Kôji Suzuki
Roman
Aus dem Amerikanischen von Bernhard Liesen und Katrin Marburger
Am nördlichen Rand eine...
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Kôji Suzuki
Roman
Aus dem Amerikanischen von Bernhard Liesen und Katrin Marburger
Am nördlichen Rand eines Neubaugebiets, direkt neben dem San‐ keien‐Park gelegen, stand eine Reihe von jeweils 14‐stöckigen Häusern mit Eigentumswohnungen. Obwohl der Gebäudekom‐ plex erst kürzlich errichtet worden war, hatten fast alle Wohnun‐ gen bereits Käufer gefunden. Jedes Haus beherbergte beinahe ein‐ hundert nicht besonders geräumige Eigentumswohnungen, doch die meisten der dort lebenden Menschen hatten ihre Nachbarn noch nie gesehen. Nur nachts, wenn die Fenster erleuchtet waren, schien man sicher sein zu können, dass hier wirklich Menschen lebten. Weiter südlich reflektierte das ölverschmierte Wasser des Meeres die funkelnden Lichter einer Fabrik. An ihren Wänden verlief ein Wirrwarr von Rohren und Kabeln, das an Blutgefäße oder Mus‐ kelgewebe erinnerte. Auf der Vorderfassade der Fabrik tanzten zahllose Lichter wie in der Finsternis glühende Insekten, sodass man dieser bizarren Szenerie eine gewisse Schönheit nicht abspre‐ chen konnte. Ein paar hundert Meter weiter, mitten in dem Neubaugebiet, stand zwischen mit mathematischer Präzision angelegten, bisher noch unbebauten Grundstücken ein vereinzeltes, einstöckiges Haus mit Garage, dessen Eingangstür direkt auf die von Norden nach Süden verlaufende Straße ging. Es war ein ganz gewöhnli‐ ches Eigenheim, wie man es in jeder beliebigen Neubausiedlung fand, doch bis jetzt waren weder die daneben noch die dahinter liegenden Grundstücke bebaut worden. Vielleicht lag es an der schlechten Verkehrsanbindung, dass bisher erst wenige Grundstü‐ cke verkauft worden waren. Folglich wiesen entlang der Straße
immer wieder Schilder darauf hin, dass für diese Grundstücke noch Interessenten gesucht wurden. Verglichen mit dem Gebäu‐ dekomplex mit den Eigentumswohnungen wirkte die Neubau‐ siedlung ziemlich verwaist. Aus einem offenen Fenster im ersten Stock fiel ein Lichtstrahl auf die düstere Straße. In dem Haus brannte kein anders Licht als die‐ ses, das aus dem Zimmer von Tomoko Oishi kam. Die junge Frau trug Shorts und ein weißes T‐Shirt. Sie saß verdreht auf ihrem Ses‐ sel, die Beine in Richtung eines elektrischen Ventilators gestreckt, und war in die Lektüre eines ihrer Schulbücher vertieft. Während sie sich mit dem Saum ihres T‐Shirts ein bisschen halbwegs frische Luft zufächelte, murmelte sie etwas über die elende Hitze vor sich hin, ohne dass sich diese Bemerkung an einen bestimmten Adres‐ saten richtete. Tomoko besuchte die Abschlussklasse einer priva‐ ten Oberschule für Mädchen, und während der Sommerferien hat‐ te sie sich zu viel Freizeit gegönnt, ihre Arbeit vernachlässigt und den Berg der zu erledigenden Aufgaben nicht abgetragen. Sie hat‐ te der Hitze die Schuld daran gegeben, dass sie nicht arbeiten konnte. Tatsächlich aber war der Sommer gar nicht besonders heiß gewesen. Tage mit klarem Himmel waren rar, und sie hatte nicht annähernd so viel Zeit am Strand verbringen können wie in den vorangegangenen Jahren. Doch dann, direkt nach dem Ende des Urlaubs, waren zu allem Überdruss fünf Tage mit perfektem Sommerwetter gefolgt. Das ärgerte Tomoko, und sie verfluchte den makellos blauen Himmel. Wie konnte man von ihr verlangen, bei dieser mörderischen Hit‐ ze für die Schule zu büffeln? Sie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und drehte dann das Radio lauter. Auf der Fensterscheibe neben ihr ließ sich eine Motte nieder, die aber sofort vom Luftzug des Ventilators erfasst wurde. Nachdem das Insekt weggeflogen und von der Finsternis ver‐
schluckt worden war, erzitterte die Jalousie für einen kurzen Au‐ genblick. Für den nächsten Tag stand in der Schule eine Arbeit an, aber Tomoko Oishi kam einfach nicht weiter. Selbst wenn sie die ganze Nacht lernen würde, hätte sie am Morgen keine Chance, den An‐ forderungen zu genügen. Sie blickte auf die Uhr. Es war fast elf, und sie überlegte, ob sie sich im Fernsehen die Baseball‐Zusammenfassung anschauen soll‐ te. Vielleicht würde sie dabei einen Blick auf ihre Eltern erhaschen, die heute Abend Tribünenkarten in unmittelbarer Nähe des Spiel‐ felds hatten. Aber sie machte sich Sorgen wegen des Tests, da sie sich nichts sehnlicher wünschte, als bald die Universität besuchen zu können. Sie musste die Zulassung einfach bekommen! Welche Hochschule es dann war, spielte keine Rolle, aber eine Universität musste es sein. Und dennoch — was waren das für langweilige Ferien gewesen! Wegen des miesen Wetters hatte sie sich nicht wirklich amüsieren können, und die extreme Luftfeuchtigkeit hat‐ te sie davon abgehalten, sich ernsthaft um ihre Arbeit zu küm‐ mern. Mein Gott, das war mein letzter Sommer auf der Schule. Ich wollte einen triumphalen Abgang hinlegen, und jetzt ist alles vorbei. Das ist das Ende. Um ihre miese Stimmung auszukosten, versuchte sie, ein ergie‐ bigeres Thema als das schlechte Wetter zu finden. Wo bleiben meine Eltern? Was denken die sich eigentlich dabei, ihre Tochter so zurückzulassen, allein mit ihren Schularbeiten, schweißgeba‐ det... Und sie gehen aus und unterhalten sich mit Baseball! Warum ma‐ chen sie sich zur Abwechslung nicht mal über meine Gefühle Gedanken? Ein Arbeitskollege hatte ihrem Vater überraschend zwei Karten für das Spiel der Giants geschenkt, und folglich hatten ihre Eltern heute Abend den Tokyo Dome besucht. Mittlerweile hätten sie
längst wieder zu Hause sein müssen — wenn sie nicht nach dem Match ausgegangen waren. Aber noch war Tomoko mutterseelen‐ allein in dem frisch bezogenen Haus. Angesichts der Tatsache, dass es mehrere Tage lang nicht gereg‐ net hatte, war die Luftfeuchtigkeit unerklärlicherweise extrem hoch, und Tomoko schwitzte am ganzen Leib. Ohne sich dessen bewusst zu sein, schlug sie mit der Hand auf einen ihrer Ober‐ schenkel, doch als sie sie wieder zurückzog, war nichts von einem zerquetschten Moskito oder etwas in der Art zu sehen. Dennoch begann die Haut direkt über ihrem Knie zu jucken. Vielleicht war es ja nur Einbildung. Tomoko hörte ein summendes Geräusch und fuchtelte mit den Händen über ihrem Kopf herum. Eine Fliege. Plötzlich flog das Insekt nach oben, um dem Luftzug des Ventila‐ tors zu entkommen, und schon bald war es nicht mehr zu sehen. Wie hatte eine Fliege in das Zimmer kommen können? Die Tür war geschlossen. Tomoko überprüfte die Fenster, konnte aber beim besten Willen nicht erkennen, wie das Insekt in den Raum gelangt war. Plötzlich bemerkte sie, dass sie Durst hatte, außerdem musste sie auf die Toilette. Irgendwie fühlte sie sich, als bekäme sie schlecht Luft. Zwar war es nicht so, als würde sie ersticken, aber doch so, als drückte ein schweres Gewicht auf ihre Brust. Seit geraumer Zeit hatte Tomoko sich selbst bedauert und gejammert, wie ungerecht das Leben sein konnte, doch jetzt verstummte diese innere Stimme. Während sie die Treppe hinunterging, begann plötzlich ohne ersichtlichen Grund ihr Herz zu pochen. Durch ein Fenster am Fuß der Treppe bohrten sich die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos, deren Licht aber sofort wieder erlosch. Als auch das Motorgeräusch des Wagens in der Ferne verebbte, schien die Finsternis in dem Haus undurchdringlicher zu werden. Ohne sich dessen bewusst zu sein, verursachte Tomoko einen Riesenlärm, während sie die restlichen
Stufen hinabstieg, und als sie den Flur erreicht hatte, schaltete sie sofort das Licht ein. Nachdem sie uriniert hatte, blieb sie lange Zeit gedankenverloren auf der Toilette sitzen. Noch immer hatte das heftige Herzklopfen nicht nachgelassen. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Was war nur mit ihr los? Nachdem sie ein paar Mal tief durchgeatmet hatte, um wieder zu Kräften zu kommen, stand sie schließlich auf. Mit einem Ruck zog sie Slip und Shorts zusammen hoch. Mama und Papa, ihr solltet besser schnell nach Hause kommen, sagte sie halblaut zu sich selbst. Plötzlich klang ihre Stimme wie die ei‐ nes kleinen Mädchens. Verflucht, mit wem rede ich eigentlich? Es war nicht so, dass sie sich an ihre Eltern wandte und sie bat, nach Hause kommen. Sie wandte sich an jemand anderen... Hey, hör auf, mir Angst zu machen. Bitte... Bevor sie sich dessen bewusst wurde, klang ihre Bitte fast wie ein Flehen. Sie ging zur Spüle in der Küche und wusch sich die Hände, ohne sie anschließend abzutrocknen. Dann nahm sie ein paar Eiswürfel aus dem Gefrierfach des Kühlschranks, ließ sie in ein Glas fallen und goss Coca‐Cola darüber. Nachdem sie das Glas mit einem einzigen Zug geleert hatte, stellte sie es auf die Spüle. Einen Au‐ genblick lang bewegten sich die Eiswürfel in dem Glas noch. To‐ moko erschauderte, und ihr war kalt. Ihre Kehle war noch immer wie ausgedörrt. Sie holte die große Flasche aus dem Eisschrank und füllte ihr Glas erneut. Mittlerweile zitterten ihre Hände. Sie hatte den Eindruck, als befände sich irgendetwas hinter ihr. Irgen‐ detwas... mit Sicherheit kein Mensch. Plötzlich war die Luft um sie herum vom säuerlichen Gestank verwesenden Fleischs erfüllt. Aber da war doch nichts... »Aufhören! Bitte!«, flehte sie laut. Die 15‐Watt‐Neonröhre über der Spüle flackerte, und Tomoko
fühlte sich an abgehackte Atemzüge erinnert. Angeblich war die Neonröhre neu, aber im Augenblick schien sie nicht besonders verlässlich zu funktionieren. Plötzlich bedauerte Tomoko es, nicht den Schalter gedrückt zu haben, mit dem sich alle Lampen in der Küche gleichzeitig einschalten ließen. Aber jetzt war es zu spät, um hinüberzugehen. Sie konnte sich nicht einmal mehr umdrehen. Tomoko wusste, was sich hinter ihr befand: ein im japanischen Stil Fingerichteter Raum mit acht Tatamis‐Matten aus gepresstem Reisstroh — und einem buddhistischen Altar im Erker, der dem Andenken ihres Großvaters gewidmet war. Durch die einen Spalt geöffneten Vorhänge hätte sie das Gras auf den unbebauten Grundstücken und etwas Licht aus den Gebäuden mit den Eigen‐ tumswohnungen sehen können. Mehr sollte es da eigentlich nicht zu sehen geben. Als sie das zweite Glas Cola zur Hälfte ausgetrunken hatte, war Tomoko völlig bewegungsunfähig. Das Gefühl war einfach zu intensiv — es war unmöglich, dass alles nur ihrer Fantasie ent‐ sprang: Sie spürte die Anwesenheit von etwas. Sie war sicher, dass etwas ihren Nacken berührte. Was wäre, wenn...? Sie wollte den Gedanken nicht zu Ende den‐ ken. Wenn sie es tun würde, wenn sie diesen Weg weitergehen würde, dann würde sie sich erinnern, und sie glaubte nicht, der Angst dann standhalten zu können. Es war vor einer Woche pas‐ siert, vor so langer Zeit, dass sie es schon vergessen hatte. Alles war Shuichis Schuld — er hätte nicht sagen sollen, dass... Später hatte keiner von ihnen widerstehen können. Schließlich waren sie in die Stadt zurückgekehrt, und diese Szenen, diese merkwürdi‐ gen Bilder waren nicht mehr ganz so glaubwürdig erschienen. Irgendjemand musste das wohl witzig gefunden haben. Tomoko bemühte sich, an ein erfreulicheres Thema zu denken, an alles au‐ ßer daran. Aber wenn es... Wenn es wirklich... Schließlich hatte das Tele‐
fon geklingelt, oder etwa nicht? 0 Mama, Papa, wo bleibt ihr nur? »Kommt endlich nach Hause!«, schrie Tomoko. Doch auch nachdem sie diese Worte hervorgestoßen hatte, gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass das unheimliche Phantom ver‐ schwinden würde. Es war hinter ihr, reglos verharrend, beobach‐ tete sie und wartete auf seine Chance. Mit ihren 17 Jahren hatte Tomoko keine Ahnung, was nackte Angst ist, aber sie wusste, dass es Ängste gibt, die durch die Ein‐ bildungskraft verstärkt werden. Bitte, hoffentlich ist das der Grund. Ja, mehr ist es nicht. Wenn ich mich umdrehe, werde ich nichts sehen, absolut nichts. Tomoko wurde von dem Verlangen gepackt, sich endlich umzu‐ drehen. Sie wollte eine Bestätigung, dass nichts hinter ihr lauerte, wollte sich aus dieser Situation befreien. Aber wäre es damit wirk‐ lich getan? Um ihre Schultern herum schien ein teuflischer Kälte‐ schauer aufzusteigen, der ihren Rücken erfasste und schließlich ihre Wirbelsäule hinab zu kriechen begann, tiefer und immer tie‐ fer. Ihr T‐Shirt war von kaltem Schweiß durchtränkt. Ihre körperli‐ chen Reaktionen waren zu stark, als dass sie sie bloß ihrer Einbil‐ dungskraft hätte zuschreiben können. Hat nicht mal jemand gesagt, dass der Körper mehr weiß als der Kopf? Dann meldete sich eine andere Stimme: Dreh dich einfach um, es wird schon nichts sein. Wenn du jetzt nicht deine Cola austrinkst und weiterlernst, hast du bei dem Test morgen keine Chance. In ihrem Glas knackte ein Eiswürfel. Als wäre sie durch dieses Geräusch angespornt worden, wirbelte Tomoko ohne einen weite‐ ren Gedanken herum.
Direkt vor Kimura sprang die Ampel auf Gelb um. Er hätte noch durchfahren können, entschloss sich aber, zu bremsen und sein Taxi etwas näher in Richtung Bordstein zu bugsieren, weil er hoff‐ te, einen Fahrgast aufgabeln zu können, der wie viele der Men‐ schen hier nach Akasaka oder Roppongi wollte. Es war nicht un‐ gewöhnlich, dass die Leute einfach in sein Taxi sprangen, wenn er vor einer Ampel wartete. Zwischen Kimuras Taxi und dem Bordstein schlängelte sich ein Motorrad hindurch, das direkt vor dem Fußgängerübergang zum Stehen kam. Der Fahrer war ein junger Mann in Jeans. Kimura nervten Motorradfahrer, die sich auf diese Art durch den Verkehr schlängelten, und ganz besonders hasste er es, wenn er vor einer Ampel wartete und ein Motorrad sich direkt vor seine Tür stellte und einen potenziellen Kunden am Einsteigen hinderte. Außer‐ dem war er heute schon den ganzen Tag über von Kunden her‐ umgehetzt worden und in entsprechend mieser Stimmung. Er warf einen missgelaunten Blick auf den Motorradfahrer, dessen Gesicht durch das Visier seines Helms nicht zu erkennen war. Ein Fuß ruhte auf dem Bordstein, er hatte die Knie weit gespreizt, und sein Oberkörper bewegte sich angeberisch vor und zurück. In diesem Augenblick kam auf dem Bürgersteig eine junge Frau mit hübschen Beinen vorbei, und der Motorradfahrer wandte den Kopf, um ihr nachzublicken. Aber er hielt mitten in der Bewegung inne. Als sein Kopf sich ungefähr um neunzig Grad gedreht hatte, sah es so aus, als wäre sein Blick auf ein hinter der Frau liegendes Schaufenster gerichtet. Bald war die Frau ganz aus seinem Ge‐ sichtsfeld verschwunden. Der Motorradfahrer schien irgendetwas anzustarren. Das grüne Licht für die Fußgänger begann zu blinken
und erlosch dann. Wer jetzt noch auf der Straße war, musste sich beeilen, und die Passanten hetzten direkt vor Kimuras Kühler vorbei. Niemand hob eine Hand oder kam auf das Taxi zu. Kimu‐ ra ließ den Motor aufheulen und wartete darauf, dass die Ampel auf Grün umsprang. Genau in diesem Moment schien der Motorradfahrer von einem heftigen, krampfartigen Anfall erfasst zu werden. Er riss beide Arme in die Höhe, brach zusammen und krachte mit einem lauten, dumpfen Geräusch gegen die Beifahrertür von Kimuras Taxi. Dann war nichts mehr von ihm zu sehen. Du Arschloch! Der Junge muss das Gleichgewicht verloren haben und umge‐ kippt sein, dachte Kimura, während er die Warnblinkanlage ein‐ schaltete und aus dem Taxi stieg. Wenn die Tür beschädigt war, würde der Typ die Reparatur bezahlen müssen. Jetzt sprang die Ampel auf Grün um, und die Autos hinter Kimuras Taxi fuhren an ihm vorbei auf die Kreuzung zu. Der Motorradfahrer lag mit dem Gesicht nach oben auf der Straße, trat mit den Beinen aus und ver‐ suchte krampfhaft, sich mit beiden Händen den Helm vom Kopf zu reißen. Bevor Kimura sich dem Jungen zuwandte, warf er einen Blick auf seine lebenswichtige Einnahmequelle ‐ das Taxi. Wie erwartet war die Tür durch eine lange, scharfkantige Schramme verunstaltet. »Mist!« Während er sich dem gestürzten Motorradfahrer näherte, gab Kimura ein verärgertes Grunzen von sich. Obwohl der Rie‐ men des Sturzhelms nach wie vor unter dem Kinn geschlossen war, versuchte der Mann verzweifelt, ihn sich vom Kopf zu zerren — und zwar so, als wollte er sich den Kopf selbst vom Hals reißen. Hat er solche Schmerzen? Jetzt wurde Kimura klar, dass es um den Motorradfahrer wirk‐ lich schlimm stehen musste, und er kauerte sich neben ihm nieder.
»Alles in Ordnung?«, fragte er. Wegen des getönten Visiers des Helms konnte er den Gesichtsausdruck des Manns nicht erkennen. Der Motorradfahrer packte Kimuras Hand und schien ihn um et‐ was zu bitten. Verzweifelt klammerte er sich an Kimura fest, sagte aber nichts. Er machte auch keine Anstalten, das Visier hochzu‐ schieben. Kimura fasste einen Entschluss. »Halten Sie durch, ich ruf den Notarzt.« Während er zu einem Münztelefon rannte, dach‐ te Kimura darüber nach, wie sich ein simpler Sturz von einem ste‐ henden Motorrad zu einer so ernsthaften Sache ausweiten konnte. Der Kerl musste direkt auf den Kopf gefallen sein. Sei kein Idiot, dachte Kimura. Schließlich trägt er einen Helm, oder? Er sieht nicht aus, als hätte er sich einen Arm oder ein Bein gebrochen. Hoffentlich wird das Ganze nicht auch noch unangenehm für mich... Besonders toll wäre es nicht, sollte er sich verletzt haben, als er gegen mein Taxi fiel. Kimura hatte eine böse Vorahnung. Wenn er tatsächlich verletzt ist, ist das dann ein Fall für die Versiche‐ rung? Das hieße, ein Unfallbericht wird gemacht, und das wiederum hieße, dass die Polizei... Nachdem er den Hörer eingehängt hatte, ging er zu dem Mann zurück, der reglos auf dem Boden lag und mit den Händen seine Kehle umschlossen hatte. Einige Passanten waren stehen geblieben und betrachteten den Motorradfahrer mit besorgter Miene. Kimu‐ ra bahnte sich einen Weg durch die Gaffer und sorgte dafür, dass alle mitbekamen, wer den Krankenwagen gerufen hatte. »He, He! Nur die Ruhe. Der Notarzt ist schon unterwegs.« Kimu‐ ra löste den Kinnriemen des Helms, der sich mühelos abnehmen ließ. Irgendwie war es unvorstellbar, dass der Mann damit solche Mühe gehabt und es nicht geschafft hatte. Das Gesicht des Ge‐ stürzten war merkwürdig verzerrt, und seine Miene konnte man nur als geschockt bezeichnen. Er hatte beide Augen weit aufgeris‐
sen, und seine hellrote Zunge steckte hinten in seiner Kehle. Aus seinen Mundwinkeln tröpfelte Speichel. Der Krankenwagen wür‐ de zu spät kommen. Als Kimura dem Motorradfahrer den Helm abgenommen hatte, hatten seine Finger dessen Hals berührt und keinen Puls gespürt. Kimura schauderte. Irgendwie wurde das Ganze immer irrealer. Noch immer drehte sich ein Rad des Motorrads langsam. Aus der Maschine tropfte Öl, das sich zu einer Lache sammelte und dann in den Rinnstein floss. Es ging keinerlei Wind, und der nächtliche Himmel war klar. Über ihren Köpfen sprang die Ampel wieder auf Rot. Kimura stand mit wackligen Beinen auf und hielt sich an der Leitplanke am Rand des Bürgersteigs fest. Dann warf er erneut einen Blick auf den vor ihm Liegenden, dessen auf dem Helm ruhender Kopf fast in einem rechten Winkel zur Seite ge‐ neigt war. Aus welcher Perspektive man es auch sah, es war eine unnatürliche Kopfhaltung. Wir ich das? Habe ich seinen Kopf wie auf ein Kopfkissen auf den Helm gebettet? Und warum? Kimura konnte sich nicht an die letzten Sekunden erinnern. Die weit aufgerissenen Augen des Mannes starrten ihn an. Ein un‐ heimlicher Kälteschauer überlief ihn. Über seine Schultern schien lauwarme Luft zu strömen. Obwohl es ein tropisch warmer Abend war, spürte Kimura, dass er unkontrolliert zitterte.
2 Auf dem grünlichen Wasser des inneren Grabens des Kaiserpala‐ stes reflektierte das Licht des frühen Herbstmorgens. Asakawa Kazuyuki war bereits auf halbem Weg zur U‐Bahn‐Station, über‐ legte es sich aber plötzlich anders, weil er das Gewässer aus der Nähe sehen wollte, das er eben aus dem neunten Stock betrachtet hatte. Die stickige Luft der Redaktionsbüros schien in die unterir‐ dischen Geschosse hinabgesickert zu sein wie der schale Rest einer Flüssigkeit zum Flaschenboden. Asakawa wollte draußen frische Luft schnappen und stieg die Treppen zur Straße hoch. Vor ihm lag das grüne Palastgelände. Obwohl hier die Schnellstraße Nr. 5 und die Umgehungsstraße aufeinander stießen, schienen ihm die Abgase heute nicht besonders gesundheitsgefährdend zu sein. Weil Asakawa die ganze Nacht durchgearbeitet hatte, war er körperlich erschöpft; trotzdem fühlte er sich nicht besonders mü‐ de. Die Tatsache, dass er seinen Artikel zu Ende geschrieben hatte, stimulierte ihn und hielt seine grauen Zellen aktiv. Da er sich schon seit zwei Wochen keinen Tag Pause mehr gegönnt hatte, wollte er den heutigen und den morgigen Tag zu Hause verbrin‐ gen, um sich zu erholen. Er würde es sich einfach nur gut gehen lassen — eine Anordnung vom Chefredakteur höchstpersönlich. Als er aus der Richtung von Kudanshita ein leeres Taxi auf sich zukommen sah, hob Asakawa instinktiv die Hand. Vor zwei Ta‐ gen war seine U‐Bahn‐Dauerkarte für die Strecke Takebashi‐ Shinbaba abgelaufen, und bisher hatte er sich noch keine neue gekauft. Nahm er die U‐Bahn, kostete die Fahrt zu seiner Eigen‐ tumswohnung in Kita Shinagawa vierhundert Yen, entschied er sich für ein Taxi, musste er fast zweitausend Yen berappen. Er hasste den Gedanken, über fünfzehnhundert Yen zu verschleu‐ dern, doch als er an das dreimalige Umsteigen dachte und ihm
dann einfiel, dass er gerade sein Gehalt eingestrichen hatte, kam er zu dem Entschluss, dass er sich den verschwenderischen Luxus dieses eine Mal leisten konnte. Asakawas Entscheidung, an diesem Tag und an dieser Stelle ein Taxi zu nehmen, verdankte sie einer Laune des Augenblicks und war das Resultat einer Reihe harmloser Eingebungen. Als er sich gegen die U‐Bahn entschied, hatte er keineswegs die Absicht ge‐ habt, ein Taxi heranzuwinken. Er war genau in dem Augenblick von der frischen Luft angezogen worden, als sich ihm das unbe‐ setzte Taxi mit der erleuchteten roten Lampe näherte, und genau in diesem Moment hatte ihn der Gedanke an den Kauf einer Fahr‐ karte und das dreimalige Umsteigen glauben lassen, dass er dieser Anstrengung im Augenblick nicht gewachsen wäre. Wenn er da‐ gegen die U‐Bahn genommen hätte, wären zwei Vorfälle mit fast absoluter Sicherheit nie miteinander in Verbindung gebracht wor‐ den. Aber jede Geschichte beginnt mit einem solchen Zufall. Vor dem Gebäude neben dem Kaiserpalast kam das Taxi zö‐ gernd zum Stehen. Der Fahrer war ein kleiner, etwa vierzigjähri‐ ger Mann, dessen gerötete Augen darauf hinwiesen, dass auch er die ganze Nacht durchgearbeitet hatte. Am Armaturenbrett war ein kleines Farbfoto des Taxifahrers befestigt, und daneben stand sein Name: Mikio Kimura. »Kita Shinagawa, bitte.« Angesichts des Ziels seines Fahrgastes hätte Kimura am liebsten einen Freudentanz aufgeführt. Kita Shinagawa lag gleich hinter der Garage seiner Firma in Higashi Gotanda, und da seine Schicht ohnehin zu Ende war, hatte er sowieso die Absicht, jetzt in diese Richtung zu fahren. Augenblicke wie diese, wenn er aufs richtige Pferd setzte und alles in seinem Sinne lief, erinnerten ihn stets dar‐ an, dass er gern Taxifahrer war. Plötzlich fühlte er sich zu einer Unterhaltung aufgelegt.
»Arbeiten Sie an einer Story?« Als der Taxifahrer diese Frage stellte, blickte Asakawa gerade mit vor Erschöpfung blutunterlaufenen Augen aus dem Fenster, um seine Gedanken schweifen zu lassen. »Was?« Plötzlich war Asakawa wieder voll da. Er fragte sich, woher der Taxifahrer wusste, welchen Beruf er hatte. »Sie sind doch Journalist, oder? Bei einer Zeitung.« »Ja, stimmt. Ich arbeite für ein Wochenmagazin. Aber woher wis‐ sen Sie das?« Mittlerweile fuhr Kimura seit fast zwanzig Jahren Taxi und konnte den Beruf eines Fahrgastes recht gut erraten. Seine Ein‐ schätzung hing davon ab, wo der Fahrgast zustieg, welche Klei‐ dung er trug und wie er redete. Wenn der Betreffende einen inter‐ essanten Job hatte und stolz darauf war, fand es Kimura stets in‐ teressant, sich mit ihm darüber zu unterhalten. »Muss ganz schön hart sein, so früh am Morgen noch zu arbei‐ ten.« »Nein, nein. Ich bin auf dem Weg nach Hause und lege mich gleich ins Bett.« »Na, dann gehtʹs Ihnen wie mir.« Gewöhnlich war Asakawa nicht besonders stolz auf seine Arbeit, doch an diesem Morgen erfüllte ihn die gleiche Genugtuung wie damals, als zum ersten Mal ein Artikel von ihm veröffentlicht worden war. Jetzt hatte er gerade eine Artikelserie abgeschlossen, die eine ziemliche Resonanz hervorgerufen hatte. »Ist Ihre Arbeit interessant?« »Ja, denke schon«, antwortete Asakawa unverbindlich. Manch‐ mal war sie interessant und manchmal nicht, aber im Augenblick hatte er keine Lust, die Frage ausführlicher zu beantworten. Noch immer hatte er nicht den desaströsen Fehlschlag von vor zwei Jah‐ ren vergessen. Er konnte sich deutlich an den Artikel erinnern, an
dem er damals gearbeitet hatte: »Die neuen Götter unserer Zeit«. Vor seinem geistigen Auge sah er noch immer, was für eine schlechte Figur er damals gemacht hatte, als er zitternd vor dem Chefredakteur stand, um ihm zu gestehen, dass seine Karriere als Journalist zu Ende war. Eine Zeit lang herrschte Stille in dem Taxi. Die Kurve neben dem Tokioturm nahm der Fahrer mit beträchtlicher Geschwindigkeit. »Entschuldigen Sie«, sagte Kimura, »aber soll ich die Kanalstraße oder die Keihin Nr. 1 nehmen?« Welche Route geeigneter war, hing davon ab, wo genau das Ziel in Shita Shina‐gawa war. »Nehmen Sie die Schnellstraße, und lassen Sie mich direkt vor Shinbaba raus.« Wenn er das Ziel eines Fahrgastes erst einmal genau kennt, kann sich ein Taxifahrer ein bisschen entspannen. Bei Fuda‐no‐tsuji bog Kimura rechts ab. Jetzt näherten sie sich der Kreuzung, die Kimura seit einem Mo‐ nat nicht vergessen konnte. Im Gegensatz zu Asakawa, der von seinem Fehlschlag verfolgt wurde, war Kimura aber in der Lage, objektiv auf den Unfall zurückzublicken. Schließlich war nicht er dafür verantwortlich gewesen, und folglich musste er sich deshalb auch keiner Gewissensprüfung unterziehen. Es war ausschließlich die Schuld des Motorrad fahrenden Mannes gewesen, selbst äu‐ ßerste Vorsicht seitens Kimuras hätte das Unglück nicht abwenden können. Kimura hatte seine damalige Angst vollständig überwun‐ den. Ein Monat... war das eine lange Zeit? Asakawa war noch im‐ mer in den Klauen der Angst gefangen, die ihn vor zwei Jahren zum ersten Mal heimgesucht hatte. Dennoch hatte Kimura keine Erklärung dafür, warum er immer, wenn er diese Kreuzung überquerte, das dringende Bedürfnis empfand, seinen Fahrgästen zu erzählen, was damals passiert war. Erblickte er im Rückspiegel einen eingeschlafenen Fahrgast, ließ er
von seinem Vorhaben ab. Waren seine Kunden aber wach, erzählte er ausnahmslos jedem bis ins kleinste Detail, was seinerzeit ge‐ schehen war. Es war wie ein Zwang, der ihn an dieser Kreuzung immer aufs Neue überkam. »Vor einem Monat ist mir hier was Schreckliches passiert...« Die Ampel an der Kreuzung sprang von Gelb auf Rot um, als hätte sie nur darauf gewartet, dass Kimura mit seiner Geschichte beginnen konnte. »Auf dieser Welt geschehen jede Menge seltsame Dinge, wissen Sie...« Indem er andeutungsweise auf die Art seiner Geschichte hin‐ wies, versuchte Kimura, das Interesse seines Kunden zu wecken. Asakawa war eingenickt, aber jetzt hob er den Kopf und blickte sich verwirrt um. Kimuras Stimme hatte ihn aus dem Halbschlaf gerissen, und nun versuchte er herauszufinden, wo er eigentlich war. »Sind plötzliche Todesfälle heutzutage häufiger als gewöhnlich? Ich meine, unter jungen Menschen?« »Wie?« Die Wörter hallten in Asakawas Ohren nach. Plötzliche Todesfälle... »Na, es ist nur...«, fuhr Kimura fort. »Ich glaube, es war vor un‐ gefähr einem Monat, als ich genau da drüben in meinem Taxi sitze und darauf warte, dass die Ampel umspringt, und plötzlich kracht dieses Motorrad mitsamt Fahrer gegen meinen Wagen. Der Mann ist nicht während der Fahrt gestürzt — er stand ruhig neben mir... und plötzlich — bumm! Und was glauben Sie, was dann passiert ist? Der Junge war neunzehn, noch nicht auf der Uni. Und er ist gestorben! Ich war völlig überrascht, das kann ich Ihnen versichern. Dann der Notarzt, die Bullen... und mein Taxi beschädigt... er war voll dagegen geknallt. Ziemlich heftige Geschichte, sag ich Ihnen.« Asakawa lauschte schweigend, doch in seiner zehnjährigen jour‐
nalistischen Karriere hatte er einen sechsten Sinn für Geschichten wie diese entwickelt. Instinktiv merkte er sich den Namen des Fahrers und den des Taxiunternehmens. »Auch die Todesumstände waren etwas seltsam. Er hat verzwei‐ felt versucht, den Helm abzunehmen. Naja, er hat eher versucht, ihn sich vom Kopf zu reißen. Er lag auf dem Rücken und hat mit den Beinen um sich getreten. Ich suchte eine Telefonzelle, um einen Krankenwagen zu rufen, aber als ich zurückkam, war er bereits hinüber.« »Wo genau ist das passiert?« Mittlerweile war Asakawa hell‐ wach. »Da drüben.« Kimura zeigte auf den Bürgersteig vor dem Shina‐ gawa‐Bahnhof, der im Stadtteil Takanawa des Bezirks Minato lag. Asakawa prägte sich diesen Sachverhalt genau ein. Für einen Un‐ fall wie diesen wäre also das Polizeirevier von Takanawa zustän‐ dig gewesen. In aller Eile dachte er darüber nach, welche seiner Kontaktpersonen ihm Zugang zur Polizeidienststelle von Taka‐ nawa verschaffen konnte. In Augenblicken wie diesen wusste man es zu schätzen, für eine renommierte Zeitung zu arbeiten. Solche Blätter hatten überall Beziehungen, und manchmal kamen sie so‐ gar besser an Informationen als die Polizei. »Und man hat es als plötzlichen Tod bezeichnet?« Asakawa war sich nicht sicher, ob das ein adäquater medizinischer Terminus war. Mittlerweile hatte er es sehr eilig, ohne sich selbst darüber bewusst zu sein, warum ihn dieser Unfall plötzlich so interessierte. »Das Ganze ist lächerlich, was? Mein Taxi stand vor der Ampel und hat sich nicht vom Fleck bewegt. Er ist einfach dagegen ge‐ knallt. Die Schuld lag ausschließlich auf seiner Seite. Aber ich musste einen Unfallbericht schreiben, und es hätte nicht viel ge‐ fehlt, dann wäre die Geschichte in meiner Versicherungsakte auf‐ getaucht. Glauben Sieʹs mir, das Ganze war eine totale Katastro‐
phe, die mich wie aus heiterem Himmel getroffen hat.« »Erinnern Sie sich, an welchem Tag und um welche Uhrzeit es passiert ist?« »Ha, Sie wittern eine Story, was? Lassen Sie mich mal nachden‐ ken. Es muss am 4. oder 5. September gewesen sein. Ungefähr um elf Uhr nachts.« Kimura hatte gerade ausgesprochen, als er auch schon von Erin‐ nerungen übermannt wurde. Die schwüle Luft, das pechschwarze, zähflüssige, von dem umgestürzten Motorrad heruntertröpfelnde Öl, auf dem sich das Licht der Scheinwerfer spiegelte und das wie ein lebendes Wesen auf den Rinnstein zukroch. Der Augenblick, als seine Sinneswahrnehmung offenbar versagt hatte. Und dann der überraschte Gesichtsausdruck des Toten, dessen Kopf auf den Helm gebettet war. Was war nur so erstaunlich gewesen? Die Ampel sprang auf Grün, und Kimura gab Gas. Hinter sich hörte er einen Stift über Papier kratzen — sein Fahrgast machte sich Notizen. Mit einem flauen Gefühl im Magen dachte Kimura darüber nach, warum seine Erinnerung so intensiv war. In ihm stieg bittere Galle auf. Er schluckte sie hinunter und kämpfte ge‐ gen Übelkeit an. »Was war die Todesursache?«, fragte Asakawa. »Herzanfall.« Herzanfall? War das die Diagnose des Gerichtsmediziners? Asa‐ kawa glaubte nicht, dass dieser Terminus noch gebräuchlich war. »Ich werde das überprüfen müssen, zusammen mit Datum und Uhrzeit«, murmelte Asakawa vor sich hin, während er sich weitere Notizen machte. »Mit anderen Worten könnte man also sagen, dass keine äußeren Verletzungen erkennbar waren?« »Stimmt genau. Absolut keine. Es war einfach der Schock. Ich meine... Eigentlich hätte ich doch der Geschockte sein müssen, stimmtʹs?«
»Wie bitte?« »Na, der sah aus, als wäre er total geschockt.« In Asakawas Gehirn klickte etwas, doch zur gleichen Zeit ver‐ neinte eine Stimme in seinem Inneren, dass es einen Zusammen‐ hang zwischen den beiden Vorfällen gab. Nur ein Zufall, das ist alles. Vor ihnen tauchte der an der Expresslinie Keihin‐Kyuko liegende Shinbaba‐Bahnhof auf. »An der nächsten Ampel links, dann halten Sie bitte.« Das Taxi bremste, und Asakawa öffnete die Tür. Zusammen mit zwei Tausend‐Yen‐Scheinen reichte er dem Fahrer eine Visitenkar‐ te. »Ich heiße Asakawa und arbeite für das Wochenmagazin dieser Zeitung. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gern noch einmal ausführlicher mit Ihnen über diese Sache reden.« »Mir recht«, antwortete Kimura, dessen Stimme Genugtuung verriet. Aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, dass dies seine Mission war. »Ich werde mich morgen oder übermorgen telefonisch bei Ihnen melden.« »Soll ich Ihnen meine Nummer geben?« »Nein, lassen Sie. Ich habe mir auch den Namen Ihrer Firma no‐ tiert. Sie ist ja ganz in der Nähe.« Als Asakawa aus dem Taxi ausstieg und gerade die Tür zuschla‐ gen wollte, zögerte er einen Augenblick. Eine namenlose Angst überkam ihn bei dem Gedanken, dass er der soeben gehörten Ge‐ schichte nachgehen würde. Vielleicht sollte ich meine Nase lieber nicht in eine absurde Angelegenheit stecken. Möglicherweise gibt es wieder ein Desaster wie vor zwei Jahren. Aber jetzt war sein Interesse geweckt, und ihm war klar, dass er die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen würde. Folglich entschloss er sich, Kimura noch eine letzte Frage zu stel‐
len. »Sie haben gesagt, dass der Mann sich vor Schmerzen wand und sich den Helm vom Kopf reißen wollte, stimmtʹs?«
3 Asakawas Chefredakteur, Oguri, hörte sich die Geschichte des Journalisten mit finsterer Miene an. Plötzlich erinnerte er sich dar‐ an, wie es vor zwei Jahren um Asakawa gestanden hatte, der da‐ mals Tag und Nacht wie ein Besessener vor seinem Computer hockte, um eine Biografie des Guru Kageyama Shoko zu schrei‐ ben, in die er die Ergebnisse all seiner Recherchen einfließen ließ. Zu dieser Zeit stimmte irgendetwas mit Asakawa nicht, und seine Besessenheit veranlasste Oguri sogar zu dem Versuch, ihn zu ei‐ nem Besuch bei einem Psychologen zu überreden. Ein Teil des Problems bestand darin, dass die Schwierigkeiten mit Asakawa zu diesem Zeitpunkt aufgetreten waren. Vor zwei Jahren waren alle Printmedien von einem beispiellosen Boom des Okkulten heimgesucht worden. Sämtliche Herausgeber und Re‐ daktionen wurden mit Fotos von »Geistern« und Geschichten von übernatürlichen Erfahrungen bombardiert, die sich ohne Aus‐ nahme als fauler Zauber herausstellten. Seinerzeit fragte sich Ogu‐ ri, was mit dieser Welt wohl los sein mochte. Er wusste seiner An‐ sicht nach ziemlich gut, wie die Dinge auf diesem Erdball liefen, doch für dieses Phänomen fiel ihm keinerlei überzeugende Erklä‐ rung ein. Es war absurd, wie viele Möchtegern‐Journalisten plötz‐ lich wie aus dem Nichts auftauchten, um den Zeitungen »Beiträ‐ ge« anzudienen, und es war keine Übertreibung zu sagen, dass seine Redaktionen förmlich unter Bergen von Post begraben wor‐ den waren. Jede Einsendung hatte auf diese oder jene Weise etwas mit dem Okkulten zu tun. Und es erging nicht nur seinem Blatt so. Jeder Zeitungsherausgeber in ganz Japan, der diesen Namen ver‐ diente, war auf dieselbe Weise mit dem unerklärlichen Phänomen konfrontiert. Mit einem Stoßseufzer, der der überflüssigen Zeit‐ verschwendung galt, sichteten sie die eingegangenen Beiträge o‐
berflächlich. Wie nicht anders zu erwarten, waren fast alle Auto‐ rennamen falsch, aber die Artikel schienen von unterschiedlichen Schreibern zu stammen, nicht von ein und demselben. Eine grobe Schätzung ergab, dass ungefähr zehn Millionen Menschen an die eine oder andere Zeitung Briefe geschickt hatten. Zehn Millionen! Die Zahl war Schwindel erregend. Die Geschichten selbst waren nicht annähernd so beängstigend wie die Zahl der Einsendungen. Jeder zehnte Japaner hatte irgendetwas geschickt. Beschäftigte aus den Printmedien — oder deren Angehörige und Freunde — schie‐ nen nicht darunter zu sein. Was ging hier vor? Woher kamen die Berge von Post? Sämtliche Chefredakteure kratzten sich nachdenk‐ lich am Kopf. Dann, bevor jemand des Rätsels Lösung auf die Spur gekommen war, begann die Welle abzuebben. Ungefähr ein halbes Jahr lang hatten sie es mit diesem seltsamen Phänomen zu tun, doch dann war in den Redaktionen plötzlich wieder alles beim Alten, als wäre das Ganze nur ein Traum gewesen. Jetzt gingen keinerlei derartige Beiträge mehr ein. Die Entscheidung, wie das Wochenmagazin eines renommierten Zeitungsverlags auf ein solches Phänomen zu reagieren hatte, lag damals bei Oguri, und er kam zu dem Resultat, dass man es tun‐ lichst ignorieren sollte. Oguri hatte den starken Verdacht, dass der Stein von einer bestimmten Sorte von Magazinen ins Rollen ge‐ bracht worden war, die er als »Käseblätter« bezeichnete. Indem sie Fotos und Geschichten publizierten, heizten sie die Hysterie an, mit der die Öffentlichkeit auf solche Phänomene reagiert, und bauschten das Ganze zu einer monströsen Angelegenheit auf. Na‐ türlich war Oguri bewusst, dass man so nicht alles erklären konn‐ te, aber schließlich musste er versuchen, der Situation irgendwie logisch zu begegnen. Am Ende nahmen die Oguri unterstellten Redakteure zu der Lösung Zuflucht, die ganze mysteriöse Post zu verbrennen. In
ihrer redaktionellen Praxis sah die Welt genauso aus wie zuvor, ganz so, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen. Sie blieben strikt bei ihrer Richtlinie, nichts Okkultes zu drucken, und schenk‐ ten den anonymen Quellen keinerlei Beachtung. Ob es daran lag oder nicht, die beispiellose Flut von Einsendungen ebbte ab. Aus‐ gerechnet zu dieser Zeit goss Asakawa törichterweise unbeküm‐ mert Öl in die bereits ersterbenden Flammen. Jetzt fixierte Oguri seinen Redakteur erneut mit einem finsteren Blick. War er im Begriff, zum zweiten Mal denselben Fehler zu machen? »Hören Sie gut zu.« Wann immer Oguri nicht wusste, was er sagen sollte, begann er mit dieser Einleitung. »Mir ist klar, was Sie denken, Chef.« »Ich behaupte ja gar nicht, dass es sich nicht interessant anhört, aber wir wissen nicht, was für uns dabei herauskommen wird. Sehen Sie: Wenn das, was dabei rauskommt, auch nur annähernd so aussieht wie beim letzten Mal, würde mir das nicht sehr gefal‐ len.« Beim letzten Mal. Oguri glaubte noch immer, dass der Boom des Okkulten vor zwei Jahren künstlich fabriziert und geschickt in die Wege geleitet worden war. Angesichts dessen, was er deswegen durchgemacht hatte, hasste er das Okkulte, und an dieser Abnei‐ gung hatte sich auch nach zwei Jahren nichts geändert. »Ich versuche doch nicht, dem Ganzen eine mystische Kompo‐ nente anzudichten. Ich behaupte lediglich, dass es kein Zufall ge‐ wesen sein kann.« »Hm, kein Zufall...« Oguri stützte den Kopf auf die Hand und versuchte erneut, sich einen Reim auf Asakawas Geschichte zu machen. Tomoko Oishi, eine Nichte von Asakawas Frau, war am 5. Sep‐ tember um elf Uhr nachts im Haus ihrer Familie in Honmoku ge‐
storben. Todesursache: »plötzliches Herzversagen«. Sie hatte die Abschlussklasse der Oberschule besucht und war erst 17 Jahre alt gewesen. Am selben Tag und zur selben Zeit war ein 19‐jähriger Junge, der eine Vorbereitungsschule für die Universität absolvier‐ te, von seinem Motorrad gestürzt und gleichfalls an einem Herzin‐ farkt gestorben, während er vor dem Shinagawa‐Bahnhof an einer Ampel gewartet hatte. »Für mich hört sich das alles nur nach einem Zufall an. Der Taxi‐ fahrer erzählt Ihnen was von dem Unfall, und Sie erinnern sich an die Nichte Ihrer Frau. Mehr als das können Sie mir nicht anbieten, oder?« »Doch.« Asakawa legte eine Kunstpause ein, um das Interesse des Chefredakteurs zu wecken. »Im Augenblick seines Todes‐ kampfs«, fuhr er dann fort, »hat der Junge auf dem Motorrad ver‐ sucht, sich den Helm vom Kopf zu reißen.« »Und was wollen Sie damit sagen?« »Bei Tomoko war es ähnlich. Als ihre Leiche entdeckt wurde, sah es so aus, als hätte sie heftig an ihrem Kopf gezerrt. Ihre Finger waren total in ihren Haaren verfangen.« Asakawa war Tomoko bei mehreren Gelegenheiten begegnet, und wie alle anderen Mädchen in ihrem Alter waren ihr ihre Haar äußerst wichtig gewesen. Jeden Tag hatte sie sie gewaschen und gepflegt. Warum sollte eine junge Frau wie sie an ihren heiß ge‐ liebten Haaren zerren? Asakawa wusste es nicht, aber wann im‐ mer er daran dachte, wie sie verzweifelt an ihren Haaren gezogen hatte, stellte er sich im Zusammenhang mit ihrem unbeschreibli‐ chen Entsetzen ein unsichtbares Etwas vor. »Ich weiß nicht... Also, hören Sie gut zu... Sind Sie sicher, dass Sie der Sache unvoreingenommen gegenüberstehen? Man braucht sich doch bloß zwei beliebige Vorfälle herauspicken... Schaut man nur lange genug hin, findet man immer irgendwelche Gemein‐
samkeiten. Sie behaupten, dass beide an einem Herzinfarkt ge‐ storben sind. Folglich müssen beide große Schmerzen gehabt ha‐ ben. Sie zerrt an ihren Haaren, er versucht, sich den Helm vom Kopf zu reißen... Mir scheint das völlig normal zu sein.« Zwar musste Asakawa zugeben, dass man das durchaus so se‐ hen konnte, aber er schüttelte dennoch den Kopf. So leicht würde er sich nicht unterkriegen lassen. »Dann hätten Sie Schmerzen in der Herzgegend gehabt. Warum haben sie aber an ihren Köpfen gezerrt?« »Hören Sie... Hatten Sie schon mal einen Herzinfarkt?« »Nun, bisher noch nicht.« »Und haben Sie sich mal mit einem Arzt darüber unterhalten?« »Worüber?« »Ob Menschen, die einen Herzinfarkt erleiden, an ihren Köpfen ziehen.« Asakawa verstummte. Er war tatsächlich bei einem Mediziner gewesen. Ausschließen kann ich das nicht, hatte der Arzt auf seine Frage erwidert. Das war eine ziemlich schwammige Antwort. Manchmal kommt auch das Gegenteil vor. Manche Leute, die eine Ge‐ hirnblutung oder eine Blutung in den Gehirnmembranen haben, haben Magen‐ und Kopfschmerzen. »Dann hängt es also von dem jeweiligen Individuum ab. Bei ei‐ nem kniffligen mathematischen Problem kratzen sich manche Menschen am Kopf, andere rauchen eine Zigarette. Wieder andere reiben sich vielleicht den Bauch.« Während Oguri in seinem Dreh‐ stuhl herumwirbelte, sprach er weiter. »Tatsache ist, dass wir zu diesem Zeitpunkt nichts weiter sagen können, stimmtʹs? Für diese Art von Geschichten haben wir keinen Platz, auch wenn man be‐ denkt, was vor zwei Jahren passiert ist. Über so was schreiben wir nicht, nicht eine Zeile. Wenn es unser Anliegen wäre, Spekulatio‐ nen zu drucken, na, dann könnten wir es natürlich tun.«
Vielleicht war es tatsächlich so. Vielleicht war es so, wie der Chefredakteur gesagt hatte: ein abstruser Zufall. Letztlich hatte auch der Arzt nur den Kopf geschüttelt, als Asakawa ihn mit sei‐ nen bohrenden Fragen unter Druck gesetzt hatte — reißen sich Menschen bei einem Herzinfarkt die eigenen Haare aus? Der Me‐ diziner hatte die Stirn gerunzelt und mit einem nachdenklichen Hm geantwortet. Seine Miene hatte alles gesagt: Bei seinen Patien‐ ten hatte er noch nie erlebt, dass sich jemand so verhielt. »Gut, ich verstehe.« Im Augenblick blieb Asakawa nichts anderes übrig, als sich zu‐ rückzuhalten. Gelang es ihm nicht, einen plausibleren Zusam‐ menhang zwischen den beiden Vorfällen zu entdecken, würde es sehr schwierig werden, den Chefredakteur zu überzeugen. Er nahm sich vor, die Story fallen zu lassen, falls es ihm nicht gelin‐ gen sollte, irgendeine neue Entdeckung auszubuddeln.
4 Asakawa legte auf und blieb eine Weile reglos sitzen, die Hand noch auf dem Telefonhörer. In seinen Ohren hallte der Klang sei‐ ner wegen der Zusage seines Gesprächspartners aufdringlich be‐ geisterten Stimme unangenehm nach. Er hatte das Gefühl, diesen Job nicht mehr zu ertragen. Sein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung hatte den Anruf über eine Sekretärin entgegen‐ genommen und sich mit einem seiner Position angemessenen, wichtigtuerischen Tonfall gemeldet. Nachdem er sich Asakawas Vorschlag angehört hatte, klang seine Stimme schon etwas freund‐ licher. Vermutlich hatte er zunächst geglaubt, die Zeitung wolle ihn als Anzeigenkunden gewinnen. Doch nach kurzem Nachden‐ ken begriff er offenbar, dass er finanziell davon profitieren konnte, wenn Asakawa einen Artikel über ihn schrieb. Die Reihe »Top‐ Interview« war im September angelaufen. In dieser Serie sollte jeweils ein Unternehmenschef ins Rampenlicht gestellt werden, der seine Firma allein aufgebaut hatte. Thematisch sollten sich die Artikel darauf konzentrieren, welche Hindernisse sich dem Unter‐ nehmer in den Weg gestellt hatten und wie er sie überwunden hatte. Da es ihm gelungen war, einen Termin für das Interview zu bekommen, hätte Asakawa den Hörer eigentlich etwas zufriedener auflegen müssen. Aber irgendetwas lastete schwer auf ihm. Von diesem Banausen würde er doch nur wieder die alten Geschichten über Unternehmenskriege hören, außerdem angeberisches Ge‐ schwätz darüber, was für ein Genie er war, wie er seine Chance beim Schopf gepackt und sich einen Weg zum Gipfel gebahnt hat‐ te. Wenn Asakawa dann nicht beizeiten aufstand und sich verab‐ schiedete, würde dieser Wichtigtuer mit seinen Heldengeschichten kein Ende finden. Asakawa hatte die Nase voll und verfluchte denjenigen, der mit diesem Projekt angekommen war. Er wusste,
dass sein Magazin zum Überleben auf Anzeigen angewiesen war und dass solche Artikel die unerlässliche Voraussetzung dafür waren. Aber Asakawa war es einigermaßen egal, ob sein Unter‐ nehmen Profit machte oder rote Zahlen schrieb. Für ihn zählte einzig und allein, ob seine Arbeit reizvoll war. Ein Job konnte kör‐ perlich noch so bequem sein — wenn keine Kreativität damit ver‐ bunden war, erschöpfte er einen in der Regel trotzdem. Asakawa machte sich auf den Weg zum Archiv, das im vierten Stock untergebracht war. Wegen des Interviews morgen hatte er noch einige Background‐Recherchen zu erledigen, doch etwas anderes beunruhigte ihn mehr. Die Vorstellung einer objektiven, kausalen Verbindung zwischen den beiden mysteriösen Ereignis‐ sen faszinierte ihn. Er wusste nicht einmal, wo er anfangen sollte, aber eine bestimmte Frage hatte sich ihm gerade in dem Moment aufgedrängt, als seine Gedanken sich von der Stimme des Ange‐ bers gelöst hatten. Waren diese beiden unerklärlichen, plötzlichen Todesfälle die einzigen Ereignisse dieser Art, die sich am 5. September um drei‐ undzwanzig Uhr ereignet hatten? Wenn es andere, ähnliche Vorfälle gegeben hatte, waren die Chancen gleich Null, dass es ein bloßer Zufall gewesen war. Asa‐ kawa beschloss, einen Blick in die Ausgaben der ersten September‐ tage zu werfen. Eifrige Zeitungslektüre gehörte zu seinem Job, aber gewöhnlich las er im Lokalteil nur die Überschriften. Folglich gab es eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit, dass ihm etwas ent‐ gangen war, und er hatte das Gefühl, dass es sich tatsächlich so verhielt. Irgendwie glaubte er sich zu erinnern, vor ungefähr ei‐ nem Monat in der Ecke einer Lokalteilseite eine merkwürdige Ü‐ berschrift gesehen zu haben. Ein kleiner Artikel, links unten... Er erinnerte sich nur daran, wo der Artikel gestanden und dass er gestutzt hatte. Dann hatte ihn jemand aus der Redaktion gerufen,
und seine Arbeit hatte ihn so beansprucht, dass er nie zur Lektüre des Artikels gekommen war. Mit der Begeisterung eines Kindes, das sich zur Schatzsuche auf‐ macht, begann Asakawa seine Nachforschungen mit der Morgen‐ ausgabe vom 6. September. Er war sicher, dass er irgendeinen An‐ haltspunkt finden würde. Das Lesen alter Zeitungen in düsteren Archiven verschaffte ihm einen psychologischen Auftrieb, von dem bei Interviews mit irgendwelchen Idioten nie die Rede sein konnte. Diese Art der Recherche sagte Asakawa viel mehr zu, als draußen herumrennen und sich mit allen möglichen Leuten he‐ rumschlagen zu müssen. In der Abendausgabe vom 7. September fand er den Artikel, und zwar genau an der Stelle, wo er seiner Erinnerung nach gestanden hatte. Aber er war kürzer, als er geglaubt hatte. Ein spektakuläres Schiffsunglück mit 34 Toten hatte ihn an den Rand gedrängt. Asa‐ kawa nahm seine Nickelbrille ab, steckte die Nase tief in die Zei‐ tung und begann zu lesen. JUNGES PAAR TOT IN MIETWAGEN AUFGEFUNDEN TODESURSACHE RÄTSELHAFT Am 7. September wurden um 6 Uhr 15 morgens ein junger Mann und eine junge Frau tot auf den Vordersitzen eines Wagens aufge‐ funden, der auf einem unbebauten Grundstück in Ashina, Yoko‐ suka, neben einer Landstraße geparkt war. Entdeckt wurden die Leichen von einem Lastwagenfahrer, der zufällig vorbeikam und dann die Polizei von Yokosuka benachrichtigte. Aus dem Formular der Autovermietung ging hervor, dass es sich um einen 19‐jährigen angehenden Studenten aus Shibuya, Tokio, und um eine 17‐jährige Oberschülerin aus Isogo, Yokohama, han‐ delte. Zwei Tage zuvor war das Auto bei einer Leihwagenvermitt‐
lung in Shibuya von dem jungen Mann gemietet worden. Als die Leichen gefunden wurden, waren die Türen verschlos‐ sen, der Schlüssel steckte im Zündschloss. Der Todeszeitpunkt liegt vermutlich zwischen den letzten Stunden des 5. und den frü‐ hen Morgenstunden des 6. September. Da die Fenster hochgekur‐ belt waren, ist davon auszugehen, dass die beiden eingeschlafen und erstickt sind. Die Möglichkeit, dass das Liebespaar durch eine Überdosis Medikamente aus dem Leben scheiden wollte, ist von der Polizei bisher jedoch nicht ausgeschlossen worden. Eine defi‐ nitive Todesursache wurde nicht genannt. Ein Mord wurde bis‐ lang nicht in Betracht gezogen. Mehr stand nicht in dem Artikel, doch Asakawa hatte den Ein‐ druck, fündig geworden zu sein. Zunächst war die tote junge Frau 17 gewesen und hatte eine private Oberschule für Mädchen in Yokohama besucht — genau wie seine Nichte Tomoko. Der ange‐ hende Student, der eine Vorbereitungsschule für die Universität absolviert und den Wagen gemietet hatte, war 19 gewesen — ge‐ nau wie der Motorradfahrer, der vor dem Shinagawa‐Bahnhof gestorben war. Der geschätzte Zeitpunkt des Todes war praktisch identisch mit den anderen, und auch hier war die exakte Todesur‐ sache unbekannt. Zwischen diesen vier Todesfällen musste es irgendeine Verbin‐ dung geben, und allzu viel Zeit sollte es eigentlich nicht beanspru‐ chen, weitere Gemeinsamkeiten herauszufinden. Immerhin arbei‐ tete Asakawa für eine renommierte Zeitung und konnte sich über einen Mangel an Informationsquellen wahrlich nicht beschweren. Nachdem er eine Kopie des Artikels gemacht hatte, trat er den Rückweg zur Redaktion an. Er hatte den Eindruck, gerade auf eine Goldader gestoßen zu sein, und sein Schritt beschleunigte sich automatisch. Er konnte es kaum abwarten, dass der Lift endlich
kam. Yoshino saß an seinem Schreibtisch im Pressezentrum des Rathau‐ ses von Yokosuka und beschrieb hektisch ein Blatt Papier. Wenn die Schnellstraße nicht verstopft war, schaffte man die Strecke vom Tokioter Hauptsitz der Zeitung hierher in einer Stunde. Asa‐ kawa trat hinter Yoshino und sagte: »Wie gehtʹs, Yoshino?« Asakawa hatte Yoshino seit anderthalb Jahren nicht gesehen. »He, Asakawa. Was führt dich nach Yokosuka? Hier, setz dich.« Nachdem Yoshino einen Stuhl an den Schreibtisch herangezogen hatte, drängte er Asakawa, Platz zu nehmen. Yoshino war unra‐ siert, was ihm ein etwas schäbiges Aussehen verlieh, doch gegen‐ über anderen konnte er überraschend aufmerksam sein. »Immer schön fleißig?« »Kann man sagen.« Die beiden kannten sich seit der Zeit, als Asakawa für die Lokal‐ redaktion gearbeitet hatte, bei der auch Yoshino damals beschäf‐ tigt war. Yoshino war mittlerweile 35 Jahre alt. »Ich habe im Büro der Zeitung in Yokosuka angerufen. Man hat mir gesagt, du bist hier.« »Warum bist du gekommen? Brauchst du was von mir?« Asakawa reichte ihm die Kopie des Zeitungsartikels, und Yoshi‐ no starrte ihn außergewöhnlich lange an. Da er den Artikel seiner‐ zeit selbst geschrieben hatte, hätte eigentlich ein flüchtiger Blick darauf seiner Erinnerung auf die Sprünge helfen sollen. Stattdes‐ sen aber konzentrierte er sich voll und ganz darauf. Die Hand, mit der er sich gerade eine Erdnuss in den Mund schieben wollte, ver‐ harrte reglos in der Luft. Man hatte den Eindruck, als müsste er seinen eigenen Artikel erst einmal wiederkäuen und dann verdau‐ en. »Kind was ist damit?«, fragte Yoshino mit ernster Miene.
»Nichts Besonderes. Ich wollte nur ein paar Details in Erfahrung bringen.« Yoshino stand auf. »In Ordnung. Nebenan können wir uns bei einer Tasse Tee unterhalten. Du kannst natürlich auch etwas ande‐ res nehmen.« »Hast du wirklich Zeit? Bist du sicher, dass ich dich nicht störe?« »Kein Problem. Diese Sache ist interessanter als die, mit der ich mich gerade herumschlage.« Direkt neben dem Rathaus gab es ein kleines Cafe, wo man für zweihundert Yen einen Kaffee bekam. Yoshino setzte sich, drehte sich sofort zur Theke um und bestellte zwei Tassen Kaffee. Dann wandte er sich wieder Asakawa zu und beugte sich dicht zu ihm. »Mittlerweile arbeite ich zwölf Jahre bei der Lokalredaktion, und ich habe eine Menge gesehen. Aber ich bin noch nie über eine so merkwürdige Geschichte wie diese gestolpert.« Nachdem er einen Schluck Wasser getrunken hatte, fuhr Yoshino fort: »Also, Asakawa, dies muss ein fairer Informationsaustausch sein. Warum ist das Hauptbüro an dieser Sache interessiert?« Aber Asakawa war nicht bereit, sich in die Karten gucken zu lassen — er wollte seinen Knüller nicht aus der Hand geben. Wenn ein gewiefter Journalist wie Yoshino Wind von der Sache bekam, würde er ihm die Story in null Komma nichts vor der Nase weg‐ schnappen und selbst die Lorbeeren einheimsen. Also entschloss sich Asakawa spontan zu einer Lüge. »Es gibt keinen besonderen Grund. Meine Nichte war eine Freundin des toten Mädchens, und jetzt löchert sie mich wegen Informationen über den Vorfall. Und da ich sowieso gerade in der Nähe war...« Es war eine armselige Lüge, und als Asakawa ein misstrauisches Flackern in Yoshinos Augen zu erkennen glaubte, zuckte er ent‐ mutigt zurück.
»Ach, tatsächlich?« »Na ja, meine Nichte besucht schließlich auch diese Oberschule. Es ist schon schlimm genug, dass ihre Freundin gestorben ist, aber dann sind da noch die besonderen Todesumstände. Ständig nervt sie mich damit. Bitte, weih mich in die Einzelheiten ein.« »Also gut, was willst du wissen?« »Ist die Todesursache jemals eindeutig bestimmt worden?« Yoshino schüttelte den Kopf. »Im Grunde sagen sie nur, dass die beiden einen plötzlichen Herzstillstand erlitten haben. Was den Grund angeht, da haben sie keinen blassen Schimmer.« »Wie siehtʹs mit der Mordvermutung aus? Strangulation zum Beispiel.« »Ausgeschlossen. Beide hatten keinerlei Würgemale am Hals.« »Selbstmord durch eine Überdosis Medikamente?« »Bei der Autopsie wurde nichts festgestellt.« »Mit anderen Worten, der Fall ist nie wirklich gelöst worden.« »Verdammt, nein. Aber es gibt auch keinen Fall. Ein Mord war es nicht, nicht mal ein Unfall. Sie müssen an irgendeiner Krankheit gestorben sein oder wegen einem blöden Zufall. Mehr ist dazu nicht zu sagen, Punkt. Es gab nicht mal eine Untersuchung.« Das waren offene Worte. Yoshino lehnte sich zurück. »Warum haben sie dann die Namen der Toten nicht veröffent‐ licht?« »Sie waren minderjährig. Außerdem gibtʹs die Vermutung, dass sie freiwillig aus dem Leben scheiden wollten.« Jetzt lächelte Yoshino plötzlich, als hätte er sich gerade an etwas erinnert, und beugte sich wieder vor. »Weißt du, was mit dem Jungen los war? Er hatte seine Jeans und seine Unterhose in den Kniekehlen hängen, und mit dem Slip des Mädchens warʹs genau‐ so.« »Koitus interruptus?«
»Ich habʹ nicht gesagt, dass sie schon in Aktion waren. Tatsäch‐ lich waren sie beim Vorspiel. Sie wollten gerade ein bisschen Spaß haben, und genau da ist es passiert.« Um seine Worte zu un‐ terstreichen, klatschte Yoshino laut in die Hände. »Was ist passiert?« Yoshino machte eine Riesenshow aus seiner Geschichte. »Okay, Asakawa, spiel endlich mit offenen Karten. Du hast irgendwas in der Hand, das mit diesem Fall zusammenhängt, stimmtʹs?« Asakawa antwortete nicht. »Dann willst du mich also im Ungewissen lassen?« Vielleicht sollte ich... Nein, ich kann nicht. Noch sollte ich besser nichts sagen. Aber Lügen ziehen bei ihm nicht... »Tut mir Leid, Yoshino. Kannst du nicht noch ein bisschen war‐ ten? Jetzt kann ich dir noch nichts erzählen, aber in zwei oder drei Tagen werde ich es tun. Ich verspreche es dir.« Yoshinos Miene verriet Enttäuschung. »Wenn du es sagst, mein Freund...« Mit einem flehenden Blick versuchte Asakawa Yoshino dazu zu bewegen, mit seiner Story fortzufahren. »Also gut... Wir müssen davon ausgehen, dass irgendetwas pas‐ siert ist. Die beiden ersticken gerade in dem Moment, bevor sie es miteinander treiben wollen? Das ist nicht einmal lustig. Denkbar ist, dass sie vorher Gift genommen hatten und dass es erst jetzt wirkte, aber es gab keinerlei Hinweise darauf. Natürlich gibt es Gifte, die keine Spuren hinterlassen, doch irgendwie kann man sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass zwei Minderjährige solchen Stoff in die Finger bekommen.« Yoshino dachte an den Ort, wo das Auto gefunden worden war. Er hatte ihn persönlich inspiziert und immer noch keine klare Meinung. Der Wagen war auf einem unbebauten, überwucherten Grundstück geparkt worden, in einer kleinen Mulde, direkt neben
der nicht asphaltierten Straße, die von Ashima zum Berg Okusu führte. Vorbeikommende Autofahrer hätten allenfalls gesehen, wie das Licht ihrer Scheinwerfer auf den Rücklichtern des abgestellten Autos reflektierte. Man brauchte nicht viel Fantasie, um sich aus‐ zumalen, warum der junge Mann, der hinter dem Steuer saß, sich für diesen Ort entschieden hatte. Nach Einbruch der Dunkelheit kamen hier kaum noch Autos vorbei. Zudem boten die Bäume Sichtschutz, und folglich war der Ort das perfekte Versteck für ein mittelloses junges Paar. »Der Kopf des Jungen«, fuhr Yoshino fort, »klemmte zwischen Lenkrad und Seitenfenster, der des Mädchens zwischen dem Bei‐ fahrersitz und der Tür. So sind sie gestorben. Ich habe zugesehen, als man sie aus dem Wagen holen wollte. Die Türen waren kaum auf, da kamen uns die Leichen schon entgegen. Es schien, als hätte sie im Augenblick des Todes irgendwas nach außen gedrückt, eine Kraft, die auch dreißig Stunden nach ihrem Tod noch vorhanden zu sein schien und sich bemerkbar machte, als die Untersu‐ chungsbeamten die Türen öffneten. Kannst du mir folgen? Das Auto war eins dieser zweitürigen Modelle, bei denen man die Tü‐ ren nicht verschließen kann, solange der Schlüssel im Zündschloss steckt. Und der Schlüssel steckte im Schloss, aber die Türen... Na, du verstehst schon, was ich sagen will. Der Wagen war verschlos‐ sen. Es ist schwer vorstellbar, dass irgendwer von außen hinein‐ kam. Und was glaubst du, was für einen Gesichtsausdruck die Toten hatten? Sie wirkten total verängstigt. Ihre verzerrten Mienen spiegelten blankes Entsetzen wider.« Yoshino hielt inne, um Luft zu holen. Es war ein lautes Schluck‐ geräusch zu hören, aber wer von ihnen so schwer an der Geschich‐ te zu schlucken hatte, war unklar. »Denk mal darüber nach. Lass uns nur aus Spaß an der Freude annehmen, es wären ein paar Furcht erregende Bestien zwischen
den Bäumen hervorgebrochen. Die zwei hatten Schiss und haben sich aneinander gedrängt. Selbst wenn der Typ den Helden ge‐ spielt hätte, das Mädchen hätte sich mit absoluter Sicherheit an ihn geklammert. Schließlich waren sie ein Liebespaar. Stattdessen pressen sie sich beide mit dem Rücken gegen die Türen, als woll‐ ten sie so viel Abstand wie möglich zwischen sich bringen.« Yoshino warf die Hände in die Luft, als wollte er damit seiner Kapitulation Ausdruck verleihen. »Ich kann mir absolut keinen Reim drauf machen.« Hätte es nicht das Schiffsunglück vor der Küste von Yokosuka gegeben, wäre der Zeitungsartikel vielleicht länger gewesen, und in diesem Fall hätten jede Menge Leser versucht, das Puzzle zu‐ sammenzusetzen und Detektiv gespielt. Aber so... Irgendwie schien zwischen den Untersuchungsbeamten und allen anderen, die damals an Ort und Stelle gewesen waren, eine Art Konsens entstanden zu sein. Vermutlich dachten alle mehr oder weniger dasselbe, und jeder stand kurz davor, damit herauszuplatzen, aber keiner tat es. Eine bestimmte Art von Übereinstimmung. Selbst wenn es völlig unwahrscheinlich war, dass die beiden jungen Menschen in exakt demselben Moment an einem Herzinfarkt ge‐ storben waren, und selbst wenn keiner der Anwesenden wirklich daran glaubte, redete sich doch jeder ein, dass das medizinische Märchen stimme und dass es exakt so gelaufen sei. Und dabei ging es nicht darum, dass sie Angst gehabt hätten, als Idioten verlacht zu werden, wenn sie ihrer Meinung Ausdruck verliehen. Vielmehr befürchteten sie, irgendein unvorstellbares Unheil für sich herauf‐ zubeschwören, wenn sie zugaben, dass ihnen die medizinische Erklärung nicht plausibel erschien. Da war es bequemer, sich mit der wissenschaftlichen Erklärung zufrieden zu geben, egal, wie unbefriedigend diese war. Asakawa und Yoshino lief gleichzeitig ein kalter Schauer den
Rücken hinunter. Es war nicht überraschend, dass sie dasselbe dachten. Ihr Schweigen bestätigte die böse Vorahnung, die sich im Inneren der beiden zu bilden begann. Es ist nicht vorbei, es hat gera‐ de erst angefangen. Wie viel wissenschaftliche Kenntnisse die Men‐ schen auch anhäufen mögen, tief in ihrem Inneren glauben sie an die Existenz von etwas, das die wissenschaftlichen Gesetze nicht erklären können. »Als man sie fand... Wo hatten sie da ihre Hände?«, fragte Asa‐ kawa plötzlich. »Auf ihren Köpfen. Oder... Na ja, es sah eher so aus, als wollten sie ihre Gesichter mit den Händen bedecken.« »Zerrten sie an ihren Haaren, etwa so?« Asakawa demonstrierte es seinem Kollegen. »Was meinst du...?« »Zogen sie an ihren Köpfen, oder rissen sie sich die Haare aus, irgendwas in der Art?« »Nein, ich glaube nicht.« »Verstehe. Könntest du mir ihre Namen und Adressen geben, Yoshino?« »Na klar. Aber vergiss nicht dein Versprechen.« Asakawa nickte lächelnd. Yoshino erhob sich und stieß dabei an den Tisch. Ihr Kaffee schwappte auf die Untertassen. Yoshino hat‐ te keinen einzigen Schluck getrunken.
5 Wann immer Asakawa eine freie Minute hatte, untersuchte er die persönlichen Hintergründe der vier Toten, doch seine sonstige Arbeit nahm ihn so in Anspruch, dass er nicht so gut vorankam, wie er gehofft hatte. Ohne dass er es merkte, war eine Woche ver‐ gangen. Jetzt begann ein neuer Monat, und das regnerische Au‐ gustwetter mit der hohen Luftfeuchtigkeit und das heiße Som‐ merwetter des Septembers waren gleichermaßen nur noch ferne Erinnerungen, die vom Herbst verdrängt wurden. Eine Zeit lang geschah nichts. Mittlerweile hatte er es sich zur Regel gemacht, die Seiten mit den Lokalnachrichten gründlich zu lesen, aber er war auf keinen auch nur annähernd ähnlichen Vorfall gestoßen. Oder war etwas Entsetzliches auf dem langsamen Vormarsch, das er nur nicht erkennen konnte? Je mehr Zeit verging, desto mehr war A‐ sakawa geneigt, die vier Todesfälle für Ereignisse zu halten, die nicht das Mindeste miteinander zu tun hatten. Auch Yoshino hatte er seitdem nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich hatte auch er die ganze Geschichte vergessen. Andernfalls hätte er sich bestimmt einmal bei Asakawa gemeldet. Wenn seine Begeisterung für die Beschäftigung mit dem Fall nachließ, zog Asakawa vier Karteikarten aus der Tasche, um sich erneut daran zu erinnern, dass nicht alles nur Zufall gewesen sein konnte. Auf diesen Karten hatte er die Namen, die Adressen der Toten sowie andere einschlägige Informationen notiert. Den verbleibenden Platz gedachte er anderen Bereichen zu widmen: ihren Aktivitäten während der Monate August und September, ihrer Biografie und allen anderen Sachverhalten, die seine Recher‐ chen noch zutage fördern würden. 1. Karteikarte: Tomoko Oishi Geburtsdatum: 21.10.1972
Keisei‐Oberschule für Mädchen, Abschlussklasse, Alter: 17 Jahre Adres‐ se: Motomachi 1‐7, Honmoku, Bezirk Naka, Yokohama 5. September, etwa 23.00 Uhr: stirbt in der Küche im Erdgeschoss des Hauses ihrer Familie, während ihre Eltern ausgegangen sind. Todesursache: plötzli‐ ches Herzversagen. 2. Karteikarte: Shuichi Iwata Geburtsdatum: 26.5.1971 Eishin‐Akademie, erstes Jahr, Alter: 19 Jahre Adresse: Nishi Nakanobu 1‐ 5‐23, Bezirk Shinagawa, Tokio 5. September, 22.54 Uhr: kippt mit seinem Motorrad um und stirbt an der Kreuzung vor dem Shinagawa‐Bahnhof. Todesursache: Herzinfarkt 3. Karteikarte: Haruko Tsuji Geburtsdatum: 12.1.1973 Keisei‐Oberschule für Mädchen, Abschlussklasse, Alter: 17 Jahre Adres‐ se: Mori 5‐19, Bezirk Isogo, Yokohama 5. September, spät nachts (oder in den frühen Morgenstunden des 6.): stirbt in einem Auto neben einer Straße am Fuß des Berges Okusu. Todesursache: plötzliches Herzversa‐ gen. 4. Karteikarte: Takehiko Nomi Geburtsdatum: 4.12.1970 Eishin‐Akademie, zweites Jahr, Alter: 19 Jahre Adresse: Uehara 1‐10‐4, Bezirk Shibuya, Tokio j. September, spät nachts (oder in den frühen Mor‐ genstunden des 6.): stirbt mit Haruko Tsuji in einem Auto neben einer Straße am Fuß des Bergs Okusu. Todesursache: plötzliches Herzversagen. Tomoko Oishi und Haruko Tsuji waren auf dieselbe Oberschule gegangen und Freundinnen gewesen, Shuichi Iwata und Takehiko Nomi hatten dieselbe Vorbereitungsschule für die Universität be‐ sucht und waren vor ihrem Tod ebenfalls befreundet gewesen. So viel war bereits vor Asakawas Recherchen klar, aber diese bestä‐
tigten es zweifelsfrei. Der simplen Tatsache, dass Haruko Tsuji und Takehiko Nomi am Abend des 5. September eine Spritztour gemacht hatten, ließ sich entnehmen, dass sie, auch wenn sie kein wirkliches Liebespaar gewesen waren, doch zumindest miteinan‐ der herumgetändelt hatten. Bei seinen Recherchen hörte Asakawa von ihren Freundinnen, dass Haruko Tsuji sich mit einem jungen Mann aus Tokio traf. Wie auch immer, noch wusste Asakawa nicht, wann und unter welchen Umständen sie sich kennen gelernt hatten. Logischerweise vermutete er, dass auch Tomoko Oishi und Shuichi Iwata ein Liebespaar gewesen waren, aber er konnte keine Beweise dafür finden. Genauso gut war denkbar, dass Tomoko Oishi und Shuichi Iwata sich nie begegnet waren. In diesem Fall stellte sich die Frage, worin das Bindeglied zwischen den vier To‐ ten bestand. Sie schienen zu eng miteinander verbunden gewesen zu sein, als dass dieses unbekannte... Etwas sie rein zufällig her‐ ausgepickt haben konnte. Vielleicht gab es irgendein Geheimnis, das nur diese vier jungen Menschen geteilt hatten, und deshalb waren sie getötet worden... Asakawa versuchte, sich von einer eher wissenschaftlichen Theorie zu überzeugen: Vielleicht hatten sich die vier Toten zur gleichen Zeit am gleichen Ort aufgehalten und sich mit einem Virus infiziert, das das Herz angriff. Nun mal ganz langsam. Asakawa schüttelte im Gehen den Kopf. Ein Virus, das plötzliches Herzversagen herbeiführt? Scheint ziemlich weit hergeholt zu sein. Er stieg die Treppe hoch und murmelte dabei immer wieder »Ein Virus, ein Virus« vor sich hin. Ja, er sollte es zunächst mit einer wissenschaftlichen Erklärung versuchen. Nur mal angenommen, es gäbe ein Virus, das zu Herzinfarkten führte. Zumindest war das etwas realistischer als die Annahme, dass irgendetwas Übernatür‐ liches hinter all dem steckte, und er gab sich nicht der Lächerlich‐ keit preis. Selbst wenn man bisher noch keinen solchen Virus ent‐
deckt hatte — vielleicht war es erst kürzlich in einem Meteor auf die Erde niedergegangen. Eventuell war es auch als biologische Waffe entwickelt und irgendwie freigesetzt worden. Ausschließen konnte man diese Möglichkeit nicht. Ja, eine Zeit lang würde er von einem Virus ausgehen, auch wenn das seine Zweifel nicht besänftigte. Warum waren die vier mit einem erstaunt‐ schockierten Gesichtsausdruck gestorben? Warum hatten Haruko Tsuji und Takehiko Nomi an den Türen des Kleinwagens geses‐ sen, als könnten sie gar nicht genug Abstand zwischen sich brin‐ gen? Warum hatten die Autopsien keinerlei Resultate erbracht? Die Möglichkeit eines bei der Entwicklung biologischer Waffen entschlüpften Krankheitserregers würde zumindest diese dritte Frage beantworten. Wahrscheinlich hatte es dann einen Maul‐ korberlass gegeben. Wenn er diese Hypothese weiter verfolgte, konnte er davon aus‐ gehen, dass das Virus nicht über die Atemwege übertragen wurde, weil es bisher keine anderen Opfer gegeben hatte. Entweder wur‐ de es so ähnlich wie Aids übertragen, oder es war nicht besonders ansteckend. Doch wichtiger war, wo sich die vier jungen Men‐ schen infiziert hatten. Er musste sich noch einmal um ihre Aktivi‐ täten in den Monaten August und September kümmern und he‐ rausfinden, ob sie irgendwann zur selben Zeit am selben Ort ge‐ wesen waren. Leicht würde das nicht werden, da alle vier äußerst verschwiegen gewesen waren. Wenn ein Treffen zu viert ein Ge‐ heimnis gewesen war, von dem weder Eltern noch Freunde etwas gewusst hatten, wie sollte er es dann herausfinden? Aber er war sicher, dass die vier sich irgendwann zur selben Zeit am selben Ort aufgehalten und irgendetwas gemeinsam hatten. Asakawa öffnete sein Textverarbeitungsprogramm und ver‐ drängte das unbekannte Virus aus seinen Gedanken. Weil er sei‐ nen Artikel heute fertig machen musste, wurde es Zeit, den Inhalt
einer Kassette zusammenzufassen, die er bei seinen Recherchen aufgenommen hatte. Am morgigen Sonntag würde er gemeinsam mit seiner Frau Shizu deren Schwester Yoshimi Oishi einen Besuch abstatten, und dann würde er mit eigenen Augen den Ort sehen, an dem Tomoko gestorben war. Er würde am eigenen Leib spüren, ob noch irgendetwas in der Luft lag. Seine Frau hatte dem Besuch in Honmoku zugestimmt, weil sie ihre ältere Schwester wegen des schmerzlichen Verlusts trösten wollte. Von den wahren Motiven ihres Manns hatte sie keine Ahnung. Asakawa begann schon auf die Tastatur einzuhämmern, als er noch gar kein schlüssiges Konzept für seinen Artikel entwickelt hatte.
6 Shizu hatte ihre Eltern einen Monat lang nicht gesehen. Seit dem Tod von Tomoko fuhren sie so oft wie möglich aus Ashikaga nach Tokio, und zwar nicht nur, um ihre Tochter zu trösten, sondern auch, um sich selbst trösten zu lassen. Erst heute verstand Shizu das. Als sie die ausgemergelten, vom Kummer gezeichneten Ge‐ sichter ihrer Eltern sah, drohte ihr das Herz zu brechen. Einst hat‐ ten ihre Eltern drei Enkelkinder gehabt: Tomoko, die Tochter ihrer ältesten Tochter Yoshini, Kenishi, den Sohn ihrer zweiten Tochter Kazuko, und Shizus Tochter Yoko. Ein Enkel von jeder ihrer drei Töchter — ganz so häufig kam das nicht vor. Tomoko war ihr er‐ stes Enkelkind gewesen. Ihre Mienen hatten sich jedes Mal aufge‐ hellt, wenn sie sie sahen, und sie hatten es genossen, sie zu ver‐ wöhnen. Jetzt waren sie so deprimiert, dass man unmöglich sagen konnte, ob ihre Trauer oder die ihrer Tochter größer war. Vermutlich sind Enkel etwas sehr Wichtiges. In diesem Jahr war Shizu dreißig Jahre alt geworden. Um die Gefühle ihrer Schwester zu verstehen, konnte sie sich nur an deren Stelle versetzen. Wie würde sie sich fühlen, wenn sie ihr Kind ver‐ loren hätte? Aber tatsächlich hinkte der Vergleich zwischen Yoko, die erst anderthalb Jahre alt war, und Tomoko, die mit 17 gestor‐ ben war. Sie wusste noch nicht, dass die Liebe zu einem Kind mit jedem Jahr wuchs. Etwa um drei Uhr nachmittags begannen sich Shizus und Yoshinis Eltern auf die Heimfahrt nach Ashikaga vorzubereiten. Shizu konnte ihre Überraschung kaum verbergen. Warum hatte ihr Mann, der sonst immer starke berufliche Belastungen vor‐ schützte, diesmal von sich aus den Besuch bei ihrer Schwester vorgeschlagen? Derselbe Mann, der nicht bei der Beerdigung des
armen Mädchens gewesen war, weil er angeblich unbedingt einen Termin einhalten musste. Jetzt war es schon fast Essenszeit, und Asakawa ließ keinerlei Anzeichen dafür erkennen, dass ihm an einem baldigen Aufbruch lag. Er war Tomoko nur ein paar Mal begegnet, und wahrscheinlich hatten sie sich nie sehr lange unter‐ halten. Mit Sicherheit wurde er nicht durch schmerzliche Erinne‐ rungen an die Tote aufgehalten. Shizu tippte Asakawa aufs Knie. »Ich glaube, es wird langsam Zeit, mein Lieber...«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Sieh dir Yoko an. Sie ist müde. Vielleicht sollte sie lieber hier ein Schläfchen machen.« Sie hatten ihre Tochter mitgenommen, und normalerweise war dies die Zeit für ihren Mittagsschlaf. Es stimmte, Yoko hatte zu blinzeln begonnen ‐ wie immer, wenn sie müde wurde. Aber wenn sie ihre Tochter hier schlafen ließen, mussten sie noch min‐ destens zwei Stunden bleiben. Worüber sollten sie sich mit Tomo‐ kos trauernden Eltern zwei Stunden lang unterhalten? »Sie kann doch im Zug schlafen«, sagte Shizu mit gesenkter Stimme. »Als wir das zum letzten Mal versucht haben, war Yoko total aufgeregt, und die ganze Zugfahrt war grauenhaft. Nein, besten Dank.« Wann immer Yoko inmitten einer Menschenmenge ermüdete, war sie unglaublich aufgeregt. Sie schlug mit ihren winzigen Ar‐ men und Beinen um sich, schrie aus vollem Hals und machte ihren Eltern das Leben schwer. Schimpfte man mit ihr, wurde alles nur noch schlimmer. Beruhigen konnte man sie allenfalls, wenn man versuchte, sie irgendwie zum Schlafen zu bewegen. In solchen Situationen wurde sich Asakawa der Mienen der Umstehenden bewusst, und er begann zu schmollen, als litte in erster Linie er unter dem Gekreische seiner Tochter. Die anklagenden Blicke der
anderen Zugreisenden riefen bei ihm Erstickungsgefühle hervor. Shizu zog es vor, ihren Mann nicht noch einmal in einer solchen Stimmung erleben zu müssen, wo seine Wangen — um nur ein Beispiel zu nennen — vor lauter Nervosität zuckten. »Also gut, wenn du meinst.« »Großartig. Dann wollen wir mal sehen, ob wir nicht oben ein Plätzchen finden, wo sie schlafen kann.« Yoko lag mit halb geschlossenen Augen im Schoß ihrer Mutter. »Ich kümmere mich darum«, sagte Asakawa, während er mit dem Handrücken eine Wange seiner Tochter liebkoste. Aus sei‐ nem Mund klangen diese Worte seltsam, da er seiner Frau anson‐ sten kaum mit dem Baby half. Vielleicht hatte er ja jetzt, als Zeuge der Trauer von Eltern über den Verlust eines Kindes, seine Mei‐ nung geändert. »Was ist denn mit dir los? Langsam wirdʹs unheimlich.« »Mach dir keine Sorgen. Sieht so aus, als würde Yoko sofort ein‐ schlafen. Lass mich nur machen.« Shizu streckte ihm das Kleinkind entgegen. »Danke. Ich wünsch‐ te nur, du wärst immer so hilfsbereit.« Während Asakawa seine Tochter an die Brust drückte, begann Yoko das Gesicht zu verziehen, doch noch bevor sie zu schreien anfangen konnte, war sie eingeschlafen. Mit dem Baby im Arm stieg er die Treppe hoch. Im ersten Stock gab es zwei im japani‐ schen Stil eingerichtete Räume, doch Tomokos Zimmer ähnelte dem eines Jugendlichen aus der westlichen Welt. Nachdem er Yo‐ ko in einem der im traditionellen Stil gehaltenen Räume, der nach Süden ging, auf den Futon gelegt hatte, war es nicht nötig, dass Asakawa noch bei seiner regelmäßig atmenden und fest schlafen‐ den Tochter blieb. Er verließ den Raum und lauschte an der Treppe, was unten vor sich ging. Dann betrat er Tomokos Zimmer, wobei er ein leichtes
Schuldgefühl hatte, weil er in die Privatsphäre des toten Mäd‐ chens eindrang. War das nicht genau das, was er sonst verab‐ scheute? Aber es diente ja einem guten Zweck — dem Kampf ge‐ gen das Böse. Er musste nur über seinen Schatten springen. Noch während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, empfand er Abscheu gegenüber seiner Neigung, jeden beliebigen Grund — und sei er auch noch so trügerisch — zu nutzen, um seine Hand‐ lungen »rational« zu begründen. Zugleich protestierte eine andere Stimme, es sei ja nicht so, als schreibe er einen Artikel: Er wolle einfach nur herausfinden, wann und wo die vier Jugendlichen zusammen gewesen waren. Tut mir Leid, Tomoko. Asakawa zog die Schreibtischschubladen auf, fand aber nur das, was man bei jeder anderen Oberschülerin auch gefunden hätte, wenn auch ordentlich arrangiert: drei Schnappschüsse, einen Schachtel mit Trödel, Briefe, einen Notizblock, ein Nähkästchen. Hatten ihre Eltern diese Schubladen nach Tomokos Tod schon einmal geöffnet? Es sah nicht so aus. Wahrscheinlich war sie von Natur aus ordentlich gewesen. Asakawa hoffte, ein Tagebuch zu finden — dadurch würde er sehr viel Zeit sparen. Heute habe ich mich mit Haruko Tsuji, Takehiko Nomi und Shuichi Iwata getroffen, und wir... Wenn er doch nur einen solchen Eintrag finden würde... Er nahm ein Notizbuch vom Bücherregal und blätterte es durch. Schließlich fand er hinten in einer Schublade tatsächlich ein sehr kleinmädchenhaftes Tagebuch, in dem es aber nur auf den ersten paar Seiten ein paar Einträge gab, die allerdings älteren Datums waren. Auf dem Regal neben dem Schreibtisch standen keine Bücher, sondern nur ein Schränkchen für Kosmetika. Asakawa zog die Schublade auf: Ein paar billige Accessoires, jede Menge nicht zu‐ einander passender Ohrringe. Offenbar hatte Tomoko die Ange‐ wohnheit gehabt, von jedem Paar einen Ohrring zu verlieren. Ein
Taschenkamm, in dem noch ein paar dünne schwarze Haare hin‐ gen. Als Asakawa den prall gefüllten Einbauschrank mit Tomokos Kleidung öffnete, stieg ihm der Duft des Mädchens in die Nase. Auf den Bügeln hingen farbenfrohe Kleider und Röcke. Offen‐ sichtlich hatten seine Schwägerin und ihr Mann noch nicht be‐ schlossen, was sie mit den Kleidungsstücken anfangen sollten, die noch den Geruch ihrer Tochter verströmten. Erneut lauschte Asa‐ kawa, was unten vor sich ging. Er war nicht sicher, wie seine Gastgeber reagieren würden, wenn sie ihn hier erwischten. Er hör‐ te niemanden nach oben kommen — seine Frau und ihre Schwe‐ ster unterhielten sich offenbar. Nacheinander durchsuchte Asaka‐ wa sämtliche Taschen der Kleidungsstücke in dem Einbauschrank: Taschentücher, abgerissene Kinokarten, Kaugummipapier, Papier‐ servietten, eine Klarsichthülle für Ausweise. Darin fand Asakawa eine Dauerkarte für die Strecke Yamate‐Tsurumi, einen Schüler‐ ausweis und einen Mitgliedsausweis, auf dem eine teilweise unle‐ serliche Unterschrift stand — sowieso Nonoyama. Hinsichtlich des Vornamens war er sich unschlüssig — vielleicht Yukir. Die Hand‐ schrift verriet nicht, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Warum hatte Tomoko den Mitgliedsausweis eines ande‐ ren in der Klarsichthülle für ihre Ausweise? Plötzlich hörte er Schritte die Treppe hinaufkommen. Nachdem er die Karte in die Tasche gesteckt hatte, ließ er die Klarsichthülle wieder dort verschwinden, wo er sie gefunden hatte. Dann schloss er den Kleiderschrank und trat gerade in dem Moment in den Flur, als seine Schwägerin oben auf der Treppe stand. »Entschuldigung, gibtʹs hier oben eine Toilette?« Asakawa kehrte demonstrativ hervor, dass er es eilig hatte. »Gleich da drüben, am Ende des Flurs.« Seine Schwägerin schien keinen Verdacht zu haben. »Schläft Yoko wie ein braves Mäd‐
chen?« »Ja. Tut mir Leid, dass wir dir solche Scherereien machen.« »Nicht der Rede wert.« Yoshini verbeugte sich leicht und trat dann in einen der im japanischen Stil Eingerichteten Räume, wobei sie mit einer Hand die Schärpe ihres Kimonos hielt. Im Badezimmer zog Asakawa den Mitgliedsausweis aus der Ta‐ sche, auf dem »Ferienklub Pazifik« stand. Unten auf der Karte fanden sich Nonoyamas Name, seine Mitgliedsnummer und die Gültigkeitsdauer des Ausweises. Auf der Rückseite waren in klei‐ ner Schrift fünf Bedingungen für die Mitgliedschaft abgedruckt, außerdem der Name der Firma samt Adresse: Ferienklub Pazifik AG, Kojimachi 3‐5, Bezirk Chiyoda, Tokio, Tel.‐Nr.: (03) 261‐4922. Wenn Tomoko den Mitgliedsausweis nicht gefunden oder geklaut hatte, musste sie ihn sich von diesem Nonoyama ge‐ liehen haben. Und warum? Natürlich wegen der Einrichtungen des Ferienklubs. Welche hatte sie genutzt — und wann? Von hier konnte Asakawa nicht anrufen, deshalb verließ er das Haus unter dem Vorwand, Zigaretten zu kaufen. Draußen rannte er zu einer Telefonzelle und wählte die Nummer. »Pazifik Ferienklub, kann ich Ihnen helfen?«, meldete sich die Stimme einer jungen Frau. »Ich wüsste gern, welche Einrichtungen Ihres Klubs ich nutzen kann, wenn ich Mitglied werde.« Die Frau antwortete nicht sofort. Vielleicht gab es so viele Ange‐ bote, dass sie nicht alle aufzählen konnte. »... wenn ich beispielsweise für einen Kurztrip mit Übernachtung aus Tokio kommen würde«, fügte er hinzu. Wahrscheinlich wäre es den vier jungen Leuten nicht ohne weiteres möglich gewesen, ohne Wissen ihrer Eltern eine Reise mit zwei oder drei Übernach‐ tungen zu machen. Da Asakawa bis jetzt noch nichts herausge‐ funden hatte, musste er davon ausgehen, dass die vier wahr‐
scheinlich nur einen Kurztrip mit einer Übernachtung gemacht hatten. Wenn Tomoko ihren Eltern vorgelogen hatte, dass sie eine Nacht im Haus einer Freundin verbringen würde, wäre ihr das wahrscheinlich mit Leichtigkeit gelungen. »In unserem Pazifikland in Süd‐Hakone halten wir jede Menge Angebote für unsere Kunden parat«, sagte die Frau in geschäfts‐ mäßigem Tonfall. »Was für Freizeitaktivitäten bieten Sie dort genau an?« »Golf, Tennis, Jagen, Fischen. Natürlich haben wir auch einen Swimmingpool.« »Kann man dort auch übernachten?« »Ja. Neben einem Hotel gibt es im Pazifikland auch unser Block‐ hüttendorf, wo Unterkünfte gemietet werden können. Soll ich Ih‐ nen unseren Prospekt schicken?« »Ja, bitte.« Asakawa versuchte, sich als zukünftigen Kunden zu präsentieren. So hoffte er, aus der Frau leichter Informationen her‐ ausholen zu können. »Sind das Hotel und die Blockhütten auch für Nichtmitglieder zugänglich?« »Ja, aber sie kommen nicht in den Genuss der günstigeren Preise für Klubmitglieder.« »Verstehe. Können Sie mir die Telefonnummer geben? Vielleicht sehe ich mir das mal vor Ort an.« »Wenn Sie wünschen, kann ich sofort für Sie reservieren...« »Nein, nein. Vielleicht fahre ich irgendwann mal dorthin und entscheide mich spontan, mir alles anzusehen. Geben Sie mir bitte die Telefonnummer?« »Einen Augenblick bitte.« Während er wartete, zog Asakawa ein Notizbuch und einen Stift aus der Tasche. »Sind Sie bereit?«, fragte die Frau. Dann diktierte sie ihm zwei elfstellige Telefonnummern. Die Vorwahlnummern waren lang,
die Feriendörfer mussten am Ende der Welt sein. »Nur für alle Fälle — wo liegen Ihre anderen Ferienklubs?« »In unseren Erholungsparks am See Hamana und bei Hamajina in der Präfektur Mie haben wird dasselbe Serviceangebot im Pro‐ gramm.« Viel zu weit weg! Das musste für das schmale Budget von Schü‐ lern viel zu teuer gewesen sein. »Verstehe. Ihre Ferienklubs scheinen alle am Pazifik zu liegen, wie der Name Ihrer Firma schon sagt.« Nun begann die Angestellte all die fabelhaften Vorteile aufzu‐ zählen, in deren Genuss man als Mitglied des Ferienklubs Pazifik kam. Aus Höflichkeit hörte Asakawa eine Weile zu, doch dann schnitt er ihr das Wort ab. »Großartig. Den Rest kann ich sicher Ihrem Prospekt entnehmen. Ich gebe Ihnen jetzt meine Adresse, dann können Sie ihn mir zusenden.« Nachdem er seine Anschrift durchgegeben hatte, hängte er den Hörer ein. Angesichts der at‐ traktiven Offerte begann er, darüber nachzudenken, ob es viel‐ leicht eine gute Idee wäre, Mitglied zu werden, aber er war sich nicht ganz sicher, ob er es sich leisten konnte. Yoko schlief bereits seit über einer Stunde, und Shizus Eltern mussten nun wieder in Ashikaga sein. Als Asakawa im Haus sei‐ ner Schwägerin eintraf, spülte seine Frau in der Küche für ihre Schwester, da diese, noch geschwächt durch ihre Trauer, selbst der kleinsten Belastung nicht gewachsen war. Asakawa brachte das restliche Geschirr aus dem Wohnzimmer in die Küche. »Was ist denn heute mir dir los? Du benimmst dich so seltsam«, sagte Shizu, ohne mit dem Spülen aufzuhören. »Du bringst Yoko ins Bett und hilfst in der Küche. Schlägst du ein neues Kapitel un‐ seres Ehelebens auf? Hoffentlich bleibtʹs dabei.« Asakawa war in Gedanken versunken und wollte nicht gestört werden. Der Name seiner Frau bedeutete »still«, und er hoffte,
dass sie tatsächlich den Mund halten würde. Wahrscheinlich brachte er sie am wirkungsvollsten zum Schweigen, wenn er ein‐ fach nicht antwortete. »Ach, übrigens, hast du die Windeln gewechselt, bevor du sie hingelegt hast? Schließlich wollen wir ja nicht, dass im Haus mei‐ ner Schwester etwas durchsickert.« Asakawa zeigte sich desinteressiert. Er war damit beschäftigt, die Wände der Küche zu studieren. Hier war Tomoko gestorben, man hatte sie zwischen Glasscherben und einer Lache Coca‐Cola ge‐ funden. Das Virus musste genau in dem Moment zugeschlagen haben, als sie die Flasche Cola aus dem Eisschrank geholt hatte. Asakawa öffnete den Kühlschrank und ahmte dabei Tomokos Be‐ wegungen nach. Er stellte sich vor, ein Glas in der Hand zu halten, und tat so, als würde er daraus trinken. »Was in aller Welt ist mit dir los?« Shizu starrte ihn mit offenem Mund an, aber Asakawa ließ sich nicht stören. Noch immer das imaginäre Glas in der Hand haltend, blickte er hinter sich. Als er sich umdrehte, sah er eine Glastür, die das Wohnzimmer von der Küche trennte. Auf ihr reflektierte das Licht der über der Spüle angebrachten Neonröhre. Die Glastür spiegelte aber nur das Licht der Neonröhre, nicht die Mienen der beiden Menschen auf dieser Seite. Wahrscheinlich lag das daran, dass es draußen immer noch hell und das Wohnzimmer lichtdurchflutet war. Wenn die andere Seite der Glasscheibe dunkel und diese Seite hell war, wie in der Nacht, als Tomoko hier gestanden hatte... Dann wäre die Glastür ein Spiegel gewesen, in dem das Geschehen in der Küche zu sehen gewesen war. Tomokos von Entsetzen verzerrte Miene musste darin zu erkennen gewesen sein. Beinahe konnte sich Asakawa die Glasscheibe als einen Zeugen vorstellen, der alles gesehen hatte. Glas konnte transparent oder reflektierend sein, was von dem je‐ weiligen Zusammenspiel von Helligkeit und Dunkel abhing. Asa‐
kawa bewegte sein Gesicht näher an die Glasscheibe heran, als würde ihn etwas anziehen, doch da tippte ihm seine Frau auf die Schulter. Und genau in diesem Augenblick begann ihre Tochter oben zu schreien. »Yoko ist aufgewacht.« Shizu trocknete sich mit einem Handtuch die Hände ab. Normalerweise schrie ihre Tochter nicht so nach dem Aufwachen. Shizu eilte in den ersten Stock. Sie war gerade verschwunden, als ihre Schwester den Raum betrat. Asakawa reichte ihr die Mitgliedskarte. »Die habe ich unter dem Klavier gefunden«, bemerkte er zwanglos, um dann Yoshinis Reaktion abzuwarten. Yoshini nahm die Karte und drehte sie um. »Seltsam. Wie kommt die hierher?« Sie hob irritiert den Kopf. »Könnte Tomoko sie sich von einer Freundin oder einem Freund geliehen haben?« »Aber den Namen habe ich noch nie gehört. Ich glaube nicht, dass sie...« Yoshini blickte Asakawa mit wachsender Besorgnis an. »Das scheint wichtig zu sein. Ich schwöre, dass mein Mädchen...« Ihre Stimme versagte. Selbst die kleinste Kleinigkeit ließ ihre Trau‐ er wieder durchbrechen. Asakawa zögerte mit seiner Frage, stellte sie dann aber doch. »Ist es... Ist es denkbar, dass Tomoko und ihre Freunde diesen Ferien‐ klub während der Sommerferien besucht haben?« Yoshini schüttelte den Kopf — sie vertraute ihrer Tochter. Tomo‐ ko hatte nicht zu den Mädchen gehört, die erklärten, bei Freun‐ dinnen zu übernachten, und dann etwas anderes taten. Außerdem hatte sie für ihre Prüfungen gelernt. Asakawa verstand Yoshinis Gefühle und beschloss, keine weiteren Fragen über Tomoko zu stellen. Keine vor den Abschlussprüfungen stehende Schülerin würde ihren Eltern erzählen, dass sie mit ihrem Freund eine Blockhütte in einem Ferienklub mieten wolle. Sie hätte zu einer
Lüge Zuflucht genommen und ihren Eltern erzählt, sie werde mit einer Freundin in deren Wohnung lernen. Ihre Eltern hätten nichts erfahren. »Ich suche den Besitzer der Karte und gebe sie ihm zurück.« Yoshini senkte schweigend den Kopf. Da rief ihr Mann aus dem Wohnzimmer, und sie stürmte aus der Küche. Tomokos Vater saß vor einem kürzlich errichteten buddhistischen Altar und sprach zu einem Foto seiner Tochter. Seine Stimme klang auf schockierende Weise fröhlich, und Asakawa musste deprimiert zur Kenntnis nehmen, dass er den Tod seiner Tochter offensichtlich nicht wahr‐ haben wollte. Man konnte nur inständig hoffen, dass er den Schock irgendwie überwinden würde. Eines jedenfalls hatte Asakawa herausgefunden. Falls Nonoyama Tomoko den Mitgliedsausweis tatsächlich geliehen hatte, hätte er oder sie bei der Nachricht von Tomokos Tod Kontakt zu ihren Eltern aufgenommen, um die Rückgabe der Karte zu erbitten. A‐ ber Tomokos Mutter wusste nichts von dem Ausweis, den No‐ noyama schwerlich vergessen haben konnte. Die Mitgliedsbeiträge waren zu hoch, um sich einfach mit dem Verlust der Karte abzufinden. Was ergab sich daraus? Asakawa reimte sich das Ganze so zusammen: Nonoyama hatte die Karte einem der drei anderen geliehen — Shuichi Iwata, Haruko Tsuji oder Takehiko Nomi. Irgendwie war sie dann in Tomokos Besitz gelangt. Nonoyama musste doch Kontakt zu den Eltern der Person aufgenommen haben, der er den Mitgliedsausweis geliehen hatte, und dann hatten diese die Sachen ihres Sprösslings durchsucht, ohne etwas zu finden, denn die Karte war hier. Wenn Asakawa sich an die Familien der drei anderen Verstorbenen wandte, wür‐ de es ihm vielleicht gelingen, Nonoyamas Adresse herauszube‐ kommen. Am besten sollte er sie noch heute Abend anrufen. Fand er auf diese Weise keinen Anhaltspunkt, war es unwahrscheinlich,
dass er anhand der Karte eruieren konnte, wann und wo die vier Jugendlichen zusammen gewesen waren. Auf jeden Fall wollte er Nonoyama treffen und sich anhören, was er oder sie zu sagen hat‐ te. Wenn es sein musste, würde er schon einen Weg finden, an‐ hand von Nonoyamas Mitgliedsnummer seine Adresse in Erfah‐ rung zu bringen. Eine direkte Nachfrage beim Ferienklub Pazifik würde ihm wahrscheinlich nicht weiterhelfen, aber er war sicher, dass er durch die Beziehungen seiner Zeitung zu einem Resultat kommen würde. Irgendjemand rief nach ihm; die Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. »Liebster...« Die verwirrte Stimme seiner Frau ver‐ mischte sich mit dem Schreien des Babys. »Kannst du einen Augenblick nach oben kommen?« Asakawa kam wieder zu sich. Plötzlich war er nicht einmal mehr sicher, worüber er die ganze Zeit nachgedacht hatte. Das Schreien seiner Tochter klang irgendwie seltsam, und als er die Treppe hi‐ naufstieg, verstärkte sich dieser Eindruck noch. »Was ist denn?«, fragte Asakawa vorwurfsvoll. »Mit Yoko stimmt irgendwas nicht. Ihr Geschrei klingt anders als sonst. Glaubst du, dass sie krank ist?« Asakawa legte eine Hand auf die Stirn seiner Tochter. Fieber hat‐ te sie nicht, aber ihre kleinen Hände zitterten. Das Zittern erstreck‐ te sich auf den ganzen Körper. Yokos Gesicht war gerötet, und ihre Augen waren fest zusammengekniffen. »Wie lange dauert das schon?« »Es liegt bestimmt daran, dass sie aufgewacht ist und allein war.« Das Baby schrie oft, wenn es allein aufwachte. Kam Shizu gleich herbeigeeilt, um es in ihren Armen zu wiegen, beruhigte es sich schnell wieder. Wenn ein Baby schrie, wollte es etwas, aber was... Yoko schien ihnen etwas sagen zu wollen, es lag nicht daran, dass
sie nur verstimmt war. Sie hatte die winzigen Hände krampfhaft gegen das Gesicht gepresst. Das war es — Yoko schrie aus Angst. Jetzt wandte sie ihr Gesicht ab und öffnete die geballten Fäuste. Sie schien auf etwas zeigen zu wollen. Asakawa schaute in die Rich‐ tung, sah ein Kopfkissen und hob dann den Blick. Etwa dreißig Zentimeter unter der Decke hing die kleine Maske eines hannya — eines weiblichen Dämons. War das Kind wegen der Maske ver‐ ängstigt? »Sieh mal«, sagte Asakawa, während er mit dem Kinn auf die Wand wies. Die beiden Eheleute starrten die Maske an, dann wandten sie sich einander zu. »Ausgeschlossen... Sie soll Angst vor einem Dämon haben?« Asakawa stand auf, nahm die Maske von der Wand und legte sie mit dem Gesicht nach unten auf eine Kommode, sodass Yoko sie nicht mehr sehen konnte. Sofort hörte das Baby zu schreien auf. »Was ist denn, Yoko? Hat der böse Dämon dir Angst gemacht?« Shizu schien erleichtert zu sein, den Grund für die Angst ihrer Tochter herausgefunden zu haben. Zufrieden schmiegte sie ihre Wange gegen die des Kindes. Dagegen war Asakawa nicht so leicht zu beruhigen — aus irgendeinem Grund wollte er keine Mi‐ nute länger in diesem Zimmer bleiben. »Lass uns nach Hause fahren«, drängte er seine Frau. Noch am selben Abend, direkt nach ihrer Rückkehr vom Besuch bei den Oishis, rief Asakawa die Familien Tsuji, Nomi und Iwata an, und zwar in dieser Reihenfolge. Bei jedem der Telefonate frag‐ te er, ob ein Bekannter ihres Kindes wegen des Mitgliedsausweises eines Ferienklubs angerufen habe. Sein letzter Gesprächspartner, Shuichi Iwatas Mutter, hatte eine lange, weitschweifige Antwort parat: »Es hat jemand angerufen und versichert, dieselbe Ober‐ schule wie Shuichi besucht zu haben. Er war älter und behauptete, meinem Sohn den Mitgliedsausweis geliehen zu haben, den er
jetzt zurückhaben wolle... Aber obwohl ich jeden Winkel des Zimmers meines Sohns durchsucht habe, habe ich die Karte nie gefunden. Seitdem mache ich mir darüber Gedanken.« Asakawa erkundigte sich schnell nach Nonoyamas Telefonnummer, legte auf und wählte sofort erneut. Nonoyama hatte Shuichi Iwata am letzten Augustsonntag in Shi‐ buya kennen gelernt und ihm seinen Mitgliedsausweis geliehen — ganz wie Asakawa vermutet hatte. Iwata hatte ihm erzählt, er wol‐ le mit einer Schülerin wegfahren, auf die er es abgesehen habe. Die Sommerferien sind fast vorbei, vorher will ich mich noch mal anständig amüsieren. Sonst schaffe ich es nicht, mich dahinter zu klemmen und für die Prüfungen zu büffeln. Nonoyama hatte nur gelacht. Du Idiot, wenn man die Vorberei‐ tungsschule für die Universität besucht, hat man kein Recht auf Som‐ merferien. Der letzte Augustsonntag war der 26. gewesen — wenn sie ir‐ gendwo übernachtet hatten, musste es am 27., 28., 29. oder 30. Au‐ gust gewesen sein. Wie es mit den Vorbereitungsschulen für die Universität aussah, wusste Asakawa nicht, aber die Oberschulen begannen auf jeden Fall am 1. September wieder mit dem Unter‐ richt. Vielleicht lag es an der langen in ungewohnter Umgebung ver‐ brachten Zeit, dass Yoko sofort neben ihrer Mutter einschlief. Als Asakawa an der Schlafzimmertür lauschte, hörte er die beiden regelmäßig atmen. Neun Uhr abends... eigentlich die Zeit, wo auch Asakawa sonst an ein bisschen Entspannung dachte. Bis seine Frau und seine Tochter fest schliefen, gab es aber für ihn in der kleinen Eigentumswohnung keinen Platz, wo er arbeiten konnte, ohne sie zu stören. Asakawa holte eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und
schenkte sich ein Glas voll. Heute schmeckte es ihm besonders gut. Durch den Fund des Mitgliedsausweises hatte er definitiv Fort‐ schritte gemacht. Es bestand eine realistische Möglichkeit, dass Shuichi Iwata und die anderen drei sich irgendwann zwischen dem 27. und dem 30. August in einem Dorf des Ferienklubs Pazi‐ fik aufgehalten hatten; am wahrscheinlichsten war das Blockhüt‐ tendorf im Pazifikland in Süd‐Hakone. Nur diese Einrichtung des Klubs lag geografisch nahe genug, um wirklich in Frage zu kom‐ men. Denn Asakawa konnte sich nicht vorstellen, dass eine Grup‐ pe normaler Schüler in einem Hotel abstieg. Wahrscheinlich hatten sie wegen Geldknappheit mit Nonoyamas Mitgliedsausweis eins der Ferienhäuschen gemietet. Für Klubmitglieder kosteten die Blockhütten nur fünftausend Yen pro Nacht, sodass jeder nur etwas über tausend Yen hatte berap‐ pen müssen. Die Telefonnummer des Blockhüttendorfs hatte Asakawa griff‐ bereit. Er legte sein Notizbuch auf den Tisch. Am schnellsten ging es wahrscheinlich, wenn er direkt den für die Vermietung zustän‐ digen Verwalter anrief und fragte, ob sich dort eine vierköpfige Gruppe aufgehalten und den Mitgliedsausweis von Nonoyama benutzt habe. Aber am Telefon würde man ihm nie eine solche Auskunft erteilen. Wenn jemand innerhalb eines solchen Unter‐ nehmens zum Verwalter eines Dorfs mit Ferienhäuschen aufge‐ stiegen war, hatte man ihm mit Sicherheit beigebracht, dass es seine Pflicht war, Vertraulichkeit zu wahren. Selbst wenn Asaka‐ wa sich als Journalist einer großen Zeitung zu erkennen gab und die Gründe für seine Fragen nannte, würde der Verwalter telefo‐ nisch nichts preisgeben. Asakawa dachte darüber nach, das örtli‐ che Büro seiner Zeitung anzurufen, damit sie einen Anwalt baten, einen Blick ins Gästebuch zu werfen. Juristisch gesehen, war so ein Verwalter nur der Polizei oder Anwälten gegenüber verpflichtet,
sein Gästebuch herauszurücken. Natürlich konnte Asakawa auch versuchen, sich als Polizist oder Rechtsanwalt auszugeben, aber wahrscheinlich würde das sofort auffliegen, und dann bekam sei‐ ne Zeitung Ärger. Sicherer und effektiver wäre es, sich an die Spielregeln zu halten. Doch dann würde es mindestens drei oder vier Tage dauern, und langes Warten war Asakawa verhasst. Er wollte es jetzt wissen. Mittlerweile hatte er eine so große Leidenschaft für den Fall ent‐ wickelt, dass er eine dreitägige Wartepause nicht ertragen hätte. Was um alles in der Welt würde bei dieser Geschichte heraus‐ kommen? Wenn die vier jungen Leute sich wirklich Ende August in dem Blockhüttendorf im Pazifikland aufgehalten hatten und wenn dieser Anhaltspunkt es ihm ermöglichte, das Rätsel der To‐ desfälle zu lösen... Was konnte es denn gewesen sein? Ein Virus. Doch Asakawa war bewusst, dass er bloß deshalb von einem Virus ausging, weil er sich nicht von dem Gedanken an irgendein myste‐ riöses Etwas einschüchtern lassen wollte. Bis zu einem gewissen Grad ergab es auch einen Sinn, in Gedanken die Macht der Wis‐ senschaft aufmarschieren zu lassen, um das Übernatürliche nie‐ derzuhalten. Es führte zu nichts, wenn er versuchte, ein ihm un‐ verständliches Geschehen mit unverständlichen Wörtern zu be‐ kämpfen. Er musste den Fall in seiner Sprache erfassen. Asakawa erinnerte sich an seine schreiende Tochter. Warum war sie so verängstigt gewesen, als sie heute Nachmittag die Dämo‐ nenmaske gesehen hatte? »Hast du ihr irgendwann mal Dämonen gezeigt?«, hatte Asakawa seine Frau im Zug gefragt. »Wie bitte?« »Du weißt schon, vielleicht in Bilderbüchern. Hast du ihr dabei irgendwie klar gemacht, dass sie sich vor Dämonen fürchten muss?« »Quatsch. Warum sollte ich?« Damit war die Unterhaltung im Zug beendet gewesen. Shizu
machte sich keine Sorgen — ganz im Gegensatz zu Asakawa. Die‐ se tiefe, spirituelle Angst unterschied sich von der üblichen aner‐ zogenen. Der Mensch hatte schon immer mit der einen oder ande‐ ren Angst gelebt, seit er die Wälder verlassen hatte. Angst vor Donner, Taifunen, wilden Tieren, Vulkanausbrüchen... Wenn ein Kind zum ersten Mal ein Gewitter erlebte, fürchtete es sich instink‐ tiv, und das war nur verständlich. Der Donner war real, er existier‐ te. Aber... Aber was war mit Dämonen? In einem Lexikon würde man lesen, Dämonen seien imaginäre Monster oder die Geister der Toten. Wenn Yoko Angst vor dem Dämon gehabt hatte, weil er Furcht erregend aussah, hätte sie sich genauso vor einer Godzilla‐ figur ängstigen müssen, denn die sollte schließlich Furcht einflö‐ ßend aussehen. Im Schaufenster eines Kaufhauses hatte Yoko ein‐ mal eine raffinierte Godzilla‐Nachbildung gesehen. Weit davon entfernt, verängstigt zu sein, hatte sie das Monster gespannt und mit vor Neugier glühenden Augen angestarrt. Wie konnte man das erklären? Mit Sicherheit wusste Asakawa nur, dass Godzilla, wie immer man es auch sah, ein imaginäres Monster war. Aber was war mit Dämonen...? Sind Dämonen eine japanische Spezialität? Nein, es gibt sie auch in anderen Kulturen. Teufel... Das zweite Bier schmeckte schon nicht mehr so gut. Gibt es noch etwas, wovor Yoko sich fürchtet? Allerdings, die Dunkelheit. Sie hat fürchterliche Angst vor der Dunkelheit. Mit absoluter Sicherheit wird sie nie allein in einen un‐ beleuchteten Raum gehen. »Yoko«, das »Sonnenkind«. Aber die Fin‐ sternis existierte, am anderen Pol des Lichts. Selbst jetzt, wo Yoko in den Armen ihrer Mutter in einem dunklen Zimmer schlief.
Mittlerweile regnete es deutlich stärker, und Asakawa stellte seine Scheibenwischer auf Höchstgeschwindigkeit ein. In der Gegend von Hakone konnte das Wetter jeden Moment umschlagen. In Odawara war der Himmel noch blau gewesen, doch je tiefer er in die Berge kam, desto höher wurde die Luftfeuchtigkeit, und wäh‐ rend der Fahrt zum Pass hinauf hatte er es schon mehrmals mit Regen und Windböen zu tun gehabt. Wäre es Tag gewesen, hätte er anhand der Wolkenformationen über dem Berg Hakone Speku‐ lationen über das Wetter anstellen können. Aber er fuhr abends und musste sich darauf konzentrieren, was im Licht seiner Scheinwerfer auftauchte. Erst als er einmal anhielt und einen Blick auf den dunklen Himmel warf, fiel ihm auf, dass die Sterne ver‐ schwunden waren. Nachdem er im Bahnhof Tokio‐Mitte in den Kodama‐Hochgeschwindigkeitszug gestiegen war, hatte er die Stadt noch im Dämmerlicht daliegen gesehen, doch als er dann am Bahnhof Atami den Leihwagen mietete, spähte schon der Mond gelegentlich durch Lücken in der Wolkendecke. Jetzt war aus dem feinen Nieselregen ein Platzregen geworden, und dicke Tropfen hämmerten gegen seine Windschutzscheibe. Die Digitaluhr über dem Tachometer zeigte 19:32 an, und Asa‐ kawa rechnete schnell nach, wie lange er bisher gebraucht hatte. Abfahrt Tokio 17 Uhr 16, Ankunft in Atami 18 Uhr 07. Als er den Bahnhof verlassen und die Formulare für den Leihwagen ausge‐ füllt hatte, war es halb sieben. Auf einem Markt kaufte er zwei Instant‐Nudelsuppen und eine kleine Flasche Whisky, und nach‐ dem er sich dann seinen Weg durch ein Labyrinth von Einbahn‐ straßen gebahnt hatte und die Stadt endlich verließ, war es sieben Uhr.
Jetzt tauchte vor ihm ein Tunnel auf, dessen Eingang durch grel‐ le, orangefarbene Lampen markiert wurde. Am anderen Ende des Tunnels, auf der Straße von Atami nach Kannami, sollte er eigent‐ lich bald die ersten Hinweisschilder für das Pazifikland in Süd‐ Hakone sehen können. In dem Tunnel änderte sich das Geräusch des Windes, und das Innere des Wagens wurde in orangefarbenes Licht getaucht. Asakawa spürte, dass ihm seine innere Ruhe ab‐ handen kam, und das machte ihn wütend. Aus der entgegenge‐ setzten Richtung kamen ihm keine Autos entgegen. Auf der mitt‐ lerweile trockenen Windschutzscheibe quietschte das Gummi sei‐ ner Scheibenwischer, und Asakawa schaltete sie ab. Um acht müsste er sein Ziel eigentlich erreicht haben. Obwohl die Straße völlig verwaist war, hatte er keine rechte Lust, Vollgas zu geben. Ohne sich dessen ganz bewusst zu sein, fürchtete sich Asakawa vor seinem Ziel. Am Nachmittag, exakt um 16 Uhr 20, hatte Asakawa beobachtet, wie das Faxgerät in seinem Büro gemächlich ein Blatt Papier aus‐ spuckte ‐ die Antwort aus dem Büro seiner Zeitung in Atami. A‐ sakawa erwartete eine Faxkopie der entsprechenden Seite aus dem Gästebuch des Verwalters des Feriendorfs im Pazifikland, die ihn darüber informieren sollte, wer dort zwischen dem 27. Und dem 30. August eine Blockhütte gemietet hatte. Sein Wunsch ging in Erfüllung, und Asakawa führte einen kleinen Freudentanz auf. Er hatte den richtigen Riecher gehabt. Vier Namen kannte er: Nonoyama, Tomoko Oishi, Haruko Tsuji und Takehiko Nomi. Am 29. August hatten die vier die Blockhütte B‐4 gemietet und dort die Nacht verbracht. Shuichi Iwata hatte sich unter Nonoyarnas Namen eingetragen. Jetzt wusste er, wann und wo die vier jungen Leute zusammen gewesen waren — am Donnerstag, dem 29. Au‐ gust im Pazifikland in Süd‐Hakone, in Blockhütte B‐4. Exakt eine Woche vor den mysteriösen Todesfällen.
Asakawa hatte auf der Stelle zum Hörer gegriffen und die Num‐ mer des Verwalters gewählt, um für den heutigen Abend selbst die Blockhütte B‐4 zu mieten. Morgen war lediglich eine Redakti‐ onssitzung für elf Uhr angesetzt, sodass Asakawa die Nacht in Hakone verbringen und ohne Hektik pünktlich zurück sein konn‐ te. Okay, ich bin also wirklich auf dem Weg. Ich fahre zu dem Dorf. Dem Ort, wo alles seinen Anfang genommen haben muss. Asakawa konnte es gar nicht abwarten, doch selbst in seinen wil‐ desten Träumen hätte er sich nicht vorstellen können, was ihn er‐ wartete. Am anderen Ende des Tunnels stand ein Mauthäuschen. »Gehtʹs hier direkt zum Pazifikland?«, fragte Asakawa den Angestellten, während er ihm drei Hundert‐Yen‐Münzen in die Hand drückte. Da er die Karte etliche Male studiert hatte, wusste er nur allzu gut, wo sein Ziel lag, aber er hatte den Eindruck, als wäre es schon sehr lange her, dass er zuletzt mit einem anderen Menschen ge‐ sprochen hatte, und irgendetwas in ihm sehnte sich danach. »Gleich kommt ein Schild, da biegen Sie links ab.« Asakawa nahm die Quittung entgegen. Bei so wenig Verkehr schien es kaum Sinn zu machen, hier jemanden zu postieren. Wie lange stand der Mann wohl schon in seinem Mauthäuschen? Weil Asakawa keinerlei Anstalten machte, wieder Gas zu geben, warf ihm der Angestellte einen misstrauischen Blick zu. Mit einem gezwungenen Lächeln fuhr Asakawa langsam los. Von der Freude, die er angesichts seiner Entdeckung noch vor ein paar Stunden empfunden hatte, war jetzt nichts mehr übrig geblieben. Vor seinem geistigen Auge glaubte Asakawa die un‐ scharfen Bilder der exakt eine Woche nach ihrem Aufenthalt in der Blockhütte Verstorbenen zu sehen. Jetzt ist es noch Zeit umzukehren,
schienen sie ihm höhnisch zuzuflüstern. Aber für Asakawa gab es mittlerweile kein Zurück mehr, da sein Reporterinstinkt geweckt war. Andererseits konnte er nicht leugnen, dass er sich vor einem Alleingang fürchtete. Wenn er Yoshino angerufen hätte, wäre es durchaus denkbar gewesen, dass dieser sich sofort zur Mitarbeit bereit erklärt hätte. Aber Asakawa hielt es letztlich für keine be‐ sonders gute Idee, einen Kollegen an seiner Seite zu haben. Was er bis jetzt herausgefunden hatte, war schriftlich festgehalten und auf einer Diskette gesichert. Er brauchte jemanden, der ihm nicht in die Quere kommen, sondern ihm einfach helfen würde, und da gab es schon jemanden... Asakawa kannte einen Mann, der aus reiner Neugier mitmachen würde, einen Uni‐Lehrbeauftragten mit einer halben Stelle, der jede Menge Zeit hatte. Das war der Richti‐ ge. Aber er war... etwas schwierig. Asakawa war nicht sicher, wie lange er seine problematische Persönlichkeit ertragen konnte. Jetzt sah er am Berghang das Schild für das Pazifikland — keine Neonreklame, sondern eine schlichte weiße Tafel mit schwarzen Buchstaben. Hätte er zufällig gerade weggeguckt, als seine Scheinwerfer über das Schild strichen, wäre es ihm völlig entgan‐ gen. Er bog ab und fuhr zwischen terrassenförmig angelegten Fel‐ dern den Berg hoch. Angesichts der Tatsache, dass die Straße zu einem Ferienklub führte, war sie ziemlich schmal, und Asakawa dachte schon, es wäre eine im Niemandsland endende Sackgasse. Wegen der steilen Straße und den finsteren Kurven musste er ei‐ nen Gang zurückschalten. Hoffentlich kam ihm niemand entgegen — zwei Autos passten hier nicht aneinander vorbei. Erst jetzt bemerkte Asakawa, dass der Regen aufgehört hatte. Offensichtlich herrschten östlich und westlich des Tanna‐ Gebirgskamms unterschiedliche Wetterverhältnisse. Wenigstens war die immer weiter ansteigende Straße doch keine Sackgasse. Nach einer Weile sah Asakawa hier und da Sommer‐
häuser am Straßenrand. Plötzlich tauchten elegante Laternen auf, die Straße wurde zweispurig, die Asphaltdecke deutlich besser. Diese abrupte Veränderung überraschte ihn. Sobald er sich auf dem Gelände des Pazifiklands befand, wirkte alles luxuriös. War‐ um dann dieser zugewachsene Trampelpfad, auf dem er herge‐ kommen war, wo man mit jeder Haarnadelkurve immer nervöser wurde? Das zweistöckige Gebäude auf der anderen Seite des großzügi‐ gen Parkplatzes beherbergte ein Informationszentrum und ein Restaurant. Ohne weiteres Nachdenken parkte Asakawa vor dem Haus und ging auf die Eingangshalle zu. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es Punkt acht war — exakt nach Plan. Von ir‐ gendwoher hörte er das Geräusch aufspringender Bälle. Unterhalb des Informationszentrums lagen vier Tennisplätze, wo sich im gelblichen Flutlicht mehrere Paare verausgabten. Asakawa wollte nicht in den Kopf, warum man an einem Donnerstagabend mitten im Oktober diese weite Strecke zurücklegte, nur um eine Partie Tennis spielen zu können. Weit unterhalb der Tennisplätze sah man in der Ferne die Lichter von Mishima und Numazu in der Dunkelheit funkeln. Die pechschwarze Leere dahinter war die Bucht von Tago. Das Restaurant war durch eine Glaswand vom Informationszen‐ trum getrennt. Als er durch die Scheibe blickte, erwartete Asaka‐ wa die nächste Überraschung. Angeblich schloss das Restaurant um acht Uhr, doch an den Tischen saßen noch etliche Familien und Gruppen junger Frauen. Irritiert fragte sich Asakawa, was hier los war. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass all diese Menschen auf derselben Straße wie er hergekommen waren. Viel‐ leicht hatte er sozusagen den Hintereingang benutzt. Irgendwo musste es eine besser beleuchtete, hellere Straße geben. Aber er hatte genau den Weg genommen, den ihm die Angestellte des
Ferienklubs am Telefon beschrieben hatte. Ungefähr nach der halben Strecke der Straße von Atami nach Kannami biegen Sie links ab und fahren dann von dort den Berghoch. Genau das hatte Asakawa getan. Wahrscheinlich gab es doch keine andere Zufahrtsstraße. Asakawa nickte zwar, als man ihm mitteilte, dass der Zeitpunkt für die letzten Bestellungen bereits verstrichen sei, aber er betrat das Restaurant trotzdem. Unter den großen Panoramafenstern lag ein gut gepflegter Rasen, der sanft in Richtung der beiden Städte abfiel. In dem Restaurant wurde die Beleuchtung absichtlich ge‐ dämpft — wahrscheinlich damit die Gäste die Aussicht auf die fernen Lichter besser genießen konnten. Asakawa hielt einen vor‐ beikommenden Kellner an und fragte ihn nach dem Weg zu dem Feriendorf. Der Angestellte zeigte zurück in Richtung der Ein‐ gangshalle. »Folgen Sie der Straße etwa zweihundert Meter nach rechts, dann sehen Sie das Büro des Verwalters.« »Gibtʹs da einen Parkplatz?« »Sie können vor dem Büro parken.« So einfach war das. Asakawa hätte sich auch auf sich selbst ver‐ lassen können und den Weg problemlos gefunden. Andererseits war ihm klar, warum ihn das moderne Gebäude so angezogen und warum er sogar das Restaurant aufgesucht hatte. Er fand es irgendwie behaglich. Während der ganzen Fahrt hatte er sich fin‐ stere, primitive Blockhütten vorgestellt — gleichsam als perfekten Hintergrund für ein Szenario a la Freitag, der 13. —, doch das Ge‐ bäude mit dem Restaurant hatte nichts davon. Als er sich der Tat‐ sache gegenübersah, dass die Errungenschaften der modernen Wissenschaft auch bis hierhin vorgedrungen waren, fühlte Asa‐ kawa sich irgendwie beruhigt und gestärkt. Beunruhigend war nur die Straße, die aus der Welt unterhalb des Berges nach hier
oben führte. Und die Tatsache, dass so viele Leute zum Tennis‐ spielen und zum Essen hierher kamen. Warum ihn das beunruhig‐ te, wusste er freilich nicht genau. Es war nur... irgendwie wirkte hier alles ziemlich irreal. Da auf den Tennisplätzen und im Restaurant noch einiges los war, hatte er eigentlich erwartet, auch aus den Blockhütten fröhli‐ ches Stimmengewirr zu hören, aber als er vom Rand des Parkplat‐ zes aus über das Tal blickte, konnte er nur sechs der zehn zwi‐ schen den Bäumen auf dem sanft abfallenden Abhang stehenden Blockhütten erkennen. Von dem schwachen Licht der Straßenla‐ ternen abgesehen, gab es darunter nur noch den finsteren Wald. Aus der Blockhütte drang kein Licht nach draußen. Nr. B‐4, wo Asakawa die Nacht verbringen würde, schien sich auf der Grenz‐ linie zwischen dem finsteren und dem schwach erleuchteten Be‐ reich zu befinden — zu sehen war nur der obere Teil der Tür. Asakawa öffnete die Tür des Büros und trat ein. Er hörte einen Fernseher plärren, sah aber niemanden. Der Verwalter saß in ei‐ nem links liegenden, im japanischen Stil eingerichteten Hinter‐ zimmer und hatte Asakawa nicht bemerkt. Asakawas Blick war durch die Theke versperrt, er konnte nicht ganz in den Raum hi‐ neinsehen. Offensichtlich sah der Verwalter nicht das Fernsehpro‐ gramm an, sondern einen Spielfilm auf Video, und zwar einen aus westlicher Produktion. Asakawa hörte die englischen Dialoge, während er das flackernde Licht des Fernsehers betrachtete, das sich weiter vorn in einem Einbauschrank spiegelte, in dem Video‐ kassetten ordentlich aufgereiht waren. Er legte die Hände auf die Theke und rief nach dem Verwalter. Sofort steckte ein kleiner Mann Mitte sechzig den Kopf durch die Tür, der Asakawa mit einer Verbeugung begrüßte. »Oh, willkommen.« Das muss derselbe Mann sein, der sofort bereit war, meinem Kollegen aus dem Büro in Atami und dem
Rechtsanwalt das Gästebuch zu zeigen, dachte Asakawa, während er den Verwalter freundlich anlächelte. »Ich habe reserviert. Auf den Namen Asakawa.« Der Mann schlug sein Buch auf und bestätigte die Reservierung. »Ihre Blockhütte ist Nr. B‐4. Können Sie hier bitte Ihren Namen und Ihre Adresse eintragen?« Da er Nonoyomas Mitgliedsausweis gerade zurückgeschickt hat‐ te und ihn folglich nicht benutzen konnte, trug Asakawa sich un‐ ter seinem richtigen Namen ein. »Sind Sie allein?«, fragte der Verwalter misstrauisch. Offensicht‐ lich hatte er noch nie einen Kunden gehabt, der allein gekommen war. Kam man nicht in den Genuss der ermäßigten Mitgliedstari‐ fe, war es für eine Person sogar günstiger, sich für das Hotel zu entscheiden. Nachdem der Verwalter ihm ein paar Bettlaken ge‐ reicht hatte, wandte er sich zu dem Einbauschrank um. »Wenn Sie möchten, können Sie ein Video ausleihen. Die meisten populären Filme haben wir im Angebot.« »Sie verleihen Videos?« Asakawa ließ seinen Blick wie nebenbei über die Kassetten gleiten: Jäger des verlorenen Schatzes, Krieg der Sterne, Zurück in die Zukunft, Freitag, der 13. Alles populäre ameri‐ kanische Streifen, vor allem Sciencefiction‐Filme, auch viele Neu‐ erscheinungen. Wahrscheinlich wurden die Blockhütten meistens von Gruppen junger Leute gemietet. Für Asakawa war nichts Ver‐ lockendes dabei. Außerdem war er ja angeblich hier, um in Ruhe arbeiten zu können. »Nein, danke, ich habe Arbeit mitgebracht.« Er hob seinen Lap‐ top vom Boden hoch und präsentierte ihn dem Verwalter, der jetzt zu verstehen schien, warum sein Gast allein erschienen war. »Geschirr ist da?« fragte Asakawa für alle Fälle. »Und alles, was man sonst noch braucht?« »Ja. Sie können alles benutzen.«
Allerdings benötigte Asakawa nur einen Kessel, um Wasser für seine Instant‐Nudelsuppen zum Kochen zu bringen. Nachdem er die Laken und den Schlüssel entgegengenommen hatte, erklärte ihm der Verwalter den Weg zur Hütte B‐4. »Fühlen Sie sich wie zu Hause«, fügte er seltsam formell hinzu. Bevor er den Türknopf berührte, zog Asakawa Gummihandschu‐ he an, die er aus Gründen seines Seelenfriedens mitgebracht hatte, gleichsam als Wunderwaffe gegen unbekannte Viren. Nachdem er die Tür geöffnet hatte, schaltete er im Vorraum das Licht an, und eine Hundert‐Watt‐Birne beleuchtete ein geräumiges Wohnzimmer. Tapezierte Wände, Teppich, großes Sofa, Fernseher, Essecke... Alles war neu, alles funktional arrangiert. Asakawa zog seine Schuhe aus und trat in das Wohnzimmer. An einer Seite des Raums gab es einen Balkon, im Erdgeschoss und im ersten Stock kleine Räume im japanischen Stil. Für eine einzelne Person war das Ganze etwas zu luxuriös. Asakawa zog die Vorhänge auf, öff‐ nete die Schiebetür aus Glas und ließ die Nachtluft herein. Der Raum war absolut sauber, ganz so, als wollte er Asakawas Erwar‐ tungen Lügen strafen. Plötzlich hatte er das Gefühl, ohne jedes Resultat nach Hause zurückfahren zu müsse. In dem an das Wohnzimmer angrenzenden Raum überprüfte Asakawa den Schrank. Nichts. Er legte Hemd und Hose ab, hängte seine Straßenkleider auf einen Bügel und zog einen bequemen Jogginganzug an. Anschließend ging er die Treppe hoch, um einen der dortigen, im japanischen Stil eingerichteten Räume in Augen‐ schein zu nehmen. Zuerst schaltete er das Licht ein. Du benimmst dich wie ein Kind, dachte er sarkastisch. Bevor es ihm überhaupt bewusst geworden war, hatte er schon jede einzelne Lampe in der ganzen Blockhütte angeknipst. Jetzt war wahrlich alles ausreichend beleuchtet. Asakawa öffnete
vorsichtig die Tür des Badezimmers. Während er es untersuchte, ließ er die Tür einen Spalt weit offen stehen. Das alles erinnerte ihn an die Rituale, mit denen er als Kind die Angst zu verbannen ge‐ sucht hatte. Damals hatte er in den Sommernächten zu viel Angst gehabt, um allein ins Bad zu gehen, und er ließ die Tür auf und bat seinen Vater, vor der Toilette Wache zu stehen. Eine ordentliche Duschzelle hinter einer Milchglasscheibe. Keine Spur von Dampf, und vor und in der Badewanne war alles pulvertrocken. Es musste schon eine Weile her sein, dass hier jemand gewohnt hatte. Asa‐ kawa zog die Gummihandschuhe aus, die an seinen verschwitzten Händen klebten. Im Wohnzimmer kam die kühle Bergluft durch die offene Schiebetür und bauschte die Vorhänge. Er holte Eiswürfel aus dem Kühlschrank, gab sie in ein Glas und füllte dieses dann zur Hälfte mit dem Whisky, den er in Atami gekauft hatte. Eigentlich wollte er ihn mit Leitungswasser verdün‐ nen. Doch dann zögerte er. Während er den Wasserhahn zudrehte, überzeugte er sich davon, dass ein Whisky on the rocks jetzt ange‐ brachter war. Er hatte nicht den Mut, irgendetwas aus diesem Raum in seinen Mund gelangen zu lassen. Immerhin war es schon sorglos genug gewesen, die Eiswürfel in das Glas zu kippen, aber er glaubte zu wissen, dass Mikroorganismen extreme Hitze oder Kälte nicht mochten. Er ließ sich auf das Sofa fallen und schaltete den Fernseher ein. Irgendein aktuelles Pop‐Idol sang. Asakawa begann zu zappen. Eigentlich hatte er gar nicht vor fernzusehen, und deshalb stellte er den Ton leise und öffnete seine Tasche, aus der er eine Video‐ kamera holte, die er dann auf den Tisch stellte. Sollte irgendetwas Seltsames passieren, wollte er es auf Band haben. Asakawa nahm einen Schluck Whisky, nur einen kleinen, aber schon der machte ihm Mut. In Gedanken ließ er noch einmal alles Revue passieren, was er bisher herausgefunden hatte. Wenn er hier heute Nacht
keinen Anhaltspunkt fand, konnte er seinen geplanten Artikel vergessen. Andererseits wäre das vielleicht auch besser, denn wenn die Erfolglosigkeit seiner Suche bedeutete, dass er sich nicht mit dem Virus infizierte... Schließlich hatte er Frau und Kind. Er wollte nicht sterben, nicht auf irgendeine seltsame Art und Weise. Asakawa legte die Füße auf den Tisch. Also, worauf wartest du?, fragte er sich. Bist du nicht besorgt? He, solltest du nicht Angst haben? Vielleicht hat es der Todesengel auf dich abgesehen. Sein Blick irrte nervös durch den Raum, und es war Asakawa nicht möglich, dauerhaft einen Punkt an der Wand zu fixieren. Er hatte das Gefühl, dass die Vorstellungen seiner Fantasie sich phy‐ sisch manifestieren würden, wenn er zu lange einen bestimmten Punkt anstarrte. Von draußen kam ein kälterer Wind in den Raum als noch vor‐ hin. Als Asakawa die Schiebetür schließen und die Vorhänge zu‐ ziehen wollte, warf er einen flüchtigen Blick in die Finsternis. Di‐ rekt vor sich sah er das Dach von Hütte B‐5, und in ihrem Schatten war die Dunkelheit noch undurchdringlicher. Auf den Tennisplät‐ zen und im Restaurant waren viele andere Menschen gewesen, doch hier war Asakawa allein. Er zog die Vorhänge zu und blickte auf die Uhr — 20 Uhr 56. Noch war er keine halbe Stunde in der Hütte, doch es kam ihm so vor, als wäre er schon eine Stunde oder noch länger hier. Seine bloße Anwesenheit war nicht gefährlich, oder? Wie viele Menschen hatten hier schon in dem halben Jahr gewohnt, seit die Ferienhäuser errichtet worden waren? Schließ‐ lich waren sie nicht alle unter rätselhaften Umständen gestorben. Nach seinen Recherchen waren es nur diese vier gewesen. Viel‐ leicht würde er auf weitere Opfer stoßen, wenn er intensiver nach‐ forschte, aber für den Augenblick schien es keine weiteren Todes‐ opfer gegeben zu haben. Folglich war seine Anwesenheit kein
Problem. Das Problem war, was die vier Jugendlichen hier getan hatten. Also, was haben sie gemacht? Asakawa modifizierte seine Frage etwas. Was könnten sie gemacht haben? Bisher hatte er nichts gefunden, was ein Anhaltspunkt sein konn‐ te — weder im Badezimmer, noch im Schrank, noch im Kühl‐ schrank. Selbst wenn er davon ausging, dass es etwas gegeben hatte — der Verwalter hätte es bei der Endreinigung weggewor‐ fen. Und das hieß, dass er besser mit dem Verwalter sprechen soll‐ te, statt hier weiter Whisky zu trinken. So würde er Zeit sparen. Nachdem Asakawa das erste Glas geleert hatte, goss er sich beim zweiten eine kleinere Portion ein. Er konnte es sich nicht leisten, sich zu betrinken. Deshalb streckte er den Drink mit viel Eis und diesmal auch mit Leitungswasser. Sein Gefahrenbewusstsein musste schon ein bisschen nachgelassen haben. Plötzlich kam er sich töricht vor. Er war vorzeitig aus seinem Büro verschwunden und hatte den ganzen langen Weg hierher zurückgelegt... Er nahm seine Brille ab und wusch sich das Gesicht. Dann blickte er in den Spiegel und sah das Gesicht eines Kranken. Vielleicht hatte er sich ja schon mit dem Virus infiziert. Nachdem er den Whisky hinun‐ tergekippt hatte, schenkte er sich ein weiteres Glas ein. Als Asakawa aus der Küche mit der Essecke zurückkam, be‐ merkte er ein auf dem Regal neben dem Telefon liegendes, dickes Notizbuch, eine Art Gästebuch, auf dessen Deckel Erinnerungen stand. Er blätterte ein bisschen darin herum. Samstag, 7. April Nie werde ich diesen Tag vergessen. Warum? Das ist ein G‐e‐h‐e‐i‐m‐n‐i‐s. Yuichi ist wundervoll. Ha, ha! NONKO
In vielen Gasthäusern, Bed and Breakfast ‐ Unterkünften etc. lagen diese dicken Kladden aus, in denen die Gäste ihre Erinnerungen und Eindrücke niederschreiben konnten. Auf der nächsten Seite fand Asakawa die plumpe Zeichnung eines Elternpaars. Musste ein Familientrip gewesen sein, natürlich auch am Wochenende. Der Eintrag lautete auf Samstag, den 14. April: Papa ist dick, Mama ist dick, also bin ichʹs auch. Asakawa blätterte weiter. Irgendetwas drängte ihn, gleich die Sei‐ ten am Ende des Buchs aufzuschlagen, aber er ließ keine Seite aus. Wenn er sich nicht an die chronologische Abfolge hielt, würde ihm möglicherweise etwas Wichtiges entgehen. Da es wahrscheinlich viele Gäste gab, die keinerlei Eintrag hin‐ terließen, konnte Asakawa es nicht mit Sicherheit sagen, doch er hatte den Eindruck, dass vor dem Beginn des Sommers nur Wo‐ chenendgäste hierhergekommen waren. Danach wurde die Zeit zwischen den Einträgen immer kürzer. Ab Ende August gab es eine kontinuierliche Reihe von Notizen. Sonntag, 19. August Schon wieder ist ein Sommerurlaub vorbei, und diesmal war er nervig. Ich bin ein armes Schwein. Will mir nicht jemand helfen und mich retten? Ich habe ein Motorrad mit hundert Kubikzenti‐ metern und sehe ziemlich gut aus. Eine gute Partie! A.Y. Es schien so, als hätte dieser Typ das Buch für eine Art Kontaktan‐ zeige genutzt. Vielleicht suchte er auch nur eine Brieffreundin. Irgendwie empfanden viele Gäste hier offenbar dasselbe. Waren es Paare, ging das eindeutig aus ihren Einträgen hervor, waren es
Singles, so schrieben sie darüber, wie sehr sie sich nach Gesell‐ schaft sehnten. Wie auch immer, für Asakawa eine interessante Lektüre. Mitt‐ lerweile war es neun Uhr. Wieder blätterte er eine Seite um. Donnerstag, 30. August Seien Sie gewarnt: Wenn Sie keine guten Nerven haben, sollten Sie sich dies besser nicht ansehen. Sie werden es bereuen. (Teuflisches Gelächter) SA. Mehr stand da nicht. 30. August — das war der Tag, nachdem die vier Jugendlichen hier übernachtet hatten. Wahrscheinlich standen die Initialen »S.I.« für »Shuichi Iwata«. Dieser Eintrag war völlig anders. Was hatte er zu bedeuten? Sollten Sie sich dies besser nicht ansehen... Was in aller Welt war mit dem Wörtchen dies gemeint? Asakawa klappte das Buch zu und betrachtete es von der Seite. An einer Stelle des Buchblocks lagen die Seiten nicht ganz dicht auf‐ einander, und Asakawa schlug es genau an der Stelle auf. Wieder stachen ihm die ominösen Worte ins Auge: Seien Sie gewarnt: Wenn Sie keine guten Nerven haben, sollten Sie sich dies besser nicht ansehen. Sie werden es bereuen. (Teuflisches Gelächter) S.I. Warum ließ sich das Buch ausgerechnet an dieser Stelle so bereitwillig aufschlagen? Nach kurzem Nachdenken kam Asakawa zu der Schlussfolge‐ rung, dass die vier jungen Leute das Buch vielleicht aufgeklappt und die Seiten mit einem relativ schweren Gegenstand beschwert hatten, und deshalb ließ es sich noch immer an dieser Stelle auf‐ schlagen. Vielleicht war das, womit sie die Seiten beschwert hat‐ ten, jenes ominöse dies, das man sich besser nicht ansehen sollte. Ja, das musste es sein. Ängstlich blickte Asakawa sich um. Dann nahm er jeden Zenti‐
meter des Regals neben dem Telefon in Augenschein. Er sah nichts, nicht einmal einen Stift. Nachdem er wieder auf dem Sofa Platz genommen hatte, fuhr er mit seiner Lektüre fort. Der nächste Eintrag stammte vom 1. Sep‐ tember, einem Samstag, doch darin stand wieder nur das Übliche. Ob die Gruppe von Schülern, die zu diesem Zeitpunkt hier abge‐ stiegen war, sich dies angesehen hatte, ließ sich daraus jedenfalls nicht entnehmen, und auch die restlichen Seiten gaben keinerlei Aufschluss. Asakawa klappte das Buch zu und zündete sich eine Zigarette an. Wenn Sie keine guten Nerven haben, sollten Sie sich dies besser nicht ansehen... Mit dies musste irgendetwas Beängstigendes gemeint sein. Er öffnete das Buch aufs Geratewohl und drückte leicht auf die Seiten — es musste ein relativ schwerer Gegenstand gewesen sein, der verhindert hatte, dass es selbstständig wieder zuklappte. Ein oder zwei Fotos von irgendwelchen Geistern beispielsweise hätten dazu nicht ausgereicht. Vielleicht eine Wochenzeitung oder ein gebundenes Buch... Wie auch immer, irgendetwas, das man sich ansehen konnte. Vielleicht sollte er den Verwalter fragen, ob er nach der Abfahrt der Gäste am 30. August etwas Merkwürdiges gefunden hatte. Aber ob der Verwalter sich überhaupt erinnern würde? Doch wenn sein Fund seltsam genug gewesen war... Als Asakawa gerade aufstehen wollte, fiel sein Blick auf den Videore‐ korder. Der Fernseher lief noch immer. In einem Werbespot für Haushaltsgeräte jagte gerade eine berühmte Schauspielerin ihren Mann mit dem Staubsauger. Ja, eine VHS‐ Videokassette kann vielleicht verhindern, dass das Buch wieder zuklappt, und vielleicht hatten die vier eine. Als Asakawa seine Zigarette ausdrückte, erinnerte er sich an die Videos im Büro des Verwalters. Vielleicht hatten die vier Verstor‐ benen einen besonders interessanten Horrorfilm gesehen und ihn
den nächsten Gästen empfehlen wollen, etwa nach dem Motto: Hey, der hier ist cool, unbedingt anschauen. Wenn das alles war... A‐ ber halt. Warum hatte Shuichi Iwata dann nicht einfach den Na‐ men des Streifens genannt, wenn es wirklich nur darum ging? Wenn er beispielsweise jemandem mitteilen wollte, Freitag der 13. sei ein großartiger Film, hätte er dann nicht den Titel erwähnt? Vielleicht war mit dies etwas gemeint, das keinen Namen hatte und folglich nicht präzise bezeichnet werden konnte. Lohnte es sich, das zu überprüfen? Sicher war, dass Asakawa keinerlei Zeit zu verlieren hatte, und da er bisher keine anderen Anhaltspunkte gefunden hatte und ihn das bloße Herumsitzen und Nachdenken auch nicht weiterbrach‐ te... Er verließ die Blockhütte, ging die steinerne Treppe hinab und stieß kurz darauf die Tür des Büros auf. Wie bei seinem ersten Besuch war auch diesmal nichts von dem Verwalter zu sehen, und wieder hörte Asakawa aus dem Hinter‐ zimmer den Fernseher plärren. Wahrscheinlich hatte sich der Typ entschlossen, seine Arbeit in der Stadt aufzugeben und den Rest seiner Tage im Schoß von Mutter Natur zu verbringen. Also hatte er den Job als Verwalter in diesem Feriendorf angenommen,. aber die Arbeit stellte sich als todlangweilig heraus, und jetzt glotzte er tagein tagaus Videos... So etwa stellte Asakawa sich die Lage des Verwalters vor, der diesmal schon seinen Kopf durch die Tür des Hinterzimmers steckte, bevor sein Gast sich melden musste. »Vielleicht sollte ich doch ein Video ausleihen«, sagte Asakawa. Ein bisschen klang sein Tonfall so, als müsste er sich entschuldi‐ gen. »Nur zu, suchen Sie sich einen Film aus«, verkündete der Ver‐ walter mit einem zufriedenen Grinsen. »Die Leihgebühr beträgt dreihundert Yen.« Asakawa ließ den Blick flüchtig über die Titel gleiten, um einen
beängstigenden Horrorfilm zu finden. Tanz der Totenköpfe, Der Ex‐ orzist, Das Omen. Während seiner Studentenjahre hatte er diese Filme alle gesehen. Das warʹs? Es mussten doch ein paar Streifen dabei sein, die er noch nicht kannte. Sein Blick schweifte von ei‐ nem Ende des Regals zum anderen, fand aber auf Anhieb nichts. Also begann er, die Titel der zweihundert Videos systematisch zu studieren. Und dann sah er, im untersten Fach des Regals, ganz in einer Ecke, eine Videokassette ohne Schutzhülle, die zudem noch auf die Seite gekippt war. Alle anderen Kassetten steckten in Schutzhüllen mit Bildern und den imposanten Logos der Filmfir‐ men, doch auf dieser klebte nicht einmal ein Etikett. »Was ist das da?« Ohne Beschriftung konnte Asakawa seine Fra‐ ge nicht präziser stellen. So blieb ihm nur, mit dem Finger auf die Kassette zu zeigen. »Häh?«, fragte der Verwalter stirnrunzelnd. Er blickte ziemlich einfältig aus der Wäsche, als er nach der Kassette griff. »Das? Das ist gar nichts.« Ich frage mich, ob er weiß, was auf dem Band ist, dachte Asakawa. »Kennen Sie den Film?« »Mal sehen.« Irgendwie schien der Mann nicht zu kapieren, was diese Kassette hier verloren hatte. »Wennʹs Ihnen nichts ausmacht, würde ich dieses Band gern aus‐ leihen.« Nach kurzem Zögern schlug sich der Verwalter auf den Ober‐ schenkel. »Ja, jetzt erinnere ich mich. Sie lag in einer der Hütten herum. Ich dachte, es wäre eine Kassette von uns, und deshalb habe ich sie mitgenommen. Aber...« »Sie haben sie nicht zufällig in Nr. B‐4 gefunden?«, erkundigte sich Asakawa bedächtig. Jetzt hatte er die entscheidende Frage gestellt. Lachend schüttelte der Verwalter den Kopf »Ich habʹ keinen blas‐
sen Schimmer. Ist schon etwas länger her.« »Haben Sie... diesen Film gesehen?«, hakte Asakawa nach. Wieder ein Kopfschütteln, aber das Lächeln war jetzt ver‐ schwunden. »Nein.« »Also, ich nehm das Video.« »Wollen Sie ein Fernsehprogramm aufnehmen?« »Nun ja, ich...« Der Verwalter starrte auf die Kassette. »Hier, sehen Sie. Die Si‐ cherheitszungen an der Rückseite sind rausgebrochen worden. Die Kassette kann nicht mehr überspielt werden.« Vielleicht lag es am Alkohol, aber allmählich hatte Asakawa die Nase voll. Ich sag doch, dass ich das Video ausleihen will, also gibʹs mir schon, dachte er genervt. Aber wie betrunken er auch sein mochte, er war einfach nicht der Typ, der andere zur Schnecke machte. »Bitte. Ich bringe die Kassette auch gleich wieder zurück.« Asakawa verbeugte sich höflich, aber offensichtlich konnte der Verwalter nicht verstehen, warum sein Gast ein solches Interesse an dieser Kassette hatte. Vielleicht war ja etwas Interessantes dar‐ auf, dass irgendjemand zu löschen vergessen hatte... Jetzt bereute er es, sich die Kassette damals nicht angesehen zu haben, und am liebsten hätte er das auf der Stelle nachgeholt. Andererseits konnte er seinem Gast schlecht einen Wunsch abschlagen, und deshalb reichte er Asakawa die Kassette. Der griff sofort nach seiner Brief‐ tasche, doch der Verwalter gebot ihm mit einer Handbewegung Einhalt. »Schon in Ordnung, die gibtʹs umsonst. Dafür kann ich Ihnen schlecht Geld abknöpfen, oder?« »Besten Dank, ich bringe sie schnell wieder zurück.« »Aber beeilen Sie sich, falls der Film interessant sein sollte!« Die Neugier des Verwalters war geweckt. Die anderen Videos hatte er alle mindestens einmal gesehen, und deshalb war sein Interesse
daran in den meisten Fällen erlahmt. Wieso hab ich mir die Kassette bloß nicht angesehen? Damit hätte ich zwei Stunden totschlagen können. Ach, egal, wahrscheinlich ist sowieso nur eine bescheuerte Fernseh‐ sendung auf dem Band. Der Verwalter war sicher, dass das Video sehr schnell wieder bei ihm landen würde.
2 Das Band war zurückgespult. Es war eine handelsübliche Kassette mit 120 Minuten Spielzeit, wie man sie an jeder Ecke kaufen konn‐ te. Wie der Verwalter gesagt hatte, waren die Sicherheitszungen an der Rückseite herausgebrochen worden, sodass das Band nicht ohne weiteres überspielt werden konnte. Asakawa schaltete den Videorekorder an, legte die Kassette ein, hockte sich im Schneider‐ sitz vor den Bildschirm und drückte auf »Play«. Das Band begann zu laufen. Er setzte große Hoffnungen darauf, dass auf diesem Video der Schlüssel verborgen war, mit dem er das Rätsel der vier Todesfälle lösen konnte. Beim Einschalten hatte er sich vorge‐ nommen, sich mit einem Anhaltspunkt zufrieden zu geben — mit irgendeinem Anhaltspunkt. Das hier kann ja nicht gefährlich sein, dachte er. Welchen Schaden sollte man schon nehmen, wenn man sich ein Video ansah? Wirre Geräuschfetzen ertönten, und verzerrte Bilder flackerten über den Bildschirm, doch als Asakawa den richtigen Kanal ge‐ funden hatte, stabilisierte sich das Bild. Dann wurde die Matt‐ scheibe pechschwarz. Offensichtlich begann hier der Film. Ein Ton war nicht zu hören. Asakawa fragte sich schon, ob die Kassette defekt sei, und bewegte sein Gesicht dicht vor den Fernseher. Wieder schossen ihm Iwatas Worte durch den Kopf. Seien Sie ge‐ warnt: Wenn Sie keine guten Nerven haben, sollten Sie sich dies besser nicht ansehen. Sie werden es bereuen. Warum sollte er es bereuen? So etwas war für Asakawa nichts Neues, er hatte in der Lokalredakti‐ on gearbeitet. Was für entsetzliche Bilder er gleich auch sehen mochte — Asakawa war sicher, dass er es nicht bereuen würde, das Video gesehen zu haben. Mitten auf dem schwarzen Bildschirm glaubte Asakawa nun einen
winzigen Lichtpunkt flackern zu sehen. Dann wurde der Punkt nach und nach größer und sprang von einer Seite zur anderen, um schließlich in der linken Ecke zu verharren. Der Lichtpunkt löste sich in verästelte Linien auf, zu einem zerfetzten Knäuel, dessen Fäden wie Würmer über den Bildschirm krochen und sich schließ‐ lich zu Worten formierten, die allerdings nichts mit den gewöhnli‐ chen Credits von Filmen zu tun hatten. Die krakeligen Schriftzüge wirkten, als wären sie mit einem weißen Pinsel auf pechschwarzes Papier aufgetragen worden. Dennoch schaffte es Asakawa ir‐ gendwie, die Worte zu entziffern: SEHEN SIE DIESES VIDEO BIS ZUM SCHLUSS. Ein Befehl, der sofort verschwand und den näch‐ sten Worten Platz machte. WERDEN SIE GEFRESSEN VON... Die letzten Worte konnte Asakawa nicht identifizieren, aber gefressen zu werden war kein besonders angenehmer Gedanke. Es schien, als hätte hinter dem ersten Satz noch ein »oder sonst« stehen müs‐ sen. Schalten Sie dieses Video nicht mitten drin aus, oder sonst wird etwas passieren — es war eine Drohung. WERDEN SIE GEFRESSEN VON... Die milchweißen Wörter be‐ gannen zu wuchern und das Schwarz vom Bildschirm zu ver‐ drängen. Es war ein äußerst abrupter Wechsel zu einem unregel‐ mäßigen Weiß, einer unnatürlichen Farbe, und es schien, als wür‐ den auf einer Leinwand blitzschnell mehrere Schichten davon ü‐ bereinander aufgetragen wie Gedanken. Das Unbewusste quälte und wand sich, fand einen Ausweg und brach hervor — vielleicht war es auch das Pulsieren des Lebens selbst. Gedanken hatten E‐ nergie und nährten sich an der Finsternis. Seltsamerweise verspür‐ te Asakawa keinerlei Verlangen, die Stopp‐Taste zu drücken. Er hatte keine Angst vor etwas, das ihn auffressen würde, und dieses intensive Ausströmen von Energie vermittelte ihm ein angeneh‐ mes Gefühl... Auf dem monochromen Bildschirm platzte etwas Rotes, und zur
gleichen Zeit hörte Asakawa den Boden unter sich grollen. Das Geräusch schien aus irgendeiner undefinierbaren Richtung zu kommen. Oder aus allen Richtungen gleichzeitig, sodass er schon glaubte, die ganze Blockhütte würde erbeben. Irgendwie hatte er nicht den Eindruck, als käme das Geräusch aus den winzigen Lautsprechern des Fernsehers. Das Rot explodierte und verlief wie eine zähflüssige Masse, die manchmal den ganzen Bildschirm ein‐ nahm. Schwarz, weiß, jetzt rot. Bisher war das Ganze nur eine ra‐ sche Abfolge von Farben, irgendein realistisches Bild hatte er noch nicht gesehen. Nur abstrakte Gedanken, die durch diese wech‐ selnden Farben intensiv in sein Gehirn eingebrannt wurden. Tat‐ sächlich war das Ganze ermüdend. Und dann, als hätte jemand in den Gedanken des Zuschauers gelesen, verschwand die rote Farbe vom Bildschirm, auf dem jetzt eine bergige Landschaft erschien. Schon auf den ersten Blick erkannte Asakawa einen Vulkan, der vor dem Hintergrund eines blauen Himmels weißen Rauch aus‐ spie. Die Kamera schien irgendwo am Fuß des Berges zu stehen, wo der Boden mit schwarz‐bräunlichen, scharfkantigen Lavabrok‐ ken übersät war. Wieder wurde die Mattscheibe in Finsternis getaucht. Der blaue Himmel verschwand abrupt, und dann, ein paar Sekunden später, schien aus der Mitte des Bildschirms eine scharlachrote, nach un‐ ten fließende Flüssigkeit zu spritzen. Eine zweite Explosion... Die aufgeworfene Masse brannte rötlich, und bald konnte Asakawa schwach die Silhouette des Berges erkennen. Aus zuvor abstrakten Bildern wurden jetzt konkrete. Dies war ganz offensichtlich ein Vulkanausbruch, ein Naturphänomen, eine Szene, für die man eine rationale Erklärung hatte. Die aus dem Schlund des Vulkans ausgespiene Lava schlängelte sich durch kleine Schluchten ins Tal. Wo stand die Kamera? Wenn die Bilder nicht aus der Luft aufge‐ nommen worden waren, sah es ganz so aus, als würde die Kamera
gleich von dem Lavastrom erfasst. Das Grollen der Erde wurde so lange lauter, bis der ganze Bildschirm von I.ava ausgefüllt zu sein schien, doch dann wechselte die Szenerie auf einen Schlag. Es gab keinerlei Kontinuität zwischen den Szenen, nur unvermittelte Wechsel. Jetzt tauchten vor einem weißen Hintergrund fette schwarze Buchstaben mit verschwimmenden Rändern auf, aber irgendwie gelang es Asakawa schließlich, das japanische Schriftzeichen für das Wort »Berg« zu erkennen. Umgeben war es von schwarzen Spritzern, als wäre es nachlässig mit einem tropfenden Pinsel auf‐ getragen worden. Das Schriftzeichen stand da, und es gab nicht das geringste Flimmern. Dann ein weiterer plötzlicher Szenenwechsel. Zwei rollende Würfel auf dem gewölbten Boden einer Bleischüssel. Der Bildhin‐ tergrund war weiß, die Schüssel schwarz, einer der Würfel rot. Exakt die drei Farben, die ihm bei diesem Video schon so oft be‐ gegnet waren. Die Würfel rollten geräuschlos und blieben schließ‐ lich liegen: eine Eins und eine Fünf. Ein roter und fünf schwarze Punkte auf den weißen Würfeln... Was hatte das zu bedeuten? In der nächsten Szene erschien zum ersten Mal ein Mensch. Eine alte Frau mit faltigem Gesicht saß auf zwei auf dem Boden liegen‐ den Tatamis. Ihrer Hände ruhten auf den Knien, ihre linke Schul‐ ter war etwas vorgereckt. Sie sprach vor sich hin und starrte starr geradeaus. Ihre Augen waren unterschiedlich groß — wenn sie blinzelte, sah es aus, als zwinkerte sie. Sie sprach einen für Asakawa fremdartigen Dialekt, und deshalb konnte er nur ungefähr jedes vierte Wort verstehen: ... deine Gesundheit... immer nur... heimgesucht. Verstanden?... Nimm...in Acht... wirst du ein Kind... Hör jetzt auf eine alte Frau, du... brauchst du dir keine...
Nachdem die alte Frau mit ungerührtem Gesichtsausdruck ihre Litanei heruntergebetet hatte, verschwand sie vom Bildschirm. Etliche Worte hatte Asakawa nicht verstanden, aber er hatte den Eindruck, dass sie ihm zur Vorsicht geraten und ihn vor etwas gewarnt hatte. Zu wem sprach diese alte Frau — und worüber? Jetzt erschien des Bild eines Neugeborenen auf der Mattscheibe. Von irgendwoher hörte Asakawa den ersten Schrei des Babys, und wieder war er sicher, dass er nicht aus den Lautsprechern kam. Er kam ganz aus der Nähe, von unterhalb seines Gesichts. Die Stim‐ me klang sehr real. Auf dem Bildschirm sah er jetzt Hände das Neugeborene halten. Die linke Hand lag unter dem Kopf des Ba‐ bys, die rechte auf seinem Rücken. Es waren wunderschöne Hän‐ de. Völlig von dem Bild gefangen genommen, bemerkte Asakawa plötzlich, dass seine Hände exakt dieselbe Position eingenommen hatten. Das Geschrei des Babys ertönte irgendwo unter seinem Kinn. Konsterniert zog Asakawa die Hände zurück. Er hatte etwas gefühlt, etwas Warmes und Nasses, das an Fruchtwasser oder Blut erinnerte. Außerdem hatte er das Gewicht von Fleisch auf sich lasten gefühlt. Er riss seine Hände auseinander, als wollte er je‐ mand zur Seite stoßen, und hielt sie dann dicht vors Gesicht. Ein Geruch haftete an ihnen, der schwache Geruch von Blut. Stammte es aus der Gebärmutter, oder... Seine Hände fühlten sich nass an, doch tatsächlich waren sie nicht einmal feucht. Erneut blickte er auf die Mattscheibe, wo das Baby jetzt nicht mehr schrie, sondern einen friedvollen Gesichtsausdruck angenommen hatte. Das Zit‐ tern seines Körpers hatte sich auf den Unterleib ausgedehnt, und selbst der kleine Penis zitterte. Szenenwechsel. Asakawa sah hundert praktisch nicht zu unter‐ scheidende menschliche Gesichter, von denen jedes Hass und Feindseligkeit ausdrückte. Die Gesichter wirkten, als wären sie auf
eine ebene Fläche aufgemalt. Jetzt wichen sie nach und nach in die Tiefe des Raums zurück, und je kleiner die Köpfe wurden, desto mehr Gesichter waren insgesamt zu sehen. Eine Unmenge Gesich‐ ter ohne Körper. Ihr Gebrüll machte einer Menschenmenge alle Ehre, und es hielt an, während die einzelnen Gesichter kleiner wurden und sich ihre Anzahl vervielfachte. Asakawa hatte den Eindruck, von einer großen Menschenmenge kritisiert und belei‐ digt zu werden. Fröhlich willkommen geheißen wurde er von die‐ ser Masse mit Sicherheit nicht. Endlich verstand er ein Wort: »Lügner!« Dann ein anderes: »Betrüger!« Mittlerweile waren es ungefähr tausend Gesichter. Sie glichen nur mehr schwarzen Par‐ tikeln, die nach und nach den ganzen Bildschirm füllten, bis dieser schließlich so aussah, als hätte man den Fernseher ausgeschaltet. Die Stimmen waren damit allerdings immer noch nicht ver‐ schwunden, und Asakawa konnte es nicht mehr ertragen. Diese aggressive Kritik, direkt an seine Adresse gerichtet... Zumindest war das sein Eindruck. Nach dem nächsten Szenenwechsel sah er einen Fernseher auf einem Holztischchen. Es war ein altmodisches Modell mit einem kleinen Bildschirm, einem runden Drehknopf zur Sendereinstel‐ lung und einer Zimmerantenne. Kein Theater auf dem Theater, sondern ein Fernseher in einem Fernseher. Bisher war auf dem TV‐Gerät auf der Mattscheibe noch nichts zu sehen, aber da neben dem Drehknopf ein rotes Lämpchen glühte, schien es eingeschaltet zu sein. Dann begann der Bildschirm auf dem Bildschirm zu flak‐ kern, schien sich zu stabilisieren und flackerte dann erneut — diesmal mit zunehmender Geschwindigkeit. Schließlich erschien ein verschwommenes Wort: »sada.« Das Wort wackelte und ver‐ zerrte sich, bis es kurz an das englische »sad« erinnerte. Dann schien es mit einem nassen Lappen weggewischt zu werden, wie Kreide auf einer Tafel.
Während er zusah, bekam Asakawa nur noch mühsam Luft. Er hörte sein Herz schlagen und spürte das Blut in seinen Adern pul‐ sieren. Ein Geruch, eine Berührung, ein bittersüßer Geschmack auf der Zunge. Es war seltsam — irgendetwas stimulierte seine Sinne, irgendein weiteres Medium neben den Geräuschen und Bildern, die ihm plötzlich so erschienen, als erinnerte er sich an sie. Schlagartig tauchte das Gesicht eines Mannes auf dem Bild‐ schirm auf. Im Gegensatz zu den vorhergehenden Bildern wirkte dieser Mann definitiv lebendig, er strömte sogar eine energische Vitalität aus. Asakawa begann, Hass auf ihn zu empfinden, ob‐ wohl er nicht die geringste Ahnung hatte, warum er diesen Men‐ schen hassen sollte. Besonders abstoßend war er nicht. Seine Stirn wich ein bisschen zurück, aber ansonsten sah er eigentlich eher gut aus. Aber in seinem Blick lag etwas Gefährliches. Es waren die Augen eines Raubtiers, das sich seiner Beute näherte. Sein Atem ging abgehackt, sein Blick war nach oben gerichtet, und sein Kör‐ per bewegte sich rhythmisch. Hinter dem Mann standen vereinzelt Bäume, durch deren Zweige das Licht der nachmittäglichen Sonne fiel. Jetzt senkte der Mann den Blick und schien dem Betrachter direkt in die Augen zu schauen. Eine Zeit lang starrten sich Asa‐ kawa und der Mann an. Das Gefühl der Atemnot wurde intensi‐ ver, und plötzlich wollte Asakawa am liebsten den Blick abwen‐ den. Der Mann sabberte, seine Augen waren blutunterlaufen. Die Kamera zoomte auf seine Halsmuskeln, dann verschwand das Bild links von der Mattscheibe, auf der jetzt eine Weile nur noch die schwarzen Schatten der Bäume zu erkennen war. Aus irgendeiner bodenlosen Tiefe begann ein Schrei aufzusteigen. Zur gleichen Zeit tauchten die nackten Schultern des Mannes wieder auf, dann sein Hals, schließlich wiederum sein Gesicht. Auf seiner rechten Schulter klaffte ein tiefer, mehrere Zentimeter langer, blutiger Riss. Die Kamera schien Bluttropfen anzusaugen, die größer und größer
wurden, bis sie schließlich das Objektiv trafen und die Sicht ver‐ schwimmen ließen. Zweimal wurde der Bildschirm schwarz, fast so, als würde er blinzeln, und als die Mattscheibe dann wieder hell wurde, war alles rot. Jetzt hatte der Mann einen mörderischen Blick. Das Gesicht kam näher, ebenso die Schulter, wo man durch die klaffende Wunde ein Stück des Knochens sehen konnte. Asa‐ kawa fühlte einen starken Druck auf seiner Brust lasten. Wieder sah er Bäume, der Himmel rotierte. Sonnenuntergang, das Ra‐ scheln verdorrter Gräser... Erde, Gräser, dann wieder der Himmel. Irgendwo hörte er ein Baby schreien, ohne sich sicher zu sein, ob es der kleine Junge von eben war... Schließlich wurden die Ränder des Bildschirms schwarz. Nach und nach schob sich die Finsternis in die Mitte, um nur noch Raum für einen hellen Kreis zu lassen. Jetzt waren Finsternis und Licht klar voneinander getrennt. Ein kleiner, runder Mond inmitten von Finsternis, und in dem Mond war das Gesicht eines Mannes zu erkennen. Ein faustgroßer Klumpen unbestimmter Substanz löste sich von dem Mond und prallte irgendwo mit einem dumpfen Geräusch auf. Noch einer, dann noch einer. Bei jedem dumpfen Krachen begann das Bild zu wackeln. Das Geräusch von Fleisch, das zerschmettert wurde, schließlich absolute Finsternis. Doch selbst dann blieb noch ein Puls, zirkulierendes Blut. Die Szene schien kein Ende zu nehmen, die Finsternis ewig anzudauern. Dann erschienen wieder Worte, ganz wie zu Beginn des Videos. In der ersten Szene waren die Schriftzüge fast unleserlich gewesen, wie die eines Kindes, das schreiben lernte. Jetzt waren es besser lesbare weiße Buchstaben, die in den Bildvordergrund rückten und dann wieder zu ver‐ schwinden begannen: Wer diese Bilder sieht, ist dazu verdammt, exakt eine Woche nach diesem Augenblick zu sterben. Wenn du nicht sterben willst, musst du den An‐
weisungen genau folgen... Asakawa schluckte und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Fernseher, wo sich gerade ein weiterer Szenenwechsel vollzog — ein radikaler Wechsel. Auf dem Bildschirm erschien ein Werbe‐ spot, ein ganz gewöhnlicher, alltäglicher Werbespot. Eine romanti‐ sche Szenerie an einem Sommerabend, eine Frau in einem leichten Baumwollbademantel auf einer Veranda, ein Feuerwerk am Nachthimmel — ein Spot für ein Mittel gegen Moskitos. Nach un‐ gefähr dreißig Sekunden war der Film zu Ende, und Asakawa wartete auf den nächsten, doch plötzlich befand er sich wieder in dem Video: Finsternis, die letzten Spuren sich auflösender Worte. Mit ein paar Störgeräuschen endete das Band. Asakawa traten die Augen aus den Höhlen. Er spulte das Band ein Stück zurück und spielte die Szenenfolge noch einmal ab: Die Unterbrechung durch den Werbespot kam im wichtigsten Mo‐ ment. Auch nachdem er die Stopptaste gedrückt und den Fernse‐ her ausgeschaltet hatte, starte Asakawa weiterhin auf die Matt‐ scheibe. Seine Kehle war völlig ausgetrocknet. »Was zum Teufel...?« Mehr fiel ihm dazu nicht ein. Eine unverständliche Szene nach der anderen. Begriffen hatte er nur, dass jeder Betrachter dieses Videos in genau einer Woche sterben würde. Und ausgerechnet die Stelle, wo erklärt wurde, wie man dieses Schicksal vermeiden konnte, war mit dem Werbespot überspielt worden. Wer hat die entscheidende Szene überspielt? Die vier Toten? Asakawas Unterkiefer zitterte. Hätte er nicht gewusst, dass die vier jungen Leute gleichzeitig gestorben waren, hätte er nur ge‐ lacht und das Ganze als absoluten Schwachsinn abgetan. Aber er wusste es. Sie waren eines rätselhaften Todes gestorben — wie vorhergesagt.
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Fast wäre Asakawa das Herz aus der Brust gesprungen. Er nahm den Hörer ab und hatte dabei den Eindruck, als würde ihn irgendein Etwas aus der Finsternis beobachten. »Hallo?«, stieß er schließlich krächzend hervor, aber auf eine Antwort wartete er vergebens. Irgendetwas wirbelte in einem dunklen, engen Raum herum. Da war ein dumpfes Grollen, als würde die Erde beben, und in der Luft hing der Geruch feuchter Erde. Eines seiner Ohren fühlte sich eiskalt an, und Asakawa stan‐ den die Nackenhaare zu Berge. Der Druck auf seine Brust nahm zu, und aus dem Inneren der Erde schienen Käfer über seine Knö‐ chel und seine Wirbelsäule hinaufzukrabbeln. Durch den Hörer wären ihm fast unaussprechliche Gedanken und lange angestauter Hass entgegengeschlagen, aber Asakawa knallte ihn schnell auf die Gabel. Eine Hand vor dem Mund, rannte er zur Toilette. Ein eisiges Frösteln lief seinen Rücken hinauf und hinab, Wellen von Übelkeit überkamen ihn. Dieses Etwas am anderen Ende der Lei‐ tung hatte nichts gesagt, doch Asakawa wusste, was beabsichtigt war: eine Bestätigung. »Sie haben es gesehen. Sie wissen, was das bedeutet. Tun Sie, was man Ihnen gesagt hat. Sonst...» Asakawa übergab sich in die Toilette. Viel kam nicht, nur der Whisky, vermischt mit bitterer Galle, die seine Augen schmerzen ließ und in seiner Nase wehtat. Er hoffte, die eben gesehenen Bil‐ der gleich mit loswerden zu können, wenn er nur alles erbrach. »Und wenn nicht, was ist dann? Ich weiß es nicht! Was willst du von mir, was soll ich tun?« Er saß schreiend auf dem Boden vor der Toilette und versuchte, sich nicht von seiner Angst überwältigen zu lassen. »Die vier Ju‐ gendlichen haben das Band an der Stelle gelöscht, wo das Wichtig‐ ste kommt... Ich weiß es nicht! Hilf mir!«
Er konnte nichts anderes tun, als sich zu entschuldigen. Asakawa rannte aus dem Badezimmer, ohne im Spiegel zu bemerken, wie furchtbar er aussah. Zurück im Wohnzimmer, verbeugte er sich demütig in alle Richtungen. Dabei war ihm nicht bewusst, dass er Mitleid zu erregen und Sympathien zu gewinnen versuchte. Nachdem er über der Spüle gegurgelt, ausgespien und etwas Was‐ ser getrunken hatte, spürte er einen Luftzug. Die Vorhänge vor der Schiebetür bewegten sich. Ich dachte, ich hätte alles zugemacht. Asakawa war sicher, die Schiebetür fest geschlossen zu haben, bevor er die Vorhänge zugezogen hatte. Er erinnerte sich genau. Noch immer zitterte er. Ohne jeden Grund tauchte vor seinem geistigen Auge das Bild nächtlicher Wolkenkratzer auf. Die be‐ leuchteten und unbeleuchteten Fenster bildeten ein Schachbrett‐ muster, manchmal sogar Schriftzeichen. Sah man die Gebäude als riesige, längliche Grabsteine, dann waren die Lichter Grabinschrif‐ ten. Das Bild verschwand, aber die Vorhänge bauschten sich noch immer in der Brise. Hektisch holte Asakawa seine Tasche aus dem Schrank und warf seine Sachen hinein. Hier konnte er keine Sekunde länger bleiben. Mir ist egal, was die anderen denken. Wenn ich hier bleibe, werde ich die Nacht nicht überstehen. Über die Woche, die mir noch bleibt, brauche ich dann gar nicht mehr nachzudenken. Noch immer im Jogginganzug, trat Asakawa in den Vorraum. Bevor er das Haus verließ, versuchte er, zu einem rationalen Denken zurückzufinden. Renn nicht einfach kopflos vor Angst davon, denk lieber über einen Weg nach, wie du dich retten kannst! Ein spon‐ taner Überlebensinstinkt meldete sich: Asakawa ging zurück ins Wohnzimmer und nahm die Videokassette aus dem Rekorder, die er dann in ein Handtuch wickelte und in seiner Tasche verstaute. Mehr als das Video hatte er nicht in der Hand, er durfte es nicht
hier liegen lassen. Vielleicht konnte er sich retten, wenn es ihm gelang, das Rätsel der Szenenabfolge zu lösen. Aber im blieb nur eine Woche. Er blickte auf die Uhr — 22 Uhr 18. Er war sicher, dass er um 22 Uhr 04 Videorekorder und Fernseher ausgeschaltet hatte. Plötzlich schien ihm die Zeit immer wichtiger zu werden. Er legte den Schlüssel auf den Tisch und verließ die Blockhütte, ohne alle Lampen auszuknipsen. Ohne beim Büro des Verwalters anzu‐ halten, rannte er zu seinem Wagen, wo er sofort den Schlüssel ins Zündschloss stieß. »Allein schaffe ich das nicht. Ich muss ihn um Hilfe bitten.« In Selbstgespräche vertieft, fuhr Asakawa los, doch er konnte es sich nicht verkneifen, einen Blick in den Rückspiegel zu werfen. Wie stark er das Gaspedal auch nach unten drückte, er schien nicht wirklich an Geschwindigkeit zu gewinnen. Es war, als würde man in einem Traum gejagt und als könnte man sich nur in Zeitlupe bewegen. Wieder und wieder blickte er in den Rückspiegel, aber der dunkle Schatten, der ihn jagte, war nirgends zu sehen.
»Lass uns erst das Video ansehen«, sagte Ryuji Takayama grin‐ send. Asakawa und Ryuji saßen im ersten Stock eines Cafes in Rop‐ pongi. Es war Freitag, der 12. Oktober, 19 Uhr 20 abends, und es waren fast 24 Stunden vergangen, seit Asakawa das Video gese‐ hen hatte. Für den Freitagabend und Roppongi, das populärste Vergnügungsviertel der Stadt, hatte er sich in der Hoffnung ent‐ schieden, dass durch die fröhlichen Stimmen der Frauen um ihn herum seine Ängste verfliegen würden. Aber es schien nicht zu funktionieren. Je mehr er darüber redete, desto lebhafter spielten sich die Ereignisse des gestrigen Abends vor seinem geistigen Au‐ ge noch einmal ab, und seine Ängste wurden nur noch größer. Zwischendurch glaubte Asakawa sogar flüchtig, irgendwo in sei‐ nem Körper würde ein mysteriöser Fremdkörper lauern und sich seiner bemächtigen. Ryujis elegantes Oberhemd war bis zum Kragen zugeknöpft, und seine Krawatte schien ziemlich fest geknotet zu sein, doch er machte keinerlei Anstalten, sie zu lockern und den obersten Knopf aufzumachen. Deshalb war die Haut über dem Kragen am Hals ein bisschen geschwollen. Besonders bequem wirkte das nicht. Und dann seine knochigen Gesichtszüge — auf jemanden, der ihn nicht kannte, wirkte selbst sein Lächeln irgendwie eklig. Ryuji fischte einen Eiswürfel aus seinem Glas und steckte ihn sich in den Mund. »Hast du eben nicht zugehört?«, zischte Asakawa. »Ich hab doch gesagt, dass es gefährlich ist.« »Und was soll das Ganze dann? Du willst doch, dass ich dir hel‐ fe, oder etwa nicht?« Noch immer lächelnd, zermalmte Ryuji den
Eiswürfel zwischen seinen Zähnen. »Es gibt Möglichkeiten, wie du mir helfen kannst, ohne das Vi‐ deo zu sehen.« Ryuji ließ schmollend den Kopf hängen, doch das schwache Grinsen umspielte noch immer kaum merklich seine Lippen. Plötzlich wurde Asakawa von Zorn gepackt. »Du glaubst mir nicht, stimmtʹs?«, rief er hysterisch. »Du glaubst mir kein Wort!« Asakawa hatte das Video gesehen, und es war, als hätte er ohne jeden Verdacht eine Briefbombe geöffnet. Folglich konnte er Ryujis Gesichtsausdruck nur als Provokation interpretieren. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er so große Angst gehabt. Und es war noch nicht vorbei. Noch sechs Tage. Wie eine sanfte Seidenschlin‐ ge schnürte ihm die Angst langsam die Kehle zu. Ihn erwartete der Tod, und sein Joker wollte unbedingt dieses Video sehen! »Du brauchst hier keine Szene zu machen. Ich habe keine Angst — hast du ein Problem damit? Hör zu, Asakawa, ich habʹs dir schon mal gesagt: Ich bin einer von den Typen, die sogar beim Weltuntergang in der ersten Reihe sitzen würden, falls das mög‐ lich sein sollte. Ich will wissen, wie es mit dieser Welt beschaffen will, ich will den Anfang und das Ende kennen, alle ihre großen und kleinen Rätsel. Würde mir jemand anbieten, sie mir zu erklä‐ ren, würde ich für dieses Wissen gern mein Leben hergeben. Dabei hast du mich ja unsterblich gemacht — vermutlich erinnerst du dich.« Natürlich erinnerte sich Asakawa, und gerade deshalb hatte er sich Ryuji gegenüber offenbart. Asakawa hatte damals die Idee für eine Reihe von Features ge‐ habt. Vor zwei Jahren, mit dreißig, hatte er sich zu fragen begon‐ nen, was wohl andere junge Japaner in seinem Alter dachten und welche Träume sie hatten. Die Idee war, Dreißigjährige aus den verschiedensten Berufen und sozialen Schichten herauszupicken
— von einem Bürokraten aus dem Wirtschaftsministerium, einem Stadtrat von Tokio und einer Führungspersönlichkeit aus einem Top‐Unternehmen bis hin zum normalen Mann von der Straße. Alle sollten umfassend in ihrer Persönlichkeit dargestellt werden, von den persönlichen Daten, an denen der Leser Interesse hatte, bis hin zu den einzigartigen Zügen ihres Charakters. An einer ex‐ ponierten Stelle der Zeitung wollte Asakawa regelmäßig analysie‐ ren, was es hieß, im zeitgenössischen Japan dreißig Jahre alt zu sein. Und ganz zufällig fand sich unter den zehn bis zwanzig Kandidaten, die für diese Artikelserie in Frage kamen, ein alter Klassenkamerad Asakawas: Ryuji Takayama. Seine offizielle Posi‐ tion war die eines Lehrbeauftragten des Philosophischen Instituts der Fakultät für Literatur an der Fukuzawa‐Universität, die eine der besten privaten Hochschulen des Landes war. Die Vorarbeiten erledigte Asakawa damals höchstpersönlich, und er reihte den Beruf des Geisteswissenschaftlers in das Spektrum von Professio‐ nen ein, die er in seiner Artikelserie behandeln wollte. Aber Ryuji war ein viel zu großer Individualist, der nicht als Repräsentant für dreißigjährige Geisteswissenschaftler taugte. Schon auf der Ober‐ schule war er ein schwieriger Charakter gewesen, doch jetzt, nachdem er seiner Persönlichkeit in den Jahren an der Universität den letzten Schliff gegeben hatte, schien er nur noch rätselhafter geworden zu sein. Nach dem Abschluss seines Medizinstudiums hatte er sich für ein Graduiertenstudium in Philosophie entschie‐ den und in dem Jahr promoviert, als die Artikel erscheinen sollten. Zweifellos hätte er von seinem Können her seinerzeit die erste freie Stelle als fester Dozent verdient, aber da gab es die unglück‐ selige Tatsache, dass ältere Kandidaten vor ihm auf der ʹWarteliste standen und dass vakante Positionen strikt nach Alter vergeben wurden. Also hatte er sich für die Teilzeitstelle als Lehrbeauftrag‐ ter entschieden und gab jetzt zwei Seminare über Logik an seiner
alten Alma Mater. In diesen Tagen näherte sich die Forschung in der Philosophie immer mehr den exakten Wissenschaften an, und es ging nicht mehr darum, sich mit törichten Fragen zu amüsieren, wie der Mensch denn leben solle. Spezialisierte man sich heutzutage auf Philosophie, so hieß das insbesondere, sich einer Art Mathematik ohne Zahlen zu widmen. Überdies hatte es schon bei den alten Griechen Philosophen gegeben, die zugleich Mathematiker waren. So ein Typ war auch Ryuji. Die Fakultät für Literatur zahlte sein Gehalt, doch sein Gehirn arbeitete wie das eines Naturwissen‐ schaftlers. Zusätzlich zu seinem Spezialwissen verfügte er aber auch über außergewöhnlich große Kenntnisse auf dem Gebiet der Parapsychologie. Asakawa sah darin einen Widerspruch. Für ihn war Parapsychologie, die Beschäftigung mit dem Übernatürlichen und dem Okkulten, das exakte Gegenteil von Wissenschaft. Ryujis damalige Antwort lautete: Ganz im Gegenteil. Die Parapsychologie ist einer der Schlüssel, mit dem sich die Struktur des Universums entziffern lässt. Es war ein heißer Tag mitten im Sommer gewesen, und ge‐ nau wie heute hatte Ryuji ein gestreiftes, langärmliges und bis oben zugeknöpftes Hemd getragen. Ich will Zeuge sein, wenn die Menschheit ausgelöscht wird, hatte Ryuji damals gesagt. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen. Alle diese Idioten, die ständig vom Weltfrieden schwafeln, sind einfach zum Kotzen. Seinerzeit stellte Asakawa ihm etwa Fragen wie diese: Erzähl mir etwas über deine Träume von der Zukunft. »Wenn ich der Auslöschung der Menschheit von einem Hügel aus zusehen könnte«, hatte Ryuji ruhig geantwortet, »würde ich ein Loch buddeln und darin wieder und wieder ejakulieren.« »Bist du sicher, dass ich das aufschreiben soll?«, hakte Asakawa nach. Damals hatte Ryuji nur schwach gelächelt, genau wie jetzt, und
dann genickt. »Gestern Abend habe ich es wieder getan.« Wieder? So erfuhr Asakawa von Ryujis drittem Opfer; von seinem ersten wusste er bereits seit ihrer Zeit auf der Oberschule. Damals lebten beide im Bezirk Tama in Kawasaki, einer Industriestadt zwischen Tokio und Yokohama, und mussten mit öffentlichen Verkehrsmit‐ teln zur Schule fahren. Jeden Morgen war Asakawa schon eine Stunde vor Unterrichtsbeginn in der Schule, weil er sich noch auf den Lehrstoff vorbereiten wollte. Von den Putzfrauen einmal ab‐ gesehen, war Asakawa stets der Erste. Im Gegensatz dazu schaffte Ryuji es kaum jemals, überhaupt pünktlich zu kommen. Er war gleichsam gewohnheitsmäßig zu spät. Doch eines Morgens, direkt nach dem Ende der Sommerferien, als Asakawa wie üblich früh in der Schule auftauchte, sah er Ryuji wie benommen auf seinem Tisch sitzen. »Was ist denn mit dir los?«, fragte Asakawa. »Ich glaube nicht, dass ich dich schon mal so früh hier gesehen habe.« »Kann sein«, kam die knappe Antwort. Ryuji starrte durch das Fenster auf den Schulhof, als wäre er in Gedanken irgendwo an‐ ders. Seine Augen waren blutunterlaufen, seine Wangen gerötet, und außerdem roch er nach Alkohol. Da sie sich nicht besonders nahe standen, war das Gespräch für Asakawa damit beendet. Er schlug sein Schulbuch auf, um mit der Vorbereitung auf den Un‐ terricht zu beginnen. »Hör zu, ich möchte, dass du mir einen Ge‐ fallen tust...«, sagte Ryuji, während er Asakawa auf die Schulter klopfte. Ryuji war ein absoluter Individualist. Er bekam immer gute Zensuren, und außerdem war er ein erstklassiger Leichtath‐ let. Alle in der Schule bewunderten ihn. Dagegen war Asakawa ein völlig unauffälliger Typ, und wenn Ryuji ihn um einen Gefallen bat, war das eine durchaus positive Überraschung.
»Ich möchte, dass du bei mir zu Hause anrufst«, sagte Ryuji, der Asakawa übertrieben vertraut einen Arm um die Schulter legte. »Kein Problem, aber warum?« »Du musst nur anrufen und nach mir fragen.« »Nach dir fragen?«, erkundigte sich Asakawa stirn‐ runzelnd. »Aber du bist doch hier.« »Mach dir darüber keine Gedanken. Ruf einfach an, okay?« Also tat Asakawa, was Ryuji von ihm verlangte. »Ist Ryuji da?«, fragte er, als dessen Mutter sich am anderen Ende meldete. Er blickte seinen Klassenkameraden an, der direkt neben ihm stand. »Tut mir Leid, aber er ist bereits zur Schule gefahren«, erwiderte Ryujis Mutter ruhig. »Verstehe«, sagte Asakawa nur, bevor er auflegte. »War das so in Ordnung?« Noch immer hatte Asakawa nicht recht begriffen, was das Ganze eigentlich sollte. »Klang ihre Stimme, als wäre irgendetwas nicht in Ordnung?«, fragte Ryuji. »Hörte sie sich irgendwie nervös an?« »Nein, eigentlich nicht.« Bisher hatte Asakawa die Stimme zwar noch nie gehört, aber besonders nervös hatte sie nicht gewirkt. »Keine aufgeregten Stimmen im Hintergrund oder sonst was Auffälliges?« »Nein, nichts Besonderes. Hörte sich so an, als wären sie beim Frühstück.« »Also gut. Danke,« »He, was ist eigentlich los? Warum hast du mich darum gebe‐ ten?« Ryuji wirkte etwas erleichtert. Er legte seinen Arm um Asaka‐ was Schultern und zog ihn dicht zu sich heran. »Sieht so aus, als könntest du ein Geheimnis für dich behalten und als könnte ich dir vertrauen«, flüsterte er ihm ins Ohr. »Also werde ich es dir
erzählen. Heute Morgen habe ich eine Frau vergewaltigt.« Asakawa war so geschockt, dass es ihm die Sprache verschlug. Ungefähr um fünf Uhr morgens war Ryuji in das Apartment einer jungen Studentin eingedrungen und hatte sie vergewaltigt. Beim Verlassen der Wohnung warnte er sie, dass er es nicht tatenlos hinnehmen würde, falls sie die Polizei benachrichtigte. Anschlie‐ ßend war er direkt in die Schule gekommen, und jetzt machte er sich Sorgen, dass die Polizei vielleicht schon im Haus seiner Eltern war. Durch Asakawas Anruf hatte er das herausfinden wollen. Danach sprachen Asakawa und Ryuji ziemlich häufig miteinan‐ der. Natürlich erzählte Asakawa niemandem etwas von Ryujis Verbrechen. Im nächsten Jahr belegte Ryuji beim Leichtathletik‐ Bezirkssportfest im Kugelstoßen den dritten Platz, und im Jahr darauf schrieb er sich an der Fukuzawa‐Universität für Medizin ein. Dagegen musste Asakawa in diesem Jahr die Aufnahmeprü‐ fung für die Universität seiner Wahl wiederholen, weil er beim ersten Versuch gescheitert war. Beim zweiten Mal schaffte er es, und er konnte an einer renommierten Universität Literatur studie‐ ren. Jetzt, im Cafe in Roppongi, war sich Asakawa durchaus darüber im Klaren, was er wollte. Tatsächlich wünschte er sich, dass Ryuji sich das Video ansah. Dessen Wissen und Erfahrung würden von keinem großen Nutzen sein, wenn er nur von dem ausgehen konn‐ te, was Asakawa ihm über das Video erzählte. Andererseits war es ethisch gesehen falsch, jemanden in diese Sache zu verwickeln, um seine eigene Haut zu retten. Er steckte in einem Zwiespalt. Aber er wusste, wie er sich entscheiden würde, wenn er die beiden Mög‐ lichkeiten gegeneinander abwog. Keine Frage, er wollte seine Ü‐ berlebenschancen verbessern. Und dennoch... Plötzlich stellte er sich — wie schon so häufig — die Frage, warum er überhaupt mit Ryuji befreundet war. In seinen zehn Jahren als Zeitungsreporter
war er unzähligen Leuten begegnet, und doch war Ryuji der ein‐ zige Mensch, den er jederzeit anrufen und zu einem Drink einla‐ den konnte. Nur zu ihm hatte Asakawa eine solche Beziehung. Lag es daran, dass sie Klassenkameraden gewesen waren? Wohl kaum, er hatte jede Menge Klassenkameraden gehabt. Irgendet‐ was in der Tiefe seines Wesens sprach auf Ryujis exzentrischen Charakter an, aber Asakawa hatte das Gefühl, diesen Sachverhalt selbst nicht richtig zu begreifen. »Komm, lass uns keine Zeit verlieren. Dir bleiben doch nur noch sechs Tage, oder?« Ryuji packte Asakawas Arm und drückte ihn fest. »Los jetzt, zeig mir das Video. Denk doch daran, wie einsam ich sein werde, wenn du ins Gras beißt, weil wir Zeit vertrödelt haben.« Während er mit einer Hand noch immer rhythmisch Asakawas Arm drückte, bohrte Ryuji seine Gabel in ein bisher noch nicht angerührtes Stück Käsekuchen. Er begann zu essen und schmatzte dabei laut. Ryuji hatte die Angewohnheit, mit offenem Mund zu essen, und Asakawa konnte den unangenehmen Anblick nur schwer ertragen. Die knochigen Gesichtszüge, der untersetzte Körperbau, die schlechten Manieren... Und jetzt, während er den Käsekuchen saß, fischte er gleichzeitig noch ein Eisstück aus sei‐ nem Drink, um es geräuschvoll zu zermalmen. In diesem Augenblick begriff Asakawa, dass er dennoch außer Ryuji niemanden hatte, auf den er sich wirklich verlassen konnte. Ich habe es mit einem bösartigen Phantom zu tun, mit einer unbekann‐ ten Größe. Kein normaler Mensch kann allein damit fertig werden. Wahrscheinlich gibt es außer Ryuji niemanden, der sich das Video anse‐ hen kann, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Wenn man einen Schlauen fangen will, darf man keinen Dummen schicken. Es gibt keinen anderen Weg. Was kümmert es mich, wenn Ryuji dabei draufgeht? Wenn jemand sagt, dass er der Auslöschung der Menschheit beiwohnen
will, verdient er kein langes Leben. Auf diese Weise versuchte Asakawa vor sich zu rechtfertigen, dass er Ryuji in diese Geschichte hineinzog.
2 Die beiden Männer nahmen ein Taxi. Wenn die Straßen nicht ver‐ stopft waren, schaffte man es in weniger als zwanzig Minuten von Roppongi zu Asakawas Wohnung in Kita Shina‐gawa. Im Rück‐ spiegel sahen sie die Stirn des Fahrers, der das Taxi lässig mit einer Hand lenkte und keinerlei Anstalten machte, sich mit seinen Fahr‐ gästen zu unterhalten. Wenn man es genau bedachte, hatte die ganze Geschichte mit einem redseligen Taxifahrer begonnen. Hät‐ test du damals nicht das Taxi genommen, würdest du jetzt nicht so tief in der Patsche sitzen, dachte Asakawa, als er die Ereignisse von vor zwei Wochen Revue passieren ließ. Jetzt bedauerte er es, dass er sich damals, auch wenn es nervig gewesen wäre, nicht für die U‐Bahn entschieden, die Fahrkarte gekauft und auch das lästi‐ ge Umsteigen in Kauf genommen hatte. »Können wir in deiner Wohnung eine Kopie von dem Video zie‐ hen?«, fragte Ryuji. Seines Berufs wegen hatte Asakawa zwei Vi‐ deorekorder, doch einer davon war schon ziemlich alt und funk‐ tionierte nicht hundertprozentig. Aber mit einer Kopie würde es keine Probleme geben. »Ja, natürlich.« »Okay, dann möchte ich dich bitten, die Kopie so schnell wie möglich zu machen. Ich will mir das Video in Ruhe in meiner Wohnung ansehen.« Der hat wirklich gute Neroen, dachte Asakawa. In seiner gegenwär‐ tigen Gemütsverfassung fand er Ryujis Worte ermutigend. Sie beschlossen, etwas eher auszusteigen und die letzten paar Schritte zu Fuß zu gehen. Es war zehn vor neun, und deshalb be‐ stand die Möglichkeit, dass Shizu und Yoko noch nicht schliefen. Kurz vor neun badete Asakawas Frau ihre kleine Tochter regel‐ mäßig. Dann brachte sie sie ins Bett und legte sich neben sie, damit
Yoko besser einschlafen konnte. Allerdings dämmerte Shizu dabei selbst weg, und wenn sie erst einmal schlief, bekam niemand sie mehr aus dem Bett. In einem nutzlosen Versuch, mehr Zeit mit ihrem Mann verbringen zu können, war Shizu dazu übergegan‐ gen, Asakawa durch Zettel auf dem Küchentisch zu bitten, sie wieder zu wecken. Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, folg‐ te Asakawa ihren Anweisungen in der Annahme, dass sie es ernst meinte. Er schüttelte sie, doch sie wachte nicht auf. Bei einem et‐ was energischeren Versuch fuchtelte sie mit ihren Händen herum, als wollte sie eine lästige Fliege verscheuchen. Dabei runzelte sie die Stirn und gab verärgerte Geräusche von sich. Dann war sie halb wach, doch die Sehnsucht nach Schlaf war sehr viel stärker als die nach Asakawa, und so gab er auf und trat den Rückzug an. Schließlich versuchte er es gar nicht mehr, ob mit oder ohne Zettel, und schließlich lagen auch keine Zettel mehr auf dem Tisch. Jetzt war es ein ehernes Gesetz, das Shizu und Yoko um neun Uhr a‐ bends gemeinsam ins Bett gingen, und heute war das auch besser so. Shizu hasste Ryuji, und irgendwie hatte Asakawa vollstes Ver‐ ständnis dafür. Deshalb hatte er sie auch nie nach dem genauen Grund gefragt. Ich bitte dich, bring diesen Typ nicht mehr in unsere Wohnung... Noch immer erinnerte sich Asakawa an den angewi‐ derten Gesichtsausdruck seiner Frau, als sie diesen Satz gesagt hatte. Aber jetzt zählte nur, dass er das Video nicht vor Shizus und Yokos Augen abspielen konnte. Im Haus war es dunkel und still, und der Duft des heißen Bade‐ wassers und der Seife drang bis in den Flur. Offensichtlich waren Shizu und Yoko gerade ins Bett gegangen, vermutlich mit Hand‐ tüchern unter den nassen Haaren. Asakawa lauschte an der Schlafzimmertür, um sich zu vergewissern, dass die beiden schlie‐ fen, dann führte er Ryuji ins Esszimmer. »Dann ist die Kleine also im Bett?«, fragte Ryuji mit einem An‐
flug von Enttäuschung. »Pst!«, mahnte Asakawa, der einen Finger auf die Lippen legte. Wahrscheinlich war es nicht, dass sie Shizu geweckt hatten, ande‐ rerseits konnte Asakawa nicht seine Hand dafür ins Feuer legen, dass sie nicht unbewusst wahrnahm, dass etwas Ungewöhnliches passiert war, und plötzlich im Türrahmen stand. Nachdem Asakawa Aus‐ und Eingänge der beiden Videorekor‐ der mit Kabeln verbunden hatte, legte er die Kassette ein. Bevor er auf »Play« drückte, blickte er Ryuji noch einmal an, als wollte er ihn fragen, ob er sich das wirklich antun wolle. »Stimmt was nicht?«, drängelte Ryuji, dessen Augen starr auf den Bildschirm gerichtet waren. »Mach endlich.« Nachdem Asa‐ kawa ihm die Fernbedienung in die Hand gedrückt hatte, stand er auf und ging zum Fenster. Er hatte keine Lust, sich das noch ein‐ mal anzusehen. Tatsächlich hätte er sich das Video eigentlich wie‐ der und wieder anschauen sollen, um es mit kühlem Kopf zu ana‐ lysieren, aber er brachte nicht die Willenskraft dazu auf. Er wollte nur wegrennen. Asakawa trat auf den Balkon und rauchte eine Zigarette. Nach der Geburt von Yoko hatte er seiner Frau versprochen, nicht mehr in der Wohnung zu rauchen, und dieses Versprechen hatte er auch noch nie gebrochen. Obwohl sie schon drei Jahre verheiratet wa‐ ren, lief es in der Beziehung zwischen Asakawa und seiner Frau noch immer ziemlich gut. Nachdem sie ihm diese wunderbare Tochter geschenkt hatte, konnte er einfach nicht gegen die Wün‐ sche seiner Frau handeln. Vom Balkon aus spähte er in den Raum. Durch die Milchglas‐ scheibe flackerte das Bild des Fernsehers. Hier auf dem Balkon, im sechsten Stock eines Hauses in der Innenstadt, umgeben von drei vertrauten Menschen, war das Video nicht so Furcht erregend wie seinerzeit in der Blockhütte, wo er ganz allein gewesen war. Doch
selbst wenn Ryuji das Video jetzt mehr oder weniger unter den‐ selben Bedingungen sah, würde er wahrscheinlich nicht den Kopf verlieren und zu schreien beginnen oder etwas in der Art. Vermut‐ lich entlockte ihm das Video nur Gelächter und Flüche, und wahr‐ scheinlich schaute er sogar mit einem bedrohlichen Blick auf dem Bildschirm. Nachdem Asakawa seine Zigarette ausgedrückt hatte, ging er wieder ins Zimmer zurück. Genau in diesem Augenblick öffnete sich die Tür vom Esszimmer zum Flur, und Shizu stand im Pyja‐ ma vor ihnen. Verwirrt griff Asakawa nach der Fernbedienung und drückte sofort die Stopptaste. »Ich dachte, du schläfst.« Seine Stimme klang vorwurfsvoll. »Ich habe Geräusche gehört.« Auf dem Fernseher waren wirre Bildfetzen zu sehen, aus den Lautsprechern drangen Störgeräu‐ sche. Mit einem misstrauischen Blick wanderten Shizus Augen zwischen dem Fernseher und den beiden Männern hin und her. »Geh wieder ins Bett!«, sagte Asakawa in einem Tonfall, der kei‐ ne Widerrede zuließ. »Wenn sie Lust hat, sollte sie sich zu uns setzen«, sagte Ryuji, der noch immer im Schneidersitz vor dem Fernseher hockte. Am lieb‐ sten hätte Asakawa ihn angeschrien, doch stattdessen haute er nur mit der Faust auf den Tisch. Shizu griff erschrocken nach der Türklinke, und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Dann be‐ dachte sie Ryuji mit einer angedeuteten Verbeugung. »Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause.« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand. Zwei Männer, spät am Abend, die in der Dun‐ kelheit Videos ein‐ und ausschalteten... Asakawa war klar, was seine Frau dachte. Ihr verächtlicher Blick war ihm keineswegs ent‐ gangen, und diese Verachtung galt weniger Ryuji, sondern viel‐ mehr den männlichen Instinkten im Allgemeinen. Asakawa be‐ dauerte, dass er ihr nichts erzählen konnte.
Ganz wie Asakawa vermutet hatte, war Ryuji kein bisschen auf‐ geregt, nachdem er das Video gesehen hatte. Summend spulte er das Band zurück, um es dann durch Vorspulen, langsamen Vor‐ lauf und gelegentliches Drücken der »Pause«‐Taste stellenweise noch einmal eingehender zu studieren. »Na, sieht ganz so aus, als würdest du ziemlich in der Patsche sitzen. Dir bleiben noch sechs Tage, mir wenigstens sieben.« Seine Stimme klang, als wäre er geradezu glücklich, bei diesem Spiel mitspielen zu dürfen. »Also, was sagst du dazu?«, fragte Asakawa. »Kinderkram.« »Wie bitte?« »Hast du dir als Kind nicht ähnliche Scherze erlaubt, etwa Freun‐ den unheimliche Bilder gezeigt und ihnen prophezeit, das Unheil würde eintreten? Oder Kettenbriefe? Irgendwas in der Art?« Natürlich hatte Asakawa damit seine Erfahrungen gemacht. »Worauf willst du hinaus?« »Auf nichts Spezielles. Ich habe nur gesagt, wie das Ganze auf mich wirkt.« »Ist dir nicht doch etwas aufgefallen?« »Hm. Die Bilder an sich sind nicht besonders Furcht erregend. Es scheint sich um eine Kombination von realistischen und abstrak‐ ten Sequenzen zu handeln. Gäbe es da nicht die Tatsache, dass tatsächlich vier Menschen auf die in dem Video vorhergesagte Weise gestorben sind, könnten wir uns mit einem verächtlichen Schnauben begnügen und das Ganze als absurd ad acta legen. Bist du nicht meiner Meinung?« Asakawa nickte. Das war das Problem: Die Vorhersage auf dem Band traf zu. »Zunächst müssen wir uns die Frage stellen, warum diese armen Narren gestorben sind. Aus welchem Grund? Für mich gibt es
zwei Möglichkeiten. Die letzte Szene des Videos prophezeit, dass der Betrachter zum Tode verdammt ist, und dann — direkt da‐ nach — kam wahrscheinlich eine... Na, lass es uns in Ermangelung eines besseren Wortes einfach mal eine >Zauberformel< nennen. Eine Formel, um diesem Schicksal zu entgehen. Und diesen Teil des Videos, wo die Zauberformel erklärt wurde, haben die vier jungen Leute gelöscht, und genau deshalb mussten sie ihr Leben lassen. Aber vielleicht haben sie es auch einfach nicht geschafft, die Zauberformel richtig anzuwenden, und mussten deshalb ster‐ ben. Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, müssen wir vermut‐ lich herausfinden, ob wirklich sie die Stelle mit der Zauberformel überspielt haben. Vielleicht war sie schon gelöscht, bevor die vier das Video sahen.« »Und wie sollen wir das rauskriegen? Fragen können wir sie ja schlecht.« Asakawa holte eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, schenkte ein Glas ein und reichte es Ryuji. »Pass gut auf.« Ryuji spielte das Ende noch einmal ab und achte‐ te speziell auf den Moment, wo der Werbespot für das Mittel ge‐ gen Moskitos endete. Nachdem er auf »Pause« gedrückt hatte, ließ er das Band langsam vorwärtslaufen, Bild für Bild, und schließlich sah man für einen Sekundenbruchteil eine Szene, wo drei Leute an einem Tisch saßen. Ein winziger Augenblick zeigte noch ein Fragment des Fernsehprogramms, das zuvor durch den Werbe‐ spot unterbrochen worden war: eine täglich um elf Uhr nachts von einem der großen nationalen Fernsehsender ausgestrahlte Late‐ Night‐Show. Der weißhaarige Mann war ein Bestseller‐Autor, und neben ihm saßen eine schöne junge Frau und ein junger Mann, den sie als traditionellen Geschichtenerzähler aus der Gegend von Osaka erkannten. Asakawa rückte dicht an den Fernseher heran. »Ich bin sicher, dass du diese Sendung kennst«, sagte Ryuji.
»Klar, dass ist die Night Show von NBS.« »Genau. Der Schriftsteller ist der Gastgeber, die Frau ist der Blickfang, der Geschichtenerzähler ist der aktuelle Gast. Wenn wir also herauskriegen, wann er in der Sendung zu Gast war, wissen wir auch, ob die vier Jugendlichen die Zauberformel gelöscht ha‐ ben, oder ob es jemand anders war.« »Ja, klar.« Die Night Show wurde täglich um elf Uhr nachts ausgestrahlt, und wenn dies die Sendung vom 29. August war, mussten die vier jungen Laute das Video an jenem Abend in der Blockhütte über‐ spielt haben. »NBS ist doch eine Tochtergesellschaft deines Zeitungsverlags, oder? Dann müsste das leicht herauszufinden sein.« »Ich werde mich darum kümmern.« »Unbedingt. Unser Leben könnte davon abhängen. Wir müssen uns um alles kümmern, was es auch sein mag. In Ordnung, Waf‐ fenbruder?« Ryuji klopfte Asakawa auf die Schulter. Jetzt sahen sich beide ihrem nahen Tod gegenüber. Waffenbrüder. »Hast du keine Angst?« »Angst? Ganz im Gegenteil, mein Freund. Ist doch spannend, wenn man einen so knappen Termin hat und bei Nichteinhaltung mit der Todesstrafe rechnen muss. Einfach fantastisch. Wenn man nicht bereit ist, sein Leben als Einsatz zu riskieren, macht das Spiel keinen Spaß.« Mittlerweile hatte Ryuji eine Zeit lang so getan, als wäre die gan‐ ze Angelegenheit das reinste Vergnügen, doch Asakawa machte sich Sorgen, dass seine demonstrativ hervorgekehrte Tapferkeit nur seine Angst maskierte. Aber als er jetzt seinem Freund in die Augen blickte, konnte er dort nicht das geringste Anzeichen von Furcht erkennen.
»Dann müssen wir herausfinden, wer dieses Video gemacht hat, wann er es gemacht hat und aus welchem Grund. Deinen Worten nach ist das Feriendorf mit den Blockhütten erst ein halbes Jahr alt. Also müssen wir zu allen Kontakt aufnehmen, die in Nr. B‐4 ge‐ wohnt haben, und dann eruieren, wer das Video mitgebracht hat. Meiner Ansicht nach kann es nicht schaden, wenn wir unsere Nachforschungen auf den späten August begrenzen. Immerhin besteht die Möglichkeit, dass es jemand war, der direkt vor den vier Verstorbenen dort gewohnt hat.« »Ist das auch meine Aufga‐ be?« Ryuji trank sein Glas mit einem Zug aus und dachte dann einen Augenblick lang nach. »Ja. Wir haben eine Deadline. Aber hast du nicht vielleicht einen verlässlichen Kumpel, den du um Hilfe bit‐ ten könntest?« »Ich kenne einen Reporter, der Interesse an dem Fall hat. Aber das hier ist eine Sache von Leben und Tod. Ich kann doch nicht einfach...« Asakawa dachte an Yoshino. »Kein Problem, mach dir darüber keine Gedanken. Sieh zu, dass er mitmacht. Wenn du ihm das Video zeigst, wird ihm das Feuer unterm Hintern machen. Glaub mir, er wird uns gern helfen.« »A‐ ber es ist nicht jeder so wie du.« »Dann erzähl ihm einfach, dass es ein harter Porno ist, der sonst nur unter dem Ladentisch gehandelt wird. Du musst ihn zwingen, sich das Video anzusehen.« Es hatte keinen Sinn, weiter mit Ryuji darüber zu debattieren. Er konnte das Video nicht jedem vorführen, ohne zuvor die Zauber‐ formel herauszufinden. Um die Geheimnisse zu knacken, bedurfte es organisierter Nachforschungen, doch wegen der speziellen Na‐ tur des Videos war es praktisch unmöglich, weitere Helfer hinzu‐ zuziehen. Menschen wie Ryuji, die ohne langes Nachdenken ihr Leben aufs Spiel setzten, waren äußerst rar. Wie würde Yoshino
reagieren? Auch er hatte Frau und Kinder, und Asakawa bezwei‐ felte, dass er sein Leben riskieren würde, nur um seine Neugier zu befriedigen. Aber eventuell konnte er sich auch nützlich machen, ohne das Video zu sehen. Vielleicht sollte er ihm aber für den Fall des Falles doch alles erzählen. »Okay, ich werdʹs versuchen.« Ryuji saß mit der Fernbedienung in der Hand am Esszimmertisch. »In Ordnung. Also, bei diesem Video haben wir es grob gespro‐ chen mit zwei Kategorien zu tun, mit abstrakten und mit konkre‐ ten Sequenzen...« Er spulte das Band zurück und hielt dann den Vulkanausbruch in einem Standbild fest. »Okay, nehmen wir zum Beispiel diesen Vulkan. Es ist nichts daran zu deuteln, dass es sich um einen real existierenden Vulkan handelt, und wir müssen he‐ rausfinden, welcher es ist. Haben wir erst den Namen, sollten wir auch herausfinden, wann er ausgebrochen ist. Folglich werden wir auch in Erfahrung bringen können, wann und wo diese Szene ge‐ filmt wurde.« Ryuji ließ das Band wieder laufen, und bald erschien die alte Frau, die teilweise Unverständliches vor sich hin sprach. Etliche Worte klangen nach einem regionalen Dialekt. »Was für ein Dialekt ist das? An meiner Universität gibtʹs dafür einen Spezialisten, den ich fragen werde. Dann können wir uns eine Vorstellung davon machen, woher diese alte Frau kommt.« Im Schnelllauf spulte Ryuji zu der Szene mit dem Mann mit den markanten Gesichtszügen vor, die sich gegen Ende des Videos fand. Dem Mann rann der Schweiß über das Gesicht hinab, und er keuchte, während sein Oberkörper sich rhythmisch bewegte. Ryuji schaltete das Standbild knapp vor der Stelle ein, wo die Wunde an der Schulter ins Bild kam. Das war die beste Großaufnahme der Gesichtszüge des Mannes: Man konnte seine Augen und die Form seiner Nase und Ohren studieren. Obwohl der Mann allmählich
eine Glatze bekam, schien er erst um die dreißig Jahre alt zu sein. »Erkennst du ihn?«, fragte Ryuji. »Mach keine Witze.« »Sieht ziemlich finster aus.« »Wenn du das schon sagst, muss er ein übles Subjekt sein. Ich schließe mich deiner Meinung an.« »Solltest du auch. Es gibt nicht viele Gesichter, die einen solchen Eindruck hinterlassen. Ich frage mich, ob wir ihn finden können. Als Reporter musst du bei solchen Nachforschungen doch Profi sein.« »Du scherzt wohl. Vielleicht kann man Kriminelle oder Promi‐ nente nur anhand ihrer Gesichter identifizieren, bei ganz normalen Menschen klappt das nicht. Japan hat über hundert Millionen Einwohner.« »Dann fängst du eben mit den Kriminellen an. Oder vielleicht mit den Porno‐Darstellern.« Asakawa antwortete nicht. Stattdessen zog er ein Notizbuch aus der Tasche. Wenn viele Dinge zu erledigen waren, stellte er immer eine Liste zusammen. Ryuji hielt das Band an, holte sich ein neues Bier aus dem Kühl‐ schrank und schenkte ihnen beiden ein Glas ein. »Lass uns ansto‐ ßen.« Asakawa konnte sich keinen einzigen guten Grund denken, wa‐ rum er sein Glas heben sollte. »Ich habe eine Vorahnung«, sagte Ryuji mit leicht geröteten Wangen. »Mit diesem Vorfall muss irgendein bestimmtes univer‐ selles Übel zusammenhängen. Ich rieche es... Dieser Impuls, den ich damals spürte... Ich habe dir doch von der ersten Frau erzählt, die ich vergewaltigt habe?« »Ich habʹs nicht vergessen.« »Das ist jetzt fünfzehn Jahre her. Auch damals hat eine seltsame
Vorahnung mein Herz gestreift. Ich war siebzehn und Schüler. Bis drei Uhr morgens paukte ich Mathematik, hinterher eine Stunde Deutsch, um mich ein bisschen zu erholen. So habe ich es immer gehalten. Meiner Meinung nach ist das Studium von Fremdspra‐ chen die ideale Methode, um erschöpfte Gehirnzellen wieder fit zu machen. Um vier Uhr habe ich ein paar Bierchen getrunken und anschließend meinen täglichen Spaziergang gemacht. Schon als ich mich auf den Weg machte, begann sich in meinem Gehirn etwas Ungewöhnliches zu entwickeln. Bist du jemals mitten in der Nacht durch die Straßen gelaufen? Das ist wirklich ein gutes Gefühl. Alle Hunde schlafen, genau wie dein kleines Baby jetzt. Schließlich fand ich mich vor einem eleganten zweistöckigen Haus mit A‐ partments wieder. Ich wusste, dass dort eine sehr gepflegte Stu‐ dentin wohnte, die ich manchmal auf der Straße sah. Ich hatte kei‐ ne Ahnung, in welchem der acht Apartments sie wohnte, und ließ meinen Blick über alle Fenster schweifen. In diesem Augenblick dachte ich an nichts Bestimmtes. Nur... Als meine Augen auf dem südlichen Ende des zweiten Stocks verweilten, hörte ich in den Tiefen meines Herzens irgend etwas zerbersten, und ich hatte das Gefühl, als würde die Finsternis, die ihren Ausgang in meinem Gehirn genommen hatte, jetzt nach und nach größer. Noch einmal ließ ich meinen Blick über alle Fenster gleiten, und wieder begann die Dunkelheit zu wirbeln, als mein Blick auf genau dieser Stelle haften blieb. Und jetzt wusste ich, dass die Tür nicht verschlossen sein würde. Keine Ahnung, ob sie es nur vergessen hatte oder ob es einen anderen Grund gab. Von der Finsternis in meinem Her‐ zen geleitet, stieg ich die Treppen hoch und gelangte bald zu ihrer Tür. Der Name stand in römischen Buchstaben auf dem Türschild, in westlicher Reihenfolge, der Vorname zuerst: Yukari Makita. Mit der rechten Hand umklammerte ich den Türknopf, blieb aber noch eine Weile reglos stehen. Dann versuchte ich, ihn mit aller Kraft
nach links zu drehen. Aber er ließ sich nicht drehen. Was zum Teufel ist hier los?, dachte ich, aber dann hörte ich plötzlich ein Klicken, und die Tür öffnete sich. Kannst du mir folgen? Sie hatte gar nicht vergessen, die Tür abzuschließen — in diesem Moment öffnete sie sich wie von selbst, weil irgendeine Energie darauf einwirkte. Das Mädchen hatte ihr Bettzeug neben den Schreibtisch gelegt und schlief. Ich war davon ausgegangen, sie im Bett vorzu‐ finden, aber sie lag auf dem Boden. Unter der Decke blickte eins ihrer Beine hervor...« An dieser Stelle unterbrach Ryuji seine Geschichte. Vor seinem geistigen Auge liefen wahrscheinlich die damaligen Ereignisse ab, und er betrachtete die fernen Erinnerungen mit einer Mischung aus Zärtlichkeit und Grausamkeit. Noch nie hatte Asakawa Ryuji einen solchen inneren Kampf austragen gesehen. »... und dann, zwei oder drei Tage später, auf dem Heimweg nach der Schule, kam ich wieder an dem Haus vorbei, vor dem ein Zwei‐Tonnen‐Lastwagen geparkt war. Arbeiter schafften Möbel und andere Sachen aus dem Haus. Yukari zog aus. Sie stand her‐ um, unschlüssig an eine Wand gelehnt, und starrte auf die Möbel, die gerade abtransportiert wurden. Offenbar war der Mann bei Yukari ihr Vater, und ich bin mir sicher, dass er nicht wusste, aus welchem Grund seine Tochter auszog. Uns so verschwand Yukari aus meinem Leben. Keine Ahnung, ob sie wieder zu ihren Eltern zog, eine andere Wohnung mietete oder ob sie weiter dieselbe U‐ niversität besuchte... Aber in dem Apartment konnte sie keine Se‐ kunde länger bleiben, das arme Ding. Sie muss furchtbar veräng‐ stigt gewesen sein.« Während er zuhörte, bekam Asakawa kaum Luft. Es widerte ihn an, Bier mit einem solchen Mann zu trinken. »Hast du nicht we‐ nigstens ein bisschen ein schlechtes Gewissen?« »Ich habe mich daran gewöhnt. Wenn man jeden Tag mit der
Faust gegen eine Mauer schlägt, spürt man den Schmerz irgend‐ wann nicht mehr.« Machst du deshalb auch jetzt noch weiter...? Insgeheim schwor sich Asakawa, Ryuji nie wieder in seine Wohnung mitzubringen. Auf jeden Fall würde er ihn von seiner Frau und seiner Tochter fern halten. »Keine Sorge, deiner Frau würde ich so was nie antun.« Asakawa wechselte rasch das Thema. »Du hast eben von einer Vorahnung gesprochen. Gehtʹs nicht ein bisschen genauer?« »Es ist ein unangenehmes Gefühl. Nur eine fantastische, teufli‐ sche Energie kann ein so verwirrendes Unheil ersinnen.« Ryuji stand auf, doch selbst im Stehen überragte er die sitzende Asakawa kaum. Er war kaum einen Meter sechzig groß, aber er hatte breite Sportlerschultern, und es verwunderte nicht, dass er zu Schulzeiten im Kugelstoßen eine Medaille gewonnen hatte. »Also, ich verschwinde jetzt. Und du machst deine Hausaufga‐ ben. Morgen früh bleiben dir nur noch fünf Tage.« Ryuji streckte seine Hand aus. »Ich weiß.« »Irgendwo ist ein Wirbel bösartiger Energie. Ich weiß es. Das macht mich beinahe... nostalgisch.« Als wollte er sich einen drama‐ tischen Abgang verschaffen, drückte Ryuji die Videokassette an seine Brust, während er auf die Diele zuging. »Lass uns das nächste Gespräch in deiner Wohnung abhalten«, sagte Asakawa leise, aber deutlich. »In Ordnung«, erwiderte Ryuji, und in seinen Augen lag ein Lä‐ cheln. Sobald Ryuji gegangen war, blickte Asakawa auf die im Esszim‐ mer hängende Wanduhr, das Hochzeitsgeschenk eines Freundes.
Der eine Schmetterling nachgebildete rote Pendel schwang hin und her. 11 Uhr 21... Wie oft hatte er heute auf die Uhr geblickt? Allmählich wurde das Vergehen der Zeit für ihn zu einer Obsessi‐ on. Ryuji hatte es ausgesprochen: Morgen blieben ihm nur noch fünf Tage. Und Asakawa war sich absolut nicht sicher, ob er das Rätsel des überspielten Teils des Videos rechtzeitig lösen konnte. Er fühlte sich wie ein Krebskranker vor einer Operation, bei der die Erfolgschancen fast Null waren. Häufig wurde darüber disku‐ tiert, ob man Krebspatienten die Wahrheit sagen sollte, und bisher hatte Asakawa immer gedacht, dass sie ein Recht darauf hatten, über ihren Zustand Bescheid zu wissen. Aber wenn sie sich ge‐ nauso fühlten wie er jetzt, dann würde er es lieber nicht wissen wollen. Manche Menschen schafften es angesichts des Todes, den Rest ihrer Tage in vollen Zügen zu genießen. Asakawa würde die‐ ses Kunststück nicht zustande bringen. Im Augenblick ging es ihm noch gut, aber während die Uhr weiter die ihm noch verbleiben‐ den Tage, Stunden und Minuten herunterzählte, war er nicht mehr so zuversichtlich, ob es ihm gelingen würde, seine fünf Sinne wei‐ ter zusammenzuhalten. Jetzt glaubte er zu verstehen, warum Ryuji ihn faszinierte, obwohl er ihn andererseits anwiderte: Er verfügte über eine psychologische Stärke, die er selbst nicht hatte. Asakawa war ein skrupulöser, zögerlicher Charakter und machte sich stän‐ dig Gedanken darum, was die Menschen um ihn über ihn denken mochten. Demgegenüber trug Ryuji einen Gott — oder einen Teu‐ fel — in seinem Inneren mit sich herum, der es ihm gestattete, völ‐ lig frei und unbekümmert zu leben. Asakawas Sehnsucht nach Leben konnte seine Angst nur dann verdrängen, wenn er daran dachte, wie seine Frau und seine Tochter sich nach seinem Tod fühlen würden. Weil er sich plötzlich um sie sorgte, öffnete er behutsam die Schlafzimmertür, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung
war. Beide schliefen mit friedlichem und unschuldigem Ge‐ sichtsausdruck. Asakawa blieb keine Zeit, sich durch die Angst unterkriegen zu lassen. Er entschloss sich, Yoshino anzurufen, ihm die Situation zu erklären und ihn um Hilfe zu bitten. Wenn er auf morgen ver‐ schob, was er heute erledigen konnte, würde er es bald bereuen.
Asakawa hatte daran gedacht, eine Woche Urlaub zu nehmen, doch dann überlegte er es sich anders. Wenn er die Informations‐ ressourcen seiner Zeitung voll ausschöpfte, verbesserte er seine Chancen, die Rätsel auf der Videokassette zu lösen. Das war alle‐ mal besser, als sich untätig in seiner Wohnung zu verschanzen. Also ging er auch an diesem Tag ins Büro — obwohl Samstag war. Ihm war jedoch klar, dass er seine eigentlichen Aufgaben nicht anrühren würde. Am besten war es wahrscheinlich, wenn er sich seinem Chefredakteur offenbarte und ihn bat, ihn für eine Weile von seinen regulären Verpflichtungen zu entbinden. Nichts würde ihm so zugute kommen wie die Kooperation des Chefredakteurs. Die Frage war nur, ob dieser ihm glauben würde. Wahrscheinlich würde er erneut mit dem Vorfall von vor zwei Jahren anfangen und Asakawa mit einem verächtlichen Schnauben bedenken. Zwar hatte er das Video als Beweis, aber wenn Oguri nichts von der Sache wissen wollte, würde er alle möglichen Argumente ins Feld führen, die für seine Sicht der Dinge sprachen, und alles verdre‐ hen, um sich selbst von der Richtigkeit seiner Meinung zu über‐ zeugen. Trotzdem wäre es interessant, ihm... Für alle Fälle hatte Asa‐ kawa in seiner Aktentasche das Video mitgebracht. Wie würde Oguri reagieren, wenn er es ihm vorführte? Wäre er überhaupt bereit, auch nur einen Blick darauf zu werfen? In der letzten Nacht war Asakawa lange aufgeblieben, um Yos‐ hino die ganze Abfolge der Ereignisse zu erklären, und sein Kolle‐ ge hatte ihm geglaubt. Dann, als wollte er unter Beweis stellen, dass er die Sache ernst nahm, hatte Yoshino es kategorisch abge‐ lehnt, sich das Video anzusehen. Dennoch wollte er Asakawa so gut wie möglich unterstützen.
Was Yoshino betraf, war es nicht weiter verwunderlich, dass er Asakawa glaubte, denn als die Leichen von Haruko Tsuji und Ta‐ kehiko Nomi in dem Auto an der Landstraße in Ashina gefunden worden waren, war er persönlich dorthin geeilt. Yoshino hatte selbst die erstickende Atmosphäre gespürt, die auch die Untersu‐ chungsbeamten davon überzeugt hatte, dass nur irgendeine my‐ steriöse, monströse Kraft für diese Tode verantwortlich sein konn‐ te. Dennoch hatten sie sich wohlweislich gehütet, dies offen aus‐ zusprechen. Wäre Yoshino damals nicht persönlich an Ort und Stelle gewesen, hätte er Asakawa dessen Story wahrscheinlich nicht so ohne weiteres abgekauft. Wie auch immer, Asakawa hielt eine Bombe in Händen, und wenn er damit bedrohlich vor Oguris Augen herumfuchtelte, würde das vielleicht Wirkung zeigen. Schon aus reiner Neugier war Asakawa versucht, es zu tun. Oguris übliches spöttisches Lächeln war wie weggeblasen. Er hatte beide Ellbogen auf seinen Schreibtisch gestützt, und sein Blick wanderte ruhelos hin und her, während er Asakawas Ge‐ schichte noch einmal durchdachte. Vier junge Leute hatten mit fast hundertprozentiger Sicherheit in der Nacht des 29. August in der Blockhütte des Feriendorfs ein bestimmtes Video gesehen, und exakt eine Woche darauf waren sie — wie in dem Video angekündigt — unter mysteriösen Um‐ ständen gestorben. Danach hatte der Verwalter die Kassette ge‐ funden und sie in sein Büro gebracht, wo ihr so lange keine Auf‐ merksamkeit mehr geschenkt wurde, bis Asakawa darauf stieß. Und der hatte sich das verdammte Video ebenfalls angeschaut. Würde er in fünf Tagen auch sterben? Sollte er, Oguri, das wirk‐ lich glauben? Aber an dem Faktum der vier Todesfälle war nicht zu rütteln. Wie konnte man sie erklären? Durch welchen logischen Faden ließen sich diese Vorfälle verknüpfen?
Asakawa stand vor Oguris Schreibtisch und blickte auf seinen Chefredakteur hinab. Sein Gesichtsausdruck verriet ein bei ihm seltenes Überlegenheitsgefühl. Aus Erfahrung wusste Asakawa genau, was Oguri jetzt dachte. Er wartete, bis er es für wahrschein‐ lich hielt, dass die Gedanken seines Chefredakteurs in einer Sack‐ gasse stecken geblieben waren. Dann zog er mit einer theatrali‐ schen Geste die Videokassette aus seiner Aktentasche und präsen‐ tierte sie seinem Chef, als würde er beim Pokern mit einem Royal Flush auftrumpfen. »Wollen Sie es sich nicht ansehen? Sie sind herzlich eingeladen.« Asakawa blickte mit einem herausfordernden Lächeln zum Fern‐ seher hinüber, der am Fenster neben dem Sofa stand. Oguri muss‐ te laut schlucken. Er schaute nicht einmal in Richtung Fenster; sein Blick klebte auf der pechschwarzen Videokassette auf seinem Schreibtisch. Offensichtlich versuchte er angestrengt, sich zu ent‐ scheiden, wie er sich verhalten sollte. Wenn du das Video sehen willst, brauchst du nur auf »Play« zu drük‐ ken. So einfach ist das. Na los, du schaffst das schon. Lach doch einfach spöttisch, wie du es sonst immer tust, sag ihm, dass alles Quatsch ist. Leg einfach die Kassette ein. Oguris Kopf versuchte, seinem Körper einen Ruck zu geben. Hör auf, dich wie ein Idiot zu benehmen, und sieh es dir an. Wenn du dir das Video anschaust, beweist das dann nicht, dass du Asakawas Geschichte keinen Glauben schenkst? Wenn man es genau bedenkt, würde deine Weigerung nur zeigen, dass du ihm diese unsinni‐ ge Geschichte abkaufst. Also siehʹs dir an. Schließlich glaubst du an den Rationalismus der modernen Wissenschaft, oder etwa nicht? Du bist doch kein Kind, das sich vor Gespenstern fürchtet. Tatsächlich war sich Oguri zu 99 Prozent sicher, dass er Asakawa nicht glaubte. Und dennoch, irgendwo im Hinterstübchen seines Geistes, blieb eine bange Frage: Und was, wenn er doch Recht hat? Vielleicht gab es ein paar Orte auf dieser Welt, die die moderne
Wissenschaft noch nicht unter ihre Kontrolle gebracht hatte. Und solange dieses Risiko bestand, konnte sein Gehirn noch so hart arbeiten — sein Körper widersetzte sich. Folglich blieb Oguri reg‐ los auf seinem Stuhl sitzen — er konnte sich einfach nicht bewegen. Es spielte keine Rolle, was sein Verstand begriff, sein Körper hörte nicht auf ihn. Solange auch nur die geringste Gefahr bestand, wa‐ ren dessen Überlebensinstinkte intakt. Oguri hob den Kopf. »Und was wollen Sie von mir?«, fragte er mit heiserer Stimme. Jetzt wusste Asakawa, dass er gewonnen hatte. »Ich möchte Sie bitten, dass Sie mich von meinen Aufgaben entbinden, weil ich das Rätsel um das Video lösen will. Bitte. Bestimmt begreifen Sie, dass mein leben auf dem Spiel steht.« Oguri kniff die Augen zu. »Wird ein Artikel dabei heraussprin‐ gen?« »Auch wenn Sie einen anderen Eindruck gewonnen haben soll‐ ten, ich bin immer noch Journalist. Da ich alles aufschreiben wer‐ de, geht nichts verloren, falls Ryuji Takayama und ich sterben. Ob Sie es dann drucken oder nicht, ist natürlich Ihre Sache.« »Na, schaden kann es schließlich nicht«, sagte Oguri mit einem energischen Nicken. »Ich habe einen jungen Reporter an der Hand, der Ihr Interview übernehmen kann.« Asakawa verbeugte sich leicht. Er wollte das Video schon wieder in seiner Aktentasche verschwinden lassen, konnte aber nicht der Versuchung widerstehen, sich noch ein bisschen zu amüsieren. Noch einmal streckte er Oguri die Videokassette entgegen. »Sie glauben mir doch, oder?« Nach einem langen Seufzer schüttelte Oguri den Kopf. Hier gingʹs nicht darum, ob er Asakawa glaubte oder nicht, er fühlte sich einfach etwas unbehaglich. Ja, genau das warʹs. »Mir gehtʹs genauso«, meinte Asakawa zum Abschied.
Während Oguri ihm nachsah, sagte er sich, dass er sich das Vi‐ deo ansehen würde, falls Asakawa nach dem 18. Oktober noch unter den Lebenden weilte. Doch vielleicht würde sein Körper sich auch dann noch widerspenstig zeigen. Diese Frage — was wäre, wenn? — würde wahrscheinlich immer in seinem Kopf herum‐ spuken. Im Archiv schleppte Asakawa drei dicke Bände zu seinem Tisch: Japanische Vulkane, Vulkan‐Archipele, Aktive Vulkane dieser Welt. Weil er vermutete, dass es sich bei dem auf dem Video gesehe‐ nen Vulkan um einen inländischen handelte, begann er mit Japani‐ sche Vulkane. Sein Blick glitt über die Farbfotos auf den ersten Sei‐ ten. Vulkane spieen imposante weiße Rauch‐ und Dampfwolken in die Luft, andere Bilderzeigten bräunlich‐schwarzes Lavagestein, wieder andere grellrote Lava vor dem Hintergrund des Nacht‐ himmels, wobei die schwarzen Ränder der Krater wegen der Fin‐ sternis nicht mehr zu erkennen waren. Asakawa fühlte sich an den Big Bang erinnert. Während er die Seiten umblätterte, verglich er die Bilder mit denen des Videos, die sich in sein Gehirn einge‐ brannt hatten. Er sah Fotos der Vulkane Asosan, Asama, Showa Shinzan, Sakurajima... Letztlich dauerte es aber doch nicht so lan‐ ge, wie er befürchtet hatte, denn schließlich ist der Miharayama, der zur selben Kette von Vulkanen gehört wie der Fujiyama, einer der berühmteren noch aktiven japanischen Vulkane. »Miharaya‐ ma?«, murmelte Asakawa vor sich hin. Die Doppelseite mit Bil‐ dern des Vulkans enthielt zwei Luftaufnahmen und ein Foto, das von einem nahen Hügel aus geschossen worden war. Asakawa erinnerte sich an das Bild aus dem Video und versuchte, es sich aus verschiedenen Perspektiven vorzustellen, wobei er das, was er vor seinem geistigen Auge sah, mit den Fotos des Miharayama verglich. Da gab es definitiv eine Ähnlichkeit. Wenn man ihn vom
Fuß des Berges aus betrachtete, schien der Gipfel eine flache Kup‐ pe zu sein. Aus der Luft konnte man jedoch einen ringförmigen Wall um einen Kraterkessel sehen, auf dessen Grund sich ein Hü‐ gel erhob — der Schlund des Vulkans. Das von dem nahen Berg aufgenommene Bild erinnerte besonders an die Szene aus dem Video. Farben und Konturen der Landschaft waren fast identisch. Aber Asakawa durfte sich nicht nur auf seine Erinnerung verlas‐ sen, er musste hundertprozentig sicher sein. Neben Kopien von den Fotos des Miharayama machte er außerdem noch welche von zwei oder drei anderen Vulkanen, die eventuell in Frage kamen. Den ganzen Nachmittag über hing Asakawa am Telefon, weil er mit allen Gästen sprechen wollte, die im letzten halben Jahr die Blockhütte B‐4 gemietet hatten. Zwar wäre es besser gewesen, sich persönlich mit ihnen zu treffen, um ihre Reaktionen richtig ein‐ schätzen zu können, aber dafür blieb ihm einfach nicht genug Zeit. Es war schwierig, nur anhand einer Stimme auszumachen, ob je‐ mand log. Wild entschlossen, sich auch die kleinsten stimmlichen Nuancierungen nicht entgehen zu lassen, lauschte Asakawa ange‐ strengt. Es waren 16 Gespräche zu führen, und die geringe Anzahl von Telefonaten verdankte sich nur der Tatsache, dass die Block‐ hütten bei der Eröffnung des Feriendorfs im April noch nicht mit Videorekordern ausgestattet gewesen waren. Im Sommer war in der Region ein großes Hotel abgerissen worden, und Mitte Juli wurde beschlossen, dessen überflüssige Videorekorder für das Feriendorf aufzukaufen. Gegen Ende des Monats waren die Re‐ korder angeschlossen und die Bänder für die Videothek ange‐ schafft — gerade noch rechtzeitig für die Sommersaison. Folglich war in den Prospekten noch nicht erwähnt, dass jede Blockhütte mit einem Videorekorder ausgestattet war. Die meisten Gäste wa‐ ren bei ihrer Ankunft überrascht und sahen in dem Videorekorder nur eine Möglichkeit, an einem verregneten Tag die Zeit totzu‐
schlagen. Fast niemand hatte seiner eigenen Aussage nach eine leere Kassette mitgebracht, um im Urlaub etwas aufzunehmen. Aber das galt natürlich nur, wenn er den Stimmen am anderen Ende der Leitung Glauben schenkte. Also, wer hatte das fragliche Band mitgebracht? Wer hatte das Video gedreht? Verzweifelt be‐ mühte sich Asakawa, nichts außer Acht zu lassen. Immer wieder hakte er bei den Antworten seiner Gesprächspartner nach, doch niemand schien etwas zu verbergen zu haben. Von den 16 Gästen des Feriendorfs, mit denen er telefonierte, waren drei gekommen, um Golf zu spielen. Ihnen war der Videorekorder nicht einmal aufgefallen. Sieben andere hatten ihn bemerkt, aber nicht ange‐ rührt. Fünf Personen konnten wegen Dauerregens nicht wie beab‐ sichtigt Tennis spielen und hatten, da sie nichts anderes mit sich anzufangen wussten, tatsächlich Videos geguckt, ihrer Aussage nach meistens Filmklassiker. Die letzte Gruppe, eine vierköpfige, aus Yokohama kommende Familie namens Kaneko, hatte eine Kassette mitgebracht, weil eines der Kinder ein anderes Programm aufnehmen wollte, während die Eltern sich einen Dokumentarfilm über historische Themen anzusehen gedachten. Als Asakawa den Hörer schließlich endgültig aufgelegt hatte, ließ er seinen Blick über die Notizen schweifen, die er sich bei den Telefonaten gemacht hatte. Relevant schien nur eine Unterhaltung gewesen zu sein. Das Ehepaar Kaneko mit seinen beiden noch jungen Schulkindern hatte während des letzten Sommers die Blockhütte B‐4 gleich zweimal gemietet. Beim ersten Mal waren sie am 10. August gekommen und hatten die Nacht vom Freitag auf Samstag dort verbracht; beim zweiten Mal waren es zwei Über‐ nachtungen gewesen, am Samstag, dem 25. August, und am Sonn‐ tag, dem 26. August. Diesen zweiten Aufenthalt trennten nur drei Tage von der Ankunft der späteren Todesopfer. Nach der Abfahrt der Kanekos war die Blockhütte am Montag und am Dienstag
nicht vermietet gewesen — die nächsten Gäste waren die vier Ju‐ gendlichen. Aber das war noch nicht alles: Der Sohn der Kanekos, der die sechste Klasse besuchte, hatte von zu Hause eine Videokassette mitgebracht, weil er eine Fernsehsendung aufnehmen wollte. Der Junge war ein Fan einer bestimmten, jeden Sonntagabend um acht Uhr ausgestrahlten Comedy‐Serie, aber selbstverständlich be‐ stimmten die Eltern, welche Sendung gesehen wurde, und sie hat‐ ten es sich zur Angewohnheit gemacht, sich ausgerechnet jeden Sonntag um acht die vom öffentlich‐rechtlichen Fernsehsender NHK ausgestrahlten Dokumentarfilme anzuschauen. Da es in der Blockhütte nur einen Fernseher gab, hatte der Junge, der von dem Videorekorder wusste, eine eigene Kassette mitgebracht, um seine Lieblingssendung mitzuschneiden und sie sich später anzusehen. Während der Rekorder aufnahm, kam ein Freund vorbei, um dem Jungen zu sagen, dass der Regen aufgehört hatte. Gemeinsam mit seiner jüngeren Schwester stürmte er zum Tennisplatz. Nach‐ dem der Dokumentarfilm zu Ende war, schalteten sie Eltern den Fernseher aus, ohne daran zu denken, dass der Videorekorder weiter auf Aufnahme eingestellt war. Als die Kinder um kurz nach zehn völlig ausgepowert vom Tennisplatz zurückkamen, gingen sie sofort ins Bett. Auch sie hatten die Videokassette total verges‐ sen. Am nächsten Tag, als die Familie schon fast wieder zu Hause war, erinnerte sich der Junge plötzlich daran, dass die Kassette noch in dem Videorekorder steckte. Mit großem Geschrei versuch‐ te er, seinen am Steuer sitzenden Vater zur Umkehr zu bewegen. Es entbrannte ein ziemlich heftiger Streit, aber schließlich gab der Junge auf. Als sie zu Hause ankamen, schluchzte er immer noch... Asakawa nahm die Videokassette aus seiner Aktentasche und stellte sie vor sich auf den Schreibtisch. Wo sich normalerweise der Aufkleber befand, glänzte jetzt die silberne Aufschrift Fujitex VHS
T120 Super AV. Zum zweiten Mal wählte Asakawa die Nummer der Kanekos. »Hallo, hier Asakawa, der Journalist von eben. Tut mir Leid, Sie noch mal stören zu müssen.« Es entstand eine kurze Pause, doch dann antwortete die Stimme von Frau Kaneko, mit der sich Asakawa schon beim ersten Ge‐ spräch unterhalten hatte. »Ja, bitte?« »Sie haben eben erwähnt, dass Ihr Sohn damals eine Videokas‐ sette in der Blockhütte zurückgelassen hat. Wissen Sie zufällig, von welchem Hersteller die Kassette war?« »Einen Moment, ich werde mich darum kümmern.« Offensicht‐ lich musste die Frau ein Lachen unterdrücken. Im Hintergrund waren Stimmen zu hören. »Mein Sohn ist gerade nach Hause ge‐ kommen, ich werde ihn fragen.« Asakawa wartete. Es war praktisch ausgeschlossen, dass der Junge sich daran erinnerte. »Er sagt, er hat keine Ahnung«, meldete sich die Mutter wieder. »Aber wir kaufen immer nur Billigmarken, diese Kassetten, die im Dreierpack verkauft werden.« Dass überraschte Asakawa nicht. Wer achtete schon jedes Mal darauf, von welchem Hersteller das Band war, auf dem er gerade etwas aufnahm? Da hatte Asakawa eine Idee. Augenblick, wo ist die Schutzhülle der Videokassette geblieben? Ohne Schutzhülle werden sie nie verkauft, und niemand wirft die einfach weg. Wenigstens hatte A‐ sakawa das noch nie getan, weder bei einer Audio‐ noch bei einer Videokassette. »Bewahren Sie ihre Videokassetten immer in den Schutzhüllen auf?« »Natürlich.« »Hören Sie, es tut mir ja sehr Leid, aber könnten Sie vielleicht
einmal nachsehen, ob irgendwo eine leere Schutzhülle herum‐ liegt?« »Bitte?«, fragte die Frau etwas irritiert. Selbst wenn sie die Frage verstanden haben sollte, konnte sie sich offensichtlich keinen Reim darauf machen. »Bitte, vielleicht hängt ein Menschenleben davon ab«, hakte Asa‐ kawa nach. Dafür waren Hausfrauen besonders anfällig. Wann immer er in Zeitdruck war und etwas herauskriegen musste, be‐ nutzte er die Wendung von dem am seidenen Faden hängenden Menschenleben, und sie machte stets nachhaltigen Eindruck. Nur war es diesmal keine Lüge. »Einen Augenblick, bitte.« Ihr Tonfall hatte sich verändert, ganz wie Asakawa es erwartet hatte. Nachdem sie den Hörer aus der Hand gelegt hatte, dauerte es ziemlich lange. Wenn die Schutzhülle wie die Kassette in der Blockhütte liegen geblieben war, hatte der Verwalter sie höchst‐ wahrscheinlich weggeworfen. Wenn nicht, bestand eine gute Chance, dass die Kanekos sie noch hatten. »Eine leere Hülle, ja?« »Genau.« »Ich habe zwei gefunden.« »Gut! Der Name des Herstellers und der Typ der Videokassette müssten auf dem Gehäuse stehen...« »Auf einer steht Panavision T120, auf der anderen... Fujitex VHS T120 Super AV.« Exakt dasselbe stand auf der Videokassette, die vor Asakawa auf dem Schreibtisch lag. Da Fujitex mit Sicherheit unzählige von die‐ sen Kassetten verkauft hatte, hielt Asakawa kaum einen definiti‐ ven Beweis in Händen, aber zumindest — da war er sich sicher — hatte er einen Schritt nach vorn gemacht. Das Band mit dem dä‐ monischen Inhalt war ursprünglich von einem Schüler der sech‐ sten Klasse in die Blockhütte gebracht worden. Davon konnte er
mittlerweile mit Sicherheit ausgehen. Nachdem er sich höflich bedankt hatte, legte Asakawa auf. Am Sonntag, dem 26. August, wird der Videorekorder in der Blockhütte B‐4 um acht Uhr auf Aufnahme gestellt. Die Kanekos vergessen das Band und fahren nach Hause. Dann kommen die vier jungen Leute, und auch an diesem Tag regnet es. Sie denken darüber nach, sich einen Film anzusehen, und entdecken, dass in dem Rekorder noch eine Kassette steckt, die sie sich in aller Un‐ schuld anschauen. Sie werden mit unverständlichen, unheimli‐ chen Szenen konfrontiert. Dann kommt die Drohung am Schluss. Das miese Wetter verfluchend, lassen sie sich einen grausamen kleinen Scherz einfallen und löschen die Sequenz des Videos, wo erklärt wird, wie man dem sicheren Tod entgehen kann. Sie lassen das Video liegen, um die nächsten Gäste zu verängstigen. Natür‐ lich glauben sie nicht daran, was sie auf dem Video gesehen ha‐ ben. Ansonsten wären sie zu diesem Streich nicht in der Lage ge‐ wesen. Asakawa fragte sich, ob sie sich in ihrer Todesstunde an das Vi‐ deo erinnert hatten. Aber vielleicht hatten sie dazu gar keine Zeit mehr gehabt, als der Todesengel sie hinwegraffte. Er schauderte — es ging nicht nur um sie. Wenn er keinen Weg fand, seinen in fünf Tagen auf ihn lauernden Tod zu verhindern, erwartete ihn dassel‐ be Schicksal wie die vier Jugendlichen. Dann würde er auch genau wissen, wie sie sich in ihrer Todesstunde gefühlt hatten. Aber wo kamen diese Bilder her, wenn der Junge nur eine Fern‐ sehsendung aufgezeichnet hatte? Bisher hatte Asakawa immer geglaubt, dass irgendjemand mit einer Videokamera die Aufnah‐ men gemacht und das Band dann in die Blockhütte gebracht hatte. Aber da der Videorekorder mit der eingelegten Kassette auf Auf‐ nahme einer Comedy‐Show eingestellt war, mussten diese un‐ glaublichen Bilder ausgestrahlt worden sein wie sonst die Fern‐
sehsendungen: über den Äther. Das hätte sich Asakawa selbst in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Irgendjemand hatte die Sendefrequenz unter seine Kontrolle ge‐ bracht. Asakawa erinnerte sich an ein Ereignis des letzten Jahres. Zur Zeit des Wahlkampfs war, nach dem Sendeschluss von NHK, über denselben Kanal eine illegale Sendung ausgestrahlt worden, in der einer der Kandidaten verleumdet wurde. Irgendjemand hatte die Frequenz zweckentfremdet. Eine andere plausible Erklärung gab es nicht. Jetzt war Asakawa mit der Mög‐ lichkeit konfrontiert, dass diese Bilder am Abend des 26. August in die Region Süd‐Hakone ausgestrahlt worden waren und dass der Videorekorder sie rein zufällig mitgeschnitten hatte. Wenn das stimmte, musste man es herausfinden können. Asakawa musste das dortige Büro seiner Zeitung anrufen und ein paar Fakten in Erfahrung bringen.
4 Als Asakawa wieder zu Hause eintraf, war es elf Uhr. Sofort nachdem er die Wohnung betreten hatte, öffnete er behutsam die Schlafzimmertür, um nach seiner Frau und seiner Tochter zu se‐ hen, die beide fest schliefen. So müde er selbst auch sein mochte, wenn er nach Hause kam, warf er immer einen Blick ins Schlaf‐ zimmer. Auf dem Tisch im Esszimmer lag ein Zettel: Herr Takayama hat angerufen. Den ganzen Tag über hatte Asakawa Ryuji zu erreichen versucht, ihn aber in seiner Wohnung nicht erwischt. Wahrschein‐ lich war er mit Nachforschungen beschäftigt. Vielleicht hat er ja was herausgekriegt, dachte Asakawa, während er Ryujis Nummer wähl‐ te. Er ließ es zehnmal durchläuten, aber niemand nahm ab. Ryuji lebte allein in einer Wohnung in Ost‐Nakano und war noch nicht wieder zu Hause. Nachdem Asakawa schnell unter die Dusche gesprungen war, holte er sich eine Flasche Bier. Dann wählte er erneut Ryujis Nummer, erreichte ihn aber wieder nicht. Er wechselte zu Whisky on the rocks. Ohne Alkohol hatte er noch nie anständig schlafen können. Asakawa war groß und schlank, und bisher hatte er noch nie eine Krankheit gehabt, die diesen Namen verdient hätte. Jetzt daran denken zu müssen, dass er auf diese Weise zum Tode verur‐ teilt war... Irgendetwas in ihm glaubte noch immer, dass das Gan‐ ze nur ein schlimmer Traum war. Vielleicht würde ja am 18. Okto‐ ber um zehn Uhr absolut nichts passieren, auch wenn es ihm bis dahin nicht gelungen sein sollte, das Video zu verstehen oder die Zauberformel herauszufinden. Dann würde die Zukunft vor ihm liegen, genau wie bisher... Oguri würde ihn mit einem spöttischen Gesichtsausdruck empfangen und ihn darauf hinweisen, wie tö‐ richt es sei, sich mit dem Aberglauben einzulassen. Demgegenüber
würde Ryuji lächelnd kommentieren: »Wir wissen eben immer noch nicht, wie diese Welt funktioniert.« Wenn er nach Hause kam, würde er seine friedlich schlafende Frau und seine Tochter vorfinden. Selbst bei einem Flugzeugabsturz glaubte jeder bis zu‐ letzt, dass ausgerechnet er der Überlebende sein würde. Nachdem er den dritten Whisky hinuntergekippt hatte, versuch‐ te es Asakawa zum dritten Mal. Wenn Ryuji immer noch nicht zu Hause war, würde er es für heute aufgeben. Er ließ es siebenmal läuten, dann nahm tatsächlich jemand ab. »Wo zum Teufel hast du die ganze Zeit rumgehangen?«, rief A‐ sakawa in den Hörer, ohne abzuwarten, wer sich am anderen En‐ de meldete. Da er automatisch davon ausging, mit Ryuji zu spre‐ chen, ließ er seiner Wut freien Lauf, was noch einmal ein Schlag‐ licht auf ihre merkwürdige Beziehung warf. Selbst bei seinen Freunden war Asakawa immer darauf bedacht, eine gewisse Di‐ stanz zu wahren und seine Gefühle sorgfältig zu kontrollieren. Aber er hatte keinerlei Skrupel, Ryuji mit jedem nur erdenklichen Schimpfwort zu schmähen. Noch nie hatte er in Ryuji einen wirk‐ lich engen Freund gesehen. Überraschenderweise meldete sich am anderen Ende aber nicht die Stimme Ryujis. »Hallo? Entschuldigen Sie, aber ich glaube...« Es war eine Frau, und offensichtlich war sie völlig konsterniert, auf diese Weise von einem Unbekannten angefahren zu werden. »Oh, Entschuldigung. Ich muss mich wohl verwählt haben.« A‐ sakawa wollte schon auflegen. »Wollten Sie Professor Takayama sprechen?« »Ja, das war meine Absicht.« »Er ist noch nicht zurück.« Asakawa fragte sich, wer diese offensichtlich junge Frau mit der anziehenden Stimme wohl sein mochte. Wahrscheinlich lag er
nicht falsch mit der Annahme, dass sie keine Verwandte war, denn sonst hätte sie ihn kaum »Professor« genannt. Hatte er eine Gelieb‐ te? Vermutlich nicht. Welche Frau, die alle Sinne beisammen hatte, würde sich mit einem Typ wie Ryuji einlassen? »Verstehe. Mein Name ist Asakawa.« »Wenn Professor Takayama zurückkommt, werde ich ihn bitten, Sie zurückzurufen. Der Name war Asakawa, ja?« Die angenehme Stimme der Frau hallte noch in seinen Ohren nach, als Asakawa längst aufgelegt hatte. Gewöhnlich fand man Futons nur in im japanischen Stil Eingerich‐ teten, mit Tatamis ausgelegten Zimmern. In Asakawas Schlafzim‐ mer gab es einen Teppichboden, und ursprünglich hatte auch ein ganz normales Bett darin gestanden, von dem sie sich aber nach Yokos Geburt getrennt hatten. Ein Baby konnte man nicht in so einem Bett schlafen lassen, aber da ihr Schlafzimmer für ein Kin‐ derbett und ein Doppelbett zu klein war, hatten sie auf Letzteres verzichten müssen und sich für Futons entschieden, die jeden Morgen auf‐ und am Abend wieder entrollt wurden. Sie legten die Futons immer nebeneinander und schliefen zu dritt darauf. Jetzt musste sich Asakawa ein freies Fleckchen suchen. Wenn sie sich alle zur gleichen Zeit schlafen legten, hatte jeder seinen Platz, aber wenn Shizu und Yoko schon früher zu Bett gingen, machten sie sich innerhalb von kurzer Zeit so breit, dass Asakawa kaum noch ein Plätzchen für sich fand... Wie lange wird es dauern, bis nach meinem Tod ein anderer mei‐ nen Platz einnimmt?, fragte sich Asakawa. Der Gedanke an eine zweite Ehe Shizus beunruhigte ihn nicht besonders. Manche Leute konnten die durch den Verlust eines Ehepartners entstandene Lü‐ cke nie schließen. Und sie? Drei Jahre? Das konnte ungefähr hin‐ kommen. Vielleicht würde Shizu wieder nach Hause ziehen und
das Kind in der Obhut ihrer Eltern lassen, wenn sie zur Arbeit ging. Asakawa zwang sich, sich ihren von Vitalität kündenden Gesichtsausdruck vorzustellen. Er wünschte sich, dass sie stark sein würde, denn er konnte es nicht ertragen, sich die Hölle vorzu‐ stellen, die seine Frau und sein Kind nach seinem Tod durchma‐ chen mussten. Asakawa hatte Shizu vor fünf Jahren kennen gelernt. Damals war er gerade aus dem Regionalbüro in Chiba in die Zentrale sei‐ ner Zeitung in Tokio versetzt worden, und Shizu arbeitete für ein Reisebüro, das zur Unternehmensgruppe von Asakawas Zeitung gehörte. Shizu saß im dritten Stock, er im siebten, und manchmal sahen sie sich im Aufzug. Dabei blieb es, bis Asakawa eines Tages in dem Reisebüro aufkreuzte, um Tickets zu kaufen. Er musste wegen einer Story verreisen, und da die zuständige Person nicht da war, hatte Shizu sich um ihn gekümmert. Damals war sie erst 25, und sie liebte das Reisen. Schon ihr Blick verriet, wie sehr sie Asakawa beneidete, weil er beruflich reisen konnte, und dieser Blick erinnerte Asakawa an seine erste Liebe. Nun wussten beide, wie der andere hieß. Wenn sie sich jetzt im Aufzug trafen, plauderten sie miteinander, und dann ging alles sehr schnell. Ihre Beziehung wurde vertrauter, und zwei Jahre später heirateten sie, ohne das seine oder ihre Eltern etwas dage‐ gen einzuwenden gehabt hätten. Ungefähr sechs Monate vor der Hochzeit kauften sie die Drei‐Zimmer‐Eigentumswohnung in Kita Shinagawa, wobei ihre und seine Eltern sie hinsichtlich der erfor‐ derlichen Sofortzahlung finanziell unterstützten. Es war keines‐ wegs so, dass sie die Explosion der Bodenpreise erwartet und des‐ halb mit dem Kauf der Wohnung nicht bis zur Hochzeit gewartet hätten. Ihnen ging es einfach darum, so schnell wie möglich die Hypotheken abzutragen. Aber wenn sie die Wohnung nicht so schnell gekauft hätten, wären sie später finanziell vielleicht nie
mehr in der Lage gewesen, so wie jetzt in Tokio zu leben. Inner‐ halb eines Jahres verdreifachte sich der Wert ihrer Eigentums‐ wohnung, und ihre monatlichen Hypothekenzahlungen waren nicht halb so hoch wie die Summe, die sie als Mieter hätten bezah‐ len müssen. Zwar beschwerten sie sich ständig, die Wohnung sei zu klein, aber tatsächlich war sie ein großer Pluspunkt. Jetzt war Asakawa glücklich, seiner Familie etwas hinterlassen zu können. Wenn Shizu die Ausschüttung seiner Lebensversicherung ver‐ wendete, um die Hypotheken zu tilgen, würde ihr die Wohnung bald ganz gehören. Ich glaube, dass meine Versicherung zwanzig Millionen Yen bezahlt, aber um sicherzugehen, sollte ich es überprüfen. Bedrückt teilte Asakawa das Geld in Gedanken für verschiedene Posten auf. Er sagte sich, dass er seine Ratschläge schriftlich fixie‐ ren sollte. Was für eine Todesursache mochte man wohl bei ihm vermuten? Krankheit, Unfall, Mord? Wie auch immer, ich sollte die Versicherungspolice besser noch mal durchlesen. Seit drei Tagen ging er mit einer pessimistischen Stimmung ins Bett und fragte sich, wie er noch Einfluss nehmen konnte auf eine Welt, der er bald nicht mehr angehören würde. Vielleicht sollte er doch eine Art Testament hinterlassen.
Am nächsten Morgen war Asakawa noch nicht richtig wach, als er auch schon Ryujis Nummer wählte. »Ja?«, fragte Ryuji, dessen Stimme klang, als wäre er gerade aus dem Schlaf gerissen worden. Sofort erinnerte sich Asakawa an die Wut, die er letzte Nacht empfunden hatte, und er begann erneut in den Hörer zu schreien. »Wo warst du gestern Abend?« »Häh?« »Hatten wir nicht abgemacht, dass du mich anrufst?« »Ach ja... Ich war betrunken. Heutzutage sind die Studentinnen ziemlich trinkfest, und auch sonst kann man mit ihnen einiges anstellen. Du weißt schon, was ich meine. Junge, Junge, bin ich kaputt.« Einen Augenblick lang war Asakawa konsterniert. Es war, als wären die letzten drei Tage tatsächlich nur ein böser Traum gewe‐ sen. Plötzlich kam er sich töricht vor, weil er alles so ernst ge‐ nommen hatte. »Also, ich bin unterwegs«, sagte Asakawa. »Warte auf mich.« Dann legte er auf. Um zu Ryujis Wohnung zu gelangen, nahm Asakawa den Zug nach Ost‐Nakano, dann ging er zu Fuß zehn Minuten in Richtung Kami Ochiai. Er hoffte, dass Ryuji etwas herausgefunden hatte. Zwar hatte der in der letzten Nacht außer Haus getrunken, aber er war immer noch Ryuji und hatte mit Sicherheit etwas entdeckt. Vielleicht hatte er das Rätsel schon gelöst und nur deshalb getrun‐ ken, weil es einen Anlass zum Feiern gab. Je näher er Ryujis Woh‐ nung kam, desto gehobener wurde Asakawas Stimmung, und er ging sogar etwas schneller. Allmählich erschöpften ihn die perma‐
nenten Gefühlsschwankungen zwischen Angst und Hoffnung, Pessimismus und Optimismus. Ein ungekämmter und unrasierter Ryuji öffnete ihm im Pyjama die Tür. Offensichtlich war er gerade aufgestanden. Asakawa konnte seine Schuhe gar nicht schnell genug ausziehen. »Hast du was rausgefunden?«, fragte er noch in der Diele. »Nein, nicht wirklich, aber komm erst mal rein«, sagte Ryuji, während er sich energisch am Kopf kratzte. Sein Blick war zer‐ streut, und Asakawa wusste sofort, dass sein Gehirn noch nicht richtig arbeitete. »Komm schon, werd endlich wach. Trink Kaffee oder sonst was, das dich wieder auf die Beine bringt.« Enttäuscht knallte Asakawa den Kessel auf den Herd. Plötzlich konnte ihm nichts schnell ge‐ nug gehen. Bald saßen die beiden Männer im Schneidersitz auf dem Fußbo‐ den des vorderen Zimmers, wo an den Wänden überall Bücher aufgestapelt waren. »Erzähl mal, was du herausgekriegt hast«, sagte Ryuji, der ner‐ vös mit einem Bein wackelte. Sie hatten keinerlei Zeit zu verlieren. Asakawa fasste in chronologischer Reihenfolge zusammen, was er am Vortag erfahren hatte. Zuerst informierte er Ryuji davon, dass das Video in der Blockhütte bespielt worden war, und zwar am 26. August ab acht Uhr abends. »Tatsächlich?« Ryuji wirkte überrascht. Auch er hatte angenom‐ men, dass der Film mit einer Videokamera gemacht und das Band dann später in die Hütte gebracht worden war. »Das ist interes‐ sant. Aber wenn tatsächlich illegal eine Sendefrequenz genutzt wurde, dürfte das auch anderen nicht entgangen sein...« »Ich habe sofort telefonisch bei den Büros meiner Zeitung in A‐ tami und Mishima nachgefragt, aber die sagen, sie haben keine Informationen über verdächtige Ausstrahlungen in der Gegend
von Süd‐Hakone am 26. August erhalten.« »Verstehe, verstehe...« Mit vor der Brust verschränkten Armen dachte Ryuji eine Weile nach. »Dann gibt es zwei Möglichkeiten. Erstens: Alle, die die Ausstrahlung gesehen haben, sind tot. Aber Moment... Wenn der Inhalt des Videos gesendet wurde, sollte die Zauberformel doch auch ausgestrahlt worden sein. Also... Die Zei‐ tungsbüros haben über nichts Derartiges berichtet?« »Nein. Ich hab das überprüft. Du fragst dich, ob es noch andere ähnliche Todesfälle gegeben hat, oder? Nein, keine. Falls der Inhalt des Videos gesendet wurde, müssten ihn eigentlich auch andere gesehen haben — aber es hat keine vergleichbaren Todesfälle ge‐ geben. Nicht mal Gerüchte.« »Erinnerst du dich daran, wie es damals war, als in der zivilisier‐ ten Welt die ersten Aidsfälle auftraten? Zuerst hatten die amerika‐ nischen Ärzte keine Ahnung, welchen Reim sie sich auf die Ge‐ schichte machen sollten. Sie wussten nur, dass Menschen starben, die unbekannte Symptome aufwiesen, und sie hatten böse Vorah‐ nungen von irgendeiner seltsamen Krankheit. >Aids< wurde die Krankheit erst zwei Jahre nach ihrem Auftreten genannt. So was kommt vor.« In den Bergtälern westlich des Tanna‐Gebirgskamms gab es nur ein paar verstreute Bauernhöfe und die Straße von Atami nach Kannami. Blickte man nach Süden, sah man lediglich das in der verträumten Bergwelt liegende Pazifikland. War in dieser Gegend irgendetwas Unsichtbares am Werk? Vielleicht starben immer noch viele Menschen eines plötzlichen Todes, ohne dass es bisher in den Nachrichten aufgetaucht war. Und es gab nicht nur das Beispiel Aids: Auch die Kawasaki‐Krankheit, seinerzeit erstmals in Japan aufgetreten, war schon zehn Jahre alt, bevor sie schließlich offiziell als neue Krankheit anerkannt wurde. Jetzt waren erst an‐ derthalb Monate vergangen, seit die mysteriöse Ausstrahlung auf
dem Videoband mitgeschnitten worden war, und es war durchaus möglich, dass das Syndrom noch nicht erkannt worden war. Wenn Asakawa durch den Tod seiner Nichte nicht zufällig auf die Ge‐ meinsamkeiten zwischen den vier Todesfällen gestoßen wäre, würde diese »Krankheit« sich wahrscheinlich noch immer uner‐ kannt im Dunklen verbergen. Das machte die Sache noch Furcht erregender. Gewöhnlich mussten erst hunderte oder gar tausende Menschen gestorben sein, bevor etwas offiziell als »Krankheit« registriert wurde. »Aber uns bleibt nicht genug Zeit, um von einer Tür zur anderen zu ziehen und mit allen Leuten von dort zu sprechen. Doch du hast noch eine zweite Möglichkeit erwähnt, Ryuji.« »Stimmt. Die zweite Möglichkeit ist, dass nur wir beide und die vier jungen Leute den Film gesehen haben. Glaubst du wirklich, dass der Junge, der das mitgeschnitten hat, darüber Bescheid wusste, dass die Sendefrequenzen je nach Region anders sind? Was in Tokio auf Kanal 4 läuft, kann auf dem Land auf einem völ‐ lig anderen Kanal ausgestrahlt werden. In der Regel weiß das ein Kind nicht — vielleicht hat er das Gerät bei der Aufnahme auf denselben Kanal eingestellt, den er auch in Tokio immer sieht.« »Worauf willst du hinaus?« »Denk doch mal nach. Schalten Leute wie wir, die in Tokio leben, jemals auf Kanal 2? Der ist hier nicht belegt.« »Ach so. Dann hat der Junge also den Videorekorder auf einen Kanal eingestellt, den ein Ortsansässiger nie benutzen würde. Weil während der Aufnahme eine andere Sendung lief, hat er nicht ge‐ sehen, was mitgeschnitten wurde. Wie auch immer, in den Bergen da wohnen so wenige Leute, dass ohnehin nicht allzu viele den Film gesehen haben können.« »Aber die wirklich relevante Frage ist, woher die Ausstrahlung kam.« Aus Ryujis Mund hörte sich alles immer so einfach an. Doch
das ließe sich wahrscheinlich nur durch eine gut organisierte wis‐ senschaftliche Untersuchung feststellen. »Außerdem wissen wir noch nicht mal, ob deine Annahme richtig ist. Bisher ist es nur eine Vermutung, dass der Junge — rein zufällig — mitgeschnitten hat.« »Ich weiß, aber wenn wir immer warten, bis wir uns hundert‐ prozentig sicher sein können, werden wir nie vorankommen. Das ist unser einziger Anhaltspunkt.« Sendefrequenzen — da war Asakawas Wissen bescheiden. Er wusste nicht einmal, was genau das war, und doch würde er dort mit seinen Nachforschungen beginnen müssen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als es zu versuchen, und deshalb musste er dorthin zurückkehren. Und bald blieben ihm nur noch vier Tage... Die nächste Frage war, wer die Zauberformel gelöscht hatte. Wenn sie davon ausgingen, dass das Band in der Blockhütte auf‐ genommen worden war, konnten es nur die vier jungen Leute ge‐ wesen sein. Asakawa hatte sich mit dem Sender in Verbindung gesetzt, bei dem die Night Show lief, und dabei herausgefunden, dass am 29. August dort der junge Geschichtenerzähler Sanʹyutei Shinraku zu Gast gewesen war. Sie hatten also Recht. Es war fast hundertprozentig sicher, dass die vier jungen Leute die Zauber‐ formel überspielt hatten. In seiner Aktentasche hatte Asakawa mehrere Fotokopien der Bilder vom Miharayama auf der Insel Oshima mitgebracht. »Was sagst du dazu?«, fragte er, während er Ryuji die Kopien zeigte. »Der Miharayama, was? Meiner Ansicht nach ist das definitiv der Vulkan, den wir auf dem Video gesehen haben.« »Wie kannst du da so sicher sein?« »Gestern Nachmittag habe ich in der Universität einen Ethnolo‐ gen nach dem Dialekt der alten Frau gefragt. Er sagte, dass er nicht
mehr sehr gebräuchlich ist, dass er aber wahrscheinlich noch auf Oshima gesprochen wird. Tatsächlich enthält der Dialekt Eigenar‐ ten, die auf die Region Sashikiji an der südlichen Spitze der Insel hindeuten. Da der Mann ein ziemlich vorsichtiger Mensch ist, würde er es wahrscheinlich nicht beschwören, aber in Verbindung mit diesem Foto können wir davon ausgehen, dass es der Dialekt der Insel und der Miharayama sind. Hast du dich schon über die Ausbrüche des Miharayama informiert?« »Natürlich. Seit dem Zweiten Weltkrieg... Es ist in Ordnung, wenn wir uns auf die Vulkanausbrüche nach dem Krieg beschrän‐ ken, oder?« Angesichts der Entwicklung der Filmtechnologie war das wohl vertretbar. »Ja.« »Also, hör zu. Seit dem Krieg hat der Miharayama viermal Lava gespuckt. Der erste Vulkanausbruch ereignete sich 1950/51, der zweite 1957, der dritte 1974. An den vierten Ausbruch im Herbst 1986 können wir uns ja beide noch gut erinnern. Im Jahr 1957 ist ein neuer Krater entstanden; ein Mensch kam ums Leben, dreiund‐ fünfzig wurden verletzt.« »Wenn man in Betracht zieht, seit wann es Videokameras gibt, sollten wir uns vermutlich auf den Vulkanausbruch von 1986 kon‐ zentrieren, aber ganz sicher können wir uns da bis jetzt nicht sein.« In diesem Augenblick schien sich Ryuji an irgendetwas zu erin‐ nern, und er begann in seiner Tasche herumzukramen. Schließlich zog er ein Blatt Papier hervor. »Ach ja, offensichtlich hat die alte Frau das hier gesagt. Mein Kollege von der Universität war so freundlich, es in normales Japanisch zu übertragen.« Asakawa blickte auf das Blatt. Darauf stand: Wie stand es seitdem um deine Gesundheit? Wenn du immer nur im
Wasser spielst, wirst du von Gespenstern oder bösen Geistern heimge‐ sucht. Verstanden? Nimm dich vor Fremden in Acht. Nächstes Jahr wirst du ein Kind gebären. Hör jetzt auf eine alte Frau, du wirst eine Tochter bekommen. Um die Einheimischen brauchst du dir keine Gedan‐ ken zu machen. Nachdem Asakawa den Text zweimal sorgfältig gelesen hatte, blickte er zu Ryuji auf. »Was ist das? Was bedeutet das?« »Woher soll ich das wissen? Das wirst du schon selbst rausfinden müssen.« »Uns bleiben nur noch vier Tage!« Allmählich hatte Asakawa viel zu viele Dinge zu erledigen, und er wusste gar nicht mehr, wo er überhaupt anfangen sollte. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt, und seine letzte Be‐ merkung hatte aggressiv geklungen. »Jetzt hör mal gut zu«, sagte Ryuji. »Mir bleibt noch ein Tag mehr als dir. Hier bist du gefragt, also verhalt dich auch so. Gib dein Bestes.« Plötzlich keimten in Asakawas Herz böse Ahnungen auf. Ryuji konnte die Tatsache missbrauchen, dass ihm ein Tag mehr blieb. Wenn er zum Beispiel zwei Vermutungen hinsichtlich der Zauber‐ formel hatte, konnte er Asakawa von einer erzählen und abwarten, ob dieser überlebte oder starb. Dann wusste er mit Sicherheit, wel‐ che Vermutung stimmte. Dieser zusätzliche Tag konnte sich in eine machtvolle Waffe verwandeln. »Für dich spieltʹs keine große Rolle, ob ich überlebe oder nicht, stimmtʹs, Ryuji? Du sitzt einfach ruhig da und lächelst...« Noch während Asakawa herumlamentierte, wurde ihm auf beschämen‐ de Weise bewusst, wie hysterisch er mittlerweile war. »Du redest wie ein altes Weib. Wenn du noch Zeit hast, so zu nörgeln und zu jammern, wäre es da nicht besser, wenn du mal
deine grauen Zellen bemühen würdest?« Noch immer funkelte ihn Asakawa verärgert an. »Wie soll ich es denn ausdrücken, damit es dir besser, gefällt? Du bist mein bester Freund, und ich möchte nicht, dass du stirbst. Ich gebe mein Bestes, und dasselbe verlange ich auch von dir. Wir müssen beide unser Bestes geben, für den anderen... jetzt zufrie‐ den?« Irgendwann während dieser Sätze begann Ryujis Stimme plötzlich kindisch zu klingen, und er endete mit einem obszönen Lachen. Noch während er lachte, wurde die Wohnungstür geöffnet. Ü‐ berrascht beugte sich Asakawa vor. Durch die Küche konnte er die Diele sehen, wo, vornübergebeugt, eine junge Frau stand, die ihre weißen Pumps auszog. Ihr kurz geschnittenes Haar berührte ihre Ohren, ihre weißen Ohrringe glänzten. Nachdem sie ihre Schuhe ausgezogen hatte, richtete sie sich auf. Ihr Blick traf den Asakawas. »Oh, ich bitte um Entschuldigung«, sagte die Frau, die er‐ schrocken eine Hand vor ihren Mund hielt. »Ich dachte, der Pro‐ fessor wäre allein.« Ihre elegante Körpersprache und ihre makellos weiße Kleidung standen in einem denkbar krassen Kontrast zu Ryujis Wohnung. Unter ihrem Rock schauten sehr schlanke Beine hervor. Ihr schmales Gesicht wirkte intelligent, und sie erinnerte an eine bestimmte Romanschriftstellerin, die in TV‐Werbespots auftrat. »Treten Sie doch bitte näher.« Plötzlich hatte sich Ryujis Tonfall verändert. An die Stelle der Vulgarität war Höflichkeit getreten. »Erlaube mir, dass ich dir Frau Mai Takano vorstelle. Sie studiert am Philosophischen Institut der Fakultät für Literatur an der Fu‐ kuzawa‐Universität und ist eine meiner besten Schülerinnen. Ver‐ mutlich ist sie die Einzige, die bei meinen Seminaren und Vorle‐ sungen wirklich folgen kann. Und das ist Asakawa Kazuyuki, ein befreundeter Journalist. Er ist... mein bester Freund.«
Mai Takano blickte Asakawa einigermaßen überrascht an, und er fragte sich, weshalb. »Angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte Mai mit einem erfrischenden, elektrisierenden Lächeln und einer Verbeugung. Noch nie zuvor war Asakawa einer so wun‐ derbaren Frau begegnet. Ihre zarte Haut, ihr glühender Blick, ihre perfekte Haltung... Ganz zu schweigen von ihrer Intelligenz, ihrer Klasse und ihrer Liebenswürdigkeit, die von innen kamen. An dieser Frau war praktisch alles perfekt. Er zuckte zurück wie ein Frosch angesichts einer Schlange. Es hatte ihm die Sprache ver‐ schlagen. »Du kannst ruhig was sagen.« Ryuji stieß ihm den Ellbogen in die Rippen. »Guten Tag«, brachte Asakawa schließlich in einem merkwürdi‐ gen Tonfall hervor, aber sein Blick wirkte immer noch konster‐ niert. »Sind Sie gestern Abend ausgegangen, Professor?«, fragte Mai, die würdevoll zwei oder drei Schritte näher kam. »Ja, Takabayashi und Yagi haben mich eingeladen, und des‐ halb...« Jetzt standen Mai und Ryuji nebeneinander. Asakawa stellte fest, dass sie gut zehn Zentimeter größer war. Dennoch wog sie wahr‐ scheinlich nur die Hälfte. »Vielleicht sollten Sie mir beim nächsten Mal Bescheid sagen, wenn Sie nicht nach Hause kommen. Ich habe auf Sie gewartet.« Plötzlich erkannte Asakawa die Stimme der Frau, die ihm ge‐ stern am Telefon geantwortet hatte. Unterdessen ließ Ryuji den Kopf hängen, ganz wie ein Kind, dass von seiner Mutter ausgeschimpft worden ist. »Nun, macht nichts. Diesmal verzeihe ich Ihnen noch. Hier, ich habe Ihnen etwas mitgebracht.« Sie hielte Ryuji eine Papiertüte hin. »Ich habe ihre Unterwäsche gewaschen, und ich wollte auch
die Wohnung aufräumen, aber Sie werden ja immer wütend, wenn ich Ihre Bücher anrühre.« Dieser Wortwechsel veranlasste Asakawa, sich Gedanken über die wahre Natur ihrer Beziehung zu machen. Obwohl sie sich siez‐ ten, war offensichtlich, dass sie nicht nur Lehrer und Schülerin, sondern überdies auch ein Liebespaar waren. Und außerdem hatte sie noch gestern Abend allein hier auf ihn gewartet! War es wirk‐ lich eine so enge Verbindung? Manchmal war Asakawa etwas ver‐ ärgert, wenn er ein schlecht zueinander passendes Paar sah, aber das hier schlug dem Fass den Boden aus. Alles, was irgendwie mit Ryuji zu tun hatte, war verrückt. Ryuji sah Mai mit einem verliebten Blick an. Er glich einem Cha‐ mäleon, das nicht nur seinen Gesichtsausdruck, sondern auch sei‐ nen Tonfall an jede beliebige Situation anpasste. Einen Augenblick lang kam Asakawa die irrwitzige Idee, Mai von Ryujis Vergewal‐ tigungen zu erzählen. »Es ist fast Essenszeit, Professor. Soll ich etwas zubereiten? Sie bleiben doch zum Essen, Herr Asakawa? Haben Sie spezielle Wünsche?« Unschlüssig blickte Asakawa Ryuji an. »Sei nicht so schüchtern. Mai ist eine sehr gute Köchin.« »Ich überlasse die Entscheidung dir«, brachte Asakawa schließ‐ lich mühsam hervor. Mai verschwand, um auf einem nahen Markt Lebensmittel zu kaufen, und selbst als sie schon fort war, starrte Asakawa immer noch mit einem träumerischen Blick auf die Tür. »Du glotzt wie ein Reh, das nachts vom Scheinwerferlicht eines entgegenkommenden Autos geblendet wird«, kommentierte Ryuji mit einem amüsierten Lächeln. »Oh, tut mir Leid.« »Für Träumereien haben wir keine Zeit«, fügte Ryuji hinzu, wäh‐
rend er sanft Asakawas Wange tätschelte. »Solange sie weg ist, haben wir einiges zu besprechen.« »Du hast doch nicht etwas Mai das Video vorgeführt?« »Na hör mal, was denkst du denn von mir?« »In Ordnung. Lass uns alles besprechen. Nach dem Essen werde ich verschwinden.« »Gut. Zuerst musst du dich um den Sendemast kümmern.« »Den Sendemast?« »Um den Antennenmast, von dem aus der Film ausgestrahlt wurde.« Asakawa würde sich keinerlei Ruhepause gönnen können. Auf dem Heimweg musste er einen Zwischenstopp bei der Bibliothek einlegen, um sich über Antennenmasten und Sendefrequenzen zu informieren. Einerseits sehnte er sich danach, schnellstmöglich nach Süd‐Hakone zu fahren, aber er wusste, dass er letztlich Zeit sparen würde, wenn er durch seine Lektüre auf eine Idee stieß, wonach er eigentlich suchen musste. Je mehr er über Sendefre‐ quenzen und das Aufspüren von illegalen Ausstrahlungen wusste, desto mehr Optionen würden sich ihm schließlich bieten. Er hatte eine Fülle von Aufgaben zu erledigen, doch jetzt war er abgelenkt und in Gedanken woanders. Unfähig, Mais Gesicht und Körper aus seinen Gedanken zu verdrängen, fragte er sich zu‐ gleich verwirrt und wütend, warum sie mit einem Typ wie Ryuji zusammen war. »Hörst du mir überhaupt zu?« Ryujis Stimme riss Asakawa in die Realität zurück. »Erinnerst du dich an die Szene mit dem klei‐ nen Jungen? Dem Baby?« »Ja.« Kurzzeitig gelang es Asakawa, das Bild Mais aus seinen Gedanken zu verdrängen. Er erinnerte sich an den vom Frucht‐ wasser glänzenden, nassen Körper des Neugeborenen. Aber ir‐ gendwie klappte es mit diesem Übergang doch nicht so gut —
plötzlich sah er den unbekleideten, feuchten Körper Mais vor sei‐ nem geistigen Auge. »Als ich diese Szene sah, hatte ich ein merkwürdiges Gefühl in meinen Händen, fast so, als würde ich selbst das Baby halten...«, hörte er Ryuji sagen. Das Gefühl, als würde man jemanden halten. In Gedanken hielt Asakawa zuerst Mai in seinen Armen, dann das Neugeborene... Dann erinnerte er sich. Beim Anschauen des Videos hatte auch er das Gefühl empfunden, das Baby zu halten, und dann beide Arme in die Luft geworfen. Bei Ryuji war es exakt genauso gewesen, und das musste bedeutsam sein. »Bei mir warʹs auch so. Ich hatte den Eindruck, was Nasses und Glitschiges in den Händen zu halten.« »Du also auch? Was hat das zu bedeuten?« Ryuji kroch auf allen vieren dicht an den Fernseher heran und spielte die etwa zwei Minuten lange Szene ab. Die ganze Zeit über gab der kleine Junge seine ersten Schreie von sich. Zwei schöne Hände hielten den Kopf und den Po des Neugeborenen. »Moment mal, was ist das denn?« Ryuji hielt das Band an und ließ es dann Bild für Bild vorwärts laufen. Für einen winzigen Au‐ genblick wurde die Mattscheibe dunkel. Ließ man das Band mit normaler Geschwindigkeit laufen, war der Bruch kaum wahr‐ nehmbar, doch wenn man die Sequenz Bild für Bild analysierte, war es möglich, extrem kurze Intervalle totaler Finsternis zu ent‐ decken. »Da, schon wieder!«, schrie Ryuji. Den Rücken wie eine Katze gebogen, blickte er angespannt auf den Bildschirm. Dann zog er den Kopf zurück, und sein Blick wanderte unstet durch den Raum. Asakawa konnte diesen unruhig umherwandernden Au‐ gen entnehmen, dass Ryuji angestrengt nachdachte, aber er hatte keine Ahnung, woran er denken mochte. Insgesamt wurde der
Bildschirm während der zweiminütigen Szene 33‐mal dunkel. »Was ist? Willst du mir etwa erzählen, dass du anhand dieser kurzen Unterbrechungen was herausfinden kannst? Wahrschein‐ lich war die Videokamera nicht im besten Zustand.« Ryuji ignorierte Asakawas Kommentar und begann, andere Sze‐ nen zu untersuchen. Doch da hörten sie aus dem Treppenhaus Schritte, und Ryuji drückte blitzschnell auf die »Stopp«‐Taste. Schon öffnete sich die Wohnungstür, und Mai trat ein. »Ich bin wieder da.« Der Duft ihres Parfüms erfüllte das Zimmer. Auf dem Rasen vor der Stadtbibliothek erholten sich an diesem Sonntagnachmittag Familien mit Kindern. Einige Väter spielten mit ihren Söhnen Fangen, andere Elternpaare lagen im Gras und ließen ihre Sprösslinge allein spielen. Es war ein klarer, wunder‐ schöner Nachmittag im Oktober, und die Welt schien ein friedvol‐ ler Platz zu sein. Angesichts dieser Szenerie wünschte sich Asakawa, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Er saß im vierten Stock der Bibliothek, wo die naturwissenschaftlichen Bücher standen. Zuerst hatte er sich über Sendetechnik und Sendefrequenzen informiert, doch jetzt starrte er nur noch geistesabwesend aus dem Fenster. Den ganzen Tag über war er immer wieder in Gedanken abge‐ schweift. Ohne jeden erkennbaren Grund gingen ihm alle mögli‐ chen Gedanken durch den Kopf, und er konnte sich einfach nicht konzentrieren. Vielleicht lag das an seiner Ungeduld. Jetzt stand er auf. Er wollte so schnell wie möglich seine Frau und sein Kind sehen. Sofort. Dieser Gedanke beherrschte ihn ganz und gar. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Zeit, um draußen mit seiner Tochter spielen zu können... Kurz vor fünf Uhr war Asakawa in seiner Wohnung, wo seine Frau gerade das Abendessen zubereitete. Als er hinter ihr auf‐
tauchte und zusah, wie sie Gemüse schnitt, ahnte er schon, dass sie schlechter Laune war. Den Grund kannte er nur allzu gut. Jetzt hatte er endlich mal einen freien Tag, doch als er Shizu am frühen Morgen verlassen hatte, hatte sie sich mit der knappen Be‐ merkung zufrieden geben müssen, dass er Ryuji besuche. Wenn Asakawa sich nicht gelegentlich um Yoko kümmerte ‐ zumindest an einem freien Tag ‐, fühlte seine Frau sich mit dem Kind über‐ fordert. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen war er mit Ryuji zusammen gewesen. Da lag das Problem. Er hätte sie anlü‐ gen können, doch dann hätte sie ihn im Notfall telefonisch nicht erreicht. »Ein Immobilienmakler hat angerufen«, sagte Shizu, ohne mit ihrer Arbeit aufzuhören. »Warum?« »Er wollte wissen, ob wir über den Verkauf der Wohnung nach‐ denken.« Asakawa hatte Yoko auf seine Knie gesetzt und las ihr aus einem Bilderbuch vor. Wahrscheinlich verstand sie nichts, aber sie hoff‐ ten, dass sie sich die Worte merken würde, wenn sie sie jetzt schon damit konfrontierten. Dann würden sie in zwei Jahren vielleicht nur so aus ihr heraussprudeln. »Hat er ein anständiges Angebot gemacht?« Seit die Bodenpreise in die Höhe schossen, versuchten Immobili‐ enmakler sie zum Verkauf ihrer Eigentumswohnung zu bewegen. »Siebzig Millionen Yen.« Da war ihnen schon mehr geboten worden. Dennoch würde Shi‐ zu und Yoko auch dann noch ein hübsches Sümmchen bleiben, wenn sie die Hypotheken abbezahlt hatten. »Was hast du ihm geantwortet?« Während sie sich mit einem Handtuch die Hände abtrocknete, wandte sich Shizu endlich zu ihrem Mann um. »Dass mein Mann
nicht zu Hause ist.« So lief das immer. Mein Mann ist nicht zu Hause. Oder: Zuerst muss ich mit meinem Mann darüber sprechen. Nie traf Shizu eine ei‐ genständige Entscheidung. Bald wird sie damit beginnen müssen, dachte Asakawa bedrückt. »Wie denkst du darüber? Vielleicht ist jetzt der richtige Zeit‐ punkt gekommen, darüber nachzudenken. Wir sollten genug Geld haben, um uns in einer Vorstadt ein Haus mit Garten leisten zu können. Das hat der Immobilienmakler auch gesagt.« Das war der bescheidene Traum der Familie — irgendwann die Eigentumswohnung verkaufen und ein Haus am Rande der Stadt bauen. Aber ohne Kapital würde das Ganze ein Traum bleiben. Doch sie hatten diesen einen Trumpf in der Hand: eine Eigen‐ tumswohnung mitten in Tokio. Damit konnte der Traum wahr werden, und wann immer sie darüber sprachen, klangen ihre Stimmen ganz aufgeregt. Das Glück war zum Greifen nah, sie mussten nur ihre Hände danach ausstrecken... »Dann könnten wir auch ein zweites Kind haben.« Asakawa wusste, was Shizu vor ihrem geistigen Auge sah: Ein geräumiges Haus am Stadtrand, mit einem eigenen Zimmer für jedes ihrer zwei oder drei Kinder, außerdem mit einem großen Wohnzimmer, wo es nicht ungemütlich wurde, wenn mehr Gäste als erwartet kamen. Jetzt begann sich Yoko bemerkbar zu machen, der nicht entgan‐ gen war, dass ihr Vater sich nicht mehr auf das Bilderbuch und auf sie konzentrierte. Asakawa nahm ihren Protest zur Kenntnis, blickte wieder in das Buch und las laut vor: »Vor langer, langer Zeit hieß das Sumpfland noch Sumpf Strand, weil sich die dicht mit Schilf bewachsenen Sümpfe den ganzen Weg bis zur Meeresküste erstreckten...« Asakawa spürte, wie ihm Tränen in die Augen traten. Er wollte Shizu diesen Wunsch erfüllen. Er wollte es wirklich, aber es blie‐
ben ihm nur noch vier Tage. Würde sie damit fertig werden, wenn er starb, noch dazu auf unerklärliche Weise? Noch wusste sie nicht, wie zerbrechlich ihr Traum war und wie schnell es damit vorbei sein würde. Neun Uhr. Wie immer schliefen Shizu und Yoko bereits. Asaka‐ wa beschäftigte sich mit dem letzten Thema, das Ryuji angeschnit‐ ten hatte. Warum hat er die Szene mit dem Baby mehrfach abgespielt? Und was ist mit den Worten der alten Frau — »Nächstes Jahr wirst du ein Kind gebären.«? Gab es eine Verbindung zwischen dem Neuge‐ borenen und dem von der Alten erwähnten Baby? Und was war mit diesen Sekundenbruchteilen totaler Finsternis, die über drei‐ ßigmal in verschiedenen Intervallen auftraten? Asakawa kam zu dem Entschluss, dass er sich das Video noch einmal ansehen sollte. Ryuji hatte nach etwas Speziellem gesucht, und zwar unabhängig davon, wie irrelevant es im ersten Moment erscheinen mochte. Logisches Denken war natürlich eine von Ryu‐ jis Stärken, aber er verfügte auch über bemerkenswerte intuitive Fähigkeiten. Hingegen war es Asakawas Stärke, die Wahrheit durch minuziöse Hintergrundrecherchen ans Tageslicht zu brin‐ gen. Er öffnete den Schrank und griff nach der Videokassette, doch als er sie gerade in den Rekorder schieben wollte, ließ ihn irgendet‐ was innehalten. Augenblick mal, da stimmt was nicht. Er war sich nicht sicher, was, doch sein sechster Sinn sagte ihm, dass irgen‐ detwas anders war. Nach und nach wurde er sich immer sicherer, dass ihm seine Fantasie keinen Streich spielte. Bei der Berührung der Videokassette hatte er tatsächlich etwas Merkwürdiges emp‐ funden. Irgendetwas hatte sich verändert, wenn auch fast unmerk‐ lich. Was ist es? Was ist anders?, fragte sich Asakawa mit pochendem Herzen. Das ist vielleicht eine beschissene Geschichte, nichts wird bes‐
ser... Denk nach, versuch dich zu erinnern. Als ich das Video zum letzten Mal gesehen habe... habe ich es zurückgespult. Jetzt ist das Band unge‐ fähr zu einem Drittel abgespielt — und genau da endet das Video. Ir‐ gendjemand hat es sich angesehen, als ich nicht zu Hause war... Asakawa rannte ins Schlafzimmer, wo seine Frau und seine Tochter eng aneinander geschmiegt schliefen. Er drehte seine Frau zu sich und rüttelte sie an der Schulter. »Wach auf, Shizu! Wach auf!« Um seine Tochter nicht zu wecken, bemühte sich Asakawa, leise zu sprechen. Shizu verzog das Ge‐ sicht zu einer finsteren Miene und versuchte, sich aus dem Griff ihres Mannes zu lösen. »Du sollst aufwachen, hab ich gesagt!« Seine Stimme klang jetzt anders als sonst. »Was... Was ist denn los?« »Komm, wir müssen reden.« Asakawa zerrte seine Frau hoch und zog sie ins Wohnzimmer, wo er ihr die Videokassette unter die Nase hielt. »Hast du dir das Video angeschaut?« Von dem heftigen Tonfall ihres Manns überrascht, fiel Shizu nichts anders ein, als zwischen der Kassette und Asakawas Gesicht hin und her zu blicken. »Hätte ich es mir besser nicht ansehen sol‐ len?«, fragte sie schließlich. Warum führst du dich wie ein Verrückter auf?, dachte Shizu. Heute ist Sonntag, du warst mal wieder nicht zu Hause, und mir war langwei‐ lig. Dann fiel mir diese Videokassette ein, über die du mit Ryuji getu‐ schelt hast, und ich habe sie mir angesehen. Besonders interessant war sie allerdings nicht. Wahrscheinlich haben sich die Jungs aus dem Büro das ausgedacht. Shizu schwieg, sie führte nur ein Selbstgespräch. Du hast kein Recht, dich deswegen so aufzuregen. Zum ersten Mal in seinem Eheleben verspürte Asakawa den Wunsch, seine Frau zu schlagen. »Du Närrin!« Irgendwie schaffte
er gerade noch, seinem Bedürfnis nicht nachzugeben. Er stand einfach nur da, mit geballten Fäusten. Beruhig dich und denk nach. Es ist deine eigene Schuld. Du hättest die Kassette nicht offen rumliegen lassen sollen. Da Shizu nicht einmal an Asakawa gerichtete Briefe öffnete, hatte dieser es für unbedenklich gehalten, das Videoband in den Schrank zu legen. Warum habe ich die Kassette nicht versteckt? Schließlich ist sie ins Zimmer gekommen, als ich mir das Video mit Ryuji angeschaut hab. Natürlich musste sie das neugierig machen. Es war ein Fehler, die Kassette nicht zu verstecken. »Es tut mir Leid«, murmelte Shizu unglücklich. »Wann hast du das Video gesehen?«, fragte Asakawa mit zit‐ ternder Stimme. »Heute Morgen.« »Sicher?« Shizu konnte nicht wissen, wie wichtig es für Asakawa war, den genauen Zeitpunkt zu erfahren. Sie nickte nur kurz. »Sag mir die genaue Uhrzeit.« »Warum fragst du danach?« »Antworte einfach!« Asakawa wollte schon wieder die Hand heben. »Vielleicht so um halb elf. Direkt nach dem Ende von Ritter Ka‐ men.« Das war eine Kindersendung, an der nur Yoko Interesse hatte. Asakawa musste alle Kräfte aufbieten, um einen Nervenzusam‐ menbruch zu vermeiden. »Die nächste Frage ist sehr wichtig, also hör gut zu. Wo war Yo‐ ko, als du dir das Video angeschaut hast?« Shizu schien jeden Augenblick in Tränen ausbrechen zu wollen. »Sie saß auf meinem Schoß.« »Dann heißt das also, dass... ihr beide das Video angesehen habt?«
»Für sie hat nur der Bildschirm geflackert. Sie hat ja nichts ver‐ standen.« »Halt die Klappe! Das spielt keine Rolle!« Nun ging es nicht mehr darum, dass der Traum seiner Frau von einem Haus am Stadtrand in Gefahr war. Jetzt war das Leben aller Familienmitglieder in Gefahr. Womöglich starben sie alle einen völlig sinnlosen Tod. Angesichts der Wut, der Angst und der Verzweiflung ihres Manns begann Shizu den Ernst der Lage zu begreifen. »Das Ganze war doch... nur ein Witz, oder?« Sie erinnerte sich an die Worte am Ende des Videos. An diesem Morgen hatte sie sie für einen geschmacklosen Scherz gehalten. Es konnte einfach nicht wahr sein. Aber warum dann das sonderbare Verhalten ihres Mannes? »Das war doch nicht ernst gemeint, oder?« Asakawa brachte kein Wort heraus. Er schüttelte nur den Kopf. Plötzlich empfand er Mitleid für die Menschen, die dasselbe Schicksal erwartete wie ihn selbst.
Beim Aufwachen wünschte Asakawa sich jetzt immer, das Ganze wäre nur ein böser Traum gewesen. An diesem Morgen rief er bei einer nahen Autovermietung an und bestätigte, dass er den Wagen pünktlich abholen werde. Sie nahmen seine Reservierung ganz normal an. Kein Zweifel, in der Realität ging alles seinen gewohn‐ ten Gang. Wenn er herausfinden wollte, von wo der auf dem Video mitge‐ schnittene Film ausgestrahlt worden war, brauchte er Bewegungs‐ freiheit. Wahrscheinlich war es zu schwierig, mit einem handels‐ üblichen, drahtlosen Transmitter die Sendefrequenzen einer Fern‐ sehanstalt zu okkupieren. Deshalb glaubte Asakawa, dass dafür eine professionell modifizierte Ausrüstung erforderlich gewesen sein musste. Außerdem waren die auf dem Video aufgenomme‐ nen Bilder störungsfrei. Folglich musste es ein starkes, aus der Nähe ausgestrahltes Signal gewesen sein. Wäre er im Besitz von mehr Informationen gewesen, hätte er vielleicht die Region bestimmen können, wo die Ausstrahlung damals zu empfangen gewesen und von wo der Film gesendet worden war. Aber er konnte nur auf dem Faktum aufbauen, dass der Fernseher in der Blockhütte B‐4 seinerzeit das Signal aufgeschnappt hatte. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als erneut dorthin zu fahren. Er musste sich mit der geografischen Beschaffenheit der Region ver‐ traut machen und dann die Sende‐ und Empfangsbedingungen genauestens überprüfen. Wie lange das dauern würde, war Asa‐ kawa nicht klar, aber er packte Kleidung für drei Tage ein. Das würde mit Sicherheit reichen. Asakawa und seine Frau sahen sich an, doch Shizu erwähnte das
Video nicht mehr. Eine gute Lüge war Asakawa nicht eingefallen. Er hatte sie wieder ins Bett gehen lassen und den Gedanken an den in einer Woche bevorstehenden Tod mit vagem Gerede abge‐ mildert. Shizu ihrerseits schien sich davor zu fürchten, Genaueres zu erfahren. Ihr war es offenbar lieber, wenn die Dinge zweideutig und ungeklärt blieben. Anstatt ihn mit Fragen zu löchern, wie sie es sonst gewöhnlich tat, schien sie ihre eigenen Vermutungen an‐ zustellen. Ihr Schweigen war ihm unheimlich. Asakawa wusste nicht genau, wie sie die Lage interpretierte, aber offensichtlich konnte nichts ihr Unbehagen besänftigen. Als sie sich wie üblich die morgendliche Soap‐Opera im Fernsehen ansah, schien sie aufmerksam auf Geräusche von draußen zu lauschen, und sie sprang mehrmals von ihrem Stuhl auf. »Lass uns nicht darüber reden, ja? Ich habe keine Antworten. Aber ich werde mich darum kümmern.« Mehr fiel Asakawa nicht ein, um die Ängste seiner Frau zu beschwichtigen. Schwäche durf‐ te er vor ihren Augen nicht zeigen. Als er gerade das Haus verlassen wollte, klingelte wie aufs Stich‐ wort das Telefon. Am anderen Ende der Leitung war Ryuji. »Ich habe eine faszinierende Entdeckung gemacht und würde gern wissen, wie du darüber denkst.« Seine Stimme klang etwas aufgeregt. »Kannst du mir das nicht am Telefon erzählen? Ich muss gleich einen Leihwagen abholen.« »Einen Leihwagen?« »Du hast doch gesagt, dass ich mich darum kümmern soll, von wo der Film ausgestrahlt wurde.« »Ja, stimmt. Trotzdem solltest du das für eine Weile auf sich be‐ ruhen lassen und zu mir kommen. Vielleicht brauchst du dich dann gar nicht mehr um die Sendefrequenzen zu kümmern. Unter Umständen ist unsere ganze Prämisse hinfällig.«
Dennoch ließ sich Asakawa nicht davon abbringen, zuerst den Leihwagen abzuholen. Sollte er trotzdem zum Pazifikland in Süd‐ Hakone fahren müssen, konnte er direkt von Ryujis Wohnung aus starten. Nachdem er auf dem Bürgersteig vor Ryujis Haus geparkt hatte, klopfte er oben an der Wohnungstür »Komm rein, es ist nicht ab‐ geschlossen.« Asakawa stieß die Tür auf und stampfte laut durch die Küche. »Also, was für eine großartige Entdeckung hast du gemacht?«, fragte er ziemlich aggressiv. »Was ist denn mit dir los?« Ryuji saß im Schneidersitz auf dem Boden und blickte Asakawa an. »Trödel nicht rum und erzähl endlich, was du herausgefunden hast.« »Entspann dich, Mensch!« »Wie soll ich mich in meiner Lage entspannen? Spuckʹs endlich aus!« Asakawa ließ sich an Ort und Stelle auf den Boden plumpsen und umklammerte dann mit den Händen seine Knie. »Meine Frau und... meine Tochter haben dieses elende Video gesehen.« »Das ist allerdings übel. Tut mir Leid.« Ryuji wartete, bis Asaka‐ wa seine Fassung allmählich wiedergewonnen hatte. In der Zwi‐ schenzeit nieste er, um sich daraufhin geräuschvoll die Nase zu putzen. »Du willst sie doch retten, oder?« Asakawa nickte wie ein kleiner Junge. »Ein Grund mehr, kühlen Kopf zu bewahren. Ich werde dir mei‐ ne Schlussfolgerung jetzt noch nicht darlegen, sondern dir erst mal zeigen, was ich herausgefunden habe. Zunächst interessiert mich nämlich, zu welchem Resultat du kommst. Wenn du so aufgeregt bist, kann ich dich nicht gebrauchen.«
»Verstehe«, antwortete Asakawa unterwürfig. »Wasch dir erst mal das Gesicht. Und reiß dich zusammen.« Vor Ryuji konnte Asakawa weinen. Bei ihm konnte er jenen Emo‐ tionen freien Lauf lassen, die er vor seiner Frau nicht zeigen durf‐ te. Asakawa kam zurück ins Zimmer, während er sich mit einem Handtuch das Gesicht abtrocknete. Ryuji hielt ihm ein Blatt Papier hin, eine einfache Tabelle: 1) Intro 83 Sekunden [0]abstrakt 2) Rote Flüssigkeit 48 Sekunden [0]abstrakt 3) Miharayama 55 Sekunden [11]realistisch 4) Vulkanausbruch 32 Sekunden [6] realistisch 5) Das Wort »Berg« 56 Sekunden [oj abstrakt 6) Würfel 101 Sekunden [ojʹabstrakt 7) Alte Frau 111 Sekunden [o]abstrakt 8) Das Neugeborene 125 Sekunden [3 j/realistisch 9) Gesichter 20 Sekunden [o]abstrakt 10) Alter Fernseher 141 Sekunden [35] realistisch 11) Männergesicht 186 Sekunden [44] realistisch 12) Schlusssequenz 172 Sekunden [o] abstrakt Einiges wurde auf den ersten Blick klar. Ryuji hatte das Video in die einzelnen Szenen unterteilt. »Die Idee kam mir gestern Abend. Du verstehst den Sinn der Tabelle doch? Das Video besteht aus zwölf Szenen, die ich jeweils mit einer Nummer und einem Namen versehen habe. Die Zahl dahinter gibt die Länge der Sequenz an, die in eckige Klammern gesetzte danach die Häufigkeit, wie oft der Bildschirm in dieser Szene für einen winzigen Sekundenbruchteil schwarz wird. Kannst du mir folgen?«
Asakawas Miene verriet starke Zweifel. »Nachdem du gestern gegangen warst, habe ich nach der Szene mit dem Neugeborenen auch die anderen analysiert, um zu sehen, ob es da auch diese kurzen Momente der Finsternis gibt. Und tat‐ sächlich, in den Szenen 3, 4, 8, 10 und 11 war das so.« »Und die Begriffe ganz recht?« »Insgesamt können wir die zwölf Szenen grob in zwei Kategori‐ en aufteilen. Die abstrakten Sequenzen gleichen mentalen Bildern, die man fast als abstrakte Gedankenlandschaften bezeichnen könnte. Und dann sind da die realistischen Szenen, in denen real existierende Gegenstände auftauchen, wie man sie mit eigenen Augen sieht. Nach diesen Kriterien habe ich das Video unterteilt.« Einen Augenblick lang schwieg Ryuji. »Also, sieh dir die Tabelle genau an. Fällt dir was auf?« »Dein >schwarzer Vorhang< fällt nur in den >realistischen< Sze‐ nen.« »Stimmt genau. Das halten wir erstmal fest.« »Allmählich nervt mich das, Ryuji. Gib mal Gas und spuck end‐ lich aus, worauf du hinauswillst. Was hat das Ganze zu bedeu‐ ten?« »Immer mit der Ruhe. Manchmal stumpft es die Intuition des anderen ab, wenn man ihm die Antworten zu früh liefert. Meine Intuition hat mir bereits eine Schlussfolgerung nahe gelegt, und jetzt stelle ich alles in Frage, um zu sehen, ob sie auch wirklich haltbar ist. Es ist wie bei einem Kriminalfall. Hat man erst einmal das Gefühl, den Täter zu kennen, scheinen plötzlich alle Beweise die eigene These zu untermauern. Wir können es uns nicht leisten, vom richtigen Pfad abzukommen. Ich bin darauf angewiesen, dass du meine Schlussfolgerung teilst. Daher muss ich wissen, ob deine Intuition die dasselbe Resultat nahe legt.« »Okay, okay, mach weiter.«
»Also: Der schwarze Vorhang fällt nur in den realistischen Sze‐ nen. Das haben wir bereits festgestellt. Jetzt solltest du deine Ge‐ danken wieder auf die Gefühle konzentrieren, die du empfunden hast, als du dir das Video zum ersten Mal angesehen hast. Über die Szene mit dem Neugeborenen haben wir gestern gesprochen. Gibtʹs darüber hinaus noch etwas Wichtiges? Was war mit der Sequenz mit den Gesichtern?« Ryuji suchte die Szene mit der Fernbedienung. »Sieh dir die Ge‐ sichter ganz genau an.« Dutzende Gesichter traten langsam in den Bildhintergrund zu‐ rück, und ihre Zahl schwoll an. Schließlich waren es hunderte, dann tausende. Studierte man sie einzeln, schien jedes einzigartig zu sein, wie in der Wirklichkeit. »Was für ein Gefühl empfindest du dabei?«, fragte Ryuji. »Ich habe den Eindruck, als würden sie mich tadeln und mich einen Lügner und Betrüger nennen.« »Stimmt, ich habe dasselbe empfunden. Zumindest war mein Gefühl dem von dir beschriebenen sehr ähnlich.« Asakawa versuchte, sich darauf zu konzentrieren, was das be‐ deuten konnte. Ryuji erwartete eine klare Antwort. »Also?«, hakte Ryuji nach. Asakawa schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.« »Hättest du mehr Zeit gehabt, eingehender darüber nachzuden‐ ken, wäre dir vielleicht dasselbe aufgefallen wie mir. Bisher sind wir beide davon ausgegangen, dass diese Bilder mit einer Fern‐ sehkamera aufgenommen worden sind, also mit einem techni‐ schen Gerät mit Objektiv. Oder?« »War es denn nicht so?« »Was ist dieser schwarze Vorhang, der den Bildschirm kurzzeitig in Finsternis taucht?« Ryuji ließ das Band langsam Bild für Bild vorlaufen, bis die Matt‐
scheibe schwarz wurde. Für drei oder vier winzige Schritte blieb der Bildschirm dunkel. Wenn man als Dauer pro Bild das Dreißig‐ stel einer Sekunde ansetzte, dauerte die Finsternis insgesamt etwa eine Zehntelsekunde. »Warum geschieht das nur in den realistischen Szenen und nicht in den imaginären? Sieh dir den Bildschirm einmal genau an. Er ist nicht völlig schwarz.« Asakawa rückte dich vor den Fernseher. Tatsächlich, Ryuji hatte Recht. So etwas wie ein schwacher weißer Dunst hing in der Fin‐ sternis. »Ein verschwommener Schatten. Wir haben es hier mit der Träg‐ heit des Auges zu tun. Wenn du dir das ansiehst, hast du dann nicht das Gefühl einer unglaublichen Unmittelbarkeit, als wärest du selbst tatsächlich Bestandteil dieser Szene?« Ryuji blickte Asakawa an und ließ einmal langsam die Augenli‐ der sinken. Der schwarze Vorhang. »Was...?«, murmelte Asakawa. »Ist... Ist das hier ein Lidschlag?« »Exakt. Oder irre ich mich? Wenn man darüber nachdenkt, scheint es mir aber stimmig zu sein. Es gibt Dinge, die wir mit un‐ seren Augen sehen, aber es gibt auch Bilder, die wir vor unserem inneren Auge heraufbeschwören. Und da Letztere nicht über die Retina vermittelt werden, existiert hier auch kein Lidschlag. Sehen wir aber tatsächlich mit unseren Augen, formen sich die Bilder gemäß der Stärke des Lichts, das auf die Netzhaut trifft. Und da‐ mit die Retina nicht austrocknet, gibt es den Lidschlag, der sich unbewusst vollzieht. Der schwarze Vorhang, das ist der Moment, in dem sich das Auge schließt.« Wieder wurde Asakawa von Übelkeit übermannt. Nachdem er das Video zum ersten Mal gesehen hatte, war er auf die Toilette gerannt, doch diesmal war der teuflische Kälteschauer noch schlimmer. Er konnte sich nicht des Gefühls erwehren, dass irgen‐
detwas in seinen Körper eingedrungen war. Das Videoband war nicht mit einer Kamera aufgenommen worden, sondern durch den Einsatz aller fünf menschlichen Sinne zustande gekommen... Diese Kälteschauer und dieses Zittern gingen von irgendeinem myste‐ riösen, ungreifbaren Etwas aus, das durch Asakawas Sinnesorgane in ihn eindrang und ihm beim Anschauen des Videos seine Per‐ sektive aufzwang. Obwohl er sich wieder und wieder die Stirn abwischte, stand schon bald wieder kalter Schweiß darauf. »Wusstest du...? He, hörst du überhaupt zu? Von geringfügigen individuellen Unterschieden mal abgesehen, gibt es bei einem normalen Mann zwanzig Lidschläge pro Minute, bei einer Frau fünfzehn. Das heißt, dass eventuell eine Frau diese Bilder aufge‐ nommen haben könnte.« Asakawa hörte nicht zu. »Was ist los mit dir? Du bist so bleich, dass du jetzt schon wie ein Toter aussiehst.« Ryuji lachte. »Sieh mal das Positive. Jetzt sind wir der Lösung schon einen Schritt näher. Wenn diese Bilder von den Sinnesorganen einer bestimmten Person zusammengetragen wurden, dann muss die Zauberformel etwas mit dem Willen die‐ ser Person zu tun haben. Mit anderen Worten: Vielleicht will sie, dass wir etwas tun.« Asakawas Verstand hatte zeitweilig ausgesetzt. Zwar hallten Ryujis Worte in seinen Ohren nach, doch ihre Bedeutung erreichte ihn nicht. »Wie auch immer, jetzt wissen wir, was zu tun ist. Wir müssen herausfinden, wer diese Person ist — oder war. Meiner Ansicht nach weilt sie nicht mehr unter den Lebenden. Und dann müssen wir eruieren, wonach sich diese Person gesehnt hat, als sie noch lebte. Das wird die Zauberformel sein, die uns das Leben rettet.« Ryuji zwinkerte Asakawa zu, als wollte er ihn fragen, ob er das
nicht großartig gemacht habe. Asakawa hatte die Schnellstraße Nr. 3, die Tokio und Yokohama miteinander verbindet, verlassen und fuhr jetzt in südlicher Rich‐ tung auf der Straße von Yokohama nach Yokosuka. Ryuji hatte es sich auf dem Beifahrersitz bequem gemacht und schlief fest und ruhig. Obwohl es fast zwei Uhr mittags war, hatte Asakawa kei‐ nen Hunger. Erst wollte er Ryuji aufwecken, doch dann zog Asakawa seine Hand zurück, da sie ihr Ziel noch nicht erreicht hatten. Tatsächlich kannte Asakawa ihr Ziel noch gar nicht. Ryuji hatte nur gesagt, er solle nach Kamakura fahren. Auch den Grund kannte er nicht, und das machte ihn zu einem nervösen, leicht reizbaren Autofahrer. Während Ryuji in aller Eile ein paar Sachen zusammenraffte, hatte er Asakawa versichert, er werde ihm im Auto alles erklären. Doch als sie dann unterwegs waren, hatte Ryuji darauf hingewiesen, er habe in der letzten Nacht kein Auge zugetan. »Weck mich, wenn wir in Kamakura sind.« Danach war Ryuji sofort eingeschlafen. Bei Asahina bog Asakawa ab. Nach fünf Kilometern auf der Straße nach Kanazawa stand er vor dem Bahnhof von Kamakura. Mittlerweile schlief Ryuji seit gut zwei Stunden. »Also, da wären wir«, sagte Asakawa, während er seinen Beglei‐ ter wachzurütteln versuchte. Ryuji streckte sich wie eine Katze, rieb sich mit den Handrücken die Augen und schüttelte dann energisch den Kopf. »Ah, ich hatte einen herrlichen Traum.« »Wie gehtʹs jetzt weiter?« Ryuji blickte aus dem Fenster, um sich zu orientieren. »Einfach immer weiter geradeaus. Am Tor des Hachiman‐Schreins biegst du links ab und hältst dann.« Ryuji machte es sich wieder bequem. »Vielleicht kann ich den Traum noch etwas weiter träumen. Wennʹs dir nichts ausmacht.«
»In fünf Minuten sind wir da. Statt zu schlafen, könntest du mir erklären, was wir hier wollen.« »Das siehst du dann schon.«, sagte Ryuji, während er seine Knie gegen das Armaturenbrett klemmte und die Augen schloss. Kurz darauf bog Asakawa nach links ab und trat dann auf die Bremse. Direkt vor ihnen lag ein altes, einstöckiges Haus mit ei‐ nem kleinen Schild, auf dem »Tetsuzo‐Miura‐Gedenkhalle« stand. »Fahr auf den Parkplatz.« Offensichtlich hatte Ryuji die Augen etwas geöffnet. Er hatte eine zufriedene Miene und schnüffelte wie ein Mann, dem der angenehme Duft eines Parfüms in die Nase stieg. »Dank deiner großzügigen Erlaubnis konnte ich meinen Traum zu Ende träumen.« »Worum gingʹs denn?« »Na, was glaubst du? Ums Fliegen natürlich. Ich liebe Träume, in denen ich fliegen kann.« Ryuji schnalzte glücklich und leckte sich die Lippen. Die Tetsuzo‐Miura‐Gedenkhalle wirkte verwaist. In einem großen, offenen Raum im Erdgeschoss hingen gerahmte Fotografi‐ en und Dokumente an der Wand. Andere Schriftstücke lagen in Vitrinen, und an der Wand gegenüber dem Eingang hing ein Pla‐ kat, auf dem Miuras Leistungen und Verdienste aufgelistet waren. Als Asakawa die Zeilen überflog, konnte er sich endlich eine Vor‐ stellung davon machen, wer dieser Mann gewesen war. »Ist da jemand?«, rief Ryuji, aber sie erhielten keine Antwort. Tetsuzo Miura war vor zwei Jahren im Alter von 72 Jahren ge‐ storben. Vor seiner Pensionierung war er Professor an der Yoko‐ dai‐Universität gewesen, wo er theoretische Physik gelehrt und sich insbesondere auf die Themenfelder Festkörperphysik und Thermodynamik spezialisiert hatte. Aber die bescheidene Ge‐ denkhalle war nicht seinen Errungenschaften als Physiker gewid‐ met, sondern seinen wissenschaftlichen Untersuchungen übersinn‐
licher Phänomene. Auf dem Plakat wurde behauptet, die Theorien des Professors hätten weltweit Aufsehen erregt, aber zweifellos hatte ihnen nur eine sehr begrenzte Zahl von Menschen Aufmerk‐ samkeit geschenkt. Asakawa beispielsweise hatte den Namen Mi‐ ura heute zum ersten Mal gehört. Und was besagten die Theorien dieses Mannes? Um die Antwort herauszufinden, begann Asaka‐ wa die Schriftstücke an den Wänden und in den Vitrinen zu stu‐ dieren. Gedanken haben Energie, und diese Energie... In diesem Au‐ genblick hörten sie aus einem anderen Raum Schritte — jemand kam eilig die Treppe hinunter. Eine Tür ging auf, und ein etwa vierzigjähriger Mann steckte seinen Kopf in den Raum. Ryuji trat näher und überreichte ihm eine seiner Visitenkarten, und Asaka‐ wa beschloss, seinem Beispiel zu folgen. Auch er zog eine Karte aus seiner Brusttasche. »Mein Name ist Takayama, ich arbeite an der Fukuzawa‐ Universität«, sagte Ryuji mit sanfter, leutseliger Stimme. Es amü‐ sierte Asakawa, wie anders er jetzt klang. Dann gab er dem Mann seine Karte. Den schien die Anwesenheit eines Wissenschaftlers und eines Journalisten ziemlich zu erschrecken; besonders Asaka‐ was Karte veranlasste ihn zu einem Stirnrunzeln. »Wennʹs Ihnen recht ist, würden wir gern etwas mit Ihnen be‐ sprechen.« »Was denn?« Der Mann beäugte sie vorsichtig. »Ich hatte einst die Ehre, den verstorbenen Professor Miura ken‐ nen lernen zu dürfen.« Aus irgendeinem Grund schien das den Mann zu erleichtern, und sein Gesichtsausdruck entspannte sich etwas. Er holte drei Klappstühle. »Tatsächlich? Nehmen Sie doch bitte Platz.« »Es muss jetzt ungefähr drei Jahre her sein... Ja, stimmt, ein Jahr vor seinem Tod. Meine Alma Mater hatte daran gedacht, mich
möglicherweise eine Vorlesung über wissenschaftliche Methodik halten zu lassen, und da wollte ich die Gelegenheit ergreifen und hören, was der Professor...« »Haben Sie ihn hier getroffen?« »Ja. Professor Takatsuka hat uns einander vorgestellt.« Als er diesen Namen hörte, begann der Mann zu lächeln. Jetzt begriff er, dass er mit seinen Besuchern etwas gemeinsam hatte. Die beiden müssen auf unserer Seite stehen. Sie sind nicht hier, um uns zu attackieren. »Verstehe. Mein Name ist Tetsuaki Miura. Tut mir Leid, mir sind gerade die Visitenkarten ausgegangen...« »Dann sind Sie...« »Ja, ich bin sein einziger Sohn. Aber ich verdiene es kaum, seinen Namen zu tragen.« »Übertreiben Sie da nicht ein bisschen? Ich hatte gar keine Ah‐ nung, dass der Professor einen so außergewöhnlichen Sohn hat.« Asakawa musste sich ein Lachen verkneifen, als er hörte, wie Ryuji einen zehn Jahre älteren Mann als »außergewöhnlichen Sohn« titulierte. Tetsuaki Miura führte sie kurz durch das Haus. Nach dem Tod seines Vaters hatten sich einige von dessen Studenten zusammen‐ getan, um die Materialien ihres akademischen Lehrers zu ordnen. Über sich selbst sagte Tetsuaki Miura, der nicht viel von sich zu halten schien, er sei nicht fähig gewesen, als Forscher in die Fuß‐ stapfen seines Vaters zu treten, wie dieser sich das gewünscht ha‐ be. Stattdessen habe er auf dem gleichen Grundstück, auf dem auch die Gedenkhalle stehe, ein Gasthaus gebaut, dass er leite. »So beute ich also sein Land und seinen Ruf aus. Wie ich bereits sagte, ich verdiene es kaum, seinen Namen zu tragen.« Er kom‐ mentierte den Satz mit einem verdrießlichen Lachen. Das Gast‐ haus wurde hauptsächlich von Schülergruppen besucht, die mit
ihren Physik‐ oder Biologielehrern Exkursionen machten, aber er erwähnte auch eine Gruppe von Forschern, die sich dem Über‐ sinnlichen widmeten. Schüler brauchten einen Grund für eine Ex‐ kursion, und da war die Gedenkhalle ein guter Köder für den Gasthof. »Ach, übrigens...« Ryuji setzte sich auf seinem Stuhl gerade und versuchte, das Gespräch auf das für sie relevante Thema zu len‐ ken. »Tut mir Leid, falls ich Sie mit meinem Geschwätz gelangweilt haben sollte... Was führt Sie her?« Es war offensichtlich, dass Tetsuaki Miuras wissenschaftliche Talente bescheiden waren — er war nur eine Krämerseele, der sich der jeweiligen Situation anpasste. Asakawa war sicher, dass Ryuji wenig von dem Mann hielt. »Um die Wahrheit zu sagen — wir suchen jemanden.« »Und wen?« »Tatsächlich kennen wir nicht einmal den Namen. Deshalb sind wir hier.« »Tut mir Leid, aber ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen.« Tetsuaki Miura wirkte beunruhigt, als wollte er seine Besucher drängen, sich etwas deutlicher auszudrücken. »Wir können nicht einmal sagen, ob die betreffende Person über‐ haupt noch lebt. Fest steht nur, dass sie im Gegensatz zu gewöhn‐ lichen Menschen über ungewöhnliche Kräfte verfügt.« Ryuji studierte Tetsuaki Miuras Gesichtsausdruck und registrier‐ te, dass dieser ihn auf Anhieb begriffen zu haben schien. »Wahrscheinlich war Ihr Vater in Japan der bedeutendste Samm‐ ler solcher Informationen. Er selbst hat mir erzählt, er habe ein Netzwerk von Beziehungen geschmiedet und nutze es, um eine Liste von allen Japanern mit übersinnlichen Kräften zusammenzu‐ stellen. Seinen Worten nach bewahrte er diese Informationen auf.«
Tetsuaki Miuras Miene verdüsterte sich — die Fremden wollten ihn doch wohl nicht bitten, in all den Akten nach einem Namen zu suchen? »Ja, natürlich sind die Unterlagen erhalten geblieben, aber es sind furchtbar viele. Außerdem sind viele dieser Leute Scharla‐ tane.« Der Gedanke an eine erneute Durchsicht der Akten ließ Tet‐ suaki Miura erbleichen. Ein Dutzend ehemaliger Studenten seines Vaters hatte etliche Monate benötigt, um sie zu ordnen. Dem Wunsch des Toten folgend, hatten sie sogar die Ungewissen Fälle berücksichtigt, wodurch der Aktenberg noch einmal angeschwol‐ len war. »Wir haben keineswegs vor, Ihnen Unannehmlichkeiten zu berei‐ ten. Wenn Sie erlauben, werden wir beide selbst die Akten durch‐ suchen.« »Sie sind oben im Archiv. Wollen Sie vielleicht erst einmal einen Blick darauf werfen?« Tetsuaki Miura stand auf. Seine Gäste konn‐ ten nur so reden, weil sie keine Ahnung vom wahren Ausmaß der Aktenberge hatten. Wenn sie die Regale erst gesehen hatten, hat‐ ten sie wahrscheinlich keine Lust mehr, ihr Vorhaben umzusetzen. Tetsuaki Miura stieg vor seinen Gästen die Treppe hoch. Das Archiv befand sich in einem Raum mit hoher Decke, und sie sahen sich sieben Bücherschränken mit jeweils sieben Regalbrettern ge‐ genüber. Jede Akte enthielt Material über vierzig Fälle, und auf den ersten Blick schien es tausende davon zu geben. Da Asakawa viel zu sehr damit beschäftigt war, vor Schreck ebenfalls zu erblei‐ chen, bemerkte er Ryujis Reaktion nicht. Wenn wir da anfangen, ist es gut möglich, dass wir in diesem düsteren Archiv sterben. Es muss einen anderen Weg geben! Aber Ryuji ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir uns das mal ansehen?« »Nur zu.« Tetsuaki Miura blieb noch eine Weile, ein bisschen erstaunt, ein
bisschen neugierig. Offensichtlich interessierte es ihn, was seine Gäste zu finden hofften, doch dann hatte er schließlich die Nase voll. »Ich muss mich um meine Arbeit kümmern«, bemerkte er, während er das Archiv verließ. Als sie allein waren, wandte sich Asakawa Ryuji zu. »Willst du mir nicht endlich erzählen, warum wir eigentlich hier sind?« Weil Asakawa immer noch angestrengt den Hals reckte, um die Akten‐ flut überblicken zu können, klang seine Stimme etwas merkwür‐ dig. Seit sie die Gedenkhalle betreten hatten, hatte er zum ersten Mal gesprochen. Die Akten waren chronologisch geordnet und umfassten die Zeitspanne von 1956 bis 1988. Im Jahr 1988 war Mi‐ ura gestorben. Erst sein Tod hatte seiner Sammelwut ein Ende bereitet. »Da uns nicht viel Zeit bleibt, werde ich es dir erzählen, während wir mit der Aktendurchsicht beschäftigt sind. Ich fange mit dem Jahr 1956 an, du beginnst 1960.« Zögernd begann Asakawa, die erste Akte durchzublättern. Jede Seite enthielt mindestens ein Foto, darüber hinaus einen kurzen Text sowie Name und Adresse. »Und worauf soll ich achten?« »Auf Namen und Adressen. Wir suchen nach einer Frau von der Insel Oshima.« »Eine Frau?«, fragte Asakawa zweifelnd. »Erinnerst du dich nicht an die alte Frau auf dem Video? Sie hat vorhergesagt, dass jemand eine Tochter gebären werde. Einen Mann kann sie damit wohl kaum gemeint haben.« Ryuji hatte Recht. Dagegen sprachen biologische Gründe. Also begannen sie zu suchen. Es war eine einfache, monotone Aufgabe, und da Asakawa fragte, warum diese Sammlung über‐ haupt existiere, erklärte Ryuji es ihm. Professor Miura hatte sich schon immer für übernatürliche Phä‐
nomene interessiert. In den Fünfzigerjahren begann er seine Expe‐ rimente hinsichtlich der Erforschung übersinnlicher Kräfte, aber seine Resultate waren nicht verlässlich genug, um als Basis einer wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Theorie dienen zu können. Hellsehern gelang es nicht, vor Publikum zu wiederholen, was sie vorher mühelos zustande gebracht hatten. Um diese Kräfte zu demonstrieren, bedurfte es großer Konzentration. Professor Miura suchte jemanden, der seine hellseherischen Kräfte zu jeder Zeit und unter beliebigen Umständen unter Beweis stellen konnte. Wenn jemand vor Zeugen versagte, musste Miura damit rechnen, selbst als Scharlatan abgetan zu werden. Da er davon überzeugt war, dass es mehr Menschen mit übersinnlichen Kräften geben musste als jene, die er bereits kannte, machte er es sich zur Aufga‐ be, sie zu finden. Aber wie sollte er das anstellen? Da er sich nicht immer persön‐ lich vergewissern konnte, ob jemand das »zweite Gesicht« hatte oder über hellseherische oder telekinetische Fähigkeiten verfügte, ließ er sich eine spezielle Methode einfallen. Jedem, der mögli‐ cherweise solche Kräfte in sich barg, schickte er in einem sorgfältig versiegelten Umschlag einen Filmstreifen. Er bat die Adressaten, diesen nur durch Einsatz ihrer geistigen Kräfte mit einem be‐ stimmten Muster oder Bild zu »belichten«. Dann musste der Um‐ schlag ungeöffnet zurückgeschickt werden. Auf diese Weise konn‐ te er übernatürliche Kräfte auch über große Distanzen hinweg te‐ sten. Da die »Gedankenfotografie« eine grundlegende übernatürli‐ che Fähigkeit zu sein schien, hatten Leute, die über sie verfügten, häufig auch hellseherische Talente. Im Jahr 1956 hatte der Professor, tatkräftig unterstützt von ehe‐ maligen Studenten, die mittlerweile für Zeitungen und Verlage arbeiteten, damit begonnen, im ganzen Land Menschen mit über‐ natürlichen Fähigkeiten zu rekrutieren. Seine Schüler halfen ihm
beim Aufbau eines Netzwerks, durch das ihm jedes Gerücht hin‐ sichtlich übernatürlicher Kräfte zu Ohren kam. Eine Untersuchung der zurückgeschickten Filmstreifen legte die These nahe, dass al‐ lenfalls ein Zehntel der Testpersonen die behaupteten Fähigkeiten besaß. Der Rest hatte das Siegel geschickt geöffnet und einen an‐ deren Filmstreifen hineingelegt. Ab jetzt wurden offensichtliche Betrüger aussortiert, doch die Unterlagen von nicht eindeutig zu beurteilenden Fällen wurden weiter archiviert, was zu einem nicht mehr zu bewältigenden Aktenberg führte, den Asakawa jetzt vor sich aufragen sah. Seit der Gründung des Netzwerks hatten die Expansion der Massenmedien einerseits und die wachsende An‐ zahl ehemaliger Studenten andererseits dazu geführt, dass die Datenflut bis zum Tod des Professors immer weiter angeschwol‐ len war. »Verstehe, das ist also der Sinn dieses Archivs«, murmelte Asa‐ kawa. »Aber woher weißt du, dass wir den Namen der Person, nach der wir suchen, hier finden werden?« »Ich behaupte ja gar nicht, dass wir ihn mit Sicherheit hier ent‐ decken werden, aber es besteht eine sehr realistische Chance. Denk doch mal daran, was sie zustande gebracht hat! Du weißt selbst, dass es nur wenige Menschen gibt, deren Fähigkeiten Gedanken‐ fotografie einschließen. Und deshalb gibt es mit Sicherheit nur extrem wenige Menschen mit übernatürlichen Kräften, die tatsäch‐ lich ohne jede technische Hilfe Bilder auf einen Fernsehschirm projizieren können. Das muss eine absolut außergewöhnliche Ga‐ be sein. So was fällt immer auf, selbst wenn man es nicht will. Mir erscheint es unwahrscheinlich, dass Miura ein solcher Fall durch die Lappen gegangen sein könnte.« Asakawa musste einräumen, dass sie tatsächlich eine realistische Chance hatten, und er machte mit doppeltem Eifer weiter. Dann blickte er plötzlich auf. »Warum überprüfe ich eigentlich das Jahr
1960?« »Erinnerst du dich nicht an die Szene mit dem altmodischen Fernseher? Das Modell in dem Video stammt wahrscheinlich aus den Fünfziger‐ oder frühen Sechzigerjahren.« »Aber das heißt nicht notwendigerweise...« »Halt die Klappe. Mit absoluter Sicherheit wissen wir schließlich gar nichts, oder?« Asakawa rügte sich selbst, weil er so gereizt war, aber angesichts des Aktenbergs und der knappen Zeit gab es gute Gründe dafür. Hätte er ruhiges Blut bewahrt, wäre das noch unnatürlicher gewe‐ sen. In diesem Augenblick stachen Asakawa die Wörter »Insel Oshi‐ ma« ins Auge. »Treffer!«, rief er triumphierend. Überrascht wandte sich Ryuji um. Er trat neben ihn, um die Akte selbst in Augenschein zu neh‐ men. Motomachi, Insel Oshima. Teruko Tsuchida, Alter: 37 Jahre. Der Um‐ schlag trug den Poststempel des 14. Februar 1960, und eine Schwarzweißfotografie zeigte auf einem schwarzen Hintergrund einen an einen Blitz erinnernden Riss. Darunter stand eine Notiz: Testperson schickte dieses Bild mit einer Bemerkung, in der ein kreuz‐ förmiges Bild angekündigt wurde. Keinerlei Anzeichen dafür, dass der Umschlag geöffnet und der Filmstreifen ausgetauscht worden ist. »Was hältst du davon?« Vor Aufregung zitternd, wartete Asa‐ kawa auf Ryujis Antwort. »Möglich wärʹs schon. Schreib für alle Fälle den Namen und die Adresse auf.« Dann wandte sich Ryuji wieder seinen Akten zu. Da er so schnell eine mögliche Kandidatin gefunden hatte, fühlte sich Asakawa jetzt besser, doch zugleich ärgerte er sich etwas über Ryujis nüchterne Reaktion. Zwei Stunden vergingen, ohne dass sie auf eine weitere Frau von
der Insel Oshima gestoßen wären. Die meisten Einsendungen wa‐ ren seinerzeit aus Tokio oder der Region Kanto gekommen. Tet‐ suaki Miura kam, um ihnen Tee anzubieten. Bevor er wieder ver‐ schwand, gab er noch ein paar Kommentare ab, die durchaus sar‐ kastisch gemeint sein konnten. Allmählich ermüdeten ihre Hände vom Umblättern der Seiten. In zwei Stunden hatten sie nicht ein‐ mal ein Jahr bewältigt. Schließlich hatte es Asakawa irgendwie geschafft, die Akten des Jahres 1960 durchzusehen. Als er mit dem nächsten Jahrgang be‐ gann, warf er zufällig einen Blick auf Ryuji, der reglos im Schnei‐ dersitz auf dem Boden saß und seine Nase tief in eine Akte ge‐ steckt hatte. Ist er etwa eingepennt, der Idiot? Asakawa streckte eine Hand aus, doch in diesem Moment gab Ryuji ein leises Stöhnen von sich. »Ich bin verdammt hungrig. Wie wärʹs, wenn du uns was zu es‐ sen und Oolong‐Tee holen würdest? Bei der Gelegenheit kannst du gleich in der ʹPetit Pension Soleilʹ Zimmer reservieren lassen.« »Wie bitte?« »Das ist der Gasthof von Miura junior.« »Ist mir bekannt. Aber warum sollen wir dort übernachten?« »Hast du keine Lust?« »Wir haben keine Zeit, in Pensionen herumzuhängen.« »Selbst wenn wir sie gleich finden sollten, gibtʹs keine Möglichkeit, sofort auf die Insel zu fahren. Heute kommen wir hier nicht mehr weg. Findest du nicht, dass es da gescheiter wäre, wenn wir hier schla‐ fen und für morgen Kräfte sammeln?« Asakawa empfand eine unbeschreibliche Aversion bei der Aus‐ sicht, die Nacht mit Ryuji in dem Gasthof verbringen zu müssen. Da er aber keine Alternative sah, gab er schließlich nach. Er kaufte etwas zu essen, um anschließend Tetsuaki Miura mitzuteilen, das sie die Nacht über bleiben würden. Um sieben Uhr abends gönnten sie sich eine kurze Ruhepause,
um zu essen und den Tee zu trinken. Asakawas Arme schmerzten, seine Schultern waren steif. Da sei‐ ne Augen brannten, nahm er die Brille ab. Jetzt musste er die Ak‐ ten so dicht vors Gesicht halten, dass er sie mit der Zunge berüh‐ ren konnte. Aus Angst, dass ihm möglicherweise etwas entgehen könnte, bot er seine ganze Konzentrationsfähigkeit auf, und das erschöpfte ihn noch mehr. Um neun Uhr durchbrach Ryuji die Stille in dem Archiv mit ei‐ nem schrillen Schrei. »Endlich, ich habʹs! Da hatte sie sich also ver‐ steckt!« Asakawa setzte sich gespannt neben Ryuji, schob die Brille wie‐ der auf die Nase und las. Insel Oshima, Sashikiji. Sadako Yamamura, Alter: 10 Jahre. Der Um‐ schlag trug den Poststempel vom 29. August 1958, darunter stand Miuras Notiz: Testperson schickte diesen Umschlag mit der Vorhersage, dass auf dem Foto ihr eigener Name auftauchen würde. Sie ist zweifellos die Richtige. Angeheftet war eine Fotografie, auf der auf schwar‐ zem Hintergrund in Weiß das japanische Schriftzeichen für »yama« — »Berg« — zu sehen war. Asakawa hatte dieses Schriftzeichen schon mal irgendwo gesehen. »Das... Das ist es.« Seine Stimme zitterte. Auf dem Video folgte auf die Szene mit dem Ausbruch des Miharayama das Schriftzei‐ chen für »Berg«, das mit diesem identisch war. Aber das war noch nicht alles: In der zehnten Szene erschien auf dem Bildschirm des altmodischen Fernsehers das Schriftzeichen für »sada«, und der Name der Frau war Sadako Yamamura. »Na, was glaubst du?«, fragte Ryuji. »Keine Frage, das ist sie.« Endlich konnte Asakawa sich wieder Hoffnungen machen. Ihm schoss der Gedanke durch den Kopf, dass sie es trotz der knappen Zeit vielleicht — aber wirklich nur vielleicht — doch schafften, das
Rätsel zu lösen.
Zehn Uhr 15. Ryuji und Asakawa saßen auf einem Schnellboot, das gerade den Hafen von Atami verlassen hatte. Zwischen dem Festland und der Insel Oshima gab es keine regelmäßige Fährver‐ bindung, sodass sie den Wagen auf dem Parkplatz neben dem Hotel Atami Korakuen hatten stehen lassen müssen. Mit der Lin‐ ken umklammerte Asakawa immer noch den Zündschlüssel. Sie sollten in einer Stunde auf Oshima ankommen. Es war sehr windig und sah nach Regen aus. Die meisten Passagiere hatten sich nicht auf das Deck hinausgewagt, sondern kauerten auf ihren reservierten Sitzplätzen. Asakawa und Ryuji hatten es zu eilig ge‐ habt, um sich nach dem Wetter zu erkundigen, bevor sie ihre Tik‐ kets kauften, doch es sah so aus, als wäre ein Taifun im Anzug. Wegen des starken Seegangs schaukelte das Boot heftiger als nor‐ malerweise. Während er an einem Becher mit heißem Kaffee nippte, ließ Asa‐ kawa noch einmal Revue passieren, was bisher geschehen war. Er war sich nicht sicher, ob sie sich dazu gratulieren konnten, dass sie so weit gekommen waren, oder ob sie sich Vorwürfe machen soll‐ ten, weil sie nicht früher auf die Informationen über Sadako Ya‐ mamura gestoßen und zur Insel Oshima aufgebrochen waren. Ent‐ scheidend war gewesen, dass sie eines erkannt hatten: Der schwarze Vorhang, der blitzartig über die Videobilder flackerte, rührte vom Lidschlag eines Auges her. Die Bilder waren nicht von einer Kamera, sondern durch den Sinnesapparat eines Menschen aufgenommen worden. Die betreffende Person hatte ihre ganze Energie auf den Videorekorder in der Blockhütte B‐4 gelenkt, während dieser aufnahm, und so kein Gedankenfoto, sondern ein Gedankenvideo geschaffen. Das zeugte zweifellos von schier un‐
ermesslichen übersinnlichen Kräften. Da Ryuji angenommen hatte, dass eine solche Person aus der Masse hervorstechen würde, hatte er sich auf die Suche nach ihr gemacht. Schließlich hatte er ihren Namen herausgefunden. Es war zwar nicht sicher, dass Sadako Yamamura tatsächlich hinter der Sache steckte, aber möglich. Nun waren sie unterwegs nach Oshima, um ihrem Verdacht nachzugehen. Die See war rau, sodass das Boot heftig schlingerte. Asakawa spürte eine böse Vorahnung in sich aufsteigen. Vielleicht war es keine so gute Idee gewesen, dass sie beide nach Oshima fuhren. Was, wenn sie der Taifun außer Gefecht setzte und sie die Insel nicht mehr verlassen konnten? Wer würde dann seine Frau und seine Tochter retten? Asakawas Zeit war fast abgelaufen. Um 22 Uhr 04 am übernächsten Tag. Er wärmte sich die Hände an seinem Kaffeebecher und sank tie‐ fer in seinen Sitz. »Ich kann es immer noch nicht glauben. Dass ein Mensch wirklich zu so was in der Lage ist.« »Es spielt keine Rolle, ob du es glaubst oder nicht«, erwiderte Ryuji, ohne den Blick von seiner Landkarte von Oshima zu heben. »Es ist eine Tatsache. Alles, was wir sehen, ist ein kleiner Teil eines Phänomens, das sich ständig verändert.« Ryuji ließ die Landkarte auf die Knie sinken. »Du kennst doch die Urknalltheorie, oder? Sie glauben, dass das Universum vor zwanzig Milliarden Jahren durch eine gewaltige Explosion ent‐ standen ist. Ich kann die Gestalt des Universums mathematisch zum Ausdruck bringen, von seiner Entstehung bis heute. Alles durch Differenzialgleichungen. Die meisten Phänomene im Uni‐ versum kann man durch Differenzialgleichungen ausdrücken. Mit ihrer Hilfe kann man ausrechnen, wie das Universum vor hundert Millionen Jahren ausgesehen hat, vor zehn Milliarden Jahren, so‐ gar eine Sekunde oder eine Zehntelsekunde nach der anfänglichen
Explosion. Aber egal, wie weit wir zurückgehen, egal, wie wir es auszudrücken versuchen, wir werden nie wissen, wie alles bei Null ausgesehen hat, genau zum Zeitpunkt der Explosion. Und da ist noch was. Wie wird unser Universum einmal enden? Dehnt es sich aus oder schrumpft es? Siehst du, wir kennen weder Anfang noch Ende: Alles, worüber wir etwas wissen können, ist das, was dazwischen liegt. Und mit dem Leben ist es ähnlich, mein Freund.« Ryuji knuffte Asakawa in den Arm. »Ich schätze, du hast Recht. Ich kann mir Fotoalben anschauen und eine ganz gute Vorstellung davon bekommen, wie ich mit drei Jahren oder als neugeborenes Baby war.« »Siehst du? Aber was war vor der Geburt, was kommt nach dem Tod? Das sind Dinge, die wir einfach nicht wissen.« »Nach dem Tod? Wenn man stirbt, ist alles zu Ende; man ver‐ schwindet einfach. Das ist alles, oder?« »Bist du schon mal gestorben?« »Nein, noch nicht.« Asakawa schüttelte ernst den Kopf. »Tja, dann weißt du es auch nicht, oder? Du weißt nicht, wohin du nach dem Tod gehst.« »Willst du damit sagen, es gibt so was wie Geister?« »Schau mal, ich kann nur so viel sagen: Ich weiß es nicht. Aber wenn man über den Anfang des Lebens spricht, wird alles viel leichter, wenn man annimmt, dass es eine Seele gibt. Von dem ganzen Geschwafel der modernen Molekularbiologen klingt nichts plausibel. Was sagen sie eigentlich? ʹMan nehme jeweils hunderte von über zwanzig verschiedenen Aminosäuren, gebe sie in eine Schüssel, verrühre sie miteinander, füge ein wenig elektrische E‐ nergie hinzu — und voila, fertig ist das Protein, der Baustein des Lebens.ʹ Erwarten sie wirklich, dass wir das glauben? Sie könnten uns genauso gut erzählen, wir seien alle Kinder Gottes — das wäre
zumindest einfacher zu schlucken. Ich glaube allerdings, dass bei der Geburt eine völlig andere Energieform eine Rolle spielt; fast so, als ob eine Art Willen dahintersteckt.« Ryuji schien sich ein wenig näher zu Asakawa herüberzubeugen, doch dann wechselte er plötzlich das Thema. »Übrigens war es nicht zu übersehen, dass dich das Werk des Professors drüben in der Gedenkhalle gefesselt hat. Ist dir noch was Interessantes auf‐ gefallen?« Nun, da Ryuji davon sprach, erinnerte sich Asakawa, dass er etwas zu lesen begonnen hatte. Gedanken haben Energie, und diese Energie... »Ich glaube, da stand was darüber, dass Gedanken Energie wä‐ ren.« »Was noch?« »Ich hatte keine Zeit, es zu Ende zu lesen.« »Tja, sehr bedauerlich. Wo es doch gerade spannend wurde. Ich habe wirklich über den Professor lachen müssen — wie er voll‐ kommen ernsthaft Sachverhalte darlegte, die für normale Men‐ schen schockierend waren. Im Grunde hat er gesagt, dass Ideen Lebensformen mit eigener Energie sind.« »Wie bitte? Du meinst, der Gedanke in meinem Kopf kann sich in ein Lebewesen verwandeln?« »Ja, so ungefähr.« »Dass ist aber eine ziemlich extreme Vermutung.« »Allerdings, aber so ähnliche Vorstellungen gibt es schon seit der Zeit vor Christi Geburt. Man kann das auch als eine andere Theo‐ rie vom Leben betrachten.« Damit schien Ryuji plötzlich das Interesse an der Unterhaltung zu verlieren und vertiefte sich wieder in die Landkarte. Asakawa verstand, was Ryuji gesagt hatte, zumindest das meiste davon. Trotzdem konnte er nicht zustimmen. Wir können vielleicht
nicht wissenschaftlich erklären, was wir sehen. Aber es ist real, und weil es real ist, müssen wir es als reales Phänomen betrachten und behandeln, auch wenn wir seine Ursache und Wirkung nicht verstehen. Zu allererst müssen wir uns darauf konzentrieren, das Rätsel der Zauberformel zu lösen und unsere Haut zu retten, nicht darauf, alle Geheimnisse des Ü‐ bernatürlichen zu lüften. Ryuji mochte ein paar gute Argumente haben. Doch Asakawa brauchte definitive Antworten von ihm. Je weiter sie auf See hinausfuhren, desto heftiger schlingerte das Boot, und Asakawa begann zu fürchten, er könnte seekrank wer‐ den. Das flaue Gefühl in seinem Magen schien immer unange‐ nehmer zu werden. Ryuji, der eingenickt war, hob plötzlich den Kopf und schaute nach draußen. Das Meer spie dunkelgraue Wel‐ len von sich, und in der Ferne konnten sie vage die Konturen einer Insel erkennen. »Weißt du, Asakawa, etwas macht mir Sorgen.« »Was denn?« »Die vier jungen Leute, die in der Blockhütte übernachtet haben. Warum haben sie nicht versucht, die Zauberformel anzuwenden?« Das schon wieder. »Ist das nicht klar? Sie haben das Video nicht ernst genommen.« »Tja, habe ich auch gedacht. Das erklärt, warum sie sich einen Ulk daraus gemacht haben, die Zauberformel zu überspielen. Aber ich musste gerade daran denken, wie ich damals auf der Ober‐ schule einen Ausflug mit dem Leichtathletikteam gemacht habe. Mitten in der Nacht kommt Saito ins Zimmer geplatzt. Du erin‐ nerst dich doch noch an Saito, oder? Der war nie so ganz da. Zu unserem Team gehörten zwölf Mann, und wir schliefen alle im gleichen Raum. Da kommt dieser Idiot mit klappernden Zähnen hereingestürmt und schreit: >Ich habe ein Gespenst gesehen!< Er hatte die Tür zum Waschraum aufgemacht und ein kleines Mäd‐ chen gesehen, das hinter dem Abfalleimer beim Waschbecken
kauerte und weinte. Was glaubst du, wie die anderen zehn Jungs reagiert haben — außer mir?« »Wahrscheinlich haben sie Saito halb geglaubt und sich halb ka‐ puttgelacht.« Ryuji schüttelte den Kopf. »So wäre es in einem Horrorfilm oder im Fernsehen. Zuerst nimmt keiner die Sache ernst, und dann wird einer nach dem anderen von dem Monster geschnappt, stimmtʹs? Aber im richtigen Leben ist es anders. Jeder Einzelne von ihnen, ohne Ausnahme, hat Saito geglaubt. Alle zehn. Und das nicht, weil sie besondere Angsthasen gewesen wären. Du könntest das mit jeder beliebigen Gruppe von Menschen auspro‐ bieren, und es würde das Gleiche dabei rauskommen. Angst ist auf der Instinktebene eine der Grundempfindungen von uns Men‐ schen.« »Du meinst also, es ist seltsam, dass die vier das Video nicht ernst genommen haben.« Während er zuhörte, was Ryuji erzählte, fiel Asakawa das Ge‐ sicht seiner Tochter ein, die beim Anblick der Dämonenmaske zu weinen begonnen hatte. Er dachte daran, wie verblüfft er darüber gewesen war — woher hatte die Kleine gewusst, dass die Dämo‐ nenmaske Furcht erregend sein sollte? »Hm. Die Szenen des Videos bilden keine zusammenhängende Handlung, und sie sind auch nicht besonders entsetzlich anzu‐ schauen. Daher glaube ich schon, dass es möglich ist, sie nicht ernst zu nehmen. Aber waren die vier nicht wenigstens beunru‐ higt? Was würdest du machen? Wenn dir jemand sagt, es würde dir das Leben retten, eine Zauberformel anzuwenden, hättest du dann nicht das Gefühl, du solltest es mal versuchen, auch wenn du nicht daran glaubst? Ich hätte erwartet, dass wenigstens einer der vier aus der Reihe getanzt wäre. Ich meine, selbst wenn er oder sie vor den anderen gute Miene zum bösen Spiel gemacht hätte — es
wäre doch trotzdem möglich gewesen, die Zauberformel nach der Rückkehr nach Tokio heimlich anzuwenden.« Asakawas ungutes Gefühl wurde stärker. Genau das Gleiche hatte er sich auch gefragt. Was, wenn die Zauberformel unmöglich zu befolgen ist? »Vielleicht wurde was Unmögliches von ihnen verlangt, und so haben sie sich eingeredet, sie würden ohnehin nicht daran glau‐ ben...« Asakawa fiel ein Beispiel ein. Wenn eine Frau, die ermordet worden war, der Welt der Lebenden eine Botschaft übermittelte, um jemanden dazu zu bringen, sie zu rächen, damit sie ihren Frie‐ den finden würde... >He, he.< Ich weiß, was du jetzt denkst. Was würdest du machen, wenn das der Fall wäre?« Asakawa fragte sich selbst: Wenn die Zauberformel eine Auffor‐ derung enthielt, jemand anderen umzubringen, wäre er dazu in der Lage? Könnte er einen Menschen töten, um sein Leben zu ret‐ ten? Er schüttelte heftig den Kopf. Hör auf, so einen Blödsinn zu den‐ ken. Im Moment konnte er nur beten, dass diese Sadako Yamamu‐ ra etwas wünschte, das jedermann erfüllen konnte. Die Umrisse der Insel wurden deutlicher; langsam kam der Kai im Hafen von Motomachi in Sicht. »Hör mal, Ryuji. Ich muss dich um einen Gefallen bitten.« Asa‐ kawa sprach eindringlich. »Was denn?« »Wenn ich es nicht rechtzeitig schaffe... das heißt...« Asakawa brachte das Wort »sterben« nicht über die Lippen. »Wenn du am nächsten Tag die Zauberformel entschlüsselst, könntest du... Weißt du, meine Frau und meine Tochter...« Ryuji fiel im ins Wort. »Natürlich. Überlass das nur mir. Ich ü‐ bernehme die Verantwortung dafür, dass Frauchen und Töchter‐ chen gerettet werden.« Asakawa zog eine seiner Visitenkarten hervor und schrieb eine
Telefonnummer auf die Rückseite. »Ich schicke die beiden zu den Eltern meiner Frau in Ashikaga, bis wir den Fall gelöst haben. Das ist die Nummer. Ich gebe sie dir schon mal, bevor ich es noch ver‐ gesse.« Ryuji steckte die Karte ein, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen. In diesem Augenblick ertönte eine Durchsage, dass das Boot im Hafen von Motomachi auf Oshima angelegt habe. Asakawa wollte gleich vom Ufer aus zu Hause anrufen und seine Frau überreden, für ein paar Tage zu ihren Eltern zu fahren. Er konnte nicht sagen, wann er nach Tokio zurückkehrte. Wer wusste schon, was gesche‐ hen würde? Vielleicht lief seine Zeit hier auf Oshima ab. Den Ge‐ danken, dass seine Familie allein und verängstigt in der kleinen Wohnung hockte, konnte er nicht ertragen. Während sie die Landungsbrücke hinunterliefen, fragte Ryuji: »Sag mal, Asakawa: Bedeuten einem eine Frau und ein Kind wirk‐ lich soviel?« Das war eine sehr untypische Frage für Ryuji. Asakawa musste unwillkürlich lachen, als er erwiderte: »Das findest du eines Tages auch noch heraus.« Doch in Wirklichkeit glaubte Asakawa nicht, dass Ryuji zu einem normalen Familienleben in der Lage war.
7 Auf der Mole von Oshima schien der Wind stärker zu sein als am Kai von Atami. Die Wolken jagten von West nach Ost, und die donnernden Wellen ließen den Hafendamm aus Beton unter ihren Füßen erzittern. Der Regen war nicht so heftig, doch vom Wind verwehte Tropfen schlugen Asakawa ins Gesicht. Da keiner von ihnen daran gedacht hatte, einen Schirm mitzunehmen, duckten sie sich tief, steckten die Fäuste in die Taschen und eilten die Mole entlang zum Ufer. Einige Insulaner waren gekommen, um die Touristen zu begrü‐ ßen. Sie hielten Werbeschilder für Mietwagen, Gasthöfe und Pen‐ sionen in die Höhe. Asakawa sah sich nach dem Mann um, der sie abholen sollte. Bevor sie in Atami an Bord gegangen waren, hatte er sich von seinem Büro die Telefonnummer des Kontaktmannes auf Oshima geben lassen, den er dann angerufen hatte. Es war ein gewisser Hayatsu, den er gebeten hatte, ihm bei einer Geschichte zu helfen, an der er gerade arbeite. Keine Zeitung hatte eine richti‐ ge Redaktion auf Oshima; stattdessen wurden Insulaner als Lokal‐ reporter beschäftigt. Diese hielten die Augen offen, und wann immer ihnen etwas Ungewöhnliches oder Bemerkenswertes auf‐ fiel, informierten sie die Hauptredaktion. Natürlich wurde von ihnen auch erwartet, Journalisten von dort zu unterstützen, wenn diese für eine Reportage vom Festland herüberkamen. Hayatsu hatte einmal fest für Asakawas Zeitung gearbeitet. Inzwischen war er pensioniert und lebte auf Oshima. Sein Einsatzgebiet umfasste nicht nur Oshima, sondern auch die weiter südlich gelegenen In‐ seln. Wenn etwas passierte, brauchte er nicht zu warten, bis je‐ mand aus der Hauptredaktion auftauchte: Er hatte die Erlaubnis, selbst einen Bericht zu schreiben und einzureichen. Da Hayatsu über vielfältige Kontakte auf der Insel verfügte, hoffte Asakawa, er
konnte ihnen helfen, bei ihren Nachforschungen schneller voran‐ zukommen. Hayatsu hatte eingewilligt und Asakawa am Telefon verspro‐ chen, ihn an der Mole abzuholen. Da sie einander noch nicht kann‐ ten, hatte Asakawa ihm erklärt, dass sie zu zweit waren, und sich kurz beschrieben. »Verzeihung, sind Sie Asakawa Kazuyuki?«, erklang hinter ihm eine Stimme. »Äh, ja. Das bin ich.« »Ich bin Hayatsu, Ihr Mann auf der Insel.« Freundlich lächelnd hielt Hayatsu ihm einen Schirm hin. »Entschuldigen Sie, dass wir Sie so überfallen. Wir sind Ihnen wirklich sehr dankbar für Ihre Hilfe.« Während sie zu Hayatsus Wagen eilten, stellte Asakawa auch Ryuji vor. Der Wind heulte, und sie konnten einander kaum ver‐ stehen, bis sie den Schutz des Fahrzeugs erreicht hatten. Für einen Kleinwagen war es ziemlich geräumig. Asakawa nahm auf dem Beifahrersitz Platz, Ryuji auf der Rückbank. »Sollen wir zuerst zu Takashi Yamamura fahren?«, fragte Hayat‐ su und legte die Hände aufs Lenkrad. Trotz seiner über sechzig Jahre hatte er noch volles, wenn auch fast völlig weißes Haar. »Sie meinen, Sie haben Sadako Yamamuras Familie bereits ge‐ funden?« Am Telefon hatte Asakawa erklärt, er wolle etwas über eine Per‐ son namens Sadako Yamamura herausfinden. »Unser Ort ist sehr klein, und es gibt nur ein Haus, in dem eine Familie Yamamura wohnt. Als Sie den Namen genannt haben, wusste ich gleich Bescheid. Die Yamamuras sind Fischer und ver‐ mieten im Sommer Zimmer an Touristen. Was müssen Sie sonst noch über sie wissen? Wenn Sie möchten, kann ich vereinbaren, dass Sie dort übernachten. Sie können auch bei mir wohnen; das
würde schon gehen, aber es ist leider ziemlich eng und ärmlich. Wie es Ihnen lieber ist.« Bei diesen Worten lachte Hayatsu. Er und seine Frau lebten allein, doch er hatte die Wahrheit gesagt: Ihr Haus war kaum groß genug für sie beide. Asakawa drehte sich zu Ryuji um. »Mir ist es gleich.« Hayatsu steuerte auf den Bezirk Saki an der Südküste der Insel zu. Er versuchte zwar, schnell zu fahren, doch die kurvenreiche, schmale Straße, die rings um die Insel führte, zwang ihn immer wieder zu einem gemäßigten Tempo. Fast alle Fahrzeuge, die ih‐ nen begegneten, waren Kleinwagen. Als die Flora zu ihrer Rechten den Blick freigab, sahen sie das Meer, und das Geräusch des Win‐ des veränderte sich. Das schwerfällig wogende Meer war dunkel; es spiegelte den bleiernen Himmel wider, doch die Wellen trugen weiße Schaumkronen. Ohne sie wäre es unmöglich gewesen, die Linie zwischen Meer und Himmel oder auch zwischen Meer und Land auszumachen. Alles war eintönig grau. Im Radio waren Tai‐ funwarnungen durchgegeben worden, und die ganze Welt schien allmählich dunkel zu werden. An einer Gabelung hielten sie sich rechts und fuhren beinahe gleich danach durch einen Hain von Kamelien, die zu einem Tunnel gewachsen waren. Die Kamelien, jahrelang Wind und Regen ausgesetzt, hatten knorrige Stämme, und ein Teil der grotesk geformten Wurzeln lag frei. Die Büsche bildeten eine dichte, vom Regen schlüpfrige Masse, und als sie hindurchfuhren, hatte Asakawa plötzlich das Gefühl, sie tauchten in den Schlund eines riesigen Monsters ein. »Wir sind fast da. Der Bezirk Saki liegt direkt vor uns«, sagte Hayatsu. »Aber ich glaube nicht, dass wir Sadako dort finden. Am besten fragen Sie wohl Takashi Yamamura nach ihr. Soweit ich weiß, ist er ein Cousin von Sadakos Mutter.« »Wie alt wird denn diese Sadako sein?«, fragte Asakawa.
Ryuji hatte sich schon vor einiger Zeit auf dem Rücksitz zusam‐ mengekauert, ohne ein Wort zu sagen. »Hm. Ich bin ihr nie begegnet, aber ich schätze, wenn sie noch lebt, muss sie heute etwa einundvierzig oder zweiundvierzig sein.« Wenn sie noch lebt? Warum hatte Hayatsu sich so ausgedrückt?, überlegte Asakawa. Schließlich waren ihm ihre derzeitigen Le‐ bensumstände nicht bekannt. Wenn sie den ganzen Weg nach Os‐ hima gefahren waren und hier nichts über Sadako herausfanden, waren sie in einer Sackgasse. Plötzlich schossen Asakawa Zweifel und Bedenken durch den Kopf. Unterdessen hielt der Wagen vor einem zweistöckigen Haus, an dem ein Schild hing: VILLA YAMAMURA. Vor ihnen fiel das Land sanft zum Meer hin ab — bei klarem Wetter war es mit Si‐ cherheit wunderschön hier. In der Ferne konnten sie vage den dreieckigen Umriss einer weiteren Insel erkennen. Das musste Toshima sein. »Bei schönem Wetter kann man dort draußen Niijima, Shikineji‐ ma und sogar Kozushima sehen«, sagte Hayatsu und zeigte stolz auf das stürmische Meer hinaus.
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»Du sagst, du sammelst Informationen über diese Frau, aber wo‐ nach suchst du genau?« Asakawa hatte Yoshino gerade erklärt, dass Sadako sich 1965 einer Theatertruppe angeschlossen hatte. Das war 25 Jahre her. Der Kerl muss Witze machen, dachte Yoshino bitter. Es war schwer genug, die Spur eines Verbrechers zu verfolgen, die nur ein Jahr alt war, doch diese Fährte war quasi uralt. »Wir brauchen jede Information über sie, die du auftreiben kannst. Wir möchten wissen, was für ein Mensch sie ist, was sie zurzeit macht, welche Hoffnungen und Pläne sie hat. Solche Sa‐ chen.« Yoshino konnte nur die Zähne zusammenbeißen und den Kopf schütteln. Er klemmte sich den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr und zog sich einen Notizblock heran, damit er mitschrei‐ ben konnte. »Also gut. Wie alt war die Frau damals?« »Achtzehn. Gleich nach ihrem Abschluss an der Oberschule von Oshima ist sie nach Tokio gegangen und einer Theatertruppe na‐ mens Spielfreude beigetreten.« »Oshima?« Yoshino hörte auf zu kritzeln und runzelte die Stirn. »Hör mal, von wo aus rufst du an?« »Ich bin im Bezirk Saki auf Oshima.« »Und wann willst du zurückkommen?« »Ziemlich bald.« »Dir ist doch klar, dass ein Taifun im Anmarsch ist.« Natürlich wussten sie von dem Taifun, aber es war interessant, dass Yoshino sich bemüßigt fühlte, ihn darauf hinzuweisen. Asa‐ kawas Zeit lief am Abend des übernächsten Tages ab. Vielleicht würden sie auf Oshima festsitzen und die Insel vorher nicht ver‐ lassen können.
»Hast du die Wettervorhersage und den Seewetterbericht ge‐ hört?« Asakawa wusste immer noch nicht, womit sie auf Oshima rechnen mussten. »Ich kenne keine Einzelheiten, aber die Vorhersage ist nicht gut, so viel ist sicher.« »Wird die Fährverbindung eingestellt?« »Wer weiß, vielleicht.« Asakawa war mit seinen Nachforschungen nach Sadako Yama‐ mura vollauf beschäftigt gewesen und hatte die Nachrichten über den Taifun nicht verfolgt. Seit ihrer Ankunft an der Hafenmole von Oshima hatte er eine düstere Vorahnung verspürt, doch nun, da er gefragt hatte, ob die Fährverbindung eingestellt werde, ver‐ stärkte sich sein ungutes Gefühl noch. Asakawa verstummte, ohne jedoch den Telefonhörer aus der Hand zu legen. »He, komm schon. Ich habe ein Problem: Ich weiß immer noch nicht genau, wonach du eigentlich suchst.« Damit lenkte Yoshino das Gespräch energisch wieder auf das ursprüngliche Thema. »Du hast da also diese Frau, wie heißt sie noch? Sadako Yamamura. Ihre Lebensgeschichte bis zum Alter von achtzehn Jahren hast du schon überprüft. Ist das richtig?« »Ja, und das ist so ziemlich alles.« Noch während seiner Antwort spürte Asakawa in seiner Telefonzelle die überwältigende Wucht von Wind und Wellen. »Kannst du irgendwas über sie rausfinden? Außer, dass sie sich der Theatertruppe Spielfreude angeschlossen hat?« »Ich sehe mal, was ich tun kann. Du sagst, diese Sadako ist 1947 auf Oshima geboren, und ihre Mutter hieß Shizuko. Warte, lass mich das kurz aufschreiben. Shizuko Yamamura, und sie war 1947 zweiundzwanzig Jahre alt. Direkt nach der Geburt hat sie ihre Tochter Sadako bei deren Großmutter gelassen, die die Kleine großziehen sollte. Sie selbst ist nach Tokio gegangen. Stimmt das
so?« »Ja. Die Frage ist, warum hat sie das Kind auf der Insel gelassen? Da war ein Mann. Ich sage dir seinen Namen, schreib ihn dir auf. Heihachiro Ino. Damals war er Psychologieprofessor. Er und Shi‐ zuko Yamamura waren ein Liebespaar.« »Das heißt also, Sadako ist das Kind von Shizuko und Heihachi‐ ro Ino?« »Dafür habe ich keine Beweise, aber es sieht ganz so aus.« »Ich nehme an, die beiden waren nicht verheiratet.« »Stimmt. Heiha‐ chiro Ino hatte bereits Frau und Kinder.« Natürlich war es ein heimliches Verhältnis gewesen. Yoshino hielt inne, um an der Spitze seines Bleistifts zu lecken. »Gut, so weit habe ich alles. Wei‐ ter.« »1950 kam Shizuko plötzlich zu Besuch in ihr Heimatstädtchen, zum ersten Mal seit drei Jahren. Sie nahm sich wieder ihrer Toch‐ ter Sadako an und lebte eine Weile dort. Gegen Ende des Jahres verschwand sie aber wieder und nahm Sadako mit. Wohin sie ge‐ gangen sind und was sie in den folgenden fünf Jahren gemacht haben, wissen wir nicht. Mitte der Fünfzigerjahre kamen Shizukos Cousin, der hier auf der Insel wohnt, dann Gerüchte zu Ohren, Shizuko sei berühmt geworden.« »Ist was Bestimmtes vorgefal‐ len?« »Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass der Cousin diese Gerüchte über Shizuko gehört hat. Als ich ihm meine Visitenkarte gegeben habe, auf der steht, dass ich von der Zeitung komme, hat er gesagt: ʹOh, wenn Sie Journalist sind, müssen Sie doch alles über sie wis‐ sen.ʹ Also, nach seinen Worten hatten Shizuko und Sadako, Mutter und Tochter, von 1950 bis etwa 1955 mit etwas zu tun, das sie zu den Lieblingen der Massenmedien gemacht hat. Aber es war schwierig, aus der Lokalpresse etwas über ihre Aktivitäten zu er‐ fahren; dort wurde selten über so etwas berichtet.« »Das ist also
alles? Das soll ich für dich herausfinden?« »Ja. Du hastʹs erfasst.« »Woher soll ich wissen, wonach ich überhaupt suche?« »Warte, es gibt noch was. 1956 ist Shizuko nach Hause zurückgekehrt und hat Sadako mitgebracht. Die Verwandten hier sagen allerdings, sie sei irgendwie ein ganz anderer Mensch gewesen. Immer wenn ihr Cousin sie gefragt habe, was in Tokio geschehen sei, habe sie keine Antwort gegeben. Nicht lange danach hat sie sich in den Krater des Miharayama gestürzt — Selbstmord. Damals war sie einund‐ dreißig.« »Ich soll also herausfinden, warum Shizuko sich umgebracht hat. Oder?« »Ja, bitte«, erwiderte Asakawa und verbeugte sich höflich mit dem Telefonhörer in der Hand. Wenn sich herausstellen sollte, dass Ryuji und er tatsächlich auf dieser Insel gestrandet waren, dann war Yoshino seine einzige Hoffnung. Allmählich begann er zu bereuen, dass sie so unüberlegt hergekommen waren. In einem so kleinen Dorf wie diesem hier im Bezirk Saki hätte Ryuji auch allein die nötigen Nachforschungen anstellen können. Es wäre zweifellos effektiver gewesen, wenn er selbst in Tokio geblieben wäre und abgewartet hätte, was Ryuji auf der Insel herausfand. Dann hätten er und Yoshino die Spuren weiterverfolgen und ge‐ meinsam begutachten können. »Gut. Ich tue mein Bestes, aber vielleicht brauche ich Hilfe.« »Ich rufe Oguri an und bitte ihn, dir ein paar Leute zu schicken.« »Oh, ja. Mach das.« Es war gut und schön, so etwas zu sagen, doch Asakawa glaubte nicht, dass es klappen würde. Die Redaktion versank immer in Arbeit, und der Chefredakteur hatte nie genug Leute, um alles Nötige zu erledigen. Undenkbar, dass er für ein Projekt wie dieses Mitarbeiter abstellen würde. »Also, nachdem ihre Mutter sich umgebracht hatte, blieb Sadako
auf Oshima. Der Cousin ihrer Mutter hat sie finanziell unterstützt. Sein Haus ist heute eine Pension für Sommerurlauber.« Asakawa beschloss, nicht zu erwähnen, dass er und Ryuji in die‐ ser Pension wohnten. Das brauchte Yoshino nicht zu wissen. »Im folgenden Jahr ging Sadako in die vierte Klasse, als sie prophezeite, dass der Miharayama ausbrechen würde. Dadurch wurde sie in der Schule regelrecht berühmt. Das war 1957, und pünktlich an dem Tag, den Sadako vorausgesagt hatte, brach der Miharayama aus.« »Hey, beeindruckend. Die Kleine sollten wir hier haben, damit sie uns die Erdbeben voraussagt.« Auf der Insel verbreitete sich damals das Gerücht, dass die Vor‐ hersagen des Mädchens eintrafen, und es kam auch Professor Mi‐ uras Organisation zu Ohren — was zu erwarten gewesen war. »Nachdem sie mit Erfolg den Vulkanausbruch prophezeit hatte, baten die Insulaner Sadako oft, ihnen die Zukunft vorauszusagen, aber sie hat jedes Mal abgelehnt. Offenbar hat sie behauptet, das könne sie nicht.« »War das nur Bescheidenheit?« »Tja, weiß ich nicht. Jedenfalls ist sie direkt nach ihrem Ab‐ schluss an der Oberschule nach Tokio abgereist. Die Verwandten, die sich die ganzen Jahre um sie gekümmert hatten, bekamen nur eine einzige Postkarte von ihr. Darauf schrieb sie ihnen, sie habe eine Aufnahmeprüfung bei der Theatertruppe Spielfreude gemacht und sei angenommen worden. Von dem Tag an haben sie kein Wort mehr von Sadako gehört. Niemand auf der Insel weiß, wo sie ist oder was sie macht.« »Mit anderen Worten, von der Zeit an ist unser einziger Anhalts‐ punkt für die Suche nach ihr, dass sie einer Theatertruppe namens Spielfreude beigetreten ist.« »Ich fürchte ja.«
»Na gut. Lass mich alles wiederholen, um sicherzugehen, dass ich weiß, was du von mir willst. Du möchtest, dass ich herausfin‐ de, wodurch Shizuko Yamamura die Massenmedien so begeistert hat und warum sie in den Vulkan gesprungen ist. Dann soll ich herausbekommen, wohin ihre Tochter gegangen ist und was sie gemacht hat, nachdem sie sich Spielfreude angeschlossen hat. An‐ ders ausgedrückt, du willst Informationen über die Mutter und über die Tochter.« »Genau.« »Was ist wichtiger?« »Wie meinst du das?« »Soll ich zuerst Nachforschungen über die Mutter anstellen oder über die Tochter? Dir bleibt nicht mehr viel Zeit.« Natürlich war die dringendste Frage, was mit Sadako geschehen war, nachdem sie verschollen war. »Fang mit der Tochter an.« »Verstanden. Ich statte der Theatertruppe gleich morgen früh einen Besuch ab.« Asakawa schaute auf die Uhr. Es war 18 Uhr. Der Proberaum im Theater musste noch geöffnet sein. »Hör zu, Yoshino. Warte nicht bis morgen früh. Versuch mal, dich heute Abend noch darum zu kümmern.« Yoshino stieß einen Seufzer aus und nickte. »Komm, Asakawa, gib mir eine Chance. Ich habe auch noch meine Arbeit zu erledi‐ gen. Heute Abend muss ich noch einen ganzen Haufen Berichte zu Ende schreiben. Ich erledige das morgen früh als Erstes.« Yoshino brach ab. Es musste immer alles nach seinem Kopf gehen; so war er eben. »He, ich bitte dich um einen wichtigen Gefallen, klar? Ich kann nicht herumtrödeln. Ich weiß, dass du Fristen einhalten musst, aber übermorgen läuft die entscheidendste Frist meines Lebens ab.«
Asakawa wusste, dass er es nicht eindringlicher hätte sagen kön‐ nen. Jetzt konnte er nur noch Yoshinos Antwort abwarten. »Okay, okay, wenn du darauf bestehst. Dann versuche ich, noch heute Abend was herauszufinden, aber ich kann dir nichts ver‐ sprechen.« »Tut mir Leid, dass ich so hartnäckig bin, aber ich zähle auf dich.« Zum Zeichen des Respekts verbeugte Asakawa sich erneut. Dann wollte er sich verabschieden. »Halt, leg nicht auf! Ich muss dich noch was fragen. Es ist wich‐ tig.« »Was denn?« »Welche Verbindung besteht zwischen den Bildern, die du auf dem Video gesehen hast, und dieser Sadako Yamamura?« Asakawa atmete tief durch. »Hör mal, selbst wenn ich dir das sage, wirst du es mir nicht glauben.« »Komm schon, stell mich auf die Probe.« »Die Bilder sind nicht mit einer Videokamera aufgenommen worden.« Asakawa machte eine lange Pause, um Yoshino reichlich Zeit zu lassen zu begreifen, was das bedeutete. Dann fuhr er fort: »Was ich gesehen habe, waren Bilder, die durch die Bewegungen von Sadakos Augen aufgenommen worden sind. Es sind Bilder, die sie im Kopf hatte. Bruchstücke, die ihr durch den Sinn gingen; sonst besteht kein Zusammenhang zwischen ihnen.« »Wie bitte?« Yoshino hatte es vorübergehend die Sprache ver‐ schlagen. »Siehst du. Ich wusste, dass du es nicht glauben würdest.« »Du meinst, es sind Gedankenbilder? So was?« »Es ist nicht genau das Gleiche wie die Gedankenbilder, die man auf Fotos sieht. Sadako projiziert die Bilder auf einen Fernseh‐ schirm. Im Unterschied zu den üblichen Gedankenfotografien ent‐ stehen so eher Gedankenfernsehbilder.«
Yoshino lachte schallend, als er den konstruierten Begriff »Ge‐ dankenfernsehbilder« hörte. Asakawa nahm ihm das jedoch nicht besonders übel, denn er konnte sich vorstellen, wie Yoshino zu‐ mute war. Mit stummem Neid lauschte er dem unbeschwerten Gelächter. 21 Uhr 40. Yoshino stieg die Treppe von der U‐Bahn‐Station Yot‐ suya Sanchome der Marunouchi‐Linie hinauf. Als er auf die Straße trat, geriet er in einen heftigen Windstoß, und er griff rasch nach seinem Hut, damit er nicht davonflog. Mit beiden Händen am Hut ließ er den Blick umherschweifen, um sich zu orientieren. In kür‐ zester Zeit hatte er gefunden, wonach er suchte. Neben einem Schild mit der Aufschrift »Theatertruppe Spiel‐ freude« führte eine Treppe abwärts. Von unten konnte Yoshino verschiedene Stimmen hören, männliche und weibliche, die laut Dialoge rezitierten und heiseren Gesang zum Besten gaben. Die Truppe sollte bald öffentlich auftreten und würde wahrscheinlich weiterproben, bis abends die letzte Bahn fuhr. Auch wenn Yoshino mit der Künstlerwelt nichts am Hut hatte, wusste er doch genug vom Theater, um das zu vermuten. Normalerweise arbeitete er mit Kriminalfällen; daher kam er sich beim Besuch des Proberaums einer mittelgroßen Theatertruppe sehr merkwürdig vor. Seine Schritte dröhnten auf den stählernen Treppenstufen, die zum Proberaum hinunterführten. Wenn sich herausstellen sollte, dass sich von den langjährigen Mitgliedern der Truppe niemand mehr an Sadako Yamamura erinnerte, würde dieser Teil seiner Nachforschungen im Sande verlaufen, und die Hälfte des Lebens dieser Frau mit den erstaunlichen, übersinnlichen Fähigkeiten würde sich in geheimnisvollem Dunkel verlieren. Die Theater‐ truppe Spielfreude war 1957 gegründet worden, Sadako 1965 dazu‐ gestoßen. Vier der Gründungsmitglieder waren heute noch aktiv, darunter ein gewisser Uchimura, Autor und Regisseur.
Yoshino reichte einem Schauspielschüler von Anfang zwanzig, der an der Tür stand, seine Karte und bat ihn, Uchimura zu holen. »Da ist ein Reporter, der Sie sprechen möchte«, rief der junge Mann dem Regisseur mit lauter, theatralischer Stimme zu. Uchi‐ mura saß an einer Wand und verfolgte den Verlauf der Proben. Nun wandte er sich überrascht zu ihnen um. Als er begriff, dass jemand von der Presse da war, kam er lächelnd herüber, um Yos‐ hino zu begrüßen. Jede Theatertruppe, die ums Überleben kämpf‐ te, begegnete der Presse mit höflichem Respekt. Schließlich führte bereits eine kleine Meldung im Kulturteil dazu, dass mehr Karten verkauft wurden. Zurzeit probte Spielfreude für eine Aufführung, deren Premiere in knapp einer Woche stattfinden sollte. War der Reporter hier, um darüber zu berichten? Da die großen Zeitungen ihnen nie viel Beachtung geschenkt hatten, wollte Uchimura diese Gelegenheit nutzen und den Reporter freundlich empfangen. Sobald er jedoch den wahren Grund für Yoshinos Besuch erfuhr, verlor er das Interesse und ließ durchblicken, dass er gerade zu beschäftigt sei, um sich mit den Fragen eines Reporters zu befas‐ sen. Er schaute sich im Proberaum um, bis sein Blick an einem eher klein gewachsenen Schauspieler in den Fünfzigern hängen blieb. »Shin, komm mal her«, zitierte er den Mann in lautem, her‐ rischem Ton herbei. Nein, nicht wirklich herrisch, seine Stimme klang eher wie die einer nörgelnden Frau. Der kräftige, muskulöse Yoshino zuckte unwillkürlich zusammen. Alles hier war so anders als das, woran er gewöhnt war. »Shin, du bist vor dem zweiten Akt nicht dran. Warum kommst du nicht her und unterhältst dich mit diesem Herrn über Sadako Yamamura? Du erinnerst dich doch an sie, nicht wahr? Dieses schreckliche, unangenehme Mädchen.« Die Stimme des herbeigerufenen Schauspielers hatte Yoshino schon viele Male in Westernfilmen gehört, die ins Japanische syn‐
chronisiert worden waren. Shin Arima war weniger für seine Büh‐ nenauftritte berühmt als für seine stimmlichen Darbietungen. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Theatertruppe. »Sadako Yamamura?« Arima legte die Hand an seine Stirn, über der sich das Haar lichtete, und versuchte, sich an etwas zu erin‐ nern, dass 25 Jahre zurücklag. »O ja«, sagte er schließlich, »die Sa‐ dako Yamamura.« Bei diesen Worten wurde seine Stimme ein we‐ nig lauter. So, wie er »die« gesagt hatte, schien die Frau einen tie‐ fen, bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen zu haben. »Du erinnerst dich an sie? Gut. Ich stecke mitten in den Proben, also geh du doch mit dem Herrn nach oben in mein Büro. Dort könnt ihr euch unterhalten.« Bei diesen Worten verbeugte Uchi‐ mura sich der Form halber. Dann wandte er sich um und ging zu einigen Schauspielern hinüber, die weitergeprobt hatten. Als er wieder auf seinem Stuhl Platz nahm, hatte er erneut die Attitüde des gebieterischen, allmächtigen Theaterregisseurs aufgesetzt. Die beiden Männer traten durch eine Tür mit der Aufschrift »Ge‐ schäftsleitung — Büro«, und Arima dirigierte Yoshino zu einem Ledersofa und Sesseln. »Nehmen Sie Platz.« Dass dies das Büro der Geschäftsleitung war, bedeutete, dass es einen Direktor gab. Das wiederum hieß, die Theatergruppe war wie ein kommerzielles Unternehmen organisiert. Offenbar fungierte der Regisseur, mit dem sie soeben gesprochen hatten, auch als Direktor. »Was treibt Sie bei dem Wetter vor die Tür?« Arima hatte ein rotes Gesicht, auf dem Schweißperlen glitzerten, doch in seinen Augen leuchtete ein warmes Lächeln. Der Direktor schien einer der Menschen zu sein, die eine Unter‐ haltung dazu nutzten, die Absichten des Gesprächspartners zu erkunden und abzuschätzen. Arima dagegen wirkte eher wie je‐ mand, der Fragen offen beantworten würde, ohne etwas zurück‐ zuhalten. Informationen zu sammeln konnte für einen Reporter
entweder angenehm oder eine Qual sein, je nachdem, was sein Gegenüber für ein Mensch war. »Tut mir Leid, dass ich Sie belästige. Ich weiß, dass Sie gerade sehr beschäftigt sind«, sagte Yoshino, während er sich setzte und sein Notizbuch herausholte. Mit einem Stift in der Hand nahm er die typische Haltung eines Journalisten ein. »Ich hätte nie erwartet, heute und in meinem Alter noch einmal den Namen Sadako Yamamura zu hören. Sie hat sich seit Jahren nicht mehr blicken lassen.« Arima schien sich bei diesen Worten an seine Jugend zu erinnern. Offenbar dachte er wehmütig an die Zeit, in der er noch Energie und Courage genug gehabt hatte, die kommerzielle Theatertruppe zu verlassen, bei der er angestellt gewesen war, und gemeinsam mit ein paar Freunden ein eigenes Ensemble zu gründen. »Vorhin, als Sie versucht haben, sich an sie zu erinnern, haben Sie gesagt: >die Sadako Yamamura<. Was haben Sie damit ge‐ meint?« »Als sie zu unserer Gruppe gestoßen ist... warten Sie, wann war das? Ich schätze, es muss ein paar Jahre nach der Gründung gewe‐ sen sein. Damals gab es viele erfolgreiche Ensembles, und jedes Jahr wollten eine Menge Leute Mitglieder werden. Aber sie war irgendwie seltsam, diese Sadako.« »Was meinen Sie mit seltsam?« »Hm, lassen Sie mich überlegen.« Arima stützte das Kinn in die Hand und dachte einen Augenblick nach. Was hatte diese Frau an sich gehabt, das ihm den Eindruck vermittelt hatte, sie wäre selt‐ sam und anders? »War an ihr irgendetwas besonders auffällig?« »Nein. Wenn man sie nur angeschaut hat, schien sie eine ganz gewöhnliche Frau zu sein. Sie war ein bisschen größer als die mei‐ sten, aber still und schien immer für sich zu sein.«
»Für sich? Wie das?« »Hm... Normalerweise haben wir eine Gruppe von Schauspiel‐ schülern, die hier und da aushelfen, ein quirliger Haufen, aber Sadako hat nie wirklich dazugehört. Sie haben sie nicht etwa aus‐ geschlossen; sie hat es selbst so gewollt.« Aber so jemanden gab es in jeder Gruppe. Das konnte nicht der Grund dafür sein, dass er Sadako für merkwürdig gehalten hatte. »Können Sie sie kurz für mich charakterisieren?« »Ich würde sagen, sie war unheimlich.« Das Wort »unheimlich« benutzte Arima, ohne zu zögern. Uchimura hatte sie als »schreck‐ liches, unangenehmes Mädchen« bezeichnet. Unwillkürlich ver‐ spürte Yoshino eine Art Mitgefühl mit der damals 18‐Jährigen, die aller Welt unheimlich gewesen war, und er stellte sich eine ziem‐ lich groteske Gestalt vor. »Warum hat Sadako so unheimlich auf Sie gewirkt?« Wenn Arima es sich recht überlegte, war es seltsam. Diese Schauspielschülerin war nur für ein Jahr bei der Truppe gewesen, und das vor 25 Jah‐ ren — warum war der Eindruck, den er von ihr gehabt hatte, heu‐ te noch so lebendig? Da war etwas, das noch an seiner Erinnerung rüttelte. Ja, es war etwas Besonderes vorgefallen, bei dem Sadako eine Rolle gespielt hatte. »Ach«, sagte er, »jetzt erinnere ich mich. Es war genau hier, in diesem Raum.« Arima schaute sich im Büro des Direktors um. Ihm fiel wieder ein, dass der Raum damals als Zentrale gedient hatte, und er konnte sich noch genau vorstellen, wie die Möbel gestanden hatten. »Wissen Sie, seit wir das En‐ semble gegründet haben, war unser Proberaum immer hier, aber am Anfang hatten wir noch nicht so viel Platz. Deshalb diente die‐ ser Raum, in dem wir uns befinden, als Zentrale. Da drüben gab es eine Reihe Schließfächer, und ungefähr hier stand ein Raumteiler aus Milchglas. Drüben, wo der Fernseher steht, hatten wir damals
auch schon einen.« Arima deutete hinüber. »Sie hatten damals schon einen Fernseher?« Yoshino kniff die Augen zusammen und hielt seinen Stift bereit. »Ja. Eines von den alten Schwarzweißgeräten.« »Gut. Und weiter?«, drängte Yoshino. »An jenem Abend nach den Proben waren fast alle anderen schon gegangen. Ich war noch hier und bastelte an ein paar Zeilen herum, die mir einfach nicht richtig gelingen wollten. Ich kam her‐ ein, um sie zu üben. Ich stand dort, sehen Sie?« Arima zeigte zur Tür. »Als ich ins Zimmer schaute, sah ich durch die Milchglas‐ scheibe den Fernseher flimmern. Ich dachte mir, ach, da sieht je‐ mand fern. Verstehen Sie? Es besteht kein Zweifel daran, dass ich das gesehen habe. Ich habe durch die Milchglasscheibe geschaut. Ich konnte nicht erkennen, was auf dem Bildschirm lief, aber ich habe das flimmernde, schwarzweiße Licht gesehen. Es war kein Ton dazu zu hören. Im Zimmer war es fast dunkel, und als ich um den Raumteiler herumging, bemerkte ich, dass jemand vor dem Fernseher stand. Es war Sadako. Doch als ich zu ihr kam, fiel mir auf, dass der Fernseher gar nicht an war. Natürlich dachte ich, sie hätte ihn genau in dem Augenblick abgeschaltet. Da habe ich mir noch nichts dabei gedacht, aber...« Arima schien nicht weiterspre‐ chen zu können. »Bitte erzählen Sie weiter«, sagte Yoshino. »Als ich die Hand ausstreckte, um die Tischlampe einzuschalten, sagte ich zu Sadako so etwas wie, sie solle sich beeilen, sonst wür‐ de sie die letzte Bahn verpassen. Aber die Lampe ging nicht an. Als ich nachschaute, stellte ich fest, dass der Stecker nicht einge‐ stöpselt war. Ich bückte mich, um ihn in die Steckdose zu stecken. Dabei fiel mir auf, dass auch der Fernseher nicht eingestöpselt war.« Arima hatte den Stecker des Fernsehers auf dem Boden liegen gesehen und gespürt, wie es ihm kalt den Rücken hinunterlief. Er
konnte sich noch lebhaft daran erinnern. »Sie meinen, das Fernsehgerät war nicht angeschlossen, aber Sie haben den Bildschirm flimmern gesehen?«, vergewisserte sich Yoshino. »Genau. Mich überlief ein Schauder. Ich schaute auf und sah, wie Sadako vor dem nicht angeschlossenen Fernseher stand. Unsere Blicke trafen sich nicht; sie starrte konzentriert auf den Bildschirm, und ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen.« Diese Begebenheit hatte bei Arima offenbar einen tiefen Eindruck hinterlassen, da er nach all den Jahren noch so detailliert davon berichten konnte. »Haben Sie irgendjemandem davon erzählt?« »Ja, natürlich. Ich habe es Uchimura gesagt, dem Direktor, den Sie vorhin kennen gelernt haben. Und Shigemori habe ich es er‐ zählt.« »Shigemori? Wer ist das?« »Er war der eigentliche Gründer der Theatertruppe. Uchimura ist der stellvertretende Leiter.« »Verstehe. Und was hat Shigemori zu der Geschichte gesagt?« »Er spielte damals gerade Mah‐Jongg, aber dafür, dass er Sadako vorher nie beachtet hatte, schien ihn ziemlich zu interessieren, was ich ihm erzählte. Es stellte sich heraus, dass er schon seit einiger Zeit ein Auge auf sie geworfen hatte; das hatte nur keiner gemerkt. An jenem Abend verkündete er unter dem Einfluss von reichlich Alkohol, er werde Sadako in ihrer Wohnung überraschen. Wirres Zeug hat er geredet. Er werde zu ihr fahren. Das war mehr als das Gefasel eines Besoffenen. Schließlich blieb Shigemori aber in dem Mah‐Jongg‐Salon, als wir anderen alle gingen. Ich weiß nicht, ob er an dem Abend wirklich zu Sadakos Wohnung gefahren ist oder nicht; ich habe es nie herausgefunden. Aber so ist das gelaufen, und am nächsten Morgen kam Shigemori wie immer in den Pro‐
beraum. Er wirkte nur irgendwie verändert. Als wäre er ein ande‐ rer Mensch. Er war sehr still und in sich gekehrt. Er saß nur auf seinem Stuhl, war ganz blass und rührte sich kaum. Dann starb er, als wäre er einfach eingeschlafen und nie mehr aufgewacht.« Yoshinos Kopf fuhr in die Höhe. »Er starb? Woran? Was war die Todesursache?« »Herzversagen. Heute nennt man es plötzliches Herzversagen. Damals standen wir kurz vor einer Aufführung, und alle haben vermutet, dass er sich überanstrengt hatte, weil er dafür alles noch fertig bekommen wollte.« »Es wusste also niemand, ob zwischen Sadako und Shigemori etwas gelaufen war. Ich meine, ein Verhältnis.« Anma nickte langsam. Allein wegen der Geschichte mit Shige‐ mori hätte er sich auch nach all den Jahren noch lebhaft an Sadako erinnert. »Was war dann mit ihr? Nachdem das passiert ist, meine ich.« »Sie ist gegangen. Ich schätze, sie muss ein, zwei Jahre bei unse‐ rer Truppe gewesen sein. Länger nicht.« »Was hat sie gemacht, nachdem sie fortgegangen ist?« »Tut mir Leid, das weiß ich nicht.« »Was machen denn andere Schauspieler, wenn sie die Truppe verlassen?« »Diejenigen, denen wirklich etwas am Theater liegt, gehen mei‐ stens zu einer anderen Truppe.« »Und Sadako Yamamura? Hat sie das auch gemacht?« »Sie war nicht dumm und keine schlechte Schauspielerin. Nur zu einer echten Persönlichkeit, die andere beeindrucken konnte, fehl‐ te ihr das eine oder andere. Na ja, und von persönlichen Bezie‐ hungen hängt in unserer Welt nun einmal alles ab. Sie war einfach nicht der richtige Typ für diesen Beruf.« »Sie glauben also, es ist gut möglich, dass sie sich ganz aus der
Theaterwelt verabschiedet hat.« »Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen.« »Gibt es irgendjemanden, der wissen könnte, wohin sie ver‐ schwunden ist?« »Tja, vielleicht ist der eine oder andere der Schauspielschüler, die damals mit ihr hier waren, mit ihr in Kontakt geblieben.« »Kennen Sie diese Leute? Ihre Namen und Adressen?« »Mal sehen. Warten Sie.« Arima stand auf und ging zum Schreib‐ tisch hinüber, wo er einen Aktenordner aus einem Stapel zog. Er enthielt die Lebensläufe, die alle Bewerber vor der Aufnahmeprü‐ fung einreichen mussten. »Es waren insgesamt acht, einschließlich Sadako. Acht Schau‐ spielschüler, die 1965 zur Truppe gekommen sind«, sagte Arima und wedelte mit den acht Papieren. »Darf ich mal sehen?« »Ja, sicher.« Auf jeden Lebenslauf waren zwei Fotografien geheftet, eine Por‐ trät‐ und eine Ganzkörperaufnahme. Yoshino versuchte, sich zu‐ sammenzureißen, als er Sadakos Lebenslauf zur Hand nahm und durchlas. Er betrachtete auch die Fotos. »Vorhin haben Sie sie als unheimlich beschrieben, nicht wahr?«, fragte Yoshino einigerma‐ ßen verblüfft, denn zwischen der Vorstellung, die er sich nach A‐ rimas Schilderung von Sadako Yamamura gemacht hatte, und dem, was er auf den Fotos sah, bestand ein himmelweiter Unter‐ schied. »Unheimlich? Das war wohl ein Scherz. Ich habe noch nie eine Frau mit einem so schönen Gesicht gesehen.« Plötzlich fragte sich Yoshino verwundert, warum er gesagt hatte, Sadako habe ein schönes Gesicht und nicht einfach, sie sei eine schöne Frau. Gewiss, sie hatte ebenmäßige Gesichtszüge, aber ir‐ gendwie fehlte ihnen das typisch Weibliche. Das mütterliche We‐ sen einer Frau schien ihr abzugehen. Doch auf dem Ganzkörperfo‐ to konnte Yoshino sehen, dass ihre schmalen Hüften und die
schlanken Fesseln sehr feminin waren. Nun, damals war sie schön gewesen, aber das war 25 Jahre her, und die Zeit mochte so an dem Eindruck, den sie hinterlassen hatte, genagt haben, dass man sich nur noch daran erinnerte, wie »unheimlich« oder »unange‐ nehm« sie als Mensch gewesen war. Doch eigentlich hätte man sagen müssen: »Sie ist eine bildhübsche Frau.« Yoshino studierte die Fotografie eingehend und mit wachsendem Interesse, um he‐ rauszufinden, was genau an dieser Frau unheimlich wirkte.
Yoshino stand an der Kreuzung von Omotesando und Aoyama‐ dori und schaute noch einmal in sein Notizbuch. »Sugi Sanso, 6‐1 Minami Aoyama.« Das war vor 25 Jahren Sadakos Adresse gewe‐ sen. Yoshino war enttäuscht, jedoch nicht überrascht, als er unter der Adresse in diesem Viertel kein einfaches Mietshaus finden konnte. Die Straße machte einen Bogen, und das Gebäude neben dem Nezu‐Museum hatte die Nummer 6‐1. Dort hätte das billige Apartmenthaus Sugi Sanso stehen sollen, doch wie Yoshino be‐ fürchtet hatte, befand sich an der Stelle ein hübsches, rotes Ziegel‐ gebäude mit Eigentumswohnungen. Ich hätte mir denken können, dass sie unmöglich zu finden ist. Wie kann ich erwarten, dass Sadakos Spuren nach 20 Jahren ganz einfach zu verfolgen sind? Den einzigen möglichen Anhaltspunkt boten nun noch die vier Personen, die zur gleichen Zeit wie Sadako der Theatertruppe als Schauspielschüler beigetreten waren. Insgesamt waren es damals sieben gewesen, doch nur von vieren waren die Adressen bekannt. Wenn keiner von ihnen etwas über Sadakos Verschwinden wuss‐ te, hatte Yoshino ihre Spur verloren. Bei einem Blick auf die Uhr stellte er fest, dass es erst kurz nach elf Uhr vormittags war. Eilig betrat er ein nahe gelegenes Geschäft für Bürobedarf, von wo aus er ein Fax zu dem Kontaktmann nach Oshima schicken konnte, um Asakawa mitzuteilen, was er bislang herausgefunden hatte. Zur gleichen Zeit waren Asakawa und Ryuji bei Hayatsu, dem Mitarbeiter der Zeitung auf Oshima. »Komm schon, Asakawa, bleib locker«, blaffte Ryuji, da Asakawa unablässig im Raum auf‐ und abschritt. »Ich weiß, dass du nervös
bist, aber jetzt lass es mal gut sein. Keine Panik.« Windgeschwindigkeiten, Tiefdruckgebiete, Millibarwerte, Wind von Nord‐Nordost, sintflutartige Regenfälle und stürmische Böen — unaufhörlich kamen neue Meldungen über den Taifun herein, die Asakawa überhaupt nicht in den Kram passten. Taifun Nummer 21, der sich gerade 150 Kilometer südlich von Kap Omaezaki befand, bewegte sich mit zwanzig Kilometern pro Stunde und Windgeschwindigkeiten von über 140 Kilometern pro Stunde in nord‐nordöstlicher Richtung. Bei diesem Tempo würde der Sturm bei Einbruch der Dunkelheit die Gewässer vor der Süd‐ küste Oshimas erreichen. Die Wetterlage und die Bedingungen auf See würden vermutlich nicht vor Donnerstag wieder normal sein, so jedenfalls die Vorhersage Hayatsus. »Donnerstag!« Asakawa konnte an nichts anderes denken. Meine Frist läuft am Donnerstagabend um zehn ab. Das ist morgen. Wenn der Taifun sich doch nur beeilen und vorbeiziehen oder sich in ein tropisches Tiefdruckgebiet verwandeln und sich auflösen würde! »Wer weiß, wann das nächste Schiff oder Flugzeug die Insel ver‐ lassen kann?« Asakawa wusste nicht, wie er seinem Ärger Luft machen sollte. Warum sind wir überhaupt hergekommen?, dachte er. Naja, es hat keinen Zweck, jetzt darüber zu jammern. Wenn ich damit erst anfange, höre ich nicht mehr auf. Ich hätte mir das Vi‐ deo nicht anschauen sollen. Ich hätte nicht versuchen sollen, eine Verbindung zwischen dem Tod von Tomoko Oishi und Shuichi Iwata herzustellen. Ich hätte nicht an dem fraglichen Tag mit dem Taxi nach Hause fahren sollen. Mist! Nichts von alledem hätte ich tun sollen! »He, beruhig dich doch. Es bringt nichts, dich bei Hayatsu zu beschweren«, sagte Ryuji und fasste Asakawa ungewöhnlich sanft am Arm. »Überleg mal. Es kann gut sein, dass die Austreibung der
bösen Geister nur hier auf der Insel durchgeführt werden kann. Das ist ganz klar eine Möglichkeit. Warum haben die vier Schwachköpfe den Fluch nicht ernst genommen? Vielleicht konn‐ ten sie es sich nicht leisten, nach Oshima zu fahren. Vielleicht steckt das dahinter. Du solltest es so sehen, dass der Taifun ein Segen ist. Dann geht es dir besser.« »Das wissen wir erst, wenn wir herausgefunden haben, was es mit dem Fluch auf sich hat«, erwiderte Asakawa und schob Ryujis Hand fort. Beim Anblick der beiden erwachsenen Männer, die so einen Wirbel um diesen Fluch machten, schauten Hayatsu und seine Frau Fumiko einander nur erstaunt an. Asakawa spürte, dass sie sich über ihn lustig machten. »Was ist denn so komisch?«, fragte er und wollte auf sie zuge‐ hen, doch Ryuji packte ihn noch fester am Arm als zuvor. »Ganz ruhig. Es bringt nichts, wenn du dich aufregst.« Angesichts von Asakawas Ärger begann der gutherzige Hayatsu schon, sich per‐ sönlich dafür verantwortlich zu fühlen, dass wegen des Taifuns der Schiffsverkehr eingestellt worden war. Vielleicht hatte er auch nur Mitleid mit dem gestrandeten Asakawa. Er konnte nur beten, dass die Nachforschungen Fortschritte machten. Jeden Augenblick musste nun ein Fax aus Tokio kommen, und es schien, dass Asa‐ kawa so verärgert war, weil er darauf warten musste. Hayatsu fragte sich, was er tun konnte, um die Situation zu entschärfen. »Hatten Sie mit ihren Nachforschungen bisher Erfolg?«, fragte er freundlich, um Asakawa zu besänftigen. »Ja, ich glaube schon.« »Nicht weit von hier wohnen noch ein paar Leute, mit denen Shizuko Yamamura in der Kindheit befreundet war. Wenn Sie möchten, könnte ich sie bitten herüberzukommen, damit Sie mit ihnen sprechen können. Der alte Gen ist bei dem Wetter bestimmt nicht zum Fischen hinausgefahren. Er wird nur ums Haus herum‐ lungern. Ich bin sicher, er würde gern herkommen und sich unter‐
halten.« Hayatsu dachte sich, wenn er Asakawa dazu bringen könnte, sich auf seine Nachforschungen zu konzentrieren, würde das seine Stimmung sicherlich heben. »Er ist inzwischen fast sieb‐ zig Jahre alt. Ich weiß nicht, ob er Ihnen alles sagen kann, was Sie wissen müssen, aber es wäre bestimmt besser, als herumzusitzen und gar nichts zu tun.« »Gut.« Schon wandte sich Hayatsu an seine Frau in der Küche: »Ruf den alten Gen an und bitte ihn rüberzukommen.« Gen unterhielt sich gern, und es bereitete ihm offensichtliches Vergnügen, über Shizuko Yamamura zu plaudern. Er war 68, drei Jahre älter als Shizuko. Beide waren von kleinauf Spielkameraden und später füreinander die erste große Liebe gewesen. Das Ge‐ dächtnis des Alten schien immer besser zu werden, je mehr er er‐ zählte und je mehr er gefragt wurde. Die Erinnerungen flogen ihm nur so zu. Über Shizuko zu reden bedeutete für ihn nichts anderes, als von seiner eigenen Jugend zu erzählen. Nach seinem unzusammenhängenden, manchmal tränenreichen Bericht über Shizuko hatten Asakawa und Ryuji beide das Gefühl, zumindest etwas über eine Seite dieser Frau erfahren zu haben. Zwar war ihnen bewusst, dass sie sich darauf vielleicht nicht allzu sehr verlassen konnten — die Leute neigen dazu, ihre Erinnerun‐ gen auszuschmücken, und Gen hatte immerhin von Ereignissen erzählt, die vor vierzig Jahren geschehen waren. Es war nicht aus‐ zuschließen, dass er Shizuko mit einer anderen Frau verwechselte. Doch sehr wahrscheinlich war das nicht. Seine erste große Liebe behielt ein Mann stets in besonderer Erinnerung. Der alte Gen war nicht gerade ein begnadeter Erzähler. Er drück‐ te sich oft umständlich aus und schweifte ab. Asakawa war es bald leid, ihm zuzuhören. Dann sagte Gen: »Ich sage Ihnen, Shizuko hat sich verändert... nachdem sie die Statue hochgezogen hat. Aus diesem Grund. Es war in einer Vollmondnacht.« Als er davon zu
erzählen begann, spitzten Asakawa und Ryuji die Ohren. Laut Gen hatte Shizuko irgendwelche unheimlichen Kräfte besessen, die eng mit dem Vollmond und dem Meer verbunden waren. In der fraglichen Nacht hatte Gen dicht neben Shizuko in einem Boot gesessen und gerudert. Es war ein Abend gegen Ende des Som‐ mers 1946. Shizuko war damals 21, Gen 24. Die brütende Sommerhitze lag noch in der Luft; sogar nach Ein‐ bruch der Dunkelheit hatte es nicht besonders abgekühlt, berichte‐ te Gen, der sich an Ereignisse, die 44 Jahre zurücklagen, erinnerte, als wären sie gestern geschehen. Gen hatte auf der Veranda gesessen, sich mit einem Fächer Küh‐ lung zugewedelt und auf das ruhige Meer hinausgeschaut, in dem sich der mondhelle Himmel spiegelte. Die friedliche Abendstim‐ mung wurde jäh unterbrochen, als Shizuko die Straße zu seinem Haus heraufgerannt kam. »Gen«, sagte sie, »hol dein Boot raus; ich möchte zum Fischen fahren.« Eine Begründung dafür lieferte sie ihm nicht. Als er fragte, antwortete sie nur: »So eine Mondnacht kriegen wir nie wieder.« Gen war so überrascht, dass er sie nur dümmlich ansah. Das schönste Mädchen auf Oshima war mit die‐ ser Bitte ausgerechnet zu ihm gekommen. »Jetzt sitz nicht da und guck blöd. Los, mach dein Boot klar. Schnell«, drängte Shizuko und gab ihm gar keine Chance, sich zu weigern. Aber Gen hatte es ohnehin nie geschafft, Shizuko ihre koketten Bitten abzuschlagen. »Fischen? Was willst du denn fischen?«, fragte er nur zurück. Shi‐ zuko schaute aufs Meer hinaus und erwiderte knapp: »Die Stein‐ statue des buddhistischen Asketen.« »Die Steinstatue des...?« Shizuko runzelte die Stirn und erklärte, dass an jenem Tag einige Soldaten der alliierten Besatzer die Steinstatue eines buddhisti‐ schen Asketen im Meer versenkt hätten. Bei diesen Worten klang sie traurig. An der Ostküste der Insel, an einer Stelle, die als »Asketenbucht«
bekannt war, lag eine kleine Höhle, die so genannte »Asketengrot‐ te«. Dort hatte im Jahre 699 ein Asket namens En no Ozune eine Buddhastatue geschaffen und in die Grotte gestellt. Dieser Ozune war sehr gebildet gewesen und hatte durch Rituale und asketische Disziplin die Kunst der Magie erlernt, mit deren Hilfe er sowohl Götter als auch Dämonen beherrschte und zwingen konnte, ihm zu gehorchen. Da seine Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, jedoch den weltlichen Machthabern Angst machte, nannten sie ihn einen Kriminellen und Störenfried und verbannten ihn ins Exil auf die Insel Oshima. Das war nun fast 1300 Jahre her. Ozune wählte selbst die Abgeschiedenheit der Grotte am Meer und praktizierte weiterhin seine mystischen Rituale. Außerdem brachte er den In‐ sulanern bei, das Land zu bestellen und zu fischen, sodass er als äußerst tugendhaft und gebildet verehrt wurde. Später wurde ihm gestattet, aufs Festland zurückzukehren und dort weiter als Asket zu leben. Man hatte ihn gezwungen, drei Jahre auf der Insel zu leben, doch es hielt sich die Legende, dass er während der Zeit ein Paar Eisenschuhe angezogen hatte und zum Gipfel des Fujiyama geflogen war. Die Insulaner begegneten ihm voller Ehrfurcht, und die Asketengrotte galt als spirituellster Ort auf der ganzen Insel. Jedes Jahr am 15. Juni wurde Ozune zu Ehren das so genannte Asketenfest gefeiert. Gemäß einem Regierungserlass bezüglich buddhistischer und shintoistischer Gottheiten entfernten kurz nach dem Zweiten Weltkrieg Soldaten der Besatzungsmächte En no Ozunes Statue aus der Grotte und versenkten sie im Meer. Diesen Frevel konnte Shizuko offenbar nicht tatenlos mit ansehen. Sie selbst glaubte fest an die Macht En no Ozunes; daher versteckte sie sich zwischen den Felsen und beobachtete, wo die Soldaten von ihrem Boot aus die Statue ins Meer warfen. Diese Stelle merkte sie sich. Gen traute seinen Ohren nicht, als er hörte, dass sie die Statue
aus dem Wasser holen wollten. Er wusste, dass er ein guter Fischer war, aber eine Statue hatte er noch nie aus dem Meer geholt. Da er jedoch immer noch heimlich in Shizuko verliebt war, konnte er ihr die Bitte nicht abschlagen. Selbst wenn sie keinen Erfolg hätten, stünde Shizuko damit in seiner Schuld; also machte Gen sein Boot für eine nächtliche Ausfahrt klar. Mehr als an alles andere dachte er daran, wie herrlich es sein würde, in einer mondhellen Nacht mit dieser schönen Frau draußen auf dem Meer zu sein. Bevor sie losfuhren, sprach Shizuko ein Gebet, in dem sie darum bat, dass sie die Statue finden würden. Zur Orientierung zündeten sie ein Feuer in der Asketenbucht an und ein weiteres an der Mi‐ mizuhana‐Spitze; dann ruderten sie hinaus. Beide kannten das Meer an dieser Stelle sehr genau. Sie wussten, wie der Meeres‐ grund aussah, wie tief das Wasser war und wo die Fischschwärme sich aufhielten. Nun war es jedoch Nacht, und so hell der Mond auch schien, sein Licht konnte die Wasseroberfläche nicht durch‐ dringen. Gen hatte keine Ahnung, wie Shizuko die Statue finden wollte. Er fragte sie, während er weiterruderte, aber sie gab keine Antwort. Sie berechnete nur ihre Position, indem sie sorgfältig die Feuer beobachtete, die sie am Ufer angezündet hatten. Wenn man in Richtung Küste schaute, konnte man vielleicht die Entfernung zwischen den beiden Feuern abschätzen und so ausrechnen, in welcher Position sie sich auf dem Meer befanden. Nachdem sie ein paar hundert Meter hinausgerudert waren, befahl Shizuko Gen anzuhalten. Sie kletterte ins Heck des Bootes, brachte das Gesicht dicht über die Wasseroberfläche und spähte ins dunkle Meer hinunter. »Dreh dich mal um«, wies sie Gen an. Da wusste Gen, was sie vorhatte, und sein Herz machte vor Aufregung einen Sprung. Shizuko stand auf und streifte sich die Kleider ab. Gen erinnerte sich, dass es ihm schier den Atem verschlagen hatte, als er den Stoff über ihren
Körper rascheln hörte. Doch sie war hinten im Boot, und er schau‐ te in die andere Richtung. Als Nächstes vernahm er ein Platschen, als sie ins Wasser tauchte, und seine Schulter wurde ein bisschen nass gespritzt. In diesem Augenblick drehte er sich um. Shizuko hatte ihr langes schwarzes Haar mit einem Tuch hochgebunden und hielt das Ende eines dünnen Seils zwischen den Zähnen. Nur ihr Kopf war zu sehen, während sie Wasser trat. Sie holte zweimal tief Luft, hob sich dabei ein wenig aus dem Wasser, dann tauchte sie zum Meeresgrund hinab. Ein paar Mal kam sie wieder an die Oberfläche, um keuchend nach Luft zu schnappen. Beim letzten Mal hatte sie das Seilende nicht mehr im Mund. Sie hatte es an der Statue festgebunden und sagte nun mit vor Erschöpfung zitternder Stimme: »Zieh sie hoch.« Gen krabbelte in den Bug des Bootes und begann, das Seil einzu‐ holen. Während er noch damit beschäftigt war, kletterte Shizuko wieder ins Boot, legte sich ihren Kimono um die Schultern und half Gen, die Statue heraufzuziehen. Als sie oben war, legten sie sie in die Mitte des Bootes und kehrten ans Ufer zurück. Dabei wechselten sie die ganze Zeit kein einziges Wort miteinander. Ir‐ gendetwas lag in der Luft, das sie vom Reden abhielt. Oh, Gen hatte durchaus Fragen, eine ganze Menge sogar, beispielsweise: Woher wusste Shizuko, wo sie die Statue dort unten auf dem Mee‐ resgrund finden würde, wo es vollkommen dunkel war? Gen fand das sehr merkwürdig. Drei Tage später fragte er Shizuko, doch sie erwiderte nur, die Statue habe sie vom Meeresgrund aus gerufen. Ihre grünen Augen hätten im Dunkel des tiefen Meeres gefunkelt und geleuchtet. Danach begann Shizuko zu klagen, dass sie sich körperlich nicht wohl fühle. Nicht nur wegen der Kopfschmerzen, unter denen sie schon immer gelitten hatte. Außer diesem eindeutigen Schmerz
schien sich in ihrem Kopf eine neue Empfindung auszubreiten. Gleichzeitig konnte sie nun hin und wieder flüchtig in die Zukunft schauen. Als Gen sie ausfragte, berichtete sie, wenn sie im Geiste flüchtige Bilder von der Zukunft sehe, nehme sie dabei stets einen süßen Zitrusduft wahr. Gens jüngere Schwester hatte in eine Fami‐ lie aus Odawara eingeheiratet. Kurz bevor sie starb, sagte Shizuko nicht nur ihren Tod voraus, sondern beschrieb genau, wie er sich vollziehen würde. Diese Visionen von der Zukunft hatte sie jedoch nur sporadisch. Sie konnte sie nicht bewusst oder willentlich her‐ vorrufen. Ohne Vorwarnung blitzte irgendein Bild vor ihrem gei‐ stigen Auge auf, und es schien kein festes Schema zu geben, das erklärte, warum sie manches voraussehen konnte und anderes nicht. Daher ließ sich Shizuko auch nie auf die Bitten der Leute ein, ihnen die Zukunft vorauszusagen. Obwohl Gen sie daran zu hindern versuchte, zog Shizuko im folgenden Jahr nach Tokio, wo sie Heihachiro Ino kennen lernte und von ihm schwanger wurde. Gegen Ende des Jahres kehrte sie nach Hause zurück und brachte ein kleines Mädchen zur Welt — Sadako. Asakawa und Ryuji hatten keine Ahnung, wie die Geschichte weiterging. So, wie Gen sich ausdrückte, schien er andeuten zu wollen, Shizuko habe sich wegen ihres Liebhabers Heihachiro Ino zehn Jahre später in den Krater des Miharayama gestürzt. Er schien zu glauben, ihr Tod wäre die natürliche Reaktion einer Lie‐ benden auf den Verlust ihrer Liebe gewesen, und sein Zorn dar‐ über war nicht zu überhören. Die einzig brauchbare Information, die Asakawa und Ryuji aus der ganzen langen Geschichte erhiel‐ ten, war, dass Sadakos Mutter die Zukunft voraussagen konnte und ihr diese Fähigkeit möglicherweise von der Buddhastatue des En no Ozune verliehen worden war. In diesem Augenblick begann das Faxgerät zu arbeiten. Heraus
kam ein Ausdruck des Porträtfotos von Sadako Yamamura, das Yoshino von der Theatertruppe Spielfreude bekommen hatte. Asakawa war seltsam bewegt. Zum ersten Mal wusste er, wie die Frau, die sie suchten, ausgesehen hatte. Er konnte sich in sie hin‐ einversetzen, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, und er merkte, wie er die Welt aus ihrem Blickwinkel betrachtete. Merk‐ würdigerweise machte ihm das gar keine Angst. Es war, wie mit einer Geliebten in einem dunklen Bett zusammenzusein, ohne ihr Gesicht sehen zu können, mit ihr gemeinsam zum Orgasmus zu kommen und dann einen schwachen Lichtstrahl auf ihr Gesicht und schließlich auf ihren ganzen Körper fallen zu sehen. So ein ähnliches Gefühl hatte er, als das Foto langsam aus dem Faxgerät auftauchte. Es war ein bisschen unscharf, doch sie konnten die hübschen, ebenmäßigen Gesichtszüge Sadako Yamamuras gut erkennen. »Sie ist eine Schönheit«, sagte Ryuji. Asakawa musste plötzlich an Mai Takano denken. Wenn er nur die Gesichter der beiden Frauen verglich, musste er sagen, dass Sadako noch um einiges schöner war. Und doch wirkte Mai femininer. Was aber war mit der »unangenehmen« Ausstrahlung, die Sadako angeblich hatte? Davon war auf der Fotografie nun wirklich nichts zu sehen. Gleichwohl bestand kein Zweifel daran, dass Sadako über Kräfte verfügte, die gewöhnliche Menschen nicht besaßen, und dass sie diese Kräfte benutzte, um ihre Mitmenschen zu beeinflussen. Die zweite Seite, die aus dem Faxgerät kam, enthielt Informatio‐ nen über Sadakos Mutter Shizuko. Es war die Fortsetzung der Ge‐ schichte, die Gen ihnen soeben erzählt hatte. 1947 war Shizuko Yamamura von zu Hause fortgegangen, nach Tokio. Dort brach sie eines Tages mit Kopfschmerzen zusammen und wurde ins Krankenhaus gebracht, wo sie einer der Ärzte Hei‐
hachiro Ino vorstellte, einem Psychologieprofessor. Inos Spezial‐ gebiet war die Suche nach einer wissenschaftlichen Erklärung für das Phänomen der Hypnose, doch nun entdeckte er in Shizuko jemanden mit verblüffenden übersinnlichen Visionen. Sein Inter‐ esse war geweckt, ja, er war so fasziniert, dass er seine bisherigen Forschungen aufgab und sich ganz auf sein neues Steckenpferd konzentrierte. Shizuko wurde sein Studienobjekt, und er widmete seine ganze Aufmerksamkeit der Erforschung übersinnlicher Kräf‐ te. Bald ging ihr Verhältnis über das zwischen Forscher und Ver‐ suchsperson hinaus, und obwohl Ino bereits Frau und Kind hatte, verliebte er sich in Shizuko. Gegen Ende des Jahres war Shizuko von Ino schwanger und kehrte in ihre Heimat zurück, wo sie eine Tochter, Sadako, zur Welt brachte. Shizuko ließ ihr Baby in Saki zurück und ging wieder nach Tokio, kehrte jedoch drei Jahre spä‐ ter erneut zurück, um Sadako zu sich zu holen. Von diesem Mo‐ ment an bis zu Shizukos Selbstmord im Krater des Miharayama waren sie und ihre Tochter nie mehr getrennt. In den Fünfzigerjahren sorgte das Team von Dr. Ino und Shizuko Yamamura für gewaltigen Wirbel in der Boulevardpresse, da sie die wissenschaftlichen Erklärungen für übersinnliche Kräfte liefer‐ ten. Vielleicht ließen sich manche Leute von Heihachiro Inos Ruf als Professor an einer renommierten Universität beeindrucken, doch viele glaubten von Anfang an bedingungslos an Shizukos übersinnliche Fähigkeiten. Die Massenmedien berichteten größten‐ teils eher wohlwollend als skeptisch darüber. Dennoch gab es auch vehemente Gegner, die das Ganze hartnäckig als Schwindel und Scharlatanerie bezeichneten. Die bedeutendsten akademi‐ schen Gruppierungen äußerten sich lediglich dahingehend, das Phänomen sei »fragwürdig«. Schließlich schlug die öffentliche Meinung um und wandte sich gegen Shizuko und Ino. Shizukos Demonstrationen ihrer übernatürlichen Kräfte bestan‐
den in erster Linie aus Vorführungen von außersinnlicher Wahr‐ nehmung, Gedankenfotografien, dem zweiten Gesicht und Weis‐ sagungen. Die Fähigkeit, Gegenstände zu bewegen, ohne sie zu berühren, besaß sie nicht. Eine Zeitschrift berichtete, sie könne allein dadurch, dass sie einen fest eingeschweißten Filmstreifen an die Stirn drückte, eine Gedankenfotografie von jeder beliebigen Gestalt produzieren, die ihr genannt wurde. Ebenso unfehlbar konnte sie sagen, was sich in einem verschlossenen Briefumschlag befand. Einer anderen Zeitschrift zufolge war Shizuko jedoch nichts als eine Betrügerin. Dort hieß es, jeder begabte Zauberer könne das Gleiche tun. So verlor die Öffentlichkeit mit der Zeit das Interesse an Shizuko und Ino. In dieser Phase erlebte Shizuko eine private Tragödie. 1954 brachte sie ein zweites Kind zur Welt, das vier Monate später starb. Es war ein Junge. Sadako, die damals sieben Jahre alt war, liebte ihr kleines Brüderchen sehr. Im folgenden Jahr, 1955, bot Heihachiro Ino den Medien eine öffentliche Demonstration von Shizukos außergewöhnlichen ü‐ bernatürlichen Kräften an. Zuerst wollte Shizuko nicht mitmachen. Sie fürchtete, es würde sie ablenken und sie könnte sich nicht ge‐ nügend konzentrieren, wenn ein großes Publikum sie beobachtete. Sie hatte Angst zu versagen. Ino bestand jedoch darauf und war nicht bereit nachzugeben. Er konnte es nicht mehr ertragen, dass die Presse sie als Scharlatane bezeichnete, und erklärte, sie könn‐ ten die Öffentlichkeit nur überzeugen, indem sie eindeutige Be‐ weise für Shizukos Fähigkeiten ablieferten. Ziemlich beklommen betrat Shizuko am fraglichen Tag unter den Blicken von fast einhundert Reportern und Akademikern die Ver‐ suchsbühne. Seit dem Tod ihres Sohnes litt sie an Depressionen — nicht die besten Voraussetzungen für diese Vorführung. Sie hatten beschlossen, die einfachsten Dinge zu demonstrieren. Shizuko
sollte lediglich die Zahlen auf zwei Würfeln nennen, die sich unter einem Bleibehälter befanden. Normalerweise wäre das kein Pro‐ blem für sie gewesen, doch in diesem Fall konnte Shizuko die Ge‐ danken der etwa einhundert Menschen lesen, die sie beobachteten, und sie wusste, alle hofften und erwarteten, dass sie versagen würde. Heftig zitternd brach sie zusammen und schrie: »Ich will das nicht! Bitte, zwing mich nicht, das zu machen!« Später hatte Shizuko eine einfache Erklärung dafür: Jeder Mensch, sagte sie, verfügt über enorme Willenskraft, und sie er‐ klärte ausdrücklich, dass sie lediglich mehr davon besaß als die meisten. Sich inmitten von einhundert Zuschauern zu befinden, die alle wollten, dass sie versagte, habe die freie Entfaltung ihres eigenen Willens behindert, also habe sie auch versagt. Heihachiro Ino fügte hinzu: »Es lag nicht nur an den einhundert Zuschauern, die sich dort versammelt hatten. Die Japaner versuchen grundsätz‐ lich, meine Forschungsergebnisse anzuzweifeln. Auf Betreiben der Medien hin tendiert die öffentliche Meinung in eine bestimmte Richtung, und die Massenmedien sagen nichts anderes, als die Mehrheit der Bevölkerung hören will. Ein Teufelskreis!« Mit die‐ ser vernichtenden Kritik an den Medien endete Inos groß ange‐ kündigte Vorführung von Shizukos Fähigkeiten. Für die Medienmacher war Inos Wutausbruch nichts als ein Ver‐ such, die Schuld an der fehlgeschlagenen Demonstration der Pres‐ se in die Schuhe zu schieben. So stellten sie es auch am folgenden Tag in den Zeitungen dar. Er ist ein Schwindler... Universitätsprofes‐ sor: ein Scharlatan... Ende einer fünfjährigen Debatte... Sieg der moder‐ nen Wissenschaft... Es erschien nicht ein einziger Artikel zu Shizu‐ kos und Inos Verteidigung. Gegen Ende jenes Jahres ließ sich Ino scheiden und zog sich aus dem Berufsleben an der Universität zurück. Zur gleichen Zeit nahm Shizukos Verfolgungswahn zu. Später reiste Ino weit in die
Berge und bemühte sich, selbst übersinnliche Kräfte zu erlangen, indem er sich betend unter einen Wasserfall stellte. Der Versuch schlug jedoch fehl. Ino kam lediglich mit einer Lungenentzündung zurück und musste in einem Sanatorium in Hakone behandelt werden. Unterdessen verschlechterte sich Shizukos psychische und emotionale Verfassung weiter. Die achtjährige Sadako über‐ redete ihre Mutter, nach Saki zurückzukehren, um der Gier der Medien und der daraus resultierenden Verachtung der Öffentlich‐ keit zu entgehen. Dann, als gerade niemand aufpasste, stürzte Shi‐ zuko sich in den Krater des Miharayama. Die Leben von drei Men‐ schen waren ruiniert. Asakawa und Ryuji lasen gleichzeitig die zweite Seite des Fax‐ ausdrucks zu Ende. »Es ist eine alte Rechnung«, murmelte Ryuji. »Eine alte Rech‐ nung? Wie meinst du das?« »Was glaubst du, wie Sadako sich ge‐ fühlt hat, nachdem ihre Mutter sich in den Vulkan gestürzt hat?« »Du meinst, sie war wütend auf die Massenmedien?« »Nicht nur auf die Medien. Auch auf die Öffentlichkeit, weil sie die beiden zuerst in den Himmel gehoben und sich dann ganz der Verach‐ tung hingegeben hat, an der die Familie schließlich zugrunde ge‐ gangen ist. Sadako Yamamura hat mit ihren Eltern zusammenge‐ lebt, seit sie drei war, bis zum Alter von zehn Jahren. Sie hat das Auf und Ab der öffentlichen Meinung unmittelbar zu spüren be‐ kommen.« »Und du willst damit sagen, dass sie aufgrund dessen heute ihre Kräfte dazu nutzt, wahllos irgendwelche Mitglieder der Gesell‐ schaft anzugreifen.« Noch während er sprach, wurde Asakawa klar, dass er selbst zur Presse gehörte, zu den Leuten, gegen die sich der besondere Groll und Hass dieser Frau richtete. Gleichzei‐ tig bat er sie inständig um Verzeihung. Als er sich daran erinnerte, wie die Öffentlichkeit sich zwei Jahre zuvor über ihn lustig ge‐
macht hatte, empfand er plötzlich großes Verständnis für Sadako, ja sogar Mitgefühl mit ihr. Ich bin genau wie du, dachte er. Ich weiß, wie es ist, wenn die Presse auf einem herumhackt. »Was brummelst du da?« »Was?« Asakawa hatte gar nicht gemerkt, dass er laut gedacht hatte. »Tja, jetzt können wir die Bilder erklären, die wir auf dem Video gesehen haben. Der Miharayama ist der Ort, an dem Sadakos Mut‐ ter sich umgebracht hat und der Vulkan, dessen Ausbruch Sadako vorausgesagt hat. Er repräsentiert also einen starken, aktiven Wil‐ len oder Geist. In der nächsten Szene erscheint undeutlich das Schriftzeichen für »Berg« auf dem Bildschirm. Wahrscheinlich ist das die erste Gedankenfotografie, die Sadako als Kind gelungen ist.« »Wie meinst du das, als Kind?« Asakawa verstand nicht, wieso das ein Gedankenfoto aus Sadakos Kindheit sein sollte. »Ich würde sagen, es stammt aus der Zeit, als sie etwa vier oder fünf Jahre alt war. Danach kommt die Szene mit den Würfeln. Die dürfte in der Zeit von Shizukos öffentlicher Vorführung entstan‐ den sein. Sadako hat bestimmt mitbekommen, wie unwohl sich ihre Mutter dabei gefühlt hat und wie gedemütigt sie war, als es ihr nicht gelang, die Zahlen auf den Würfeln vorauszusagen.« »Na gut, aber warte mal. Die Würfel, die in dem Bleibehälter herumgeschüttelt wurden — wie kann Sadako das mitbekommen haben?« Asakawa und Ryuji hatten die Szene beide mit eigenen Augen gesehen. Es bestand kein Zweifel daran, dass die Zahlen auf den Würfeln deutlich zu erkennen waren. »Worauf willst du hinaus?« »Die Mutter, Shizuko, war nicht in der Lage zu sehen, welche Zahlen die Würfel zeigten.« »Na und? Selbst wenn die Mutter es nicht konnte, ihre Tochter
wusste es. Sieh mal, Sadako war damals erst sieben, aber ihre Fä‐ higkeiten gingen bereits weit über die ihrer Mutter hinaus. Auch die Skepsis von hundert Zeugen konnte sie nicht verunsichern oder aus der Ruhe bringen. Sie war sogar in der Lage, Bilder auf die Bildröhre eines Fernsehers zu projizieren. Das ist eine ganz andere Dimension, als wenn jemand nur etwas Licht auf einen Film überträgt. Es bedeutet, die 525 Zeilen zu projizieren, die man für ein Fernsehbild braucht. Und das konnte Sadako! Ihre Kraft war viel stärker als die ihrer Mutter.« Asakawa war noch nicht zufrieden. »Aber wenn sie solche Kräfte hatte, wäre das Gedankenfoto, das sie Professor Miura geschickt hat, dann nicht von viel besserer Qualität gewesen?« »He, du bist ja ein helles Köpfchen. Also gut, überleg mal. Seit bekannt war, dass ihre Mutter Shizuko übersinnliche Kräfte besaß, haben die Leute ihr das Leben schwer gemacht. Ihre Tochter woll‐ te vermutlich nicht das Gleiche erleben. Die Mutter hat sie zweifel‐ los angewiesen, ihre Fähigkeiten zu verbergen und ein normales Leben zu führen. Vielleicht hat Sadako ihre Kräfte unterdrückt und im Zaum gehalten und deshalb ein recht gewöhnliches Ge‐ dankenbild eingeschickt.« Sadako war im Proberaum geblieben, nachdem die anderen Schauspieler gegangen waren, und hatte ihre Kräfte an dem Fern‐ seher erprobt, der damals noch eine Rarität war. Sie hatte sicher‐ lich Vorkehrungen getroffen, um ihre außergewöhnlichen Fähig‐ keiten vor anderen zu verbergen. »Wer ist dann die alte Frau, die in der nächsten Szene auf‐ taucht?«, fragte Asakawa. »Das wissen wir nicht. Ich schätze, die alte Oma ist Sadako im Traum erschienen oder so was. Ihre Weissagung hat sie Sadako ins Ohr geflüstert, in einem veralteten Dialekt. Wahrscheinlich ist es dir schon aufgefallen, aber alle Leute hier auf der Insel sprechen
modernes Japanisch, nicht diesen Dialekt. Zugegeben, die Frau war sehr alt, vermutlich hat sie im zwölften oder dreizehnten Jahrhundert gelebt, etwa während der Kamakura‐Zeit. Und was weiß ich, vielleicht war sie irgendwie mit En no Ozune verwandt.« ... Nächstes Jahr wirst du ein Kind gebären. »Ich frage mich, ob ihre Vorhersage tatsächlich eingetroffen ist.« »Ach ja, das. Die Szene, die unmittelbar darauf folgt, zeigt einen Säugling, einen Jungen. Zuerst habe ich gedacht, das bedeute, Sa‐ dako hätte einen kleinen Sohn zur Welt gebracht, aber nach die‐ sem Fax würde ich das anders interpretieren.« »Es war Sadakos kleiner Bruder, der mit vier Monaten gestorben ist.« »Genau. Ich schätze, das ist es.« »Aber was hat die Alte dann mit ihrer Prophezeiung gemeint? Wie man es auch dreht und wendet, die alte Frau schaut Sadako an und sagt >unu<. In dem Dialekt bedeutet das >du<. Hat Sadako Kinder gehabt?« »Das wissen wir nicht, aber wenn wir glauben, was die Alte sagt, hat Sadako wahrscheinlich ein Kind gehabt, denkst du nicht?« »Und wer war der Vater?« »Woher soll ich das wissen? Du scheinst zu glauben, ich weiß alles. Dabei sind das im Grunde nur Spekulationen. Ich stelle Ver‐ mutungen an — auf der Grundlage von dem, was wir wissen.« Wenn Sadako ein Kind hatte, das noch lebte, mussten sie heraus‐ finden, wer der Vater war und was das Kind zurzeit machte. Ryuji stand abrupt auf und stieß dabei mit den Knien an den Tisch. »He, ich habe einen Bärenhunger«, sagte er. »Es muss schon nach Mittag sein. Komm, lass uns etwas zu essen besorgen.« Mit diesen Worten ging er in die Diele und rieb sich dabei das Knie. Asakawa hatte überhaupt keinen Hunger, doch da ihm eini‐ ges durch den Kopf ging, beschloss er, sich Ryuji anzuschließen.
Ryuji hatte ihn gebeten, ein paar Dinge in Erfahrung zu bringen, aber er hatte keine Ahnung, wo er anfangen sollte. Es war noch offen, wer der Mann war, der ganz am Ende des Videos zu sehen war. Vielleicht war es Sadakos Vater, Heihachiro Ino, doch dafür war Sadakos Blick auf ihn eigentlich zu feindselig. Beim Anblick seines Gesichts auf dem Bildschirm hatte Asakawa tief in seinem Inneren einen stechenden Schmerz und zugleich einen starken Widerwillen verspürt. Der Mann schien ebenmäßige Gesichtszüge zu haben, und an seiner Miene war nichts Bösartiges oder Absto‐ ßendes; daher war es merkwürdig, dass Asakawa sich so fühlte. Es war unwahrscheinlich, dass Sadako in dieser Szene ihren Vater anschaute. Laut Yoshinos Bericht gab es keinerlei Anzeichen für eine feindselige Stimmung zwischen den beiden. Man gewann vielmehr den Eindruck, dass Sadako eine sehr fürsorgliche Tochter war. Asakawa fragte sich, ob sie je herausfinden würden, wo die‐ ser Mann war. Sein Aussehen hatte sich in den vergangenen drei‐ ßig Jahren sicherlich sehr geändert. Ob wohl der Hauch einer Chance bestand, dass Yoshino ein Foto von Heihachiro Ino auf‐ trieb und ihnen schickte? Asakawa wollte Ryuji fragen, was er davon hielt. Mit diesen Gedanken folgte er ihm nach draußen. Draußen tobte der Sturm. Da es gar keinen Zweck hatte, einen Schirm aufzuspannen, duckten sich Asakawa und Ryuji und rann‐ ten die Straße hinunter zu einer Kneipe direkt am Hafen. »Wie wärʹs mit einem Bier?«, fragte Ryuji, und ohne eine Ant‐ wort abzuwarten, wandte er sich an die Bedienung: »Zwei Bier.« »Ryuji, ich würde gern unser Gespräch von vorhin fortsetzen.. Was glaubst du, was diese Videobilder wirklich darstellen?« »Keine Ahnung.« Ryuji schlang eine Portion gegrilltes Rindfleisch hinunter und antwortete knapp, ohne den Kopf zu heben. Asakawa stocherte mit seiner Gabel an einem Würstchen herum; dann trank er einen
Schluck Bier. Durchs Fenster konnte er die Hafenmole sehen. Am Fahrkartenschalter der Fähre war niemand zu sehen; auch rings‐ herum wirkte alles einsam und verlassen. Die Urlauber, die auf der Insel gestrandet waren, saßen jetzt bestimmt in ihren Hotels und Gasthöfen und starrten verloren aus dem Fenster in den dunklen Himmel und auf die stürmische See. Ryuji schaute von seinem Teller auf. »Du hast sicher schon mal gehört, was Menschen im Augenblick ihres Todes durch den Kopf geht, oder?« Asakawa wandte den Blick vom Fenster zum Tisch zurück. »Es heißt, das wäre wie eine Rückblende auf die Momente im Leben, die einen am tiefsten beeindruckt haben.« Das hatte Asakawa in einem Buch gelesen, in dem der Autor seine persönlichen Erfah‐ rungen schilderte. Er war auf einer steilen Gebirgsstraße unter‐ wegs gewesen und mit dem Auto in einen tiefen Abgrund ge‐ stürzt. Als der Wagen von der Straße abkam und durch die Luft flog, wusste der Autor, dass er sterben würde. Als ihm das klar wurde, sah er im Geiste plötzlich detaillierte Bilder aus verschie‐ denen Abschnitten seines Lebens vor sich. Sie schienen sich mit einem klappernden Geräusch in sein Bewusstsein zu drängen. Wie durch ein Wunder überlebte er, doch er erinnerte sich noch lebhaft an seine Erfahrung. »Glaubst du, das läuft wirklich so?«, fragte Asakawa. Ryuji gab der Bedienung ein Handzeichen und bestellte noch eine Flasche Bier. »Ich glaube, dass man wirklich so eine Folge von Bildern sieht. Und alle Szenen auf dem Video zeigen Augenblicke, in denen Sadakos Wille oder ihre Gedanken besonders aktiv sind. Es sind alles eindrucksvolle Szenen aus dem Leben eines Men‐ schen; das müssen wir zugeben.« »Ich glaube, du hast Recht.« »Natürlich. Zumindest kann es gut sein, dass ich Recht habe.«
Bedeutete dies, dass Sadako nicht mehr lebte? Und wenn sie tot war, konnte es dann sein, dass die verschiedenen Szenen, die ihr im Augenblick des Todes durch den Kopf geschossen waren, im Land der Lebenden auf Video erhalten waren, nachdem Sadako gestorben war? »Das wirft die Frage auf, wie sie gestorben ist — und auch die Frage nach dem Mann, der am Ende des Videos erscheint. In wel‐ cher Beziehung stand er zu Sadako?« »Du stellst zu viele Fragen. Ich kann nur sagen, dass ich die Ant‐ worten nicht weiß.« Asakawa sah unzufrieden aus. »Komm schon, streng deinen Grips an und denk mal darüber nach«, sagte Ryuji. »Du verlässt dich zu sehr auf andere. Was machst du, wenn mir etwas passiert und du danach eine Lösung für das Rätsel des Fluchs findest?« Das erschien unwahrscheinlich. Es mochte so kommen, dass Ry‐ uji nach Asakawas Tod allein den mysteriösen Fluch entschlüsseln würde, doch das Gegenteil war unmöglich. Das war das Einzige, von dem Asakawa überzeugt war. Als sie zu Hayatsu zurückkehrten, sagte der: »Ihr Freund Yoshi‐ no hat angerufen. Ich habe ihm gesagt, dass Sie unterwegs sind. Er wollte sich in zehn Minuten noch einmal melden.« Asakawa setzte sich in die Nähe des Telefons und betete, dass Yoshino gute Nachrichten hatte. In dem Augenblick klingelte das Telefon. Es war Yoshino. »He, wo wart ihr denn? Ich habe ver‐ sucht, euch zu erreichen.« Aus Yoshinos Stimme klang ein leiser Vorwurf. »Tut mir Leid. Wir sind was essen gegangen.« »Okay. Habt ihr mein Fax bekommen?« Als Yoshino zur Sache kam, verschwand der vorwurfsvolle Unterton, und er klang ver‐ söhnlicher, mitfühlender. Asakawa hatte eine düstere Vorahnung. »Ja, und ich bin dir sehr dankbar für die Informationen.« Mit
diesen Worten wechselte Asakawa den Hörer von der linken in die rechte Hand. »Aber sag mal, hast du herausgefunden, was danach aus Sadako geworden ist?« Atemlos wartete Asakawa auf eine Antwort. Bevor Yoshino etwas sagte, entstand eine kurze Pause. »Tut mir Leid. Ich fürchte, die Spur verläuft im Sand. Ich stecke in einer Sackgasse.« Als er das hörte, verzog Asakawa das Gesicht, als wollte er in Tränen ausbrechen. Ryuji sah, wie die Miene seines Freundes von Hoffnung in Verzweiflung umschlug. Er sank auf den Boden, saß mit ausgestreckten Beinen da und schaute in den Garten hinaus. »Was soll das heißen, die Spur verläuft im Sand?«, fragte Asa‐ kawa mit schriller Stimme. »Von vier der Schauspielschüler, die zusammen mit Sadako der Theatertruppe beigetreten sind, habe ich die Adressen. Ich habe alle angerufen und mit ihnen gesprochen, aber keiner wusste et‐ was von Sadako, oder was aus ihr geworden ist. Sie sind alle über fünfzig und haben das Gleiche gesagt. Nämlich, dass Sadako die Truppe kurz nach dem Tod ihres Leiters Shigemori verlassen ha‐ be. Danach hätten sie nichts mehr von ihr gehört. Abgesehen da‐ von scheint es keine Informationen über Sadako Yamamura mehr zu geben.« »Aber das kannʹs doch nicht gewesen sein...« »Tja, wonach sieht es deiner Meinung nach aus?« »Wonach es aussieht? Das kann ich dir sagen. Es sieht so aus, als müsste ich morgen Abend um zehn sterben. Und nicht nur ich werde abkratzen — meine Frau und meine Tochter müssen am Sonntagmorgen um elf sterben.« Hinter ihm rief Ryuji: »He, vergiss mich nicht. Sonst fühle ich mich ausgeschlossen; das ist nicht schön.« Asakawa ignorierte ihn und fuhr fort: »Du kannst noch ein paar
Dinge erledigen. Gibt es außer den Schauspielschülern noch je‐ manden, der etwas über Sadako wissen könnte? Komm schon, du musst mir helfen. Das Leben meiner ganzen Familie steht auf dem Spiel.« »Nicht unbedingt, das weißt du.« »Äh — wie meinst du das?« »Ich meine, was ist, wenn die Frist abläuft und du noch am Le‐ ben bist? Hast du darüber einmal nachgedacht?« »Du glaubst nicht an das Ganze, oder?« Vor Asakawa schien die ganze Welt dunkel zu werden. »Stimmt. Ich meine, wer würde so eine Geschichte schon hun‐ dertprozentig glauben?« »Hör mal, Yoshino, willst du mir helfen?« Asakawa musste ir‐ gendetwas sagen, alles versuchen, Yoshino zu überreden, an der Sache dranzubleiben. »Ich kann dich verstehen. Ich glaube selbst nur halb daran. Es ist wirklich albern, dass es da irgendeinen Fluch geben soll. Aber trotzdem stehen die Chancen eins zu sechs, dass es so ist. Wenn du eine Chance von eins zu sechs hättest, würdest du dann abdrücken? Würdest du diese Art von Russi‐ schem Roulette spielen, wenn es um deine Familie ginge? Du weißt genau, dass du das nicht könntest. Du würdest den Revol‐ ver weglegen, wenn möglich sogar ins Meer werfen.« Asakawa hielt inne, um Atem zu holen. Hinter sich hörte er Ryuji schreien: »Wir sind beide bescheuert.« »Halt die Klappe. Sei still.« Asakawa umklammerte den Hörer fester, als er herumfuhr, um Ryuji anzuschnauzen. »Was ist los?«, fragte Yoshino halblaut. »Nichts. Gar nichts ist los. Hör mal, Yoshino, ich flehe dich an. Ich zähle auf dich.« Bei diesen Worten Asakawas zupfte Ryuji ihn am Ärmel. Ärgerlich zog Asakawa seinen Arm weg; dabei fiel sein Blick kurz auf Ryujis ungewöhnlich ernste Miene.
»Wir sind beide bescheuert«, sagte Ryuji leise. »Du und ich, wir sind beide durchgedreht.« »Warte mal kurz«, sagte Asakawa und ließ den Hörer sinken. »Was ist denn jetzt los?« »Es ist so einfach. Warum haben wir nicht früher daran gedacht? Es steht nirgendwo geschrieben, dass wir Sadakos Spur in chrono‐ logischer Reihenfolge verfolgen müssen. Es wäre egal, wenn wir in der Gegenwart anfangen und uns rückwärts vorarbeiten würden. Warum musste das Ganze in der Blockhütte Nummer B‐4 passie‐ ren? Warum überhaupt in einer der Hütten? Warum musste es im Ferienklub Pazifik in Minami Hakone geschehen?« Asakawa sah überrascht aus, denn ihm kam plötzlich ein Gedan‐ ke. Mit einem Mal schien er ganz locker zu werden. Er hob den Hörer wieder ans Ohr. »Yoshino?«, sagte er. »Hör mal, Yoshino, vergiss das mit der Theatertruppe, ja? Es ist was anderes aufgetaucht, das du drin‐ gend für mich überprüfen musst. Ich glaube, ich habe dir schon einmal vom Ferienklub Pazifik in Minami Hakone erzählt.« »Ja, hab davon gehört. Das ist so ein Ferienklub mit Sportanla‐ gen, oder?« »Richtig. Soweit ich weiß, haben sie dort vor zehn Jahren einen Golfplatz gebaut; danach sind die anderen Einrichtungen hinzu‐ gekommen, über die der Klub heute verfügt. Ich möchte, dass du herausfindest, was an dem Standort in Minami Hakone war, bevor der Ferienklub Pazifik dort gebaut hat. Kannst du das machen?« Asakawa hörte Yoshinos Stift über das Papier kratzen, als dieser sich Notizen machte. »Ich weiß nicht genau, was du meinst. Ich schätze, es war bloß ein Berghang, bevor sie den Klub hingesetzt haben.« »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Kannst du es herausfinden?« Ryuji zupfte Asakawa erneut am Ärmel. »Lass ihn einen Grund‐
riss besorgen, auf dem auch die Gebäude eingezeichnet sind. Ich meine, alle Gebäude, die vor dem Klub dort gestanden haben. Sag ihm das.« Asakawa sagte Yoshino Bescheid und legte auf. Er betete, dass sie noch auf irgendeinen Hinweis stoßen würden. Beten konnte schließlich jeder; dafür brauchte man keine übersinnlichen Kräfte.
Der Wind wehte immer noch kräftig, und tief hängende weiße Wolken zogen über den sonst klaren Himmel. In der vergangenen Nacht hatte der Taifun Nummer 21 die Boso‐Halbinsel kaum ge‐ streift, war dann in nordöstlicher Richtung weitergezogen und hatte sich über dem Meer aufgelöst. Nach dem Sturm leuchtete der Pazifik so blau, dass einem die Augen wehtaten. Asakawa stand draußen an Deck und schaute auf die Wellen hinaus. Trotz des klaren, milden Herbstwetters fühlte er sich wie ein Sträfling im Todestrakt kurz vor dem Ende seines Lebens. Wenn er den Blick hob, konnte er die Umrisse des Izu‐Gebirges am Himmel sehen. Nun war er also da, sein letzter Tag. Es war zehn Uhr morgens. In exakt zwölf Stunden war es so weit — dann wurde mit ihm abge‐ rechnet. Dann war genau eine Woche vergangen, seit er sich in der Blockhütte des Ferienklubs das Video zum ersten Mal angeschaut hatte. Nur eine Woche, doch ihm kam es wie eine Ewigkeit vor. Die ganze Woche war von Angst und Schrecken erfüllt gewesen, wie gewöhnliche Leute sie nie erleben. Eine unsagbar lange und doch so kurze Woche... Asakawa war sich nicht sicher, welche Auswirkungen es haben würde, dass sie auch den ganzen Mittwoch auf Oshima festgeses‐ sen hatten. Am Telefon hatte er Yoshino Vorwürfe gemacht, weil er bei seinen Nachforschungen so langsam vorankam, doch wenn er jetzt darüber nachdachte, war er seinem Freund sehr dankbar für alles, was er getan hatte. Wenn Asakawa die Spuren selbst ver‐ folgt hätte, wäre er vielleicht zu ungeduldig gewesen und hätte alles vermasselt. Er wurde das Gefühl nicht los, das der Taifun letzten Endes doch sein Verbündeter gewesen war. Wenn er etwas anderes dachte,
würde er es nie schaffen. Er versuchte, sich vorzubereiten, damit er im Augenblick seines Todes nicht bereuen musste, was er in dieser Angelegenheit unternommen hatte und was nicht. Der letzte Hinweis war ein dreiseitiges Fax, das er in den Hän‐ den hielt. Gestern hatte Yoshino den halben Tag geopfert, um ei‐ niges zu überprüfen, und hatte diesen Bericht geschickt. Bevor der Ferienklub Pazifik in Minami Hakone erbaut worden war, hatte es auf dem Grundstück eine außergewöhnliche Einrichtung gegeben. Jedenfalls hielt Asakawa sie für außergewöhnlich; für die damali‐ ge Zeit war sie wahrscheinlich etwas ganz Normales: ein Sanatori‐ um für Tuberkulosekranke. Heutzutage machte sich kaum noch jemand Gedanken über Tu‐ berkulose, doch wenn man die Vorkriegsliteratur las, stieß man unweigerlich immer wieder auf den Namen dieser Krankheit. Die Tuberkulose gab Thomas Mann den Anstoß, seinen Zauberberg zu schreiben, während in Japan Kajii Motojiro die von den Tuberkel‐ bakterien verursachte Infektion in seinen Gedichten verewigte. Mit der Entdeckung des Streptomycins im Jahre 1944 und des Isonia‐ zids 1950 wurde die Tuberkulose als literarisches Thema uninter‐ essant. Sie war nichts mehr als eine weitere ansteckende Krank‐ heit, die diagnostiziert und geheilt werden konnte. In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts starben jedes Jahr über 200 000 Menschen an Tuberkulose, doch nach dem Krieg sank diese Zahl rapide. Der Erreger war allerdings nicht vollständig ausge‐ rottet, und auch heute starben jährlich immer noch etwa 5000 Menschen an der Krankheit. Als es noch keine Medikamente zur Behandlung der Tuberkulose gab, versuchte man, die Patienten mit viel frischer Luft in einer schönen, ruhigen Umgebung zu kurieren. Daher wurden die Sana‐ torien meist auf Wiesen im Hochgebirge errichtet. Als die medi‐ kamentöse Behandlung Fortschritte machte, sank die Zahl der Pa‐
tienten, und die Sanatorien mussten anders genutzt werden. Um finanziell zu überleben, wurden viele zu AllgemeinKrankenhäu‐ sern umfunktioniert. Mitte der Sechzigerjahre stand auch das Sa‐ natorium von Minami Hakone vor dieser Entscheidung, die da‐ durch erschwert wurde, dass das Haus so abgelegen und schwer zugänglich war. Die Tuberkulosepatienten verließen die Klinik kaum noch, wenn sie erst einmal da waren; regelmäßige Ver‐ kehrsverbindungen waren für sie nicht von Bedeutung. Nach der Umwandlung in ein Allgemeinkrankenhaus stellte sich jedoch genau das als entscheidendes Manko heraus. 1972 musste das Sa‐ natorium von Minami Hakone schließlich seine Pforten schließen. Danach entdeckte der Ferienklub Pazifik, welches Potenzial in dem Grundstück steckte, und baute dort einen Golfplatz und spä‐ ter eine komplette Ferienklubanlage. Schließlich wurden auch Fe‐ rienhäuschen errichtet und an die Klubmitglieder verkauft. Ein Hotel mit Swimmingpool entstand, ein Fitnesscenter, Tennisplätze und alles, was ein Ferienklub brauchte. Erst vor sechs Monaten, im vergangenen April, waren die Blockhütten fertiggestellt worden. »Wie ist es denn dort?«, fragte Ryuji, als er vom Deck hereinkam und sich neben Asakawa setzte. »Wie bitte?« »Der Fʹerienklub Pazifik in Minami Hakone ‐ wie ist es dort?« Asakawa fiel ein, dass Ryuji nie dort gewesen war. »Abends ist es sehr schön.« Dann erinnerte er sich an den matten, gelblichen Schein der Halogenlampen und das gleichmäßige Plop, Plop, Plop der Tennisbälle. Das Ganze hatte etwas Beklemmendes und Le‐ bensfeindliches an sich. Woher kam diese düstere Atmosphäre? Hatte es etwas damit zu tun, dass damals, als es das Sanatorium noch gab, so viele Menschen dort gestorben sein mussten? Dar‐ über sann Asakawa nach, während er an die schöne Aussicht auf
das nächtliche Numazu und Mishima an der Küste am Fuß des Berges zurückdachte. Er nahm das Fax, das sie bekommen hatten, und breitete die Blät‐ ter auf den Knien aus. Die zweite Seite zeigte einen einfachen La‐ geplan der Sanatoriumsgebäude. Auf der dritten Seite sah man eine Abbildung des schicken, neuen, dreistöckigen Restaurants und Informationszentrums im Ferienklub. Bei diesem Gebäude hatte Asakawa angehalten und den Angestellten nach dem Weg zu den Blockhütten gefragt. Asakawa schaute sich den Lageplan auf der zweiten Seite genau an. Er zeigte, wie es vor fast dreißig Jahren dort ausgesehen hatte. Wenn nicht die Straße zu sehen ge‐ wesen wäre, die sich den Berg hinaufschlängelte, hätte Asakawa die Lage der Gebäude gar nicht einordnen können. Er versuchte, genau zu bestimmen, was dort gewesen war, wo sich heute die Blockhütten befanden. Er war sich nicht sicher, ob er die richtige Stelle auf dem Lageplan gefunden hatte, doch soweit er es sehen konnte, hatte an dem Platz überhaupt kein Gebäude gestanden. Es sah so aus, als wäre dort nur ein bewaldeter Hang gewesen, der bis ins Tal hinunterreichte. Asakawa schaute sich die erste Seite des Faxausdrucks noch ein‐ mal an. Außer dass auf dem Grundstück des ehemaligen Sanato‐ riums der Ferienklub entstanden war, gab es dort noch einen wichtigen Hinweis. Einen Namen: Shirotaro Nagao, 57, Arzt für innere Medizin und Kinderheilkunde mit einer eigenen Klinik in Atami. Fünf Jahre, von 1962 bis 1967, hatte Dr. Nagao im Sanatori‐ um von Minami Hakone gearbeitet. Damals war er noch jung ge‐ wesen und hatte gerade seine Zeit als Arzt im Praktikum beendet. Von den Ärzten, die im Sanatorium tätig gewesen waren, lebten heute nur noch zwei, Shirotaro Nagao und ein gewisser Tanaka Yozo, der im Ruhestand war und bei der Familie seiner Tochter in Nagasaki wohnte. Die anderen Ärzte waren schon lange tot. Der
Einzige, an den sie sich mit Fragen über das Sanatorium wenden konnten, war folglich Dr. Nagao. Dr. Tanaka war schon über acht‐ zig, und außerdem hatten sie keine Zeit, ins ferne Nagasaki zu fahren. Asakawa hatte Yoshino angefleht, irgendeinen Zeitzeugen aufzu‐ treiben, der das Sanatorium noch selbst gekannt hatte. Über diesen Auftrag hatte Yoshino sich bitterlich beklagt, doch er hatte es ver‐ sucht und war schließlich auf den Namen Dr. Nagaos gestoßen. Und er hatte ihnen nicht nur Namen und Adresse des Arztes ge‐ schickt, sondern auch dessen recht interessanten Lebenslauf. Es war nicht klar, warum Yoshino sich darum bemüht hatte, und vielleicht war er ja auch nur zufällig darauf gestoßen und hatte ihn mitgeschickt. Während der fünf Jahre, die Dr. Nagao im Sanatori‐ um tätig gewesen war, hatte er sich nicht die ganze Zeit seiner Station gewidmet. Für zwei Wochen war er auf eine Isolierstation tief im Gebirge verbannt worden. Dieser hatte er im Sommer 1966 einen Besuch abgestattet, und er hatte sich in einem unachtsamen Moment mit Pocken infiziert. Glücklicherweise war er einige Jahre zuvor dagegen geimpft worden, sodass die Infektion nicht allzu schwer verlief und die Krankheit nicht erneut ausbrach. Er war noch einmal davongekommen. Um jedoch zu verhindern, dass er andere ansteckte, musste er auf der Isolierstation bleiben. Interes‐ santerweise wurde Dr. Nagao aufgrund dieser Erkrankung in der medizinischen Literatur verewigt, da er der letzte Japaner war, der sich mit Pocken infiziert hatte. Das reichte zwar nicht für einen Eintrag im Guinnessbuch der Rekorde, doch es hatte offenbar Yoshi‐ nos Interesse geweckt. Für Asakawas und Ryujis Generation war »Pocken« ein veralteter Begriff, der keine Bedeutung mehr hatte. »Ryuji, hast du mal die Pocken gehabt?«, fragte Asakawa. »Sei nicht albern. Die gibt es nicht mehr. Sie sind ausgerottet.« »Ausgerottet?«
»Ja, klar. Durch die Intelligenz der Menschen. Es gibt keine Pok‐ ken mehr auf der Welt.« Ryuji hatte Recht. Infolge einer engagierten Impfkampagne der Weltgesundheitsorganisation wurden die letzten Überbleibsel der Pocken 1975 ausgerottet. Natürlich wurde darüber Buch geführt, wer sich als Letzter mit dem Virus infiziert hatte. Es war ein junger Mann aus Somalia, der am 26. Oktober 1977 an der Krankheit starb. »Die völlige Ausrottung eines Virus. Ist so was möglich?« Asa‐ kawa kannte sich mit Viren nicht besonders gut aus, doch er hatte das Gefühl, wenn man versuchte, ein Virus immer wieder abzutö‐ ten, müsste es mutieren und sich hartnäckig gegen seine Vernich‐ tung zur Wehr setzen. »Viren sind so eine Art Mittelding zwischen lebenden und nicht lebenden Organismen. Ich glaube, es gibt eine Theorie, dass Viren ursprünglich menschliche Gene waren, aber niemand weiß genau, woher sie gekommen oder wie sie entstanden sind. Es ist nur be‐ wiesen, dass sie in engem Zusammenhang mit der Entstehung und Entwicklung des Lebens selbst stehen.« Ryuji hob die Arme hinter den Kopf und streckte sich. Seine Au‐ gen funkelten aufgeregt. »Ein faszinierender Gedanke, nicht wahr? Dass die Gene aus den Körperzellen entwischen und sich zu ei‐ genständigen Mikroorganismen entwickeln. Vielleicht haben alle Gegensätze einen gemeinsamen Ursprung. Zum Beispiel Hell und Dunkel — das Eine gibt es nicht ohne das Andere. Vor dem Ur‐ knall war alles harmonisch, und es gab keine Widersprüche. Das Gleiche gilt für Gott und Satan. Einen gefallenen und bösen Gott nennen wir Satan, aber ursprünglich waren die beiden eins. Eben‐ so ist es mit männlich und weiblich, die ursprünglich androgyn waren. Zum Beispiel Regenwürmer und Nacktschnecken, die männliche und weibliche Geschlechtsorgane besitzen. Ist diese
Einheit nicht ein Symbol absoluter Macht und Schönheit?« Ryuji lachte. »Man würde beim Sex eine Menge Zeit und Energie spa‐ ren.« Verblüfft schaute Asakawa seinen Freund an. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein Geschöpf mit männlichen und weibli‐ chen Geschlechtsorganen von vollkommener Schönheit sein konn‐ te. »Gibt es noch andere Viren, die ganz ausgerottet worden sind?« »Na ja, wenn dich das interessiert, können wir uns damit befas‐ sen, wenn wir wieder in Tokio sind.« »Wenn wir lebend dort ankommen.« »Du hast Angst davor, oder? Nach Tokio zurückzukehren.« In diesem Augenblick befand sich das Schiff mit den beiden auf halbem Wege zwischen Oshima und Ito auf der Izu‐Halbinsel. Wenn sie nach Tokio geflogen wären, hätten sie schneller dort sein können, doch sie hatten sich für die Fähre entschieden, weil sie Dr. Nagao in Atami einen Besuch abstatten wollten. Als das Schiff pünktlich um 10 Uhr 50 anlegte, sahen sie einen Rei‐ sebus mit Touristen, der durch den Gorakuen‐Park von Atami fuhr. Sobald die Landungsbrücke heruntergelassen worden war, rannte Asakawa zum Parkplatz, auf dem ihr Mietwagen stand. »He, warum so eilig?«, rief Ryuji, der langsam nachkam. Unge‐ duldig wartete Asakawa, bis Ryuji eingestiegen war, dann fuhr er hinauf in Richtung Atami. »Weißt du, ich habe gerade gedacht, vielleicht steckt wirklich Satan hinter dieser ganzen Geschichte«, sagte Ryuji ganz ernsthaft. »Satan ist immer in verschiedenen Verkleidungen und Gestalten auf der Welt erschienen. Hast du mal von der Pest gehört, die ge‐ gen Ende des 14. Jahrhunderts in Europa gewütet hat? Fast die Hälfte der Bevölkerung ist daran gestorben. Kannst du dir das
vorstellen? Wenn die Hälfte aller Japaner sterben würde, wären das sechzig Millionen Menschen. Natürlich wurde Satan damals von Künstlern als Personifikation der Pest dargestellt. Wir tun heute das Gleiche. Wir könnten sagen, dass Satan sich in Aids ma‐ nifestiert. Aber natürlich würde Satan die Menschheit niemals völlig ausrotten wollen. Wenn es keine Menschen mehr gäbe, wäre das schließlich auch das Ende Satans. So ist es auch bei den Viren: Wenn ein Virus seine Wirtszelle zerstört, vernichtet es sich selbst. Wir denken gern, dass die Menschheit das Pockenvirus ausgerot‐ tet hat, aber ich frage mich, ob das wirklich stimmt. Ob es über‐ haupt möglich ist.« Heute konnte man sich unmöglich vorstellen, wie sehr die Men‐ schen die Pocken gefürchtet hatten, die einmal eine solche Gefahr für die Welt bedeutet hatten und der die meisten Menschen, die sich damit angesteckt hatten, zum Opfer gefallen waren. Weil sie solches Leid verursacht hatten, rankten sich selbst in Japan zahllo‐ se Mythen und abergläubische Vorstellungen um die Pocken. Die Menschen glaubten, die Krankheit wurde vom Gott der Pocken verursacht. Wahrscheinlich war es treffender, sie den Teufel Pok‐ ken zu nennen, aber wie auch immer: Gehörte es sich für Men‐ schen, eine Gottheit auszurotten? Solche Gedanken gingen Ryuji durch den Kopf. Asakawa hörte Ryuji überhaupt nicht zu. Irgendwo im Hinter‐ kopf fragte er sich zwar, warum der Kerl ohne Punkt und Komma redete, aber er konzentrierte sich völlig darauf, dass sie den richti‐ gen Weg fuhren, um so schnell wie möglich zu Dr. Nagaos Klinik zu gelangen.
11 Das kleine, einstöckige Haus lag nicht weit vom Bahnhof entfernt und in derselben Straße. Auf einem Schild an der Tür stand: »Kli‐ nik Nagao, Innere Medizin und Kinderheilkunde«. Asakawa und Ryuji blieben einen Augenblick vor der Tür stehen. Wenn sie von Dr. Nagao nichts in Erfahrung bringen konnten, waren sie erle‐ digt. Sie hatten keine Zeit mehr, bei ihren Nachforschungen einen anderen Weg einzuschlagen. Würde Nagao ihnen etwas Hilfrei‐ ches mitteilen können? Seit seiner Begegnung mit Sadako Yama‐ mura waren dreißig Jahre vergangen. Würde er sich überhaupt noch an sie erinnern? Sie hatten keine eindeutigen Beweise dafür, dass Sadako etwas mit dem Sanatorium in Minami Hakone zu tun gehabt hatte. Abgesehen von Tanaka Yozo waren alle anderen Ärzte des Sanatoriums inzwischen verstorben. Wahrscheinlich hätten sie noch die Namen einiger Krankenschwestern ausfindig machen können, die dort gearbeitet hatten, aber dafür war es jetzt zu spät. Asakawa schaute auf die Uhr. Es war 11 Uhr 30 — noch zehn Stunden bis zum Ablauf der Frist. »Worauf wartest du noch? Geh rein«, sagte Ryuji und gab ihm einen Stoß. Er verstand, warum sein Freund, der in so rasendem Tempo hierhergefahren war, nun zögerte einzutreten: Er hatte Angst. Angst davor, dass sich ihre letzte Hoffnung. zerschlagen würde, dass sich die letzte Chance, ihr Leben zu retten, als Illusion erweisen würde. Ryuji ging vor und öffnete die Tür. An einer Wand des engen Wartezimmers stand ein dreisitziges Sofa. Zum Glück warteten jedoch keine Patienten. Ryuji bückte sich, um durch das kleine Fenster an der Rezeption zu spähen, und rief einer dicken Arzthelferin mittleren Alters zu: »Verzei‐ hung... Wir würden gern den Doktor sprechen.«
Ohne von ihrer Illustrierten aufzusehen, fragte die Dame: »Sind Sie zu einer Untersuchung hier?« »Nein. Wir möchten nur etwas Bestimmtes mit dem Doktor be‐ sprechen.« Die Arzthelferin legte ihre Zeitschrift hin und setzte sich eine Brille auf. »Was möchten Sie denn besprechen?« »Ich bin sicher, den Doktor interessiert, was wir zu sagen haben.« Asakawa streckte den Kopf hinter Ryujis Rücken hervor und fragte mit niedergeschlagener Miene: »Ist der Doktor da?« Die Arzthelferin rückte sich mit beiden Händen die Brille zurecht und betrachtete die beiden Männer eingehend. »Bitte nennen Sie mir Ihr Anliegen«, beharrte sie überheblich. Ryuji und Asakawa richteten sich auf, und Ryuji sagte so laut, dass die Arzthelferin es hören konnte: »Bei so einer Angestellten ist es kein Wunder, dass keine Patienten da sind.« »He, hör auf!«, beschwor ihn Asakawa, der es nicht für sinnvoll hielt, die Arzthelferin zu verärgern. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Sprechzimmers, und Dr. Nagao erschien im weißen Kittel. »Was ist hier los?«, frag‐ te er. Obwohl er beinahe kahlköpfig war, sah er viel jünger aus als 57. Er runzelte die Stirn und schaute die beiden Männer, die in sein Wartezimmer eingedrungen waren, misstrauisch an. Als sie die Stimme des Arztes hörten, drehten sich Ryuji und Asakawa um, und bei einem Blick in sein Gesicht entfuhr beiden ein überraschter Ausruf. Ihnen war sofort klar, dass Nagao ihnen etwas über Sadako würde sagen können. Daran bestand kein Zweifel. Schlagartig erinnerte sich Asakawa an die letzte Szene des Vide‐ os. Vor sich erblickte er das Gesicht, das sie dort schweißüber‐
strömt, nach Luft ringend und mit blutunterlaufenen Augen gese‐ hen hatten. Die nackte Schulter des Mannes hatte geblutet, und wegen des Bluts, das ihm in die Augen lief, hatte er nichts sehen können. Es war das Gesicht eines Mannes mit grausamen Absich‐ ten, eines Mannes, der vorhatte, jemanden umzubringen. So hatte das Gesicht in dem Video ausgesehen — und es gehörte Dr. Na‐ gao. Er war gealtert, aber es stand außer Zweifel, dass in dem Vi‐ deo sein Gesicht zu sehen gewesen war. Asakawa und Ryuji wechselten einen Blick. Dann zeigte Ryuji auf den Arzt und begann zu lachen. »Ah, Doktor, das haben Sie ja toll hingekriegt. Wer hätte gedacht, Sie an einem solchen Ort zu sehen?« Die beiden unhöflichen Fremden irritierten Nagao. »Was wollen Sie?«, fragte er gebieterisch. Ryuji ignorierte die Frage, ging auf den Arzt zu und packte ihn vorn am Kittel. Nagao war ein gutes Stück größer als Ryuji, doch dieser zog den Kopf des Arztes nach unten und flüsterte ihm ins Ohr: »Sagen Sie, Freundchen, vor dreißig Jahren im Sanatorium von Minami Hakone — was haben Sie da mit Sadako Yamamura gemacht?« Es dauerte einen Moment, bis der Arzt begriff. Sein Blick schweifte nervös durch den Raum, als er versuchte, sich zu erin‐ nern, was vor so langer Zeit geschehen war. Dann fiel es ihm wie‐ der ein — es war etwas, das er nie vergessen würde. Plötzlich schienen ihn all seine Kräfte zu verlassen, und er bekam weiche Knie. Ryuji packte ihn und stützte ihn gegen die Wand, als seine Beine nachgaben. Es war nicht so sehr die Erinnerung an die Ver‐ gangenheit, die Dr. Nagao schockierte, sondern vielmehr die Tat‐ sache, dass dieser Mann, der damals womöglich noch nicht einmal geboren war, darüber Bescheid wusste. Mit einem Mal wurde Dr. Nagao von Zweifeln und Furcht ergriffen.
»Doktor!«, kreischte die Arzthelferin. »Hören Sie, Schwester, warum machen Sie nicht Mittagspause?«, sagte Ryuji und gab Asakawa ein Zeichen mit den Augen. Asaka‐ wa ging zum Eingang hinüber und schloss den Vorhang vor der Tür, um eventuelle Patienten am Eintreten zu hindern. »Doktor!«, schrie die Arzthelferin noch einmal. Sie wusste nicht, was sie machen sollte und konnte sich nur Hilfe suchend an Na‐ gao wenden. Dr. Nagao gewann seine Fassung wieder und über‐ legte, wie er am besten vorgehen sollte. Sein erster Gedanke war, dass seine Mitarbeiterin, die in alles ihre Nase hineinsteckte, nichts über seine Vergangenheit erfahren durfte. Also riss er sich zu‐ sammen und sagte zu ihr: »Wissen Sie, ich glaube, er hat Recht. Warum machen Sie nicht Mittagspause?« »Aber, Doktor...« »Keine Angst, gehen Sie nur; tun Sie, was ich sage. Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Mir passiert nichts.« Die Arzthelferin wusste nicht, was sie davon halten sollte. Zwei wildfremde Männer kamen in die Klinik und flüsterten Dr. Nagao etwas ins Ohr. Daraufhin wurde dieser plötzlich blass und brach beinahe zusammen. Sie wusste nicht, was da los war, und zögerte einen Moment. »Haben Sie nicht gehört? Ich habe gesagt, Sie sol‐ len gehen!«, fuhr Dr. Nagao sie an. Daraufhin flog sie beinahe zur Tür hinaus. »Also gut. Lassen Sie uns reden«, sagte Ryuji und ging ins Sprechzimmer voran. Wie betäubt vor Entsetzen — so wie ein Pa‐ tient, der gerade erfahren hatte, dass er an Krebs erkrankt war — folgte Nagao ihm. »Als Erstes müssen Sie begreifen, dass Sie uns nicht belügen kön‐ nen. Es hat keinen Zweck, es zu versuchen. Mein Freund und ich haben alles mit eigenen Augen gesehen. Wir wissen Bescheid.« Bei
diesen Worten zeigte Ryuji zuerst auf Asakawa, dann auf die ei‐ genen Augen. »Machen Sie sich nicht lächerlich«, entgegnete Dr. Nagao. Dieser Kerl behauptete, ein Augenzeuge zu sein, doch wie sollte das möglich sein? Ringsum hatte dichtes Gestrüpp gestanden, und es war niemand in der Nähe gewesen. Außerdem waren diese Män‐ ner viel zu jung. »Sie wollen mir vielleicht nicht glauben, aber ich sage die Wahr‐ heit. Ich schwöre Ihnen, dass wir Ihr Gesicht sehr gut kennen. Wir haben Sie sofort erkannt.« Plötzlich veränderte sich Ryujis Tonfall. »Wollen Sie Beweise? Ich kenne bestimmte körperliche Merkmale von Ihnen. Ich schätze, Sie haben immer noch eine Narbe an der rechten Schulter. Stimmtʹs?« Nagaos Augen weiteten sich vor Erstaunen; ihm fiel die Kinnla‐ de herunter. Ryuji legte eine kleine Kunstpause ein, dann fuhr er fort: »Also, warum erzählen Sie uns nicht, woher Sie die Narbe haben?« Bei diesen Worten reckte er kampflustig den Kopf vor und legte den Mund an Nagaos Schulter. »Hat Sadako Yamamura Sie gebissen? Ist es so gewesen? So?« Ryuji öffnete den Mund und tat so, als wollte er durch den weißen Kittel des Arztes hindurch‐ beißen. Dr. Nagaos Kinn begann zu zittern, und er versuchte ver‐ zweifelt, etwas zu sagen, doch seine Lippen gehorchten ihm nicht. Er brachte kein Wort heraus. »Hören Sie, Freundchen, Sie sollen wissen, wie wir zu der Sache stehen. Sie erzählen uns die ganze Geschichte, und wir garantieren Ihnen, dass wir sie nie jemandem verraten. Das ist ein Verspre‐ chen. Wir wollen nur wissen, was mit Sadako Yamamura passiert ist. Was haben Sie mit ihr gemacht?« Auch wenn Nagaos Situation es ihm keineswegs erlaubte, zu protestieren, glaubte er Ryuji immer noch nicht. Wenn diese Män‐ ner wirklich gesehen hätten, was passiert war, würden sie ihn
schließlich jetzt nicht auffordern, ihnen davon zu erzählen. Die Behauptung, sie seien Augenzeugen gewesen, schien frei erfunden zu sein. Es war unmöglich, dass sie das Ganze beobachtet hatten. Nagao glaubte nicht, dass sie damals schon auf der Welt gewesen waren. Was also hatten sie gesehen? Er konnte es nicht sicher sa‐ gen; jeder Gedanke, der ihm kam, war in sich voller Widersprü‐ che. Plötzlich hatte er rasende Kopfschmerzen. Ryuji lachte amüsiert in sich hinein und schaute kurz Asakawa an. Seine Blicke sprachen Bände. Er glaubte, dass Dr. Nagao nun so eingeschüchtert war, dass er ihnen alles sagen würde, was sie wissen wollten. Schließlich begann Dr. Nagao tatsächlich zu erzählen. Er selbst fand es seltsam, dass er sich noch in allen Einzelheiten an das Ganze erinnerte. Während er sprach, kamen die Empfindungen und Eindrücke jenes Tages vor dreißig Jahren zurück. Die Emotio‐ nen, die Beschaffenheit seiner Haut, das Zirpen der Zikaden, der Geruch nach Schweiß und Gras, sogar nach dem alten Brunnen — alles fiel ihm wieder ein. »Womit hat alles angefangen? Manchmal denke ich, dass ich we‐ gen des Fiebers und der Kopfschmerzen mein Urteilsvermögen verloren hatte. Das waren die Symptome der Pocken, und nach der Inkubationszeit zeigte ich Anzeichen für die erste Stufe der Erkrankung. Doch um ehrlich zu sein, es war mir nie in den Sinn gekommen, dass ich mich wirklich damit anstecken könnte. Zum Glück hatte ich zu niemandem im Sanatorium Kontakt. Mir graut es bei dem Gedanken, was geschehen wäre, wenn von der Tuber‐ kulose geschwächte Patienten auch noch meine Pocken bekom‐ men hätten. An dem fraglichen Tag war es heiß. In der Lunge eines neu auf‐ genommenen Patienten hatte ich ein Loch von der Größe einer
Ein‐Yen‐Münze entdeckt. Ich erklärte ihm, er müsse sich damit abfinden, mindestens ein Jahr im Sanatorium zu bleiben. Ich stellte ihm sogleich eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für seine Fir‐ ma aus. Danach ging es mir unerträglich schlecht. Ich ging vor die Tür, aber selbst die reine Bergluft half nicht gegen meine heftigen Kopfschmerzen. Ohne zu überlegen, ging ich die Treppe neben der Krankenstation hinunter und flüchtete mich in den schattigen Garten. Dort bemerkte ich eine junge Frau, die an einen Baum‐ stamm gelehnt dasaß und auf die ferne Welt hinabschaute, die sich im Tal ausbreitete. Sie war keine Patientin, sondern die Tochter von Heihachiro Ino, einem ehemaligen Universitätsprofessor, der schon Patient im Sanatorium gewesen war, lange bevor ich dort‐ hin kam. Die junge Frau hieß Sadako Yamamura. Daran erinnere ich mich so genau, weil sie anders hieß als ihr Vater. Seit etwa ei‐ nem Monat war sie regelmäßig zum Sanatorium gekommen, um ihren kranken Vater zu besuchen. Dabei schien sie aber nie viel Zeit mit ihm zu verbringen. Nie fragte sie den behandelnden Arzt nach dem Gesundheitszustand ihres Vaters. Daraus konnten wir nur schließen, dass sie mehr wegen des schönen Bergpanoramas zur Klinik kam, als um den Patienten zu besuchen. Ich setzte mich lächelnd neben sie und fragte, wie es ihrem Vater ging, doch das Thema schien sie überhaupt nicht zu interessieren. Sie wusste sehr wohl, dass ihr Vater allmählich sein Leben aushauchte und dass es keine Hoffnung gab. Das entnahm ich der Art und Weise, wie sie über ihn sprach. Genauer als jeder Arzt konnte sie den Tag vor‐ aussagen, an dem ihr Vater sterben würde. Ich saß also dort neben Sadako und fragte sie über ihr Leben und ihre Familie aus. Irgendwann bemerkte ich, dass meine wahnsin‐ nigen Kopfschmerzen verschwunden waren. Stattdessen schien ich leichtes Fieber zu haben und war seltsam aufgekratzt. Außer‐ dem verspürte ich irgendwo in mir einen gewaltigen Energie‐
schub. Es war, als wäre die Temperatur meines Blutes angestiegen. Ich schaute Sadako ins Gesicht und betrachtete es so genau wie noch nie. Mir fiel auf, dass sie feinere, schönere Gesichtszüge hatte als alle Frauen, die ich je gesehen hatte. Ich hätte nicht sagen kön‐ nen, was genau ihre Schönheit ausmachte, aber Dr. Tanaka, der zwanzig Jahre älter ist als ich, war der gleichen Meinung. Er sagte, er habe noch nie so eine schöne Frau gesehen wie Sadako. Zur gleichen Zeit hatte ich das Gefühl, mein Fieber würde mich erstik‐ ken; ich bekam kaum Luft. Plötzlich legte ich Sadako die Hand auf die Schulter und sagte: >Suchen wir uns ein kühles Plätzchen im Schatten, an dem wir uns unterhalten können.< Sadako nickte völlig arglos und begann aufzustehen. Als sie sich dabei nach vorn beugte, konnte ich einen Blick in den Ausschnitt ihrer weißen Bluse erhaschen und sah die Rundung ihrer perfek‐ ten Brüste. Sie waren schneeweiß, und in dem Augenblick schie‐ nen auch all meine Sinne in Weiß getaucht zu sein. Ich war ganz benommen von dem Anblick und konnte nicht mehr klar denken. Sadako schien davon nichts zu bemerken. Sie stand auf und klopf‐ te sich den Staub vom Rock. Ich war hingerissen von ihrer Un‐ schuld. Eine Weile liefen wir durch das üppige Unterholz des Waldes, das vom sommerlichen Gesang der Zikaden erfüllt war. Ich hatte kein festes Ziel im Kopf, aber irgendwann lenkten meine Füße uns in eine bestimmte Richtung. Ich spürte, wie mir der Schweiß den Rücken hinunterrann, und zog mein Hemd aus, sodass ich nur noch ein T‐Shirt anhatte. Wir folgten einem Trampelpfad, der zu einer Lichtung am Hang oberhalb eines Tals führte. Dort stand ein altes Bauernhaus. Es war seit zehn Jahren oder länger schon ver‐ lassen, und die Mauern waren eingefallen oder brüchig. Es war keine Überraschung, dass auch das Dach eingestürzt war. Hinter dem Haus gab es einen alten Brunnen. Sobald Sadako ihn entdeck‐
te, lief sie hin und sagte: >Ich habe Durst. Mein Hals ist ganz trok‐ ken. < Sie beugte sich über den Rand, um in den Brunnen zu schauen. Dabei sah man auf einen Blick, dass man ihn nicht mehr benutzen konnte. Ich rannte auch hinüber, aber ich wollte nicht in den Brunnen spähen, sondern noch einmal in Sadakos Ausschnitt, als sie sich vorbeugte. Ich legte die Hände auf den Brunnenrand und lehnte mich darüber. Aus der dunklen Tiefe schien kühle Luft emporzusteigen und mein Gesicht zu liebkosen, aber sie konnte weder mein Fieber lindern noch mein Verlangen stillen. Ich habe keine Ahnung, woher die Begierde kam, die mich an jenem Tag trieb, aber wegen des Fiebers, das ich durch die Pocken hatte, konnte ich sie auch nicht zügeln. So erkläre ich es mir jedenfalls. Ich schwöre, dass ich noch nie zuvor ein solches Begehren ver‐ spürt hatte. Ohne zu überlegen, streckte ich die Hand aus und strich über Sa‐ dakos sanft gerundete Brust. Überrascht fuhr ihr Kopf hoch. In dem Moment schien in meinem Kopf ein Vorhang zu fallen. An das, was dann geschehen ist, kann ich mich nicht mehr genau er‐ innern. Wenn ich versuche, es im Geiste zu rekonstruieren, fallen mir nur Bruchstücke ein. Als ich wieder zu mir kam, stellte ich fest, dass ich Sadako Yamamura auf den Boden geworfen hatte. Ihre Bluse war bis zum Hals hochgeschoben. Und dann ... Sie wehrte sich heftig und biss mich sogar in die rechte Schulter. Da‐ nach weiß ich überhaupt nichts mehr. Durch den heftigen Schmerz kam ich schließlich wieder zur Besinnung, und ich sah, wie Blut von meiner Schulter auf Sadakos Gesicht tropfte. Mein Blut lief ihr in die Augen, und sie verzog vor Ekel das Gesicht. Während sie sich so wand und sich wehrte, merkte ich, dass sich mein Körper dem Rhythmus ihrer Bewegungen anpasste. Ich frage mich, was für ein Gesicht ich dabei gemacht habe. Was hat Sadako gesehen,
als sie in mein Gesicht hinaufgeschaut hat? Sie muss eine Bestie, ein Vieh erblickt haben. Solche Gedanken gingen mir durch den Kopf, während ich es tat. Als es vorbei war, starrte Sadako mich kalt an. Sie lag immer noch auf dem Rücken, zog jetzt beide Knie an und stützte sich auf die Ellbogen, um sich schweigend aufzusetzen. Dabei konnte ich noch einen Blick auf ihren Körper werfen. Ich dachte, sie würde es nicht merken. Ihr grauer Rock war ganz zerknittert und um ihre Hüften herumgeknüllt, und sie machte keine Anstalten, ihre ent‐ blößten Brüste zu bedecken. Ein paar Sonnenstrahlen fielen hell auf das dunkle Büschel zwischen ihren Beinen. Ich schaute auf, um ihren Oberkörper anzuschauen, die perfekt geformten Brüste. Dann senkte ich den Blick wieder. Unter den Haaren auf ihrem Schamhügel konnte ich zwei voll entwickelte Hoden sehen. Wenn ich kein Arzt gewesen wäre, hätte ich vielleicht meinen Augen nicht getraut, aber solche Fälle waren mir von Abbildun‐ gen in medizinischen Fachtexten bekannt. Es gibt eine kleine Gruppe von Menschen mit so genannter testikulärer Feminisie‐ rung. Das ist sehr selten. Ich hätte nie gedacht, dass ich außer auf Abbildungen in Lehrbüchern einmal einen Fall zu sehen bekom‐ men würde. Die Betroffenen wirken äußerlich sonst ganz wie Frauen; sie haben Brüste und eine Vagina, allerdings oft keine Ge‐ bärmutter. Sie verfügen über den normalen männlichen XY‐ Chromosomensatz, und aus irgendeinem Grund sind sie häufig außergewöhnlich attraktiv. Sadako sah mich weiterhin unverwandt an. Es war wahrschein‐ lich das erste Mal, dass außer ihrer engsten Familie jemand ihr Geheimnis entdeckt hatte. Natürlich war sie bis zu unserer Begeg‐ nung noch Jungfrau gewesen. Da sie aber als Frau leben wollte, vermutete ich, das, was wir soeben getan hatten, wäre für sie ein‐ fach ein notwendiges Übel gewesen. So rechtfertigte ich jedenfalls
mein Verhalten. In dem Augenblick kam mir jedoch unwillkürlich ein Gedanke. >Ich bringe dich um!< Das schoss mir durch den Kopf. Dieser starke Impuls erschütterte mich, und da mir klar wurde, dass Sadako telepathische Fähigkeiten hatte, schwächte ich meinen Gedanken rasch etwas ab. Ich fügte ein Element des Zwei‐ fels hinzu, doch mein Körper änderte seine Meinung keineswegs. Seine Empfindung war: Wenn ich sie nicht umbringe, bringt sie mich um. Plötzlich verspürte ich einen starken Selbsterhaltungs‐ trieb. Ich warf mich erneut auf Sadako, aber nun legte ich beide Hände um ihren schmalen Hals und drückte mit meiner ganzen Kraft zu. Zu meiner Überraschung leistete sie diesmal keinen Wi‐ derstand. Sie schloss nur die Augen, als ob sie bereit wäre zu ster‐ ben. Langsam wich die Kraft aus ihrem Körper. Ich prüfte gar nicht erst, ob sie noch atmete oder nicht, sondern hob sie hoch und trug sie zum Brunnen hinüber. Wieder wurde mein Verhalten von plötzlichen Impulsen gesteuert. Mit anderen Worten, ich hatte sie nicht mit der Absicht hochgehoben, sie in den Brunnen zu werfen. Es war vielmehr so, dass sich in diesem Au‐ genblick in meinem Kopf ein rundes schwarzes Loch auftat. Nichts anderes war mir bewusst. Auf einmal begriff ich, dass die Dinge sich sehr zu meinen Gunsten entwickelt hatten. Nein, das ist nicht ganz richtig. Ich hatte das Gefühl, ein anderer Wille als der meinige hätte alles so arrangiert. Ich wusste ungefähr, was als Nächstes geschehen würde, und tief in meinem Inneren hörte ich eine Stimme, die sagte, das alles sei nur ein Traum. Der Brunnen war dunkel, und ich konnte nicht sehr weit hinein‐ sehen. Aus dem feuchten, erdigen Geruch konnte ich schließen, dass sich auf dem Grund ein wenig Wasser gesammelt hatte. Ich ließ los. Sadako rutschte an der Wand des Brunnens hinunter und wurde von der Erde verschluckt. Ich hörte das Wasser aufspritzen, als sie unten aufschlug. Ich kniff die Augen zusammen, bis sie sich
an die Dunkelheit gewöhnt hatten, doch ich konnte ihre zusam‐ mengekrümmte Gestalt auf dem Grund immer noch nicht erken‐ nen. Trotzdem war mir nicht wohl bei dem Gedanken, sie so zu‐ rückzulassen, daher warf ich Steine und Erde in den Brunnen, bis ihr Körper für immer verborgen war. Ich muss fünf oder sechs dicke Steinbrocken und ein paar Hände voll Erde hineingeworfen haben. Dann konnte ich nichts mehr tun. Es hörte sich grässlich an, wie die Steine auf den Körper unten im Brunnen aufschlugen, aber vielleicht lag das auch nur an meiner überreizten Fantasie. Ich konnte nicht aufhören, an diesen schönen, abnormen Körper zu denken, den ich für immer unter den Steinen vergraben hatte. Den Widerspruch in meinem Verhalten verstand ich vollkommen. Ei‐ nerseits wollte ich Sadakos Leib verhüllen und verschwinden las‐ sen, andererseits tat es mir Leid, diesem schönen Körper irgendei‐ nen Schaden zuzufügen.« Nachdem Dr. Nagao seinen Bericht beendet hatte, legte Asakawa den Faxausdruck vor ihn und deutete darauf. Es war der Lageplan der Gebäude im Freizeitklub Pazifik in Minami Hakone. »Zeigen Sie mir auf dieser Karte, wo der Brunnen war«, drängte Asakawa. Nagao zögerte lange, da er offenbar Schwierigkeiten hatte, sich auf der Karte zu orientieren. Als sie ihm jedoch sagten, das Restaurant befinde sich am Standort des alten Sanatoriums, konnte er von dem Punkt aus alles andere ableiten. »Ich schätze, der Brunnen muss ungefähr hier gewesen sein«, sagte er und zeigte auf eine Stelle. »Kein Zweifel — genau da, wo heute die Blockhütten stehen«, stellte Asakawa fest und stand auf. »Komm, gehen wir!«, sagte er. Doch Ryuji blieb ganz gelassen. »He, keine Panik. Wir müssen dem alten Trottel noch ein paar Fragen stellen. Ich möchte zum Beispiel wissen, welches die Merkmale sind, von denen Sie ge‐
sprochen haben.« »Sie meinen die Merkmale von testikulärer Feminisierung?« »Was mich interessiert ist, ob eine solche Frau Kinder bekommen kann.« Dr. Nagao schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht möglich.« »Aha. Und noch etwas würde ich gern klären. Gehe ich Recht in der Annahme, dass Sie zu der Zeit, als Sie sich an Sadako Yama‐ mura vergangen haben, bereits an Pocken litten?« Nagao nickte. »Das bedeutet also, Sadako Yamamura war die letzte Person in Japan, die sich mit dem Pockenvirus infiziert hat?« Es bestand kein Zweifel daran, dass Sadako Yamamura den Pok‐ kenerreger in sich getragen hatte, als sie starb. Doch sie war un‐ mittelbar nach der Übertragung gestorben. Wenn der Wirtskörper, auf dem das Virus sitzt, zerstört wird, stirbt auch das Virus zwangsläufig ab und kann nicht mehr als ansteckend bezeichnet werden. Dr. Nagao wusste nicht, wie er die Frage beantworten sollte und schaute zu Boden, um Ryujis Blick auszuweichen. Er schwieg. »He! Worauf wartest du noch? Lass uns gehen«, trieb Asakawa vom Eingang aus Ryuji zur Eile an. »Danke. War uns ein Vergnügen mit Ihnen«, sagte Ryuji und tippte dem Arzt auf die Nasenspitze, bevor er sich umdrehte und Asakawa nach draußen folgte.
12 Was für eine billige Geschichte, dachte Asakawa. Wie aus einem albernen Liebesroman oder einem billigen Fernsehfilm. Wichtig war jedoch nicht die Handlung, sondern das Tempo, mit dem sie sich entwickelt hatte. Sie hatten im Grunde nicht nach dem Platz gesucht, an dem Sadako begraben war, und doch hatten sie Schritt für Schritt die Tragödie dieser jungen Frau enthüllt und herausge‐ funden, wo ihr Grab lag. Als Ryuji also sagte: »Halt mal bei einem großen Eisenwarenladen an«, war Asakawa erleichtert, dass sein Freund die gleichen Überlegungen anstellte wie er. Asakawa ver‐ suchte, nicht daran zu denken, was für ein grausiger Akt ihnen bevorstand. Wenn der Brunnen beim Bau der Blockhütten nicht völlig verschüttet worden war, konnte es nicht allzu schwierig sein, ihn irgendwo in ihrer Nähe zu finden. Sobald sie ihn ent‐ deckt hatten, würde es recht einfach sein, die sterblichen Überreste von Sadako Yamamura herauszuholen. Asakawa hoffte, das Gan‐ ze würde schnell und einfach über die Bühne gehen. Die frühe Nachmittagssonne schien strahlend hell auf die Straße, die zu den heißen Quellen hinaufführte. Die Straße selbst wirkte verschlafen — typisch für einen Werktag. Zusammen mit der glei‐ ßenden Sonne lullte dies Asakawas Gedanken ein. Eines hatte er noch nicht begriffen: Selbst wenn sie nur vier oder fünf Meter tief würden graben müssen, existierte auf dem Grund des engen Brunnens eine völlig andere Welt als hier draußen in der Sonne und der frischen Luft. Als er das Schild einer Eisenwarenhandlung sah, hielt Asakawa an. Vor dem Laden standen Leitern und Schneidwerkzeuge aufge‐ reiht. Vielleicht würden sie hier alles bekommen, was sie brauch‐ ten. »Ich überlasse es dir, das Nötige zu kaufen«, sagte Asakawa und
machte sich auf den Weg zu einer nahe gelegenen Telefonzelle. Dort blieb er stehen, um eine Telefonkarte aus seiner Brieftasche zu holen. »He, wir haben keine Zeit für Telefonate«, beschwerte sich Ryuji, doch Asakawa hörte ihn nicht. Brummelnd betrat Ryuji die Ei‐ senwarenhandlung, in der er herumstöberte und ein Seil, Eimer, eine Schaufel, einen Flaschenzug und zwei Taschenlampen kaufte. Asakawa zog es so zum Telefon, weil dies vielleicht seine letzte Gelegenheit war, die Stimmen seiner Frau und seiner Tochter zu hören. Ihm war klar, dass sie keine Zeit zu verlieren hatten. Es blieben ihnen nur noch neun Stunden. Er führte die Telefonkarte ein und tippte die Nummer seiner Schwiegereltern in Ashikaga. Sein Schwiegervater meldete sich. »Hallo, hier ist Asakawa. Ich würde gern mit Shizu und Yoko sprechen.« Asakawa wusste, dass es unhöflich war, nicht einen Moment mit seinem Schwiegervater zu plaudern, doch er verzich‐ tete auf die Förmlichkeiten. Er hatte keine Zeit, den Alten zu fra‐ gen, wie es ihm ging. Dieser wollte gerade etwas sagen, aber viel‐ leicht hatte er gemerkt, wie drängend Asakawas Stimme geklun‐ gen hatte. Rasch rief er seine Tochter und seine Enkelin ans Tele‐ fon. Asakawa war erleichtert, dass seine Schwiegermutter nicht am Apparat war. Wenn ihr Mann wie gewöhnlich zuerst ihr den Hörer überreicht hätte, wäre Asakawa um ein ausgedehntes Be‐ grüßungsritual nicht herumgekommen. »Hallo?« »Hallo, Shizu, bist duʹs?« Asakawa spürte eine Welle der Erleich‐ terung in sich aufsteigen, als er die Stimme seiner Frau hörte. »Wo bist du?« »Ich rufe aus Atami an. Wie geht es euch?« »Oh, immer das Gleiche. Yoko findet es toll, bei Oma und Opa zu sein.«
»Ist sie in der Nähe?« Asakawa konnte die Stimme der Kleinen im Hintergrund hören. Sie konnte noch nicht sprechen, brabbelte nur unverständliche Laute. Er hörte, dass sie sich bemühte, ihrer Mutter auf den Schoß zu klettern, um auch zu telefonieren. »Hier, Yoko. Papa ist am Telefon«, sagte Shizu und hielt dem Kind den Hörer ans Ohr. »Papa, Papa.« Yoko konnte das Wort kaum aussprechen, aber Asakawa freute sich allein über ihre Stimme. Er konnte hören, wie sie atmete und brabbelte und den Hörer an ihrer Wange rieb. Das machte ihn glücklich. Er war überwältigt, allein, weil es Yoko gab und sie ihm so wichtig war. Am liebsten wäre er aus Atami fortge‐ laufen und hätte Yoko fest in die Arme genommen. Er wollte nichts, als sie zu lieben und zu beschützen. »Hallo, Yoko. Hier ist Papa. Keine Angst, ich komme bald nach Hause.« »Gut«, sagte seine Frau. »Wann wirst du zurück sein?« Asakawa hatte nicht gemerkt, dass sie den Hörer wieder genommen hatte. »Am Sonntag. Ich miete einen Wagen und fahre am Sonntag zu‐ rück. Dann hole ich euch ab, und wir können nach Nikko fahren oder so was. Wie hört sich das an?« »Schön! Hast du gehört, Yoko? Am Sonntag macht Papa mit uns einen Ausflug mit dem Auto.« Asakawas Ohren brannten. Er fragte sich, ob es klug gewesen war, so ein Versprechen zu machen. Eine Grundregel von Ärzten lautet, den Patienten niemals falsche Hoffnungen zu machen. Der Schock, wenn sie die Wahrheit erfahren, ist nicht so groß, wenn sie von Anfang an nicht so hohe Erwartungen haben. »Klingt so, als ob du die Sache, an der du arbeitest, geklärt hät‐ test.« »Na ja, es geht voran.« »Denk dran, du hast mir versprochen, wenn es vorbei ist, er‐
zählst du mir das Ganze von Anfang bis Ende. Du hast es verspro‐ chen.« Ja, das hatte er. Er hatte gesagt, wenn Shizu ihm vorläufig keine Fragen stellte, würde er ihr, sobald alles vorbei war, erzählen, was geschehen war. Daraufschien sie ihn festnageln zu wollen. »He, wie lange willst du denn noch quatschen?«, rief Ryuji ir‐ gendwo hinter ihm. Als Asakawa sich umdrehte, sah er, dass sein Freund den Kofferraum geöffnet hatte und die Ausrüstung darin verstaute. »Ich rufe dich wieder an«, sagte er. »Aber heute Abend komme ich vielleicht nicht dazu.« Asakawa drückte die Gabel hinunter. Wenn er sie weiter fest hielt, würde die Verbindung mit seiner Frau und seiner Tochter unterbrochen. Vielleicht für immer. Er wusste selbst nicht genau, warum er sie angerufen hatte. Vielleicht nur, um die Stimmen sei‐ ner Lieben noch einmal zu hören. Vielleicht hatte er ihnen auch noch etwas Wichtiges mitteilen wollen. Er hatte das Gefühl, dass er Shizu nie alles hätte sagen können, was er gern gesagt hätte — selbst wenn er eine Stunde Zeit gehabt hätte zu reden. Auch dann wäre er nicht zufriedener gewesen als jetzt. Er drückte weiter auf die Gabel und unterbrach damit die Verbindung. Um zehn Uhr an diesem Abend würde alles vorbei sein, so oder so. Um zehn Uhr. Als ihr Wagen den Berg hinaufkroch, wurde die unheimliche At‐ mosphäre, die Asakawa beim letzten Mal wahrgenommen hatte, von der hellen Nachmittagssonne überstrahlt. Im Ferienklub war es ein Tag wie jeder andere. Das Ploppen der Tennisbälle schien in Asakawas Bewusstsein einzudringen. Mit einem harten, trockenen Geräusch flog der Ball hin und her. Im Hintergrund stand der schneebedeckte Fujiyama, während in der Welt unten im Tal die Dächer der Gewächshäuser golden in der Sonne schimmerten.
Es war ein Werktag, und die Blockhütten wirkten verlassen. Sie schienen nur an Sommerwochenenden voll belegt zu sein. Die Hütte Nummer B‐4 war frei, Asakawa überließ es Ryuji, sich um die Anmeldeformalitäten zu kümmern, schleppte unterdessen ihr Gepäck in die Hütte und zog sich Sportkleidung an. Er schaute sich gründlich im Zimmer um. An dem Abend vor genau einer Woche war er überstürzt und schmählich aus diesem Spukhaus geflüchtet. Er hatte ins Bad eilen müssen, weil ihm schlecht geworden war und er das Gefühl gehabt hatte, dass ihm seine Eingeweide nicht mehr gehorchten. Er erinnerte sich sogar noch an das Graffiti‐Gekritzel, das er an der Wand gesehen hatte, als er sich über die Toilette beugte. Nun öffnete er die Tür zum Bad und schaute hinein. Alles sah noch genauso aus, selbst das Gekritzel war noch da. Es war kurz nach zwei. Ryuji und Asakawa gingen auf die Ter‐ rasse hinaus, und während sie ihre Lunchpakete leeraßen, schau‐ ten sie auf die Wiesen rings um die Blockhütten. Seit sie Dr. Naga‐ os Praxis verlassen hatten, waren beide nervös und ungeduldig, doch so unruhig sie auch waren, die Zeit verging immer im glei‐ chen Tempo. Beide wussten, dass die Zeit ablief, aber sie konnten nichts dagegen tun. »Wir sind es uns schuldig, wenigstens gut zu essen«, sagte Ryuji. Er hatte die Lunchpakete gekauft. Asakawa hatte eigentlich gar keinen Hunger. Hin und wieder hörte er auf zu essen und spähte aufmerksam in das Zimmer hinter sich. Als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen, wandte er sich zu Ryuji um. »Also, was machen wir jetzt? Ich weiß nicht, was als Nächstes ansteht.« »Ist doch klar. Wir müssen Sadako Yamamura finden.« »Und wenn wir sie gefunden haben, was machen wir dann mit ihr?« »Wir bringen sie zurück in ihre Heimat auf Oshima und halten
einen Gedenkgottesdienst ab.« »Du meinst, wir versuchen, den Fluch zu bannen. Du glaubst, das ist es, was Sadako will.« Ryuji kaute schmatzend einen Mund voll Reis und schaute Asa‐ kawa scharf an. Er sagte zwar nichts, aber es war klar, was er meinte. Asakawa wurde wütend. Er wollte die Gewissheit haben, dass es auch für ihn noch eine letzte Chance gab, zu überleben. Er würde keine zweite bekommen. Was immer sie jetzt auch taten, es war entscheidend. »Wir haben wirklich keine Wahl. Im Moment können wir nichts anderes tun«, sagte Ryuji und warf sein leeres Lunchpaket fort. »Wie stehen unsere Chancen? Es scheint, als wollte Sadako den Hass auf ihren Mörder loswerden.« »Du meinst auf Shirotaro Nagao? Glaubst du, wenn wir ihn be‐ seitigen, hätte Sadakos Seele Ruhe?« Asakawa schaute Ryuji tief in die Augen und versuchte, die wah‐ ren Gefühle seines Freundes zu ergründen. Vielleicht benutzte er Asakawa nur als Versuchsperson. Angenommen, sie fanden Sada‐ kos Leiche, hielten einen Gedenkgottesdienst ab, und dies würde Asakawa nicht das Leben retten — würde Ryuji dann Dr. Nagao umbringen, um vielleicht selbst davonzukommen? »He, komm schon. Sei nicht albern«, sagte Ryuji lachend. »Wenn sich Sadakos Hass gegen Dr. Nagao richten würde, wäre der schon tot.« Mittlerweile war klar, dass Sadako die Macht hatte, jemanden loszuwerden, wenn sie das wollte. »Warum hat Sadako sich nicht gewehrt, als Nagao sie umge‐ bracht hat?« »Das kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass Menschen, die ihr auf irgendeine Weise nahe gestanden haben, gestorben oder um‐ gekommen sind. Seit sie aus der Theatertruppe verschwunden
war, sind die Menschen um sie herum ums Leben gekommen. Als sie in das Bergsanatorium gefahren ist, um ihren Vater zu besu‐ chen, wusste sie, dass er bald sterben würde.« »Du meinst, jemand, der völlig verzweifelt ist, empfindet seinem Mörder gegenüber keinen Hass?« »Nein, das ist es nicht. Ich meine, dass Sadako im Voraus ge‐ wusst hat, was Nagao vorhatte. So müssen wir es betrachten. Mit anderen Worten, vielleicht hat sie Selbstmord begangen und Na‐ gao nur als Werkzeug zur Durchführung benutzt.« Sadakos Mutter hatte sich in den Vulkankrater des Mihara‐yama gestürzt, ihr Vater würde bald an Tuberkulose sterben, ihre Träu‐ me, Schauspielerin zu werden, waren geplatzt, und schließlich war da noch das Handicap, mit dem sie geboren war. Wenn man das alles zusammenzählte, gab es eine Menge Gründe für Sadako, sich umzubringen. Ja, es wäre sogar unlogisch gewesen, nicht an Selbstmord zu denken. Yoshino hatte in seinem Bericht unter an‐ derem einen Mann namens Shigemori erwähnt, der Spielfreude gegründet hatte: Eines Abends war er im Alkoholrausch gewalt‐ sam in Sadakos Wohnung eingedrungen — und am nächsten Tag an Herzversagen gestorben. Es konnte kaum bezweifelt werden, dass Sadako ihre besonderen Kräfte genutzt hatte, um Shigemori zu töten. Dazu war sie mit Sicherheit in der Lage. Es stand in ihrer Macht, einen oder zwei Menschen umzubringen, ohne die gering‐ sten Spuren zu hinterlassen. Warum war Nagao also noch am Le‐ ben? Wenn Sadako Selbstmord begangen hatte, indem sie Nagao manipulierte, sie umzubringen, war diese Frage geklärt. »Also gut, nehmen wir vorläufig an, Sadako hat sich umge‐ bracht. Dann bleibt immer noch die Frage, warum sie vor ihrem Tod vergewaltigt werden musste. Der Gedanke, dass sie Bedauern darüber empfunden hat, als Jungfrau zu sterben, ist absurd.« Damit hatte Asakawa den Nagel auf den Kopf getroffen — Ryuji
wusste keine Antwort. Er stimmte Asakawa zu, hatte aber doch etwas einzuwenden. »Ist das wirklich so dämlich?« »Wie bitte?« »Ist der Gedanke, dass sie vielleicht nicht als Jungfrau sterben wollte, wirklich so dämlich?« Ernst beugte Ryuji sich zu Asakawa herüber. »Also, ich persönlich finde nicht, dass sie doof wäre, wenn sie so ein Gefühl gehabt hätte. Ich könnte das gut verste‐ hen.« Asakawa dachte, dass Ryuji normalerweise nicht so sentimental war. Er konnte nicht genau erklären, warum, aber weder Ryujis Miene noch seine Ausdrucksweise waren typisch für ihn. »Na, komm. Glaubst du das wirklich? Männer und Frauen sind verschieden. Das trifft in Sadakos Fall besonders zu.« »Okay, okay. War nur ein Scherz. Also war Sadako nicht scharf darauf, vergewaltigt zu werden. Das wäre klar. Glaubst du, ir‐ gendjemand kann wirklich Spaß daran haben, vergewaltigt zu werden? Immerhin hat Sadako Nagao bis auf den Knochen in die Schulter gebissen. Erst nach der Vergewaltigung kam ihr der Ge‐ danke, dass sie sterben wollte, und dann hat sie Shirotaro Nagao unbewusst als Werkzeug ihres Todes benutzt. So ist es gewesen.« »In dem Fall hätte sie Nagao zutiefst gehasst, oder?« Diesen Punkt konnte Asakawa nicht akzeptieren. »Moment mal! Wir haben was vergessen. Sadakos Hass richtete sich nicht gegen eine bestimmte Person, sondern gegen die ganze Gesellschaft. Können wir es nicht so betrachten? Ihr Hass auf Na‐ gao war für sie so unbedeutend wie ein Sandkorn in der Wüste.« Wenn sich Sadakos Hass gegen die ganze Menschheit richtete, wenn es darum in dem Video ging, was sagte ihnen das dann über den Fluch? Wenn die Todesfälle aber nur Akte willkürlicher Ge‐ walt gewesen waren? Asakawa versuchte, das zu durchdenken, wurde jedoch von Ryujis rauer Stimme unterbrochen: »Ach,
Schluss damit. Wir haben keine Zeit für solche wilden Spekulatio‐ nen. Versuchen wir lieber, Sadako so schnell wie möglich zu fin‐ den. Schließlich ist sie diejenige, die all diese Rätsel lösen kann.« Ryuji trank seinen Oolong‐Tee aus, stand auf und schleuderte die leere Dose ins Tal hinunter. Asakawa und Ryuji standen auf der leicht abschüssigen Wiese und betrachteten die Grasbüschel zu ihren Füßen. Ryuji reichte Asakawa eine Sichel und deutete mit dem Kinn zu dem Hang links von Hütte Nummer B‐4 hinüber. Er war offenbar der Mei‐ nung, sie sollten das hoch gewachsene Gras abmähen und sich die Bodenwellen genau anschauen. Asakawa ging in die Hocke und begann, Schneisen in das Gras zu schlagen. Vor fast dreißig Jahren hatte hier ein altes Bauernhaus gestanden, und im Garten war ein Brunnen gewesen. Nach einer Weile mach‐ te Asakawa eine Pause, um seinen Rücken zu strecken. Er betrach‐ tete die Landschaft und fragte sich, wo er das Haus hingebaut hät‐ te, wenn er hier gelebt hätte. Wahrscheinlich hätte er einen Stand‐ ort mit schöner Aussicht ausgesucht. Warum sollte man sonst an so einem Platz ein Haus bauen? Von wo aus hatte man also den schönsten Blick? Asakawa kniff die Augen zusammen, weil ihn das reflektierende Sonnenlicht von den Dächern der Gewächshäu‐ ser am Fuß des Berges blendete, und stellte sich hierhin und dort‐ hin, um die Aussicht von verschiedenen Punkten aus zu betrach‐ ten. Doch egal, wo er stand, der Ausblick schien überall ziemlich gleich zu sein. Für einen Hausbau war jedoch der Standort von Hütte A‐4 wohl der günstigste Platz. Von der Seite sah man sofort, dass es der einzige ebene Fleck am ganzen Hang war. Auf allen Vieren begann Asakawa, zwischen den Hütten A‐4 und B‐4 eine Schneise in das Gras zu mähen und achtete dabei sorgfältig dar‐ auf, wie der Boden aussah.
Er hatte keine Vorstellung davon, wie der Brunnen beschaffen sein würde. Ja, ihm fiel sogar ein, dass er noch nie so einen altmo‐ dischen Brunnen gesehen hatte. Er hatte keine Ahnung, wie man es hier oben in den Bergen überhaupt anstellte, einen Brunnen zu graben. Ob das Wasser direkt aus der Erde kam? Unten im Tal, etwa einhundert Meter weiter östlich, lag ein von hohen Bäumen umstandener Sumpf. Asakawa versuchte, sich zu konzentrieren. Aber worauf? Er war sich nicht sicher. Er spürte nur, wie das Blut in seinem Kopf pulsierte. Er schaute auf die Uhr: kurz vor drei. Noch sieben Stunden. Würde er die Frist einhalten können, wenn er so weitermachte? Er versuchte, das durchzukalkulieren, aber er konnte nicht klar denken. Es gelang ihm nicht, sich genau vorzu‐ stellen, wie der Brunnen aussehen könnte. Bestimmt war er von einer runden Steinmauer umgeben. Aber wenn die Mauer einge‐ stürzt und der Brunnen mit Erde zugeschüttet war? Dann war das Ganze hoffnungslos. Sie würden ihn nie rechtzeitig finden, ge‐ schweige denn ausheben können. Asakawa schaute erneut auf die Uhr. Punkt drei. Seine Kehle war wie ausgedörrt, obwohl er noch vor kurzem auf der Terrasse gesessen und eine Dose Oolong‐Tee getrunken hatte. Im Geiste hörte er immer wieder Stimmen rufen: »Halt Ausschau nach einem Erdhügel!«, »Such nach den Überre‐ sten eines Steinhaufens!« Er stieß seine Schaufel in einen Erdhügel. Der Zeitdruck und sein gestiegener Blutdruck trieben ihn an. Er merkte, dass er mit den Nerven am Ende war, doch seltsamerwei‐ se war er körperlich nicht erschöpft. Noch beim Essen auf der Ter‐ rasse hatte er ein ganz anderes Zeitgefühl gehabt. Die Zeit schien viel schneller zu vergehen, seit er zu arbeiten begonnen hatte. War das, was er jetzt tat, das Richtige? Es gab zweifellos noch eine Menge andere Dinge, die erledigt werden mussten. Als Kind hatte Asakawa einmal eine kleine Höhle gegraben. Damals war er in der vierten oder fünften Klasse gewesen. Bei
dieser Kindheitserinnerung lächelte er. »He! Was ist mit dir?« Als Asakawa Ryujis Stimme hörte, fuhr sein Kopf in die Höhe. »Warum kriechst du da herum? Warum suchst du an so einer Stelle?« Asakawa blieb der Mund offen stehen, und er schaute dümmlich zu Ryuji auf. Ryuji stand mit dem Rücken zur Sonne, sodass sein Gesicht im Schatten lag. Der Schweiß rann ihm die Wangen hinun‐ ter und tropfte langsam auf den Boden. Was hatte Asakawa hier gemacht? Plötzlich bemerkte Ryuji direkt vor seinen Augen eine kleine Vertiefung im Boden. Es war das Loch, das Asakawa gegra‐ ben hatte. »Gräbst du eine Fallgrube oder was?«, fragte Ryuji und holte tief Luft. Asakawa wandte den Blick ab und tat, als würde er auf die Uhr schauen. »Du tust nichts anderes, als auf die Uhr zu sehen! Du bist ein Idiot!« Ryuji reichte Asakawa die Hand und zog ihn vom Boden hoch. Er funkelte den Freund wütend an, seufzte tief und murmelte: »Du brauchst mal eine Pause. Ruh dich ein bisschen aus.« »Dafür haben wir keine Zeit.« »Du musst aber ein wenig ausruhen und wieder einen klaren Kopf kriegen. Wenn du dich überanstrengst, hältst du nicht durch.« Ryuji knuffte den gebückt vor ihm stehenden Asakawa leicht in den Bauch. Asakawa stolperte. Als er versuchte, das Gleichgewicht wieder‐ zugewinnen, fanden seine Füße keinen Halt, und er stürzte. »Siehst du? Da liegst du nun, wie ein Baby.« Asakawa begann, sich wieder aufzurappeln. »Bleib liegen! Ruh dich aus. Es bringt nichts, wenn du deine E‐ nergie verschwendest.« Ryuji stellte Asakawa einen Fuß auf die Brust, um ihn am Aufstehen zu hindern. Asakawa lag still und schloss die Augen. Er spürte, dass Ryuji den Fuß von seiner Brust
nahm, und als er die Augen wieder aufschlug, sah er ihn rasch im Schatten der Terrasse von Hütte B‐4 verschwinden. Dass er es so eilig hatte, sprach Bände: Ihm war plötzlich die Idee gekommen, dass der Brunnen nicht weit entfernt war. Auch nachdem Ryuji gegangen war, rührte Asakawa sich eine Zeit lang nicht. Er lag flach auf dem Rücken, alle Viere von sich ge‐ streckt, und schaute in den Himmel hinauf. Die Sonne brannte herunter. Er war deprimiert und enttäuscht, dass er emotional so viel schwächer war als Ryuji. Als er wieder normal atmen konnte, versuchte er, sich zu konzentrieren und noch einmal gründlich nachzudenken. Ihm blieben noch sieben Stunden, und während die Minuten verstrichen, schwand seine Hoffnung auf Rettung beständig. Von jetzt an würde er einfach alles machen, was Ryuji ihm sagte. Das wäre das Beste. Er würde nicht mehr an sich selbst denken, sondern sich völlig dem Willen Ryujis unterordnen, der geistig und emotional stabiler war als er. So würde es ihm gelin‐ gen, der Angst zu entkommen, die ihn verfolgte. Er würde sich in die Erde eingraben und eins mit der Natur werden. Mit einem Mal überfiel Asakawa eine bleierne Müdigkeit, und er verlor das Be‐ wusstsein. In dem Augenblick, in dem ihm die Sinne schwanden, versuchte er, sich seine Tochter Yoko vorzustellen. Stattdessen fiel ihm plötzlich die Begebenheit aus seiner Kindheit wieder ein, an die er kurz zuvor gedacht hatte. Am Rande der Stadt, in der Asakawa aufgewachsen war, gab es eine freie Fläche, die noch zum Stadtgebiet gehörte. Unterhalb einer Klippe, die den Platz an einer Seite begrenzte, lag ein Sumpf, in dem Flusskrebse lebten. Als Jungen gingen Asakawa und ein Freund oft dorthin, um Krebse zu fangen. Eines Tages schien die Frühlingssonne auf die rote Erde an der Oberfläche der Klippe, die steil aus dem Sumpf aufragte. Die Jungen hatten keine Lust mehr,
ihre Krebsfallen durch das Wasser zu ziehen, und Asakawa be‐ gann ohne besondere Absichten, ein Loch in die Wand der Klippe zu graben. Die Erde war ziemlich weich, und da er zum Graben ein abgebrochenes Brett benutzte, türmte sich die rote Erde bald zu seinen Füßen auf. Einige Freunde begannen, ihm zu helfen. Sie mussten zu dritt gearbeitet haben, vielleicht auch zu viert, jeden‐ falls passte es genau, um eine Höhle zu graben. Bei einer größeren Anzahl von Leuten wären sie mit den Köpfen aneinander gestoßen und hätten sich gegenseitig behindert, und für weniger wäre es zu viel Arbeit gewesen. Nach einer Stunde hatten sie eine Höhle gegraben, in die ein Kind hineinkrabbeln konnte. Sie buddelten weiter. Der Platz lag an ihrem Heimweg von der Schule, und zwei Jungen verabschie‐ deten sich mit den Worten, sie müssten nach Hause. Nur Asakawa sagte nichts und grub weiter. Als die Sonne unterging, war die Höhle groß genug für die beiden Jungen, die noch da waren. Asa‐ kawa saß mit angezogenen Knien in der Höhle und alberte mit seinem Freund herum. Tief in ihrer roten Erdhöhle fühlten sie sich wie Urmenschen, die gerade den Schutz der Gemeinschaft ent‐ deckt hatten. Plötzlich tauchte im Höhleneingang das Gesicht einer alten Frau auf. Da sie die Sonne im Rücken hatte und ihr Gesicht im Schatten lag, konnte Asakawa ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen. Er wusste nur, dass es eine ältere Frau über fünfzig war, die in der Nähe wohnte. »Was fällt euch denn ein, hier ein Loch zu buddeln? Es wäre schrecklich, wenn ihr darin lebendig begraben würdet.« Asakawa und der andere Junge schauten einander an. Auch wenn sie erst zur Grundschule gingen, merkten sie, wie seltsam die Worte der Frau waren. Sie hatte nicht gesagt: »Jungs, kommt da raus, das ist gefährlich«, sondern sinngemäß so etwas wie: »Wenn ihr hier lebendig begraben werdet und sterbt, geht es mir
schlecht, weil ich in der Nähe wohne; also kommt da raus.« Sie interessierte sich überhaupt nicht dafür, was mit ihnen geschah, sondern nur dafür, was das für sie selbst bedeuten würde. Asaka‐ wa und seine Freund kicherten nicht mehr. Noch immer versperr‐ te der dunkle Umriss des Gesichts der Frau den Höhleneingang. Nun schob sich in Asakawas Vorstellung Ryujis im Schatten lie‐ gendes Gesicht vor das der alten Frau. »Deine Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Sieh nur, wie du da auf dem Boden liegst. Und jetzt fängst du schon an, vor dich hinzukichern.« Ryuji half Asakawa auf die Beine. Im Westen ging die Sonne un‐ ter; plötzlich senkte sich die Abenddämmerung auf sie nieder. Gegen den schwächeren Schein der Sonne wirkten Ryujis Gesicht und Gestalt noch schwärzer als zuvor. »Komm mal her und schau dir das an.« Sobald er Asakawa hoch‐ gezogen hatte, war Ryuji zurück ins Dunkel unter der Terrasse von Hütte B‐4 gekrochen. Asakawa gehorchte. Unter der Terrasse, zwischen den Pfeilern, die die Hütte abstützten, war ein Brett des Unterbaus zerbrochen. Ryuji schob eine Hand in die Öffnung und zog fest an dem Brett, bis es laut krachte und an einer Seite ab‐ brach. Die Inneneinrichtung der Hütten war modern, doch an ver‐ borgenen Stellen wie unter der Terrasse waren die Holzwände so brüchig, dass man sie mit bloßen Händen einreißen konnte. Alles, was man nicht direkt sehen konnte, war billig und schlampig zu‐ sammengezimmert worden. Jetzt schob Ryuji seine Taschenlampe durch die Öffnung und leuchtete damit unter der Hütte herum. Er verrenkte sich den Hals, um dem Strahl der Lampe zu folgen. A‐ sakawa kniff die Augen zusammen und spähte durch die Öff‐ nung. Im Licht der Taschenlampe konnte er in Richtung der west‐ lich gelegenen Wand des Unterbaus einen schwarzen Hügel er‐ kennen. Bei genauerer Betrachtung sah er, dass es ein Haufen Steine war, die offenbar einmal eine Mauer gebildet hatten. Darauf
lag ein Deckel aus Zement. Asakawa bemerkte, dass aus den Rit‐ zen in dem Mörtel, der die Steine zusammenhielt, Unkraut wuchs. Er überlegte, was sich über diesem Haufen befand. Das Wohn‐ zimmer der Hütte B‐4. Und soweit er es einschätzen konnte, stan‐ den genau über der Brunnenöffnung der Fernseher und der Vi‐ deorekorder. Er begriff, dass Sadako Yamamura direkt unter ihm gelegen hatte, als er vor genau einer Woche das Video angeschaut hatte. Ryuji riss weitere Bretter ab, bis ein Loch entstand, durch das man hindurchkriechen konnte. Beide zwängten sich durch die Öffnung und krochen zum Brunnen hinüber. Da die Hütte am schrägen Hang gebaut worden war, wurde der Abstand zu ihrem Fußboden immer geringer, sodass man regelrecht Platzangst be‐ kam. Obwohl selbst unter einem solchen Häuschen genügend Sauerstoff sein musste, bekam Asakawa kaum Luft. Die Erde unter der Hütte war feucht. Plötzlich wurde Asakawa klar, was sie als Nächstes tun mussten. Auch wenn er wusste, was das bedeutete, hatte er keine Angst. Es war zwar nur wenig Platz, er hatte das Gefühl, der Boden über ihm drückte ihm auf den Kopf, und er hatte immer noch Atemprobleme, doch er begriff, dass er womög‐ lich hinunter in den Brunnen kriechen musste, wo es noch dunkler und enger sein würde. Nein, es war nicht so, dass er es vielleicht würde tun müssen — er hatte keine andere Wahl, als in den Brun‐ nen hinabzusteigen und die sterblichen Überreste von Sadako Yamamura herauszuziehen. »Hier, fass mal mit an«, sagte Ryuji. Er packte einen Stahlgriff an dem Zementdeckel und versuchte, die Platte auf den Boden he‐ runterzuziehen. Da unter der Hütte so wenig Platz war, hatte er Schwierigkeiten, eine genügend starke Hebelwirkung auszuüben. Selbst Ryuji, der beim Bankdrücken 120 Kilo stemmte, konnte hier nur mit halber Kraft arbeiten, weil es ihm nicht gelang, sich mit
den Füßen richtig abzustützen. Asakawa drehte sich um, sodass er hangaufwärts schaute, und umklammerte mit beiden Händen ei‐ nen der Stützpfeiler. Er stemmte beide Füße gegen den Zement‐ deckel und schob mit ganzer Kraft. Mit einem ohrenbetäubenden Kreischen rutschte der Deckel in Richtung Steinmauer. Asakawa und Ryuji begannen, rhythmisch zu zählen, um gleichzeitig zu schieben. Der Deckel bewegte sich. Vor wie vielen Jahren war der Brunnen zuletzt geöffnet gewesen? War er beim Bau der Blockhüt‐ te verschlossen worden oder bei der Gründung des Ferienklubs oder schon viel früher, als es das Sanatorium noch gab? So fest, wie der Deckel auf der Steinmauer saß, und so lautstark, wie er gegen seine Entfernung protestierte, musste es jedenfalls lange her sein. Womöglich 25 Jahre. Jetzt war er wieder offen. Ryuji schob seine Schaufel durch die entstandene Öffnung und versuchte, auf diese Weise den Deckel anzuheben. »Also, wenn ich das Zeichen gebe, stützt du dich mit mir auf den Stiel der Schaufel.« Asakawa drehte sich wieder zum Brunnen um. »Fertig? Eins, zwei, drei, hoch!« Asakawa lehnte sich auf den Stiel der Schaufel; gleichzeitig drückte Ryuji dagegen, um den Deckel von der Steinmauer zu schieben. Ein letztes Aufkreischen, dann rutschte der Deckel auf den Boden. Die Steinmauer um den Brunnen war feucht. Asakawa und Ryuji nahmen jeder eine Taschenlampe und zogen sich mit der freien Hand hoch, sodass sie in den Brunnen hineinschauen konnten. Zwischen der Oberkante der Brunnenwand und dem Fußboden über ihnen waren kaum fünfzig Zentimeter Platz; sie konnten so eben Kopf und Schultern in die Lücke zwängen. Aus der Tiefe schien eine kühle, übel riechende, giftige Ausdünstung emporzu‐ steigen und sie mit eisigem Griff zu umklammern. Die Dunkelheit
im Brunnen war so undurchdringlich, dass sie das Gefühl hatten, sie würden hinuntergezogen, wenn sie sich nicht fest hielten. Kein Zweifel, die Frau lag dort unten. Die merkwürdige Frau mit den Hoden und den übersinnlichen Fähigkeiten. Nein, wahrscheinlich war es nicht richtig, sie »Frau« zu nennen. Die biologische Unter‐ scheidung von Mann und Frau basierte schließlich auf den Ge‐ schlechtsorganen. War der Körper einer Frau auch noch so schön — wenn sie zugleich Hoden hatte, musste man sie als Mann be‐ trachten. Asakawa war sich nicht sicher, ob er in Sadako Yama‐ mura einen Mann oder eine Frau sehen sollte. Dass sie Sadako hieß, also einen Mädchennamen hatte, zeigte, dass ihre Eltern sie als Mädchen großziehen wollten. Am Morgen, als sie mit der Fäh‐ re nach Atami gefahren waren, hatte Ryuji gesagt, die Einheit von Frau und Mann in einem Körper sei ein Symbol absoluter Macht und Schönheit. Asakawa war ganz durcheinander. Er hatte in Kunstbüchern antike römische Statuen angeschaut, schöne Mar‐ morstatuen nackter Frauen. Wenn zwischen deren Beinen irgend‐ wo männliche Geschlechtsteile hervorgelugt hätten, was hätte er dann davon gehalten? So etwas wäre doch eher verstörend als schön. »Siehst du was?«, fragte Ryuji. Im Schein ihrer Taschenlampen konnten sie erkennen, dass sich auf dem Grund des Brunnens Wasser angesammelt hatte. Die Wasseroberfläche schien in vier oder fünf Metern Tiefe zu liegen. Wie tief das Wasser war, konnte man nicht sagen. »Da unten ist Wasser«, sagte Ryuji, während er energisch das Ende eines Seils um einen der Stützpfeiler band. »Okay, leuchte auf den Grund und lass mich an dem Seil nach unten. Pass auf, dass du mich nicht fallen lässt.« Als Asakawa begriff, dass Ryuji offenbar entschlossen war, in den Brunnen hinabzusteigen, begannen seine Beine zu zittern.
Was würde geschehen, wenn sein Freund abrutschte und in den Brunnen stürzte? Beim Blick in den engen Schacht ging Asakawas Fantasie mit ihm durch. Er hatte das Gefühl, er könnte so etwas nie tun. Was hatte Ryuji mit der Leiche vor, die in dem düsteren Wasser versunken lag? Wollte er sie herausziehen? Das würde er nicht schaffen; er musste etwas anderes versuchen. Doch Ryuji bereitete sich vor, und Asakawa sah ihn im Geiste schon zum Grund des Brunnens hinabsteigen. Er war seinem Freund dank‐ bar, dass er das übernahm, und sprach ein Gebet der Erleichte‐ rung, weil nicht er dort hinunterkraxeln musste. Da seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er die moosbewachsenen Wände des Brunnens nun viel deutlicher erkennen. Die Steinmauern schienen unheimlich im orangefarbe‐ nen Schein zu schweben, und er glaubte Augen, Nasen und Mün‐ der an den Wänden zu sehen. Er konnte den Blick nicht davon losreißen: Das Muster an der Brunnenwand schien sich in das Ge‐ sicht einer Toten zu verwandeln, die im Augenblick ihres Todes den Mund zu einem grässlichen Schrei öffnet. Unzählige böse Gei‐ ster von Verstorbenen schienen wie Seetang im Wasser zu schim‐ mern, die Gesichter nach oben zur Brunnenöffnung gewandt, die Arme flehentlich ausgestreckt. Doch kaum hatte Asakawa dieses Abbild des Todes gesehen, als es auch schon wieder verschwand. Ein Stein fiel in den grausigen Schacht, dessen Durchmesser kaum einen Meter betrug. Er machte ein Geräusch, als hätte ihn der Schlund eines der bösen Geister verschluckt. Ryuji zwängte sich zwischen den Brunnenrand und den Fußbo‐ den der Hütte darüber, umklammerte das Seil fest mit beiden Händen und ließ sich langsam in den Schacht hinunter. Bald stand er bis zu den Knien im Wasser auf dem Grund des Brunnens. Zu‐ mindest war es nicht sehr tief. »He, Asakawa! Lass den Eimer runter. Und das dünne Seil.« Der
Eimer stand noch draußen auf der Terrasse. Asakawa zwängte sich unter der Hütte hervor und stellte fest, dass es inzwischen völlig dunkel war. Trotzdem schien es draußen immer noch viel heller und weiter zu sein, als in der beengten Dunkelheit unter der Hütte. Draußen fühlte er sich unbeschreiblich frei und erleichtert. So viel frische, klare Luft! Als er die anderen Blockhütten anschau‐ te, sah er nur in Nummer A‐1 Licht brennen. Asakawa musste sich anstrengen, um nicht auf die Uhr zu blicken. Das fröhliche, sorglo‐ se Stimmengewirr aus Hütte A‐1 schien weit entfernt zu sein — als käme es aus einer ganz anderen Welt. Aufgrund der abendlichen Geräusche rings umher konnte er auch ohne einen Blick auf die Uhr recht gut abschätzen, wie spät es war. Als Asakawa zum Brunnen zurückkam, band er Eimer und Schau‐ fel ans Ende des Seils und ließ sie hinunter. Ryuji begann, Schlamm vom Grund des Brunnens in den Eimer zu schaufeln. Hin und wieder hielt er inne und bückte sich, um mit den Händen in dem Matsch herumzusuchen, doch offenbar ohne Erfolg. »Zieh den Eimer hoch!«, rief er. Asakawa presste den Oberkörper gegen die Brunnenwand und hievte den Eimer mit all seiner Kraft nach oben. Er leerte Matsch und Steine aus und ließ den leeren Eimer wieder hinunter. Anscheinend war viel Dreck und Sand in den Brunnen getrieben worden, bevor er verschlossen worden war. Auch als Ryuji schon ewig gegraben hatte, war von der schö‐ nen Sadako noch nichts zu sehen. Ryuji legte eine Pause ein und schaute hinauf. »He, Asakawa!« Asakawa gab keine Antwort. »Asakawa! Was zum Teufel machst du da oben?« Asakawa wollte erwidern, dass er gar nichts machte, dass es ihm ganz gut ging, doch bevor er dazu kam, fuhr Ryuji fort: »Du hast die ganze Zeit kein Wort gesagt. Warum sprichst du nicht mit mir?
Sag was! Allmählich deprimiert mich das hier unten.« Asakawa sagte nichts. »Wenn du nicht reden willst, sing ein Lied. Ein fröhliches.« Kein Wort von Asakawa. »He! Asakawa. Bist du da? Schläfst du oder was?« »Alles okay«, brachte Asakawa heiser heraus. »Du Idiot, du kannst einen ganz schönen erschrecken«, zischte Ryuji und stieß die Schaufel ins Wasser zu seinen Füßen. Als er weitergrub, senkte sich der Wasserspiegel, aber von dem, was sie suchten, gab es immer noch keine Spur. Das Tempo, mit dem Asakawa den Eimer hochzog, wurde immer langsamer, bis er ihn schließlich keinen Zentimeter mehr bewegen konnte. Seine Finger verkrampften sich, das Seil glitt ihm aus der Hand, und der Eimer stürzte in den Brunnenschacht hinunter. Ryuji konnte ihm noch ausweichen, aber das schlammige Wasser ergoss sich auf ihn. Ihm wurde klar, dass Asakawa nicht mehr konnte; das milderte seinen Zorn. »Du Idiot! Willst du mich umbringen?« Ryuji kletterte ein Stück am Seil hinauf. »Lass uns tauschen.« Tauschen? Überrascht richtete Asakawa sich auf und stieß sich gehörig den Kopf am Fußboden über ihm. »Warte, Ryuji. Schon gut, tut mir Leid. Ich bin okay, ich kann hier oben weitermachen.« Asakawa sprach in kurzen, abgehackten, eindringlichen Sätzen. Ryuji schaute zur Brunnenöffnung empor. »Du meinst, du hältst da oben durch? Pah! Lass uns tauschen.« »Einen Moment noch. Nur ganz kurz. Lass mich nur ein bisschen verschnaufen, dann gehtʹs wieder.« »Wenn wir warten müssen, bis du wieder stark genug bist, kom‐ men wir erst morgen früh wieder an die Arbeit.« Ryuji leuchtete Asakawa mit der Taschenlampe ins Gesicht. Er sah den seltsamen Ausdruck in Asakawas Augen: Sein Freund
hatte solche Todesangst, dass er nicht mehr klar denken konnte. Ryuji erkannte auf einen Blick, dass Asakawa keine vernünftige Entscheidung mehr fällen konnte. Wenn man überlegte, was an‐ strengender war, schlammiges Wasser in einen Eimer zu schaufeln oder den vollen Eimer vier, fünf Meter hochzuziehen, war die Antwort sonnenklar. »Komm schon, beweg deinen Arsch da runter! Los! Mach schon!« Ryuji schubste Asakawa gegen die Brunnenwand. »Halt! Warte. Ich will nicht.« »Was? Was sagst du da?« »Ich habe Platzangst.« »Red dich nicht raus.« Asakawa blieb immer noch oben, ohne sich zu rühren. Die Was‐ seroberfläche auf dem Grund des Brunnens kräuselte sich ein we‐ nig. »Ich kann nicht. Ich kann da nicht runtersteigen.« Ryuji packte Asakawa an den Schultern, zog ihn nahe an sich heran und schlug ihm zweimal mit der flachen Hand ins Gesicht. »Jetzt komm, reiß dich zusammen. Was soll das heißen, du kannst da nicht runtersteigen? Sei nicht albern. Dir sitzt der Tod im Nak‐ ken. Wer würde im Angesicht des Todes einfach dastehen und nicht alles versuchen, um sich zu retten? Im Übrigen steht hier nicht nur dein Leben auf dem Spiel. Hast du schon vergessen, dass du noch vor ein paar Stunden telefoniert hast? Ist es dir egal, wenn deine süße kleine Tochter stirbt?« Asakawa verspürte keine Angst mehr, als er daran dachte, was mit seiner Frau und seiner Tochter geschehen würde. In diesem Augenblick lag ihr Leben buchstäblich in seiner Hand. Trotzdem konnte er sich nicht dazu überwinden zu tun, was er eigentlich tun wollte. »Müssen wir das wirklich machen?« Noch während er sprach,
war ihm klar, dass die Frage überflüssig war, und er klang nicht sehr überzeugend. Ryuji packte ihn noch fester an den Schultern. »Ich will dir Pro‐ fessor Miuras Theorie einmal genauer erklären. Drei Bedingungen müssen erfüllt sein, damit die Toten ihren Hass in der Welt zu‐ rücklassen können. Es muss ein abgeschlossener Raum vorhanden sein, außerdem Wasser, und es muss eine Zeitspanne vergangen sein, die dem Alter der Person bei ihrem Tod entspricht. Diese drei Dinge. Mit anderen Worten, wenn ein Toter lange Zeit in einem abgeschlossenen Raum mit Wasser liegt, kommt sein Hass oft da‐ durch zum Ausdruck, dass der Ort von Dämonen besessen ist. Sieh dir diesen Brunnen an. Es ist ein enger, abgeschlossener Raum. Es gibt dort Wasser. Und weißt du noch, was die alte Frau auf dem Video gesagt hat?« Wie stand es seitdem um deine Gesundheit? Wenn du immer nur im Wasser spielst, wirst du von Gespenstern oder bösen Geistern heimge‐ sucht… Im Wasser spielen. Das war es. Sadako war da unten, unter dem schlammigen Wasser, und selbst jetzt spielte sie noch. In dem dunklen Wasser unter der Erde würde sie für immer und ewig weiterspielen und dadurch Schaden anrichten. »Verstehst du nicht? Sadako hat noch gelebt, als sie in den Brun‐ nen geworfen wurde. Und als sie darauf wartete, dass der Tod sie holte, begann der Brunnen von ihrem Hass zu riechen. Alle drei Bedingungen sind erfüllt.« »Also?« »Also ist es dem verstorbenen Professor Miura zufolge ein Leich‐ tes, den Fluch zu bannen. Dann sind wir davon befreit. Wir müs‐ sen die Leiche aus dem engen Brunnen herausholen, und nachdem wir einen Gedenkgottesdienst abgehalten haben, müssen wir sie in
ihre Heimatstadt bringen, damit sie ein ordentliches Begräbnis erhält. Dadurch wird ihre Seele frei und kann in weiten, lichten Räumen herumwandern.« Als Asakawa kurz zuvor unter der Terrasse hervorgekrochen war, um den Eimer zu holen, hatte er sich befreit und erlöst ge‐ fühlt. Sie mussten dafür sorgen, dass Sadako die gleiche Erlösung zuteil wurde. War es das, was sie wollte? »Du meinst, das steckt im Grunde hinter dem Fluch?« »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« »Das ist aber sehr vage.« Ryuji zerrte noch einmal an Asakawas Jackenaufschlägen. »Mann, überleg doch mal. Fakt ist, dass wir keine Zukunft haben, keiner von uns. Unter normalen Umständen würden wir einfach warten, bis sich Unklarheiten von selbst auflösen. Du willst weiter‐ leben, oder? Willst du dein Leben vorzeitig beenden, nur weil du meinst, das wäre vage? Es geht darum, alles zu tun, was in unserer Macht steht. Dieser Fluch ... Ursprünglich hat Sadako vielleicht etwas ganz anderes gewollt. Aber wenn wir ihre Leiche aus dem Brunnen ziehen und aus ihrem Gefängnis befreien, stehen die Chancen nicht schlecht, dass der Fluch, der durch das Video ver‐ breitet worden ist, aufgehoben wird.« Asakawa merkte, dass er durchdrehte. Er versuchte zu schreien, doch er brachte keinen Ton heraus. Was sollte dieser Unsinn von abgeschlossenen Räumen, Wasser und einer Zeitspanne? Blieben starke Hassgefühle tatsächlich an einem Ort, wenn diese drei Faktoren gegeben waren? Wieso sollten sie die so genannten Ideen eines alten Scharlatans wie Miura ernst nehmen? »Hör mal, wenn du verstehst, was ich sage, dann steig in den Brunnen runter und erledige deinen Teil.« Ich verstehe nicht. Ich weiß nicht, wovon du redest, dachte Asa‐
kawa. »Du darfst jetzt keine Zeit vergeuden. Deine Frist läuft ziemlich bald ab.« Bei diesen Worten klang Ryujis Stimme endlich sanft und mitfühlend. »Willst du dich wirklich kampflos ergeben?« Du Blödmann! Ich will deine Lebensweisheiten nicht hören, dachte Asakawa. Doch er zog sich auf den Brunnenrand hinauf. »Also gut, wenn du wirklich meinst, es funktioniert.« Asakawa ergriff das Seil und kletterte in den Schacht hinunter. Kurz bevor er unterhalb der Mauerkante verschwand, sah er Ryujis Gesicht dicht vor seinen Augen. »Keine Angst. Da unten ist nichts. Dein größter Feind ist deine Fantasie.« Als Asakawa nach oben schaute, schien ihm der Strahl der Ta‐ schenlampe mitten ins Gesicht und blendete ihn. Sein Rücken rutschte an der Brunnenwand entlang, und sein Griff um das Seil wurde lockerer. Seine Füße glitten an den Steinen ab, und plötz‐ lich fiel er einen ganzen Meter hinab. Seine Hände brannten von der Reibung am Seil. Als Asakawa dicht über der Wasseroberfläche hing, wollte er am liebsten gar nicht hineintauchen, doch er konnte nicht ewig dort baumeln. Er steckte einen Fuß bis zum Knöchel ins Wasser wie jemand, der die Temperatur des Badewassers prüft. Außer der Kälte des Wassers spürte er, wie er vom Fuß bis hinauf zur Wir‐ belsäule eine Gänsehaut bekam. Mit einem Ruck zog er den Fuß wieder heraus. Er hatte keine Kraft mehr, an dem Seil zu hängen. Langsam ließ er sich weiter hinunter, bis beide Füße im Wasser waren. Er merkte, wie der weiche Schlamm unter der Wasserober‐ fläche seine Füße umschloss. Immer noch hielt er das Seil um‐ klammert. Er hatte das Gefühl, als würden zahlreiche Hände aus dem Inneren der Erde nach ihm greifen, und geriet in Panik, als er glaubte, sie wollten ihn in den Schlamm hinunterziehen. Die Wände schienen von allen Seiten auf ihn zuzukommen. Sein
Mund verzog sich zu einem bitteren Lächeln, als er dachte, dass es von hier kein Entkommen gab. »Ryuji!«, versuchte er zu schreien, doch seine Stimme versagte. Er konnte kaum atmen. Nur ein schwaches Stöhnen kam aus seiner Kehle. Verzweifelt wie ein er‐ trinkendes Kind schaute er nach oben. Plötzlich spürte er etwas Warmes innen an seinem Bein hinunterlaufen. »Asakawa! Atme weiter, hörst du?« Vor lauter Platzangst hatte er sich in die Hose gemacht und auf‐ gehört zu atmen. »Ganz ruhig! Ich bin hier, alles in Ordnung.« Als Ryujis Stimme mit einem Echo bei ihm ankam, holte Asakawa tief Luft und ver‐ suchte, die Kontrolle über sich wiederzuerlangen. Sein Herz hämmerte immer noch wie verrückt. Er war nicht in der Lage, irgendeine Tätigkeit zu erledigen. Vor lauter Verzweif‐ lung versuchte er, an etwas anderes zu denken. An etwas Ange‐ nehmeres. Wenn dieser Brunnen draußen unter dem Sternenhim‐ mel gewesen wäre, hätte er keine Atemprobleme gehabt. Dass die Hütte genau darüber stand, machte ihm das Ganze unerträglich. Alle Fluchtwege waren abgeschnitten. Auch ohne den Zement‐ deckel befanden sich die mit Spinnweben überzogenen Bodendie‐ len der Hütte direkt über dem Brunnen. Sadako hatte 25 Jahre lang in diesem Loch gelebt. Sie war hier, genau unter seinen Füßen. Es ist ihr Grab. Ich stehe im Grab einer Toten. Asakawa konnte an nichts anderes denken. Es ging einfach nicht, er war wie gelähmt. Hier war Sadako dem bösen Schicksal begegnet und ums Leben gekommen. Als ihr im Augenblick ihres Todes verschiedene Sze‐ nen durch den Kopf schossen, hatte sie ihre ganze Willenskraft aufgebracht, damit sie an diesem Ort blieben. Die Erinnerungen, die sie zurückließ, hatten hier in dem engen Brunnen lange Zeit vor sich hin gegoren, waren gegangen und gekommen wie Ebbe und Flut. Sie waren stärker und schwächer geworden, bis sie eines
Tages hervorbrachen und emporstiegen, die Funkwellen unterbra‐ chen, vom Fernsehen aufgefangen wurden und schließlich einen Weg in die Welt hinaus fanden. Die Impulse entsprachen Sadakos Atem. Asakawa fühlte, wie ihr Atemrhythmus ihn durch und durch vibrieren ließ, wie ein Hämmern aus einer unbestimmten Richtung. Sa‐da‐ko Ya‐ma‐mu‐ra. Sa‐da‐ko Ya‐ma‐mu‐ra. Der Name selbst dröhnte pulsierend in seinem Kopf. Im Geiste sah er ihre Fotografie vor sich — sie schien den hübschen Kopf zu schüt‐ teln, und es war, als würde sich ihm ihr liebliches Gesicht Furcht erregend entgegenheben. Sadako war jetzt hier bei ihm. In diesem Augenblick begann Asakawa wie in Trance, im Schlamm auf dem Grund des Brunnens zu wühlen, und dort fand er sie. Er hatte an ihr hübsches Gesicht und ihren schönen Körper gedacht und be‐ mühte sich, diese Vorstellung im Sinn zu behalten. Diese schöne Frauenleiche war nun von seinem Urin besudelt, den er nicht hatte halten können. Er benutzte die Schaufel, um den Schlamm wegzu‐ schaffen. Ihm war nicht mehr bewusst, wie die Zeit verging; er hatte seine Armbanduhr abgenommen, bevor er in den Brunnen gestiegen war. Seine Erschöpfung und seine Anspannung waren wie weggeblasen, und das drohende Ende seiner Frist hatte er ganz vergessen. Auch nachdem er mehrere Eimer voll Schlamm und Wasser nach oben geschickt hatte, konnte er immer noch sein Herz hämmern hören. Nur anhand dieses Pulsschlags konnte er abschätzen, wie die Zeit verging. Asakawa fasste in den Schlamm hinunter und ergriff mit beiden Händen einen großen, runden Stein. Er fühlte sich glatt und glit‐ schig an, und an einer Seite hatte er zwei Löcher. Asakawa nahm ihn aus dem Wasser, das den Schmutz aus den Vertiefungen spül‐ te. An den Stellen, wo die Ohren gewesen sein mussten, hielt er ihn dicht vor sich und betrachtete ihn genau. Im Geiste sah er die‐ sen Schädel mit Haut darüber vor sich, mit den großen, klaren, tief
liegenden Augen. Zwischen den beiden Augenlöchern stellte er sich eine Erhebung vor, Sadakos zierliche Nase. Ihr langes Haar war tropfnass. Wasser lief hinter ihren Ohren und am Hals herun‐ ter. Ihre vom Kummer getrübten Augen zwinkerten ihm zwei‐, dreimal zu, sodass Wassertropfen von ihren Wimpern fielen. Das Gesicht, das er in den Händen hielt, schien angespannt und ver‐ zerrt zu sein, doch das tat seiner Schönheit keinen Abbruch. Zuerst lächelte die junge Frau Asakawa an. Plötzlich, als ob sie ihn er‐ kannt hätte, kniff sie die Augen zusammen. Ich wollte sie treffen, dachte Asakawa, und in dem Moment fiel er rücklings auf den Hosenboden. Von weit weg über ihm hörte er Ryujis Stimme. »Asakawa! Deine Frist war um 22 Uhr 04 zu Ende, oder? Du kannst dich freuen! Es ist schon zehn nach zehn. He, Asakawa! Bist du da unten? Kannst du mich hören? Du lebst doch noch, o‐ der? Der Fluch ist aufgehoben. Wir sind gerettet. He, Asakawa! Wenn du tot da unten liegst, bist du Sadako Yamamura in den Tod gefolgt. Aber dann ist für mich der Bann gebrochen. Wenn du tot bist, muss es ein leichter Tod gewesen sein. He, Asakawa! Wenn du noch lebst, antworte mir.« Asakawa hörte Ryujis Stimme, doch er verspürte keine plötzliche Erleichterung darüber, dass er gerettet war. Er hatte das Gefühl, in einem anderen Raum zu schweben. Wie im Traum schaukelte er langsam vor und zurück und wiegte Sadakos Schädel an seiner Brust.
Asakawa erwachte vom Klingeln eines Telefons. Ein Anruf aus dem Büro des Verwalters, zur Erinnerung daran, dass die Hütte um elf Uhr geräumt werden musste. Beabsichtigten sie, noch eine Nacht zu bleiben? Asakawa klemmte sich den Hörer ans Ohr und angelte nach seiner Uhr auf dem Nachttisch. Seine Arme waren schwer wie Blei, und er musste sich zwingen, sie auch nur anzu‐ heben. Die Schmerzen waren weg, aber morgen würde er be‐ stimmt ziemlichen Muskelkater haben. Da er seine Brille nicht aufhatte, musste er sich die Uhr dicht vors Gesicht halten. Es war kurz nach elf. Einen Moment lang war er ganz verwirrt und wuss‐ te nicht, was er antworten sollte. Er konnte sich nicht einmal erin‐ nern, wo er war. »Bleiben Sie noch eine Nacht?«, fragte der Verwalter, der offen‐ bar nur mühsam seinen Ärger unterdrückte. Ryuji, der neben A‐ sakawa lag, stöhnte. Daran erkannte Asakawa endlich, dass er nicht zu Hause war. Ohne dass es ihm bewusst geworden war, hatte sich seine Welt von Grund auf verändert. Der rote Faden, der Vergangenheit und Gegenwart miteinander verband und sich bis in die Zukunft erstreckte, hatte gehalten, auch während seines Schlafs in der Nacht. »Hallo. Hallo!« Der Verwalter war ungehalten, weil er nicht wusste, ob jemand am Apparat war oder nicht. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund spürte Asakawa große Freude in sich aufsteigen. Ryuji gab es auf, wieder einschlafen zu wollen, und öffnete die Augen einen Spalt breit. Ein Speichelfaden hing ihm aus dem Mund. Asakawa konnte sich nur vage erinnern, was geschehen war. Er wusste
noch, dass er etwas gesucht hatte, aber alles, was danach gesche‐ hen war, lag im Dunkeln. Er erinnerte sich an ihren Besuch bei Dr. Nagao und an die Fahrt zur Blockhütte, doch von dem Punkt an fielen ihm nur noch Bruchstücke ein. Dann kam ihm ein düsteres Bild nach dem anderen in den Sinn und nahm ihm den Atem. Es war wie ein sehr intensiver Traum, der jedoch im Augenblick des Erwachens seinem Gedächtnis entschwand. So ein Gefühl hatte er jetzt. Alles wirkte merkwürdig klar und heiter. »Hallo? Hallo? Hören Sie mich?« »Äh, ja. Ich höre Sie.« Endlich gelang es Asakawa zu antworten, und er wechselte den Hörer in die andere Hand. »Sie müssen die Hütte um elf Uhr frei machen.« »Ja, ich weiß. Wir sind gleich so weit. Wir sind sofort draußen.« Asakawa sprach ebenso förmlich wie der Verwalter. Aus der Kü‐ che hörte er Wasser tröpfeln. Anscheinend hatten sie am Abend den Wasserhahn nicht richtig zugedreht, bevor sie schlafen gegan‐ gen waren. Asakawa legte den Hörer auf. Ryuji hatte die Augen wieder fest geschlossen. Asakawa schüttel‐ te ihn. »He, Ryuji. Steh auf.« Er hatte keine Ahnung, wie lange er geschlafen hatte. Normaler‐ weise bekam er nur fünf oder sechs Stunden Schlaf, doch so, wie er sich beim Aufwachen gefühlt hatte, musste es diesmal viel län‐ ger gewesen sein. Es war auch schon lange her, dass er zuletzt so tief und fest geschlafen hatte. »He, Ryuji. Wenn wir nicht aufstehen und hier verschwinden, müssen wir am Ende für eine weitere Nacht bezahlen.« Asakawa schüttelte seinen Freund energischer, doch Ryuji gab keine Ant‐ wort. Als Asakawa aufschaute, fiel sein Blick auf einen Plastiksack auf dem Esszimmertisch. Plötzlich erinnerte er sich, was darin war. Das war der Auslöser dafür, dass ihm wieder einfiel, was er in der Nacht geträumt hatte. Er murmelte den Namen — Sadako
Yamamura. Er hatte sie aus dem kalten Schlamm und Dreck unter dem Fußboden gezogen. Was von ihr noch übrig war, hatte er in den Plastiksack gestopft. Wieder fiel ihm das Tröpfeln des Wassers auf. Am Abend hatte Ryuji die schlammigen Überreste von Sada‐ ko mit Wasser abgewaschen. Das Wasser rann immer noch aus dem Hahn. Zu dem Zeitpunkt war die Deadline bereits überschrit‐ ten gewesen. Asakawa lebte noch. Er war glücklich. Er hatte an der Schwelle des Todes gestanden; jetzt war er frei. Sein Leben wäre beinahe unvermittelt zu Ende gewesen, nun lag es wieder strahlend vor ihm. Sadakos Schädel war für Asakawa schön wie ein Ornament aus Marmor. »He, Ryuji! Los, steh auf!« Plötzlich beschlich Asakawa ein ungutes Gefühl. Ryuji lag stock‐ steif da und reagierte nicht. Asakawa beugte sich über ihn und wollte das Ohr an seine Brust legen, um zu sehen, ob er durch das dicke Sweatshirt seines Freundes das Herz schlagen hören konnte. Ob er noch lebte. In dem Moment packte Ryuji ihn um den Hals und nahm seinen Kopf fest in die Zange. Panisches Entsetzen ü‐ berkam Asakawa. »Ha! Habʹ ich dich reingelegt. Du hast gedacht, ich bin tot, was?« Ryuji ließ Asakawas Kopf los und johlte vor Vergnügen. Nach allem, was sie gerade durchgemacht hatten, war das nicht sehr witzig. Doch Asakawa konnte nun nichts mehr überraschen. Wenn Sadako in diesem Augenblick wieder lebendig geworden und neben dem Tisch aufgetaucht wäre, und wenn sich Ryuji ih‐ retwegen an den Haaren gezogen hätte und gestorben wäre — Asakawa hätte einfach zugeschaut. Er unterdrückte seinen Ärger über Ryujis Streich. Schließlich hatte er seinem Freund viel zu ver‐ danken. »Hör mit dem Quatsch auf!« »He, ich zahlʹs dir nur heim. Gestern Abend hast du mir einen
Heidenschreck eingejagt.« Ryuji, der immer noch im Bett lag, lach‐ te leise. »Was meinst du damit? Was habe ich gemacht?« »Du bist unten in dem Brunnen zusammengebrochen. Ich habe geglaubt, du bist tot. Mann, ich hab mir Sorgen um dich gemacht! Die Frist war abgelaufen, und ich dachte, du bist hinüber.« Asakawa sagte nichts, doch seine Augen begannen zu brennen. »Das weißt du doch noch, oder? Vielleicht auch nicht. Mann, du bist ein undankbarer Mistkerl.« Wenn er es sich recht überlegte, konnte Asakawa sich nicht erin‐ nern, aus eigener Kraft aus dem Brunnen geklettert zu sein. Ihm fiel wieder ein, dass er völlig erschöpft gewesen war und dass Ry‐ uji ihn an dem Seil hochgezogen hatte. Es war bestimmt kein Spaß für Ryuji gewesen, Asakawas sechzig Kilo nur mit der Kraft seiner Arme vier, fünf Meter hochzuhieven. Sein Körper musste ihm wie die Steinstatue von En no Ozune vorgekommen sein, als sie vom Meeresgrund heraufgefischt worden war. Nur hatte Shizuko über erstaunliche psychische Kräfte verfügt, dank derer sie die Statue hatte bergen können. Ryuji dagegen war allein auf seine Körper‐ kraft angewiesen. Die Arme mussten ihm ganz schön wehtun. »Ryuji?« Asakawas Stimme klang seltsam verändert. »Was?« »Ich bin dir was schuldig für alles, was du getan hast.« »Vergiss es. Sei still, ich hör so was nicht gern.« »Wenn du mir nicht geholfen hättest, wäre ich jetzt... na ja, du weißt schon. Also, danke.« »Red keinen Mist. Ich will diesen Blödsinn nicht hören. Außer‐ dem bringt es einem überhaupt nichts, wenn einem so ein Trottel wie du dankbar ist.« »Sollen wir was essen gehen? Ich zahle.« »Klar. Das ist nur recht und billig.« Ryuji stand mühsam auf und
taumelte ein wenig. Seine Muskeln schienen steif und verkrampft zu sein — offenbar war auch er gestern ziemlich erschöpft gewe‐ sen. Vom Ferienklub aus rief Asakawa seine Frau in Ashikaga an und erneuerte sein Versprechen, sie am Sonntagmorgen mit dem Mietwagen abzuholen. Shizu fragte, ob er die Angelegenheit, an der er arbeitete, geklärt hatte, und Asakawa erwiderte nur: »Ja, ich glaube schon.« Immerhin lebte er noch; daraus konnte er nur schließen, dass sie den Fluch gebannt hatten. Doch als er auflegte, wurde er das ungute Gefühl nicht los, dass noch einige Dinge of‐ fen waren, die erledigt werden mussten. Er wollte glauben, dass alles erledigt war, einfach, weil er noch lebte. Ob Ryuji wohl die gleichen Bedenken hegte? Als er an ihren Tisch zurückkam, fragte er: »Glaubst du, jetzt ist wirklich alles vorbei?« Während Asakawa telefonieren gegangen war, hatte Ryuji zu Ende gegessen. »Ich nehme an, die Kleine ist gesund und munter«, wich Ryuji der Frage aus. »Wie geht es dir? Bist du nicht sehr erleichtert?« »Machst du dir immer noch Gedanken?« »Und du?« »Naja, vielleicht ein bisschen.« »Wirklich? Was macht dir noch zu schaffen?« »Die alte Frau. Nächstes Jahr wirst du ein Kind gebären. Das war eine Weissagung.« Asakawa begriff, dass Ryuji die gleichen Zweifel hatte wie er, dies aber zugleich zu leugnen versuchte. »Was, wenn sich das >Du< auf Shizuko bezieht — wenn Shizuko ein Kind erwartete?« Ryuji widersprach. »Unmöglich. Die Videobilder stammen von Sadakos Augen, aus ihrem Kopf. Die alte Frau hat mit ihr gespro‐ chen. Mit >Du< kann nur Sadako Yamamura gemeint sein.« »Es ist immer noch möglich, dass die Vorhersage der Alten falsch
war.« »Bei solchen Dingen irrte Sadako sich niemals.« »Aber Sadako war körperlich nicht dazu in der Lage, ein Kind zu bekommen. Außerdem war sie bis kurz vor ihrem Tod Jungfrau. Also...« »Also?« »Nagao war der erste Mann, mit dem sie sexuellen Kontakt hatte. Und er war zufällig der letzte Pockenfall in Japan.« In längst vergangener Zeit existierten solche Gegensätze wie Gott und Satan, Zellen und Viren, Männlich und Weiblich und sogar Hell und Dunkel nebeneinander, ohne einander zu widersprechen. Asakawa fühlte sich plötzlich sehr unbehaglich. Es stand nicht in der Macht der Menschen, genetische Strukturen aus der Zeit vor der Entstehung der Erde zu entschlüsseln oder herauszufinden, wie der Kosmos damals ausgesehen hatte. Manche Dinge blieben ein Rätsel. Das war das Einzige, was für ihn feststand. Die Unge‐ wissheit und die offenen Fragen in seinem Kopf musste er ir‐ gendwie vergessen. Er musste sich einreden, dass jetzt alles vorbei war. »Sieh mal, ich lebe doch noch. Wir haben das Rätsel des Fluchs gelöst, und er ist aufgehoben worden. Es ist vorbei.« Plötzlich fiel Asakawa etwas ein. Hatten Shizuko und Gen nicht gebetet, die Statue En no Ozunes möge vom Meeresgrund gebor‐ gen werden? Sadakos Mutter, Shizuko, hatte das Gebet gespro‐ chen; dann hatte sie die Aufgabe erfolgreich erledigt und dadurch neue Kraft bekommen. Ryuji und er hatten bisher nicht recht be‐ dacht, welche Parallelen sich ergaben, indem sie Sadakos Leiche aus dem Brunnen gezogen hatten. Der Vergleich hinkte jedoch an einer Stelle: Ironischerweise hatten die neuen Kräfte, die Shizuko nach ihrer Tat bekommen hatte, Sadakos Unglück bedeutet. Aber wenn man das Ganze so interpretierte, konnte man annehmen,
dass einem durch die Aufhebung des Fluchs neue Kraft geschenkt wurde. Asakawa versuchte, diesen Aspekt weiterzudenken. Ryuji ließ seinen Blick über Asakawas Gesicht und Schultern schweifen und versicherte sich, dass dieser Mann vor ihm immer noch ein lebendiger Mensch war. Als er zufrieden war, nickte er zweimal langsam. »Tja, in der Hinsicht gibt es wohl kein Pro‐ blem«, sagte er. »Und doch...« »Was?« Ryuji setzte sich ein wenig aufrechter hin und schien mehr zu sich selbst zu sagen: »Sadako Yamamura hat irgendetwas in die Welt gesetzt. Aber was?«
2 Asakawa und Ryuji trennten sich am Bahnhof von Atami. Asaka‐ wa sollte Sadakos sterbliche Überreste zurück zu ihren Verwand‐ ten im Bezirk Saki auf Oshima bringen. Die würden sich angemes‐ sen darum kümmern. Vielleicht würden sie überrascht reagieren, wenn er ihnen die sterblichen Überreste der Tochter ihrer Cousine überreichte, von der sie seit dreißig Jahren nichts gehört hatten. Aber Blut ist schließlich dicker als Wasser, und sie konnten ihre Pflichten kaum vernachlässigen. Wenn es sich um die Überreste einer Unbekannten gehandelt hätte, wäre es möglich gewesen, sie anonym zu bestatten. Doch da sie wussten, dass es Sadako war, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sie im Grab ihrer Familie in Saki beizusetzen. Weil die Tat lange verjährt war und es ziemlich umständlich wäre, den Mörder zu verhaften, hatte Asakawa vor, den Verwandten zu erzählen, Sadako habe Selbstmord begangen. Er wollte ihnen die sterblichen Überreste von Shizukos Tochter geben und dann so schnell wie möglich nach Tokio zurückkehren. Leider fuhr jedoch abends keine Fähre mehr; er würde über Nacht auf Oshima bleiben müssen. Er hätte fliegen können, aber dann hätte er den Mietwagen in Atami lassen müssen. »Es geht nur noch darum, den Verwandten Sadakos sterbliche Überreste zu übergeben. Das schaffst du allein. Dafür brauchst du meine Hilfe nicht«, hatte Ryuji etwas lahm gesagt, als er vor dem Bahnhof von Atami aus dem Wagen stieg. Was von Sadako noch übrig war, lag, in Plastik und ein traditionelles Tragetuch gehüllt, auf dem Rücksitz. Das Paket war so klein, dass selbst ein Kind es der Familie in Saki hätte überbringen können. Die Frage war nur, ob die Verwandten es annehmen würden. Wenn nicht, hatten sie ein Problem, weil sie dann nicht wussten, wohin damit. Asakawa hatte das Gefühl, wenn diejenigen, die sich schließlich darum
kümmern würden, nicht sorgfältig genug vorgingen, wäre der Fluch nicht endgültig aufgehoben. Doch warum sollte die Familie glauben, dass dies wirklich Sadako war? Asakawa war unbehag‐ lich zumute. »Wenn ich nicht zurück an die Arbeit müsste, würde es mir nichts ausmachen, mit dir zu fahren.« So hatte Ryujis Entschuldi‐ gung gelautet. Er müsse noch eine Reihe von Forschungsprojekten zu Ende führen. »Danke für alles, was du getan hast. Ich stehe in deiner Schuld.« »Ach was, keine Ursache. Hat mir irgendwie sogar Spaß ge‐ macht.« Asakawa schaute Ryuji nach, wie er den Bahnhof betrat und schließlich auf der Treppe zum Bahnsteig langsam verschwand. Kurz bevor er nicht mehr zu sehen war, verfehlte er offenbar eine Treppenstufe und stolperte. Während er taumelnd versuchte, das Gleichgewicht wiederzugewinnen, schien sich seine untersetzte Gestalt plötzlich zu teilen, als lägen zwei Bilder von ihm überein‐ ander. Müde rieb sich Asakawa die Augen. Als er die Hand wie‐ der wegnahm, war Ryuji verschwunden. In diesem Moment be‐ schlich Asakawa ein ungutes Gefühl. Und plötzlich nahm er einen flüchtigen, süßen Zitrusduft wahr. Am Nachmittag lieferte Asakawa die sterblichen Überreste Sa‐ dakos ohne Probleme bei Takashi Yamamura. Der Alte war gerade vom Fischen gekommen. Als er das schwarze Tragetuch sah, wusste er sofort, was darin war. Asakawa überreichte es ihm förmlich und sagte: »Das sind die sterblichen Überreste von Sada‐ ko Yamamura.« Takashi betrachtete das Bündel eine Weile mit zusammengekniffenen Augen und schien an vergangene Zeiten zu denken. Schließlich trat er vor, verbeugte sich tief und nahm das Bündel entgegen. »Vielen Dank, dass Sie sich solche Mühe gege‐ ben haben, sie endlich nach Hause zu bringen. Es war eine lange
Reise.« Asakawa war beinahe enttäuscht. Er hatte nicht gedacht, dass die Übergabe so einfach sein würde. Takashi Yamamura spürte, was Asakawa empfand, und sagte aufrichtig: »Ich habe keinen Zweifel daran, dass dies Sadako ist.« Sadako hatte bis zum Alter von drei Jahren und dann noch ein‐ mal vom neunten bis zum 18. Lebensjahr bei dieser Familie gelebt. Takashi war inzwischen 61, und Asakawa fragte sich, was er über Sadakos Leben dachte. Wenn er sah, mit welcher Miene der Alte ihre sterblichen Überreste entgegennahm, konnte er sich vorstel‐ len, dass er sie wirklich geliebt hatte. Er versuchte nicht einmal zu überprüfen, ob es sich tatsächlich um Sadako handelte. Das war wahrscheinlich auch unnötig. Er wusste instinktiv, dass sie es war — so wie Eltern es bei ihrem Kind gewusst hätten. Das hatte man schon daran gesehen, wie seine Augen beim ersten Anblick des Bündels aufgeleuchtet hatten. Kein Zweifel, auch hier waren be‐ sondere Kräfte und Einsichten am Werk. Nachdem er dies erledigt hatte, wollte Asakawa das Haus der Yamamuras so bald wie möglich verlassen. Daher murmelte er: »Tut mir Leid, dass ich es so eilig habe, aber ich muss mein Flug‐ zeug erwischen.« Die ganze Familie hatte etwas Unheimliches an sich. Er hatte erwartet, dass sie irgendwelche Beweise verlangten; schließlich war Sadako nicht einmal ihr eigenes Kind gewesen. Er wusste auch gar nicht, was er hätte antworten sollen, wenn sie ihn nach Einzelheiten aus Sadakos Leben gefragt hätten und danach, was ihr zugestoßen war. Es würde noch lange dauern, bis er je‐ mandem die ganze Geschichte erzählen konnte. Ihren Verwandten alles zu erklären wäre auf jeden Fall zu viel für ihn gewesen. Asakawa schaute noch kurz bei Hayatsu herein, um sich bei ihm zu bedanken. Dann begab er sich in sein Hotel, wo er ein entspan‐ nendes und belebendes, heißes Bad nehmen wollte. Er nahm sich vor, danach alles aufzuschreiben, was er in der vergangenen Wo‐
che erlebt hatte.
3 etwa zur gleichen Zeit, als Asakawa im Hotel ins Bett kroch, war Ryuji in seiner Wohnung in Higashi Nakano über seinen Schreib‐ tisch gesunken und eingenickt. Sein Gesicht lag auf dem Artikel, den er gerade schrieb, und der Speichel, der ihm aus dem Mund tropfte, verschmierte die dunkelblaue Tinte. Er musste wirklich sehr müde gewesen sein, denn er hielt noch seinen Lieblingsfüller von Montblanc in der Hand. Er hatte sich noch nicht daran ge‐ wöhnen können, seine Artikel am Computer zu schreiben. Seine Schulter zuckte, und sein Gesicht, das fest auf der Schreib‐ tischplatte lag, verzog sich auf unnatürliche Weise. Plötzlich sprang Ryuji auf und stand stocksteif da. Er riss die Augen weit auf, aber nicht wie jemand, der gerade erwacht war. Dadurch sah er verletzlicher aus als sonst. Außerdem waren seine Augen rot und blutunterlaufen. Er hatte geträumt. Ryuji, der normalerweise vor nichts Angst hatte, fürchtete sich. Er konnte sich nicht erin‐ nern, wovon er geträumt hatte, doch auf einmal war dieser Alb‐ traum zu ihm gekommen und bewirkte, dass er vor Angst zitterte und keine Luft bekam. Er setzte sich wieder und schaute auf die Uhr. 21 Uhr 40. Er wusste, dass die Zeit eine große Rolle spielte, aber er konnte sich nicht erinnern, warum. Das Neonlicht auf sei‐ nem Schreibtisch und die Deckenbeleuchtung, die bisher hell ge‐ nug gewesen waren, schienen plötzlich dunkler zu werden und nicht mehr auszureichen. Ryuji fürchtete sich instinktiv vor der Dunkelheit. Sein Traum hatte ihn in ein Reich unbeschreiblicher Finsternis geführt. Er fuhr auf seinem Stuhl herum und schaute den Videorekorder an. Die Kassette war noch da. Er starrte sie an, konnte den Blick nicht abwenden. Sein Atem ging rauer. Zweifel überschatteten sein Gesicht. Bilder jagten sich in seinem Kopf. Für logisches Den‐
ken blieb kein Raum mehr. Mit beiden Händen umklammerte er die Schreibtischkante, denn er fühlte, dass irgendjemand oder etwas hinter ihm war. O mein Gott, dachte er, es ist immer noch da. Seine Wohnung lag in einer ruhigen Nebenstraße, sodass der Verkehrslärm nur gedämpft he‐ reindrang. Einmal hörte Ryuji den aufheulenden Motor und die quietschenden Reifen eines vorbeirasenden Wagens. Doch als das Geräusch verklungen war, spürte er, dass sich hinter seinem Rük‐ ken etwas bewegte. Er spitzte die Ohren und lauschte angestrengt, um die Laute näher zu bestimmen. Das Summen eines Insekts war darunter. Insgesamt schienen die Laute zu zittern und zu beben wie der Schrei eines Menschen. Die greifbare Wirklichkeit der Welt um Ryuji herum schien in weite Ferne gerückt zu sein. So empfand er es jedenfalls. Die Kluft zwischen ihm und der Wirk‐ lichkeit schien sich wie ein Abgrund rings um ihn herum aufzu‐ tun, und in diesem Raum schwebte ein körperloser Geist, den er nicht näher erkennen konnte. Die klamme, kalte Abendluft und die klebrige Feuchtigkeit auf seiner Haut hüllten Ryuji ein. Sein Herz begann im Takt des Sekundenzeigers seiner Armbanduhr zu schlagen, dann wurde es allmählich schneller. Er verspürte einen Druck auf der Brust. Wieder schaute er auf die Uhr. 21 Uhr 44. Nach jedem Blick auf die Uhr musste er den Speichel in seinem Mund hinunterschlucken. Vor einer Woche hatte er bei Asakawa das Video angeschaut. Um wie viel Uhr war das genau gewesen? Ungefähr um neun Uhr hatte Asakawa nach seiner Frau und seiner Tochter gesehen, die schon schliefen. Danach hatten sie das Video laufen gelassen. Wann war es zu Ende gewesen? Ryuji konnte sich nicht an die genaue Uhrzeit erinnern, doch wie spät es auch immer gewesen war, er spürte, dass diese Stunde rasch näherrückte. Er begriff, dass er sich den Druck und das Ge‐
fühl der Enge in seiner Brust nicht nur einbildete. Das war keine unbestimmte Angst, die er nicht mehr beherrschte, weil seine Fan‐ tasie mit ihm durchging. Was immer dieses Ding auch war, es kam näher und näher; das konnte er fühlen. Er verstand nur nicht, was... Die Frage war, warum war die Wahl auf ihn gefallen? Warum kam es zu ihm, wo Asakawa doch verschont geblieben war? He, dachte Ryuji, das ist unfair! Die Zweifel und Proteste vermischten sich in seinem Kopf. Was ist dieses Ding? Das Rätsel des Fluchs haben wir doch ge‐ löst, oder? Wir haben ihn gebannt. Also warum? Warum? Eine Alarmsirene heulte in Ryujis Brust. Es war, als würde ihm eine Person ihre Hände in die Brust stoßen und sein Herz zusam‐ menpressen. Jähe Schmerzwellen jagten ihm die Wirbelsäule hin‐ unter. Im Nacken spürte er eisige Kälte. Als er verstört vom Stuhl aufsprang, schoss ihm ein wahnsinniger Schmerz von den Hüften in die Schultern, und er brach zusammen. Denk nach, sagte er sich. Denk nach, was du tun musst! Irgendwie musste sein Selbsterhaltungstrieb seinem Körper be‐ fehlen, was er machen sollte. Steh auf! Zwing dich dazu aufzuste‐ hen! Ryuji schleppte sich über den Boden zum Videorekorder. Er drückte auf »Eject«, und die Kassette sprang heraus. Warum war er auf diesen Gedanken gekommen? Vielleicht, weil er nur dazu in der Lage war. Was konnte er tun, außer sich die Kassette genau anzuschauen? Er betrachtete die Rückseite und zwang sich, das Band wieder in den Rekorder zu schieben. Er las das Etikett, das auf der Schmalseite klebte. In Asakawas Schrift stand dort: »Liza Minelli, Frank Sinatra, Sammy Davis, Jr., 1989«. Offenbar ein Kon‐ zert, das er bei einer Fernsehübertragung aufgenommen hatte. Er musste es mit dem bewussten Video überspielt haben. Ein Strom‐ stoß zuckte an Ryujis Wirbelsäule hinunter, und plötzlich kam ihm
ein klarer, vollständiger Gedanke in den leeren Kopf. Er tauchte blitzschnell auf und verschwand wieder. Ryuji war sicher, dass es den elektrischen Strom für einen Augenblick verändern würde, wenn er das Video zurückspulte. Mit dieser Erkenntnis ergab plötzlich alles einen Sinn. Das Rätsel des Fluchs, die Weissagung der alten Frau und eine bestimmte Macht, die den Videobildern immer noch innewohnte. Warum hatten die vier jungen Leute, die in der Blockhütte übernachtet hatten, nicht versucht, etwas zu un‐ ternehmen, um den Fluch aufzuheben? Warum war Asakawas Leben gerettet worden, seines aber nun in Gefahr? Und was hatte Sadako geboren? Der Schlüssel dazu lag in seinen Händen. Bisher war er nicht auf den Gedanken gekommen, dass Sadakos beson‐ dere Fähigkeiten von anderen Kräften überlagert oder mit ihnen kombiniert werden könnten. Sie hätte gern ein Kind bekommen, doch aufgrund der Beschaffenheit ihres Körpers war das unmög‐ lich gewesen. Daher hatte sie einen Pakt mit dem Teufel geschlos‐ sen. Sie würde viele Nachkommen in die Welt setzen. Ryuji dachte darüber nach. Wie hätte so etwas funktionieren sollen? Er unter‐ drückte seinen Schmerz und lächelte gezwungen. Ein zynisches Lächeln. Er konnte lächeln, aber dies alles war kein Witz. Was ging hier vor? Er war doch derjenige, der das Ende der Menschheit mit an‐ sehen wollte. Wie war er nur in diese Lage gekommen? Ryuji kroch zum Telefon hinüber und wollte schon Asakawas Privatnummer eintippen, als ihm einfiel, dass sein Freund noch auf Oshima war. Der Mistkerl. Er wird staunen, wenn er hört, dass ich tot bin. Unter dem fürchterlichen Druck in Ryujis Brust ächzten seine Rip‐ pen. Ryuji tippte Mai Takanos Nummer ein. Er wusste nicht genau, warum er das tat. War es, weil er versuchte, am Leben festzuhal‐
ten, oder einfach, weil er als Allerletztes ihre Stimme hören wollte? Ich würde gern mein Leben hingeben, wenn ich sie zum Schluss nur in den Armen halten könnte. Andererseits gab es da noch eine Stimme, die sagte, er solle nicht aufgeben; vielleicht gebe es ja noch eine Chance, dass er gerettet werde. Ryuji schaute auf die Uhr auf seinem Schreibtisch. 21 Uhr 48. Er presste den Hörer ans Ohr und wartete darauf, dass Mai abnahm. Sein Kopf begann zu jucken. Als er die Hand hob, um sich zu kratzen, hatte er plötzlich ein Büschel Haare in der Hand. Er sah auf und stieß einen Schrei aus. In dem mannshohen Spiegel an der Tür seines Wandschranks sah er sein Gesicht. Er vergaß, dass er sich den Hörer ans Ohr geklemmt hatte, und kroch näher an den Spiegel heran. Dabei fiel der Hörer herunter, doch Ryuji achtete nicht darauf. Eine völlig andere Person, jemand, den er nicht kann‐ te, sah ihm aus dem Spiegel entgegen. Seine Wangen waren gelb, trocken und eingefallen, und die Stellen, an denen ihm die Haare ausgefallen waren, wirkten dunkel und schorfig. Eine Halluzinati‐ on. Und doch konnte er den Ekel bei seinem eigenen Anblick nicht unterdrücken. Aus dem Telefonhörer auf dem Boden klang eine Frauenstimme: »Hallo. Hallo?« Ryuji stieß ein langes, klagendes Heulen aus. Sein gequälter Schrei übertönte Mais Stimme — die Stimme der Frau, die er liebte, er konnte sie nicht mehr hören. Sein Ebenbild im Spiegel schien einhundert Jahre alt zu sein. Ryuji war nicht klar gewesen, dass es so Furcht erregend sein würde, sich selbst als einer völlig anderen Person zu begegnen. Er hatte Angst. Als Mai Takano das unheimliche Geheul hörte, hielt sie den Hörer ein Stück vom Ohr weg. Dann rief sie wieder: »Hallo? Hallo?« Die einzige Antwort war ein weiterer lang gezogener, gequälter Schrei,
ein Laut, der einen Schauder durch die Leitung jagte. Die nackte Panik wurde durch das Telefon aus Ryujis in Mais Wohnung über‐ tragen. Erschrocken hielt Mai den Hörer wieder weiter weg, doch die klagende Stimme ertönte immer noch. Zuerst hatte Mai Angst gehabt, aber allmählich begann sie zu glauben, es handelte sich um einen Scherz. Man hatte ihr schon öfter solche Telefonstreiche gespielt. Doch dann packte sie den Hörer fester, denn sie begriff, dass dies etwas anderes war. Es war echt. Plötzlich verstummten die klagenden Schreie, und sie hörte nur noch Stille, eine tiefe, durchdringende Stille. 21 Uhr 49. Ryujis Hoffnung, vor seinem Ende die Stimme der ge‐ liebten Frau noch einmal zu hören, hatte sich grausam zerschla‐ gen, denn im Augenblick seines Todes war sie von seinen eigenen Schreien übertönt worden. Er ging vom Bewusstsein ins Nichts über. Mais Stimme klang immer noch aus dem Hörer in seiner leblosen Hand, aber er konnte sie nicht hören. Er saß mit dem Rü‐ cken gegen das Bett gelehnt und mit breit gespreizten Beinen auf dem Boden. Seine Linke umklammerte die Kante der Matratze, während die Rechte den Hörer hielt, der immer noch flüsterte: »Hallo. Hallo.« Er hatte den Kopf zurückgeworfen, und beide Au‐ gen starrten weit aufgerissen an die Decke. Kurz bevor der Tod ihn holte, begriff Ryuji, dass es keine Rettung mehr für ihn gab, und er bedauerte zutiefst, dass er versucht hatte, dem verdamm‐ ten Asakawa mit seinem verdammten Video zu helfen. Mai rief immer noch »Hallo. Hallo« in den Hörer, doch als sie kei‐ ne Antwort bekam, legte sie auf. Die tiefe, klagende Stimme war ihr irgendwie bekannt vorgekommen, und sie hatte eine böse Vor‐ ahnung. Sie nahm den Hörer erneut ab und tippte die Nummer ihres verehrten Professors ein. Am anderen Ende erklang nur das
Besetztzeichen. Sie legte auf und versuchte es noch einmal. Natür‐ lich war immer noch besetzt. In diesem Augenblick war Mai si‐ cher, dass der Anruf von Ryuji gekommen und ihm etwas Schreckliches zugestoßen war.
Als Asakawa endlich nach Hause zurückkehrte, kam ihm die Wohnung ohne seine Frau und seine Tochter verlassen vor. Er zählte an den Fingern ab, wie viele Tage er fort gewesen war. Eine Nacht hatten sie in Kamakura verbracht, zwei Nächte hatten sie wegen des Sturms auf Oshima festgesessen, die folgende Nacht war die in der Blockhütte im Ferienklub Pazifik gewesen, und schließlich hatte er noch einmal auf Oshima übernachtet. Insge‐ samt war er nur fünf Nächte weg gewesen, doch ihm kam es viel länger vor. Es war nichts Besonderes für ihn, beruflich fünf oder sechs Tage unterwegs zu sein, aber wenn er nach Hause kam, schien die Zeit nie so lang gewesen zu sein. Diesmal war das an‐ ders. Asakawa setzte sich in seinem Arbeitszimmer an den Computer und schaltete ihn ein. Er hatte immer noch Muskelkater am gan‐ zen Körper, und vor allem die Hüften taten ihm weh, wenn er auf‐ stand oder sich setzte. Die Müdigkeit, die von einer ganzen Woche mit wenig Schlaf herrührte, war nach den zehn Stunden Tiefschlaf der vergangenen Nacht noch nicht völlig verschwunden. Aber er durfte sich jetzt nicht ausruhen. Wenn er die liegen gebliebene Arbeit nicht nachholte, konnte er am Sonntag — morgen — mit seiner Familie nicht wie versprochen nach Nikko fahren. Asakawa startete sein Textverarbeitungsprogramm. Die erste Hälfte seines Berichts hatte er bereits geschrieben und auf einer Diskette gespeichert. Nun würde er hinzufügen, was seit Montag geschehen war, als sie zum ersten Mal den Namen Sadako Yama‐ mura gehört hatten. Er musste den Artikel so bald wie möglich fertig schreiben. Zur Essenszeit hatte er fünf Seiten geschafft. Das war ein ganz normales Tempo für ihn. Normalerweise konnte er
spät abends besser schreiben. Indem er an seiner Geschichte arbei‐ tete, wollte er sich wieder an die übliche Routine gewöhnen. Er hatte keine Ahnung, wie sein Chefredakteur auf den Artikel rea‐ gieren würde, doch er konnte ihn ihm erst zeigen, wenn er fertig war. Auch wenn er wusste, dass es vergebliche Liebesmüh war, versuchte Asakawa, die Ereignisse der vergangenen halben Woche zu ordnen und einen Sinn hineinzubringen. Wenn sein Bericht fertig war, hatte er seine Aufgabe erfüllt. Einmal unterbrach er sich beim Tippen und fertigte mit dem Drucker neben seinem Schreibtisch eine Kopie der Fotografie von Sadako an. Als er sie betrachtete, hatte er den Eindruck, diese wunderschöne Frau würde seinen Blick erwidern, ihm nachspio‐ nieren. Danach konnte er sich nicht mehr konzentrieren. In Sada‐ kos hübschen Augen sah Asakawa ein Bild, das ebenso schön war wie sie. Er wurde das Gefühl nicht los, dass diese Frau in sein We‐ sen eingedrungen und zu einem Teil von ihm geworden war. Asa‐ kawa legte das Foto so hin, dass sein Blick nicht mehr darauf fiel. Er konnte nicht arbeiten, wenn Sadako ihn beobachtete. Gegen Ende des Mittagessens, das er in einem benachbarten Cafe einnahm, fragte Asakawa sich plötzlich, was Ryuji gerade machte. Nein, eigentlich dachte er nicht bewusst darüber nach, sondern es kam ihm einfach vage in den Sinn. Nachdem er in sein Arbeits‐ zimmer zurückgekehrt war, um weiterzuarbeiten, behielt er die Gedanken an Ryuji im Hinterkopf, doch allmählich wurden sie deutlicher. Was er wohl gerade treibt? Die Vorstellung, die er von Ryujis Gesicht im Kopf hatte, schien sich manchmal in zwei übereinander liegende Bilder zu teilen. Beunruhigt griff Asakawa zum Telefonhörer. Am anderen Ende klingelte es siebenmal, bevor jemand abhob und Asakawa erleich‐ tert aufatmete. Eine Frauenstimme meldete sich.
»Ja, hallo.« Die Stimme war leise, fast unhörbar, doch Asakawa erkannte sie. »Hallo. Hier spricht Asakawa.« »Ja?«, kam es schwach zurück. »Äh, Sie sind Mai Takano, oder? Ich muss Ihnen noch für das Essen danken, das Sie bei unserer letzten Begegnung zubereitet haben.« »Keine Ursache.« Mai brachte kaum ein Flüstern heraus und hielt den Hörer fest umklammert. »Ist Ryuji da? Ich würde ihn gern sprechen.« Schon während er fragte, wunderte sich Asakawa, warum Mai den Hörer nicht ein‐ fach an Ryuji weitergab. »Der Professor ist tot.« »Was?« Im ersten Moment wusste Asakawa nicht, was er sagen sollte, und konnte nur fassungslos wiederholen: »Was?« Er starrte auf einen Punkt an der Decke, ohne irgendetwas zu sehen, und ließ beinahe den Hörer fallen. Schließlich brachte er heraus: »Wann?« »Gestern Abend, gegen zehn Uhr.« Letzten Freitag in Asakawas Wohnung hatte Ryuji um genau 21 Uhr 49 das Video zu Ende angeschaut. Es war also exakt der vor‐ hergesagte Zeitpunkt. »Verstehe... Woran ist er gestorben?« Die Frage war eigentlich überflüssig. »Plötzliches Herzversagen. Etwas in der Art; genau wissen sie es noch nicht.« Asakawa stand auf. Es war also noch nicht vorbei. Sie waren ge‐ rade in die zweite Runde gegangen. »Mai, sind Sie noch eine Weile dort?« »Ja. Ich versuche, die Papiere des Professors in Ordnung zu brin‐ gen.«
»Ich komme sofort. Warten Sie auf mich.« Asakawa legte auf und machte sich auf den Weg. Ihm fiel ein, dass die Frist für seine Frau und seine Tochter am folgenden Mor‐ gen um elf ablief. Der Wettlauf gegen die Zeit ging wieder los. Doch diesmal würde er ihn allein bestreiten müssen. Ryuji konnte ihm nicht mehr helfen. Er musste rasch etwas unternehmen. Beeil dich, dachte er. Beeil dich! Als er aus dem Haus kam und sah, wie wenig Verkehr auf der Hauptstraße war, beschloss er, dass er mit dem Mietwagen schnel‐ ler am Ziel sein würde als mit der Bahn. Er ging über den Bür‐ gersteig zu dem Wagen, den er am Straßenrand geparkt hatte. Wegen des geplanten Ausflugs hatte er ihn noch nicht zurückge‐ geben. Was geschah da eigentlich? Asakawa umklammerte das Lenkrad und versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Wie in einer Rückblende schossen ihm verschiedene Szenen durch den Kopf, doch er konnte sich auf nichts konzentrieren. Je mehr er ü‐ berlegte, desto schwerer fiel es ihm, seine Gedanken unter Kon‐ trolle zu behalten. Der rote Faden zwischen den Ereignissen schien sich zu verknoten und zu verheddern. Ganz ruhig bleiben, sagte er sich. Ganz ruhig bleiben und nachdenken. Erstens, sie hatten noch nicht herausgefunden, wie man dem Schicksal entgehen konnte, zu dem einen der Fluch verdammte. Mit anderen Worten, Sadakos Wunsch war es nicht gewesen, dass jemand ihre sterblichen Überreste fand und sie ein anständiges Begräbnis erhielt. Was immer sie auch wollte, es war etwas ande‐ res. Aber was? Das war die Frage. Was er auch nicht verstand, war, warum er noch lebte, wenn sie doch das Rätsel des Fluchs nicht gelöst hatten. Erklär mir das, dachte er. Warum bin ich als Einziger noch am Leben? Für Asakawas Frau und Tochter lief die Frist am nächsten Mor‐
gen um elf Uhr ab. Jetzt war es neun Uhr abends. Wenn er vor Ablauf der Frist nichts unternahm, würde er seine Familie verlie‐ ren. Ryuji war auf den Gedanken gekommen, dass Sadakos Fluch für die plötzlichen Todesfälle verantwortlich war, doch Asakawa hat‐ te das Gefühl, dass daran etwas nicht stimmte. Er hatte so eine Ahnung, dass hier eine unergründliche Macht der Finsternis am Werk war, die das Leid der Menschen nur mit einem höhnischen Lachen quittierte. Er traf Mai im japanisch eingerichteten Zimmer an, wo sie auf dem Boden kniete. Ryujis unveröffentlichtes Manuskript lag auf ihrem Schoß. Sie blätterte eine Seite nach der anderen um und ü‐ berflog sie, begriff jedoch nur sehr wenig von dem komplizierten Inhalt. Ansonsten war das Zimmer leer. Ryujis Leiche war am frü‐ hen Morgen zu seinen Eltern in Kawasaki gebracht worden. »Erzählen Sie mir, was gestern Abend passiert ist. Ich möchte es ganz genau wissen.« Asakawas Freund war tot. Das schmerzte ihn besonders, weil Ryuji ihm in dieser schweren Zeit zur Seite gestanden hatte. Noch hatte er jedoch nicht die Muße, um ihn zu trauern. Asakawa setzte sich neben Mai. »Es muss gestern Abend irgendwann nach halb zehn gewesen sein. Der Professor hat mich angerufen.« Mai berichtete in allen Einzelheiten von den Ereignissen des Vorabends. Von dem lang gezogenen Klagen, das aus dem Hörer gekommen war, gefolgt von der unheimlichen Stille. Davon, wie sie eilends zu Ryuji ge‐ fahren war und ihn gefunden hatte. Wie er mit gespreizten Beinen ans Bett gelehnt dagesessen hatte. Als ihr Blick durch das Zimmer zu der Stelle wanderte, an der Ryuji gelegen hatte, und sie Asaka‐ wa erzählte, wie sie die Leiche entdeckt hatte, traten ihr die Tränen in die Augen.
»Ich habe ihn beim Namen gerufen, aber er gab keine Antwort.« Asakawa ließ Mai keine Zeit, sich auszuweinen. »Ist Ihnen im Zimmer irgendetwas Merkwürdiges oder Ungewöhnliches aufge‐ fallen?« »Nein.« Mai schüttelte den Kopf. »Nur, dass der Telefonhörer nicht auf der Gabel lag und ein lautes Geräusch von sich gab.« Im Augenblick seines Todes hatte Ryuji also versucht, Mai anzu‐ rufen. Warum? Asakawa fragte weiter: »Sind Sie sicher, dass er nichts zu Ihnen gesagt hat? Nichts von einer Videokassette?« »Einer Videokassette?« Mai runzelte ungläubig die Stirn. Was sollte eine Videokassette mit dem Tod des Professors zu tun ha‐ ben? Asakawa bekam nicht heraus, ob Ryuji kurz vor seinem Tod die wahre Bedeutung des Fluchs erkannt hatte. Aber warum hatte er Mai angerufen? Es war klar, dass er zu dem Zeitpunkt bereits wusste, dass er sterben würde. Wollte er in dem Moment einfach die Stimme der geliebten Frau hören? Das war unwahrscheinlich. Er musste das Rätsel des Fluchs gelöst und Mai deshalb angerufen haben, damit sie ihm half, entsprechende Maß‐ nahmen zu ergreifen. Das musste der Grund gewesen sein. Man brauchte die Hilfe eines Dritten, um den Fluch aufzuheben. Mai brachte Asakawa zur Tür. »Mai, bleiben Sie heute Nacht hier?« »Ja. Ich bringe die Manuskripte in Ordnung.« »Ah, ja. Das muss eine Menge Arbeit sein, wo Sie doch ohnehin viel zu tun haben. Aber es ist sehr nett von Ihnen.« Asakawa ging hinaus. »Äh, einen Moment, bitte. Da ist noch etwas.« »Ja?« »Asakawa, ich fürchte, Sie haben eine falsche Vorstellung von der Beziehung zwischen mir und dem Professor.« »Wie meinen Sie das?«
»In Bezug auf unsere Beziehung als Mann und Frau.« »Ach, wissen Sie, das geht mich doch wirklich nichts an.« Mai begriff, dass Asakawa annahm, sie und Ryuji wären ein Lie‐ bespaar gewesen. Das sah sie an seinem Blick. »Erinnern Sie sich noch an unsere erste Begegnung? Der Profes‐ sor stellte Sie mir als seinen guten Freund Asakawa vor. Das hat mich ein wenig überrascht. Es war das erste Mal, dass ich hörte, wie der Professor jemanden einen guten Freund nannte. Damals wurde mir klar, dass Sie ihm sehr viel bedeuteten. Und daher...« Mai brach ab und zögerte einen Augenblick, bevor sie fortfuhr. »Da Sie also sein guter Freund waren, möchte ich Ihnen etwas er‐ zählen, das Ihnen hilft, ihn besser zu verstehen. Er... Soweit ich weiß, hat er nie eine Frau gehabt.« Mai hielt inne und senkte den Blick. Wollte sie damit sagen, dass Ryuji noch unberührt gewesen war? Asakawa schwieg. Der Ryuji, an den sich Mai erinnerte, schien ein ganz anderer Mensch zu sein. Irgendwie ging dieses Gespräch in die völlig falsche Richtung. »Äh, ja. Hm...« Asakawa unterdrückte den Impuls, zu sagen, tja, offenbar wissen Sie nicht, was passiert ist, als Ryuji im zweiten Jahr auf der Ober‐ schule war. Er fand, es wäre grausam und sinnlos, nun, da Ryuji tot war, von seinen kriminellen Machenschaften zu sprechen. Wo‐ zu sollte er das Bild von Ryuji zerstören, das Mai in ihrem Herzen bewahrte? Und doch durchzuckten ihn Zweifel. Asakawa glaubte daran, dass es so etwas wie weibliche Intuition gab. Wenn also Mai, die Ryuji relativ nahe gestanden hatte, glaubte, er wäre bei seinem Tod noch unberührt gewesen, musste Asakawa diese Möglichkeit ernsthaft in Betracht ziehen. Das würde bedeuten, dass Ryuji ihm mit seiner Geschichte davon, wie er als Oberschüler eine Studentin
vergewaltigt hatte, einen Bären aufgebunden hatte. »Wenn wir zusammen waren, hat er gezittert wie ein Kind. Er‐ zählen Sie mir von ihm. Sagen Sie mir alles, bitte, verschweigen Sie mir nichts. Was für eine Jugend hat er gehabt? Er muss irgendeine schlimme Erfahrung gemacht haben. Ich glaube, das meiste dar‐ über weiß ich schon.« »Verstehe.« Mehr brachte Asakawa nicht heraus. »Wenn wir zusammen waren, benahm er sich wie ein schüchter‐ ner Zehnjähriger, aber sobald noch jemand anders hinzukam, war er ganz der kultivierte Gentleman. Bei Ihnen war er bestimmt im‐ mer der Bösewicht. Aber er hat immer Theater gespielt, oder? Wenn es nicht nur gespielt war, dann... dann...« Mai griff zu ihrer weißen Handtasche, nahm ein Taschentuch heraus und betupfte sich die Augen. »Es scheint fast so, als wäre er in der Welt nicht klar gekommen, wenn er keine Show abzog. Verstehen Sie? Kön‐ nen Sie mir folgen?« Das war eine überraschende Entwicklung, aber was Mai sagte, klang plausibel. Auf der Oberschule hatte Ryuji in seinen Fächern und im Sport glänzende Leistungen erbracht, aber er war immer ein Einzelgänger gewesen, der im Grunde nie echte Freunde ge‐ habt hatte. »Ja, er hat wohl etwas Unschuldiges an sich gehabt. Er hat nicht mit Mädchen ʹrumgemacht wie die anderen Jungs.« Mais Taschentuch war mittlerweile nass von Tränen. Sie standen immer noch in dem engen Flur, und Asakawa stellte fest, dass er einfach zu viel im Kopf hatte. Ihm fielen keine passenden Trost‐ worte ein, um sich von Mai zu verabschieden. Der Ryuji, den er gekannt hatte, und der Ryuji, den sie gekannt hatte, waren wie zwei völlig unterschiedliche Menschen. Wenn er die beiden Vor‐ stellungen übereinander legte, entstand ein unscharfes Bild, hinter dem er nur schwer erkennen konnte, wer Ryuji wirklich gewesen
war. Er hatte immer eine dunkle, geheimnisvolle Seite gehabt. Sein ganzes Wesen zu begreifen schien niemandem möglich gewesen zu sein. Nun war fraglich, ob er als Oberschüler tatsächlich eine Studentin vergewaltigt hatte oder nicht. Asakawa war sich jeden‐ falls nicht mehr sicher. Und hatte er später noch öfter so etwas getan, wie er behauptet hatte? Doch Asakawa hatte jetzt keine Zeit, sich mit Ryujis Vergangen‐ heit zu beschäftigen — er musste sich über die ablaufende Frist seiner Frau und seiner Tochter den Kopfzerbrechen. Daher sagte er um Abschied nur: »Ryuji war auch mein bester Freund.« Darüber schien Mai sich zu freuen, denn sie versuchte zu lächeln, wenn auch halb unter Tränen. Aus ihren Augen sprach eine Art einfühlsames Verständnis. Asakawa schloss die Wohnungstür und eilte die Treppe hinunter. Draußen auf der Straße überwältigte ihn plötzlich die Erkenntnis, dass Ryuji sich mit Haut und Haar in das gefährliche Spiel gestürzt und schließlich sein Leben für seinen Freund geopfert hatte. Asakawa schämte sich der Tränen nicht, die ihm die Wangen hinunterströmten.
Es war kurz nach Mitternacht. Der Sonntag war schließlich ge‐ kommen. Asakawa versuchte, seine Gedanken zu ordnen, indem er sich auf einem Blatt Papier Notizen machte. Kurz vor Ablauf seiner Frist hatte Ryuji offenbar die Lösung des Rätsels gefunden. Er hatte Mai angerufen, wahrscheinlich mit der Absicht, sie um Hilfe zu bitten. Mit anderen Worten, er brauchte Mais Hilfe, um den Fluch zu bannen. Die entscheidende Frage war: Warum war Asakawa noch am Leben? Darauf gab es nur eine Antwort. Irgendwie hatte er im Laufe der vergangenen Wo‐ che den Fluch aufgehoben, ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein. Welche andere Erklärung konnte es geben? Mit der Hilfe von Dritten konnte also jeder den Fluch leicht bannen. Noch eine Frage stellte sich. Warum waren die vier jungen Leute, die in der Block‐ hütte übernachtet hatten, einfach in ihren Alltag zurückgekehrt und hatten nicht versucht, den Fluch unwirksam zu machen? Wenn es eine Kleinigkeit war, hätte dann nicht vielleicht jeder von ihnen vor den anderen den Unerschrockenen oder Gleichgültigen gespielt, aber dann versucht, den Fluch heimlich für sich allein loszuwerden? Darüber musste er gründlich nachdenken. Was hat‐ te er in der vergangenen Woche getan, das den Unterschied aus‐ gemacht hatte? Irgendetwas, das Ryuji offenbar nicht getan hatte. Plötzlich entfuhr Asakawa ein Aufschrei. »He! Woher soll ich das wissen? Ich muss letzte Woche tausenderlei Dinge getan haben, die Ryuji nicht gemacht hat. Das ist nicht witzig.« Asakawa verfluchte Sadako und schlug mit der Faust auf ihre Fotografie. »Verdammt noch mal! Wann bist du endlich zufrie‐ den? Wann hast du genug Schmerz und Leid verursacht?«
Er hämmerte ein paar Mal auf Sadakos Gesicht auf dem Foto, doch ihre Miene veränderte sich kein bisschen. Sie blieb stets so berückend schön wie immer. Asakawa ging in die Küche und goss sich ein großzügiges Quan‐ tum Whiskey ein. Ihm war, als ob sich das Blut irgendwo in sei‐ nem Kopf staute und er ihn wieder frei bekommen musste. Gerade wollte er den Drink in einem Zug hinunterstürzen, doch im letzten Moment hielt er inne. Er überlegte, wie der Fluch funktionierte, und beschloss, es wäre besser, den Whiskey nicht zu trinken. Viel‐ leicht musste er später ja noch nach Ashikaga fahren. Irgendetwas machte ihn wütend. Als er die sterblichen Überreste Sadakos aus dem Brunnen gezogen hatte, war er voller Angst gewesen, dass sein Leben an einem seidenen Faden hing. Irgendwie hatte er die Sache erfolgreich zu Ende gebracht, weil Ryuji ihm geholfen hatte. »Ryuji! Ryuji, ich brauche dich. Hilf mir!« Er wusste, dass er ohne seine Frau und seine Tochter nicht wei‐ terleben konnte. Das wäre unerträglich. »Ryuji! Gib mir deine Kraft. Warum konnte ich überleben, und du bist gestorben? War es, weil ich als Erster Sadakos Überreste gefunden habe? Wenn ja, gibt es keine Rettung für meine Frau und meine Tochter. Aber das kann ich nicht zulassen. Hilf mir, Ryuji!« Asakawa war völlig außer sich. Er wusste zwar, dass es nichts brachte, jetzt zu jammern und zu klagen, aber er konnte nicht mehr gelassen bleiben. Eine ganze Weile flehte er Ryuji an und schrie laut, bis er endlich wieder ruhiger wurde. Er hörte auf, sich Notizen zu machen, und las noch einmal durch, was er bisher ge‐ schrieben hatte. Da war die Weissagung der alten Frau. Hatte Sa‐ dako ein Kind zur Welt gebracht? Shirotaro Nagao, der Mann, mit dem sie kurz vor ihrem Tod »Sex« gehabt hatte, war der letzte Japaner, von dem bekannt war, dass er sich mit Pocken infiziert hatte. War das von Bedeutung? Asakawa setzte ein Fragezeichen
hinter all diese Punkte. Zu keinem einzigen hatte er irgendwelche handfesten Fakten in der Hand. Würde er auf der Grundlage die‐ ser Informationen herausfinden, wie der Fluch funktionierte? Er musste es schaffen. Er durfte nicht versagen. Ein paar Stunden verstrichen. Draußen begann es soeben, hell zu werden. Asakawa lag auf dem Bett und hörte jemanden regelmä‐ ßig atmen. Es hallte ihm in den Ohren. Er nahm Vogelgezwitscher wahr. Was war Traum, was Wirklichkeit? Irgendwann im Laufe der Nacht hatte er sich auf dem Bett zusammengerollt und war eingeschlafen. Er blinzelte, weil ihn das Morgenlicht blendete. In dem grellen Schein glaubte er, eine Gestalt zu erblicken. Er hatte keine Angst. Plötzlich kam er zu sich und starrte die Gestalt an. »Ryuji?«, rief er. »Bist du das?« Die undeutliche Gestalt gab keine Antwort, doch mit einem Mal erinnerte sich Asakawa so lebhaft an einen Buchtitel, als hätte er sich ihm ins Gedächtnis eingebrannt. Die Epidemien der Menschheit. Als er die Augen schloss, konnte er den Einband des Buches deutlich vor sich sehen. Dahinter tauchte eine Erinnerung auf, die sich jedoch wieder verlor. Asakawa hatte das Buch in seinem Ar‐ beitszimmer. Als er vor Wochen begonnen hatte, sich mit dem Thema zu beschäftigen, hatte er vermutet, die vier jungen Leute hätten sich mit irgendeinem Virus infiziert, an dem sie genau zur gleichen Zeit gestorben waren. Damals hatte er das Buch gekauft. Er hatte es noch nicht gelesen, aber er wusste noch genau, dass er es ins Bücherregal gestellt hatte. Die Morgensonne erreichte eben die Fenster im Osten. Als Asa‐ kawa aufstand, hatte er hämmernde Kopfschmerzen. War das alles ein Traum gewesen? Von Anfang an? Er öffnete die Tür zu seinem Arbeitszimmer und nahm das Buch
Die Epidemien der Menschheit aus dem Regal. Irgendjemand hatte es ihm empfohlen. Blitzartig erinnerte er sich, dass es Ryuji gewesen war, der gedacht hatte, so könnten sie dem Geheimnis des Fluchs auf die Spur kommen. Stand des Rätsels Lösung irgendwo auf den etwa dreihundert Seiten des Buches? Plötzlich hatte Asakawa eine weitere Einge‐ bung. Es war Seite 191! An die Zahl konnte er sich nicht sehr deut‐ lich erinnern, doch er schien sie irgendwo im Hinterkopf zu ha‐ ben. Er schlug das Buch auf und überflog die Seite auf der Suche nach einem bestimmten Wort. Verbreitung. Verbreitung. Verbreitung. Es liegt in der Natur ei‐ nes Virus, sich zu verbreiten und zu vermehren. »Ein Virus eignet sich den Stoffwechsel seiner Wirtszelle an und benutzt ihn, um sich zu verbreiten.« »Okay.« Triumphierend erhob Asakawa die Stimme. Endlich hatte er die Bedeutung des Fluchs erkannt. Jetzt ist klar, was ich letzte Woche getan habe, und Ryuji nicht. Ich habe das Video aus der Blockhütte mitgebracht, eine Kopie angefertigt und den Film Ryuji gezeigt. Im Grunde steckt hinter dem Fluch etwas ganz Einfaches. Etwas, das jeder tun kann. Man muss nur eine Kopie des Videos aufnehmen und sie jemand ande‐ rem vorführen. Indem ich das Video jemandem gezeigt habe, der es noch nicht kannte, habe ich es verbreitet. Die vier jungen Leute haben entweder gedacht, das Ganze wäre ein Streich, oder sie ha‐ ben aus Leichtsinn die Kassette in der Blockhütte zurückgelassen, sodass niemand da war, der den Fluch für sie bannen konnte. Wie er es auch drehte und wendete, das musste die Erklärung sein. Asakawa war sich sicher. Er nahm den Hörer ab und tippte die Nummer seiner Schwiegereltern in Ashikaga ein. Seine Frau Shizu meldete sich. »Also«, sagte Asakawa, »jetzt hör mir einmal ganz genau zu. Ich
möchte, dass du deinem Vater und deiner Mutter etwas zeigst. Es ist sehr wichtig, dass sie es sehen, und zwar sofort. Ich komme gleich zu euch und bringe es mit. Sorg dafür, dass sie nirgendwo hingehen, bis ich da bin. Verstehst du? Sie müssen unbedingt da sein.« Verkaufe ich dem Teufel jetzt meine Seele, fragte er sich. Da rette ich meine Frau und meine Tochter, indem ich meine Schwiegerel‐ tern zumindest vorübergehend in Gefahr bringe. Andererseits würden sie zweifellos mit Freuden alles tun, um ihre Tochter und ihre Enkelin zu retten. Später mussten sie nur eine eigene Kopie des Videos anfertigen und jemand anderem zeigen. Damit wären sie außer Gefahr. Aber dann... wo sollte das hinfüh‐ ren? »Was ist los?«, fragte Shizu. »Ich verstehe das alles nicht.« »Mach dir keine Sorgen; tu einfach, was ich gesagt habe. Ich fah‐ re sofort los und komme, so schnell ich kann. Ach, und noch et‐ was. Deine Eltern haben einen Videorekorder, oder?« »Natürlich.« »Beta‐System oder VHS?« »VHS.« »Gut. Bin schon unterwegs. Denk nur dran, dass du deine Eltern nicht aus dem Haus gehen lässt, klar? Sie müssen da sein, wenn ich komme.« »Warte mal. Du willst meinen Eltern etwas zeigen, ja? Ist es etwa das Video, von dem wir neulich gesprochen haben? Das, worüber du dich so aufgeregt hast?« Asakawa wollte ihre Frage nur ungern beantworten; daher schwieg er. »Das ist es, oder?«
»Hm, ja.« »Ist das nicht gefährlich?« Ist es nicht gefährlich?, dachte Asakawa. Du und deine Tochter, ihr habt nur noch fünf Stunden zu leben. Deine Sorge um deine Eltern ist vielleicht berechtigt, aber es ist idiotisch von dir, jetzt Fragen zu stellen. Wir haben keine Zeit für Fragen oder Diskus‐ sionen über das Ganze. Doch irgendwie gelang es Asakawa, das alles für sich zu behalten. Stattdessen sagte er: »Hör mal, mach einfach, was ich gesagt habe, und ich komme, so schnell ich kann.« Es war kurz vor sieben. Wenn er die Autobahn nahm und es keine Verzögerungen gab, konnte er um halb zehn bei seinen Schwie‐ gereltern sein. Wenn er noch die Zeit mit einrechnete, die man brauchte, um das Video zweimal zu kopieren — einmal für seine Frau und einmal für seine Tochter —, würde er es gerade eben vor elf Uhr schaffen. Asakawa legte auf und ging ins Wohnzimmer hinüber, wo er die Kabel herausriss, mit denen sein Videorekorder an den Rest der Anlage angeschlossen war. Er brauchte zwei Re‐ korder, um die Kassette zu überspielen; daher musste er diesen mit nach Ashikaga nehmen. Im Stadtteil Oi fuhr er über die Rampe auf die Stadtautobahn, an der Bucht von Tokio entlang und auf die große Schnellstraße nach Nordosten. Er rechnete nicht damit, dass dort ein Stau sein würde, aber er dachte sich, dass vielleicht die Straßen durch die Stadt ver‐ stopft waren, die zum Tohoku‐Expressway, der Nordost‐ Schnellstraße in Richtung Ashikaga, führten. An der Zahlstelle der Rampe in Oi hielt er nach Anzeichen für einen Stau Ausschau, als ihm plötzlich einfiel, dass Sonntag war. Im Tunnel, der unter dem Meer hindurchführte und in dem die Fahrzeuge sich normalerwei‐ se aneinander reihten wie Perlen auf einer Schnur, war nur wenig
Verkehr. Selbst an den Autobahnkreuzen gab es keinen Stau. Bei dieser Verkehrslage musste er eigentlich um neun Uhr bei seinen Schwiegereltern ankommen und würde dann reichlich Zeit haben, das Video zweimal zu überspielen. Asakawa nahm den Fuß vom Gas. Mehr als alles andere fürchtete er jetzt, er könnte in einen Unfall verwickelt werden, wenn er zu schnell fuhr. Als die Autobahn am Fluss Sumida entlang nach Norden schwenkte, konnte Asakawa sehen, wie die Stadtviertel allmählich aus ihrer Sonntagmorgenruhe erwachten. Alles sah anders aus als an einem Wochentag: Die Leute gingen zu Fuß, anstatt mit dem Auto oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Es sah aus wie ein ganz gewöhnlicher, friedlicher Sonntagmorgen, und doch... Solche Gedanken gingen Asakawa durch den Kopf. Wohin wür‐ de das Ganze führen?, fragte er sich. Er würde eine Kopie des Vi‐ deos für seine Frau und eine weitere für seine Tochter anfertigen. Dadurch würde sich das Virus verdoppeln — wie weit würde es sich ausbreiten? Wenn sich nun bestimmte Personen, die das Vi‐ deo gesehen hatten, zusammentaten und es immer wieder kopier‐ ten und sich gegenseitig weitergaben, sodass es stets innerhalb der Gruppe blieb — ob sich so die Ausbreitung des Virus einschrän‐ ken ließe? Ein solches System würde jedoch dem Ziel eines Virus, sich zu vermehren zuwiderlaufen, und Asakawa wusste nicht ge‐ nau, wie die Videokassette in ein solches Schema passte. Sie wür‐ den ausprobieren müssen, ob es funktionierte. Das Virus würde sich wahrscheinlich recht weit verbreiten müssen, bevor sie je‐ manden fanden, der bereit war, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um festzustellen, ob es klappte. Solange man die Gefahr einfach abwenden konnte, indem man das Video vervielfältigte und einem anderen zeigte, würden sich die meisten damit zufrieden geben, den Fluch auf jemand anderen zu übertragen. Das war schließlich
ganz einfach. Doch wenn das Virus sich ausbreitete, würde es im‐ mer schwieriger werden, jemanden zu finden, der das Video noch nicht gesehen hatte. Und noch etwas musste man bedenken: Im Zuge der Verbrei‐ tung des Virus konnte es passieren, dass der Abstand zwischen dem Anschauen des Videos und der Weitergabe an jemand ande‐ ren, der es sah, immer kürzer wurde. Von einer Woche konnte er auf einen viel kürzeren Zeitraum zusammenschrumpfen. Die mei‐ sten Menschen, die das Video gesehen hatten, würden bestimmt keine Woche warten, bevor sie es kopierten und jemand anderem zeigten. Wie groß würde der Personenkreis werden, und wie schnell würde er wachsen? Aus instinktiver Furcht heraus würden die Menschen versuchen, die Kassetten zu vernichten, die sich wie eine Epidemie in der Gesellschaft verbreiteten. Sie würden nicht begreifen, dass der Schlüssel zur Ausrottung in den Videos selbst lag. Doch vielleicht würden sie auch in Panik geraten und Gerüch‐ te in die Welt setzen wie: »Wer das Video gesehen hat, muss es mehr als zweimal vervielfältigen und mehr als zwei Menschen zeigen.« Damit würde sich das Ganze ungemein beschleunigen — in einem halben Jahr gäbe es in Japan nur noch Träger des Virus, und es würde sich in andere Länder ausbreiten. Unterdessen würden sich manche Menschen selbst opfern; daran würden die anderen erkennen, dass der Fluch kein alberner Scherz war. Vor lauter Verzweiflung würden sie noch mehr Kopien des Videos anfertigen. Es ließ sich nicht vorhersagen, welche Panik dadurch ausgelöst würde oder welche Bedingungen sich daraus ergeben würden. Vielleicht würden weitere Menschen auftauchen, die bereit waren, sich zu opfern. Vor zwei Jahren, auf dem Höhe‐ punkt des Okkultismus‐Booms, waren ungefähr zehn Millionen Geschichten eingegangen. Es war völlig verrückt gewesen. Wenn sich ein ähnlicher Wahnsinn rund um das neue, tödliche Virus
entwickelte, wohin würde das führen? In Sadako Yamamura vereinten sich der Hass einer Frau auf die Gesellschaft, die ihre Eltern in den Tod getrieben hatte, und der Hass des Pockenvirus auf die menschliche Intelligenz, die es schließlich ausgerottet hatte. Diese beiden Formen des Hasses kehrten nun in ungeahnter und unerwarteter Gestalt in die Welt zurück. Tatsache war, dass Asakawa, seine Familie und alle, die das Video gesehen hatten, sich möglicherweise mit dem Virus in‐ fiziert hatten. Sie alle waren Träger. Das neue Virus konnte unmit‐ telbar auf die Gene, den Kern des Lebens, übertragen werden. Was würde geschehen, wenn das passierte? Diese Frage konnte noch niemand beantworten. Wie würde sich dies auf die zukünftige Geschichte auswirken? Was bedeutete es für die Zukunft der Menschheit? Um meine Familie zu schützen, dachte Asakawa, bin ich im Be‐ griff, eine Seuche in die Welt zu setzen, die der Untergang der Menschheit sein kann. Er fürchtete sich vor den Folgen seines Handelns. Eine leise Stimme schien ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Wäre es nicht besser, sagte sie, deine Frau und deine Tochter als Bollwerk gegen den Angriff einzusetzen? Ist der Wirt erst einmal verschwunden, muss auch das Virus sterben. Das könnte die Menschheit retten. Asakawa fuhr auf die Nordost‐Schnellstraße. Es gab keinen Stau. Wenn es so weiterlief, würde er mehr als genug Zeit haben. Er beugte sich weit über das Lenkrad, das er fest umklammerte. »Ich bereue nichts. Ich bin nicht dazu verpflichtet, meine Familie in Gefahr zu bringen oder gar zu opfern. Wenn Gefahr droht, ist es meine Pflicht, sie zu beschützen, egal, um welchen Preis.« Asaka‐ wa sprach so laut, dass er das Motorengeräusch seines Wagens übertönte. Er wollte sich die Worte sagen hören, um noch ent‐ schlossener zu werden. Wenn Ryuji jetzt hier wäre, was würde er
machen? In diesem Punkt war sich Asakawa ganz sicher. Es war Ryujis Geist, von dem er die Lösung des Rätsels um die Videokas‐ setten erfahren hatte. Er konnte sogar sagen, es war Ryuji, der sei‐ ne Frau und sein Kind gerettet hatte. Davon war Asakawa über‐ zeugt. Ryuji würde vermutlich sagen. »Vertrau ganz auf dein Ge‐ fühl! Das Einzige, was vor uns liegt, ist eine Ungewisse Zukunft. Alles Vergangene ist bereits geschehen. Wenn wir mit der ganzen Intelligenz der Menschen an die Probleme herangehen, können wir sie wahrscheinlich lösen. Das hier ist nur eine weitere Prüfung für das Menschengeschlecht. In jeder Generation taucht Satan in einer anderen Gestalt auf. Jedes Mal, wenn wir mit ihm fertig werden oder über ihn triumphieren, erscheint er in einer anderen Form erneut«. In gleichmäßigem Tempo fuhr Asakawa weiter in Richtung As‐ hikaga. Im Rückspiegel sah er den Himmel über Tokio, an dem sich drohend schwarze Wolken zusammenballten. Sie verkünde‐ ten Unheil, wie es in der Offenbarung des Johannes vorausgesagt wird. Die Wolken sahen aus wie Schlangen, die über den Himmel krochen.