splittern, »abhauen können sie nicht, um Hilfe brüllen auch nicht. Und die kleine Hungerkur bringt sie nicht um.Wir werden jetzt dem Direktor Gisen-Häpplich Bescheid geben, damit er ’ne Million rausrückt. Oder wenigstens ’ne halbe. Sonst… Aber das hatten wir schon. Und sobald der gezahlt hat, erfährt er auch, wo er seinen Tankwagen abholen kann – samt der bösen Giftnapper. Ich könnt mich beömmeln!« Fröhlich stimmten die Teplers in seine Lache ein. Er sammelte die Brechstangen auf und warf sie in Gnaskis Kombi. Die drei stiegen ein. Fred ließ den Motor an, wendete und lenkte den Wagen zum Tal hinaus. Bald verklang das Motorgeräusch hinter den Bäumen. 308
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»Ich nehme an«, sagte Tarzan, »sie haben die Karre, mit der sie gekommen sind, irgendwo vor dem Tal geparkt. Bis dorthin benutzen sie den Kombi. Sind wohl jetzt müde – nach vollbrachter Tat.« »O Gott!« Hubi schüttelte den Kopf »Also doch! Nicole ist… durch und durch schlecht! Eine Kriminelle! Und das bei ihrem Talent. Wie begnadet sie malt…« »…in der Manier der Cranachs«, fiel Klößchen ein. »Ja, es ist ein Jammer! Begabung schützt vor Torheit nicht, oder wie man so sagt.« »Die Cranachs!«, rief Karl. »Fast hätte ich die vergessen. Seit vorgestern will ich euch mitteilen, was ich über diese beiden Künstler der Reformationszeit auf der Pfanne habe.Aber irgendein widriger Umstand hält mich dauernd ab und…« »…wie jetzt«, wurde er von Tarzan unterbrochen. »Jetzt haben wir’s nämlich eilig.« »Wir müssen die Ganoven aus dem Tunnel holen«, nickte Gaby. »Daran habe ich nicht gedacht«, lachte Tarzan. »Warum denn? Dort sind sie gut aufgehoben. Abhauen können sie nicht. Und auch keinen Schaden anrichten. Lassen wir sie dort. Der Abtransport ist Sache der Polizei. Wir fahren jetzt erst mal zum Gartenfest. Es ist gleich 16 Uhr. Sie, Herr Doktor, begleiten uns bitte! Als Ehrengast. Emma mag junge Leute. Und jünger als sie ist fast jeder.«
* Vor der Nosiop-Villa parkte die halbe Stadt – jedenfalls hatten sich alle teuren Benzinkutschen eingefunden. Im Park hinter der Villa erscholl Gartenfest-Musik, die aber übertönt wurde von Stimmengewirr und Gelächter. Ein Bediensteter am Portal ließ die Gäste ein. Als die TKKG-Bande und Porsche-Hubi vor ihm standen, runzelte er die Stirn. 309
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»Der Herr Direktor ist heute nicht zu sprechen«, näselte er. »Wir sind Gäste«, stieß Tarzan ihm Bescheid, »eingeladen von Frau Emma… »Da seid ihr ja«, schrie sie entzückt aus dem Hintergrund der gewaltigen Eingangshalle – und rauschte heran, um ihre jungen Freunde und Puderdosen-Detektive zu begrüßen. Alle vier wurden umarmt. Und sie hatte auch Hubi Knoth halb schon im Würgegriff, als ihr auffiel, dass sie ihn noch nicht kannte. Tarzan stellte ihn vor, bezeichnete den Gipsarm als Sportunfall und setzte mit nebelhafter Erklärung hinzu: »Dr. Knoth haben wir als Ehrengast mitgebracht, weil… also, ohne ihn wäre die Sache zunächst in die Hose gegangen. Denn wegen Pflümers Gemeinheit war der Zeitverlust einfach nicht einzuholen. Und das hätte Ihre Firma, Frau GisenHäpplich, vielleicht eine Million gekostet. Für nichts.« Emma sah ihn an, als hätte er höheres Fieber – 43 Grad oder so. Schon wollte sie sich mit einer Frage Gewissheit verschaffen, als ein Hilferuf erklang. Er kam von oben – von der obersten Stufe der Freitreppe, die in die oberen Gemächer führte. Direktor Günter GisenHäpplich stand auf besagter Stufe. Er musste es sein. Die Ähnlichkeit mit seiner Mama war im Dunkeln zu spüren. Das gleiche Indianergesicht. Nur dass seinem die Entschlossenheit fehlte. Häuptlingssohn Günter war wohl mehr der Typ »Friedenspfeife«, während Emma den »Kriegspfad« bevorzugte. »Mutter!«, hatte er gerufen – und überaus klagend. Emma fuhr herum – kaum dass das orangerote Gartenfestkleid Zeit fand, sich mitzudrehen. Dreißig oder vierzig Gäste, die mit dem Cocktailglas in der Halle herumwimmelten, blickten auf. »Mutter!«, wiederholte Günter und bemühte sich die Treppe herunter. »Ein Verbrechen! Unglaublich! Die Nosiop-Chemie AG ist Opfer eines erpresserischen Anschlags. 310
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Und die Ereignisse geben sich sozusagen die Türklinke in die Hand.« Er sprach laut genug, dass man ihn auch im Garten hören konnte. Von dort drängten weitere Gäste herein. »Er gibt an mit der Sache«, flüsterte Tarzan seiner Freundin ins Ohr. »Ist ’ne Sensation für die Gäste. Jetzt kommt Schwung ins Gartenfest.« Pfote lachte leise. Für einen Moment schmiegte sie sich an Tarzan. Inzwischen stand Günter Gisen-Häpplich auf halber Treppe, wo er blieb, um für alle gut sichtbar zu sein. »Mutter! Und meine lieben Freunde«, fuhr er fort, »wir werden unsere Fete abfeiern und nicht abschnallen vor der Unterwelt. Aber ich will euch nicht vorenthalten, was ein Unternehmer meiner Machart heutzutage durchzustehen hat. Erhalte ich doch soeben einen Anruf aus dem Gertruden-Krankenhaus – und erfahre, dass man sich dort seit zwei Stunden um einen gewissen Kurt Weinhard bemüht. Er – das muss ich erklären – ist einer meiner Fernfahrer. Er wurde überfallen.Auf dem Rastplatz Obermühle haben Verbrecher ihn betäubt. Bis eben war Weinhard außerstande, eine Aussage zu machen. Er lag bedrohlich lange in tiefer Bewusstlosigkeit. Dann flatterte sein Kreislauf. Aber jetzt geht’s ihm ganz leidlich und… Jedenfalls – es ist nicht zu fassen! –, die Verbrecher haben seinen, unseren Tankwagen geraubt! Einen Nosiop-Tankwagen, der nichts als hochgiftige Flüssigkeit enthält, eine so genannte… Aber das sagt euch ja doch nichts. Der Wagen ist spurlos verschwunden und…« Er hob die Hand, als entsetztes Gemurmel wie ein Bienenschwarm aufstieg. »…es geht noch weiter, Freunde! Kaum hatte ich aufgelegt, kaum wollte ich Überlegungen anstellen, kam der nächste Anruf. Von einem Typ, der sich als Sprecher der Gruppe Öko-Killer vorstellte. Öko-Killer – nie gehört. Immerhin er311
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pressen sie mich. Sie haben den Tankwagen, haben ihn versteckt und fordern eine Million. Wenn ich nicht zahle, werden sie die hochgiftige Flüssigkeit benutzen, um unabschätzbaren Umweltschaden anzurichten. Was sagt ihr nun?« Triumphierend blickte er umher, als wäre das Verbrechen seine Idee gewesen. Emma sagte in die Stille: »Diese Mistkerle werden sich wundern. Die kriegen eins vor die Rübe, aber keinen müden Cent.« Die TKKG-Freunde lachten. Hubi grinste wie ein Scheunentor. »Sag du’s!«, bot Tarzan seinem Freund Karl an. Karl schüttelte den Kopf »Du hast angefangen. Aber verstanden hat’s keiner.« »Also«, sagte Tarzan vernehmlich, »Ihr Tankwagen, Herr Direktor, steht im Höllental. Und zwar in dem alten Tunnel. Ist dort versteckt. Die Giftbrühe befindet sich noch unter Verschluss. Die beiden Täter sind an die Stoßstangen gefesselt. Es handelt sich um einen gewissen Ottmar Lohmann und seinen Komplizen Bert Gnaski. Tüten sind das, wenn Sie mich fragen. Jedenfalls haben sie sich linken (austricksen) lassen – von den anderen Ganoven. Das sind die, die sich jetzt Öko-Killer nennen: Nicole und Magda Tepler – sowie ein Schniegeltyp namens Fred. Adresse ist Olympia-Weg Nr. 1. Wie wir denen allen auf die Schliche gekommen sind, das erzählen wir nachher – wenn’s Spanferkel gibt.« Die folgende Stille war ungewöhnlich für ein Gartenfest bei Gisen-Häpplichs. Dann sagte Emma: »Diese vier jungen Hüpfer, Günter – das ist die TKKG-Bande, von der ich dir erzählt habe. Erst haben sie für mich den Fall Puderdose gelöst, und zwar bravurös (meisterhaft). Jetzt haben sie sich um unsere Firma – nebenbei auch um die Umwelt – verdient gemacht. Komm her, Günter! Mach einen Diener und bedank dich bei ihnen.« 312
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Polizei preschte ins Höllental und stellte den Tankwagen sicher, einschließlich der Übeltäter Lohmann und Gnaski. Gleichzeitig erfolgte der polizeiliche Zugriff im Hause Olympia-Weg Nr. 1, wo die Teplers und Petullje ihren vermeintlichen Erfolg feierten – natürlich mit Eierlikör. Während in der Villa Gisen-Häpplich ein Superfest abrollte, versammelten sich die Ganoven hinter Gittern. Zu einem späteren Termin erhielt jeder seine wohlverdiente Strafe. Als das so weit war, hatte Porsche-Hubi die schöne Nicole längst aus dem Gedächtnis gestrichen. Auf dem Gartenfest nämlich war ihm die Dame seines Herzens begegnet, eine scharmante Junglehrerin an der Mädchenschule. Malen konnte sie zwar nicht. Aber sie liebte schnelle Wagen. Ein Vierteljahr später verlobten sich die beiden. Zur Feier luden sie selbstverständlich die TKKG-Bande ein. Im Namen seiner Freunde überreichte Klößchen einen dicken Blumenstrauß. »Sehen die nicht aus wie gemalt«, meinte er, »gemalt in der Manier…« Gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, dass die Cranachs stark an Nicole Tepler erinnert hätten – und das war kein Thema für diesen fröhlichen Anlass. Fuhr er also fort: »…ich meine, um mit Ihrem Herrn Vater zu sprechen, Dr. Knoth – jede dieser Blumen ist frei verkäuflich. Nicht eine steht unter Naturschutz. Gewissenhaft haben wir nämlich überprüft, dass nichts dabei ist wie: Gemeine Küchenschelle, Gelber Eisenhut oder Einknolle. O ja! In Sachen Umweltschutz sind wir voll drauf auf dem saustarken ÖkoTrip. Da kann’s doch nur besser werden, nicht wahr?« ENDE
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Lösung:
Beppo Schnüffl Die Lösung kann man diesmal – buchstäblich – erkennen, wenn man im Bilde ist. Auf den Gemälden, die auf der Grafik zu sehen sind, ist Klecks zu sehen: ein hagerer Mann mit Künstlermähne und buschigem Schnauzbart. Der kahlköpfige und doch ganz deftig gewachsene Krawutschke hat allerdings keinerlei Ähnlichkeit mit dem Mann auf den Bildern. Also stimmt da etwas nicht! Und den Braten hat unser Detektiv Beppo Schnüffl natürlich sofort gerochen. Ihn legt man eben nicht so schnell rein!
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Meisterdetektiv Beppo Schnüffl Eine wirklich mysteriöse Sache beschäftigt unseren Detektiv Beppo Schnüffl und seinen Dackel Gottfried diesmal. Ein Geist geht um…
Spuk im alten Schloss? Ratekrimi von Stefan Wolf Das alte Schloss sieht düster aus. Als hausten hier Gespenster, denkt Beppo und geht mit seinem Dackel Gottfried zum Eingang, denn Baron Schnuck, der Hausherr, hat sie hergebeten, weil er Hilfe braucht. Schnuck empfängt sie. Beppo hat Moderduft erwartet. Stattdessen riecht die Schlosshalle nach frischer Farbe, und tatsächlich: Die Wände sind popfarben angestrichen. Hier hängen auch die Gemälde der Ahnen. »Wir müssen leise sprechen«, flüstert Schnuck, »sonst hört uns Kunigunde.« Er deutet auf das Gemälde einer stattlichen Dame mit dicken Apfelbacken. »Sie lebte von 1749 bis 1832, war also Zeitgenossin Goethes, dessen spannende Werke ich jeden Abend im Bett lese. Kunigunde litt an Entwendungssucht. Sie verstehen?« »Sie meinen, sie stahl!« Schnuck zuckte zusammen. »Nun ja. So kann man es nennen. Jedenfalls lastet ein Fluch auf ihr, und jetzt scheint sie aus unserem Familiengrab entsprungen zu sein, um ihre unselige Sucht wieder aufzunehmen. Will sagen: Sie hat mich bestohlen. Ich vermisse meine Briefmarkensammlung, meine Goldmünzensammlung, eine Ritterrüstung und 82,50 Euro. Als ich am Montag von meiner Weltreise zurückkam, war 316
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alles noch da. Aber gestern verbrachte ich den Abend bei meinem Freund Karl-Otto Graf Platsch. Als ich nachts um 2.37 Uhr zurückkehrte, standen im Obergeschoss drei Türen offen, und ich entdeckte den Diebstahl. Einbrecher waren es nicht. Denn alle Fenster und Türen waren verriegelt.« Beppo deutet auf die Wände. »Sie hatten kürzlich den Maler?« »Während meiner Abwesenheit hat Malermeister Streich mit seinem Gesellen Schulze und dem Lehrling Plöngl den Anstrich der Halle erneuert. Den Hausschlüssel hatte ich ihnen überlassen. Wie sollten sie sonst reinkommen?« »Bevor wir ihre Ahnfrau verdächtigen«, sagt Beppo, »werde ich erst mal bei der Firma Streich ermitteln.« Im Hause eines Fabrikbesitzers, wo sie gerade die Küche weißen, trifft er die drei an. Beppo hat einen Polizisten mitgebracht und besteht darauf, dass alle drei ihre Taschen leeren. Meister Streich hat bei sich:Taschentuch, Geldbörse und Autoschlüssel. Geselle Schulzes Taschen enthalten: Zigaretten, Zahnstocher und Schlüsselbund. Lehrling Plöngl legt auf den Tisch: Hustenbonbons, Taschentuch, einen Klumpen Wachs und sein Taschenmesser. Beppo deutet auf den Lehrling. »Bei ihm müssen wir Haussuchung machen.« – Und richtig! Dort wird die Beute gefunden.Woran erkennt Beppo den Dieb? Lösung: siehe Seite 477
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Stefan Wolf
Unternehmen »Grüne Hölle« Ein Fall für
TKKG T K K G
wie Tim wie Karl wie Klößchen wie Gaby
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Inhalt 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22.
Uhr unter Wasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbereitungen für einen Raubüberfall . . . . . . . . . . Was plant Tim? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Auftraggeber aus dem Nahen Osten . . . . . . . . . Tolle Bewaffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein unglaublicher »Zufall« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfolgreich beschattet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wieder frei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sackgasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überzeugt von der Zigeunerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . Goldjacke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interview auf der Party . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diamant im Kaugummi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leibesvisitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ab in die Mülltonne! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komplizen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Treuer Freund mit Herzenswärme . . . . . . . . . . . . . . Die Einladung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fuchsbarts Beobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überraschung beim Abendessen . . . . . . . . . . . . . . . . In der Grünen Hölle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Flucht im Rolls Royce . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
321 332 341 347 358 365 373 380 384 391 399 408 414 420 426 432 441 445 450 457 463 469
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1. Uhr unter Wasser Es war Ende Oktober, aber der Wind blies wie Mitte November. Den Jungs tränten die Augen, und Gaby hatte frostrote Wangen. Gegen die Kaltluft gestemmt, strampelten sie auf ihren Drahteseln. In einer bauchigen Sporttasche transportierte Tim, was sie brauchten: drei Badehosen, Gabys Schwimmanzug und vier Handtücher. Ihr Ziel war das Neptuns-Bad, ein Hallenbad, in dem man sich verlaufen konnte – eventuell auch verschwimmen, denn vier Becken unterschiedlicher Größe gingen ineinander über. Bei Verabredungen im Wasser war Ortskenntnis nötig. »Habe ich euch schon gesagt, dass ich euer Mitmachen nett finde«, rief Gaby über den Rand ihres Rollkragens. »Ist doch selbstverständlich«, meinte Tim, der sich früher Tarzan genannt hatte. »Völlig selbstverständlich«, pflichtete Karl bei. Klößchen, der ganz hinten radelte, enthielt sich der Zustimmung. Sein Gewissen war nicht das Beste. Er, das Faultier, hatte eigentlich keine Lust gehabt. Aber Tim war ihm im ADLERNEST – unter vier Augen also – auf die Zehen gestiegen. »Du kommst mit. Egal ob du gut tauchen kannst oder nicht. Pfote braucht Unterstützung. Und da sind wir zur Stelle. Gebongt?« Immerhin: Jetzt maskierte sich Klößchen mit einer Miene, als wäre er ganz versessen darauf, Johanna Behlens Armbanduhr als Erster zu finden. Darum ging’s. Ein kostbarer Handgelenks-Zeitanzeiger – in sportlicher Ausführung, aber trotzdem in Gold – war abhanden gekommen. Und Johanna wusste genau: Im Neptuns-Bad war’s passiert. Vorhin, also während der Mittagspause. Sie hatte im 321
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großen Becken etliche Bahnen gekrault. Samt wasserdichter Uhr. Erst bei der sechsten Wende bemerkte sie den Verlust. Aber zum Suchen blieb keine Zeit. Johanna musste ins Juweliergeschäft zurück, wo sie als Geschäftsführerin arbeitete. Das war ihr Job. Daneben galt ihre Liebe dem Schwimmsport.Vor acht Jahren hatte sie bei einer Landesmeisterschaft den fünften Platz belegt und in Gabys Schwimmklub war sie ehrenamtliche Trainerin – eine sehr beliebte sogar. Den Rest besorgte der Zufall, der nämlich Gaby den Hörer in die Hand gab. Gleich nach der Schule rief sie Johanna an, um sich für morgen Abend zu entschuldigen. Wegen einer tollen Party-Einladung musste/wollte sie das Schwimmtraining schwänzen, wofür Johanna Verständnis hatte. Nebenbei erwähnte sie, was ihr eben passiert war, und damit nahm Pfote die Sache – nämlich die Suchaktion – in die Hand. »Da sind wir«, stellte sie jetzt fest und pustete gegen ihren Goldpony. Zur Herbstzeit trug sie ihn um Millimeter länger als sonst, was bisweilen die Wimpern behinderte.Aber sie sah noch genug. Und beim Schwimmen stopfte sie ohnehin jedes Haar unter die Badekappe. Sie sicherten ihre Tretmühlen, fragten an der Kasse, ob inzwischen ein ehrlicher Finder die Uhr abgegeben habe, erhielten negativen Bescheid, beeilten sich höllisch beim Ausund Umziehen und trafen sich schließlich am Beckenrand. Gaby sah Klößchen an. »Weshalb bist du so rot im Gesicht?« »Er kann jetzt nicht antworten«, sagte Tim. »Er zieht den Bauch ein. Dabei hält er die Luft an.« Sie begann zu kichern. »Phhhhhhhh«, zischte der Atem über Klößchens Zähne. Gleichzeitig umgürtete er sich mit seinem Handtuch. »Ich 322
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mache das nur, weil es die Lungen stärkt. Zu meiner Wampe stehe ich.« »Dir bleibt auch gar nichts anderes übrig«, meinte Karl. »Und damit du gründeln kannst, werden wir Blei an dich hängen müssen.« »Und an dich Korken«, konterte Klößchen, »damit du nach dem Tauchen wieder hochkommst.« Tim löste den bewundernden Blick von seiner Freundin und wandte sich zum Becken. Gaby, die hübscheste Nixe weit und breit, sagte: »Bahn drei. Johanna war nur auf Bahn drei. Keinen Zentimeter ist sie abgewichen, sagt sie.« Um diese Zeit war wenig Betrieb. Einige Senioren (ältere Menschen) dümpelten auf der Nicht-Schwimmer-Seite. Eine Handvoll Dreikäsehochs tobte im zweiten Becken. Wenig Auftrieb, dachte Tim. Umso größer die Chance, dass die Uhr noch da ist. Beim Dreier-Startklotz beugte er sich über den Rand. Das Wasser war klar, aber nicht so durchsichtig wie Luft. Wegen des trübsinnigen Wetters draußen brannten hier alle Tiefstrahler. Der Widerschein gleißte auf dem Chlor-Cocktail. Man konnte nicht bis zum Grund sehen – jedenfalls nicht von hier aus. »Hat so ein Becken eigentlich Unterströmung?«, überlegte Klößchen laut. »Das würde bedeuten, dass die Zeitzwiebel vielleicht abgetrieben ist – und jetzt auf Bahn eins liegt. Oder in der Sprunggrube.« »Wegen der Strömung mache ich mir keine Sorgen«, meinte Tim, ohne die Miene zu verziehen. »Auch nicht wegen der Unterwasser-Vulkane und der Seebeben. Aber was ist mit den Krokodilen und den Seeschlangen? Wenn die Uhr verschluckt wurde, finden wir sie nie.« »Verstehe!«, nickte Klößchen. »Es gibt keine Strömung.« »Wir nähen nicht doppelt«, sagte Tim, »sondern vierfach. 323
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Ich gehe am Startklotz runter und krebse auf dem Grund weiter – solange mein Luftvorrat reicht. Sobald ich zehn Meter weg bin, suchst du hinter mir, Gaby. Dann Karl, dann Willi. Acht Augen und genauso viele Vorderflossen müssten die Uhr eigentlich finden.« »Sechs Augen«, meinte Karl. »Blicklich – als Späher jedenfalls – kannst du mich vergessen. Mir beißt das Chlor (ätzende Flüssigkeit, die im Wasser Krankheitskeime abtötet) gleich so in die Glotzer, dass ich weniger sehe als ein tauchender Maulwurf. Ich kann nur tasten.« »Dann lass mich an die dritte Stelle«, erbot sich Klößchen. »Ich bin ganz wild auf die Suche. Hoffentlich vergesse ich das Auftauchen nicht – wenn mich der Eifer überkommt. Sollte ich länger als fünf Minuten unten bleiben, muss mir jemand Bescheid geben.« »Ich schicke dir ein Telegramm«, sagte Gaby. »Geht’s jetzt los? Oder blödeln wir weiter?« Tim rannte unter die Dusche und ließ Kaltwasser auf seine muskulöse Figur prasseln. Karl und Klößchen waren über den Rand gestiegen und tauchten vorsichtig ins lauwarme Wasser. Gaby, die eben noch gedrängt hatte, war plötzlich verändert. Statt sich auf Bahn drei zu konzentrieren, hüpfte sie winkend zum Eingang: einem Mädchen entgegen, das einen rosafarbenen Badeanzug trug. Von Weitem sah er aus wie nichts. Aber das wäre hier nicht erlaubt gewesen. Tim wischte sich Duschperlen aus den Augen. Jetzt sah er, um wen es sich handelte: um Elisa von Jaburg, eine 14-Jährige, die seit Kurzem zur Klasse 9b gehörte und vom ersten Tage an mit Gaby Freundschaft geschlossen hatte. Das beeinträchtigte Gabys TKKG-Zugehörigkeit nicht, weder zeitlich noch gedanklich – denn Elisa tat alles, um auch den Jungs kameradschaftlich näher zu kommen. Insgeheim liebäugelte sie sicherlich mit einer bestimmten Vorstellung: 324
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der Aufnahme in die TKKG-Bande. Aber das war aussichtslos. Nicht nur für Elisa, sondern für jeden. Die vier blieben ein Vierer-Klub – sozusagen auf Lebenszeit – mit Gabys Hund Oskar als einzigem Ehrenmitglied. »Super!«, rief Elisa. »Dass ich euch hier treffe. Bei deiner Mutter, Gaby, habe ich angerufen. Hörte, dass ihr hier seid. Es ist wegen der Party morgen. Wird ein Heuler. Und meine Mutti ist einverstanden. Dass ihr bei uns übernachten könnt, meine ich. Wozu haben wir denn die riesige Wohnung! Eine ganze Etage. Ihr«, gemeint waren die Jungs, »kriegt das Gästezimmer. Und Gaby schläft bei mir.« Die Mädchen waren zum Startblock gekommen. Tim bemerkte, dass Klößchen abermals die Luft anhielt. Vermutlich zog er auch den Bauch ein, denn das Handtuch, in das er sich gewickelt hatte, rutschte. »Tag, Elisa!«, sagte Tim. »Ist ja riesig nett. Und du siehst, wie in uns die Vorfreude lodert. Deshalb müssen wir uns abkühlen – in Neptuns Fluten. Aber ist der Aufwand nicht zu groß? Weshalb will sich deine Mutter diese Mühe machen? Die Betten frisch beziehen – und so. Ihr wohnt zentral – wir haben kürzeste Wege. Nach der Party schwingen wir uns auf die Tretmühlen und sind schon zu Hause.« Damit war er in sämtliche Fettnäpfchen getreten. »Seid doch nicht so knochentrocken!«, funkelte seine Freundin ihn an. »Es geht nicht ums Praktische! Jede Übernachtung woanders ist irre abenteuerlich.« »Finde ich auch«, nickte Karl. »Und es muss nicht immer Hotel sein. Ich genieße es, wenn ich in einem fremden Haus schlafe. Die anderen Geräusche, die anderen Gerüche, die…« »Besonders das andere Frühstück am nächsten Morgen«, pflichtete Klößchen bei. »Kannst ja deiner Mutter sagen, Elisa, was ich bevorzuge. Nämlich…« »Schon gut!« Tim grinste. »Ich bin nicht dagegen. Habe nur 325
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kurz überrissen, dass wir Elisas Mutter nicht zu viel zumuten.« Elisa lachte. Sie war etwas größer als Gaby und trug die blauschwarzen Haare als Mittelzopf, der schon bis zu den Nieren reichte. Sie hatte große Augen. Der Mund war winzig. An einem der oberen Vorderzähne fehlte ein Stück. Beim Niesen hatte sie das eingebüßt, als sie nämlich mit einem dickwandigen Milchbecher zusammenstieß. »Kannst deine Bedenken begraben, Tim«, meinte sie. »Mutter macht ja nichts selbst, sondern lässt alles machen. Morgen sind zwei Köchinnen da und zwei Mädchen zum Servieren. Zwei Putzfrauen haben wir sowieso. Mutti mag es, wenn sie mitten im Trubel steckt. Seit der Scheidung von Herrn von Jaburg, der leider mein Vater ist, hält sie’s allein nicht mehr aus.« Davon hörten die Jungs zum ersten Mal. Gaby nickte verständnisvoll. Offenbar hatte Elisa ihr bereits das Herz ausgeschüttet. Den Jungs war nur bekannt, dass Elisas Mutter – Stefanie von Jaburg – über enormen Reichtum verfügte. Die prächtige Stadtwohnung, hier, war nur ein kleiner Teil ihres Besitzes. Außerdem waren da noch Ländereien in Italien und Südfrankreich, die Stefanie von ihrem Vater – einem Großindustriellen – ererbt hatte. »Also gut!« Tim wandte den Kopf ab, weil sich im großen Becken was tat. »Wir nächtigen bei euch. Der EvD (Erzieher vom Dienst) wird uns beneiden. Wie ist das eigentlich – sind wir die einzigen Nachwüchsler?« Elisa nickte. »Sonst kommen nur Erwachsene. Ungefähr 40.« »Könnte langweilig werden«, meinte Karl. »So was liegt nur an einem selbst«, sagte Tim. »Nicht an den Umständen. Wenn wir die Wahlberechtigten einfach übersehen, haben wir bestimmt unseren Spaß.« 326
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Elisa trat von einem nackten Fuß auf den andern. Und sie wiegte den Kopf. »Aber es wäre gut, wenn wir ausgesprochen höflich sind. Und auch ein bisschen geschniegelt.« »Niemand will sich krötig benehmen«, sagte Tim. »Aber wozu Pomade ins Haar?« »So nun auch wieder nicht. Ich meine nur.« Sie druckste. »Mutti wäre sonst enttäuscht von euch. Sie will nämlich… Eigentlich soll ich’s euch jetzt schon sagen.« »Was?« »Ich soll die Einladung aussprechen.« Aus dem Augenwinkel beobachtete Tim die gechlorte Wasserfläche. Besonders von dem Typ auf Bahn drei ließ er keinen Blick. Ohne Elisa anzusehen, meinte er: »Das hast du doch schon. Vor gut einer Woche.« »Ich meine nicht die Einladung zur Party.« »Sondern?«, fragte Gaby. »Das nächste Wochenende«, lächelte Elisa, »ist zwei Tage länger, wie ihr wisst. Die Feiertage! Fallen günstig auf Montag und Dienstag. Dazu kommt dann noch die internatsinterne Regelung, dass am folgenden Mittwoch der Unterricht ausfällt. Damit haben wir fünf freie Tage. Mutti spendiert Hin- und Rückflug nach Mailand.Von dort ist es nur ein Katzensprung bis zu unserem Landgut Bridigaggio. Dort – das verspreche ich euch – ist es irre schön. Sogar jetzt. Wir können reiten, Trauben pflücken, Ausflüge machen in die Berge oder zu den Seen. Und irre Typen sind auch immer da.« »Heißt das«, rief Gaby, »dass deine Mutter uns einlädt?« »Davon rede ich doch.« »Uns vier?«, vergewisserte sich Klößchen mit Stimmstärke elf. Und verlor nun endgültig sein Handtuch. Elisa nickte. Sie strahlte. »Euch vier.Wir könnten auch Oskar mitnehmen. Aber das wäre zu beschwerlich. Und er hat 327
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nichts davon. Ihr seid Muttis Gäste. Und meine«, setzte sie hinzu. Jetzt glaubten sie’s. Elisa wurde umringt. Gaby umarmte sie. Karl und Klößchen wechselten sich darin ab, ihr begeistert die Hand zu schütteln. Tim drückte seine Freude mit breitem Grinsen aus. Aber er nahm nicht teil an dem Getobe, sondern beobachtete den Typ auf Bahn drei. Tauchend hatte der sich kreuz und quer durchs Becken gewühlt – offensichtlich, weil es ihm Spaß machte. Und dann war er – auf Bahn drei – an die Oberfläche gestoßen: mit was Gleißendem in der Hand – wie Funkelgeschmeide.Aber es entflutschte seinen Fingern und versank in der Chlorbrühe. Jetzt tauchte er abermals. Tim sah, wie er kopflings den Grund absuchte. Zufall? Ganz bestimmt. Der Typ hatte nicht nach Johannas Uhr gesucht. Zufällig war er darauf gestoßen. Und jetzt nahm er, wie nett, den vier Freunden die Arbeit ab. »…fantastisch!« – »Italien im Herbst!« – »Bridigaggio, irrer Name!« – »Habt ihr auch Maulesel?« – »Parla italiano, Signorina? (Sprechen Sie italienisch, Fräulein?)« Dieser Jubel! Gaby, Elisa, Karl und Klößchen benahmen sich wie angestochen. Tim verbreitete sein Grinsen noch etwas, um kein Vorfreude-Muffel zu sein. Aber seine Aufmerksamkeit galt dem Bergungsschwimmer. Jetzt tauchte er auf. Ein rotes Ballongesicht, über dem die Badekappe – Vorschrift! – wie ein Sahnehäubchen thronte. Ein Kranz klatschnasser Blondhaare klebte am Kopf. Der Mann mochte in mittleren Jahren sein. Halsabwärts schimmerte seine Haut wie Alabaster, also gips-weißlich. Er peilte die nächste Ausstiegsleiter an und streckte sich im Bruststil. 328
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Seine Hände – das sah Tim genau – waren leer. Hatte er die Uhr nicht gefunden? Dann, dachte Tim, würde er noch nicht aufgeben. Denn tauchen kann er. Der Mann erreichte die Metallleiter, verharrte und drehte langsam den Kopf von links nach rechts. Ein chlorfeuchter Blick machte die Runde. Und Tim konnte den Argwohn förmlich riechen. Jetzt stieg der Typ aufs Trockene. Er war groß und ziemlich fett. Seine Schwimmshorts der Größe 8 waren rot-schwarz gestreift und hingen traurig, nämlich faltig, an ihm. Es war jene Art von Wasser abweisenden Hosen, die auch eine kleine Tasche an der Seite haben. Mit Reißverschluss, damit Kabinenschlüssel, Münzgeld oder Zahnersatz nicht herausfallen. Dort – Tim ahnte es – befand sich jetzt die geborgene Uhr. »Hallo, ihr Bridigaggio-Fans«, sagte er leise, »darf ich mal sachlich werden! Der Walfisch dort – nicht hinsehen, Leute! – hat, glaube ich, die Uhr gefunden. Mal sehen, was er macht?« »Wo hat er sie denn?«, fragte Klößchen. »In der Hosentasche.« »Was für eine Uhr?«, fragte Elisa. Gaby übernahm es, ihr das zu erklären. Sie tuschelten. Währenddessen verfolgten die Blicke der Jungs den Mann. Ein ehrlicher Finder? Dann musste ihn der nächste Weg zur Kasse führen, um die Uhr abzugeben. Zurzeit duschte er noch. Prustend drehte er sich unter der Sturzflut. Mit einer Hand rieb er auf seiner Alabasterhaut herum. Mit der andern hielt er die Hose fest. Auf einer Bank lagen sein Bademantel und ein Handtuch. Er umhüllte sich, nahm die Badekappe ab und präsentierte (vorzeigen) eine kürbisgroße Glatze. Die Badekappe hatte kein einziges Haar bedeckt und das restliche – der verblie329
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bene Kranz – hing sowieso im Freien. Mochte der Henker wissen, weshalb er sich an die Badekappen-Vorschrift hielt. Während er sich Kopf und Schwabbelbrust rubbelte, sohlte er nun am Plantschbecken vorbei, aber nicht via Kasse, sondern zu der milchgläsernen Tür. Sie führte zu den Umkleideräumen. Noch bevor er die Tür erreichte, rückte Tim auf gleiche Höhe vor, gefolgt von seinen Freunden. »Hallo Sie!«, sagte er. »Da wird sich Frau Behlen aber freuen. Ist ja immerhin ein Wertstück.« Der Feiste blieb stehen. Er überragte Tim etwas und war damit beschäftigt, sich den Haarkranz zu frottieren. Sein Gesicht war schweinchenrosa und teigig. Ein kalter Blick wurde auf Tim gerichtet. »Meinst du mich?« »Klar. Sie!« »Und was ist?« »Wir wollen uns bedanken. Weil Sie – zufällig, natürlich – unsere Aufgabe übernommen haben. Johanna Behlen hat uns nämlich hergeschickt, damit wir nach ihrer Uhr tauchen. Vorhin hat sie die beim Schwimmen verloren.« »Was geht mich das an?« »Ich finde es toll, dass Sie die Uhr gefunden haben.« Tim streckte die Hand aus. »Falls Sie Bedenken haben, was unsere Ehrlichkeit betrifft, können wir die Kassiererin hinzuziehen. Sie kennt uns und Frau Behlen. Und weiß von der Sache.« Der Mann sah die andern an, legte sich das Handtuch wie einen Schal um den Hals und hustete, ohne das abzuschirmen. »Von der Uhr weiß ich nichts.« Diesmal hustete er in die offene Hand. »Ich habe keine gefunden.« »Mag ja sein«, nickte Tim. »Aber sie ist irgendwie in die Reißverschlusstasche Ihrer tollen Badehose geraten. So was 330
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passiert, wenn man auf allen vieren über den Grund krabbelt. Sie sind sicherlich im Tierkreiszeichen des Krebses geboren, wie? Oder sind Sie Wassermann?« »Du willst wohl eine Ohrf…« Er stoppte sich rechtzeitig, sprach die »Ohrfeige« nicht aus. Tims sportgestählte Figur bewirkte das. Sich mit ihm auf Handgreiflichkeiten einzulassen, war nicht ratsam. Das sah jeder. Tim schob die Brauen zusammen.Abermals streckte er die Hand aus. »Allmählich werde ich ungeduldig, Meister. Her mit der Uhr! Sie ist aus Gold. Sportliche Ausführung. Gaby, weißt du die Marke?« »Rolex«, sagte Gaby. Der Typ saugte die Lippen ein. »Ach, die? Ich… äh… wollte sie vorn an der Kasse abgeben. Beim Tauchen lag sie – die Uhr – plötzlich vor mir.Aber woher soll ich wissen, ob ich euch trauen kann?« »Ich sagte es doch schon: Kommen Sie mit zur Kassiererin. Sie wird bestätigen, was ich sage.« Der Feiste schlotterte. Allerdings nur innerlich. Die Fundunterschlagung war missglückt Jetzt versuchte er, sein Gesicht zu wahren. »Na, gut!«, murmelte er. »Wie Halunken seht ihr nicht aus. Dann könnt ihr die Uhr zur Kasse bringen – oder zu der Besitzerin. Schönen Gruß von mir. Ich verzichte auf Finderlohn.« »Wie hochherzig!«, erwiderte Gaby. »Dann wollen wir mal Gleiches mit Gleichem vergelten und darauf verzichten, Ihre Personalien festzustellen.« Der Feiste lief rot an, tat aber so, als wisse er nicht, was sie meinte. Er händigte Tim die Uhr aus. Sie war wasserdicht wie ein U-Boot und ging immer noch auf die Sekunde genau.
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2. Vorbereitungen für einen Raubüberfall Johanna Behlen war eine hübsche Mittdreißigerin mit geschmeidigen Bewegungen. Selbst eleganteste Garderobe wirkte sportlich an ihr. In die naturbraune Kurzhaarfrisur hatte sie bananengelbe Strähnen eingefärbt. Für heute, 15 Uhr, war sie beim Frisör angemeldet. Weil’s ein Donnerstag war, ließ sich das machen. Denn donnerstags kümmerte sich Robert Kantschliff, der Juwelier, höchstpersönlich um sein Geschäft. Nur donnerstags.An allen anderen Tagen spielte er Golf – oder er war verreist. Während der Frisör an Johannas Schopf herumschnippelte, ertappte sie sich mehrfach dabei, dass sie zum Handgelenk sah. Aber da war keine Uhr. Leider nicht! Ob Gaby und ihre Freunde Erfolg hatten und sie fanden? »Ist das nicht wieder entzückend geworden«, lobte sich der Haarkünstler – und marschierte mit dem Spiegel um sie herum. Wie bei jeder Kundin, brachte er auch jetzt sein leeres Gerede an. »Das macht um 20 Jahre jünger, nicht wahr?« »Vor 20 Jahren«, erwiderte Johanna, »ging ich noch zur Schule. Meinen Sie, dass die Frisur für einen Teenager richtig ist?« »Wie bitte? Ach so! Hahaha! Was man so sagt. Sie haben völlig recht. Wer so jung ist wie Sie, liebe Frau Behlen, braucht sich nicht zu verjüngen.« Johanna verspürte wenig Lust, ins Geschäft zurückzugehen. Ein trüber Tag wie heute verlockte nicht zum Geschmeidekauf. Die betuchten Kunden hielten sich zurück. Ihr Chef kam auch ohne sie zurecht. Nachdem sie sich aus der Konditorei Schmalzkringel und eine Tüte Gebäck geholt hatte, schloss sie gegen 16 Uhr ihre Wohnung auf. 332
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Sie bewohnte die unteren Räume in einem Zweifamilienhaus, war aber meistens allein unter dem spitzgiebeligen Dach. Die Besitzerin – eine betagte, aber rüstige Witwe – verbrachte die größte Zeit des Jahres damit, von einer Verwandtschaft zur nächsten zu reisen. Sie blieb immer sechs Wochen, mindestens. Und jeder nahm das hin – zähneknirschend und mit geballter Faust in der Tasche. Denn die Witwe war vermögend, und es stand in ihrem Ermessen, wen sie zum Erben machte. In ihrer kleinen Küche setzte Johanna die Kaffeemaschine in Gang. Im gemütlichen Wohnraum schaltete sie die Glotze an. Dann fiel ihr ein, dass sie ihr Mütterchen anrufen wollte. Agathe Behlen, eine liebenswerte Dame, wohnte am anderen Ende der Stadt. Sie sahen sich meistens nur am Wochenende. Aber während des letzten Halbjahrs hatte Johanna ihre Mutter noch seltener besucht. Daran war ein gewisser Konrad schuld gewesen, ein Ingenieur, mit dem sich Johanna verbandelt hatte. Doch die große Liebe war daraus nicht entstanden, jetzt gehörte diese Bekanntschaft der Vergangenheit an und Johanna konnte sich wieder vermehrt um ihr Mütterchen kümmern. Sie nahm den Hörer ab und wählte, während in der Küche die Kaffeemaschine fauchende Geräusche von sich gab. Johanna hörte das Läuten. Aber niemand hob ab. Sie versuchte es abermals, verwundert. Dass ihre Mutter an einem Donnerstagnachmittag nicht zu Hause war, hatte es bisher nicht gegeben. Nach einer Weile gab sie auf, dachte nach und war besorgt. Aber eigentlich bestand dazu wenig Grund. Ihre Mutter war erst 60 – und kerngesund. Lediglich ihre Augen machten Kummer. Ohne Brille konnte sie die eigenen Hände nicht von fremden unterscheiden. Johanna beschloss, nachher abermals anzurufen, holte den 333
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Kaffee aus der Küche und bezog vor der Glotze ihren Fernsehsessel. Während sie sich zurechträkelte, spürte sie den gezerrten Rückenmuskel.Vorhin im Hallenbad war das passiert. Muss öfter schwimmen, dachte sie – und nahm einen Schmalzkringel. In diesem Moment klingelte es. War das ihre Mutter? Oder Konrad, der sich nicht damit abfinden konnte, dass sie ihm den Laufpass gegeben hatte? Kantschliff? Oder Frau Mühlwurzl, die Hausbesitzerin, die dieser Tage von einer Reise zurückkommen wollte – und manchmal den Schlüssel vergaß? Johanna schaltete den Fernsehapparat leiser, schlüpfte in ihre Pantoffeln und ging zur Haustür. Draußen brach die Dämmerung an. Durch das kleine Fenster in der Haustür sah Johanna, dass ein dicklicher Typ auf der Fußmatte stand. Er trug eine Postboten-Mütze, und hielt ein Paket unterm Arm. »Frau Johanna Behlen?«, fragte er, nachdem sie das kleine Fenster geöffnet hatte. »Ein Paket für Sie.« Johanna öffnete. In derselben Sekunde wurde sie zurückgedrängt. Eine Messerspitze piekte durch ihren Pullover. Sie wollte schreien. Aber eine grobe Hand presste sich auf ihren Mund. Das Paket – es war offensichtlich leer – polterte zu Boden. Mit dem Absatz kickte der Kerl die Tür hinter sich zu. »Verhalt dich ruhig!«, befahl er. »Sonst gibt’s Dresche. Außerdem nützt dir das Schreien nichts. Ich weiß, dass sonst niemand im Haus ist.« Sie zitterte. Der Kerl hatte mitleidslose Augen und großporige Haut. Seine Hand roch säuerlich und sein Atem nach Bier. Er nahm die Hand von ihrem Mund und packte die Frau an der Schulter. 334
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Johanna starrte auf das Messer, eine Art Hirschfänger. Die Klinge hatte braune Flecken. War das Blut? Was wollte der Kerl? Er stieß sie vor sich her. In ihrer Wohnung sah er sich um. Johanna musste sich auf die Couch setzen. Er schaltete den Fernsehapparat aus. Er nahm einen der Schmalzkringel und schob ihn in den Mund. Bei dem gleichen Gebäckstück hätte Johanna vier Mal abbeißen müssen. Während er kaute, starrte er sie an. Ein Frösteln überlief sie. Sie vermied es, auf das Messer zu achten, das er noch immer in der Hand hielt. »Hast du die selbst gebacken?« »Wie?« Sie begriff nicht sofort. »Nein. Die… die sind aus der Konditorei.« »Als du das Paket sahst, hast du gedacht, es sei von deiner Mutter, wie?« »Von…« Eine Faust schien sich um ihr Herz zu schließen. »Von Mutter… Ja, das habe ich gedacht.« Er lachte hämisch. »Ist aber nicht. Deine Mutter weilt zurzeit nicht zu Hause. Mein Kumpel hat sie mitgenommen.Wohin? Hähä! Das verrate ich nicht, Herzchen. Im Übrigen wird Agathe Behlen gleich hier anrufen und bestätigen, dass sie sich in der Hand eines Herrn befindet, der sehr eklig werden kann. Du begreifst, worum es geht?« Ihr Herz begann zu hämmern. »Deine Mutter ist unsere Geisel«, fuhr er fort. »Damit du dich an meine Anweisungen hältst.Wenn nicht – ist es aus mit ihr.« »Warum… tun Sie das?«, stammelte sie. »Errätst du das nicht?« Sein Teiggesicht glänzte. Sie schüttelte den Kopf. Teiggesicht hob die Brauen, als hielte er so viel Fantasielosigkeit für unmöglich. »Also, du bist Johanna Behlen, 34 Jahre alt, ledig, zurzeit 335
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ohne Bekannten, und seit fünf Jahren Geschäftsführerin bei Robert Kantschliff, dem Juwelier. Du leitest das Geschäft in der Glockengießer-Straße. Außer dir gibt es nur noch zwei Verkäuferinnen.Weil der Laden zwar äußerst fein, aber klein ist. Häh? Sag was! Habe ich recht?« Sie nickte. Allmählich wurde sie ruhiger. Jetzt war abzusehen, worauf das alles hinauslief. Ihr selbst drohte vermutlich keine Gefahr. Aber wie überstand ihre Mutter die Aufregung? Teiggesicht nahm ihr Nicken als Antwort. »Ich frage dich«, sagte er, »wie viel sind die Klunkern wert, die dort im Safe liegen? Fünf Millionen? Acht Millionen? Egal. Auf eine mehr oder weniger kommt’s uns nicht an. Ich nehme, was da ist. Und zwar alles.« »Jetzt«, sagte sie leise, »ist Herr Kantschliff im Geschäft.« »Weiß ich doch, Herzchen. Wer redet von jetzt?« »Nachher geht es auch nicht. Nach 18 Uhr sind alle Alarmanlagen eingeschaltet und der Wachdienst…« »Ich weiß selbst«, unterbrach er sie, »dass es so nicht funktioniert. Deshalb haben wir uns den idiotensicheren Coup ausgedacht. Morgen rollt er ab. Denn morgen Mittag, Herzchen, wirst du auf dein Essen verzichten. Während sich deine Kolleginnen verdrücken, bleibst du im Geschäft. Verstanden?« »Ich verstehe.« »Punkt ein Uhr mittags stehe ich vor der Tür und du lässt mich ein.« »Aber…« Sie stockte.Womit konnte sie ihm den Mut nehmen? »Aber – was?« »Die… meisten Schmuckstücke liegen im Tresor.« »Das ist es ja, Schätzchen, was dich so wichtig macht.Wichtig für uns. Du weißt, wie man die Konservendose öffnet. Du kennst die Kombination. Deshalb kann ich auf deine Hilfe 336
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nicht verzichten. Sobald ich mich dann mit den Klunkern abgeseilt habe – und in Sicherheit bin, lässt mein Kumpel deine Mutter frei. Klar?« »Es ist grausam, eine alte Frau als Geisel zu nehmen.« »Aber, aber! Grausam wäre, wenn du Zicken machst. Denn dann erlebt sie ihren Lebensabend nicht mehr. Übrigens sind wir besonders an einem Stein interessiert.An einem Diamantchen. Du weißt, welchen ich meine?« Sie ahnte es. Leider hatte sich der »Klotz von Kalifaru«, ein Super-Diamant von gewaltiger Größe und entsprechendem Wert, als unverkäuflich erwiesen – bisher jedenfalls. Selbst für einen sehr wohlhabenden Schmucksammler war er zu teuer. Und Ölscheichs, die ihre Millionen im Schlaf verdienen, gehörten leider nicht zu Kantschliffs Kunden. »Ich meine den Klotz von Kalifaru«, sagte Teiggesicht. »Gestern hattet ihr ihn noch. Er ist doch noch da?« Sie zögerte. Aber was hätte sie mit einer Lüge gewonnen? »Er ist noch da«, nickte sie. »Na, großartig! Den nehme ich zuerst. Und…« Er schloss die spuckigen Lippen, denn eben klingelte Johannas Telefon. In ihren Ohren klang das wie ein Hilferuf, und sie ahnte, wer am anderen Ende war. Teiggesicht sah auf seine Armbanduhr. »Nimm ab, Herzchen! Das ist deine Mutter.« Zunächst war nur Stille in der Leitung. Dann ein verzweifelter Atemzug. Johanna spürte, dass ihre Mutter kaum sprechen konnte. Wegen allem und nichts regte sie sich auf – wegen der Wettervorhersage und steigenden Fahrpreisen. Dass man sie von zu Hause entführt hatte, war ganz bestimmt der Schreck ihres Lebens. »…ich bin’s, Hanna«, zitterte ihre Stimme durch den Draht. »Etwas Schreckliches… Schreckliches… Also, da hat dieser Mann mich einfach… Er hat eine Pistole… Und was der zu 337
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mir sagt! Höflich ist er zwar… das meine ich nicht. Aber er droht, mich umzubringen, wenn du seinem Komplizen nicht gehorchst. Hannchen, ist dieser andere schon bei dir?« »Er steht neben mir, Mutti. Und ich finde ihn scheußlich. Aber ich werde alles tun, was er verlangt. Damit dir nichts geschieht.« Agathes Atem stieß die Worte mit Abständen hervor. »Ich will… aber nicht, Hannchen, dass du… Du darfst meinetwegen nicht… Wenn ich nur wüsste, wo ich hier bin! Der Raum ist nicht geheizt und meine Strickjacke liegt zu Hause. Wenigstens den braunen Mantel habe ich mit. Und nachher will er mir Tee kochen, der… der Verbrecher. Jawohl!« Das galt nicht Johanna. »Sie sind gemeint. Da können Sie noch so höflich tun – Sie sind ein Verbrecher. Durch Unmenschen wie Sie wird die Welt immer schlechter. Hannchen, ich muss jetzt…« Kracks! – war die Verbindung unterbrochen. Offenbar hatte der »höfliche« Ganove auf die Gabel gedrückt. Teiggesicht nahm Johanna den Hörer aus der Hand. »Das war’s, Herzchen. Du weißt jetzt Bescheid. Von dir hängt es ab, ob deine Mutter die Sache heil übersteht. Kein Wort zur Polizei! Die existiert für dich gar nicht.Wenn ich gekascht werde, ist es aus mit Agathe. Morgen Nachmittag kannst du dich ausweinen bei den Bullen. Aber erst dann. Begriffen?« Johanna nickte. »Ich werde nichts tun, was meine Mutter gefährdet. Und Ihr… Komplize wird sie garantiert freilassen?« »Was denn sonst? Denkst du, wir schleppen sie mit? Da müsste sie 30 Jahre jünger sein, hähähä. Dann würde es wohl Spaß machen, sie umzuschulen. Aber Talent zu unserem Job hat sie sicherlich so wenig wie du. Das liegt nicht in eurer Familie.« 338
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»Da haben Sie allerdings recht. Uns ist Ehrlichkeit wichtiger als Gewinn und Verdienst.« Grinsend schob er seinen Hirschfänger in den Gürtel. »Auch so was wie euch, Herzchen, muss es geben. Hat Seltenheitswert! Eines Tages kann man euch im Museum bewundern. Dann komme ich mal vorbei.« Er lachte schallend, wandte sich zur Tür und verließ die Wohnung. Johanna hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel. Sie lief in die Küche, wo kein Licht brannte, und stellte sich ans Fenster. Teiggesicht hatte schon die Straße erreicht. Der graue Tag leitete eine frühe Dämmerung ein. Es nieselte etwas. Teiggesicht zog sich die Mütze in die Stirn und stellte den Kragen seiner Joppe hoch. Er trug das Paket unterm Arm, wollte es offensichtlich nicht zurücklassen. Vielleicht hätte es morgen der Polizei geholfen, ihm auf die Spur zu kommen? Er wandte sich stadteinwärts. Kein Blick zurück. Für einen Moment noch sah sie seinen plumpen Umriss hinter der Hecke. Dann geriet er aus ihrem Blickfeld und die Straße war leer. Nur der Regen fiel und eine graue Katze schlich über die Fahrbahn. Johanna hörte, wie ein Wagen abfuhr. Sie stützte sich auf die Fensterbank. Ein Schluchzen schüttelte sie. Tränen strömten. Sie war so kreuzunglücklich, dass sie die Stirn an die Scheibe lehnte. Was für ein Tag! Ausradieren – vergessen müsste sie ihn! Erst verlor sie ihre kostbare Uhr und jetzt dies! Immer noch schluchzend, horchte sie in sich hinein. Wem galten ihre Tränen? Beweinte sie ihre eigene Hilflosigkeit? Dass sie gezwungen wurde, diesen Verbrechern den Raub zu ermöglichen? Nein! Das war schicksalhaft und letztlich weniger schlimm als ein Beinbruch.Aber was ihre Mutter jetzt erlitt, das konnte sie nachfühlen. Bestimmt war sie halb tot vor 339
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Angst. Und ohne ihr Beruhigungsmittel würde sie zittern wie Espenlaub – unentwegt! Und das dauert noch bis morgen Mittag – bis Nachmittag!, dachte sie. Wie sollte ihre Mutter das aushalten? Sie richtete sich auf. Ihr Blick stellte sich ein auf die Straße. Eben tauchte dort eine Gruppe auf Rädern auf: vier Jugendliche von unterschiedlichem Wuchs, drei Jungs und ein Mädchen. Erst als sich Johanna die Tränen aus den Augen wischte, erkannte sie, um wen es sich handelte. Da hatten die TKKG-Freunde ihre Drahtesel bereits an den Zaun gestellt und kamen durch den Vorgarten zum Haus.
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3. Was plant Tim? Nanu!, wunderte sich Tim. So aufgelöst hatte er Johanna, die ihnen eben die Tür öffnete, noch nie gesehen. Sie sah verheult aus, als würde sie hauptberuflich Zwiebeln schneiden. »Hallo, hallo!«, rief Gaby neben ihm. »Wir haben…« Sie stockte. »Was ist denn, Johanna? Haben Sie Kummer?« Die Schwimmtrainerin schnüffelte. »Schon vorbei, Kinder. Mir… mir… aber das ist unwichtig! Kommt rein, ja!« »Sicherlich Freudentränen«, zischelte Klößchen, der mit Karl in der zweiten Reihe stand. »Sie ahnt, dass wir nicht mit leeren Händen kommen. Ist ja stark, wie sie an ihrer Uhr hängt.« »Du hängst auch«, sagte Gaby über die Schulter nach hinten. »Nämlich völlig durch. Und zwar geistig.« Johanna hörte nichts von alldem. Sie war vorausgeschlurft: auf Pantoffeln, die außen rosarot – und innen gleichfarbig gefüttert waren. Im Wohnraum, wohin ihr die vier Freunde folgten, ließ sie sich in einen Sessel fallen. Merkwürdig!, dachte Tim. Sie wirkt nicht, als hätte sie einen Todesfall in der Familie – oder sich versehentlich mit dem Hammer auf den Daumen gehauen. Sie wirkt absolut verzweifelt. Hat sie ihre Stellung verloren? Gaby räusperte sich. »Was auch immer Ihr Kummer ist, Johanna, vielleicht tröstet es Sie: Wir haben Ihre Uhr gefunden.« »Lag auf Bahn 3 unter Wasser«, fügte Klößchen hinzu. »Oh!« Johanna hatte sich geschnäuzt, stopfte ihr Taschentuch in den Pulloverärmel und nahm von Gaby die Uhr entgegen. »Und sie ist noch heil. Ihr seid tüchtig. Wie soll ich euch danken? Wenn ich nicht wüsste, dass die TKKG-Bande im341
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mer hilfsbereit ist, hätte ich jetzt ein schlechtes Gewissen. Ihr habt eure Zeit geopfert. Wie kann ich das gutmachen?« Sie redet wie ein Automat, empfand Tim.Als müsse das gesagt werden.Aber sie hört selbst nicht hin. Sollen wir jetzt beleidigt sein? Ein Blödmann wäre das. Wir dagegen sehen glasklar: Sie steht völlig neben sich. Da hat irgendein Ereignis nicht nur die Tränen gelöst, sondern an ihrer Seele gerüttelt. Haben die Terroristen und Anarchisten mal wieder ihre Sau rausgelassen? Oder was ist gelaufen? Ohne die Glotzer zu scharf einzustellen, beobachtete er – sozusagen unter Halbmast-Lidern –, wie Johanna ihre Uhr ans Handgelenk kettete, mit dem Goldglieder-Armband, ohne ihr dabei einen Blick zu schenken. Überhaupt: Ihr Blick war total leer – trotzdem ein einziges Notsignal. »Aufdringlichkeit«, sagte er, »ist eigentlich nicht unser Stil. Aber wir sehen auch nicht zu, wie jemand von Gram zerfressen wird. Was ist los, Johanna?« Sie wich seinem Blick aus. »Ach, nichts!« »Wenn es eine Herzensangelegenheit ist – wie Liebeskummer oder dazugehöriges Leid –, frage ich nicht weiter. Ist es das?« »Wie bitte? Nein, nein!« »Also was anderes«, stellte er fest. »Und alles andere fällt in unsere Zuständigkeit. Da können wir helfen, und Sie brauchen nur die Infos rauszulassen, damit wir’s auch tun. Unsere Hilfsbereitschaft beschränkt sich nämlich nicht auf die Bergung abgegluckerter Uhren.« Gaby warf ihre Goldmähne zurück. Sie hatte einen Entschluss gefasst.Tim merkte es an der Haltung ihrer Schultern. »Vielleicht«, sagte sie, »bespricht sich Ihr Problem besser von Frau zu Frau, Johanna. Jungs, geht mal für einen Moment auf den Flur. Aber macht die Tür zu. Ich…« »Ist nicht nötig, Gaby.« Johanna seufzte. »Ihr könnt es alle 342
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hören. Ich sage es nur euch – sonst niemandem. Vorher aber müsst ihr mir versprechen – nein, schwören! –, dass ihr zu niemandem ein Wort verlauten lasst. Zu niemandem! Ich weiß, dass ich mich auf euch verlassen kann. Enttäuscht mich nicht! Das… das Leben meiner Mutter hängt davon ab.« Schlimmer, als ich dachte, stellte Tim für sich fest. Offenbar liegt ein Verbrechen in der Luft. »Das klingt ja«, sagte Karl, »als stünden Sie und Ihre Frau Mutter unter Druck.« Johanna nickte. »Aber setzt euch erst mal!« Sie wies auf die Polstermöbel. »Kurz bevor ihr kamt, war der Typ bei mir. Ein roher Kerl. Ein Ganove. Er und sein Komplize…« Sie erzählte. Atemlos hörten die vier Freunde ihr zu. »…und deshalb«, beendete sie ihren Bericht, »werde ich mich fügen. Mag der Kerl noch so viel Schmuck rauben – das Leben und die Gesundheit meiner Mutter ist wichtiger. So wird auch die Polizei denken. Ob mein Chef, Herr Kantschliff, so denkt – da bin ich mir nicht sicher. Aber kündigen kann er mir deshalb nicht. Und selbst wenn ich in seiner Achtung ins Bodenlose sinke, ändert das meinen Entschluss nicht.« Sie schluckte, setzte dann eine trotzige Miene auf und nickte zwei Mal. »Au Backe!«, ließ sich Klößchen vernehmen. »Ihre arme Frau Mutter! In ihrer alten Haut möchte ich nicht stecken. In Ihrer auch nicht, Johanna. Und der Klotz von Kalifaru ist so gut wie futsch. Es sei denn, bis morgen Mittag kommt noch ein Kunde, der ihn kauft. Aber der müsste ja den ganzen Laden leer kaufen, nicht wahr?, damit der Halunke blöd dasteht. Dafür – haha – reicht unser Taschengeld leider nicht.« Wenn er doch den Mund hielte, dachte Gaby und schoss unter dichtem Pony einen Blick ab. »Die Polizei«, seufzte Johanna, »wird den Kerl und seinen Komplizen hoffentlich fassen. Überhaupt: Mir ist schleier343
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haft, was die mit einem Stein wie dem Kalifaru-Diamanten wollen. Unter der Hand lässt der sich nicht verkaufen. Dafür ist er zu auffällig.« »Stimmt.« Tim erhob sich. »Seltene Schmuckstücke sind keine Sore (Diebesbeute). Aber das soll uns nicht kratzen. Wichtig ist nur, dass Ihrer Mutter nichts passiert. So, und jetzt müssen wir uns leider von hinnen stehlen – jedenfalls Willi und ich. Sonst verpassen wir noch den Rest der Arbeitsstunde und der EvD macht uns zur Schnecke. Kopf hoch, Johanna! Es gibt für alles eine Lösung.Wir arbeiten daran. Tschüss!« Befremdet äugten seine drei Freunde ihn an. Eine liebenswerte Person wie Johanna in ihrer Not sich selbst zu überlassen, war sonst ganz und gar nicht Tims Art. Immerhin – Gaby, die sich recht häufig mit den Einzelheiten seines Charakters befasst, begriff in diesem Moment, weshalb er eine total undurchdringliche Miene aufgesetzt hatte. Dahinter entstand ein Plan. Und der gipfelte nicht in der Erkenntnis, dass Däumchendrehen und Abwarten das Beste sei. Die vier Freunde verabschiedeten sich. Der Nieselregen hatte aufgehört, aber Dunst wallte umher. Die Lichtpeitschen brannten bereits und sämtliche Fahrradsättel waren nass. Mit seinem Taschentuch trocknete Tim den von Gabys Tretmühle. »Damit du trocken sitzt«, grinste er. Flüchtig küsste sie ihn auf die Wange, war aber mit ihren Gedanken nicht dabei. »Was hast du vor? Du hast doch was vor? Sag’s! Sonst gehe ich wieder rein und spende noch Trost.« »Zunächst mal rufe ich den EvD an. Werde Willi und mich entschuldigen. Am besten, ich deute die Wahrheit an, ohne Einzelheiten oder Namen zu nennen. Morgen Nachmittag 344
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kann er dann hören, was war. Danach, Freunde, brettern wir zu Agathe Behlens Wohnung und…« »Aber wir haben doch gar nicht gefragt, wo das ist«, wandte Klößchen ein. Karl ächzte und übernahm die Antwort. »Sie hat Telefon. Also steht sie im Telefonbuch, denn dass sie eine Geheimnummer hat, ist nicht anzunehmen, nicht wahr? Und lesen können wir.« »Vorzüglich sogar«, grinste Klößchen. »Und damit wir’s nicht verlernen, sollten wir ab und zu üben. Wer nur vor der Glotze hängt, fängt eines Tages mit dem Alphabet wieder von vorn an und…« »Es reicht, Willi«, wurde er von Gaby unterbrochen. »Heute bist du mal wieder als Nervtöter so gut – dich könnte ein Zahnarzt gebrauchen. Anstelle der Betäubungsspritze. »Tim«, wandte sie sich an ihren Freund, »was wollen wir bei Agathe?« »Nur schnüffeln. Selbstverständlich ganz unauffällig. Da sie aus ihrer Wohnung entführt wurde – vermutlich –, hat vielleicht ein Nachbar was bemerkt. Große Hoffnung habe ich zwar nicht.Aber es wäre sträflicher Leichtsinn, irgendwas unversucht zu lassen. Tja, und dann, was den morgigen Tag betrifft, habe ich eine starke Idee.« Während sie ihre Tretmühlen ein Stück schoben, breitete er in gedämpftem Ton sein Gedankengut aus. »Du bist verrückt«, sagte Gaby. »Völlig hirnrissig«. »Ouh, ouh!«, unkte Karl. »Mich schlottert’s. Das kann fürchterlich ins Auge gehen. Außerdem ist die Rechtslage problematisch. Ich sehe nur Schwierigkeiten.« »Und wir könnten getötet werden«, japste Klößchen. »Versehentlich. Aber was nützt es uns, wenn man später erkennt, dass mit uns die Falschen ins Jenseits befördert wurden.« »Ihr scheint nicht begeistert zu sein«, stellte Tim fest. 345
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Gaby schnappte nach Luft. »Auf Anhieb kann mit deinem Plan niemand Freundschaft schließen.« »Ich schon. Und ich mach’s auch. Notfalls allein. Vielleicht sogar am besten allein, denn das Risiko kann ich niemandem zumuten. Für dich, Pfote, käme sowieso nur eine einzige Aufgabe in Frage: die am Telefon. Aber wie gesagt: Allein…« »Red keinen Unsinn«, fiel ihm Karl ins Wort. »Selbstverständlich sind wir alle dabei. Aber ein bisschen Kritik musst du dir gefallen lassen.« »Ich lechze danach«, lachte Tim. »Und wie soll das nun im Einzelnen ablaufen?«, fragte Gaby.
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4. Der Auftraggeber aus dem Nahen Osten Vor den Fenstern waren die Jalousien herabgelassen.Aber er hatte zusätzlich die Gardinen und Vorhänge geschlossen, bevor er das Licht anknipste. Kein Schimmer durfte hinausdringen. Die Beleuchtung änderte nicht viel an Agathes Hilflosigkeit. Nicht nur die Strickjacke war in ihrer Wohnung zurückgeblieben. Johannas Mutter hatte auch ihre Brille vergessen. Ohne die fühlte sie sich nahezu blind. Friedhelm Merpe hatte das anfangs nicht gewusst. Sonst wäre ihm die Verwandlung seines Äußeren erspart geblieben. Einen Vollbart hatte er sich angeklebt und eine Perücke auf den Kopf gestülpt. Außerdem trug er eine Schutzbrille mit getönten Gläsern. »Jetzt wärmer, Frau Behlen?«, fragte er. Agathe saß auf der Couch und war noch in ihren Mantel gehüllt. »Ja, danke. Stürzen Sie sich nur nicht in Unkosten. Meinetwegen brauchen Sie die Heizung nicht anzustellen. Sie, Verbrecher«, setzte sie hinzu. »Aber, nun, Frau Behlen«, meinte er vorwurfsvoll. »Tue ich nicht alles für Sie? Fünf Löffel Baldrian (Beruhigungsmittel) habe ich Ihnen eingeflößt. Jetzt sind Sie so ruhig wie ein Denkmal.« »Sie wollen ja nur, dass ich einschlafe. Damit Sie nicht aufpassen müssen.« »Das ist sowieso nicht nötig. Alle Türen sind verschlossen. Sie können nicht raus. Soll ich das Radio anstellen? Irgendwo muss eins sein. Ich glaube, oben.« »Ach, das ist wohl gar nicht Ihr Haus?« »Natürlich nicht. Diese hübsche Hütte steht zurzeit leer. 347
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Die Bewohner sind in den sonnigen Süden gereist. Zufällig habe ich das spitzgekriegt – und da lag es nahe, die Hütte für Sie und mich als Versteck auszuwählen. In Ihrer Wohnung – das sehen Sie ein – konnten wir nicht bleiben. Und zu mir – nun, das schien mir auch nicht das Wahre zu sein.« »Sie… Verbrecher!« »Ich bitte Sie, Frau Behlen!« Agathe schauderte. Sie dachte an die schreckliche Situation, die noch nicht lange zurücklag. Sie war zu Hause in ihrer Wohnung gewesen, hatte gerade eine Programmzeitschrift durchgeblättert und ihren Hustentee getrunken. Da klingelte es und dieser bärtige Kerl stand vor der Tür. Die Hand hatte er ihr auf den Mund gepresst, sie mit einer Pistole bedroht und in die Diele gedrängt. Beinahe wäre sie, Agathe, vor Schreck bewusstlos geworden. Doch dann hatte sich der Kerl von einer anderen Seite gezeigt, ihr nämlich ein Glas Wasser geholt und sie beinahe fürsorglich behandelt. Was er wollte, erklärte er ihr in ruhigem Ton. Und wieder wurde ihr schwindelig vor Schreck. Durch die Hintertür – sodass kein Nachbar was sah – musste sie dann mit ihm gehen: zu einem dunkelblauen oder schwarzen Auto. Er führte sie so fest am Arm, dass das Autokennzeichen erst gar nicht in ihr Blickfeld geriet. Aber erkannt hätte sie das sowieso nicht – wegen ihrer schwachen Augen. Was er zu der Zeit allerdings noch nicht wusste. Nach etwa halbstündiger Fahrt waren sie hier angekommen. Das Telefongespräch mit Johanna lag hinter ihr. Angst und Verzweiflung hatten sie anfangs beherrscht. Aber das gab sich, merkwürdigerweise. Jetzt empfand sie nur noch Ärger. Am liebsten hätte sie ihn geohrfeigt, den Kerl. Agathe Behlen war klein und etwas vogelhaft, hatte silbergraues Haar und rosige Haut, die sie jünger erscheinen ließ. Sie kleidete sich modisch, lebte von dem Vermögen, das ihr 348
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verstorbener Mann angehäuft hatte, und besaß drei Abonnements (Anrecht zum Besuch kultureller Veranstaltungen): für die Städtische Oper, das Komödientheater und den Konzertsaal. Damit war sie ausgelastet. »Bis morgen Mittag«, sagte Friedhelm, »werden wir es miteinander aushalten. Dann sind Sie erlöst. Ihre Tochter gehorcht. Da bin ich mir sicher.« »Deshalb sind und bleiben Sie ein Verbrecher.« Er feixte hinter seinem Bartgestrüpp. »Leider, Frau Behlen, habe ich nichts anderes gelernt. Immerhin bemühe ich mich, so selten wie möglich das Gesetz zu verletzen. Ich arbeite nur so viel, wie ich zum Leben benötige.« »Soll ich Sie dafür etwa loben?« Agathe führte die Hand zum Mund und gähnte verstohlen. Der Baldrian wirkte. Sie wurde schläfrig.Außerdem stieg die Temperatur in dem Wohnraum, was zusätzlich müde machte. Aber sie wollte nicht einschlafen. Wie sähe das aus? Sie war erst 60 und noch lange keine Greisin. Dann fiel ihr ein, dass sie heute ihren Mittagsschlaf versäumt hatte. »So!«, meinte Friedhelm. »Jetzt nehmen wir noch einen großen Schluck aus der Baldrianflasche – und dann werde ich Sie oben im Schlafzimmer einschließen. Dazu sage ich Ihnen gleich, dass es sinnlos wäre, wenn Sie Fenster und Jalousie öffnen und um Hilfe rufen. Vielleicht haben Sie’s vorhin bemerkt: Dieses Haus liegt etwas außerhalb der Stadt und völlig einsam. Der nächste Nachbar kann Sie nicht hören. Und Spaziergänger verirren sich nicht hierher. Ist das klar?« »Baldrian nehme ich nicht mehr.« »Nur einen Schluck!« »Nein!« In der Hausapotheke hatte er die Flasche gefunden. Zum Glück! Denn vorhin hatte Agathe sich aufgeregt, als gelte es ihrem Leben. 349
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Er stand auf, nahm die Baldrianflasche, die auf dem Tisch stand, und trat zu seiner Geisel. Friedhelm Merpe war groß, schlank und 37 Jahre alt. Er bewegte sich geschmeidig. Unter der Maskierung steckte ein gut aussehender Typ, der den größten Teil seiner Zeit in noblen Hotels, beim Pferderennen, auf dem Golfplatz und vor allem auf Partys verbrachte. Dass er nichts gelernt hatte, war gelogen. Er entsann sich einer abgeschlossenen Lehre als Schlosser. Aber das lag 20 Jahre zurück, und außerdem – Pfui, Teufel! – musste man sich bei der Arbeit die Hände schmutzig machen. Das war nichts für ihn. Deshalb wechselte er bald den Beruf und nannte sich Vermittler – Vermittler von Geschäften aller Art. Vermittelt hatte er nie etwas. Stattdessen gaunerte er sich durchs Leben. Seine Spezialität waren Diebstahl und gewaltlose Raubzüge. In letzter Zeit hatte er sich als Schmuck- und Diamanten-Beschaffer einen Namen gemacht. Allerdings nicht bei Juwelieren, sondern in den gehobenen Kreisen der Unterwelt. Er füllte Baldrian auf den Löffel. »Nein!« Agathe presste die Lippen aufeinander. »Mund auf!«, befahl er in schneidendem Ton. Sie erschrak. Gehorsam schluckte sie dann, was er ihr auf die Zunge träufelte. Und damit er auch wirklich seine Ruhe hatte, flößte er ihr noch zwei Portionen ein. »Ich… verabscheue Sie!«, keuchte Agathe. »Das ist schade. Aber damit werde ich wohl leben müssen. So – und nun husch ins Schlafgemach!« Sie widersetzte sich nicht. Er führte sie die Treppe hinauf. In einem kleinen, rückseitig gelegenen Gästezimmer schloss er sie ein. Dösig vom Baldrian legte Agathe ihren Mantel ab. Sie 350
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drehte die Heizung an und untersuchte das Bett. Es war frisch bezogen. Gähnend streckte sie sich aus. Vielleicht ist es das Beste, dachte sie, wenn ich bis morgen Mittag schlafe. Was versäume ich denn hier? Hoffentlich kann Hannchen heute Nacht schlafen. Augenblicke später drückte ihr der Schlaf auf die Lider und sie schlummerte ein. Unten im Wohnraum überprüfte Friedhelm die Hausbar. Der Hausherr, ein Arzt namens Schickschuh, verbot seinen Patienten sicherlich den Genuss von alkoholischen Getränken. Aber mit sich selbst ging er großzügiger um. Denn was ihm an Whisky und Cognac zur Verfügung stand, hätte jede Kneipe bereichert. Friedhelm goss sich ein großes Glas Rum ein, sank auf die Couch und zog das Telefon heran. In seinem Notizbuch hatte er die Rufnummer vermerkt. Sie gehörte zu einem Anschluss in Norditalien, in Mailand. Dort sollte er anrufen, um endlich Verbindung mit seinem Auftraggeber herzustellen. Denn bisher war nur ein Mittelsmann an ihn, Friedhelm, herangetreten. Um ein tolles Geschäft ging’s. Um einen Coup, von dem Friedhelm geträumt hatte. Er wählte. Nachdem er endlich alle Tasten getippt hatte, gab die Fernleitung technische Geräusche von sich. Stimmen schwebten im Äther, und über den Alpen schien ein Sturm zu wüten, der alle Verbindungen zerschnitt. Dann klirrte es, als falle ein Markstück ins Sparschwein, und das Rufzeichen quäkte. In Mailand wurde der Hörer abgenommen. »Hallo?«, heiserte eine männliche Stimme. »Sprechen Sie Deutsch?«, fragte Friedhelm. »Hallo?« Friedhelm versuchte es auf Englisch und erhielt Antwort. »Ja, ich verstehen Englisch«, erklärte der Mensch in unverkennbar arabischer Klangfarbe. »Wer Sie sind und was wollen?« 351
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»Mein Name ist Friedhelm Merpe.Ali hat mir die Nummer gegeben. Ich rufe aus Deutschland an und möchte Herrn Anis Gasthmi sprechen. Er erwartet meinen Anruf.« »Ich davon wissen. Sekunden warten, bitte! Ich stellen durch zu Chef« Friedhelm wartete. Dann meldete sich eine metallische Stimme, so deutlich, als stünde der Mann neben ihm. »Hier Gasthmi«, sagte er in fließendem Englisch. »Sie sind Friedhelm Merpe.« »Der bin ich. Guten Tag! Ali hat mir ein Codewort aufgegeben. Ich soll sagen: Der Saturn hängt am falschen Hals. Richtig?« Gasthmi lachte. »Richtig. Ali hat eine Vorliebe für solchen Humbug. Aber es ist manchmal ganz nützlich. Zumal dann, wenn es um ein so heißes Geschäft geht wie jetzt. Was hat Ihnen Ali gesagt?« »Nicht viel. Eigentlich nur dass es sich um den SaturnDiamanten dreht. Dass Sie ihn um jeden Preis haben wollen. Ihm – ich meine Ali – schien sehr wichtig zu sein, dass ich Stefanie von Jaburg kenne. Was heißt kennen? Sie behandelt mich wie ihren Bruder. Und hat mir drei Mal schon Geld geliehen.« »Aber Sie fühlen sich ihr nicht irgendwie menschlich verpflichtet?«, forschte Gasthmi. »Nicht im Geringsten. So was gibt’s bei mir nicht. Für mich zählt nur Geld. Gefühle sind Luxus, die man sich erst leisten kann, wenn man das Geld hat.« Dazu sagte Gasthmi nichts. Stattdessen kam er zur Sache. »Wenn Sie Stefanie von Jaburg so gut kennen, wissen Sie sicherlich, dass sie unweit von Mailand ein prächtiges Gut besitzt. Ich und Freunde von mir – wir gehen dort ein und aus. Man könnte behaupten, es herrscht ein herzliches Verhältnis. Schwierig wird die Sache nur dadurch, dass Stefanie von Jaburg den Saturn-Diamanten besitzt, dieses prächtige Juwel. 352
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Hinter mir steht jemand, der ihn begehrt. Dieser ›Jemand‹ gehört zu den Mächtigen der Welt, aber sein Name darf nicht genannt werden. Unsummen habe ich Stefanie von Jaburg geboten. Doch sie verkauft ihn nicht. Somit bleibt leider nur der illegale (ungesetzliche) Weg: Diebstahl. Ich könnte das hier machen lassen – durch meine Leute. Aber dann fiele der Verdacht unweigerlich auf mich – wegen meines außergewöhnlichen Interesses. Hinzu kommt, dass wir – eine Gruppe von Arabern – es zurzeit nicht wünschen, auffällig zu werden. Wir wollen nichts zu tun haben mit der Polizei. Deshalb mein Auftrag an Sie: Beschaffen Sie den Saturn-Diamanten! Über den Preis werden wir uns einig.« »Ist gebongt, Sir.« »Sie übernehmen den Auftrag?« »Aber ja.« »Sehen Sie sich dazu in der Lage?« »Ich habe schon ganz andere Dinger gedreht.« Gasthmi schien zu lachen. Seine Stimme klang belustigt. »Aber da gibt es ein Problem«, meinte er. »Es ist allgemein bekannt, dass Stefanie von Jaburg den Saturn-Diamanten niemals trägt. Er liegt immer im Safe. Stattdessen hängt sie sich eine Imitation (Nachbildung) um den Hals. Die ist so perfekt, dass nur ein Fachmann den echten Stein vom falschen unterscheiden kann.« »Stimmt.« »Und?« »Ich komme ran an den echten. Wie – das ist meine Sache. Aber Sie können sich auf mich verlassen.« »Gut! Sobald Sie ihn haben, höre ich von Ihnen.« Gasthmi legte auf, ohne Adieu zu sagen. So viel war ihm der angeheuerte Dieb nicht wert. »Kameltreiber!«, murmelte Friedhelm. »Braunhäutiger Geldprotz! Für deinen Großvater war noch die Wüstenratte ein Leckerbissen. Und jetzt gebt ihr an, weil ihr Ölquellen 353
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habt und euer Geld mit Nichtstun verdient. Nicht zu glauben! Da kommen sie einfach hierher und glauben, sie könnten Europa aufkaufen. Aber mir soll’s egal sein.« Er lehnte sich zurück, begann, an den Nägeln zu knabbern, und dachte nach. Bisweilen nippte er an seinem Rum. Den Preis – das war klar – würde er hochtreiben. Die sollten blechen, dass ihnen die nahöstliche Seele kochte. Ein Mächtiger, der hinter ihm – hinter Gasthmi – stand? Hm, hm! Interessant, falls es kein leeres Gerede war. Darüber musste er sich noch Gedanken machen. Aber zunächst lastete ihm was anderes auf dem Gewissen, nämlich das Problem, das Gasthmi völlig richtig beurteilt hatte. Friedhelm wusste, dass seine Möglichkeiten, an den Saturn-Diamanten heranzukommen, gleich null waren. Stefanie, diese überdrehte Zicke, trug tatsächlich immer die Imitation. Nun denn – damit war seine Weisheit nicht erschöpft. Gab es doch hier in der Stadt ein anderes Steinchen, das dem Saturn-Diamanten in verblüffender Weise ähnelte: den Klotz von Kalifaru. Der besaß das gleiche Feuer, den gleichen Schliff, die gleiche Größe und dieselben Karate (Karat = Gewichtseinheit von Edelsteinen). Diesen – nicht minder wertvollen Stein würde er dem Wüstensohn andrehen. Sicherlich würde er stutzen, wenn ihm Stefanie in Mailand mal wieder über den Weg lief und immer noch im Besitz des Saturn-Steinchens war. Aber dafür hatte sich Friedhelm die Erklärung schon zurechtgelegt. Er würde behaupten, dass Stefanie den Diebstahl verschwieg, um vor der Öffentlichkeit nicht als blamiert dazustehen – was man einer überkandidelten (verrückt-heiteren) Jetset-Biene durchaus andichten konnte. »Sie will sich eben immer noch sonnen«, würde er sagen, »im Bewusstsein, dass andere Frauen sie beneiden – um den Stein.« 354
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Grinsend spuckte er einen abgekauten Daumennagel weg. Morgen war ein Tag mit vollem Programm. Erst der Raub beim Juwelier Kantschliff. Das erledigte der blöde Typ, den er dafür angeworben hatte. Horst Dungert – so hieß der Bursche mit dem Teiggesicht.Tja, und dann, abends, die Party bei Stefanie von Jaburg. Sicherlich eine tolle Fete. Lumpen ließ sie sich nie, die geschiedene Tante. Und selbstverständlich war er, ihr liebster Freund, als Ehrengast eingeladen. Sein Glas war leer. Er stand auf. Diesmal schenkte er sich einen Cognac ein. Die Heizung knackte. Oben im Haus war alles ruhig. Sicherlich pennte die Alte und das Gästezimmer roch inzwischen wie eine Abfüllanlage für Baldrian. Aus der Brieftasche zog er einen Zeitungsartikel. Ausgeschnitten hatte er den. Er war zwei Wochen alt. Dem Zufall dankte er’s, dass ihm die Information in die Hand geriet – weshalb dieser Ali zu ihm Kontakt hergestellt hatte. Bereits damals fiel der Name Anis Gasthmi. Und auch in diesem Artikel war von dem Araber die Rede – freilich nicht im Zusammenhang mit Juwelen oder Mailänder Superfeten. Um Politisches ging’s. Gasthmi war 39 Jahre alt, hatte in Kairo studiert und sich in nahezu jedem arabischen Land politisch betätigt. Anfangs öffentlich, später im Untergrund – also als leitender Kopf terroristischer Gruppen. Aber die blutigen Anschläge befriedigten ihn offenbar nicht. Große Karriere war sein Ziel und so stieg er auf zum persönlichen Vertrauten und dicksten Freund eines berüchtigten Typs. El Hamid der Schreckliche war in den letzten fünf Jahren sein Gönner gewesen. Wie sich im Nachhinein zeigte, hatte Gasthmi allerdings auf das falsche Pferd – bzw. Wüstenkamel gesetzt –, als er El Hamid seine Freundschaft antrug. Denn dieser braunhäutige Schurke hatte zwar königliches Blut in den Adern und viele Ölquellen unter den Homhautsohlen, war aber trotz355
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dem nicht die Nummer eins in seinem arabischen Heimatland. El Hamids Bruder hielt dort die Macht in den Händen. Zwar hielt er sie eisern fest, war jedoch ansonsten ein vergleichsweise angenehmer Herrscher – falls sich das von Herrschern überhaupt sagen lässt. Er hieß Salimeh. Zu den westlichen Ländern unterhielt er freundschaftliche Beziehungen. In Europa war er gern gesehen – nicht zuletzt weil er sein Erdöl vorzugsweise hierher verkaufte. Mit El Hamid, seinem Bruder, hatte Salimeh nur Ärger. Im Geheimen stänkerte der Schreckliche – wie man ihn im Lande nannte – gegen das Staatsoberhaupt. Denn El Hamid wollte die Macht. Dass sie ihm nicht in den Schoß fiel, wusste er. Deshalb war er bereit, das Äußerste zu wagen. Und vor drei Wochen zettelte er einen Aufstand an – mit dem Ziel, Salimeh vom Thron zu stürzen. Aber der Putsch ging daneben, wurde blutig niedergeschlagen; und El Hamids Anhänger fanden sich hinter Gittern wieder – so sie noch am Leben waren. Anis Gasthmi und eine Handvoll Hamid-Getreuer flohen. Offiziell wusste niemand, wo sie sich aufhielten. Aber inzwischen war durchgesickert, dass sie sich in Norditalien versteckten. Sollten sie! Salimeh erklärte öffentlich, er dürste nicht nach Rache und werde auf Verfolgung verzichten. Allerdings sei ihnen nicht zu raten, jemals wieder sein Land zu betreten. Über El Hamids Schicksal herrschte tagelang Ungewissheit. Erst dann erfuhr die Weltöffentlichkeit, dass sich der Schreckliche im eigenen Lande verborgen hielt. Dort entdeckte man seine Spur und um ein Haar wäre er den Häschern seines Bruders in die Hände gefallen. Im letzten Moment konnte El Hamid zusammen mit Fatima, seiner jungen Frau, im Privatflugzeug fliehen. Doch das Schicksal war gegen ihn. Vor der tunesischen Küste stürzte 356
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die Maschine ins Meer. Das geschah nachts. Erst am nächsten Morgen fand man Wrackteile. Persönliche Gegenstände des Schrecklichen trieben im Wasser. Sterbliche Überreste wurden zwar nicht geborgen.Aber niemand – daran bestand kein Zweifel – hatte das Unglück überlebt. Friedhelm grinste, nachdem er den Artikel abermals gelesen haue. Er ahnte, wie die Sache jetzt stand. Bestimmt hatte El Hamid ein gewaltiges Vermögen ins Ausland gebracht – rechtzeitig, um nicht am Hungertuch zu nagen, falls die Pläne fehlschlugen. Den El Hamid und seine Fatima gab’s nun nicht mehr. Aber das Geld war da. Sicherlich fand Gasthmi einen Dreh, um es in die eigene Tasche zu lenken. Den SaturnDiamanten wollte er bestimmt nicht für einen Mächtigen der Welt, in dessen Auftrag er angeblich handelte, sondern für sich selbst bzw. für ein weibliches Wesen, das es ihm angetan hatte. Vielleicht eine hübsche Mailänderin. Friedhelm überlegte. Allmählich wurde ihm klar, worauf er sich einließ. Es konnte gefährlich für ihn werden.
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5. Tolle Bewaffnung Abends vermehrte sich der Nebel. Er hüllte die Stadt ein und draußen – im Grünen – breitete er sich aus, als wäre er hier zu Hause. Auf dem Gelände der Internatsschule konnte man keine fünf Meter weit sehen. Tim schloss das Fenster. Hinter ihm, im ADLERNEST, brannte nur eine Nachttischlampe. Klößchen lag auf dem Bett und blätterte in einem Journal. Ab und zu schob er sich ein Stück Schokolade in den Mund. »Irrer Nebel«, meinte Tim. »Ich kann zwar nicht bis zum Hauseingang sehen. Aber ich glaube, Django ist eben gekommen. Es klang nach seiner Stimme.« Django war der Spitzname eines Schülers aus der 12a. Detlef Knallmüller wurde so genannt, weil er für Schusswaffen schwärmte. Er besaß sämtliche Modelle von Tränengas-Pistolen und Schreckschuss-Revolvern. Darüber hinaus sammelte er Gewehre und Maschinenpistolen. Schießen konnte man mit denen freilich nicht. Bevor sie als Sammlerstücke verkauft wurden, hatte man die Läufe mit Metall ausgegossen. Aber das merkte nur der Fachmann, wenn er die Waffe in die Hand nahm. Äußerlich fehlte den Meuchelpuffern nichts. »Erinnere mich nicht an morgen«, meinte Klößchen. »Sonst wird mir zum ersten Mal von meiner eigenen Schokolade schlecht. Nein. Stimmt nicht. Nicht davon, sondern von den Flöhen im Bauch.« »Ich sag’s dir zum zehnten Mal: Du musst nicht mitmachen.« »Ich will aber.« »Trotz der Flöhe?« »Die ersticke ich mit Schoko. Noch zwei Tafeln ziehe ich mir rein, dann krabbelt nichts mehr. Sind ja auch keine wirklichen Flöhe, sondern… eh… nervliche Unruhen. Dem einen 358
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beben die Nasenflügel. Der andere stottert. Mir kribbelt es im Bauch. Aber Schokolade hilft immer. Schokolade ist Nervennahrung.« Tim schlüpfte in seine Turnschuhe. Sie waren neu – mit eingearbeitetem Luftkissen in der Sohle und besonders guter Fersenstütze. Klößchen redete noch. Aber er hörte nur mit einem Ohr hin. In Gedanken war er bei Agathe Behlens Wohnung. Mit Unschuldsmiene hatten sie dort bei den Nachbarn geklingelt und nach der alten Dame gefragt. Doch niemand hatte sie gesehen, niemand wusste was. Bald wurde klar, dass es keinen Zeugen gab für die Entführung. Also eine Sackgasse. Die TKKG-Bande brach ihre Ermittlungen ab. Damit war es dann endgültig so weit: Tims gefährlicher Plan schien der einzige Ausweg zu sein. »Ich gehe jetzt zu Django«, sagte Tim. »Du erinnerst mich ja schon wieder an morgen.« »Kümmere du dich um deine Flöhe. Was soll ich dir mitbringen?« »Mir? Was meinst du?« Tim seufzte. »Möchtest du eine Elefantenbüchse? Einen Schreckschuss-Revolver? Oder einen Minenwerfer?« »Ach so. Hm. Überlasse ich dir. Von Mordinstrumenten verstehe ich nichts.« »Ich auch nicht. Kampfsport ja. Schießen nie. Werde mal sehen, was Django zu bieten hat. Gefährlich muss es aussehen. Und unter die Jacke passen.« Klößchen blätterte um. »Ist ja eine ganz alte Schwarte«, stellte er fest – und meinte das Journal. »Meistens merke ich das erst an der Witzseite. Aber hier ist der lange Bericht von El Hamids Flugzeugabsturz. Und das war vor… vor…« »…ungefähr zweieinhalb Wochen«, half ihm Tim. »Wahrscheinlich entscheide ich mich für zwei Maschinenpistolen.« 359
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»Vielleicht gibt er dir gar nichts.« Klößchen grinste. »Django hat mal gesagt, dass er dich nicht leiden kann. Ist ja verständlich. Er flog raus aus der Volleyball-Mannschaft und du kamst an seine Stelle.« »Ein guter Sportler«, meinte Tim, »kann auch verlieren. Aber Django hätte mich am liebsten erschossen.« Klößchen klatschte mit flacher Hand auf die Farbdruckseite seiner Zeitschrift und begann, wiehernd zu lachen. »Ist dir schon aufgefallen«, krähte er, »El Hamid der Schreckliche und Django sind sich ähnlich.« Er hielt Tim das Journal hin. Der Araber war abgebildet, ein untersetzter Typ im weißen Gewand. Das Bild zeigte ihn beim Schießsport. Mit einer Pistole feuerte er auf Zielscheiben – offenbar um vorzuführen, dass er zu staatsmännischen Entscheidungen fähig sei. Sein Gesicht war deutlich zu sehen. Er hatte eng stehende Augen und pockennarbige Haut. Die Nase wie ein Geierschnabel. Ein Schnurrbart betonte die fleischigen Lippen. »Django ist auch keine Schönheit«, stellte Tim fest, »aber nicht halb so abstoßend wie der. Ich sehe keine Ähnlichkeit.« »Aber die Pistole in seiner Hand«, feixte Klößchen. »Das haben sie gemeinsam.« »Sehr witzig.« Tim wandte sich zur Tür. Der Flur war leer. Im Waschsaal brannte Licht. Aber niemand hielt sich dort auf. Er lief die Treppe hinunter und dann über den Hof zum so genannten SCHWARZEN HAUS, dem Gebäude, in dem die Schüler der Oberstufe wohnten. Detlef Knallmüllers Bude hieß ARSENAL (Waffenlager), sinnigerweise. Er teilte sie mit einem blässlichen 19-Jährigen, der als Fachmann für Schmetterlinge galt und schon einmal durchs Abitur gefallen war. Tim klopfte an die Tür, wie sich das gehörte. Und Django, alias (mit anderem Namen) Detlef, rief: »Herein!« 360
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Er war allein, hatte eben seinen Trench in den Schrank gehängt und roch nach abgashaltigem Nebel. »Heh?«, meinte er verblüfft und starrte Tim an, als käme der aus dem Urwald. Muss es geschickt anstellen, dachte Tim. Am besten, ich verärgere ihn nicht. Schließlich will ich was von ihm. »Hallo, Django«, grinste er. »Was macht die Verletzung? Ist die Wunde schon verheilt?« »Häh?« Django glotzte noch immer, schob aber jetzt die Brauen zusammen. »Muss ja eklig sein«, meinte Tim, »wenn man sich den halben Unterarm an ’ner Glasscherbe aufschneidet. Du hast geblutet wie ein Schwein. Das sah ich ganz deutlich. Weil ich in der Nähe war. Meinen Widerwillen gegen dich – stell dir vor – hatte ich bereits überwunden. Gerade wollte ich dir helfen. Aber da war dein Freund Krumpe schon da – und hat dich abgeschleppt. Soviel ich hörte, ist der in Erste Hilfe ausgebildet. Sicherlich hat er deine Verletzung verarztet.« »Was?«, fragte Django. »Ich weiß nicht, wovon du redest, du Spinner.« »Ich rede davon, dass du am letzten Samstag in der Melchgasse eine Schaufensterscheibe eingeschlagen hast. Absichtlich. Du warst fürchterlich betrunken. Wolltest du klauen – oder nur mal ausprobieren, was du mit bloßer Faust schaffst?« Detlef Knallmüller schwieg. Nach einer Weile öffnete er den Mund. »Willst du mich nachträglich noch verpfeifen?« »Der Typ bin ich nicht. Hat sich das noch nicht rumgesprochen? Jetzt entsinne ich mich. Das Schaufenster gehört zu einem Tabakwarenladen. Hattest wohl nichts mehr zu rauchen?« Djangos linke Hand tastete zum rechten Unterarm. Offen361
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bar begann die Schnittwunde wieder zu schmerzen. Er antwortete nicht. Aber seine verkrampfte Miene verriet genug. Tims Vermutung hatte ins Schwarze getroffen. Lächelnd trat Tim zur Längswand der Bude. Dort waren die Schusswaffen dekoriert. Stahl glänzte im Lampenlicht. Aus der Nähe roch er das Öl. »Ich möchte was ausleihen, Django. Du hast nichts dagegen, wie?« »Was?«, plärrte der Zigarettendieb. »Leihen? Von meinen Sachen? Das geht nicht.« »Wieso nicht?« »Jedes Modell ist wertvoll. Ich verleihe grundsätzlich nicht. Selbst wenn mich der Direx bittet – müsste ich Nein sagen.« »Du musst gar nichts. Du musst allenfalls deinen Geiz überwinden. Außerdem bin ich nicht der Direx. Ich nehme die kleine Maschinenpistole dort. Und den großen Revolver. Soll ich sie selbst abnehmen? Oder packst du mir die Knallerbsen ein? Das heißt, sie knallen ja gar nicht. Sind nur taube Nüsse. Wie du und deinesgleichen.« Django schluckte. »Eines Tages kriegst du mal schrecklichen Ärger.« »Eines Tages? Den habe ich doch täglich. Weil ich mich überall einmische. Du hältst dich überall raus, weil du Bleischrot im Hintern hast und Pulverdampf im Gehirn. Detlef Django Knallmüller sammelt diesen Schrott und schlägt nachts Schaufenster ein. Was ist nun? Ich habe nicht ewig Zeit. Vielleicht rührst du dich bald.« Django kochte vor Wut.Aber er wagte nicht, sich zu widersetzen. Tim steckte die beiden Attrappen (Nachbildungen für Ausstellungszwecke) unter seinen Pullover und schob ab. Das ADLERNEST war leer. Er warf die Waffen auf sein Bett. Als er die Turnschuhe abstreifte, stürmte Klößchen herein. 362
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In jeder Hand hielt er ein graues Gebilde aus tropfnasser Wolle. »Tim, wir müssen die Heizung höher schalten. Damit sie noch trocknen.« »Damit was trocknet?« »Unsere Sturmhauben. Ich habe sie gewaschen. Mit Seife. Seit wir sie das letzte Mal benutzt haben, liegen sie rum. Voller Staub und Dreck. So geht das nicht, habe ich mir gesagt.« »So geht was nicht?« »Der Überfall. Wir müssen durch und durch glaubwürdig sein. Dazu gehören nicht nur die Waffen – ah, da sind sie ja – dazu gehört auch das andere Zubehör. Handschuhe. Und die Wollmützen, die nur Augen und Nase frei lassen – eben unsere Sturmhauben.« Er quetschte sich durch die drangvolle Enge der Winzig-Bude und hängte die Sturmhauben über die Zentralheizung. »Mann, Willi! Das wäre nun wirklich nicht nötig gewesen. Um einen Raubüberfall zu machen, muss man sich nicht vorher die Füße waschen. Es ist auch wurscht, ob du beim Frisör warst und mit geputzten Zähnen kommst. Drohend musst du wirken. Einschüchtern. Das erreichst du mit deiner Haltung. Mit deiner Stimme. Und mit dem, was du sagst. Aber, bitte, fang jetzt nicht an zu üben! Morgen genügt es, wenn du mit deiner Maschinenpistole fuchtelst.« »Die kriege ich?« Tim nickte. »Stark.« Klößchen nahm die MP in die Hand. Nachdem er festgestellt hatte, was hinten und vorn war, legte er an und machte ein böses Gesicht. »Rrrrrrr… rat-tatatatat…«, schoss er in die Gegend und steigerte seine Miene zur Furcht einflößenden Grimasse. »Hätte nicht gedacht, Tim, dass Django die Dinger raus363
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rückt. An denen hängt doch sein Herz und niemand darf sie anfassen.« »Ich bin diplomatisch (schlau berechnend) vorgegangen. Wenn ich will, beherrsche ich auch das – und nicht nur die Holzhammermethode.« »Ist mir neu.« »Hast du die Sturmhauben heiß gewaschen?« »Klar. Mit kaltem Wasser geht der Dreck nicht raus.« »Wie heiß?« »Na, sehr. So, dass ich gerade noch reinfassen konnte. Warum fragst du?« »Soviel ich weiß, darf diese Wolle nur mäßig warm gewaschen werden. Sonst läuft sie ein und unsere Sturmhauben passen nur noch auf Puppenköpfe.« »Au Backe! Dann spüle ich sie schnell noch mal mit kaltem Wasser.« Klößchen sprach’s, griff sie sich und flitzte hinaus.
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6. Ein unglaublicher »Zufall« Es regnete. Ein grauer Herbsthimmel drückte auf die Stadt. Seit neun Uhr befand sich Johanna im Juweliergeschäft Kantschliff – wie jeden Tag. Aber die elegante Glockengießer-Straße erschien ihr heute trostlos wie das Ende der Welt, und Johannas blasses Gesicht hätte eher zu einer Krankheit gepasst, nicht jedoch zu Schmuck und Geschmeide. Zuvorkommend wie immer behandelte sie die Kunden. Zu einem Lächeln konnte sie sich allerdings nicht aufraffen. Ihren beiden Kolleginnen blieb das nicht verborgen. Sie fragten, ob es ihr nicht gut gehe. »Vielleicht ist eine Grippe im Anzug«, meinte Johanna. »Im Herbst erwischt sie mich immer. Ich habe auch gar keinen Appetit. Ich glaube, heute verzichte ich aufs Mittagessen.« »Das wäre ganz falsch«, meinte die Kollegin, die gerade ein goldenes Armband polierte. »Besonders bei Erkältungen soll man kräftig zulangen.« Sie hatte Übergewicht. Wie Johanna wusste, war ihr jede Ausrede recht, um ihren Appetit zu rechtfertigen. Der Vormittag schleppte sich dahin. Kein Kunde kaufte den Klotz von Kalifaru. Auch für die anderen kostbaren Stücke interessierte sich niemand. Johanna dachte an ihre Mutter und ihr war sehr elend zumute. Dann wurde es 12 Uhr. Mittagszeit. Johanna sagte, sie werde hier bleiben. Die beiden Kolleginnen schoben ab. Aber die Mollige blieb in der Tür stehen. »Soll ich Ihnen was mitbringen, Johanna? Vielleicht ein Sandwich?« »Nein, nein! Danke!« Himmel! Die konnte einen nervös machen mit ihrer Aufdringlichkeit. »Gehen Sie nur! Bis später!« 365
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»Schließen Sie sich gut ein!« Als Johanna allein war, wurde die Aufregung übermächtig. Sie zitterte. Hinten im Büro sank sie in einen Sessel und presste die Hände an die Schläfen. Endlos schien sich die nächste Stunde zu dehnen. Bedrückende Gedanken lähmten sie. Wie würde ihr Chef reagieren? Er war der Typ, der bei jeder Kleinigkeit explodierte – in seinem Verhalten. Würde er sie verdächtigen, mit dem Verbrecher gemeinsame Sache zu machen? So was war alles schon da gewesen. Und die Betreffenden hatten länger als fünf Jahre an verantwortlicher Stelle in ihrer Firma gearbeitet. Sie verscheuchte die Gedanken. Um 12.55 Uhr ging sie in den Laden. Erst in einer Stunde würden ihre Kolleginnen zurückkehren. Teiggesicht hatte genug Zeit. Und da war er auch schon. Er stand vor einem der Schaufenster. Heute trug er einen schäbigen Lodenmantel.Auch der braune Cordhut hatte seine besten Tage hinter sich. Jetzt kam Teiggesicht zur Tür. Johanna schloss auf. Er trat ein. »Hallo, Schätzchen.« »Nennen Sie mich nicht so. Ich bin nicht Ihr Schätzchen.« »Aber klar. Ganz wie du willst, Schätzchen.« Sie wollte die Tür schließen. Dazu kam es nicht mehr. Johannas Augen weiteten sich. Sie starrte an ihm vorbei. Im selben Moment erhielt Teiggesicht einen Stoß in den Rücken. Er stolperte vorwärts. Mühsam blieb er auf den Beinen. Seine Hand fuhr zur Manteltasche, wo er seine Pistole hatte. Aber eine kalte Mündung berührte seinen Nacken. »Überfall!«, dröhnte ihm eine frische Stimme ins Ohr. »Keine Bewegung, Opa! Sonst ist es aus mit dir.« 366
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Teiggesicht spürte, wie ihm seine Pistole weggenommen wurde. Ein Tritt, der einem Weltklasse-Kicker Ehre gemacht hätte, traf ihn ins Hinterteil. Er flog vorwärts, durchs halbe Geschäft, prallte gegen eine Vitrine und klammerte sich fest. Das durfte nicht wahr sein! Das gab’s einfach nicht! Nein! Er träumte nur alles. Aber wieso wachte er nicht auf? »Überfall!«, tönte jetzt eine andere Stimme. Sie klang sehr jung. »Das hatten wir schon«, knurrte der Erste. Dann fuhr er Johanna an. »Glotzen Sie nicht! Schließen Sie die Tür ab! Los, los! Und ziehen Sie den Samtvorhang zu! Fehlte ja noch, dass uns ein Passant sieht. Eins rate ich Ihnen besonders: Bleiben Sie weg von der Alarmanlage!« »Sonst können Sie was erleben!«, kläffte der andere. Langsam, immer noch wie im Traum, drehte sich Teiggesicht um. Offenen Mundes starrte er die beiden an. Es waren Jugendliche. Ohne Zweifel. Der eine klein und rund, der andere hochgewachsen und athletisch.Von den Gesichtern sah Teiggesicht nur Augen und Nase. Denn sie trugen Wollmützen wie Abfahrtsläufer, wenn die mit 100 Stundenkilometer von den 3000er-Gipfeln runtersausen – durch Eis und Schnee. Nein! Irrtum! Solche Mützen waren das nicht, sondern so genannte Sturmhauben, die bekanntlich nur grau sind und auf modischen Schick sowie Farbe verzichten. Der kleine Dicke hielt eine gefährliche MP in der Hand und zielte auf Teiggesichts Bauchnabel. Der Große war mit einem Revolver bewaffnet, den er aber mehr wie eine Hiebwaffe schwang. Die Pistole, die er ihm – Teiggesicht – abgenommen hatte, steckte im Gürtel seiner Jeans. Alles läuft wie geschmiert, dachte Tim. Aber, zum Henker, an eins habe ich nicht gedacht. Und das ist jetzt die Schwierigkeit. 367
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Er – und auch Klößchen – konnten, ganz plötzlich, nur mit größter Mühe ernst bleiben. Ein Lachkrampf drückte aufs Zwerchfell. Es fehlte nicht viel, und die Komik der Situation hätte sich in wieherndem Gelächter entladen. Durch den Sehschlitz seiner Sturmhaube blinzelte Klößchen seinen Freund an. Tim musste rasch den Kopf abwenden. Zum einen sah Willi zu komisch aus. Ganz sicher gab’s rund um die Welt keinen Juwelenräuber dieses Kalibers. Zum anderen drückte Johannas Miene unbeschreibliche Gedanken aus. Sie hatte die beiden erkannt, ließ den Mund offen und wirkte wie mit dem Steinbeil gepudert. In diesem Moment schien ihr was auf die Zunge zu drängen. Aber Tim verhinderte, dass die Worte ihren Zähnen entschlüpften. Möglicherweise sagte sie was Unbedachtes und Teiggesicht würde Verdacht schöpfen. »Dort hinten rein!«, gebot er. »Los! Mal ein bisschen hurtig. Und du, Opa, schließt dich an! Kein Wort will ich hören. Und keine überflüssige Bewegung sehen. Wird’s bald!« »Sonst mach ich euch Beine!«, klaffte Klößchen. »Ich warne. Mein Gewehr ist gefüllt mit blauen Bohnen.« »Maschinenpistole«, zischelte Tim durch die Zähne. »Was? Ach so. Ist doch egal. Hauptsache, es schießt. Und mir juckt es im Zeigefinger.« Teiggesicht ächzte. »Ma… ma… mach keinen Unsinn!«, stotterte er. »Das… das Ding geht schnell los. Ist ja schon entsichert, wie ich sehe. Wenn du hier… hier… ein Blutbad anrichtest, bist du zeitlebens ein Mörder.« »Ph!«, machte Klößchen. »Das wäre nicht mein erster Mord.« Um Himmels willen! Tim biss die Zähne zusammen. Gleich platzt das Gelächter aus mir raus. Willi, hör auf! Übertreib es nicht! Teiggesicht macht sich gleich in die Hose. 368
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Energisch trieben sie die beiden ins Büro. Dort stand der Tresor. »Aha!«, äußerte sich Tim. »Da ist er ja samt Inhalt. Sehr gut, wie du das ausbaldowert hast, Claus-Erich.« Der mit Claus-Erich angeredete nickte. »Ist unser bester Coup in diesem Monat, Tiger. Aber nicht der beste des Jahres. Mindestens drei waren besser. Ich glaube, diesmal komme ich überhaupt nicht zum Schießen.« Tim antwortete nicht. Verzweifelt biss er sich auf die Lippen. Ohne die Sturmhaube, die noch ein bisschen feucht war, hätte man wahrscheinlich sein Lachen bemerkt. Mit herrischer Geste stieß er Teiggesicht in einen Sessel. Unter der Windjacke holte er drei Meter Wäscheleine hervor. Teiggesicht wurde gefesselt. Er stöhnte. Angstschweiß bedeckte sein Gesicht. Offenbar begriff er erst in diesem Moment, was für ihn auf dem Spiel stand. »So«, meinte Tim. »Ein Rollschinken ist fertig.« Er wandte sich an Johanna. »Gehört der Typ zum Geschäft?« »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ein Kunde?« »Äh… ja.« Durch den Wollschlitz starrte Tim den Ganoven an. »Wieso hat er eine Pistole bei sich? Die wollte er gerade hervorholen – als wir reinkamen.« »Ich… ich weiß nicht«, stammelte Johanna. Sie hatte sich gefangen und war jetzt bemüht, ein ängstliches Gesicht zu machen. »Ich kenne den Herrn nicht.« »Ist das etwa ein Bulle?«, rief Klößchen. »Dann muss ich ihn stumm machen. Hach! Dann komme ich ja doch noch zum Schießen.« »Nein, nein!«, brüllte Teiggesicht. »Ich bin kein Bulle. Im Gegenteil. Ich bin… so was Ähnliches wie ihr. Ich meine… ich… Also, ehrlich! Aus Erfahrung muss ich euch abraten, 369
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auf diesem Weg weiterzumachen. Ihr seid doch noch jung. Es ist Zeit zur Umkehr. Verzichtet auf den Raub und…« »Wo ist mein Schalldämpfer?«, schrie Klößchen. »Ich bringe ihn um, den Moralprediger. Was bildet der sich ein? Ich kann das nicht hören.« »Kein Gemetzel!«, gebot Tim. Und setzte hinzu: »Nicht schon wieder. Der kann doch labern, so viel er will. Ich kriege schon raus, wer er ist.« Ärgerlich riss er Teiggesichts Mantel auf. Zwei Knöpfe platzten ab und hüpften durch das Büro. Eine faltbare Leinentasche fiel zu Boden. »Nanu«, meinte Tim. »Der Opa will wohl noch einkaufen.« In Teiggesichts Jacke steckte die Brieftasche. Tim zog einen Handschuh aus und wühlte im abgegriffenen Leder. »Hat 500 Euro bei sich«, stellte er fest. »Mit so einem Trinkgeld geben wir uns doch gar nicht erst ab. Jedenfalls scheint’s kein Polyp (Polizist) zu sein. Kein Dienstausweis, nur ein Reisepass. Horst Dungert. Geboren hier. Keine besonderen Merkmale. Von mir aus.« Er stopfte die Brieftasche in Dungerts Jacke zurück. »Deinen Einkaufsbeutel können wir gebrauchen.« »Der kommt sozusagen wie gerufen«, pflichtete Klößchen bei. »Weil du, Tiger, wieder mal den Rucksack vergessen hast.« »Du wolltest ihn mitbringen.« »Nein, du!« Wieder zuckten Tims Mundwinkel. Er wandte sich an Johanna. »Machen Sie den Tresor auf, Fräulein! Dann räumen Sie die Schaufenster leer. Aber mit froher Miene! Denn draußen gehen Leute vorbei. Sie bringen alles her. Keinen Fluchtversuch! Claus-Erich wird Sie durch den Türspalt beobachten. Und er schießt sofort, falls Sie den Passanten ein Zeichen ge370
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ben. Beim kleinsten Verstoß – das lassen Sie sich gesagt sein – hat es außerdem Dungert zu büßen.« Der Ganove röchelte. Angstschweiß perlte. Sein Blick flehte Johanna an. Sie muss gehorchen, dachte er. Sie kann nichts tun, was mich gefährdet. Ihre Mutter ist unsere Geisel. Johanna Behlen – Schätzchen, du wirst die Nerven behalten. Nimm dich zusammen! Diese beiden Halbstarken sind gefährlich. Himmel, welche Zeiten! Die Grünschnäbel bewaffnen sich und booten unsereins aus. Die kennen ja überhaupt keine Rücksicht mehr. Ob sie rauschgiftsüchtig sind? Sich auf diese Weise die Kohle fürs Heroin beschaffen? Oder sind sie einfach nur habgierig? Verstehen die überhaupt was von Schmuck und Juwelen? Johanna hatte den Tresor geöffnet. »Brav!«, lobte Tim. Sie sah ihn an. Ihre Lippen bildeten eine schmale Linie. Auch sie rang um Fassung. Dann ging sie in den Laden und begann, die Auslagen aus den Schaufenstern zu nehmen. Klößchen postierte sich am Türspalt und beobachtete sie. Tim machte sich über den Tresor her. Alles, was er enthielt, wurde in den Leinenbeutel gestopft, geschüttet, entleert. »Jungs«, sagte Dungert. »Ihr werdet es nicht glauben.Aber ich hatte das Gleiche vor wie ihr. Deshalb die Pistole.« »Maul halten!«, gebot Tim. »Sonst kriegst du eins drauf. Was du vorhattest, interessiert uns nicht. Wir sind am Drücker. Sei froh, dass du am Leben bleibst.« Johanna brachte Tabletts mit kostbarem Schmuck. Tim hatte den Tresor leer geräumt. Dungert schloss die Augen. Er konnte nicht hinsehen. Sein Weltbild schwankte. Ihm wurde übel. Doch dann merkte er, dass die Fessel ziemlich locker saß. Absichtlich hatte Tim die Knoten nicht festgezogen. Der Kerl sollte in der Lage sein, sich zu befreien. 371
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Alles, aber auch alles war jetzt verpackt. Der Leinenbeutel füllte sich prall. Klößchen schob seine MP-Attrappe unter den knielangen Parka, in den er sich gehüllt hatte, und hielt das vermeintliche Mordinstrument mit einer Hand fest. Mit der anderen schulterte er den Beute-Behälter. Sieht jetzt aus, der Willi, dachte Tim, wie ein alternativer (eine andere, nicht die herkömmliche Lebensweise vertretend) Weihnachtsmann. Johanna wurde von Tim an den Schreibtischstuhl gefesselt. Sanft ging er mit ihr um. Aber er vermied es, sie anzusehen. Immer noch kitzelte die Belustigung in der Kehle. »Besten Dank für die schönen Sachen!«, meinte er – schloss die Hintertür auf, ließ dem Komplizen Claus-Erich den Vortritt und schlüpfte hinter ihm hinaus. Auf dem Hof nahmen sie ihre Sturmhauben ab.
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7. Erfolgreich beschattet Johanna begann zu lachen. Es klang hysterisch. »Hören Sie auf!«, schrie Dungert. Plötzlich konnte er höflich sein, siezte und ließ das »Schätzchen« weg. »Hören Sie auf, Frau Behlen! Oder ich drehe durch. Zeit meines Lebens habe ich Pech. Immer nur Pech. Den Beruf sollte ich wechseln. Ja! So was wie das jetzt – das kann nur mir passieren. Nur mir!« Er nickte an der Fessel. Sein Hut rutschte vom Kopf. Beeilen musste er sich, verdammt! Musste die verdammte Fessel abstreifen, bevor die Mittagspause vorüber war. Er glotzte zu der elektrischen Uhr an der Wand. 13.37 Uhr. Da blieb nicht viel Zeit. »Es… es ist grotesk.« Johanna japste nach Luft. »Sie wollten den Laden ausrauben. Haben meine arme Mutter als Geisel genommen. Und jetzt, ausgerechnet jetzt – tauchen diese beiden Krawalltypen auf. Noch nie wurde das Juweliergeschäft Kantschliff überfallen. Aber heute, zur selben Stunde, gleich zwei Mal.« »Sachen gibt’s«, philosophierte er, »die’s eigentlich nicht geben kann. Man muss aufhören, sich über irgendwas zu wundern. Alles ist möglich.« Diese Erkenntnis gefiel ihm so gut, dass er für einen Moment die Wäscheleine vergaß, an der er immer noch zerrte. Wie von selbst löste sie sich plötzlich von seinen Handgelenken und fiel zu Boden. Rasch schüttelte er die restlichen Schlingen ab. Er griff nach seinem Hut. Die Pistole hatten die beiden mitgenommen. Aber der Verlust zählte nicht. Es war ein altes Modell. Er hatte keine Ahnung, ob die Knarre überhaupt funktionierte. Bisher hatte er nur damit gedroht, geschossen noch nie. 373
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»Was wird nun mit meiner Mutter?«, fragte Johanna besorgt. »Mach dir keine Sorgen, Schätzchen.« Bevor er sich aus dem Staube machte, fand er zu seiner Schnodderigkeit zurück. »Dich trifft keine Schuld. Das habe ich gesehen. Bin Zeuge, haha! Mach dir keine Sorgen wegen der alten Dame. Wie ich schon sagte: Umschulen werden wir sie nicht. Nachher lässt mein Kumpel sie frei.« Eilig sohlten sie die Glockengießer-Straße hinunter. Klößchen schleppte noch immer die Beute: immerhin einen Wert von etlichen Millionen. Stolz schwellte seine gut genährte Brust. Er blickte um sich, als hätte er eben die Welt erobert. »Schneller!«, mahnte Tim. »Ich möchte nicht, dass uns Dungert versehentlich einholt. Einen Wagen hat er zwar nicht, wie wir wissen. Aber die Wäscheleine ist schnell runtergestreift, und wenn die Panik ihm Beine macht, dann rennt er vielleicht.« »Sind ja gleich bei den Tretmühlen«, keuchte Klößchen. Seine MP-Attrappe rutschte. Manchmal ragte der Lauf unter dem Parka hervor. Es sah gefährlich aus. Aber jetzt, noch zur Mittagszeit, war die Straße wie leer gefegt. Vielleicht lag’s auch am Wetter. Denn der Dunst hängte sich an jede Lichtpeitsche, jede Regenrinne, jeden Giebel, jeden Nagel. Wohin man auch griff – überall war es feucht. Der kleine Parkplatz am Ende der Straße gehörte zu einem Hotel. PRIVAT – NUR FÜR HOTELGÄSTE! Das Schild fiel jedem ins Auge. Aber das hatte die beiden nicht gestört, als sie ihre Drahtesel hier abstellten. Tim löste sein Kabelschloss. Klößchen zog seinen Parka aus, wickelte die MP darin ein und klemmte das Bündel auf dem Gepäckträger fest. Wie vorhin – auf dem Herweg. 374
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Doch wohin mit dem Leinenbeutel, der jetzt eher ein Sack war? »Gib her!«, meinte Tim. »Davon darf nichts wegkommen. Sonst kriegt man uns bei den Ohren. Und das zu Recht. Ich nehme ihn unter den Arm.« »Meinst du nicht doch«, fragte Klößchen, »dass wir Gaby und Karl unterstützen sollten, wenn sie jetzt Teiggesicht – wie heißt er doch gleich? Dungert? – verfolgen? Zu viert sind wir vollzählig, und da geht eigentlich nie was schief.« Tim schüttelte den Kopf. »Dungert ist nicht blind. Er könnte uns erkennen. Nicht unsere Gesichter. Wegen der Sturmhauben nicht. Aber figürlich sind wir einprägsam. Besonders deine Silhouette (Umriss) bleibt im Gedächtnis. Wenn er uns bemerkt – als Verfolger –, riecht er den Braten. Um die eigene Haut zu retten, könnte er dann auf die Geisel nicht verzichten. Johannas Mutter bliebe die Gefangene des Komplizen und unser ganzer Überfall wäre umsonst.« »Hm. Na ja.« »Bestimmt! Außerdem: Ist es denn ein Unglück, wenn ihn Gaby und Karl aus den Augen verlieren? Nein! Wir wissen, wie er heißt. Kommissar Glockner braucht ihn nur noch einzukassieren. Allerdings…« Er stockte einen Moment und versuchte, sich in Dungerts Lage zu versetzen. »Allerdings – was?«, fragte Klößchen. »Seinen Namen habe ich laut ausposaunt. Er muss also damit rechnen, dass man ihm bald auf die Spur kommt. Johanna könnte sich den Namen gemerkt haben. Sobald Agathe Behlen wieder frei ist, wird Johanna der Polizei den Täter beschreiben. Das sowieso. Vielleicht hätte sie auch sein Foto in der Vorstrafenkartei entdeckt. Wenn sie aber den Namen weiß, wird für Dungert die Zeit noch knapper. Er muss untertauchen. Das heißt, er meidet seine bisherige Adresse. Deshalb ist zu hoffen, dass sich Karl nicht abschütteln lässt. Gaby soll ja sowieso im Hintergrund bleiben.« 375
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Pfotes Aufgabe bestand darin, den telefonischen Kontakt zu ihrem Vater im Polizeipräsidium herzustellen – und nicht wieder abreißen zu lassen. Alle naselang sollte sie mitteilen, wo sich der Ganove gerade befand, welchen Weg er nahm, wie er sich verhielt. Von diesem seinen Glück ahnte Kommissar Glockner zurzeit noch nichts. Als sie aufsitzen wollten, trat ein Mann aus der Hintertür des Hotels nebenan. Er war in Hemdsärmeln und hatte eine grüne Schürze umgebunden. Wie der Küchenmeister sah er nicht aus, aber wie der Hausdiener. »Heh, ihr da!«, rief er unfreundlich – und kam näher. »Könnt ihr nicht lesen? Auf dem Schild steht, dass hier nur Hotelgäste parken dürfen.« »Tut mir leid«, sagte Tim. »Wir sind Analphabeten (des Lesens und Schreibens unkundig).« »Was seid ihr?« »Analphabeten. Kennen Sie das Wort nicht? Ich buchstabiere: A-n-a-l-p-ha-b-e-t-e-n. Das sind bedauernswerte Typen, die nie Gelegenheit hatten, lesen und schreiben zu lernen. Sie glauben ja nicht, wie schwer man sich ohne das durchs Leben schlägt.« »Was? Nicht mal das könnt ihr? Aber jetzt haut ab!« Er wandte sich um, um zurückzuschlurfen. Nach drei Schritten blitzte die Erkenntnis in seinem biertrüben Hirn auf. »Heh, du!«, rief er ihnen nach, denn sie radelten bereits. »Wieso kannst du buchstabieren, wenn du keine Ahnung vom Schreiben hast?« Tim lachte und machte mit zwei Fingern das Siegeszeichen. Dabei fuhr er freihändig. Denn unter dem rechten Arm transportierte er die Beute, den gesamten Schmuck, über den Kantschliff, der Juwelier, zurzeit verfügte. 376
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Sie bogen um die Ecke, hielten zu auf die Einmündung zur nächsten Straße und fuhren in Richtung Polizeipräsidium. Unterwegs fühlte sich Tim von den beiden Waffen gestört: von seinem Schreckschuss-Revolver und von Dungerts Pistole. Sie behinderten ihn beim Fahren. Also schob er sie in den Leinenbeutel. Sie hatten gerade noch Platz. Vor dem Präsidium parkten sie ihre Stahlrosse. Den Weg zu Kommissar Glockners Büro hätten sie mit verbundenen Augen gefunden. Gabys Vater saß hinter seinem Schreibtisch, der mit Akten überhäuft war. »Nanu? Ihr beiden. Ohne Ankündigung? Wo ist denn der Rest der Bande?« »Gaby und Karl beschatten einen Ganoven, den Komplizen des Entführers«, erklärte Tim. »Es geht mal wieder um schnöden Mammon (Geld, Geldgier). Diesmal um Schmuck und Juwelen.Aber das Zeug haben wir sichergestellt. Hier ist es.« Er stellte den Leinenbeutel auf den Schreibtisch. »Um größeren Schaden zu verhüten, mussten wir einen Raubüberfall machen. Das war lustig.« »Lustiger als Weihnachten«, nickte Klößchen. »Es ist gar nicht so einfach, sich das Lachen zu verbeißen, wenn man eine Maschinenpistole in der Hand hält.« Grinsend wickelte er die Attrappe aus seinem Parka. »Was?«, rief Glockner. »Was ist los? Ich verstehe kein Wort.« »Am besten, wir erzählen der Reihe nach«, lachte Tim. »Sonst steigt man wirklich nicht durch. Vor allem wollten wir das hier loswerden.« Er tippte an den Beutel. »Ist ein paar Millionen wert. Der Klotz von Kalifaru ist auch dabei.« Er berichtete. Glockners entgeisterte Miene weichte erst allmählich auf. Mehrmals schickte er einen Blick zur Zimmerdecke, als 377
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müsse er sich höheren Orts für seine jungen Freunde entschuldigen. »Ich will jetzt nichts dazu sagen«, sprach er, als Tim fertig war. »Ich will kein Donnerwetter loslassen und nicht euren Leichtsinn verfluchen, auch nicht feststellen, dass ihr für eure Eigenmächtigkeit Prügel verdient hättet. Meine Tochter eingeschlossen, obwohl man ein Mädchen nicht züchtigt, sondern mit Stubenarrest straft. Aber wie gesagt: Kein Wort davon. Die Sache ist offenbar gut gegangen. Der Erfolg spricht für euch. Möglicherweise habt ihr erreicht, was ihr wolltet. Jetzt müssen wir feststellen, ob sich Dungert befreit hat und getürmt ist. Ob ihm Gaby und Karl auf den Fersen sind. Ob er sich zu seinem Komplizen begibt oder das vermeidet…« Er stockte. Sein Telefon hatte geklingelt. Er meldete sich. »Ja, Gaby?«, rief er. Sofort traten die Jungs so dicht neben ihn, dass sie mithören konnten. »…weiß ich nicht, Papi«, haspelte Pfotes Stimme durch die Leitung, »ob du schon im Bilde bist über das, was wir…« »Ich weiß es«, unterbrach er sie. »Tim und Willi stehen neben mir.« »Gut! Wir sind jetzt in der Professor-Larenius-Straße.Teiggesicht ist geschlichen wie einer, der Sonnenbrand unter den Zehen hat. Total geknickt und knieweich. Ein Wunder, dass er nicht heult. Jetzt sitzt er in der Kneipe ›Zum schnellen Schluck‹. Wir sind auch hier. Sitzen drei Tische entfernt von ihm und zuzzeln Cola. Teiggesicht trinkt schon den vierten Schnaps. Müsstest sehen, wie ihm die Hände zittern. Die Hälfte verschüttet er jedes Mal. Eigentlich hat er nur zwei getrunken. Gleich nachdem er hier reinging, hat er telefoniert. Belauschen konnten wir ihn leider nicht. Denn das Telefon ist hinter den Klos in einer Kabine mit Tür.Von dort spreche ich jetzt. Wir nehmen an, dass er seinen Komplizen verständigt hat. Nun kommt’s darauf an.« 378
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»Hoffen wir«, sagte Glockner, »dass der Komplize genauso dumm ist wie Dungert. So heißt er, wie Tim und Willi festgestellt haben. Wenn nämlich der Komplize Verdacht schöpft…« »Unmöglich!«, rief Tim, den das an der Ehre berührte. »Wir waren nahtlos echt, glaubwürdig wie 50 Jahre Zuchthaus. Selbst Johanna fiel fast vom Hocker. Sie verhielt sich exakt wie ein Überfallopfer. Und von unserer Belustigung hat der Kerl nichts bemerkt. Die hatten wir in der Kehle versteckt.« »Aber«, sagte Glockner, halb in den Hörer, halb zu den Jungs gewandt, »wenn einem Unbeteiligten erzählt wird, was war, hört sich das anders an. Der Komplize ist nicht beeindruckt von eurem kriminellen Talent. Der erfährt nur, dass just zur selben Minute zwei andere Ganoven auftauchen. Und das riecht nach einem Täuschungsmanöver. Andererseits könnte zweierlei sein Misstrauen einlullen: Dass es Johanna Behlen nicht wagen wird, mit einer so fragwürdigen Täuschung die Sicherheit ihrer Mutter zu gefährden. Und dass sie, falls sie es doch wagt, sich dafür nicht zweier Halbwüchsiger bedient, sondern gestandener Mannsbilder. Jetzt müssen wir abwarten. Du, Gaby«, wandte er sich ganz dem Hörer zu, »gehst wieder zu Karl. Verhaltet euch unauffällig, Dungert darf nichts merken. Ich schicke sofort jemanden los.« »Bis später, Papi«, sagte Pfote und legte auf.
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8. Wieder frei Agathe Behlen wusste nicht, wie ihr geschah. Der freundliche Verbrecher – wie sie ihn bei sich nannte – schlug plötzlich einen Ton an – also, bei jedem andern hätte sie sich das verbeten. »Los, alte Krücke, die Zeit des Baldrians ist vorbei. Mantel anziehen! Und dann hopp!« Unverschämt! Sie begann schon wieder, sich aufzuregen. Seit heute Vormittag hatte er ihr keinen Baldrian mehr gegeben. Das machte sich bemerkbar an Puls, Atmung und Gliedern. »Heißt das… heißt das, wir gehen hier weg?« »Ja, das heißt es, Sie… Sie… Ach, was soll’s! Sie haben ja keine Schuld. Aber ich bin geladen. Ich koche vor Wut. Vielleicht überlege ich’s mir noch – und sperre Sie im Keller ein.« »Sie sind ein Flegel, Sie Verbrecher! Dass Sie mich entführt haben, gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, mich unhöflich zu behandeln.« Hatte Hanna was falsch gemacht?, überlegte sie. Nicht gehorcht? Sich den Anweisungen widersetzt? Seinem barschen Ton war ein Anruf vorausgegangen. Sie hatte gehört, dass der Apparat klingelte und der Kerl abnahm. Aber er schloss die Tür, bevor er redete; und kein Wort drang zu ihrem Zimmer herauf. »Hier geht’s nicht um Manieren«, schnauzte er jetzt, »sondern darum, dass ich ein verdammtes Pech habe. Kann auch sein, dass mein Partner ein total beknackter Typ ist, der nichts schnallt und nichts mehr vom Teller zieht. Ihre Tochter hat zwar mitgespielt, aber andere sind uns in die Quere… Ist ja egal! Jetzt geht’s darum, dass ich diese beiden Sturmhauben-Typen erwische.« »Wie bitte?« 380
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Noch während sie ihren Mantel zuknöpfte, schob er sie zur Hintertür. Draußen verhüllte Nebel die Welt. Der Garten hinter dem Haus roch nach schwarzer Erde und fauligem Laub. Agathe strengte die Augen an. Aber sie sah nichts. Den Wohnraum im Haus, das Bad und das Gästezimmer würde sie wiedererkennen – sicherlich. Aber hier draußen war alles so schrecklich düster und undeutlich. Der Wagen parkte hinter einer Hofmauer. Vermutlich, damit ihn kein Spaziergänger, der zufällig vorbeikam, entdeckte. Sie musste sich auf den Beifahrersitz begeben. Er half ihr, den Sicherheitsgurt umzulegen. Aus der Nähe prägte sie sich sein Gesicht ein. Dieser dichte Vollbart? Die üppigen Locken? Das dicke Glas seiner Brille? »Sagen Sie mal: Sehen Sie eigentlich wirklich so aus?«, fragte sie. »Was?« »Ich glaube, Sie haben sich maskiert.« »Sehr schlau!«, höhnte er, während er hinters Lenkrad glitt. »Dass ich Ihnen meine Visitenkarte zum Schluss überreiche, erwarten Sie sicherlich nicht?« »Lassen Sie mich jetzt frei? Oder bringen Sie mich in ein anderes Versteck?« Er lenkte den Wagen zur Straße und schaltete Abblendlicht ein. »Ich bringe Sie in die Nähe Ihrer Wohnung zurück.« Agathe atmete auf. Ihr flatternder Puls beruhigte sich etwas. »Also hat Ihr Komplize das Juweliergeschäft ausgeraubt«, stellte sie fest. »Und meine arme Hanna wurde gezwungen, ihm behilflich zu sein. Haben Sie sich schon mal überlegt, dass meine Tochter vielleicht ihre Stellung verliert?« 381
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Er antwortete nicht. Sie waren stadteinwärts gefahren. Um sie herum tobte die typische Freitagnachmittag-Betriebsamkeit, als wären zigtausend Leute von der Angst befallen, sie könnten übers Wochenende verhungern, und müssten rasch noch einkaufen. »Sie sind doch eine kluge Person«, sagte er plötzlich. »Können Sie sich vorstellen, was zwei halbwüchsige Bengel mit geraubtem Schmuck im Werte von mehreren Millionen anfangen?« »Wieso zwei halbwüchsige Bengel? Ich denke, Sie haben einen Komplizen.« »Was da gelaufen ist, werden Sie von Ihrer Tochter erfahren. Richten Sie ihr Grüße von mir aus – unbekannterweise. So, da wären wir. An der Ecke dort steigen Sie aus. Wissen Sie, wo wir sind?« Agathe beugte sich vor zur Windschutzscheibe. Schemenhaft erkannte sie die Grünanlage, wo auch der Kinderspielplatz war. Bei schönem Wetter saß sie hier gern auf »ihrer« Bank, sah den Kleinen zu, wie sie sich im Sandkasten prügelten, und fütterte die Spatzen. Der Wagen hielt. »Sie gehen rein in den Park, ohne sich umzudrehen«, sagte er. »Ist das klar? Nicht umdrehen! Machen Sie keinen Versuch, mein Nummernschild zu lesen. Sonst müsste ich in letzter Sekunde noch sehr grob werden.« Agathe seufzte. »Sie vergessen, dass meine Sehkraft so weit gar nicht reicht.« Sie stieg aus dem Wagen, hörte, wie hinter ihr die Autotür zugerissen wurde, und schritt über den asphaltierten Weg in die Grünanlage, wo die bunten Blätter der Büsche allmählich ihre Farbe verloren. Hier war niemand. Kein Wetter für Spaziergänger. Sie blieb stehen. Der Wagen war längst weggefahren. Das wurde ihr jetzt erst bewusst. 382
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Gott sei Dank!, dass dieser Albtraum ein Ende hatte. Wenige Minuten später nahm Agathe den Wohnungsschlüssel aus der Manteltasche, öffnete ihre Tür und schlüpfte in die Sicherheit der eigenen vier Wände. Sofort griff sie zum Telefon und rief Johanna an.
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9. Sackgasse Karl blinzelte Gaby zu. Sie saß ihm gegenüber, mit dem Rücken zu Dungert. Rasch pustete sie gegen ihren Pony, während Karl zum zweiten Mal seine Nickelbrille abnahm, um sie am Ärmel zu polieren. »Lass die Brille auf!«, zischelte sie. »Sonst siehst du nicht, wenn er abschwirrt.« »Der schwirrt nicht ab. Eben hat er den nächsten Schnaps bestellt. Das erkenne ich mit bloßem Auge.« Aber den Typ, der soeben hereinschneite, erkannte er erst, als er sein Nasenfahrrad wieder auf dem Riechkolben verankert hatte. »Heh, Pfote!«, wisperte er durch gespitzte Lippen. »Das ist doch Herr Schreyahls, der neue Mitarbeiter bei deinem Vater.« Gaby vermied es, sich umzudrehen. Schreyahls ging am Tisch vorbei, ohne die beiden zu beachten. Er wirkte wie ein verpennter Nichtstuer, der bei gutem bis mittelschlechtem Wetter an den Ecken herumsteht und die Hände in den Hosentaschen wärmt. Seine spinatgrüne Windjacke war reif für die Altkleidersammlung und die Cordhosen hatten ausgebeulte Knie. Er setzte sich an einen der leeren Tische und versank in der Betrachtung des Aschenbechers. »Das ging aber schnell«, flüsterte Karl. »Ob er in der Nähe war? Oder ist er verbotswidrig schnell gefahren?« »Hauptsache, er ist da. Bin gespannt, wie’s jetzt weitergeht. Erst wenn Agathe Behlen frei ist, kann Dungert verhaftet werden. Hoffentlich gibt’s keine Panne. Sonst wäre auch der Abend futsch.« »Du meinst die Party bei Jaburgs«, sinnierte Karl. »Hast recht. Feiern setzt Frohsinn voraus. Aber wir wären mit Trübsinn beladen, wenn die ganze Sache missglückt. Dann 384
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müssten wir bei Elisa absagen und uns bei Frau von Jaburg entschuldigen. Wäre wirklich ein Jammer.« Gaby nickte und dachte für einen Moment an das neue blaue Kleid, das sie heute erstmals tragen wollte. Gestern hatte sie’s anprobiert und eine schlecht vernähte Naht entdeckt. Das war jetzt ausgebessert, und dem Kleid – wie es so in ihrem Schrank hing – merkte man regelrecht an, dass es sich auf die Party freute. Die langen Ärmel hatten weiße Stulpen und der weiße Kragen am Halsausschnitt ließ sich anund abknöpfen – ganz nach Belieben. »Pfote!«, staunte Karl über sein Cola-Glas hinweg. Hinter den Brillengläsern riss er die Augen auf wie die Verwunderung selbst. »Da… da… kommt dein Vater.« Gaby drehte sich um. Kommissar Glockner war hereingekommen, hochgewachsen, in einen wetterfesten Trenchcoat gehüllt, aber ohne Hut. Trotz seiner schütteren Haare wirkte er keinen Tag älter, als er war. Hinter ihm betraten Tim und Klößchen die Kneipe.
* Mann, riecht’s hier miefig!, dachte der Anführer der TKKGBande. Nach Zigarettenqualm und verschüttetem Bier. Dass sich Menschen hier wohlfühlen? Und fast alle sind freiwillig anwesend – sieht man mal ab vom Wirt und der Kellnerin, von Gaby und Karl sowie dem Kripo-Assi Schreyahls. »Da ist er!«, stellte Klößchen fest. Mit einem Zeigefinger, an dem Schoko-Krümel klebten, wies er auf Dungert. Der Ganove merkte noch nichts. Er hatte seinen Komplizen angerufen, jedenfalls die Rufnummer, die dieser ihm genannt hatte. Niedergeschlagen berichtete er, was sich abgespielt hatte. Und der Chef knirschte vor Wut mit den Zähnen. Jetzt tröstete sich Dungert mit Schnäpsen. Innerlich klagte 385
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er sein Schicksal an. Warum spielte es immer ihm die Nieten zu? Der Schnaps dämpfte seine Aufmerksamkeit. Zwei noch – und er würde nicht mal mehr als Fußgänger am Straßenverkehr teilnehmen können. Dumpf vor sich hin starrend, spürte er plötzlich, dass jemand vor ihm stand. Er hob den Kopf. Nanu? Er war ja regelrecht umzingelt. Sein Blick fiel auf Tim, dann auf Klößchen – und jählings erkannte er sie, auch ohne ihre Sturmhauben. »Kriminalpolizei«, sagte Kommissar Glockner und hielt ihm seine Blechmarke hin. »Sie sind festgenommen, Dungert. Wegen versuchten Juwelenraubes beim Juwelier Kantschliff. Los! Bezahlen Sie Ihre Zeche. Sie kommen mit.« »Aber…«, Dungert wollte aufstehen. Schreyahls, der hinter ihm stand, drückte ihm die Hand auf die Schulter; und Dungerts Kehrseite landete wieder auf dem Sitz. »Aber… Herr Kommissar«, stotterte er. »Das sind doch die Raubtäter! Die beiden Nachwuchstypen – da! Ich erkenne sie an der Kleidung und…« »Sie sind wohl geistig von vorgestern?«, feixte Klößchen ihn an. »Noch nichts begriffen? Wir sind die Sichersteller, die Juwelenretter, die Geschmeidewächter.Aber jetzt ist Agathe Behlen wieder zu Hause und Polizisten passen auf sie auf und wir…« »Genug, Willi!«, wurde er von Glockner gestoppt. »In die Einzelheiten gehen wir, sobald wir in meinem Büro sind.«
* Windgepeitschter Regen prasselte an die Fenster. Glockners Schreibtischlampe brannte – und auch die Deckenleuchte. 386
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Dungert sank mehr und mehr in sich zusammen – als wäre er faltbar. Die TKKG-Bande, vollzählig, hielt sich im Hintergrund, wo Gaby und Karl die beiden freien Stühle benutzten, während sich Tim und Klößchen auf den Boden hockten. Glockner führte das Verhör. Schreyahls hatte sich wieder in einen ordentlichen Beamten verwandelt, trug zwar noch die ausgebeulte Cordhose, aber nicht mehr die Windjacke. »… ehrlich, Herr Kommissar«, versicherte Dungert soeben, »ich lüge nicht. Ich sage die Wahrheit. Weiß ich doch, dass die Sache für mich besser stünde, wenn ich Ihnen mit ’nem richtigen Hinweis dienlich sein könnte. Aber es ist Tatsache: Ich kenne den Typ nicht. Vorher, glaube ich, ist der mir nie begegnet.« »Und wie war das jetzt?« »Am Mittwochabend fing’s an. Mein Telefon klingelte. Der Typ war am Apparat. Er nannte keinen Namen. Ich sollte ihn Chef nennen. Meinetwegen, Chef, dachte ich. Er fragte mich, ob ich bei einer ganz harmlosen Sache mitmachen würde, die mehr so eine Art Scherz wäre. 2000 Euro gäbe er mir sofort. Später würde ich ein Fünftel der Beute erhalten. Dann schilderte er mir, wie die Sache laufen sollte, verriet aber keinen Namen. Ich sagte ihm, dass ich so was noch nie gemacht hätte und überhaupt künftig ein ehrliches und gottesfürchtiges Leben…« »Schon gut!«, unterbrach Glockner das Geschwafel. »Ich kenne Ihre Vorstrafen. Bleiben Sie bei der Sache.« »Tja, also, weil ich finanziell gerade so klamm war, ließ ich mich schweren Herzens und äußerst widerstrebend – das müssen Sie mir glauben, Herr Kommissar – auf die Sache ein. Ich traf den Typ dann in der Sandgasse beim Bahnhof. Ganz hinten in der Gasse, wo die Laterne kaputt ist. Eine Finsternis – sage ich Ihnen! Vom Chef habe ich nur Umrisse gese387
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hen. Bärtig ist er, glaube ich, und Brillenträger. Und die Stimme ist – na ja, klingt irgendwie nach Bildung. Aber ich könnte nicht sagen, ob er zur Volkshochschule geht oder ob er Kreuzworträtsel löst. Jedenfalls gab er mir 2000 Euro. Und ich wurde in alle Einzelheiten eingeweiht. Er nannte die Namen und Adressen und befahl mir, mich beim Juweliergeschäft Kantschliff umzusehen. Ab sofort habe ich mich strikt an seine Anweisungen gehalten und so nahm das Unheil seinen Lauf. Hätte ich doch nur auf mein Gewissen gehört! Ich…« »Ihr einziger Hinweis auf den Chef«, fiel ihm Glockner abermals in die Rede, »ist also die Telefonnummer, die er Ihnen gab?« »Stimmt. Genau so ist es, Herr Kommissar. Aber er sagte mir auch, dass ich nicht annehmen sollte, das wäre sein Anschluss. Es handele sich nur um das Versteck für Frau Behlen. Allerdings werde er sich dort höchstpersönlich aufhalten. Erstens, um die Al… um die Dame zu bewachen, zweitens, um meinen Anruf abzuwarten.« Es klopfte. Ein Kripobeamter, den Tim und seine Freunde nicht kannten, kam herein. »Der fragliche Anschluss, Herr Kommissar«, teilte er mit, »gehört einem gewissen Dr. Schickschuh. Das Haus steht ziemlich weit außerhalb, nämlich am Auen-Steig. Wir haben gleich einen Streifenwagen hingeschickt, wie Sie angeordnet haben. Das Haus ist leer. Offenbar sind die Bewohner verreist.Am Schloss der Hintertür sind Spuren, als hätte jemand einen Nachschlüssel benutzt – aber einen, der nicht richtig passt.« Glockner nickte. »Kollege Bonselmann soll mit Agathe Behlen hinfahren. Vorerst genügt es, wenn sie das Haus wiedererkennt. Um drinnen nach Spuren zu suchen, brauchen wir eine richterliche Genehmigung. Da mache ich mir keine Hoffnung. Es liegt kein Notfall vor. Also müssen wir warten, 388
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bis Dr. Schickschuh zurückkommt. Den Chef – so nennt sich der Kidnapper – finden wir dort sowieso nicht. Der ist clever und hat sich abgesichert. Er hat die Fäden in der Hand gehalten. Aber jetzt hat er sie durchgeschnitten.« Er schien einen Moment zu überlegen. Dann wies er auf Dungert. »Nehmen Sie ihn gleich mit. Er bleibt in U-Haft.« Auch Schreyahls stand auf. »Ich begleite Bonselmann«, meinte er. »Vielleicht sind von Frau Behlen ein paar Hinweise zu kriegen.« »Hoffentlich. Aber sie sieht sehr schlecht und war ohne ihre Brille. Außerdem hatte sich der Kerl maskiert, wie sie mir am Telefon sagte. Ich fürchte, wir landen in einer Sackgasse.« Als sich die Tür hinter den dreien schloss, schob sich die TKKG-Bande näher an den Schreibtisch heran. »Jedenfalls, Papi«, lächelte Gaby, »musst du zugeben: Wir waren nicht untüchtig. Kein Edelsteinchen ging verloren. Einer der Ganoven wurde dingfest gemacht. Und der so genannte Chef verhielt sich, wie wir erwartet haben.« Glockner lehnte sich zurück und sah einen nach dem andern an. »Ihr habt Glück gehabt. Es hätte auch anders kommen können. Wenn ihr wieder mal so was vorhabt, ersuche ich höflichst darum, mitmachen zu dürfen. Schließlich ist das mein Beruf. Wollt ihr schuld sein«, lachte er, »wenn ich eines Tages Frust (Enttäuschung) schiebe? So geht’s nun mal nicht, dass ihr die Arbeit macht und ich nur den Zugriff besorge.« »Die Jugend in unserem Alter«, stellte Tim grinsend fest, »ist zwar überwiegend von Nachteilen geprägt. Aber zumindest ein Vorteil liegt auf der Hand: Volljährige und betagte Ganoven rechnen mit unsereins nicht. Für die sind wir grünschnäbelige Anfänger voller Unerfahrenheit, von denen nichts zu befürchten ist. Von wegen! Gerade weil man uns nicht ernst nimmt, sind wir die Ersten am Ball.« 389
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Glockners Telefon klingelte. »Aber ja«, sagte er in den Hörer und legte auf. »Johanna Behlen ist unten.« »Streckenweise«, sagte Tim, »war ihr genauso albern zumute wie uns. Ich glaube, wir sahen ziemlich komisch aus.« »Aber Furcht einflößend«, meinte Klößchen überzeugt. »Besonders mit meiner Morddrohung habe ich Dungert beeindruckt. Dem ist das Herz in die Hose gerutscht.« Johanna Behlen ahnte nicht, dass sie die TKKG-Bande hier antreffen würde. Das Wiedersehen wurde zur freudigen Überraschung, als sie jetzt hereinkam. Alle vier wurden umarmt. Johanna schwankte zwischen Heiterkeit und Tränen der Rührung. »Euer waghalsiges Unternehmen«, meinte sie, »erspart mir viel Ärger. Anfangs habe ich den Gedanken daran, wie mein Arbeitgeber reagieren wird, verdrängt. Da ging es nur um meine Mutter. Alles Sonstige war unwichtig. Ich hatte ja keine andere Wahl, als dem Ganoven zu gehorchen. Aber es ist schrecklich, wenn man zur unfreiwilligen Helfershelferin wird. Ich weiß nicht, wie ich euch danken soll.« »Am besten gar nicht«, antwortete Tim im Namen seiner Freunde. »Wir schätzen Sie sehr, Johanna. Aber wir hätten dasselbe für jeden getan, der in Not ist. Das ergibt sich aus unserer grundsätzlichen Einstellung. Dazu gehört auch, dass wir nicht Dank abernten wollen, was peinlich wäre, sondern Hilfe um ihrer selbst willen leisten.« »Da hören Sie’s«, meinte Glockner. »Eigentlich müsste man die TKKG-Freunde in einem stabilen Käfig unterbringen. Trotzdem! – man kann ihnen nicht böse sein.«
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10. Überzeugt von der Zigeunerin Und nun? Friedhelm Merpe schleuderte den anklebfähigen Bart in die Ecke, die Perücke hinterher – und auch die Brille sollte folgen.Aber die war zerbrechlich. Rechtzeitig besann er sich. Wütend stampfte er durch sein kleines Einfamilienhaus, das er allein bewohnte. Er knallte Türen zu, schlug mit der Faust gegen die Wand, rieb knirschend die Zähne aufeinander. Diese elende Pleite! Ausgerechnet heute fiel es zwei Halbstarken ein, das Juweliergeschäft leer zu räumen. Ihnen? Sicherlich waren sie nur Werkzeuge in der Hand eines skrupellosen Halunken, der sie schickte. Jugendliche! Unerhört, die Rücksichtslosigkeit! Wozu gab es denn die Gesetze zum Schutz der Jugend. Anis Gasthmi fiel ihm ein, sein Auftraggeber. Sollte er ihm Bescheid geben? Sich blamieren, nämlich zugeben, dass es unmöglich sei, den Saturn-Diamanten zu beschaffen? Den, dachte Friedhelm, hätte er sowieso nicht gekriegt. Aber der Klotz von Kalifaru wäre ein gleichwertiger Ersatz gewesen. Pustekuchen! Er sah zur Uhr. Draußen sank regenfeuchte Dämmerung aus den Wolken. Es war an der Zeit, sich auf die Party einzustellen. Aber ihm fehlte die Lust.Am besten, er ging gar nicht hin.Wenn er eine Grippe mit Ohrensausen und Blasenerkältung vorschützte, konnte die Jaburg nicht böse sein. Überhaupt! An das Geld, das er ihr schuldete, durfte er gar nicht denken. Nur ihrem Langmut verdankte er, dass sie ihn bisher nicht gemahnt hatte. Das Telefon klingelte. Nur zu!, dachte er. Hier ist keiner zu Hause. 391
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Aber dann siegte die Neugier und er meldete sich. »Hallo, Hallöchen, Friedhelm!«, zwitscherte eine menschliche Nachtigall. »Störe ich dich? Nein, dich doch nie.« »Hallo, Stefanie!«, rief er und legte den Schmelz der Begeisterung auf seine Stimmbänder. »Gerade denke ich an dich! Was für ein tolles Mädchen du doch bist.Aber das weißt du ja selbst. Nun, Frau von Jaburg, was kann ich für Sie tun?« »Unser lieber Friedhelm!«, lachte sie. »Immer bestens gelaunt. Ich stecke noch in den Vorbereitungen. Dich muss ich mit einer Bitte überfallen.« »Gern.« »Du kennst den Harry?« »Harry?« »Harry Zatofsky.« »Ja, jetzt weiß ich…« »Er wohnt nicht weit von dir«, fiel sie ihm ins Wort. »Wo, weiß ich nicht genau. Aber er steht im Telefonbuch. Sein Wagen streikt, sagte er mir eben. Könntest du ihn nachher abholen und mitbringen.« »Für dich, Stefanie, tue ich alles.« »Neu von dir. Ich will doch, dass alle da sind – und mich bestaunen. Weil ich ihn heute trage. Erst zum dritten Mal, seit ich ihn besitze.« »Wen trägst du?«, fragte er. »Den Saturn-Diamanten.« »Du meinst, du trägst die Imitation«, sagte er mit rauer Kehle. »Nein, den echten.« Er schluckte. »Aha! Toll!« »Künftig werde ich ihn genauso häufig tragen, Friedhelm, wie meinen übrigen Schmuck.Alles andere ist sinnlos. Davon hat mich die Zigeunerin überzeugt.« »Wer?« »Bei Konsul Breyer bin ich ihr begegnet. Sie ist tatsächlich 392
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Zigeunerin, aber kultiviert wie unsereins – fast. Eine Frau mit geheimnisvollen Fähigkeiten. Die hat sie von ihren Vorfahren ererbt. Von der Frau weiß ich, dass es völlig töricht ist, wenn Edelsteine im Safe liegen. Den Edelsteinen wohnen Heilkräfte inne. Aber die wirken nur auf der Haut. Das gilt auch für Silber und Gold. Für Platin sowieso.« »Aha!« Er war atemlos. »Ist sicherlich richtig. Gut, Stefanie. Den Zatofsky bringe ich mit.« »Ich seh dich soon (bald)«, zwitscherte sie und legte auf. Er starrte auf das Telefon. Ihm schwindelte. Das war eine Nachricht! So dicht also liegen Pech und Dusel beieinander. Da hatte er schon gedacht, diesen Tag abhaken zu müssen – als totale Katastrophe. Und jetzt rückte er griffnah heran – der Saturn-Diamant. Er brach in Gelächter aus. Ein Riesenaufwand mit Kantschliff – und nun würde er dem Kameltreiber Gasthmi doch noch den richtigen Stein verkaufen. Ist auch besser, dachte er. Auf Dauer festigt nur das meinen Ruf – als ehrlicher Halunke.
* Auf Klößchens Bett lagen: seine karierte Bundfaltenhose, seine gestreifte Bundfaltenhose, sein grau-grüner Pullover, sein roter Pullover und ein gepunkteter Querbinder. »Eine wahnsinnig schwere Entscheidung«, seufzte der Besitzer des Outfits (Kleidung). »Der rote steht mir nicht so, ist aber bequemer. Der graugrüne hat modischen Schick, spannt aber über dem Nabel. Bei den Hosen ist es leichter. Die Taschen sind gleich groß. Alles 5 1⁄2-T-Taschen.« Tim hatte geduscht und rubbelte sich die Haare trocken. »Was für Taschen?« »Fünfeinhalb-T-Taschen. Das ist meine Maßeinheit. T be393
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deutet Tafel. Jede Tasche fasst also 51⁄2 Tafeln Schokolade. Rationelles (zweckmäßiges) Packen vorausgesetzt.« »Heißt das, du wirst dich mit elf Tafeln Schoko in der Hose zu Frau von Jaburgs Party begeben?« »Was heißt Party? Wir übernachten dort. Morgen ist auch noch ein Tag. Weiß ich, was es zum Frühstück gibt? Aber elf Tafeln, du hast recht, sind zu viel. Ich werde den Stauraum nicht zur Gänze ausnutzen.« »Du würdest die Hose verlieren.« Tim legte das Handtuch weg. Es war warm im ADLERNEST. Seine braunen Locken trockneten von allein. »Null Anhaltspunkt«, murmelte er, während er sich anzog. »Den kleinen Fisch – ich meine Dungert – fängt man. Der große tummelt sich noch munter im Teich. Das wurmt mich.« »Wir können nicht jeden Ganoven fangen«, stellte Klößchen fest. »Dem Chef-Typ hatte es besonders der Klotz von Kalifaru angetan. Ich frage mich: Wollte er den für sich selbst – oder als Diebesgut weiterverkaufen? Letzteres verlangt einen wohlhabenden Abnehmer. Denn der Klotz kostet klotzig.« »Schnieke siehst du aus«, meinte Klößchen und musterte seinen Freund anerkennend. Tim trug ausnahmsweise mal keine Jeans, sondern eine nachtblaue Hose, schwarze Lederschuhe, weißes Hemd und weiß-blauen Pullover mit V-Ausschnitt. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm, dass es immer noch schüttete. »Ich finde es zwar blöd.Aber heute müssen wir unsere Regencapes nehmen. Sonst tanzen wir dort an wie gebadete Kater.« »Miau…«, machte Klößchen – und entschied sich endlich für gestreifte Hose und roten Pullover. Sein lila gepunkteter Querbinder, auf den er unter keinen Umständen verzichten wollte, passte weder zu dem einen 394
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noch zu dem anderen Pullover. Insofern spielte es keine Rolle, wie er sich entschied. Mit dem EvD war alles geregelt. Der Pauker wusste Bescheid. Auch die mehrtägige Abwesenheit zum nächsten Wochenende hatte Tim vorsorglich schon angemeldet. Sie nahmen ihre Capes. Tim löschte das Licht. Im Flur kamen ihnen zwei Mitschüler entgegen. Sie blickten neidisch, wünschten aber trotzdem viel Spaß. »Wo habt ihr denn den Blumenstrauß?«, fragte Alex Humpert grinsend. »Ohne Blumen keine Party – das wisst ihr doch hoffentlich?« »Hör dir den beknackten Heini an«, wandte sich Tim an seinen Freund. »Hat keine Ahnung, tönt aber mit vollem Maul. Blumen sind out, Alexius! Heutzutage bringt man was anderes mit.« »So? Was denn?« »Freunde.« »Verstehe«, murmelte Alex. »Damit die Bude voll und das kalte Büffet leer wird. Wie ist es? Können wir mitkommen?« »Unmöglich. Ihr habt ja keinen Blumenstrauß, ihr Penner. Los, Willi! Es wird Zeit.« Sie liefen die Treppe hinunter. Als sie ins Freie traten, war es dunkel wie um Mitternacht. Aber der Regen hatte vor ca. zehn Sekunden seine letzte Schleuse geschlossen. Sie holten ihre Räder und machten sich stadtwärts auf die Strecke.Als sie über die Zubringerstraße radelten, sprang jenseits der Felder ein kalter Wind auf. Er blähte die Capes wie Segel und hätte Klößchen beinahe in den Graben geweht. »Ich glaube«, rief er, »ich muss meinen Querbinder abnehmen. Der wirkt wie ein Propeller, aber ich will fahren, nicht fliegen. Du, Alex hat gar nicht so unrecht. Hoffentlich denkt Karl an den Strauß.« »Karl hat ein Computer-Gehirn. Er vergisst nichts.« Dass er den Strauß besorgen und mitbringen sollte, war 395
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vereinbart. Die Wahl der Blumen hatten die drei ihm überlassen. Lediglich rote Rosen wären unpassend gewesen. Die schenkt man bekanntlich nur der Herzallerliebsten. Überreichen sollte Gaby den Strauß. Tim kannte die Von-Jaburg-Adresse. Es war eines der neusten und elegantesten Hochhäuser in der Friedensburger Allee. Zwölfstöckig ragte der Glas-Stahl-Beton-Bau in den wolkigen Abendhimmel. Die straßenseitigen Fenster der sechsten Etage strahlten volle Beleuchtung ab. Das ganze Stockwerk gehörte Stefanie. Eine sündhaft teure Eigentumswohnung. Und viel zu groß für Mutter und Tochter. Aber an Geld herrschte ja kein Mangel. Wegen eines Kanals auf der Rückseite hatte man den Wohnsilo dicht an die Allee gebaut. Nur Parkstreifen und Fußweg trennten die Hausfront von der Fahrbahn. Tim und Klößchen hielten auf der gegenüberliegenden Seite. Eine Grünanlage, nicht viel breiter als ein Tennisplatz, erstreckte sich ein Stück entlang der Allee. Die Büsche waren noch jung, hatten aber im letzten Sommer schon Blätter entfaltet. Die hingen jetzt welk an den Zweigen. Zwischen Zierapfelsträuchern hockten drei Penner auf umgestülpten Kisten. Sie ließen die Schnapsflasche kreisen. Das Laternenlicht reichte kaum bis zu ihnen. Aber Tim bemerkte, dass sie hinüber zum Haus starrten. Dort hatte die Anfahrt der Gäste begonnen. Wagen um Wagen erkämpfte sich einen Platz auf dem Parkstreifen. Geschniegelte Gäste eilten zum Portal. Tim legte den Kopf in den Nacken und blickte zur sechsten Etage hinauf. Hinter dem brusthohen Balkongitter, so schien’s ihm, stand Elisa und sah zu ihnen herunter. Ja, sie war’s. Jetzt winkte sie. Aber was sie rief, fegte der Wind stadteinwärts und war nicht zu verstehen. 396
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»Ich nehme an, wir sollen hochkommen und nicht warten, weil Pfote und Karl bereits da sind. Auf geht’s, Willi!« Im Moment stockte der Fahrzeugstrom. Nur ein dunkelblauer Wagen reihte sich – in gerader Linie unter Elisa – auf dem Parkstreifen ein. Tim und Klößchen schoben ihre Drahtesel hinüber. »Weißt du, was die Penner dort wollen?«, fragte Klößchen. »Ich vermute, sie warten darauf, dass die Party endet.« »Was? Wieso?« »Um zu betteln. Ist eine alte Masche. Die Schmalmacher (Bettler) haben spitzgekriegt, dass jemand, der froh gestimmt und besäuselt ist, sein Portmonee eher aufmacht als einer mit knieseliger Stinklaune. Deshalb passen sie Gelegenheiten wie diese ab. Besonders in der Ballsaison von Anfang Januar bis Mitte März läuft da was. Ab Mitternacht vor den Festhallen stehen die Penner mit ausgestreckter Hand. Und die Gäste – bevor sie heimwärts torkeln oder ins Taxi fallen – sind spendabel.« »Starker Trick!«, meinte Klößchen. »Daran werde ich denken, wenn ich später als Tangotänzer die Ballsäle abhotte.« »Du hast dir ja was vorgenommen.« Sie suchten einen Platz für die Drahtesel. Gaby und Karl waren nicht mit ihren umweltfreundlichen Tretmühlen gekommen – sondern gebracht worden: von Kommissar Glockner mit dem Wagen. Die besten Plätze waren besetzt. Wo parken? Schließlich stellten die Adlernest-Bewohner ihre Tretmühlen neben dem Portal an die Hauswand und sicherten mit dem Kabelschloss. Mit raschelnden Capes traten sie in die Eingangshalle, wo alles Marmor war und ein Springbrunnen senkrecht sprühte. Vor dem Lift wartete ein affiger Typ. Jedenfalls trug er zur Smokinghose ein goldfarbenes Jackett. 397
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Er wandte ihnen den Rücken zu und sie stellten sich hinter ihm an. Grinsend puffte Klößchen seinen Freund. Gleichzeitig deutete er auf die Edelmetalljacke. Aber da die Lifttür einen spiegelnden Glaseinsatz hatte, bemerkte der Typ Klößchens Gefuchtel – und drehte sich um.
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11. Goldjacke Wenn schon, denn schon!, dachte Friedhelm – und wählte seine goldfarbene Abendjacke, als er sich bestlaunig für die Party in Schale warf. Als Aufmerksamkeit für die Gastgeberin hatte er eine seltene Orchidee erstanden. Sie lag in einem Klarsichtkarton und sah nach nichts aus, allenfalls hässlich. Am Wegesrand stehend, wäre sie von niemandem beachtet worden. Es sei denn, man hätte ihren Stängel mit dem Preisschild geschmückt. Dass er sich für diese kostspielige Hässlichkeit entschieden hatte, gehörte zu Friedhelms Charakter. Auf seine versteckten Gemeinheiten, mit denen er gern um sich schlug, war er geradezu stolz. Sein Mitbringsel musste gewürdigt werden. Aber es erfreute kein Herz, nicht mal das eines Unkraut-Fans. Mit seinem Wagen fuhr er zu Harry Zatofskys Adresse. Arme Stefanie! Sie war arglos wie ein Dummchen, hatte keine Ahnung, mit wem sie sich umgab. Über sich selbst wusste Friedhelm bestens Bescheid. Und inzwischen war ihm auch eingefallen, wo man Zatofsky einstufen musste. Er nannte sich Vermögensberater. Aber das war wohl nur Tarnung. Friedhelm hatte gehört, Z. – wie er in gewissen Kreisen hieß – handele mit Kokain, kaufe Diebesgut auf und besorge Kunden für Kredithaie. Doch zurzeit stünde ihm das Wasser bis zum Hals. Offenbar war er noch schlimmer verschuldet als Friedhelm. Z. wohnte in einer Doppelhaushälfte mit angebauter Garage. Friedhelm hielt vor der Einfahrt. Das Garagentor war geöffnet. Z. hatte das Licht angeknipst. Er hantierte mit Schlüsseln. Sein Abendanzug war so blau wie Pflaumen-Gelee. 399
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»Heh, Zatofsky«, rief Friedhelm durchs geöffnete Autofenster. »Ich bin Friedhelm Merpe. Soll Sie abholen.« »Nicht mehr nötig. Mein Schlitten tut’s wieder. Nur ein Kabel war locker.« Er fuhr einen roten Volvo, der noch verdreckter war als Friedhelms Mercedes. »Also bin ich umsonst gekommen?«, erkundigte sich Friedhelm. »Sieht so aus.« Zatofsky war groß und wirkte ungefügig. Die hochgezogenen Schultern verkürzten den Hals auf null. Er hatte ein rot geädertes Pferdegesicht mit fleischiger Nase. »Wie nett, Zatofsky, dass Sie bei mir angerufen haben. Deshalb konnte ich mir den Umweg ersparen.« »Häh? Ach so. Nun seien Sie mal nicht gleich beleidigt. So groß ist der Umweg ja nicht.« »Armleuchter!«, murmelte Friedhelm. Er schloss das Fenster und fuhr ab, während Z. kopfschüttelnd in den Volvo stieg. In gereizter Stimmung kam Friedhelm in der Friedensburger-Allee an. Als er dann vor dem Lift wartete, bemerkte er die beiden Nachwuchstypen hinter sich. Irgendwie beunruhigte ihn der Anblick. Weshalb? Darauf kam er erst später. Jetzt bemerkte er, wie der kleine Dicke mit spöttischem Grinsen auf sein 18-Karat-Jackett deutete. Golden war zwar nichts an der ausgeflippten Schale und schon gar nicht 18-karätig.Aber der Modeschöpfer hatte sich nun mal zu der Bezeichnung verstiegen. Und der Preis entsprach ohnehin dem einer Wertanlage. Kleiner Mistkerl!, dachte Friedhelm erbost – und wandte sich den beiden Cape-Trägern zu.
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Willi!, dachte Tim. Der Glaseinsatz spiegelt.Wo hast du deine Augen? Goldjacke drehte sich um. Er war groß, schlank und im besten Alter für beruflichen Aufstieg. Ein Schmalgesicht mit leichtem Bartschatten, stechenden Grauaugen und sehr ebenmäßigen Zügen.Auf gewisse Weise sah er gut aus – etwa so wie ein italienischer Frisör. Die kurze Oberlippe reichte nicht ganz über die Zähne. »Missfällt dir was an mir?«, fauchte er Klößchen an. Der erschrak. »Wie? Nein. Wieso?« »Dein Umhang gefällt mir auch nicht, Mops.« »Und wie ist es mit meinem?«, erkundigte sich Tim. »Falls der Sie entzückt, dürfen Sie ihn einen Moment halten.« Friedhelm starrte ihn an. »Wieso seid ihr beide noch nicht im Bett?«, fragte er durch die Zähne. »Aus Neugier. Jemand sagte uns, wir würden hier auf eine Goldader stoßen. Da packte uns der Goldrausch und wir konnten nicht widerstehen. Begreifen Sie unsere Enttäuschung? Es ist keine Goldader. Es ist nur eine Jacke. Deshalb hat mein Freund gestikuliert (Gebärden machen).« »Armleuchter!«, sagte Friedhelm zum zweiten Mal an diesem Abend, und er meinte es ernst. »Sehr erfreut«, grinste Tim. »Ich heiße Peter.Aber Sie dürfen mich Tim nennen. Das ist Willi. Wenn Sie ihn mit Klößchen oder Mops anreden, beißt er Ihnen in die Wade.« Friedhelms Grauaugen verdunkelten sich. Das fehlte noch, dachte Tim: eine Schlägerei vor der Party. Und ich hätte angefangen, heißt es dann wieder. Dabei stecke ich eiskalt den »Armleuchter« ein. Nur wenn er mich anrührt, mische ich ihn auf, den Goldjungen. In diesem Augenblick landete der Lift im Parterre. Friedhelm schoss noch einen tödlichen Blick ab. Dann trat er in die Kabine, seine Orchideen-Schachtel locker unterm Arm. 401
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Den beiden wollte er die Tür vor der Nase schließen. Aber Tim riss sie ihm aus der Hand. »Der Lift ist für alle da«, wurde Friedhelm von Klößchen belehrt. Grinsend stiegen sie zu und Tim drückte die 6. Aufwärts ging’s. In der sechsten Etage entließ der Lift sie in einen kleinen Vorraum, der eigens vom Architekten geschaffen war, um das ganze Stockwerk abzugrenzen. Der Vorraum erinnerte Tim in fataler (unangenehmer) Weise an die Besenkammer-Telefonzelle im TKKG-Internat. Freilich – so beengt wie dort war es hier nicht. Und die massige Tür mit dem Guckloch-Spion wurde auch gleich geöffnet, nachdem Friedhelm geklingelt hatte. Ein Serviermädchen mit weißer Schürze und noch weißerer Schleife im Haar ließ ein. Friedhelm nickte ihr zu, um sich dann gleich zu Tim und Klößchen umzusehen. »Hier ist eine geschlossene Gesellschaft, ihr Tölpel. Ihr seid in der falschen Etage.« »Nicht doch!«, erwiderte Tim. »Wir sind richtig hier. Frau von Jaburg hat uns als Geschirrspüler engagiert. Außerdem dürfen wir die Mitternachtssuppe zubereiten. Wenn wir jemanden zum Umrühren brauchen, holen wir Sie. Abgemacht?« Friedhelm nahm zwar die Zähne auseinander. Aber seine Erwiderung unterblieb. Denn in diesem Moment stürmten Elisa, Gaby und Karl in den Empfangsraum – oder was immer das sein mochte. Jedenfalls standen Sessel und Zimmerpalmen gelangweilt herum. »Endlich!«, rief Elisa und rauschte an Friedhelm vorbei, als gäbe es den nicht. »Gratuliere, Tim! Gratuliere, Willi! Ihr seid ja so was von heldisch – mich haut’s aus dem Schaukel402
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stuhl. Auch Mutti ist hingerissen. Sie hat gleich was angeleiert.« »Heldisch war’s eigentlich nicht«, meinte Tim. »Aber lustig«, sagte Klößchen. Er hatte die Nüstern gebläht und schnupperte zur nächsten Tür. In der Richtung vermutete er das kalte Büffet. Goldjacke – so hatte Tim ihn im Stillen getauft – empfand sich als überflüssig in der Gruppe und schob ab. »Wer ist denn das?«, wandte Tim sich an Elisa. »Der? Ach, Mutti kennt ihn von irgendwoher. Ich kann ihn nicht leiden. Friedhelm Merpe ist so zuvorkommend, dass man darauf ausrutscht. Aber sicherlich nur, damit er Mutti anpumpen kann.« »Uns kam er rüde«, erklärte Tim. »Aber wir sind ja in friedlicher Absicht hier.« Ganz nebenbei hatte er seine Augen an Gaby gelabt. Wie tauschön sie wieder aussah! In dem tollen neuen Kleid. Um dem festlichen Anlass zu genügen, hatte sie die Haare hochgesteckt.Aber hier und da entschlüpfte eine Goldsträhne den Kämmchen und rankte sich abwärts. Karl sagte, dass er die Blumen schon überreicht habe. Und dass er von jedem noch fünf Euro fünfzig kriege. Rotblau sei der Strauß und Elisas Mutter habe sich riesig gefreut. Elisa zeigte den Jungs, wo sie die Capes ablegen konnten. »Sobald der letzte Gast da ist«, erklärte sie, »wird hier dichtgemacht. Ist ein Trick von Mutti, damit niemand vorzeitig geht. Es sei denn, dem Betreffenden wird übel oder Feuer bricht aus. Ihr müsst doch nicht noch mal runter?« Tim äußerte Zweifel, ob ihre Drahtesel beim Portal stehen durften. Aber Elisa meinte, das wäre in Ordnung, und führte ihre Gäste ins Zentrum der Party. Drei große Räume gingen ineinander über. Jede Schiebetür war geöffnet und der Lärm überall gleich. Nicht 40 geladene Gäste waren erschienen, sondern mindestens 70. 403
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»Etliche haben ihre Freunde mitgebracht«, flüsterte Elisa der TKKG-Bande zu. »Alles Nassauer (jemand, der sich bei anderen durchisst)!« Tim spähte umher. Zig Grüppchen hatten sich gebildet. Jeder redete. Keiner hörte dem andern zu. Die Mienen verrieten, dass es sich um weltbewegende Weisheiten handelte. In einer Ecke wurden Witze erzählt und das Gelächter ließ den Kronleuchter erzittern. In anderen Ecken, wo es nichts zu lachen gab, flackerten neidische Blicke auf. Tim sah Abendkleider, Partyanzüge, saloppe Garderobe und Herren im Smoking. Friedhelm Merpe schoss mit seiner Goldjacke den Vogel ab – bzw. den Goldfasan. Eben landete er einen Handkuss bei Elisas Mutter und überreichte ihr den Klarsichtkarton mit der miesen Orchidee. Die TKKG-Bande zog Blicke auf sich. Was will denn das junge Gemüse hier?, dachten sicherlich einige. Im mittleren Raum, an der Längswand, hatte ein städtischer Party-Service das kalte Büffet aufgebaut: zehn Meter weit reihte sich eine Köstlichkeit an die andere. Tim packte Klößchen am Oberarm und zerrte ihn weiter. Sie stolperten einem Serviermädchen in den Weg. Es balancierte ein Tablett mit Gläsern. »Darf ich Ihnen… äh«, verbesserte sie sich, »möchtet ihr was trinken?« Misstrauisch beäugte Tim den Inhalt. »Sieht aus wie Mineralwasser, riecht aber anders.« »Das ist Champagner.« »Danke!«, schmetterte er das Angebot ab. »Wir sind keine Alkoholiker, sondern Fitness-Fans. Elisa weiß sicherlich, wo der Orangensaft steht.« »Und der Kakao«, meinte Klößchen. Dabei fiel ihm seine Wegzehrung ein und er griff in die rechte seiner 51⁄2-T-Taschen. 404
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Elisas Mutter stand nahe der Bar. Viele Typen umrahmten sie. Auch hier schnatterten alle durcheinander, aber Stefanie von Jaburg war zweifellos der Mittelpunkt. Eben hatte sie rechts und links von einer fülligen Blondine Küsschen erhalten – und ihrerseits verabreicht. Beobachtend stellte Tim fest, dass die Küsserei beide nicht glücklich machte, sondern mit Sorgen erfüllte – wegen des Make-ups.Aber sie lächelten eisern. Und in der Luft ringsum schwirrten: »Meine Liebe!« – »Mein Bester!« – »Teurer Freund!« – »Liebste Freundin!« Elisa schob Tim und Klößchen zu ihrer Mutter. »Mutti!«, verschaffte sie sich Gehör. »Das sind sie, die Helden.« Nun langt’s aber!, dachte Tim. Wenn wir hier belobhudelt werden, trinken wir am Ende noch Champagner. Im nächsten Moment wurden er und Klößchen umarmt. Aus der Nähe roch Stefanie von Jaburg wie eine Parfümerie. Sie könnte Betäubung verursachen, dachte Tim erschrocken. Aber dann war er wieder im Freien; und die Gastgeberin strahlte beide entzückt an. »Ihr also! Wunderbar! Unglaublich, was ihr geleistet habt. Ich weiß alles. Wirklich! Gaby war leichtsinnig und hat erwähnt, womit ihr den Nachmittag verbracht habt. Ich hoffe, der Kantschliff wiegt euch in Gold auf« »Zunächst, Frau von Jaburg, möchten auch Willi und ich uns für die Einladung bedanken – und besonders herzlich für die zweite Einladung. Nämlich nach Bridigaggio! Ist super! Wir haben Hemmungen, das anzunehmen, nehmen’s aber doch.« Sie lächelte. Wer sich auf Menschen verstand, sah vielleicht, dass ihre Fröhlichkeit nicht aus dem Herzen kam, sondern eingeübt war. Wahrscheinlich misslang ihr das Leben und die Liebe zu Elisa war der einzige Halt. Sie war eine rotblonde, hübsche Person mit Veilchenaugen 405
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und Sommersprossen. Das Dekolletee (Ausschnitt) ihres schwarzen Abendkleides war von der Heimsonne tropenbraun gebrutzelt. Aber weniger darauf wurde geachtet als vielmehr auf die Halskette. Lichtspeere trafen Tims Augen. Ein mächtiger Tautropfen, der an der Goldkette hing, verschleuderte sie. Ruhig, als sei er sich seiner Schönheit bewusst, ruhte der Diamant auf Stefanies Brustbein. »Ich freue mich sehr, wenn ihr nach Bridigaggio kommt«, sagte sie eben. »Gleich habe ich noch eine Überraschung für euch. Aber erst mal soll Elisa euch versorgen.« »Glänzender Vorschlag!«, pflichtete Klößchen bei. »Und ich stelle wieder mal fest: Wenn man nachmittags schuftet, meldet sich abends der Heißhunger.« Breitmäulig grinste er die Gastgeberin an. Stefanie lächelte zurück, musste sich aber einem graulockigen Typ im Dinnerjackett zuwenden, der verzückte Laute gluckste und mit seinem Blick den Diamanten fraß. »Ja, Sascha-Boy«, lächelte Stefanie. »Das ist er, der echte…« »Mir nach!«, wies Elisa ihre Klassenkameraden an. Sofort war Klößchen an ihrer Seite. Aber er verlangsamte den Schritt, als sie sagte: »Erst mal zeige ich euch, wo ihr schlafen werdet, ja?« Das Gästezimmer lag rückseitig. Sie mussten quer durch die Etage stiefeln. Als sie dann am Fenster standen, floss sechs Stock unter ihnen der Kanal, träge und schwarz; und der Blick reichte über Dächer bis zum nördlichen Weichbild der Stadt. Ungezählte Lichter brannten. Der Dunst über den Häusern spiegelte den vielfarbigen Schein. Klößchen behauptete, er sehe einen Regenbogen. Wo der erstrahlte, das blieb sein Geheimnis. »Dich hat wohl Muttis Saturn geblendet«, lachte Elisa. »Es ist diesmal der echte.« 406
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»Du meinst den Edelstein?«, fragte Tim. »Er heißt Saturn-Diamant. Und ist noch schöner als der Klotz von Kalifaru, den ihr heute gerettet habt.« »Gesehen haben wir ihn nicht«, meinte Tim. »Das SuperGeschmeide liegt ja beim Juwelier nicht nackt rum, sondern steckt im Etui oder Lederbeutel. Aber wieso ist bei eurem Vielkaräter immer vom echten die Rede? Gibt’s auch einen falschen?« »Sozusagen. Nämlich die Imitation.« Sie erklärte das. Auch den Grund, der ihre Mutter veranlasste, künftig nur den echten Schmuck zu tragen. »Heilkräfte?« Tim hob eine Braue. »Eine gejoggte Mittelstrecke ist sicherlich gesünder – und nicht so gefährlich.« »Was meinst du mit gefährlich?«, fragte Karl. »Raub oder Diebstahl?« Tim nickte. »Mutti trägt den Diamanten nur hier«, sagte Elisa. »Nicht auf der Straße, wo ihr jeder an den Hals greifen könnte.«
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12. Interview auf der Party Sogar eine Kapelle war da, eine dreiköpfige. Im mittleren Raum standen die Musiker bescheiden in der Ecke. Tischmusik. Sie spielten so, dass man sie hörte. Aber kein Gespräch wurde übertönt. Tatsächlich gab’s immer noch welche, die redeten. Die Mehrzahl aber machte sich her über ihre gefüllten Teller. Klößchen hatte seit 20 Minuten kein Wort mehr gesagt. In der Küche erscholl das Knallen von Champagnerkorken und die Serviermädchen brachten immer neue Tabletts mit gefüllten Gläsern. Elisa hatte für sich und ihre Freunde Cola besorgt. Tim sah, wie sich Friedhelm Merpe, die Goldjacke, mit Stefanie unterhielt. Schon zum vierten Mal wollte er in eine gebratene Putenbrust beißen. Aber immer dann verstummte Stefanies Rede, und er musste antworten, obwohl er inzwischen ganz hungrig wirkte. Mehrfach schon hatte die Gastgeberin ihren Blick zum Empfangsraum gerichtet. Als erwarte sie noch wen. Und jetzt, tatsächlich, wurde der Erwartete von einem der Serviermädchen hereingeführt. »Das ist Erwin Kusch«, sagte Elisa. »Der Reporter vom Nachtblatt. Mutti hat ihn angerufen und jetzt ist er hier.« »Erwin Kusch?« Tim schob die Brauen zusammen. »Mit Party-Berichten und Gesellschaftsklatsch hat der doch nichts am Hut. Was ich von ihm gelesen habe, waren knallharte Krimi-Reportagen.« »Da liegst du absolut richtig«, lächelte Elisa. Und ihre Zungenspitze berührte die Lücke am Vorderzahn. Um Himmels willen!, dachte Tim. Ich ahne. Kusch sah aus, als hätte er in seinem braunen Anzug geschlafen. Zwei Kameras hingen ihm vor der Brust. Er hatte nikotingelbe Finger und ein freundlich-kantiges Gesicht. 408
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Elisa empfing ihn, als sei er der Ehrengast. Jetzt verstummten auch die letzten Redner. Vermutlich überlegte jeder blitzschnell, wie er sich auf dem zu erwartenden Gruppenfoto in den Vordergrund schieben könne. Gleich, dachte Tim, setzt ein Ansturm auf sämtliche verfügbaren Toiletten ein. Weil die Damen noch schnell die Frisur richten wollen. Die fünf Jugendlichen hatten ein geblümtes Sofa belegt, das eigentlich nur viersitzig war. Tim saß zwischen Gaby und Karl. Klößchen setzte beim Futtern auch die Ellbogen ein und beanspruchte ungebührlich viel Platz. »Liebe Freunde«, ertönte Stefanies Stimme. »Unser lieber Erwin, den ihr alle kennt, hat es sich nicht nehmen lassen, unsere Party zu beehren.Aber keiner soll sich einbilden, dass das seiner Person gilt – oder etwa mir, der Gastgeberin. Was ich euch – und Erwin – zu bieten habe, ist was anderes, nämlich eine echte Sensation. Ich darf euch vier junge Gäste vorstellen, die heute Nachmittag ein Bravurstück vollbracht haben. Gaby, Tim, Willi, Karl – geniert euch nicht. Kommt doch bitte mal her!« Klößchen knurrte. Zwar ärgerlich, aber gedämpft. Er war mit seiner dritten Tellerportion noch nicht fertig und entfernte sich nur ungern von der Futterstelle. Meine Ahnung war richtig, dachte Tim. Er nahm Gaby bei der Hand und marschierte los. Ringsum prasselte Beifall auf. Wer zwei Hände hatte, klatschte. Zwar wusste keiner, weshalb er das tat. Aber man hatte schon aus geringerem Anlass applaudiert (Beifall spenden). Erwins Blitzlichtgerät gleißte die TKKG-Bande an. Nebeneinander mussten sie sich aufstellen. Gaby lehnte sich an ihren Freund. Klößchen kaute noch. Karl nahm die Brille ab. Am Ärmel wurden die Gläser poliert – wie immer, wenn er aufgeregt ist. 409
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»Wenn ihr alle mal ruhig seid«, rief Stefanie in die atemlose Stille, »könnt ihr dem Interview lauschen. Ist einfach zum Staunen.« Tim drückte Gabys Hand, dann hatte Erwin Kusch die zweite Kamera startklar gemacht.Aber es war keine Kamera, sondern ein Tonbandgerät – wie es Reporter gern benutzen, die der Stenografie (Kurzschrift) nicht mächtig sind. »Zunächst eure Namen!«, sagte Erwin – und hielt jedem das Mikrofon vors Gesicht. Die Antwort fiel zufriedenstellend aus, denn jeder merkte auch seinen Spitznamen an. Wobei Klößchen Gelächter erntete. »Also«, sagte der Reporter, »wie ich inzwischen von der Pressestelle im Polizeipräsidium erfahren konnte, wurde heute Nachmittag versucht, das Juweliergeschäft Kantschliff auszuplündern. Zwei Gangster waren beteiligt. Aber nur einer, nämlich ein Kleinganove namens Horst Dungert, trat in Erscheinung – und ist inzwischen verhaftet. Der Plan der Verbrecher beruhte darauf, dass sie erpresserischen Druck auf die Geschäftsführerin Johanna B. ausübten. Gestern wurde nämlich deren Mutter gekidnappt und verschleppt. Johanna B. blieb deshalb nichts anderes übrig, als Dungert während der Mittagspause die Tür zu öffnen. Ihr vier jedoch – die ihr euch TKKG-Bande nennt – habt gewusst, in welcher grässlichen Lage Johanna B. sich befand. Und dann… ja, was habt ihr dann gemacht?« Er suchte Tim aus und streckte ihm das Mikrofon hin. »Wir überlegten«, antwortete Tim. »Dass wir helfen würden, war klar. Einerseits durfte nichts passieren, was Johannas Mutter gefährdet hätte. Andererseits wollten wir verhindern, dass dem Halunken – seinen Namen erfuhren wir erst später – die Millionenbeute in die Hand fällt. Also haben wir unsererseits das Juweliergeschäft überfallen: Willi und ich. Mit Sturmhauben waren wir maskiert, ausgerüstet mit De410
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korationswaffen, also Attrappen. Kaum hatte Dungert einen Fuß auf der Schwelle, sind wir angetanzt. Damit er gar nicht zum Denken kommt, haben wir ihn entwaffnet. Auch Johanna, die ja von nichts wusste, stand da wie vom Schneepflug gerammt. Bis auf den letzten Edelstein und das letzte Gramm Gold musste sie Tresor und Auslagen leer räumen. Dungert war gefesselt, Johanna natürlich auch. Aber bei Dungert habe ich die Knoten so gezogen, dass er sich leicht befreien konnte. Denn er musste ja abhauen, um seinen Komplizen zu verständigen. Damit der Johannas Mutter freilässt – trotz des Misserfolgs, weil bei der Firma Kantschliff andere schneller und cleverer waren. Willi hat unsere Beute geschleppt und ihm tut jetzt noch der Rücken weh. Mit dem Zeugs sind wir zum Präsidium geheizt, wo wir’s bei Kommissar Glockner, der als Privatmann Gabys Vater ist, abgeliefert haben. Inzwischen machte Dungert, befreit von seiner Fessel, eiligst die Biege. Aber Gaby und Karl sind ihm nach, immer auf den Fersen. Dungert rief den Unbekannten an. Der ließ Johannas Mutter frei und wenig später hatte Dungert Handschellen an den Vorderläufen. Das ist alles.« Orkanartiger Beifall brach aus. Der Reporter schaltete sein Mikrofon ab. Die TKKG-Bande hob acht Mundwinkel zu einem scheuen Gemeinschaftslächeln. Bescheidenheit hätte geboten, den Blick niederzuschlagen. Aber Tim hielt nichts davon, sondern studierte die Mienen, indem er die Augen waagerecht ließ. Zufällig sah er Friedhelm Merpe an. Und stutzte. Was war denn mit dem? Tim hatte nicht vor, auf Goldjacke mit dem Blick zu verweilen.Aber jetzt musterte er ihn, als wäre eine goldlackierte Mittelstrecken-Rakete in der Party gelandet. Friedhelm klatschte zwar – aber mit so viel Begeisterung, als hätte er frische Brandblasen auf beiden Handtellern. 411
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Für einen Moment war sein Schönlingsgesicht zur Fratze verzerrt. Seine Augen strahlten Hass ab – in gefährlicher Dosis. Tim und seinen Freunden galt das – zweifellos. Dann zuckten Friedhelms Gesichtsmuskeln und die Wutfratze glättete sich zu einem zahnreichen Grinsen. Heftig bewegte er die Kiefer. Offensichtlich malmte er auf einem großen Kaugummi herum. Jetzt klatschte er auch kräftig und sein fassungsloses Kopfschütteln sollte wohl Bewunderung ausdrücken. Hm!, dachte Tim. Der gönnt uns das nicht. Kann man so nachtragend sein oder sympathisiert der mit Dungert und Co.? Erwin wartete mit ungeduldiger Hilflosigkeit. Stefanie begann Gesten zu machen, die den Beifall erstickten. Schließlich muss man wissen, wann es genug ist. »Hattest du Angst?«, fragte der Reporter – und hielt Klößchen das Mikro hin. »So was kenne ich gar nicht«, kam die Antwort. »Angst? Wie schreibt man das? Ich habe die Mordgier raushängen lassen und Dungert kriegte Herzflattern. Unser Problem kam aus einer ganz anderen Richtung.« »Aha! Nämlich?« »Tim und ich, wir haben uns irre beölt. Ankämpfen mussten wir, sonst hätten wir uns gekugelt vor Lachen. Es war so wahnsinnig komisch. Wir mit unseren Schreckschusswaffen. Der zitternde Dungert. Das ganze Funkelgeschmeide. Außerdem hatte ich am Abend vorher die Sturmhauben gewaschen. Anständige Ganoven, sagten wir uns, treten nicht vergammelt auf. Aber die Wolle fludert. Und beim Überfall dann haben mich die Fludern und Fusseln in der Nase gekitzelt. Ein Lachreiz nach dem andern. Das hält der wüsteste Räuber nicht aus.« Gelächter. Zwischenrufe. Einige Zuhörer patschten sich auf die Schenkel. 412
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Der Reporter verbiss sich ein Lachen. »Eure Beute«, sagte er, »war etliche Millionen wert. Und damit seid ihr quer durch die Stadt gefahren?« »Warum denn nicht?«, fragte Tim dagegen. »Habt ihr vom Juwelier Kantschliff eine Belohnung erhalten?« »Das käme noch, hörten wir.Aber darum geht es uns nicht. Wir sind nicht Prämienjäger, sondern Gerechtigkeits-Fans. Uns schwillt der Kamm, wenn wir von solchen Gemeinheiten hören.Wir helfen, wo wir können. Und diesmal konnten wir.« Wieder Beifall. Neue Fotos. Beim nächsten Blitzlichtgewitter stellte sich Stefanie in die Mitte. Tim und Klößchen mussten sie umrahmen. Sie streckte die Arme über beider Schultern so weit aus, dass auch Gaby und Karl einbezogen wurden. Erwin Kusch fragte noch einiges. Partygäste umdrängten die vier, dass ihnen angst und bange wurde. Elisa befreite sie. »Wenn die ausflippen«, flüsterte sie, »gibt’s nur eins: verdünnisieren.Wir gehen auf mein Zimmer. Nachher, wenn getanzt wird, können wir ja wieder hier antanzen.« »Ich würde auch gern mal die Küche beäugen«, meinte Klößchen. »Bestimmt stehen dort massenhaft Reste herum.«
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13. Diamant im Kaugummi Allmählich verrauchte seine Wut. Friedhelm hatte sich abgesondert. Mit einem Glas in der Hand stand er nahe der Balkontür. Rhythmisch bearbeiteten seine Zähne einen neuen Kaugummi. Draußen waberte die schwadige Nacht. Durch die Allee fuhren ab und zu Wagen. Kalte Luft drang durch die geöffnete Tür herein. Das war nötig, reichte aber nicht aus, um die Gemüter abzukühlen. Alle becherten, als wäre das der letzte Champagner auf der Welt. Gefräßige Gäste hatten das Büffet in unanständiger Weise geplündert. Auf großen Silberplatten verkümmerten klägliche Reste. Die Serviermädchen konnten die Arme nicht mehr heben. In der Küche wurde geschuftet. Die Mehrzahl aller Blicke war glasig, richtig nüchtern niemand mehr – außer Friedhelm. Er wusste, weshalb er hier war. Und dann, plötzlich, wurde die Sache viel einfacher, als er geglaubt hatte. Irgendwer betätigte den Dimmer (Helligkeitsregler); und die Beleuchtung in allen Räumen verschlechterte sich um 80 Prozent. Ehepaare erkannten einander nicht mehr. Kurzsichtige stießen überall an und nahmen blaue Flecke an den Schienbeinen als Andenken mit.Weibliche Wesen, die eben noch ihr Lippenrot auffrischen wollten, verzichteten darauf. In dem Schummerlicht sah ohnehin ein Mund aus wie der andere. Friedhelm löste sich aus dem Rest seiner Wutgedanken. Also schön! Sie hatten ihn reingelegt, diese Nachwuchstypen. Ihn und Dungert. Dass der hinter Gittern saß, hatte er gar nicht gewusst. Sei’s drum. Ihm, Friedhelm, konnte nicht die Bohne passieren. Keine Spur führte in seine Richtung. 414
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Die Kapelle spielte schmalzige Weisen. Die Geige winselte. Plötzlich wollten alle schwofen, sogar die Serviermädchen. Das Gedränge wurde fürchterlich. Friedhelm wusste gar nicht, wen er im Arm hielt. Eine kleine Dunkle im roten Glitzeranzug war’s. Ihr Atem schlug sich auf seiner Goldjacke ab. Unauffällig schob er sich samt Partnerin an Stefanie heran. Sie tanzte mit Andreas von Molk, einem verarmten Adligen, der sich als Verkäufer nobler Autos ganz gut über Wasser hielt. Wie es hieß, sei Stefanie in ihn verliebt. Jedenfalls gestattete sie, dass er sie umschlang, als versagten ihr die Beine den Dienst. Ein Freund, der als Taschendieb zur ersten Garnitur gehörte, hatte Friedhelm beigebracht, wie man klaut. Nur für einen Moment löste er beide Hände von der kleinen Dunklen im Glitzeranzug. Eine Hand stieß heftig, fast schmerzhaft, gegen Stefanies Oberarm. Sie reagierte nicht. Aber ihre Aufmerksamkeit richtete sich für einen Moment auf diese Stelle. Das genügte. Schon klebten seine Fingerkuppen am Verschluss der Kette. Wie die Schließe beschaffen war, hatte er sich vorhin angesehen – unauffällig. Das Dämmerlicht schützte ihn. Außerdem war jeder Tänzer, jede Tänzerin mit sich bzw. dem Partner beschäftigt. Die Kette glitt ab. Grinsend fletschte Friedhelm die Zähne. Er war vorbereitet. Falls Stefanie doch etwas merkte, würde er in Gelächter ausbrechen und sich selbst auf die Schulter klopfen – für den tollen Spaß, den er hier abzog. Aber sie merkte nichts. Diamant und Kette lagen in seiner Hand. Mit der anderen hielt er wieder die kleine Dunkle im Arm. Er nestelte. Der Saturn-Diamant ruhte in einer zarten 415
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Goldfassung, die einen Anhänger hatte. Der war nicht fest mit der Kette verbunden. Durch den Anhänger ließ Friedhelm die Glieder der Goldkette rutschen. Auf die kam es nicht an. Auf den Teppich damit! Mochte drauftreten, wer wollte. Den Diamanten schob er sich blitzschnell in die Jacketttasche. »Heiß hier!«, flüsterte er seiner Partnerin ins Ohr. Im Blues-Rhythmus zog er sie von Stefanie weg. »Sehr!«, nickte der dunkle Kopf über dem Glitzeranzug. »Was?« Er war mit seinen Gedanken schon weiter. »Es ist sehr heiß.« »Auf dem Balkon ist es kühler.« Sie kam mit. Vielleicht hoffte sie, dass er zärtlich wurde. Aber er nahm nicht mal seinen Kaugummi aus dem Mund, sondern malmte und starrte über die Stadt hinweg. »Hier ist es mir nun wieder zu kühl«, meinte die Dunkle und zog fröstelnd die Schultern hoch. Er nickte, ohne sie anzusehen. »Erkälten Sie sich nicht, Teuerste. Ich bleibe noch einen kleinen Moment.« Enttäuscht ging sie zurück, während er mit gespitzten Ohren lauschte. Aber drinnen herrschte keine Aufregung, sondern weiterhin Dämmerlicht; und der Tanz ging in die vierte Runde. Unglaublich! Wie höllisch schwer der Diamant in seiner Tasche war. Aber dort konnte er nicht bleiben. Gleich, irgendwann jedenfalls, würde die dumme Pute den Verlust bemerken. Da etwa ein Drittel der Gäste mitgebrachte Schmarotzer waren, bestand wenig Grund für bedingungsloses Vertrauen. Die Polizei würde kommen.Vielleicht endete die Party mit Leibesvisitation. Und was dann? Ihm trat Schweiß auf die Stirn. 416
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Dass die Tür zum Lift abgeschlossen war, wusste er. Wenn er sich trotzdem aus dem Staube machte, würde aller Verdacht auf ihn fallen. Unmöglich! So ging’s nicht. Sondern wie? In diesem Moment blitzte die Idee durch sein Hirn. Zwei Kaugummis hatte er noch in der Hosentasche. Rasch stopfte er sich den Mund damit voll. Und er kaute wie rasend. Er trat etwas zur Seite, um für die drinnen nicht mehr im Blickfeld zu sein. Dann beugte er sich übers Balkongeländer. Sechs Stockwerke! Das war verdammt hoch. Er hantierte, so rasch er konnte. Es war wenig appetitlich. Aber schließlich hielt er eine fette Kaugummikugel in der Hand. Der zähe Gummi umhüllte den Stein. Friedhelm starrte hinunter. Sein Wagen parkte am Bordstein – nahezu senkrecht unter dem Balkon. Er zielte sorgfältig. Jetzt… Aber der Wurf ging fehl. Vielleicht lag’s an dem scharfen Wind, der in diesem Moment aufkam. Dass es schiefging, merkte Friedhelm sofort. Er sah, wie der cremige Weichgummiball auf das Wagendach aufschlug – und dort haftete. Doch leider war es nicht sein Mercedes, sondern… Zum Teufel, wem gehörte die rote Kiste? Es war ein Volvo. Und plötzlich wusste er’s. Harry Zatofsky war mit seinem Wagen gekommen und parkte nun, witzigerweise, genau hinter Friedhelms Mercedes. Der blöde Hund, den ich abholen sollte, dachte Friedhelm. Na, schön! Dein verdreckter Schlitten, Zatofsky, ist jetzt was wert. Aber nicht lange. Denn den Kaugummi hole ich mir. Er atmete tief. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass der Coup geglückt war. Fantastisch! Anis Gasthmi, der Araber, würde zufrieden sein. Heute Nacht noch musste er ihn anrufen. Er wandte sich um und trat durch die Balkontür. Die Kapelle pausierte. Die Paare gingen zu ihren Getränken zurück. 417
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Stefanie entschwebte in den Hintergrund, wie er sah, offenbar, um in der Küche Anweisungen zu hinterlassen. Weder sie noch andere hatten bis jetzt was gemerkt. Möglicherweise fiel diesem oder jenem ihr nacktes Dekolletee auf. Aber da lag der Gedanke nahe, dass sie den Saturn-Diamanten abgelegt hatte. Vielleicht war er zu schwer und drückte aufs Brustbein. Jemand drehte am Dimmer. Es wurde hell. Friedhelm sah, wie Stefanie an der Bar stehen blieb. Ohne Hast, aber zielstrebig, trat er zu ihr. Sie nippte gerade am Champagner, hatte gerötete Wangen und glänzende Augen. »Genug Heilkräfte aufgenommen, Stefanie?«, meinte er grinsend. »Wie?« Sie stellte ihr Glas ab und wackelte mit den Wimpern. »Ich meine…«, er deutete auf ihr Dekolletee, »weil du ihn abgelegt hast.« Ihr Kopf sank nach vorn. Ihre Hand griff zur Brust. Entsetzt hob sie den Blick. »Wo… wo… Ich habe ihn nicht abgelegt. Um Himmels willen! Er ist weg.« »Weg? Verloren?« »Weiß nicht…«, stammelte sie. »Vorhin hatte ich ihn noch. Eben. Nein, vorhin. Vor dem Tanz. Oder? Hilf mir suchen. Die Kette muss auf dem Teppich liegen.« Gespräche summten. Man war etwas abgeschlafft, aber der Champagner brachte die Unterhaltung wieder in Gang. Friedhelm trat in die Mitte des Raumes. »Alle mal herhören, Freunde!«, verkündete er lautstark. »Stefanie hat ihre Kette – samt Saturn-Diamant – verloren. Beim Tanzen. Die Kostbarkeit muss irgendwo rumliegen. Geht bitte mal zur Seite. Aber tretet vorsichtig auf. Das gilt besonders für jene, die Bergstiefel tragen«, witzelte er. 418
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Erstauntes Gemurmel – dann stakten alle auf Zehnspitzen, den Blick abwärts gewandt, zu den Wänden, wo man sich aufreihte. »Ich habe ihn!«, schrie eine Männerstimme. Sie gehörte Harry Zatofsky. Ausgerechnet! Er preschte vor auf die eben noch betanzte Innenfläche und sank in die Hocke. Triumphierend hielt er die Goldkette hoch, während Stefanie zu ihm eilte. Mit freudiger Miene.
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14. Leibesvisitation Elisas Zimmer war kein Zimmer, eher ein Gemach, und angefüllt mit Luxus. Dagegen ist unser ADLERNEST ein Schweinestall, dachte Tim. Aber gemütlicher! Elisa besaß viel zu viel. Und natürlich wollte sie alles zeigen. Ihre Stereo-Anlage war das Schärfste und Neueste. Mit ihrer Plattensammlung stellte sie jede Disco in den Schatten. Das war was anderes als die Drei-Mann-Kapelle mit ihrer Tischmusik. Elisa legte heiße Scheiben auf und die TKKG-Bande lauschte hingerissen. Eine längere Weile verging. Elisas Zimmer war – ein unerhörter Luxus – schallisoliert: sogar mit Doppeltür. Draußen konnte man den Budenzauber nicht hören und keinerlei Geräusch drang herein. »Wir wissen gar nicht, was los ist«, meinte Tim schließlich. »Vielleicht ist die Party schon zu Ende und wir haben den Schwof verpasst.« »Das wäre schlimm«, lächelte Gaby. »Du hast mir schon lange nicht auf die Füße getreten.« Elisa schaltete ihr technisches Wunderwerk ab. Klößchen hatte an seiner Schokolade genascht, aber nur eine halbe Tafel geschafft. Den Rest schob er in die Tasche. Erwartungsvoll sockten sie zu den Party-Räumen hinüber, wo derzeit lähmende Stille herrschte. Als sie eintraten, traute Tim seinen Augen nicht. Sämtliche Gäste krochen auf dem Boden herum. Alle Köpfe waren gesenkt. Jeder tastete mit einer Hand über den kostbaren Spannteppich. Hier und dort keuchte jemand. Das waren die Fitness-Nieten, denen selbst bei dieser sanften Art des Bodenturnens die Puste ausging. »O Mann!«, flüsterte Klößchen. »Ist das ein neues Gesellschaftsspiel? Oder ist die Knie-Krankheit ausgebrochen?« 420
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Ein nach Krokodil-Parfum duftender Typ, der gerade an Tim vorbeikroch, hörte das. »Stefanie hat ihren Saturn-Diamanten beim Tanzen verloren«, sagte er. »Nur den Stein. Die Kette haben wir schon gefunden.« Das ist ’n Ding!, dachte Tim. Scheint eine gefährliche Zeit zu sein für Vielkaräter. Beinahe hätte es den Klotz von Kalifaru erwischt und jetzt macht der Saturn einen Fluchtversuch. Sofort mischten sich die fünf Nachwüchsler unter die Kriechenden. Sie robbten schneller als die andern und beschnüffelten den Teppich, dass Oskar – Gabys Cockerspaniel – gestaunt hätte. Aber das Ergebnis blieb null, und Tim dämmerte es, dass kein Staubsauger, kein Wünschelrutengänger und keine Polizeihundestaffel daran was geändert hätte. Er stand als Einziger auf und sagte in die Stille: »Selbstverständlich, Frau von Jaburg, sind alle Ihre Gäste die Ehrlichkeit selbst. Aber einem ist ganz aus Versehen der Glitzerstein in die Tasche geraten. Wenn ich Sie wäre, würde ich die Party mit einem Gag (witzigem Einfall) beenden, nämlich die Polizei rufen.« Stille. Dann hob Protestgeschrei an. Die mit dem guten Gewissen sahen ihre Ehre besudelt. Aber schon waren Stefanie, Friedhelm Merpe und Gaby neben Tim – aufrecht stehend. »Er hat recht«, rief Stefanie. »Viele von euch kenne ich ja gar nicht. Der Stein ist ein Vermögen wert. Und dass meine Party zum Skandal wird, habe nicht ich forciert (erzwungen), sondern der Dieb.« »Niemand verlässt den Saal!«, brüllte Friedhelm. »Aber alle legen die Kleidung ab und… Nee, so geht’s nicht.« »So eine Leibesvisitation«, ließ sich Gaby vernehmen, »ist ganz einfach. Im Präsidium, wo mein Papi Kommissar ist, 421
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gibt’s ein Gerät, eine Art Detektor (Gerät zur Auffindung von Wasseradern). Aber er spürt nicht Wasser auf, sondern jede Art von Metall und echtem Schmuck, auch Edelsteine. Niemand braucht sich auszuziehen. Aber jeder wird durchleuchtet. Selbst wenn er den Diamanten verschluckt hat, fängt das Gerät an zu piepen.« Man erhob sich. Kein Protestgeschrei mehr, stattdessen beifälliges Gemurmel. Tim spähte umher. Wem trat der Angstschweiß auf die Stirn? Wer griff in die Tasche und ließ unauffällig was zu Boden fallen? Obwohl er seinen Adlerblick einsetzte, fiel ihm nichts auf. Ein ungefüger Gaultyp, den einige mit »Z« anredeten, andere mit »Harry«, war schon am Telefon. Stefanie wirkte erschöpft. Und enttäuscht. Aber Friedhelm, die Goldjacke, wich ihr nicht von der Seite. Offenbar hielt er das für seine große Stunde. Er nötigte der Hausherrin Champagner auf, schluckweise – wie einem Baby die Milch, säuselte tröstende Worte und klebte ständig mit einer Hand an ihrer Schulter oder am Unterarm. »Dieser Schleimi!«, flüsterte Elisa ihren Freunden zu. »Dass der ein ehrlicher Freund ist, glaube ich einfach nicht.« »Sondern?«, fragte Karl. »Er schuldet uns, also Mutti, Geld. Sicherlich braucht er Aufschub über Jahre.« »Au Backe, die Zinsen!«, grinste Karl. Seinem Schlaugesicht war anzusehen, dass das Computer-Gehirn bereits mit Zahlen jonglierte (Geschicklichkeitsübungen ausführen). »Stark – dein Vorschlag«, lobte Tim seine Freundin. »Hat dein Vater heute Nachtdienst?« »Leider nicht«, bedauerte Gaby. »Wer macht denn das mit dem Detektor?« »Meistens wird PM (Polizeimeister) Krause eingesetzt. 422
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Papi sagt«, fuhr Gaby fort, »Krause höre schon am Piepen, um wen es sich handelt. Ich werde Papi anrufen, der wird Krause schicken.« Die Gäste ernüchterten. Immerhin wehte jetzt der Partywind aus einer anderen Richtung. Keine Gespräche. Aber Argwohn breitete sich aus in den Mienen. Jeder schien jeden zu belauern. Nun zeigen sie, dachte Tim, was einer vom andern hält. Da ist nichts mehr mit »Liebster Freund« und »Teure Freundin«. Und die Backenküsse würden jetzt Übelkeit auslösen. Obwohl immer noch stark geraucht wurde, lag mehr Spannung als Lungengift in der Luft. Tim, der gern organisiert und technischen Durchblick hat – ihm fiel was ein. »Vielleicht sollten wir die Szene für den Detektor-Fachmann schon ein bisschen vorbereiten«, sagte er laut. »Das Gerät benimmt sich nämlich wie ein dummer Mensch: Es denkt nicht mit, sondern reagiert nur. Das heißt, es piept los wie irre, wenn es auf Dinge stößt wie: Münzgeld, Schlüsselbund, Taschenmesser, Schlagring, Schraubenzieher, Kupferdrahtrolle – eben alles, was man so in der Tasche hat. Metallkämme, Puderdosen und Schmuck eingeschlossen, was die Damen betrifft. Nicht zu vergessen die Armbanduhren. Jeder sollte sich also dieser Dinge entledigen. Am besten, wir werfen alles dort auf den Tisch. Und eine unabhängige Kommission prüft schon mal, ob der Saturn-Diamant dabei ist.« »Aber du erlaubst doch, dass man zur Toilette geht?«, fragte Friedhelm gehässig. Tim sah ihn an. »Karl wird Sie begleiten. Und Sie lassen bitte die Tür offen.« »Was?« »Wenn ein Halunke in der Falle sitzt, sagt eine Spruchweisheit aus dem elften Jahrhundert, übergibt er seine Beute der Klospülung. Und es wäre doch ein Jammer, müssen Sie 423
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zugeben, wenn der Diamant in der Kanalisation landet. Ausgerechnet dort, wo er überhaupt nicht zur Geltung kommt.« »Was? Willst du damit sagen…« »Jaja. Schon gut«, meinte Tim und wandte sich ab. Er hatte die Lacher auf seiner Seite. Ringsum wurde gegrinst. Er nervt mich, der Schleimer, dachte er. Der verträgt’s nicht, wenn unsereins brauchbare Vorschläge macht. Stefanie, Elisa, jener Harry, der Zatofsky hieß, Tim, Karl und leider auch Friedhelm – sie bildeten die Oberaufsicht für den Tascheninhalt. Ulkige Dinge kamen zutage. Zum Beispiel ein hoher Anteil an Pillendöschen, die Mittelchen gegen allerlei Gebrechen enthielten; und Magnetpflaster gegen Gliederreißen und Knochenschwund. Dass sich fünf gefährliche Messer inmitten der Tascheninhalte begegneten, hätte niemand vermutet. Vom Saturn-Diamant selbstverständlich keine Spur. Friedhelm benahm sich emsig, als wäre er eine männliche Biene. Mittlerweile ging er allen auf die Nerven. Nur Stefanie schien angetan von seiner selbstlosen Hilfe. Dann trafen Krause, der Detektor und zwei Kripobeamte ein. Mit ihnen kam Erwin Kusch, der nach dem Interview nicht geblieben war, aber jetzt – fernmündlich vermutlich – die heiße Info erhalten hatte. Er schoss auch gleich Fotos, luchste umher und untersuchte den zum Berg aufgetürmten Tascheninhalt. Die Stimmung war inzwischen auf den Nullpunkt gesunken. Jeder wollte möglichst schnell weg, bemühte sich also, als einer der Ersten vor den Detektor zu kommen. Wie im Flughafen, dachte Tim. Wenn man vor Antritt des Fluges nach Waffen durchsucht wird. Einen Gast nach dem andern tastete Polizeimeister Krause mit dem Gerät ab. Meistens blieb es stumm. 424
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Wenn es mal piepte, war es auf eine vergessene Münze gestoßen. Wer die Prozedur (Verfahren) hinter sich hatte, stattete Stefanie in aller Eile seinen Dank ab und suchte dann das Weite, das heißt als Erstes den Ausgang. Tim beobachtete, dass sich Friedhelm bemühte, bald an die Reihe zu kommen. Aber das misslang. Krause hatte nämlich am anderen Ende der Schlange begonnen, wo dieser Harry Zatofsky einer der Ersten war. Zu guter Letzt stellte sich die TKKG-Bande vor den Detektor. Dann hatte die Polizei – vergeblich – ihre Pflicht getan; und den Beamten blieb nur noch, Stefanies Aussage aufzunehmen. Die Party-Stätte war nun verwaist. Die Luft roch ungut. Überfüllte Aschenbecher mussten geleert werden. Champagnergläser waren zerbrochen. Und vom Tascheninhalt hatten sich Reste behauptet: Münzen und zwei Schlüsselanhänger ohne Schlüssel.
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15. Ab in die Mülltonne! Dieser Halunke! Harry Zatofsky, der angebliche Vermögensberater, schmunzelte. Erregung rötete sein Pferdegesicht bis zu den Ohren. Wie hatte dieser Friedhelm Merpe das angestellt? Wo den Diamanten versteckt? Wie ihn rausgeschmuggelt? Klar! Merpe hatte – wie alle andern auch – für keine Sekunde die Etagenwohnung verlassen. Trotzdem hatte die Leibesvisitation auch bei ihm nichts gebracht. Rätselhaft! Zufällig hatte Harry Zatofsky beobachtet, wie der Diebstahl vonstatten ging. Toll, diese Fingerfertigkeit! Offenbar besaß der Typ ein Diplom als Taschendieb – falls es so was gibt. Harry hatte also alles beobachtet – und sofort an Erpressung gedacht. Wäre doch neu, überlegte er, sich auf diese Weise an dem Profit (Gewinn) zu beteiligen. Aber jetzt, während er mit dem Lift abwärtsglitt, entschied er sich anders. Warum sollte er sich mit einem Anteil begnügen, wo ihm doch alles gehören konnte? Friedhelm Merpe war Junggeselle – wie Harry wusste –, wohnte allein und arbeitete, manchmal, in einem Büro irgendwo. Als Vermittler von Geschäften aller Art – wie es auf seiner Geschäftskarte hieß. Tagsüber, dachte Harry, ist er vermutlich nicht zu Hause. Das erkunde ich. Und sobald sich Gelegenheit bietet, sehe ich mich bei ihm um. Morgen schon. Klar! Da ihn niemand verdächtigt, braucht er nicht besonders vorsichtig zu sein, sondern wird das Steinchen in seiner Bude verstecken. Aber dafür habe ich eine Nase. Den Diamanten finde ich. 426
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Er trat aus dem Haus. Eine verdammt kühle Nacht. Fröstelnd bedauerte er, dass er keinen Mantel dabeihatte. Aber da war ja schon sein Wagen, der verdreckte Volvo. Er glitt hinters Lenkrad, stellte die Heizung an und machte sich auf den Heimweg, wobei er alle Verkehrszeichen peinlichst beachtete. Denn noch peinlicher wäre es geworden, wenn er einer Polizeistreife auffiel. Sein Atem roch nach Champagner. Und sein benebelter Blick verriet, dass er angetrunken war. Aber er erreichte seine Adresse, lenkte den Wagen in die Garage, stieg aus und machte Licht. Als er die Fahrertür schloss, fiel sein Blick auf den teigigen Kaugummiklumpen. Widerlich! Wie der dort klebte! Und so groß! Da hatte wohl einer auf Vorrat gekaut. Diese Penner! Oder verdankte er das einem Abkömmling vom Nachwuchs-Geschmeiß – auch Jugendlicher genannt? Er mochte keinen, der jünger als 16 war. Angeekelt nahm er ein Papiertuch, entfernte den Kaugummiklumpen und warf ihn in die Mülltonne, die neben dem Eingang stand. Sorgfältig – wie immer – schloss er das Garagentor ab.
* Drei Nachttischlampen brannten. Eine hätte genügt.Aber auch Klößchen und Karl war nicht nach Schlafen zumute. Tim stützte sich auf den Ellbogen und sah zu den beiden hinüber. Klößchen saß auf seinem Bett, lehnte den Rücken an die Wand und biss gedankenverloren ein Stück aus der SchokoTafel. 427
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Karl nahm seine Brille vom Nachttisch und setzte sie wieder auf. »Mit Brille«, meinte er, »kann ich besser denken. Sehe die Überlegungen deutlicher.« Wenigstens haben wir hier saubere Luft, dachte Tim. Er hatte darauf gedrungen, dass sämtliche Textilien – einschließlich der Socken – draußen blieben, nämlich im Flur, feinsäuberlich über drei Stühle gehängt wurden. Wolle, Stoff und Leinen hatten enorm viel Zigarettenrauch aufgenommen – stanken sozusagen danach, was die Luft verpestet und der Atmung schadet. Als hätten diese Qualmer noch nichts vom Umweltschutz gehört, dachte er. Schlimm genug, dass die Bäume sterben. Noch weniger verträgt die menschliche Lunge. Und für Leistungssport ist es reinstes Gift, weil konditionsfeindlich (Kondition = körperliche Leistungsfähigkeit). »Also«, sagte Karl, »fassen wir mal zusammen: In der Wohnung befindet sich der Diamant nicht mehr.« »Fünf Mal«, nickte Klößchen, »haben wir den Teppich abgesucht. Den kleinsten Diamantsplitter hätten wir gefunden.« »Über einen Brocken wie den SD müsste man stolpern«, pflichtete Tim bei. »SD?«, fragte Klößchen. »Meinst du Sicherheits-Dienst?« »Über den stolpert man auch. Aber ich meine den Saturn-Diamanten.« Er nahm den Ellbogen weg und ließ sich aufs Kopfkissen sinken. »Theoretisch bestand die Möglichkeit, dass ihn jemand im Empfangsraum versteckt hat, um ihn dann – bevor er die Wohnung verlässt – an sich zu nehmen. Praktisch traf das nicht zu, denn wir haben jeden, der die Biege machte, mit Blicken verfolgt, bis in den Lift hinein beschattet und jede Bewegung kontrolliert. Also – denken wir weiter!« »Ich hab’s«, rief Klößchen – und hüpfte zum Fußende seines Bettes. »Eine Brieftaube! Das ist die Lösung.« 428
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»Was?« »Klar. Der Dieb schlich sich auf den Balkon, hängte seiner Brieftaube den SD um den Hals. Die schwirrte ab, und jetzt sitzt der Halunke im Taubenschlag und lacht sich eins.« »Praktisch unmöglich«, urteilte Karl. »Eine Taube kommt nicht eben mal vorbei, wenn ihr Besitzer auf zwei Fingern pfeift. Der Trick würde nur funktionieren, wenn der Taubenhalter den Vogel mitgebracht hätte. Aber das wäre uns aufgefallen. Garantiert.« »Garantiert!«, nickte Tim. »Dann eben nicht«, maulte Klößchen, »wenn ihr was gegen Tauben habt, nützen die besten Ideen nichts. Also hat der Dieb den SD auf die Straße hinuntergeworfen – und später aufgesammelt. Gefällt euch das besser?« »Überhaupt nicht.« Karl schüttelte den Kopf. »Diamanten sind zwar sehr hart. Aber sie splittern.« »An deiner Idee, Willi«, ließ sich Tim vernehmen, »ist was dran. Denn wenn der SD weich fiel, hat er den Sechs-Etagen-Sturz heil überstanden.« »Sage ich’s doch!«, triumphierte Klößchen. »Unten lag eine dicke Matte – und platsch! Schon war…« »So auf keinen Fall«, unterbrach Tim. »Aber vielleicht hat der Dieb einen Komplizen. Der stand unten und fing den SD auf. Natürlich nicht mit der bloßen Hand. Das ist unmöglich – bei der Höhe. Und dem ungewissen Licht. Nein, der Komplize könnte eine Vorrichtung haben. Meinetwegen eine Art Sprungtuch, das er für einen Moment ausbreitet. Oder einen stabilen Sonnenschirm, den er verkehrt herum hält.« »Oder eine dicke Matte!«, beharrte Klößchen. »Und platsch! Dann hat er sie eingerollt und ist abgezischt samt Beute.« »Wenn es dir zu besserem Schlaf verhilft«, sagte Tim. »Meinetwegen.« »Ist aber auffällig.« Karl nahm seine Brille wieder ab. 429
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»Hohes Risiko«, nickte Tim. »Passanten oder Leute aus dem Haus könnten den Fänger beobachtet haben. Das muss man sich vorstellen! Da starrt einer in die Höhe und hüpft – mit seiner Fangvorrichtung – auf dem Gehsteig rum. Das ist wie Straßentheater und… Heh! Jetzt strahlt mir die Sonne der Weisheit ins Hirn. Die Penner!« »Wer?«, fragte Karl. »Die Penner. Als Willi und ich ankamen, hockten sie drüben in der Grünanlage.« »Mehrere?« »Drei. Sie glotzten zum Eingang. Sicherlich haben sie das Ende der Party abgewartet und dann die Gäste angebettelt. Vielleicht haben die drei was beobachtet!« Er sprang aus dem Bett. »Willst du runter?«, fragte Klößchen. »Wäre es dir lieber, wenn ich denen zurufe, sie möchten mal raufkommen?« »Mir wäre es egal«, grinste Klößchen. »Aber Frau von Jaburg kriegt Schreikrämpfe. Sie hat, glaube ich, lieber gepflegte Typen um sich. Elegante Flaneure (Müßiggänger) wie mich.« Karl grinste. »Jetzt fällt mir ein, Willi, was ich dir den ganzen Abend sagen wollte. Hatte es leider vergessen.« »Was?« »Ich wollte dich bitten, deinen Querbinder abzunehmen.« »Weshalb?« »Er betont bei dir die Breite und verkürzt fürs Auge die Länge. Außerdem passen lila Punkte nicht zum roten Pulli.« »Du bist ja nur neidisch, weil an deinem dünnen Hals jeder Schal flattert.Vier Damen haben mir Komplimente gemacht, wie schick ich am Kragen sei.« Tim hatte seine Klamotten hereingeholt – trotz Kaltrauchausdünstung. Es war besser, sich hier anzuziehen. Draußen konnten die 430
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Mädchen auftauchen, falls sie noch mal in die Küche wollten, um sich ein Glas Milch zu holen. Elisas Zimmer, wo auch Gaby nächtigte, lag nur zwei Türen entfernt. »Lass dich nicht anbetteln«, lachte Karl. »Falls sie noch da sind.« »Im Gegenteil, Karl! Jeder kriegt einen Euro. Dann sind sie mir gewogen und werden gesprächig.« »Dass ich’s nicht vergesse! Je fünf Euro fünfzig kriege ich noch von euch. Für die Blumen, wie ich sagte. Gaby hat ihren Anteil schon erstattet.« »Teuer, teuer!«, seufzte Klößchen. »Partys sollten nur im Sommer stattfinden. Da kann man die Blumen im Vorgarten des Gastgebers pflücken. Und hat wenigstens die Garantie, dass man seinen Geschmack trifft.« »Verfressen und geizig!«, stellte Tim fest. »Du entwickelst dich zum Monster.Am Büffet war keiner so oft wie du.Wenn du sonst auch zwei linke Hände hast – hoch beladene Teller, die balancierst du meilenweit und verlierst keinen Krümel. Aber wegen der Blumen nölen. Schäm dich!« Grinsend schwenkte Klößchen seine Schoko-Tafel. »Satt bin ich nicht geworden – wie du siehst.«
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16. Komplizen Die Etagentür war verschlossen. Doch in der Küche wurde noch geklappert. Köchinnen und Serviermädchen räumten auf, futterten Reste und tauschten kichernd Beobachtungen aus. Offenbar kümmerten sie sich auch um angebrochene Champagnerflaschen, denn es ging lustig zu.Am liebsten hätten sie Tim eingeladen, als er in die Küche kam. »Meine Schlaftabletten sind in der Fahrradtasche«, erklärte er mit todernstem Gesicht. »Hab sie vergessen. Ich muss noch mal runter.« »Schlaftabletten?«, fragte die dickere der beiden Köchinnen. »So jung – und schon das? Du siehst doch ganz gesund aus.« »Täuscht leider«, meinte Tim. »Nachts wälze ich mich schlaflos in den Federn, weil mich die schulischen Sorgen nicht loslassen. Ihr Erwachsenen ahnt ja nicht, welchem Stress wir Schüler ausgesetzt sind. Jeden Morgen aufstehen. Jeden Tag Unterricht. Lernen. Wachsen. Älter werden. Manchmal wünschte ich, ich wäre als 18-jähriger geboren. Da wäre ich schon… oder bald fertig mit der Penne. Und könnte endlich ruhig pennen.« Die Mädchen kicherten. »Ich glaube, er verulkt uns«, sagte die etwas schlankere Köchin – und knuffte Tim in die Rippen. Der Lift brachte ihn hinunter. Als er auf die Straße trat, heulte der Wind um die Ecke, wirbelte eine Spirale aus Dunst vor sich her und riss eine reich bebilderte Tageszeitung aus dem Papierkorb am Laternenmast. Er blickte hinüber. Ein Wagen fuhr mit hoher Geschwindigkeit vorbei. Aber die Grünanlage war leer. Er spürte die Enttäuschung wie Sodbrennen im Magen, 432
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überquerte trotzdem die Fahrbahn und besichtigte die Stelle, wo sich die drei Typen vorhin niedergelassen hatten. Ihre Sitze, die umgestülpten Apfelsinenkisten, waren noch da. Eine leere Schnapsflasche lag im herbstwelken Gras. Schade!, dachte er. Falls was zu sehen war, sind die drei die einzigen Zeugen. Nachdenklich trat er den Rückweg an. Das Serviermädchen, das ihn einließ, schwankte etwas und schielte bereits. »Mehr sollten Sie nicht trinken«, meinte Tim. »Gute Nacht.« Gespannt erwarteten ihn seine Freunde. »Sind weg«, berichtete er. »Aber ich entsinne mich, dass einer der Typen einen fuchsroten Vollbart hat. Der muss doch zu finden sein. Morgen grasen wir die Penner-Szene ab. Gebongt?« Klößchen zeigte keine Begeisterung. Karl nickte. »Vielleicht bringt’s was. Ist ja unsere einzige Spur.«
* Der Morgen graute. Harry Zatofsky hatte nur wenig geschlafen. Die Aufregung trieb ihn aus den Federn. In der Küche schlürfte er seinen schwarzen Pulverkaffee. Gehüllt in einen lappigen Bademantel, verließ er das Haus, um vom Gartentor, wo die Zeitungsröhre angebracht war, das abonnierte Mitteilungsblatt zu holen. Als er zurückschlurfte, traf ihn der Schreck. Das Garagentor war aufgebrochen. Metallteile lagen auf dem Boden. Der Griff stand schief. Mein Volvo!, schoss es ihm durch den Kopf Wer hat den geklaut – dreckig wie er ist? 433
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Er rannte. Er verlor die Zeitung. Dann war er an der Garage und riss das Tor hoch. Verblüfft glotzte er auf seinen Wagen. Nanu, der war ja noch da! Er stieg ein und durchsuchte das Handschuhfach. Dann den Kofferraum. Nichts fehlte. Offensichtlich hatte der Eindringling auch gar nicht versucht, die Zündung kurzzuschließen. Darauf konnte sich Harry Z keinen Reim machen.
* Diese Enttäuschung! Wäre ihm das Schicksal in Fleisch und Blut begegnet, hätte Friedhelm Merpe mit den Fäusten draufgeschlagen. Natürlich war Harry Z längst abgefahren, als er, Friedhelm, endlich die Party verlassen konnte. Aber so ein Kaugummi – der klebt. Und auffällig ist er nicht. Deshalb hatte er nachts den Volvo untersucht – und auch die Stelle entdeckt, wo noch etwas von der Kaumasse haftete. Elender Mist! Sicherlich war er gerast wie ein Wilder, der betrunkene Gauner! Und dabei hatte der Fahrtwind über die Klebrigkeit gesiegt. Friedhelm tat kein Auge zu. Sobald der Herbstmorgen etwas fahles Licht zeigt, fuhr er wieder und wieder die Strecke ab: zwischen Stefanies Adresse und Harry Zatofskys Haus. Es war lächerlich. Wie sollte er den Kaugummi finden? Den hatte sich längst ein Kehrfahrzeug der Straßenreinigung einverleibt. Oder er klebte breit unter einem Autoreifen – und der Saturn-Diamant war zerbröselt wie Torf. Der zweite Fehlschlag! Das hält doch kein Mensch aus. 434
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Dabei hatte er ihn schon in der Hand gehalten, den begehrten Schmuckstein mit seiner farblosen Schönheit. Keine Beute, kein Geld. Und blamiert war er außerdem. Am besten, dachte er, ich melde mich gar nicht bei diesem Kameltreiber Gasthmi. Soll der doch denken, dass ich als aufrechter Europäer mit politischen Nah-Ost-Flüchtlingen keine Geschäfte mache. Dieses Gesindel! Eine Schande, dass die das Geld haben – und wir nur den edlen Charakter. Missmutig fuhr er in die Stadt, um sich in einem Bistro (kleine französische Gaststätte) ein magenfreundliches Katerfrühstück reinzuziehen: Milchkaffee und lasches Weißmehlgebäck.
* So wird man also zum Einbrecher!, dachte Harry. Aber für den Einsatz lohnt es sich. Er hatte sich vergewissert, dass Friedhelm nicht da war, hatte die Hintertür geknackt und begann jetzt, das Haus zu durchwühlen. Es stand, weit zurückgesetzt von einer Vorort-Straße, in einem verwilderten Garten. An der Garderobe hing die goldfarbene Abendjacke, die Friedhelm gestern getragen haue. Harry griff in alle Taschen. Verwundert stellte er fest, dass Friedhelm seine Brieftasche vergessen hatte. Sie enthielt Papiere und Geld, aber keinen Diamanten. Er suchte weiter. In einer Schublade fand er einen anklebbaren Vollbart, eine Perücke und eine Brille mit Fensterglas. »Ts… ts… ts…«, zischelte er durch die Zähne, das war ja sehr aufschlussreich. Raubte Merpe Banken aus? Oder führte er ein Doppelleben? Um Faschingsausrüstung handelte es sich jedenfalls nicht. 435
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Harry ging durch alle Räume und überlegte. Wo hätte er den Diamanten versteckt?
* Sie nervte ihn, diese blöde Kuh von Serviererin! Sah die denn nicht, wen sie vor sich hatte. Dass er gesellschaftlich erste Sahne war und kreditwürdig wie ein Ölscheich! »Es macht neun Euro achtzig«, sagte die Blonde und starrte Friedhelm misstrauisch an. »Wieso können Sie nicht bezahlen?« »Weil ich kein Geld bei mir habe! Ich erkläre es Ihnen doch dauernd. Portmonee und Brieftasche liegen zu Hause.« »Dann können Sie hier nicht frühstücken, wenn Sie kein Geld haben.« »Junge Frau«, ächzte er. »Als ich kam, wusste ich nicht, dass ich mein Geld vergessen habe.« »Wir nehmen auch Eurocheques.« »Ich habe nichts bei mir. Nur Autoschlüssel und Taschentuch.Wenn Sie mir ein bisschen vertrauen, bin ich in 20 Minuten zurück.« »Woher soll ich wissen, ob ich Ihnen vertrauen kann?« »Sie haben doch Menschenkenntnis.« Innerlich kochte er. »Eben.« »Was heißt das?« Ihr Blick fiel auf seine Armbanduhr. »Gold, ja?« »Allerdings.« »Lassen Sie die als Pfand hier, dann weiß ich, dass Sie wiederkommen.« »Was? Die Uhr hat 6000 Euro gekostet. Wegen lumpiger neun achtzig…« Dann schloss er die Augen, nahm die Uhr ab, richtete den Blick auf die mauleselsture Bedienung und reichte ihr die Uhr. 436
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»Bitte, vorsichtig damit umgehen! Sie verträgt keine Erschütterung, keine Feuchtigkeit und kein lautes Geräusch.« »Dann hat sie höchstens neun achtzig gekostet, aber keine 6000«, meinte die Serviererin und schob ab zur Theke. Blöde Vergesslichkeit! Das lag natürlich an der schlaflosen Nacht, dem Frust, dem Ärger, der Anstrengung, dem stressenden Dasein. Er warf sich in seinen Mercedes und fuhr heim. Müdigkeit drückte ihm auf die Lider. Vielleicht war es ratsam, sich eine Mütze voll Schlaf zu holen. Aber erst musste er seine Uhr auslösen. Keinen Cent Trinkgeld würde er ihr geben, der Kuh, sondern genau neunachtzig. Und das geschah ihr recht. Er parkte vorn an der Straße und schlurfte an dichten Büschen vorbei bis zur Haustür. Als er aufschließen wollte, hörte er das Geräusch. Im Haus fiel was zu Boden. Sofort war er hellwach. Einbrecher! Er rannte zum Wagen zurück und nahm die kleine Pistole aus dem Handschuhfach, für die er natürlich keinen Waffenschein besaß, aber insgesamt 27 Patronen. Polizei? Das wäre das Letzte. So was besorgte er selbst. Dem Einbrecher – oder waren es mehrere – würde er’s zeigen! Lautlos schloss er auf. Vorsichtig trat er ins Haus. Als er im Wohnraum auf das Chaos stieß, gab’s kein Besinnen. Im selben Moment kam der Typ aus der Küche. Friedhelm sah nur die Umrisse der Gestalt im Gegenlicht der blassen Vormittagssonne und hob die Pistole. »Heh, nicht!«, rief der Einbrecher – und streckte die Hände in die Höhe. »Nicht schießen! Kein Grund zur Gewalt. Man wird doch noch einbrechen dürfen!« 437
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Jetzt erkannte er ihn – den ungefügigen Kerl mit dem rot geäderten Gaulgesicht: Harry Zatofsky, bisweilen auch Z genannt. »Was?«, brüllte Friedhelm. »Sie?« Harry grinste und ließ langsam die Arme sinken. Er war kein bisschen verlegen. »Konnte ja nicht ahnen, Merpe, dass Sie so früh zurückkommen.Wenn Sie Wert darauflegen, räume ich wieder auf.« »Eine Kugel schieße ich Ihnen in den Wanst, Sie… Sie… Was wollen Sie hier eigentlich?« »Na, was wohl?« »Ja, was?« »Bewundert habe ich Sie, Merpe. Diese Fingerfertigkeit! Stefanie hat nichts gemerkt. Und sehr schlau von Ihnen, die Goldkette auf den Teppich zu legen. Das hat zunächst mal abgelenkt. Sogar mich. Für ein paar Momente habe ich nicht auf Sie geachtet. Weil ich mir sicher war, dass Sie den Diamanten verschlucken oder in der Achselhöhle verstecken – oder hinter Ihrem Glasauge, falls Sie eins haben sollten.Aber dann kam’s ja ganz anders, weil dieser neunmalklugen Göre der Trick mit dem Detektor einfiel. Da befürchtete ich schon, Sie könnten kalte Füße kriegen. Umso größer meine Bewunderung. Mir ist es rätselhaft, wie Sie den Klunker-Kiesel rausgeschmuggelt haben.« Das durfte nicht wahr sein! Friedhelm stieß einen rasselnden Ächzer aus, stolperte zum nächsten Sessel und fiel hinein. An die Pistole dachte er nicht mehr. Er schob sie in die Tasche, nahm sie wieder heraus, ließ die Sicherung einrasten – und machte die ganze Zeit eine total bescheuerte Miene. »O Mann!«, stöhnte er. »Wenn Sie wüssten, Zatofsky!« »Harry! Für Sie Harry. Sie imponieren mir.« »Wenn Sie wüssten, Harry, wie stinksauer ich auf Sie bin. Weil Sie die Hauptrolle spielen in diesem tragischen Stück.« 438
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»Was?« »Ich habe den Diamanten in Kaugummi gehüllt und vom Balkon runtergeworfen. Auf meinem Autodach sollte der Brocken landen. Aber ich habe meine Karre verfehlt – und Ihre getroffen. Leider konnte ich ihn, den gummiverpackten Stein, dort nicht runterpflücken, weil Sie vor mir…« »Dann sind Sie heute Nacht in meine Garage eingebrochen?« Friedhelm nickte. »Logisch! Und somit hätten wir uns nichts vorzuwerfen, weil es eins zu eins steht.Aber da Sie den Stein auf der Heimfahrt verloren haben, hilft uns das…« »Nein!«, jaulte Harry. »Nein! Er war…« Er stockte. Verdammt! Warum war ihm das rausgerutscht, statt diesen Trickdieb in dem Glauben zu lassen, der Stein sei futsch. Friedhelm begriff sofort. Wie hingezaubert lag die Pistole wieder in seiner Hand. Die Mündung visierte Harrys Kniescheibe an. »Sie sind immer noch der Einbrecher, lieber Harry, den ich auf frischer Tat ertappe. Also raus mit der Sprache!« »Wenn Sie mich erschießen, erfahren Sie nie, wo der Stein ist.« »Erschießen? Ich bin doch kein Mörder. Ich mache Sie nur kampfunfähig. Aber das bereitet Schmerzen.« »Sie müssen einräumen, dass ich jetzt auch im Geschäft bin.« »Was heißt das?« »Ich kriege einen Anteil, Merpe. Ach, was: Friedhelm! Sagen wir Du zueinander, da wir doch jetzt im gleichen Boot sitzen. Der Diamant reicht für uns beide. Halbe, halbe!« »Du bist wohl größenwahnsinnig. Ich schufte auf der Party, mache die Arbeit, riskiere den Hals, habe die Ideen, glänze mit Tricks – und dann kommst du daher, chauffierst nur den Kiesel nach Hause, was jeder kann, und willst jetzt die Hälfte. Das steht in keinem Verhältnis, mein Lieber, und ausbeuten 439
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lasse ich mich nicht. Wenn du ein Drittel kriegst, bist du verdammt gut bedient.« »Aber nur ich weiß, wo er jetzt ist. Damit bringe ich doch enorm viel in unsere Partnerschaft ein.« Friedhelm grinste verächtlich. »Glaubst du, ich finde ihn nicht, wenn ich deine Bude durchsuche.« »Nie findest du den. Nie, weil… Um Himmels willen! Welchen Tag haben wir heute?« »Samstag.« Harry seufzte erleichtert. Dann nickte er. »Samstags kommt die Müllabfuhr nicht. Wir können uns Zeit lassen. Also gut, Harry. Zwei Drittel für dich. Der Kaugummiklumpen war noch auf meinem Dach, als ich in die Garage fuhr. Jetzt ist er in der Mülltonne.«
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17. Treuer Freund mit Herzenswärme Tim war als Erster auf den Beinen. Nach 50 Rumpfbeugen und enorm vielen Klimmzügen am Türrahmen fühlte er sich munter. Den Rest besorgte die kalte Dusche. In der Jaburg’schen Küche, wo es wieder ordentlich aussah, holte er sich ein großes Glas Milch. Dann durchforschte er die weitläufige Wohnung. In den Schlafgemächern der Damen herrschte noch Stille. Auch von der Sinfonie der Großstadt drang kein Laut durch die schallisolierten Spezialfenster herein. Hinsichtlich der Geräusche fühlte er sich wie achteinhalb Meter unter Wasser. Da Däumchendrehen nie seine Art ist, beschloss er, sich nützlich zu machen. Ein südöstlich gelegener Raum schien das Frühstückszimmer zu sein. Die dienstbaren Geister waren längst nicht mehr da. Also deckte er den Tisch für sechs Personen. Eisschränke und Speisekammer enthielten frühstückstaugliche Nahrungsmittel. Er trug Butter, Schinken, Konfitüre und Honig auf, kochte Eier, röstete Toast, brühte Kaffee und auch Tee. Als das Werk vollbracht war, hämmerte er bei den Mädchen an die Tür. Dann fiel ihm ein, dass kein Laut dort hineindrang. Also zog er sie fingerbreit auf. »Gaby! Aufstehen! Der Toast wird sonst kalt. Elisa, hopp, hopp! Ein schöner Samstag steht vor der Tür.«. Erst Stille in der wohligen Dunkelheit. Dann ein doppeltes Stöhnen. »Um Gottes willen!«, murmelte Elisa. »Ist er übergeschnappt?« »Nein, so ist er immer.« Gabys Stimme klang schlaftrunken. 441
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»Ein Frühaufsteher. Gleich ekelhaft munter und voller Tatendrang.« »Den Tadel verdiene ich nicht«, lachte er. »Ich habe Frühstück gemacht. Für alle. Also schert euch ins Bad. Ihr seid muntere Küken, keine behäbigen Glucken.« »Dieser Hahn geht mir auf den Geist«, seufzte Elisa. »Warum, Gaby, hast du ihm noch nicht den Hals umgedreht?« »Das frage ich mich auch.« »Also dalli, die Damen!«, meinte er und schloss die Tür. Als er sich umdrehte, sah er gerade noch, wie Stefanie in einem der hinteren Bäder verschwand. Sie trug einen weißseidenen Morgenmantel, knöchellang. Ärmelstulpen und Kragen bestanden aus plustrigem Pelz, der leider sehr nach Polarfuchs aussah. Das müssen wir ihr noch beibringen, dachte er, dass es niemanden ziert, sondern eine Schande ist, sich mit den Häuten – eigens dafür – getöteter Tiere zu behängen. Stefanie zu wecken, erübrigte sich also. Aber er musste Gewalt anwenden, um Klößchen aus den Federn zu werfen. Karl trottete freiwillig ins Bad. Als er zurückkam, stellte er fest, dass die gesamten Textilien nur noch schwach nach Zigarettenrauch stanken. Die Jungs saßen schon eine Weile am Tisch, als die Mädchen endlich eintrafen. Elisa hatte kleine Augen, sah aber süß aus. Gaby blitzte Tim mit ihren Blauaugen an. »Hättest uns ruhig noch ein Stündchen gönnen können, du Menschenschinder.« »Guten Morgen, liebste Gabriele! Wohlgeruht?« »Nein. Albtraum gehabt. Du bist mir erschienen.« »Hähä!«, meckerte Klößchen. »Gib’s ihm ordentlich, Pfote! Der Kerl hat meine Schokolade versteckt. Alle Taschen sind leer. Ich ahnte es ja, dass jetzt das Schicksal hart mit mir umspringt. Nicht mal Kakao ist da.« 442
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»Deine Schokolade versteckt?« Tim grinste. »Ich meine, du hast sie vertilgt. Bis auf den letzten Krümel.« Stefanie kam. Das große Hallo, mit dem sie begrüßt wurde, schien empfindliche Nerven zu treffen. Jedenfalls zuckte sie für einen Moment schmerzhaft zusammen.Aber dann lächelte sie. Unter ihren Augen lagen Schatten. Sie schien nicht in bester Form zu sein. Aber sie lobte den Frühstückstisch. Statt dann ordentlich reinzuhauen, nahm sie nur eine Kopfschmerztablette und zwei Tassen Kaffee. »Dass man mich bestohlen hat«, sagte sie, »tut weh. Da lädt man diese Leute ein, füttert sie und bietet ihnen was. Und so sieht der Dank aus. Gott sei Dank ist Friedhelm Merpe eine erfreuliche Ausnahme.« O weh!, dachte Tim. »Ihr und er«, fuhr Stefanie fort, »das war für mich der einzige Lichtblick.« Was uns betrifft, hat sie recht, dachte Tim. Aber dieser Schleimer ist der Abschaum. »Vorhin, als ich vor Kummer nicht schlafen konnte«, sagte Stefanie, »habe ich den Entschluss gefasst. Ich werde ihn einladen. Der Arme ist finanziell etwas kurzatmig. Es wird ihn riesig freuen, uns nach Bridigaggio zu begleiten.« Höre ich recht? Tims Blick fetzte über die Gesichter. Gaby, Karl und Klößchen zeigten keine bemerkenswerte Regung. Begeistert waren sie selbstverständlich nicht. Aber die Höflichkeit gegenüber der Gastgeberin gebot, dass man nicht gleich entsetzt losgröhlte. So viel Rücksicht brauchte Elisa nicht zu nehmen. »Mutti, ich muss dir was sagen: Ich kann ihn nicht leiden.« »Wie bitte?« »Ich mag Friedhelm Merpe nicht.« »Ich bitte dich, Elisa.« Stefanie schüttelte den Kopf »Seit ich ihn kenne, erweist er sich als treuer Freund: hilfsbereit 443
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und aufopfernd. Er geht mir zur Hand. Er steht mir zur Seite. Wenn ich ihn brauche, ist er da. Hege doch bitte kein Vorurteil, Elisa. Es wäre ungerecht.« Elisa starrte auf ihren Teller. »Na gut. Wenn du meinst. Wir müssen uns ja nicht um ihn kümmern.« »Auch das wäre gemein. Er verdient es nicht, dass ihr ihn ablehnt.« Fragend sah sie Tim an. »Nicht wahr, dir gefällt er?« »Also, Frau von Jaburg, so würde ich das nicht ausdrücken. Seine goldene Jacke – die mag ja noch angehen. Aber im Wesen kommt bei ihm so eine aalige Schlüpfrigkeit durch. Einschränkend muss ich allerdings feststellen, dass ich ihn nicht so gut und so lange kenne wie Sie. Vielleicht gewinnt er – im Laufe der Jahre.« »Ganz gewiss«, nickte Stefanie. »Er hat Herzenswärme. Am besten, ich rufe ihn gleich mal an. Dann kann er sich die ganze Woche schon freuen.« Sie ging hinaus zum Telefon. Tim biss in seinen Schinkentoast. »Keine Sorge, Freunde«, sagte er durch den Mundwinkel. »Mit dem werden wir fertig.«
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18. Die Einladung Dieses Geschmiere! Seit einer halben Stunde zupften sie mit Pinzetten an dem Kaugummi herum. Die Hälfte des Saturn-Diamanten hatten sie inzwischen freigelegt. Den Rest würden sie auch noch schaffen. Zurzeit sah allerdings auch die freigelegte Hälfte ziemlich unansehnlich aus. »Der wird wieder«, meinte Friedhelm. »Den Rest besorgt ein Seifenbad.« Harry nickte. »Fantastisch, der Brocken. Und wie günstig, dass du den Abnehmer schon an der Hand hast.Aber sei vorsichtig! Diesen Arabern ist nicht zu trauen. Anis Gasthmi gehörte zu El Hamids Leuten. Der wurde nicht umsonst der Schreckliche genannt. Diese Orientalen haben die Tücke im Blut. Gib Acht, dass sie dir nicht den Hals durchschneiden.« »Mich legt keiner rein«, prahlte Friedhelm. Sie waren bei Harry Zatofsky gewesen und hatten den Kaugummiklumpen aus der Mülltonne geholt. Friedhelm bestand darauf, dass die Säuberung des Diamanten in seinem Haus stattfinde. Also fuhren sie zurück. Harry zeigte sich von kumpelhafter Seite und räumte ein bisschen auf. Friedhelm erklärte, er werde die Reparaturkosten für Harrys Garagenschloss übernehmen. »Also«, meinte er jetzt – und legte die Pinzette auf den Tisch, »bevor ich weitermache, sollte ich erst mal den Gasthmi anrufen. Erfolgsmeldungen soll man rauslassen und nicht auf Eis legen.« »Eine gesunde Einstellung«, nickte Harry. Friedhelm bemühte sein Notizbuch, weil er Gasthmis Rufnummer im fernen Norditalien nicht auswendig wusste. 445
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Im selben Moment klingelte das Telefon. »Hallo, Stefanie«, rief er, nachdem er sich gemeldet hatte. »Ja, mir ist alles gut bekommen. Dir hoffentlich auch. Ach, entschuldige! Wie kann ich das sagen! Oder hat sich alles zum Guten gewendet – und der Diamant ist inzwischen aufgetaucht?« Er lauschte. Harry beobachtete ihn. Dieser Schauspieler!, dachte er. Friedhelm blinzelte ihm zu. Dann spiegelte sein Schönlingsgesicht höchste Verblüffung. »Aber…«, stotterte er. »Wirklich, Stefanie: Du bist zu gut zu mir. Klar, nehme ich an. Riesenfreude! Nur zu gern! Nur zu gern! Wenn ich in deiner Nähe bin, steigt mein Blutdruck. Aber das weißt du. Freitagnachmittag geht’s los? Das passt mir ausgezeichnet. Irrer Zufall. Denn gerade jetzt wollte ich in Mailand einen Geschäftsfreund aufsuchen. So kann ich das eine mit dem andern verbinden. Herrlich!« Zwei Mal noch bedankte er sich – und machte schöne Worte, während er in Harrys Richtung Fratzen schnitt. Kaum dass er aufgelegt hatte, schüttelte ihn ein Lachanfall. »Harry!«, keuchte er. »Das … das … glaubst du nicht. Diese Zicke… nein, es ist zu schön! Sie… Stell dir vor: Sie lädt mich ein. Auf ihr Landgut Bridigaggio bei Mailand. Nächstes Wochenende. Auf ihre Kosten fliege ich hin und zurück. Begreifst du?« Harry brach in Gelächter aus. »Sie finanziert dir deine Geschäftsreise zu Gasthmi, wenn ich das richtig sehe. Damit du ihm den Diamanten verkaufen kannst, den du ihr geklaut hast. Das nenne ich großherzig.An deiner Stelle würde ich sie heiraten.« »Gute Idee.« »Du hättest ausgesorgt.« »Und du gleich mit, wie? Weil du mich ein bisschen er446
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pressen könntest. So nach der Art: Gib Geld – oder ich sage deiner Frau, dass du sie damals beklaut hast.« Harry legte beide Hände aufs Herz. »Das traust du mir doch nicht zu.« »Doch. Aber das sind ungelegte Eier. Jetzt muss ich Gasthmi die frohe Botschaft übermitteln – und wie sehr ich mich darauf freue, ihn persönlich zu treffen.« Nachdem er sich mit einem Englisch radebrechenden Wüstensohn auseinandergesetzt hatte, wurde er mit Anis Gasthmi verbunden. »Hallo, sind Sie’s, Merpe?«, fragte der Araber auf Deutsch. »Ja, bin ich.« Friedhelm staunte. »Haben Sie inzwischen meine Muttersprache gelernt?« »Ich spreche sechs Fremdsprachen«, erklärte Gasthmi bescheiden. »Wir hätten uns auch das erste Mal auf Deutsch unterhalten können. Haben Sie den Saturn-Diamanten?« »Natürlich. Wie versprochen. Auf mich ist Verlass. Friedhelm Merpe macht selbst das Unmögliche möglich. Der Stein übertrifft alles. Wie viel ist er Ihnen wert?« »Fordern Sie!.« »500000 Euro.« »In Ordnung«, sagte Gasthmi. Was?, dachte Friedhelm. Der feilscht nicht? Was die Orientalen doch alle tun. Ich Esel! Eine Million hätte ich verlangen sollen. »Zuzüglich meiner Spesen«, sagte er rasch. »Hin- und Rückflug nach Mailand. Kost und Logis.« »Einverstanden.« Gasthmi schien sich zu amüsieren. »Wann darf ich Sie erwarten?« »Nächstes Wochenende.« »Gut. Allerdings werde ich dann nicht in Mailand sein. Sie müssten eine zweistündige Autofahrt auf sich nehmen und… Nein, es ist wohl besser, wenn ich Ihnen einen Wagen schicke, Sie also abholen lasse.« 447
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»Hm. Ja.« »Sie müssten mir mitteilen, wohin mein Chauffeur kommen soll.« »Mache ich. Sobald ich gelandet bin, rufe ich Sie an. Im Moment weiß ich noch nicht, wo ich absteigen werde.« »Dann notieren Sie sich bitte die andere Rufnummer«, sagte Gasthmi. Er wiederholte sie zwei Mal. »Und wo ist das?«, fragte Friedhelm. »Sie haben sicherlich schon vom Tal der Grünen Hölle gehört?« »Nein. Klingt ja wie südamerikanischer Urwald.« »Liegt aber im Herzen Europas«, erklärte der Araber, »nämlich ca. zwei Autostunden – wie gesagt – von Mailand entfernt. Es handelt sich um ein ehemals liebliches Tal, das nur einen Zugang besitzt. Hohe Berge schirmen es vom Rest der Welt ab. Ähnlich wie die oberitalienischen Seen besitzt das Tal ausgeprägtes Mittelmeerklima. Deshalb die üppige Vegetation (Pflanzenbestand). Grünes Paradies – der Name wäre angemessen.« »Und weshalb heißt es Grüne Hölle?« Friedhelm unterdrückte ein Gähnen. »Wegen der Gräueltaten. Das Tal ist sehr groß, war aber nie besiedelt. Lediglich Mönche hatten dort ein imponierendes Kloster erbaut. Mit Namen Ramazzoni. Während des Zweiten Weltkrieges war es Zufluchtsstätte politisch Verfolgter. Eine geheime Zuflucht natürlich. Aber die Machthaber erfuhren davon. Und so kam es – 1943, glaube ich – zu einem fürchterlichen Gemetzel. An die 100 Menschen wurden von politischen Fanatikern umgebracht. Seitdem nistet der Aberglaube in der Bevölkerung der Gegend. Die Geister der Toten würden jeden vernichten, heißt es, der sich in dem Tal ansiedelt. Und es erhielt den Namen Grüne Hölle. Das Kloster wurde aufgegeben. Es verfiel. Aber dem gebieten meine Freunde und ich Einhalt.« 448
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»Ah.« »Wir haben das Klostergelände gekauft. Und die umliegenden Ländereien. Die Abgeschiedenheit kommt uns sehr zustatten. Sicherlich wissen Sie, dass auch wir politische Verfolgung erdulden.« »Ich denke, dieser – wie heißt er – Salimeh, der King in Ihrem Heimatland… der hätte darauf verzichtet, Sie und die anderen El-Hamid-Anhänger zu verfolgen?« »Das behauptet er. Damit ihn die Welt für edelmütig hält. In Wahrheit ist er durchtrieben und rachsüchtig. Wir – meine Freunde und ich – müssen uns eine Bastion (Bollwerk) schaffen. Das Tal der Grünen Hölle mit dem Kloster Ramazzoni eignet sich hervorragend.« »Aberglaube kränkelt Sie und Ihre Freunde nicht an?« Gasthmi lachte. »Wir sind doch nicht wie diese Berghirten hier, sondern fortschrittliche, zivilisierte Kulturmenschen des 21. Jahrhunderts.« …und Auftraggeber für Juwelenraub, ergänzte Friedhelm im Stillen. Dann fiel ihm ein, dass dieses Ferngespräch auf seine Rechnung ging, und er verabschiedete sich überhastet.
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19. Fuchsbarts Beobachtung, Tage vergingen. Die TKKG-Bande erlebte ein Wechselbad der Gefühle. Einerseits war da die Vorfreude auf die Reise. Andererseits kamen die vier Freunde mit ihren Ermittlungen keinen Schritt voran. Sie hatten niemandem was gesagt, auch Elisa und deren Mutter nicht. Aber Nachmittag für Nachmittag durchstöberten sie alle pennerverdächtigen Gegenden der Stadt. Es gab erstaunlich viele Stadtstreicher,Vagabunden, Nichtsesshafte. Doch der mit dem fuchsroten Vollbart war nicht dabei. Wen sie auch fragten – nur Achselzucken war die Antwort. Oder offenkundiges Misstrauen. »Allmählich zweifle ich an meinen Wahrnehmungen«, meinte Tim. »Vielleicht gibt es ihn gar nicht, den Typ mit dem fuchsroten Bart.« »Wer weiß, ob der oder seine Kumpane wirklich was beobachtet haben«, tröstete Gaby. »Könnte doch sein, wir jagen einem Phantom nach, weil der Ansatz unserer Überlegung nicht stimmt.« »Jedenfalls ist es keine Blamage«, stellte Karl fest. »Die Polizei hat bis heute auch nichts erreicht.« Heute – das war bereits der Freitag. Nur noch Stunden bis zum Abflug. Das Gepäck fürs lange Wochenende war gepackt. Elisa hatte sich schon nach der dritten Stunde verabschiedet. Nachher, frühnachmittags, wollten sich alle in der Abflughalle treffen – vor dem Abfertigungsschalter ihrer Fluggesellschaft. Leider würde auch Friedhelm Merpe dabei sein. Aber so sei’s nun mal im Leben, hatte Karl philosophiert. Man könne sich nicht alles aussuchen, sondern müsse auch mit den Schicksalsschlägen leben. 450
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14.04 Uhr. Tim und Klößchen hatten sich reisefertig eingepellt. Tim trug seinen Seesack, den kleineren, Klößchen einen Wochenendkoffer. Sie benutzten den Zubringerbus. Ein sonniger Herbsttag breitete sich über die Stadt. Am Flughafen herrschte der übliche Betrieb. Sie entstiegen dem Bus, strahlten erwartungsvoll und stiefelten die überdachte Strecke zur Abflughalle entlang. »Natürlich sind wir die Letzten«, sagte Klößchen, »aber immer noch rechtzeitig. Die Jaburgs, Pfote und Karl stehen bestimmt schon am Schalter.Ach so, und der Schleimi auch.« Tim nickte, verlangsamte den Schritt und sah zu dem Kiosk hinüber. Gab’s da Streit? Tatsächlich! Ein verlotterter Kerl hatte offenbar lange Finger gemacht, wollte abhauen, wurde aber festgehalten. Mein… Hamster bohnert!, schoss es Tim durch den Kopf. Ohne sich um Klößchen zu kümmern, rannte er los. »…dir werde ich’s zeigen, Mistkerl!«, tobte ein kräftiger Mensch, dem offenbar der Kiosk gehörte. »Einfach ’ne Bierflasche klauen – und ab, wie? Aber nicht bei mir. Ich hole die Polizei.« »Hahaha, Theoderich!«, rief Tim und stoppte neben den beiden. »Großartig! Wenn man bedenkt, dass es dein erster Versuch war. Aber jetzt musst du die Sache erklären, Theoderich! Sonst hält man dich am Ende für einen Dieb.« Indem er grinsend die Zähne fletschte, wandte er sich an den KioskBoss. »Es geht um eine Versuchsreihe, Meister. Wir stellen fest, wie sich Kiosk-Pächter verhalten, wenn sie von einem vermeintlichen Penner bestohlen werden. War sehr interessant. Selbstverständlich ist Theoderich Klempf kein Penner, sondern Versuchsreihen-Assistent.« Immer noch lächelnd überreichte er dem verblüfften KioskBoss einen Fünf-Euro-Schein. »Für das Bier. Das trinken wir 451
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auf Ihr Wohl. Besten Dank und auf Wiedersehen. Komm, Theoderich!« Er fasste den Bierdieb am Arm und zog ihn mit sich fort. Kopfschüttelnd sah ihnen der Kiosk-Boss nach. So ganz glaubte er die Sache nicht.Aber was ging ihn das an? Er hatte fünf Euro. Außer Hörweite blieb »Theoderich« stehen. »Häh, Mann! Schickt dich mein Schutzengel? Wie finde ich denn das? Paukst mich da raus, Kumpel, machst Geld locker und spendierst mir lichtigen Pechnickel (helles Bier; Gaunerjargon). Weshalb?« »Weil mir dein fuchsroter Bart so gefällt«, sagte Tim. »Was? Biste Frisör?« »War nur ein Scherz. Ich habe dir einen Gefallen getan. Jetzt bist du an der Reihe. Entsinnst du dich an den vergangenen Freitag? Mit zwei Kollegen hast du abends in der kleinen Grünanlage gesessen – an der Friedensburger Allee: gegenüber dem neuen Hochhaus, wo im sechsten Stock die Party war. Stimmt’s?« »Na und? Wir haben nichts geklaut.« »Behauptet ja niemand. Ich will nur wissen, ob dir oder deinen Kumpels etwas ganz Bestimmtes aufgefallen ist. Es könnte nämlich sein, dass jemand einen kleinen Gegenstand vom Balkon der sechsten Etage hinuntergeworfen hat – zur Straße.« »Hähähä«, unterbrach ihn der Penner. »Der Sonnengott hat dir wohl deinen Kaugummi weggenommen, wie?« »Was?« »Nur das haben wir gesehen. Sonst war nichts. Da stand wirklich dieser Typ auf dem Balkon. Und hat was runtergeworfen: sssssssss – klatsch! Aufs Autodach. Gibt’s doch nicht, dachte ich – und bin rübergesockt, um das zu beäugen. Denn gescheppert hat’s nicht, sondern nur ein bisschen geschmatzt – beim Aufprall. Tja, und da war’s ein dicker, fetter Kaugummi, 452
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der auf dem Autodach klebte. So ein Brocken! Habe ihn natürlich nicht angerührt. Niemals einen Kaugummi, der schon benutzt ist, sage ich immer. Man hat ja schließlich Niveau.« Kaugummi!, dachte Tim. Der garantiert weiche Landung. Das ist die Lösung. Wie einfach! Wie genial! »War’s dein Kaugummi?«, fragte der Fuchsbart. »Erraten. Ein ganzes Päckchen hat man mir während der Party geklaut. Wenn ich nur wüsste, wer’s war.« »Wir haben ihn Sonnengott getauft. Weil er goldgelb war. Er hat richtig geglitzert. Ich sah ihn auch, als er ins Haus ging. Aber da war’s eben nur ’ne goldene Jacke, die er anhatte.Wie er dann oben auf dem Balkon stand – wir dachten: Gleich schwebt der Sonnengott über die Stadt.« Nein!, dachte Tim. So weit, dass ich Fuchsbart umarme – so weit gehe ich nicht. Man hat ja schließlich Niveau. Er hatte noch ein paar Münzen im Portmonee. Die schenkte er dem Penner. Dann ging er zu Klößchen, der ungeduldig an der Eingangstür auf und ab tigerte. »Unsere Leute warten«, maulte er, »und du gibst dich mit diesem Gesindel ab.« »Willi!«, stöhnte Tim. »Hast du nicht gesehen, wer das war?«
* Der Flug verlief ruhig. Bei strahlendem Herbstwetter landete die Maschine auf dem Mailänder Flughafen. Es war viel wärmer hier als nördlich der Alpen. Aber für den blauen Himmel und die herbstbunten Bäume hatte Tim keinen Blick. Mit Friedhelm Merpe, der sich herausgeputzt hatte, war es bisher zu keinem Zank gekommen. Elisa und die TKKG-Bande übersahen ihn einfach, ohne 453
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aber daraus eine Schau zu machen. Denn das hätte Stefanie gekränkt. Was Sache war, hatte Klößchen als Erster erfahren. Dann – als sie darauf warteten, dass ihr Flug aufgerufen wurde – hatte Tim auch Gaby und Karl in einem günstigen Moment beiseitegenommen. Jetzt wussten also seine Freunde Bescheid – und trugen schwer an der Erkenntnis. Wie immer stimmten alle darin überein, wie es weitergehen sollte. »Fuchsbarts Beobachtung«, hatte Tim geschlussfolgert, »berechtigt zu schärfstem Verdacht gegen Merpe. Aber es ist kein Beweis. Er kann Kaugummis vom Balkon werfen – so viel er will.Wer sagt, dass der SD dabei war? Also müssen wir Merpe auf frischer Tat erwischen. Denn ich glaube, er will den SD in Mailand verkaufen. Wahrscheinlich sitzt dort der geeignete Hehler. Und Merpe war ja – wie wir von Stefanie wissen – hell begeistert, als sie ihn einlud. Sollte ich mich irren – und er den SD nicht mehr besitzen, dann ist sowieso alles verloren. Doch das würde mich wundern.« Zwei Landrover erwarteten die Reisegesellschaft. Fahrzeuge und Fahrer gehörten zum Landgut Bridigaggio. Die TKKG-Bande und Elisa quetschten sich in einen der Fünfsitzer – zu Alfredo, einem freundlichen Typ aus Bergamo. Er sprach ein bisschen Englisch. Für die Verständigung reichte es. Eine endlose Fahrt. Erst durch eine industriereiche Gegend, dann durch grünes Hinterland. Gaby zählte die Pinien, von denen die Landstraße gesäumt wurde. Karl zählte die Zypressen. Klößchen stärkte sich mit Schokolade. Tim beobachtete den vorausfahrenden Wagen, in dem – außer dem Fahrer – Stefanie und Merpe saßen. Sie erreichten Bridigaggio, das prächtige Landgut. Im Nor454
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den erhoben sich die Berge. Auf den Feldern ringsum gediehen die Rebstöcke. Von Elisa wusste die TKKG-Bande, das auf dem Gut ein berühmter Wein gekeltert und abgefüllt wurde. Das Gutshaus war ein lang gestrecktes Gebäude, hufeisenförmig angeordnet, ockergelb, mit grünen Fensterläden. Der Gutsverwalter, die Haushälterin, die Köchin, zwei Mädchen, der Weinküfermeister und seine beiden Kellereigehilfen – alle waren angetreten, um Stefanie zu begrüßen. Dabei wurde nur italienisch gesprochen und die TKKGBande verstand kein Wort.Aber Stefanies Gesten war zu entnehmen, dass sie dem Personal die Gäste ans Herz legte. Elisa zeigte ihren Freunden die Zimmer. Gaby schlief bei ihr. Die Jungs wollten in einem der größeren Gästezimmer zusammenbleiben. »Solange Merpe hier rumhockt«, sagte Tim, während er seinen Seesack auspackte, »haben wir ihn unter Kontrolle. Schwierig wird es erst, wenn er sich unter irgendeinem Vorwand nach Mailand absetzt. Dann müssen wir ihn verfolgen.« »Wenn er sich einen der Landrover ausleiht«, meinte Karl, »sind wir angeschmiert.« »Wahrscheinlich müssen wir Elisa einweihen«, nickte Tim. »Sie ist hier die Junior-Chefin. Ihr Wort gilt. Wenn sie dem Alfredo sagt, dass er uns nach Mailand – oder sonst wohin – fahren soll, geschieht das. Eine andere Möglichkeit wäre, Merpes Zimmer und sein Gepäck zu durchsuchen. Wenn er den SD bei sich hat, muss er ihn irgendwo versteckt haben.« Es klopfte. Die Mädchen standen draußen. »Wenn ihr wollt«, meinte Elisa, »führe ich euch rum, zeige euch die romantischen Winkel, die Ställe – in denen aber leider kein Vieh steht –, unsere Bienenhäuser und den Weinkeller. Dazu reicht die Zeit noch – vor dem Abendessen. Da werden wir zu acht sein. Mutti hat irgendwen eingeladen. Macht sie immer, wenn wir hier sind. Kein Abendessen ohne 455
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irgendwelche Typen aus Monza, Novara, Brianza, Merate oder Lecco. Die Wenigsten sind Italiener, sondern sonst woher. Mich nerven sie alle. Aber unser Landgut gefällt euch doch. Oder?« »Fantastisch«, nickte Karl. »Also auf zur Besichtigung«, sagte Tim – und sah seine Zimmergenossen bedeutungsvoll an. »Mit der anderen Sache warten wir noch.« »Womit?«, fragte Gaby. »Wir dachten an einen Ausflug nach Mailand. Falls«, setzte er hinzu, »das nötig sein sollte.«
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20. Überraschung beim Abendessen Der Speisesaal von Bridigaggio war über 300 Jahre alt – das Gebäude selbstverständlich auch. Aber nur im Speisesaal hatte sich die herrliche Wandmalerei aus dem 17. Jahrhundert erhalten. Die TKKG-Bande staunte. Karl bewies wieder mal, wie bewandert er in Kunstgeschichte war, und hielt einen Vortrag. Kaum dass er geendet hatte, erschien Merpe in schnieker Aufmachung. Dass er bei der Jugend nicht ankam, wusste er inzwischen. Dem begegnete er mit verächtlichen Blicken. Im Übrigen benahm er sich, als wäre er nicht Gast, sondern Hausherr. Auf der langen Tafel lagen acht Gedecke. Tim hörte, wie auf dem Hof ein Wagen vorfuhr. Er trat zum Fenster. Es war noch hell, der Himmel apfelgrün mit einem orangefarbenen Strich im Westen. Vor dem Portal hielt ein silbergrauer Rolls Royce. Den Chauffeur konnte Tim nicht erkennen. Aber aus dem Fond stieg jetzt ein großer Kerl in weißem Anzug. Er war braunhäutig, besaß eine gewaltige Hakennase und schwarzes Kraushaar. Ein Skandinavier, dachte Tim, ist das nicht. Wo der herkommt, da brennt die Sonne auf Wüstensand. Stefanie empfing ihn am Eingang. Sie trug ein silbriges Kleid und der Stoff schien zu fließen. Beide kamen herein. »Ach, der«, flüsterte Elisa. »Auch so einer, den ich nicht mag.« »Darf ich vorstellen«, rief Stefanie mit hektischer Fröhlichkeit, »ein lieber Freund des Hauses wird mit uns speisen: Herr Anis Gasthmi.« »Was?«, brüllte Friedhelm Merpe. 457
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Stille. Alle starrten ihn an. Was ist denn in den gefahren?, dachte Tim. Steht jetzt da wie ein begossener Pudel. Offensichtlich hat ihn der Schreck getroffen. Weshalb? »Ent…schuldigung«, stotterte Merpe. »Es… hat mich überrascht. Ich… äh…«, er streckte Gasthmi die Hand hin, »bin Friedhelm Merpe.Telefonisch kennen wir uns nämlich«, erklärte er, indem er sich Stefanie zuwandte. »Wir sind sozusagen Geschäftsfreunde. Import, Export. Weißt ja, Stefanie, dass ich Geschäfte mache. Geschäfte aller Art.« Gasthmi lächelte. Er hatte grobe Züge und kalte, glitzernde Augen. »Sie habe ich hier nicht erwartet, lieber Merpe. Das ist wirklich eine Überraschung. Stefanie, bei dir erlebt man doch immer was Neues. Da wir uns nun so zwanglos begegnen, lieber Merpe, erspart uns das die umständlichen Telefonate.Am besten, Sie besuchen mich gleich morgen – falls du gestattest, Stefanie. Aber es ist immer gut, wenn man die Geschäfte rasch erledigt. Einverstanden, Merpe? Stefanie? Gut, Merpe. Dann lasse ich Sie morgen Vormittag abholen. Mein Chauffeur wird Sie nach Ramazzoni bringen.« »Am liebsten käme ich mit«, lächelte Stefanie, »die Grüne Hölle wollte ich mir längst ansehen. Aber leider kann ich morgen nicht. Der Verwalter braucht mich für dringende Angelegenheiten.« »Sobald wir das Kloster umgebaut haben«, lächelte Gasthmi, »musst du mich besuchen. Auch das Tal wird gerodet. Zurzeit ist es wirklich eine Grüne Hölle.« Sein Blick glitt über den Nachwuchs. »Tag, Elisa. Du wirst immer hübscher.« »Tag, Herr Gasthmi«, sagte sie ohne Lächeln. Dann stellte Stefanie die TKKG-Bande vor, und Tim spürte sofort, dass der Araber ihn nicht mochte. Beruht auf Gegenseitigkeit, dachte er. Im Übrigen, Freund 458
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Gasthmi, hast du uns sehr geholfen. Jetzt haben wir Durchblick. Ihr beiden Geschäftsfreunde, ihr! Das Essen war vorzüglich. Die Jugend trank Traubenmost. Die drei Erwachsenen sprachen dem Wein zu. Gasthmi redete unablässig, aber es lohnte nicht hinzuhören. Er machte Text und konnte mit 1000 Worten nichts sagen. Seine Themen waren Luxusautos, Luxusjachten und luxuriöse Reiseziele. Mit keiner Silbe erwähnte er die politische Situation in seinem Land. Tim erinnerte sich. In den Zeitungsberichten über El Hamid, den Schrecklichen, war auch von Anis Gasthmi die Rede gewesen. Offenbar hatte er dem Aufrührer als Sekretär und rechte Hand gedient. Aber das war ja nun unabänderlich vorbei. »Wir albern hier rum«, sagte Elisa plötzlich, »dabei wurde Mutti vor einer Woche auf gemeinste Weise bestohlen. Stellen Sie sich vor, Herr Gasthmi: Den Saturn-Diamanten, den Sie so gern kaufen wollten, den hat jetzt der Dieb.« »Tatsächlich?« Für eine Sekunde glitt Gasthmis Blick zu Merpe. »Das tut mir aber leid! Wie ist denn das passiert?« Merpe hatte sich wieder über seinen Teller gebeugt und aß, als gäbe es nichts Wichtigeres. Stefanie berichtete. Gasthmi nickte zu jedem Wort. Seine Miene blieb undurchdringlich. »Du darfst den Mut nicht verlieren«, meinte er dann. »Bestimmt wird das aufgeklärt. Die deutsche Polizei gilt doch als ungemein tüchtig.« Worauf du dich verlassen kannst, du scheinheiliger Bursche!, dachte Tim. Du wolltest also den Diamanten bereits kaufen – bist aber abgeblitzt. Gut, das zu wissen! Passt alles herrlich zusammen. Jetzt gibt’s keine Zweifel mehr. Nach dem Essen zogen sich Stefanie, Merpe und der Araber in die so genannte Bibliothek zurück, wo zwar nur wenige 459
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Bücher standen, aber ein schwaches Feuer im großen Kamin knisterte. Einige der besten Weine des Landguts waren in Kristallkaraffen abgefüllt. Der Nachwuchs, den das überhaupt nicht interessierte, war entlassen. Jetzt müssen wir die Wahrheit aus der Kiste holen und Elisa einweihen, dachte Tim. »Freunde«, sagte er. »Ich bitte alle zum großen Palaver (Gerede). Wo sind wir ungestört? Gehen wir in euer Zimmer?«, wandte er sich an die Mädchen. »Oder zu uns?« »Bei uns ist tadellos aufgeräumt«, meinte Gaby. »Und das soll erst mal so bleiben. Da wird nicht rumgelümmelt. Bei euch kommt’s nicht darauf an.« »Hohoh!«, grinste Klößchen. »Um Chaos zu machen, hatten wir noch gar keine Zeit.« Im Zimmer der Jungs suchte sich jeder einen Platz. Tim spähte auf den Flur hinaus und schloss dann sorgfältig die Tür. Elisa wirkte gespannt – war sie doch die Einzige, die von nichts wusste. Während Tim berichtete, wurde sie bleich vor Entsetzen. »Das… das heißt also: Merpe ist der Dieb«, stotterte sie, »und Gasthmi hat ihn – vermutlich – dazu angestiftet.« »Das vermutlich kannst du vergessen«, erwiderte Tim. »Ich würde mein Rennrad darauf wetten, dass Merpe den SD hat und die beiden unter einer Decke stecken. Nur auf den Beweis kommt’s jetzt an. Hast ja gehört: Gasthmi lässt Merpe morgen abholen. Und im Kloster Ramazzoni werden sie das Geschäft abwickeln.Aber einiges seiner Rede ist für mich im Dunkeln geblieben. Was ist das, die Grüne Hölle? Und wieso wird das Tal gerodet?« »Darüber weiß hier jeder Bescheid.« Elisa erzählte. »Über Ramazzoni habe ich sogar ein Buch. Mit Bildern vom Kloster und einem Grundriss der Gebäude.« Karl pfiff durch die Zähne. Klößchen grunzte erstaunt. 460
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Gaby pustete gegen ihren Goldpony und riss dann die Augen auf. »Starkes Terrain – das Tal«, meinte Tim. »Sozusagen arabische Zone. Wie die sich absondern! Höchst verwunderlich. Vielleicht soll von dort aus der Islam (Religion; Lehre Mohammeds) seinen Siegeszug durch Europa antreten. Oder Gasthmi hortet dort Petrodollars (Geld der Erdöl fördernden Staaten), die er bei seiner Flucht mitgenommen hat. Vielleicht misstraut er den Banken. Sei’s drum.Wir wollen Merpe und den gescheiterten Revoluzzer des Diebstahls überführen, ’ne heiße Kiste, Elisa. Wir brauchen deine Hilfe.« Sie wurde noch blasser. »Was kann ich denn dabei tun?« »Ich habe folgenden Plan: Wir müssen morgen im Tal der Grünen Hölle sein, bevor Merpe antanzt. Dass du einen Grundriss der Klostergebäude hast, ist spitze. In diesen alten Gemäuern kann man sich zum Glück gut verstecken. Also werden wir uns einschleichen. Damit wir sehen, was da läuft. Liegt der Beweis erst mal vor, können wir die Polizei einschalten. Notfalls schweben die Carabinieri (italienische Polizisten) mit dem Hubschrauber ein – und Gasthmi trägt Handschellen, bevor er den Diamanten verstecken kann. Den Merpe werden wir hier überwältigen.« »Aber… ist das nicht viel zu gefährlich?« Allein bei dem Gedanken schien Elisa zu schaudern. »So was machen wir mit links«, prahlte Klößchen. »Lebensgefährliche Unternehmungen sind für uns grauer Alltag. Ich dachte, das hätte sich rumgesprochen.« »Gib nicht so an!«, meinte Gaby. »Auch TKKG kocht nur mit Wasser.« »Wie ich herausgehört habe«, nahm Tim den Faden wieder auf, »ist es ziemlich weit bis zur Grünen Hölle, jedenfalls zu weit für einen Fußmarsch. Richtig, Elisa? Gut. Deshalb musst du uns helfen – wie gesagt. Deine Mutter wird nichts dagegen haben, wenn du Alfredo anweist, uns mit einem der Landro461
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ver nach… also, möglichst dicht an den Taleingang heranzufahren. Angeblich machen wir eine Wanderung. Du und Gaby – ihr könnt euch ein Dorf ansehen. Und im Gasthaus auf uns warten. Karl, Willi und ich – wir pirschen durch die Grüne Hölle zum Kloster und legen uns dort auf die Lauer. Abends kann uns Alfredo wieder einsammeln. Gebongt?« Elisa nickte. Gaby meldete sich zu Wort. »Aber ich komme mit.« Tim schüttelte den Kopf. »Zu gefährlich.« »Überhaupt nicht. Falls ihr entdeckt werdet, bin ich euch nützlich. Ein Mädchen in der Gruppe – gleich sieht die Sache viel harmloser aus. Zumal wir’s mit Arabern zu tun haben, die ja von Gleichberechtigung nicht viel halten. Dass ein Mädchen bei so einem Unternehmen mitmachen könnte, geht denen nicht ins Gehirn. Wie ist es mit dir, Elisa?« Sie darf auf keinen Fall mitkommen, dachte Tim. Aber Elisa ersparte ihm den Protest. »Seid mir nicht böse«, meinte sie. »Aber das würde ich nicht schaffen. Kühnheit liegt mir nicht.Außerdem – fällt mir ein – muss ich morgen zum Zahnarzt. Mutti hat mich vorsorglich angemeldet. Die Lücke hier vorn soll endlich gefüllt werden. Jedenfalls werde ich Alfredo sagen, dass er euch bis Torbulunza fährt, einem Dorf. Gleich dahinter ist der Taleingang. Meine Wanderkarte gebe ich euch mit. Und – wenn ihr ihn gebrauchen könnt – auch den Grundriss vom Kloster.«
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21. In der Grünen Hölle Tim rechnete damit, dass Stefanie sich ausschlafen würde. Um eventuellen Fragen aus dem Weg zu gehen, bestand er auf frühzeitigen Aufbruch. Die Morgensonne goss ihr Licht über die Südhänge der Alpen, als Alfredo die TKKG-Bande nach Torbulunza brachte. Der Landrover schaukelte über einsame Straßen. Es ging an Dörfern vorbei. Sie näherten sich den Bergen. Nur Gaby hatte sich von Elisa, ihrer Zimmergenossin, verabschiedet. Das Frühstück war ausgefallen – sieht man ab von den vier Tässchen Espresso, die Gaby in der Küche bereitet hatte. Klößchen labte sich an Schokolade – und sprang über seinen eigenen Schatten, bot nämlich allen an.Aber nur Alfredo griff zu. Tim musterte seine Freunde. Gaby und Karl waren aufgeregt. Klößchen schlief noch halb. Er selbst machte sich Sorgen. Dass Gaby auf ihrer Teilnahme bestand, war nicht in seinem Sinn. Nach einstündiger Fahrt erreichten sie Torbulunza. Das Dorf lag am Fuß steil aufragender Felsen, eine unbedeutende Ansammlung von zwei Dutzend Häusern.Aus einigen Schornsteinen quoll Rauch. Alfredo hielt bei der Kirche. Englisch radebrechend, erklärte er ihnen die Route zu einem bekannten See. Offenbar hatte Elisa ihm weisgemacht, dies sei das Ziel der Wanderung. »Und hier an der Kirche«, sagte Tim, »treffen wir uns wieder – um Punkt 17 Uhr.« Sie sahen dem Landrover nach, bis er hinter der Kurve verschwand. »Jetzt sind wir auf uns selbst gestellt«, meinte Karl. »Unser Vorteil ist der zeitliche Vorsprung. Wo geht’s lang?« Tim hatte die Wanderkarte studiert. Vorläufig brauchte er sie nicht zu Hilfe zu nehmen. 463
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Sie folgten einer Schotterstraße, die sich bergan schlängelte. Die Luft war klar, aber kühl. Näher rückten die Felsen. Nach knapp 20 Minuten erreichten sie den Zugang zum Tal. Tim, der voranging, blieb stehen. »Seht euch das an! Nur ein Spalt. Rechts und links hohe Felsen – mindestens 100 Meter. Steil, steil! Und nur die Straße passt durch. Wenn Gasthmi hier ein Gittertor anbringt, ist die Grüne Hölle dicht.« »Fällt euch das auf«, fragte Karl: »Hier ist es wärmer als unten. Fast ein Mittelmeerklima. Da wächst alles besonders üppig und grün.« »Sehen wir’s uns an«, meinte Tim und stiefelte los. Die Felswände, von denen die Straße begrenzt wurde, standen sich nicht gegenüber, sondern gestaffelt: also talwärts verschoben. Das verstellte die Sicht. Außerdem musste sich die Straße als Kurve um den vorderen Felsen biegen. Hinter der Kurve parkte ein Jeep am Straßenrand. Tim sprang hinter die Felsenkante zurück. »Vorsicht!«, zischte er seinen Freunden zu. »Ein Posten.« Spähend schob er den Kopf vor. Ein Araber kletterte gerade aus dem Jeep. Er trug einen hellen Burnus, landesübliche Kopfbedeckung und hatte sich eine Maschinenpistole um den Hals gehängt. Eiligst zwängte er sich hinter dem Jeep in die Büsche. Aber die MP behinderte ihn. Achtlos ließ er sie fallen, während er mit der anderen Hand die Schnur löste, die den Burnus zusammenhielt. Den treibt ein Bedürfnis, dachte Tim. Anhand der wippenden Zweigspitzen verfolgte er den Weg des Wachtpostens. Die Büsche wuchsen sehr dicht beieinander. Der Herbst hatte ihnen noch die Blätter gelassen. Tim konnte den Araber nicht sehen. Ebenso wenig hatte der die Straße im Auge. »Er muss mal«, flüsterte Tim seinen Freunden zu. »Ist 464
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rechts in den Büschen. Unsere Chance! Schnell vorbei. Aber leise!« Geduckt rannte er los. Seine Freunde folgten ihm.Alle trugen Turnschuhe. Das dämpfte die Tritte zur Lautlosigkeit. Während sie am Jeep vorbeirannten, beobachtete Tim die Büsche.Aber der Posten ließ sich Zeit. Seine MP lag im Gras. Offenbar hielt er’s für ausgeschlossen, dass er das Tal gegen Eindringlinge verteidigen musste. Rechts und links der Straße herrschte undurchdringliche Wildnis. Was der Landstrich an Pflanzen hervorbrachte, schien hier zu gedeihen. Und seit Jahrzehnten hatte sich keines Menschen Hand eingemischt. Die nächste Kurve war nahe. Die TKKG-Bande brachte sie hinter sich. Damit war sie dem Blick des Arabers endgültig entzogen. Sie hielten inne. »Drin sind wir«, meinte Tim. »Irgendwie kommen wir nachher auch wieder raus. Mich wundert dieser Aufwand. Hat Gasthmi solche Angst vor eventueller Verfolgung? Dass Salimehs Leute hinter ihm her sind?« »Nicht unbedingt«, sagte Karl. »Dieses Schutzbedürfnis vor tatsächlichen oder eingebildeten Feinden gehört zum arabischen Wesen. Alle politisch Belasteten aus Nahost sind umgeben von Leibwächtern.« Gaby betrachtete die dschungelartige Vegetation. »Jetzt begreife ich, warum das Tal Grüne Hölle heißt! Wer hier querbeet will, braucht ein Buschmesser. Oder noch besser eine Straßenwalze. Müssen wir auf der Straße bleiben?« Es war der einzige begehbare Weg. Die Bezeichnung Straße war allerdings schmeichelhaft. Es handelte sich um eine ausgewaschene Schotterpiste ohne feste Begrenzung an den Seiten. Tim ging voran. Er hielt die Augen offen und spitzte die Ohren. Sie mussten damit rechnen, dass ihnen Fahrzeuge ent465
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gegenkamen. Dann hing alles davon ab, sich rechtzeitig in die Büsche zu verkrümeln. Die Sonne stieg. Seit fast einer Stunde marschierten sie bereits. Tim schätzte, dass sie höchstens fünf Kilometer zurückgelegt hatten. Mehr nicht. Klößchens Schleichschritt bremste. Das Bild der Landschaft blieb unverändert: ein Urwald, den seit Jahrhunderten nichts verändert hatte. Umgestürzte Bäume vermoderten.Wo Nadel- und Laubbäume eine Lücke ausgespart hatten, waren Sträucher und Gestrüpp in die Höhe geschossen. Gaby hörte den Wagen zuerst. Hinter einem Wacholderstrauch pressten sich alle zu Boden. Langsam glitt der silbergraue Rolls Royce vorbei – jener Protzschlitten, mit dem Gasthmi gestern Abend gekommen war. Nur der Chauffeur saß drin. Ein Burnus-Träger mit fast schwarzem Gesicht. »Der soll Merpe abholen«, sagte Tim, als der Wagen vorbei war. Zwei Minuten später stießen sie auf das Kloster Ramazzoni. Sie duckten sich hinter brusthohem Gestrüpp und spähten hinüber. Der Vorplatz war kahl geholzt. Drei Jeeps parkten dort, ein zweiter Rolls Royce, ein sechstüriger Mercedes und ein kupferroter Cadillac. Wie Tim wusste, umfasste das Kloster eine fußballfeldgroße Grundfläche. Als die Mönche vor Zeiten den Bau begannen, hatten sie die Ewigkeit mit einbezogen. Von außen sah jedenfalls alles nach Bestzustand aus. Kein Stein war aus der Mauer gefallen. Schmucke Türme wiesen in den Herbsthimmel. Tim hatte den Grundriss des Klosters im Kopf, wusste genau, wo sich was befand: Kirche, Kreuzgang, Kapitelsaal, Badehaus, Hospital, Schweinestall, Werkstatt, Dormitorium 466
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(Schlafsaal). Ein Drittel des Geländes war Klostergarten. Die übermannshohe Mauer fasste alles ein. Zwei Araber – in Burnusse gehüllt und mit umgeschnallten Säbeln – machten sich an einem Jeep zu schaffen. Sonst war niemand zu sehen. »Bis jetzt«, flüsterte Tim, »ist alles gut gelaufen. Nun kommt’s darauf an. Schlage vor: Karl und ich pirschen zur Rückseite. Dort gibt es mehrere Pforten, die in den Klostergarten führen. Glaube nicht, dass die bewacht sind. Und der Klostergarten sieht sicherlich ähnlich aus wie hier der Urwald. Wir erkunden die Örtlichkeiten. Irgendwo dort wird Gasthmi seinen lieben Merpe empfangen.« »So viel Glück, wie wir jetzt brauchen, gibt’s gar nicht«, meinte Karl. »Wieso?« »Glaubst du wirklich, dass wir die beiden beobachten können?« »Sieh dir den Palast an! Da warten 1000 Verstecke auf uns. Ich wette, es gibt keinen Raum, in den wir nicht reinluchsen können. Soll ich lieber allein gehen?« »Unsinn!« Sie brauchten eine Viertelstunde bis zur Rückseite des Klosters: immer am Waldrand entlang, im Schutz von Büschen und Sträuchern. Niemand begegnete ihnen. Kein Geräusch außer dem Säuseln des Windes und den Vogelstimmen im Wald. Auf der Rückseite verlief die umfriedende Mauer nicht gerade, sondern im Bogen. Von den drei Pforten waren zwei vermauert. Eine massige Holztür verschloss die dritte. Tim stieg auf die Klinke und blickte hinüber. Wie erwartet: Der Klostergarten war in die Höhe geschossen. Eine Buschlandschaft, in der ein paar Pfade verliefen. Von den Gebäuden zu beiden Seiten und im vorderen Abschnitt sah er nur die Dächer. 467
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Die Tür war sehr hoch. Selbst jetzt, da er auf der Klinke stand, reichte sie ihm bis zum Kinn. Karl, der sich turnerisch schwertat, würde Hilfe brauchen. Tim sprang hinunter. »Die Luft ist rein. Du gehst zuerst. Ich mach dir ’ne Räuberleiter als zweite Stufe.« Er hielt die gefalteten Hände in Kopfhöhe. Karl stieg auf die Klinke, dann auf Tims Hände und schwang sich hinüber. Einen Moment später landete Tim neben ihm. »Erst mal geradeaus, Karl, zur Kirche. Rechts davon liegen die Wirtschaftsgebäude. Wir müssen feststellen, welche Räume am wohnlichsten sind. Wo der Regen durchs Dach fällt, zieht Gasthmi bestimmt nicht ein.« Sie liefen einen Pfad entlang. Er war irgendwann gemäht worden, aber das Gras kniehoch nachgewachsen. Zweige berührten die Jungs von beiden Seiten. Nach 20 Schritten standen sie vor der kleinen Kirche: einem schlichten Bau aus grauem Stein, von außen völlig schmucklos. Links des Seitenschiffs befand sich ein Friedhof. Jedenfalls lagen dort umgestürzte Grabsteine und Steinkreuze. Noch weiter links reihten sich Gebäude aneinander. Zwischen ihnen und der Kirche reichte Tims Blick zu dem weit geöffneten Tor. Er sah den Vorplatz, die geparkten Fahrzeuge und die beiden säbelbewehrten Burnus-Träger. In diesem Moment geschah es.
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22. Flucht im Rolls Royce Klößchens Schrei zerriss die Stille des Tals. Tim erstarrte. Die Burnus-Träger schnellten herum und blickten über den Vorplatz zu den Büschen. Dort hopste Klößchen in die Höhe. Sein dicker Kopf schwebte über den Zweigen. Und er jaulte wie ein Schakal, der sich nachts mit dem Mond verständigt. Nein!, dachte Tim. Nein! Nein! »O Gott!«, kam Karls Stimme erstickt. Die beiden Araber überwanden ihre Schrecksekunde. Tim sah, wie sie ihre Säbel hervorrissen. Sie schwangen die blitzenden Klingen und rannten über den Platz. Klößchen war hinter den Busch getaucht, sein Geheul verstummt. Aber er und Gaby begriffen, welche Gefahr auf sie zukam. Tim sah, wie sie in den Wald hinein flohen, der hier nicht ganz so dicht war. Die Araber folgten ihnen. »Karl, sie brauchen Hilfe!« Tim spurtete los: an der Kirche vorbei, über die Grabsteine, zum Tor. Karl hinterher. Als er an der Sakristei (Kirchenanbau) vorbeilief, kam jemand von rechts um die Ecke. Tim konnte nicht mehr bremsen. Mit voller Wucht prallte er gegen den Mann. Der brüllte auf wie ein Wüstenlöwe, stürzte zu Boden und überkugelte sich zwei Mal. Benommen blieb er liegen, ein Araber. Er hatte die Kopfbedeckung verloren. Jetzt wälzte er sich herum. In kniender Haltung aufgerichtet, starrte er Tim an. Der erkannte ihn sofort. Der Typ hatte eng stehende Augen und pockennarbige Haut. 469
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Die Geierschnabel-Nase bog sich über die fleischige Oberlippe. Wut sträubte jetzt den Schnurrbart. Gebremst vom Anprall war Tim stehen geblieben. Fassungslos starrte er den Araber an. Auch Karl verharrte. »Spinne ich?«, keuchte er. »Das… ist doch El Hamid. El Hamid der Schreckliche.« Verstand der Kerl Deutsch? Oder nur den Klang seines Namens? Mit einem Wutschrei schnellte El Hamid auf die Füße. Aber er drang nicht auf Tim ein, sondern zog sich Schritt für Schritt zurück. Dabei brüllte er unablässig arabische Flüche. Oder rief er nach seinen Leibwächtern? »Karl, nichts wie weg!« Nur ein paar Sekunden hatte der Zwischenfall gedauert. Sie preschten durchs Tor. Jenseits des Vorplatzes, bei den Büschen, hatten die beiden Säbelschwinger Halt gemacht. Sie starrten in den Dschungel, wo niemand mehr zu sehen war. Das Geschrei ihres schrecklichen Gebieters war nicht bis hierher gedrungen. Der Größere der beiden verstaute seinen Krummsäbel in der Scheide. Der andere drehte sich um. Mit einem Sprungtritt wie aus dem Karate-Lehrbuch rammte Tim ihm den Fuß gegen die Brust. Der Mann ließ seine Hiebwaffe fallen und flog rücklings in die Büsche. Der andere erstarrte und glotzte. Sein massiger Kiefer sank auf die Brust. Die Jungs nutzten die Schrecksekunde, zischten vorbei, durchbrachen die Büsche, rannten unter die Bäume – und dann tiefer und tiefer in den Wald hinein. Tim sah sich um. Kein Verfolger. Karl presste die Hand auf die Seite und schnappte nach Luft. 470
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Tim formte einen Trichter mit den Händen. »Gaby! Willi! Wo seid ihr?« Sie antworteten aus der Nähe, hatten sich hinter einem moosüberzogenen Baumriesen versteckt. »Was, zum Henker, war los,Willi?«, fuhr Tim seinen Freund an. Wortlos zog Klößchen an der linken Wade die Jeans hoch. Eine eigroße Beule rötete sich dort – mit einem Einstich in der Mitte. »Diesmal muss ich ihn in Schutz nehmen«, haspelte Gaby. »Eine Hornisse hat ihn gestochen. So ein Riesenvieh. Ist ihm ganz unbemerkt ins Hosenbein gekrochen.« »Das ist nicht ungefährlich«, sagte Karl. »Wie fühlst du dich, Willi?« »Es tut noch weh. Aber mir geht’s gut. Schlimm ist nur, dass ich meine Schokolade verloren habe.« Tim blickte zurück. Kein Verfolger zeigte sich. Aber sie hörten, wie ein Jeep gestartet wurde. Der Wagen preschte die Straße entlang. »Unser Unglück ist perfekt«, sagte Tim. »Wir sitzen in der Falle. Und diese Kameltreiber dort werden alles daransetzen, um uns kaltzumachen. Das Schlimmste wisst ihr nämlich noch nicht«, wandte er sich an Gaby und Klößchen. »Im Kloster dort verbirgt sich El Hamid der Schreckliche. Ich bin gegen ihn geprallt. Der Kerl weiß, dass wir ihn erkannt haben. Was das bedeutet, ist klar: Wie ihr wisst, glaubt alle Welt, dass er tot sei. Logo! Den Flugzeugabsturz ins Mittelmeer hat er in Szene gesetzt, um seine Verfolger abzuschütteln. Einen Toten jagt man nicht. Damit wollte El Hamid den Kopf aus der Schlinge ziehen. Und bis jetzt ist ihm das gelungen. Aber nun… Für ihn steht alles auf dem Spiel. Auch für Gasthmi. Und für die Leibwächter. Wahrscheinlich ist Fatima, El Hamids Lieblingsfrau, auch hier. Könnte mir denken, dass Gasthmi den Saturn-Diamanten ihretwegen stehlen ließ. 471
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Denn Kohle haben die Wüstensöhne noch und nöcher. Und weshalb sie sich hierher, in diese menschenfeindliche Wildnis zurückziehen, leuchtet mir ein. Freunde, es sieht schlimm aus. Was Blöderes konnte uns nicht passieren. Aber ich bringe uns hier raus. So wahr ich neuerdings Tim heiße.« Bedrücktes Schweigen. Dann sagte Gaby: »Und wie? Über die Berge können wir nicht. Und der Posten am Taleingang ist jetzt bestimmt auf der Hut. Wenn uns die Araber noch tiefer in die Wildnis treiben, sind wir verloren.« »Keine Angst, Pfote!« Zärtlich legte er den Arm um sie. »Noch ist gar nichts verloren.« »Ich glaube, sie kommen«, stammelte Karl. »Dann los!« Tim ging voran. Geschickt wählte er den Weg. Sie mussten klettern, sich durch dorniges Gesträuch zwängen, manchmal auch kriechen. Aber sie schüttelten ihre Verfolger ab. Nach einiger Zeit näherten sie sich wieder der Straße. Der Jeep kam zurück. Die vier Freunde spähten durch die Zweige. Drei bis an die Zähne bewaffnete Araber saßen in dem offenen Fahrzeug. Der Jeep rollte langsam. Die Wüstensöhne spähten in die Büsche. Aber die TKKG-Bande hatte sich gut versteckt. »Wir sind jetzt etwa anderthalb Kilometer vom Kloster entfernt«, sagte Tim. »Das reicht. Und die Stelle hier ist günstig. Karl, du postierst dich dort vorn an der Kurve. Natürlich im Gebüsch, gut versteckt. Du beobachtest die Straße in Richtung Talausgang. Sobald der Rolls Royce auftaucht, machst du den Gänsegeier-Angriffsschrei. Ist ja egal, wie es klingt.Wir wissen, was los ist.Willi und ich rollen oder schleppen dann eiligst den verfaulten Baumstamm, der dort liegt, auf die Straße. Quer über die Straße. Alles andere überlasst mir. Aber seid bitte sprungbereit.« 472
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Niemand sagte was. Karl sockte ab. Sie sind enorm gestresst, dachte Tim. Kein Wunder. So halsgefährlich und lebensbedrohlich ist es nicht alle Tage. Die Morgenländer müssen uns auslöschen – im Interesse ihrer Sicherheit. Er streichelte Gaby über die Wange, aber in ihr Gesicht kam kein Lächeln. Dann – nach entnervendem Warten – stieß Karl einen Laut aus, den er für einen Gänsegeier-Angriffsschrei hielt. Es klang zwar mehr nach dem Morgengruß der Goldammer, aber Tim wusste Bescheid. Der Baumstamm, der faulige, lag griffbereit. Er wurde gerollt, geschoben, gezerrt und blockierte die Fahrbahn. Gerade noch rechtzeitig warfen Tim und Klößchen sich hinter die Büsche. Der Rolls Royce rollte heran und hielt. Tim sah das schwarze Gesicht des herkulischen Fahrers. Friedhelm Merpe saß im Fond. Neugierig beugte er sich vor. Der Fahrer stieg aus. Als er sich bückte, um das Hindernis beiseitezuräumen, tauchte Tim neben ihm auf. »Tut mir leid!«, meinte er – und schlug ihm den armdicken Ast ins Genick. Der Hüne stürzte zu Boden. Reglos blieb er liegen. Tim beugte sich in den Wagen. »Ich wette, Merpe, Sie haben einen Führerschein und können fahren wie ein Formel-l-Profi. Ans Lenkrad, aber schnell! Sie machen genau, was ich sage! Sonst schlage ich Sie zusammen, dass Sie in keine Goldjacke mehr passen.« Merpe starrte ihn an, wachsgelb im Gesicht. Sein Mund zuckte. Als Tim seinen Prügel hob, kletterte Merpe auf den Fahrersitz – schleunigst. Gaby, Karl und Klößchen stiegen hinten ein. 473
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Tim setzte sich neben Merpe. Der musste wenden, was nicht einfach war. Als sie zum Ausgang des Tals fuhren, begann sich der dunkelhäutige Fahrer zu regen. »Schneller!«, gebot Tim. »Wie viele Posten sind vorn?« »Zwei. Aber was soll das alles? Ich verstehe…« »Schnauze! Sie reden nur, wenn Sie gefragt sind.« Tim drehte sich um und spähte durch die Heckscheibe. Verfolger waren nicht zu sehen. Als sie sich dem Doppelposten näherten, sagte Tim: »Freunde, kauert euch auf den Boden! Vielleicht schießen die Affen. Sie, Merpe, fahren in mäßigem Tempo auf den Jeep zu. Wenn die beiden versuchen, uns anzuhalten, treten Sie voll aufs Gas! Kapiert?« Merpe nickte. Kalter Schweiß lief ihm übers Gesicht. Die beiden Posten lehnten am Jeep. Sie sahen dem Rolls Royce entgegen, wurden aber von der Sonne geblendet. Sie bemerkten nicht, dass ein anderer Fahrer am Lenkrad saß. Den Wagen kannten sie. Also bestand kein Grund, ihn aufzuhalten. Tim duckte sich unters Armaturenbrett. Erst als der Rolls bereits durch den felsigen Zugang rollte, erhob sich beim Jeep lautes Geschrei. Aber kein Schuss fiel. Und im nächsten Moment hatten sie das Tal hinter sich gelassen. »Nun volle Pulle nach Velozoproto – oder wie dieser leidlich große Ort heißt, an dem wir heute früh vorbeigekommen sind«, gebot Tim. »Zur Polizei! Verstanden?« »Ja, aber…« »›Kein Wort!‹, habe ich gesagt.« Wieder hob er drohend den Knüppel. Gleichzeitig griff er in Merpes ausgebeulte Jacketttasche und zog ein kleines Päckchen hervor: eine unscheinbare Schachtel – verschlossen mit Tesafilm. »Heh!«, schrie Merpe. 474
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Tim warf Karl das Päckchen zu und stieß Merpe den Knüppel in die Rippen. »Sie fahren – und sonst nichts! Wir raten inzwischen, was in dem Schächtelchen ist. Sicherlich etwas Hübsches, das Sie dem Herrn Gasthmi verkaufen wollen, wie? Ihr beiden Geschäftsfreunde! Verdächtig, Merpe, sind Sie uns schon lange. Aber jetzt, Merpe, haben wir den Beweis. Karl, sieh mal nach, ob der Funkelstein drin ist.« Tim behielt den Ganoven im Auge. Dem schien übel zu werden. »Ein schöner Diamant«, ließ sich Gaby vom Rücksitz her vernehmen. »Stefanie wird sich freuen.« Merpe kämpfte gegen Ohnmacht an. Mit letzter Kraft brachte er den Rolls Royce nach Velozoproto, wo er vor dem Polizeiposten hielt.
* Was im Weiteren geschah, war nicht mehr Sache der TKKGBande. Die Carabinieri besorgten das – zum Teil. Zum anderen Teil die deutsche Polizei, die Harry Zatofsky festnahm, Merpes Komplizen. Im Kloster Ramazzoni wurden festgenommen: Anis Gasthmi, El Hamid, dessen Frau Fatima und ein Dutzend Leibwächter. Dass sich El Hamid bester Gesundheit erfreute und seinen Tod nur vorgetäuscht hatte, war eine Sensation. Die Nachricht lief rund um die Welt. Und selbst an deren Ende und in fernsten Winkeln wurden die Namen der TKKGBande zur Kenntnis genommen – aber auch schnell wieder vergessen. Stefanie von Jaburg weinte vor Freude, als sie ihren Saturn-Diamanten wieder in der Hand hielt. Als die Polizei Merpes Haus durchsuchte, fand sie die Gegenstände, mit denen er sein Aussehen verändert hatte, als 475
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er Agathe Behlen entführte. Und so kam auch dieses Verbrechen ans Licht. Hinreißende Urlaubstage verlebte die TKKG-Bande bei Elisa und deren Mutter auf dem Landgut Bridigaggio. Doch Stefanie hatte einen Entschluss gefasst. Sie wollte sich trennen von dem Saturn-Diamanten. Der Aufregung, die er ihr bereitet hatte, fühlte sie sich nicht gewachsen. Dass er sie ständig daran erinnere, befürchtete sie. Deshalb erschien am Tag der Abreise ein bekannter Mailänder Juwelier, um den Super-Stein käuflich zu erwerben. Elisa und die TKKG-Bande sahen zu, wie er sich die Lupe ins Auge klemmte und den Saturn-Diamanten prüfte. Verblüfft hob er den Kopf. »Eine – das muss ich eingestehen – hervorragende Imitation, Signora«, erklärte er in gebrochenem Deutsch. »Wie bitte?« Stefanie ließ den Mund offen. »Eine Imitation. Ganz hervorragend gearbeitet. Der Laie kann sie sicherlich nicht von dem echten Stein unterscheiden. Trotzdem – nur eine Imitation.« Elisa begann zu kichern. Gaby, Tim, Karl und Klößchen stimmten schallendes Gelächter an. »Mutti!«, rief Elisa – und hielt sich die Rippen. »Du – und deine Schusseligkeit. Hast… hihihi… die beiden verwechselt. Und hast… hihihi… das bis heute nicht gemerkt. Dann liegt also der echte – ganz offen und sichtbar – zu Hause auf deinem Toilettentisch. Und die ganze… Aufregung war eigentlich umsonst.« ENDE
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Lösung:
Beppo Schnüffel Der Wachsklumpen verrät den diebischen Lehrling. Als Meisterdetektiv weiß Beppo, wie der Trick funktioniert. Plüngl hat während seiner Arbeit den Hausschlüssel vom alten Schloss in den Wachsklumpen gedrückt. Von der Form, die er dadurch erhält, fertigt er sich einen Nachschlüssel an, mit dem er – als Schnuck abwesend ist – ins alte Schloss eindringt. Er plant, auch beim Fabrikbesitzer zu stehlen. Deshalb hat er den Wachsklumpen bei sich.
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Stefan Wolf: Ein Fall für TKKG Die Jagd nach den Millionendieben Der blinde Hellseher Das leere Grab im Moor Das Paket mit dem Totenkopf Das Phantom auf dem Feuerstuhl Angst in der 9a Rätsel um die alte Villa Auf der Spur der Vogeljäger Abenteuer im Ferienlager Alarm im Zirkus Sarani Die Falschmünzer vom Mäuseweg Nachts, wenn der Feuerteufel kommt Die Bettelmönche aus Atlantis Der Schlangenmensch Ufos in Bad Finkenstein X7 antwortet nicht Die Doppelgängerin Hexenjagd in Lerchenbach Der Schatz in der Drachenhöhle Das Geheimnis der chinesischen Vase Die Rache des Bombenlegers In den Klauen des Tigers Kampf der Spione Gefährliche Diamanten Die Stunde der schwarzen Maske Das Geiseldrama Banditen im Palast-Hotel Verrat im Höllental Hundediebe kennen keine Gnade Die Mafia kommt zur Geisterstunde Entführung in der Mondscheingasse Die weiße Schmugglerjacht Gefangen in der Schreckenskammer Anschlag auf den Silberpfeil Um Mitternacht am schwarzen Fluss Unternehmen Grüne Hölle Hotel in Flammen Todesfracht im Jaguar Bestien in der Finsternis Bombe an Bord (Haie an Bord) Spion auf der Flucht Gangster auf der Gartenparty Überfall im Hafen Todesgruß vom Gelben Drachen Der Mörder aus dem Schauerwald
Jagt das rote Geisterauto! Der Teufel vom Waiga-See Im Schatten des Dämons Schwarze Pest aus Indien Sklaven für Wutawia/Gauner mit der »Goldenen Hand« Achtung: Die »Monsters« kommen! Wer hat Tims Mutter entführt? Stimme aus der Unterwelt Herr der Schlangeninsel Im Schattenreich des Dr. Mubase Lösegeld am Henkersberg Die Goldgräberbande Der erpresste Erpresser Heißer Draht nach Paradiso Ein Toter braucht Hilfe Weißes Gift im Nachtexpress Horrortrip im Luxusauto Spuk aus dem Jenseits Hilfe! Gaby in Gefahr! Dynamit im Kofferraum Freiheit für gequälte Tiere! Die Schatzsucher-Mafia schlägt zu Kampf um das Zauberschwert »Drachenauge« Der böse Geist vom Waisenhaus Feind aus der Vergangenheit Schmuggler reisen unerkannt Die Haie vom Lotus-Garten Hilflos in eisiger Nacht Opfer fliegen 1. Klasse Angst auf der Autobahn Mörderischer Stammbaum Im Wettbüro des Teufels Mörderspiel im Burghotel Das Phantom im Schokoladenmuseum Mit heißer Nadel Jagd auf Kids Die Sekte Satans Der Diamant im Bauch der Kobra Klassenfahrt zur Hexenburg Im Schloss der schlafenden Vampire Im Kaufhaus ist der Teufel los Frische Spur nach 70 Jahren Bei Anruf Angst Ein cooler Typ aus der Hölle
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Der Goldschatz, der vom Himmel fiel Der Mörder aus einer anderen Zeit Vergebliche Suche nach Gaby Im Schlauchboot durch die Unterwelt Die Gehilfen des Terrors Die gefährliche Zeugin verschwindet Stundenlohn für flotte Gangster Der Meisterdieb und seine Feinde Auf vier Pfoten zur Millionenbeute Verschleppt ins Tal Diabolo
Raubzug mit dem Bumerang Draculas Erben/Todesbiss der schwarzen Mamba Hinterhalt am Schwarzen Fels Nonstop in die Raketenfalle Hölle ohne Hintertür Tims gefährlichster Gegner Gekauftes Spiel Es geschah in einer Regennacht Das Geheimnis der Burgruine
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