C.H.GUENTER
TEUFELSKREIS
ERICH PABEL VERLAG GMBH. 7550 RASTATT
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C.H.GUENTER
TEUFELSKREIS
ERICH PABEL VERLAG GMBH. 7550 RASTATT
1. Um 23 Uhr kam Dr. Ella Keith von der Party nach Hause. Um 23 Uhr 15 hatte sie kalt geduscht und immer noch Kopfschmerzen. Um 23 Uhr 25 entschloß sie sich eine Tablette zu nehmen. Um 23 Uhr 27 läutete das Telefon. Sie hob nicht ab. Aber das Telefon gab keine Ruhe. Schon im Halbschlaf meldete sie sich. »Es ist soweit«, sagte eine ihr fremde männliche Stimme. »Wer sind Sie?« »Absolut unwesentlich, Dr. Keith. Ich bin nur beauftragt, Sie zu informieren, daß es soweit ist.« Der Wissenschaftlerin fiel es schwer, ihr Gehirn so schnell auf Touren zu bringen, daß es in gewohnter Weise funktionierte. Dieses verdammte Dolviran. Der reinste Schlaftorpedo war das. Sie kämpfte sich wach. Ihre Sprechorgane benahmen sich wie die eines volltrunkenen Seemanns. Schließlich brachte sie wieder eine Frage zustande. »Was ist soweit?« Der Anrufer brauchte mehrere Sekunden. Sie fürchtete schon, er sei nicht mehr da. »Sie werden gleich verhaftet«, kündigte der Fremde an. »Von wem und weswegen?« »Von FBI«, sagte der Fremde, »wegen des Verdachtes auf Landesverrat. Schätze, Sie wissen Bescheid. Okay, verhalten Sie sich richtig, so, wie auch wir es tun werden. Und achten Sie auf Midas. Good night, Dr. Keith!« Das war wie ein Guß mit eiskaltem Quellwasser. Plötzlich benahm sich ihr Körper, als habe er statt eines Schlafmittels Mocca im Blut. Mit Verblüffung stellte Dr. Keith sein spontanes Anspringen fest. Es versetzte sie in die Lage so zu handeln, wie sie handeln mußte. Alles was von jetzt ab zu tun war, jedes Wort das sie sagen durfte, war festgelegt und probeweise durchgespielt worden. Ihre Reaktionen saßen wie die Griffe eines Harfinisten, dessen Finger sich auf 5
den Saiten so sicher bewegten wie ein Fußgänger auf einem trockenen Spazierweg an einem kühlen Sommermorgen im Zentral Park. Sie streifte noch einmal durch die Räume des Apartments, brachte hier ein Dokument an die richtige Stelle, vernichtete dort andere, indem sie sie zerfetzte und durch das WC spülte. Dann legte sie sich hin. Sie hatte gewußt, daß diese Stunde kommen würde. Sie hatte keine Angst davor gehabt. Bis jetzt. Aber nun hatte sie Angst. Darin lag der Unterschied, ob man über eine Blinddarmoperation nur redete oder ob man selbst unter dem Messer lag. Um 23 Uhr 55 ging der Wohnungssummer. Sie zog den Bademantel über und öffnete. Draußen standen zwei Gentlemen, gekleidet in leichte dunkle Sommeranzüge – der Juli war heiß in Washington – aber korrekt mit Krawatte. Sie hatten ihre Dienstgesichter auf. Der Jüngere zeigte seinen Dienstausweis, der andere betrachtete ein Foto. Sein Blick wechselte rasch zwischen Fotografie und lebendem Objekt. »Sie sind Dr. Ella Keith?« »Ja.« »Geboren am 19.8. in Charleston, Virginia. Tätig bei den Chapman Labors in West-London.« »Und auf Urlaub in meiner Heimat«, erwiderte sie ungehalten, »wenn es gestattet ist. Sonst noch etwas?« Der Beamte mit dem Foto nickte. »Bundespolizei. Sie sind hiermit festgenommen, Dr. Keith, wegen des Verdachtes auf Spionage zugunsten eines fremden Staates. Bitte ziehen Sie sich an und kommen Sie mit!« Der andere zeigte den Haftbefehl und las ihr die Rechte vor. * Das übliche Brimborium lief ab. Sie knipsten Polaroid-Farbfotos und nahmen Fingerabdrücke für die Zentralkartei. Dann verlangten sie Angaben zur Person bis zur Büstenhaltergröße. »Wünschen Sie einen Anwalt?« »Wozu? Ich bin mir keiner Schuld bewußt!« erklärte Ella Keith. 6
Die Verhöre begannen. Daß es gesetzwidrig war, sie bei Nacht zu führen und daß Nachtverhöre nur in südamerikanischen Diktaturen üblich waren, danach fragte keiner. »Sie sind Physikerin.« »Biophysiker.« »Was ist das?« »Das ergeben die Begriffe Physik und Biologie.« »Sie arbeiten in den Chapman Labors in London.« »Bei Professor Dennis Chapman.« »Warum arbeiten Sie in England und nicht in den USA? Gefällt Ihnen Ihre Heimat nicht mehr? Haben Sie etwas gegen die Regierung, Dr. Keith?« »Ich habe etwas gegen die Art, wie man hier gefeuert werden kann, speziell als Frau, wenn man die dominierende Rolle der Männer nicht anzuerkennen gewillt ist.« Der Verhörbeamte lächelte. »Sie verdienen in England mehr, das ist es.« »Nein, weniger.« »Aber die Tätigkeit drüben befriedigt Sie.« »Vollauf«, antwortete Dr. Keith und zog den Rock über das Knie, weil die FBI-Beamten nur darauf zu starren schienen. »Man hat Ihnen eine Assistentenstelle an der Universität von Pasadena angeboten. Warum nehmen Sie die nicht an?« »Weil ich Arzneimitteltests an Tieren für Verbrechen halte.« »Aber die Produktionsbeschränkungen der Industrie halten Sie nicht für verbrecherisch.« »Was Sie Produktionsbeschränkungen nennen, nennt man in Europa Umweltschutz«, konterte die junge Wissenschaftler in. »Ein Fremdwort in Amerika. Aber ich bin gerne bereit, es Ihnen zu übersetzen.« Der Verhörbeamte schien irgendwann einmal davon gehört zu haben. Milde lächelnd winkte er ab und fuhr fort: »Nach außen hin beschäftigen Sie sich mit Umweltschutz, Dr. Keith. Womit aber befassen Sie sich in Wirklichkeit? Was ist so interessant an Ihrer Tätigkeit, daß Sie heimlich Informationen nach Moskau liefern?« »Dort interessiert man sich eben für unsere Ergebnisse.« 7
Der Mann hinter der Lampe verschärfte den Ton seiner Stimme. »Sie leugnen nicht, daß Sie wissenschaftliche Erkenntnisse an den Osten verkaufen?« »Der Osten erfährt immer, was er wissen will, auch ohne Entgelt.« »Mag sein, aber erst nach vielen Jahren, wenn die Dinge längst überholt sind und veröffentlicht werden dürfen. Sie geben also zu, Geheimmaterial weitergeleitet zu haben.« »Ich habe mit Kollegen des Ostblocks Informationen ausgetauscht«, verteidigte sich Dr. Keith. Der Verhörbeamte lehnte sich zurück, nahm einen Schluck Kaffee und steckte sich eine Zigarette an, als befriedige ihn das Zwischenergebnis ungeheuer. »Na bitte«, sagte er ausrauchend. »Jetzt möchten wir nur noch wissen, an wen Sie was weitergaben.« Die Physikerin zeigte sich sehr aussagewillig. »Wir haben«, erläuterte sie, »festgestellt, daß Umweltgifte aller Art durch Anlagerung spezieller Fremdmoleküle isoliert oder bis zur Unschädlichkeit adsorbiert werden können. Da dies der Gesundheit allen organischen Lebens in Industrienationen dient, sehe ich darin keinen Geheimnisverrat.« »Weiß Professor Chapman von der Weitergabe dieser Informationen?« »Es existieren keinerlei Vorschriften darüber.« Und sofort stellte Dr. Keith eine Gegenfrage: »Aber wie, zum Teufel, kommen Sie auf die Idee, ich könnte als Spionin des Ostens etwas verraten haben? Ich arbeite nicht in der Rüstungsindustrie. Außerdem findet meine Tätigkeit siebentausend Kilometer von Washington entfernt statt.« »Wir erhielten Informationen«, antwortete man ihr, »über unseren Satelliten. Midas ist sehr zuverlässig. Wir mußten zugreifen, wo wir Sie kriegen konnten.« Darauf lachte die Physikerin bitter auf. »Man fängt einen Entendieb, und am Ende stellt sich heraus, daß er gar keine Ente stahl. Was er hatte, waren Wildenten, die jedermann gehören.« »Okay, Madam«, sagte der Mann hinter der Lampe, »ich bin ger8
ne bereit mich mit Ihnen über die Probleme der Wildentenjagd zu unterhalten, aber beantworten Sie vorher noch eine Frage. Trifft es zu, daß die von Ihnen entwickelten Sprays, die eine Reihe von Umweltgiften sowohl in der Luft als auch im Erdboden zur Abkapselung bringen, daß diese Mittel auch in der Lage sein sollen, Elemente zu verändern?« »Auch Licht, Druck, Hitze und Kälte können Elemente verändern«, erwiderte Ella Keith. »Wasser gefriert, Wasser verdampft, Luft kann man verflüssigen.« »Beantworten Sie meine Frage«, schnarrte der Beamte. »Verändern Ihre Molekularketten gewisse Elemente?« »Abbau ist keine Veränderung.« »Wir fanden bei Ihnen Unterlagen, die aus dem Safe von Professor Chapman stammen.« »Was Sie fanden sind nur Notizen. Ich mache ständig welche, wenn mir zu unseren Problemen etwas einfällt.« »Erläutern Sie uns diese Notizen.« Dr. Keith reagierte unwirsch. »Fragen Sie doch Ihre eigenen Experten, über die Sie zweifellos verfügen. Aber hüten Sie sich vor geistigem Diebstahl. In diesem Fall würde ich das FBI verklagen.« »Das kann tagelang dauern, Dr. Keith.« »Von mir aus.« »Wir müssen Sie solange in Haft behalten.« »Dann wird das Ihr Skandal und nicht meiner.« Offenbar hatte der Beamte vorerst genug. Er löschte die Lampe. »Bringt sie weg!« ordnete er an. * Im FBI-Headquarters hatten sie keine Zellen. Spezialagent James Gordon, einer von den Oberschlauen, hatte sich freiwillig gemeldet, Dr. Keith ins Hotel zu bringen und dort die erste 24-StundenWache zu übernehmen. Gordon versprach sich eine Menge davon. Er war sicher, daß es ihm gelingen würde, alles aus ihr herauszuholen, was sie beim Verhör verschwiegen hatte. Er verstand sich auf 9
so etwas und besonders auf den Umgang mit Damen. Erst spielte er den vom Leben Geschlagenen, erzählte ihnen, seine Ehefrau habe ihn verlassen, das Leben mache keinen Spaß mehr, im Grunde sei er viel ärmer dran als der Gefangene. Damit schaffte er eine Atmosphäre gegenseitigen Mitgefühls. Dann kam die Vertrauenstour. Alle Geschlagenen dieser Welt sollten zusammenhalten, jammerte er, und sich gegenseitig helfen. Damit erreichte er meistens sein Ziel. Die Gefangenen schütteten ihm ihr Herz aus. Schon während des Verhörs hatte James Gordon die Physikerin ständig beobachtet und sich Punkte notiert, wo er einhaken konnte. Er hoffte, auch diese Nuß sei zu knacken, sogar relativ leicht. »Wollen Sie noch immer keinen Anwalt?« fragte er, als sie in der FBI-Garage den dunkelblauen Dienst-Chevrolet bestiegen. »Wozu?« »Er könnte Sie auf Kaution herausholen.« »Ich komme auch ohne Kaution frei«, erwiderte Ella Keith. »Ihre Anschuldigungen treffen mich nicht. Außerdem habe ich gute Freunde bei der Presse. Die werden sich um mich kümmern. So leicht buttert man auch in diesem Land einen Menschen nicht unter, es sei denn, er wäre Neger, einäugig, taubstumm und des Schreibens unkundig.« »Sie haben ja keine Ahnung«, seufzte James Gordon. »Und Sie haben, wie mir scheint, alle ein wenig zuviel Ahnung, Sie und Ihre Kollegen.« Ella Keith hielt dem Spezialagenten ihre Hände hin. »Wollen Sie mich nicht endlich fesseln?« Gordon winkte ab. »Damit Ihre Freunde von der Presse schreiben können, man habe Sie geachtert abtransportiert wie einen Straßenräuber.« »Wie bei FBI üblich.« Der Agent schloß lediglich die Zentralverriegelung des Dienstwagens. Dann fuhr er los, die Kensington Avenue hinunter. Jetzt, um 03 Uhr 25, herrschte kaum Verkehr. Der Asphalt glänzte, aber es hatte aufgehört zu regnen. Die Wolken zogen schon ab. Es sah aus, als rollten sie der Morgendämmerung entgegen. Die Ampeln waren auf Gelb-Blinken geschaltet. Gordon kam mit seiner Gefangenen zügig durch. 10
»Wohin«, fragte Ella Keith, »bringen Sie mich?« »Cormoran-Hotel. Richtung Dulles-Airport. Übrigens, woher hatten Sie die zwanzigtausend Dollar?« »Geht das Verhör weiter?« »Für Verhöre an Spionen bin ich nicht ausgebildet«, erklärte der Agent. »Beim nächsten Verhör wird man Sie möglicherweise an den Lügendetektor anschließen, und die Frage nach den zwanzigtausend Dollar stellen.« Ella witterte eine Falle. »Warum warnen Sie mich dann?« »Damit Sie nicht über diesen Fallstrick stolpern.« »Halten Sie mich für unschuldig?« »Keiner ist unschuldig«, äußerte Gordon, »alles ist eine Frage der Schattierung, der Abstufung. Aber durch Fehlverhalten ist schon mancher erst richtig in die Bredouille geraten.« »Ich habe geerbt«, sagte Dr. Keith. »Von wem? Sie besitzen keinerlei Angehörige außer Ihrer Tante, die Sie aufzog und heute mit einer fünfundsechzig-DollarWochenpension auskommen muß.« »Dann habe ich das Geld eben gewonnen.« »Schon besser«, bemerkte der Agent. »Wo?« »In Vegas.« »Sie waren aber nie in Las Vegas. Nein, so geht es nicht, Ella.« »Dann war es eben in Europa. In Monte Carlo.« »Das ist zu einfach. Bei Europa und Casino denkt jeder sofort an Monte Carlo.« »Wie wär’s mit Scheveningen in Holland?« »Und wenn man Einzelheiten wissen will?« »Die kann ich liefern«, sagte sie. »Ich habe die zwanzigtausend tatsächlich in Scheveningen gewonnen.« »Sie machen Fortschritte«, staunte Gordon. »Sie auch«, antwortete Ella Keith. »Je weitere Umwege Sie fahren, desto mehr holen Sie aus mir heraus. Aber ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie jetzt kurzerhand das Hotel ansteuern wollten. Ich bin schrecklich müde.« Wenig später kurvte der Agent in die Garageneinfahrt. Unten 11
war offenbar eine Box für FBI-Fahrzeuge reserviert. James Gordon überging die Anmeldung an der Reception. Sie fuhren mit dem Lift gleich in den elften Stock durch. James Gordon hatte einen Schlüssel. Damit sperrte er eine Suite auf. Auch die Zimmer waren schon vorbereitet. Als erstes meldete der Agent seine Ankunft im FBI-Büro. Dann wandte er sich an die Gefangene. »Nachtzeug liegt drüben auf dem Bett. Ich mach es mir auf der Couch bequem. Versuchen Sie nicht zu entkommen. Die Fenster sind nicht zu öffnen, und ich leide an sehr leichtem Schlaf. Außerdem habe ich immer meine Automatic griffbereit. Wünschen Sie noch einen Drink oder ein Gespräch? Es darf auch über Malerei oder Musik sein.« »Einen Apfelsaft«, bat Ella Keith, »mit Zitrone.« Den gab es mit Sicherheit nicht in der Zimmerbar. James Gordon mußte ihn beim Roomservice bestellen. Auch in diesem Punkt verhielt sich Ella Keith so plankonform wie bisher. Wenig später wurde an die Tür geklopft. Der FBI-Agent öffnete. Es war der Etagenkellner. Er wirkte verschlafen. Rechts hatte er das Tablett mit dem Saft und Sodawasser, aber links hatte er ein mit Schaumstoff überzogenes Bleirohr. Damit schlug er blitzschnell zu. Man hörte den Treffer kaum, man sah nur die Wirkung. Lautlos kippte der FBI-Agent auf den Spannteppich. »In der Garage erwartet man Sie, Doktor«, meldete der Kellner nach einem zufriedenen Blick auf Gordon. »Wollen Sie ihn nicht fesseln?« fragte Dr. Keith verblüfft. »Wozu. Er braucht mindestens eine Stunde, bis er fähig ist, den kleinen Finger zu rühren.« »Was ist eine Stunde Vorsprung.« »Für Sie sind das tausend Kilometer, Doktor«, erklärte der Kellner. »Sie haben nämlich Glück. Um 04 Uhr 10 startet vom International Airport eine Tupolew mit den Artisten des Moskauer Staatszirkus an Bord Richtung Prag. Wenn die Herrschaften ein wenig zusammenrücken, gewinnen wir noch leicht einen Platz für Sie.« »Ist das Zufall oder Organisation?« 12
Der Kellner zuckte mit den Schultern. »Es ist ebenso Zufall, wie wir Sie von Ihrer Wohnung ab beschatteten und hier Zugriffen, um Sie aus den Händen dieser FBIHenker zu befreien.« Also doch Organisation, dachte Ella Keith tief beeindruckt von der Wirksamkeit des sowjetischen Geheimdienstes in der Hauptstadt der USA. Wie rührig mochten sie erst sein, wenn es um wirklich weltbewegende Dinge ging. * Als der dreistrahlige Tupolew-Jet zehntausend Meter Reiseflughöhe erreicht hatte und mit etwas unter neunhundert Stundenkilometern Geschwindigkeit nach Osten über den Nordatlantik flog, stand der Liliputaner neben Dr. Keith auf und überließ seinen Platz einem Mann von vierzig Jahren. Sein Anzug hatte den von Moskauer Herrenschneidern nachempfundenen westlichen Schnitt. Sein Gesicht war flach, die Nase leicht sattelförmig. Der Augenausdruck konnte überraschend schnell zwischen freundlich und eiskalt wechseln. »Ich begrüße Sie bei uns, Genossin«, sagte der Russe in nahezu akzentfreiem Englisch. »Bitte seien Sie nicht voreilig, Dimitrew«, antwortete Ella Keith, »soweit sind wir noch nicht. Erst möchte ich sehen, was man mir bietet.« »Waren Sie bisher nicht zufrieden mit uns?« »Der Aufwand der letzten fünf Stunden war in der Tat erstaunlich.« »Bei wirklich weltbewegenden Dingen scheuen wir weder Mühe noch Kosten noch Risiken.« Die Physikerin blickte durch das Bulley, das bedeutend kleiner war als bei amerikanischen Passagierjets, und versuchte ein Lächeln zu unterdrücken. »Was, bitte, ist bedeutend an mir?« »Das, was wir von Ihnen erwarten.« »Ich bin nichts als eine Expertin für Umweltschutz.« »Ein Gebiet, das uns stark interessiert und das wir bisher sträflich 13
vernachlässigt haben. Sie werden uns beim Aufbau der nötigen wissenschaftlichen Voraussetzungen helfen, Ellanowa.« Es hörte sich nicht an, als spreche Dimitrew unbedingt die Wahrheit. »Gerne, wenn Sie Ihre Versprechen halten.« »Sie bekommen alles, was wir vereinbarten, ein eigenes Labor, wissenschaftliche Hilfskräfte, die nötige Kapitalausstattung und die Freiheit der Forschung wird garantiert.« »Womit?« »Mit unserer Hoffnung auf Ergebnisse«, antwortete der Russe. »Und wo ist mein Labor?« »Man wird sehen.« »Es existiert also noch gar nicht«, bemerkte Ella Keith enttäuscht, »es muß erst eingerichtet werden. Wie lange dauert das? Jahre? Und wo richtet man es ein? In Sibirien?« »Das müssen Sie schon uns überlassen«, schnarrte der Russe. »Freuen Sie sich erstmal, daß Sie jetzt bei uns und nicht bei diesen FBI-Knechten sind.« Sie bat um eine Zigarette. Allein der Unterschied zwischen der russischen Papyrossi und ihren gewohnten Reynolds machte ihr klar, daß sie einer anderen Welt entgegenflog. »Möchten Sie essen?« fragte Dimitrew. »Es gibt gebratene Hähnchen, eine vorzüglich Spezialität von Aeroflot.« »Gummiadler, nein danke«, sagte Dr. Keith, »dachte, die Aeroflot-Spezialität sei Kaviar.« »Der muß leider exportiert werden.« »Dann ein Glas Krimsekt, bitte.« »Der ist ausgegangen.« Immerhin war der Himmel, durch den die TU-154 düste, derselbe, den auch die Boeings benutzten. »Eine Frage noch«, setzte der Russe an. »Wir baten Sie, auf ein bestimmtes Wort zu achten. Ist dieses Wort gefallen?« »Welches Wort?« »Midas«, flüsterte Dimitrew. Dr. Keith erinnerte sich. »Ja, sie erwähnten diesen Spionagesatelliten.« 14
»Es gibt noch einen anderen Midas«, deutete der Russe an, stand auf und eilte zwischen den Sitzreihen nach vorn, wo er eine Tür öffnete und im Cockpit verschwand. Es sah aus, als habe er dort etwas höchst Dringendes zu erledigen. Die Vermutung von Dr. Ella Keith war richtig. Akim Dimitrew, der Mann, der vor vier Monaten in London Kontakt mit der Biophysikerin aufgenommen hatte, setzte einen verschlüsselten Funkspruch zur Moskauer Geheimdienstzentrale ab. Er lautete im Klartext: OPERATION CHAPMAN ANGELAUFEN – MIDAS IN DER FALLE – 2. An diesem Spätnachmittag, auf der Autobahn Salzburg-Wien, setzte sich der BND-Agent Robert Urban nicht nur über alle Verkehrsregeln, sondern auch über sämtliche Gesetze der Vernunft hinweg. Trotz miserablen Wetters, von Westen her fegten wahre Wolkenbrüche über das Land, fuhr er weit jenseits der Haftgrenze seiner Conti-Reifen. Diese lag, bei daumenhoher Wasserschicht auf dem Asphalt, unter hundert Stundenkilometern. Sein Tacho hingegen zeigte hundertsechzig. Am liebsten hätte er die Augen geschlossen. Die Sicht nach hinten nahm ohnehin der dichte Schleier aus Wasserstaub, den sein Coupe nachzog, und die Sicht nach vorn der pladdernde Regen. An Überholen dachte bei dieser Sintflut ohnehin keiner außer ihm. Es war Wahnsinn. Im Grunde fuhr er nicht mehr, er schwamm nur nach Gefühl, mit vollgeschalteten Lichtern und Fuß auf dem Gas. Beim Passieren von Lastzügen dachte Urban stets das gleiche: Gleich ist es aus! Doch immer fing er das Heck vor dem tödlichen Tanz wieder ab. Freiwillig machte das keiner. Man machte es nicht einmal auf Befehl. Man tat es höchstens, wenn es auf die Minute ankam, und wenn man von der Wichtigkeit überzeugt war. 15
Dann summte auch noch das dreimal verdammte Funktelefon. Damit er den Hörer nicht abnehmen mußte, hatte er auf Lautsprecher und Mikro geschaltet. Ein Tastendruck genügte, und er war drin. »Oper eins an Achtzehn«, lautete die stereotype Frage, »wo stehen Sie jetzt?« »Querab St. Pölten«, meldete sich Urban. Er hatte das Schild vorbeihuschen gesehen. Die Positionsangabe querab, wie querab Elbe-Feuerschiff, benutzte eigentlich die Marine, aber mehr Wasser als rundherum gab es auf See auch nicht. »Wie lange noch bis Wien?« »Sechzig Kilometer.« »Ihre Fahrzeit?« »Fünfundzwanzig Minuten.« »Bis Flugplatz Schwechat?« Zum Teufel, wie sollte er wissen, wie er in Wien durchkam, ob es dort ebenso duschte, ob schon die Rush-hour eingesetzt hatte, ob es wegen des Regens Unfälle und damit Staus gab, wie sollte er das wissen. »Eine Stunde«, schätzte er. Am anderen Ende des Funkstrahls herrschte Schweigen. Natürlich wäre es mit dem Hubschrauber schneller gegangen, einen Spezialisten von München nach Wien zu bringen, aber bei diesem Wetter jagte man keinen Hund hinaus, geschweige denn einen Hubschrauber in die Luft. Außerdem hätte man den österreichischen Behörden eine Erklärung für den Katastrophenflug liefern müssen. Man hätte sie belügen müssen, denn den wirklichen Grund für den Einsatz hätten sie nicht akzeptiert. Wenn sie auf etwas achteten wie Erasmus auf seinen Heiligenschein, dann war es ihre Neutralität. Der Flug mit einer BND-Kuriermaschine war ebenfalls nicht möglich gewesen. Der Flughafen Riem war zu, Salzburg war zu, Linz war zu, und in Schwechat ließen sie nur noch Maschinen herein, wenn sie Mayday funkten. Was also war ihm übriggeblieben, als den 633 CSi zu nehmen, seinen superstarken Renner, der nur den Nachteil hatte, daß er auf Gummirädern und nicht auf Schienen fuhr. 16
17 Uhr 20. Noch 30 Kilometer bis Wien. Neuer Anruf über Autotelefon. »Oper eins an achtzehn. Tupolew im Endanflug!« »Hat sie Prag also doch nicht geschafft.« »Totaler Elektronikausfall.« Klar, daß der randvolle Russenjet in diesem Fall Wien als Notlandeplatz vorzog. Wien-Schwechat verfügte über die modernsten Landehilfen. Gegen Wien war Prag eine grasgrüne Wiese aus der fliegenden-Kisten-Zeit. Schon seit den Mittagsstunden verfolgten NATO-Radar sowie zivile und militärische Funkstationen die Aeroflot Tu-154. Sie kam aus Washington und hatte über dem Nordatlantik offenbar einen Blitzschlag eingefangen, der die Navigationselektronik verschmorte. Sie arbeiteten nur noch mit dem Notfunkgerät. Ihr zentraler Leitsender in Warschau hatte sie aufgefordert unter allen Umständen einen Flugplatz jenseits des Eisernen Vorhangs zu erreichen. Doch gegen das Wetter und gegen technische Defekte waren auch Befehle machtlos. Später hatte noch eines der drei Kusnezow-Triebwerke ausgesetzt. Jetzt hungerte sich der Passagierjet bei Nullsicht mit dem letzten Tropfen Sprit nach Wien. Die Aeroflot-Leitstelle mußte dies murrend zur Kenntnis nehmen. Letztenendes war eine Zwischenlandung in Wien besser als ein Absturz in den Karpaten. Inzwischen waren die Russen auf anderen Wellen überaktiv geworden und hatten ihr Agentennetz in Österreich auf Alarmstufe gebracht. Im Westen hatte man ziemlich klare Vorstellungen darüber, was die Russen in Wien planten, denn nach dem Abflug der Tupolew in Washington war auch in Washington die Hölle los gewesen. »Versuchen Sie«, fuhr Urbans Feuerleitstelle fort, »irgendwie an die Tupolew heranzukommen.« »Gerne, wenn ich dort bin.« »Erfahrungsgemäß wird in den ersten Minuten nach der Landung nicht allzuviel geschehen. Sie werden auftanken, eine Notreparatur versuchen und Wetterbesserung abwarten.« 17
Urban kannte die Russen besser. In der Improvisation waren sie Meister. Sobald die Tupolew den Bauch wieder voll Kerosin hatte, würde die Besatzung starten. Irgendwo im Osten würde sie besseres Wetter vorfinden und einen am Himmel wartenden Lotsen, der sie ans Ziel führte. Man machte sich kaum Vorstellungen, mit welchen Schäden diese robusten Russenjets noch flugfähig waren. Hauptsache, die Triebwerke liefen und die Ruder ließen sich bewegen. Alles andere war nicht lebenswichtig. Das Fahrwerk mochte hängenbleiben, ebenso die Klappen. Wenn der Kompaß ausfiel, flog man eben auf Sicht. Auf Funk konnte man verzichten, und solche Scherze wie Kabinenklimatisierung waren sowieso nur Luxus. »Sie starten«, sagte Urban, »wenn eben noch zwei Triebwerke brummen.« »Falls man es ihnen erlaubt.« »Die starten auch ohne Genehmigung.« »In diesem Falle wohl schon, angesichts der Ladung, die sie an Bord haben.« »Können wir also nur hoffen, daß der Schaden doch größerer Natur ist.« »Wie lange schätzen Sie noch Ihre Fahrzeit?« »Vierzig Minuten jetzt.« »Eben hat die Tupolew in Wien aufgesetzt. Fahren Sie bitte schneller.« So konnte nur einer reden, der mit dem Hintern im bequemen Bürosessel hockend, die Virginia zwischen den Zähnen, eine Tasse Kaffee vor sich, eine Reihe von Telefonen um sich herum, den großen Boss mimte. Aber Schuld an dem Schlamassel hatte ein anderer Boss, einer drüben in Washington. Ließen die sich doch einen Goldfisch, der schon an der Schnur zappelte, vom Haken klauen. Aus dem eigenen Teich hatten sie ihn gefischt und ließen so etwas zu. Nun sollte er, Bob Urban, versuchen, den Fisch wieder an die Angel zu kriegen. Das war, unter solch katastrophalen Wetterbedingungen, aus einem Russenjet heraus, der hermetisch abgesperrt wurde, daß keiner an ihn herankam, der nicht von weitem mit einem sowjeti18
schen Botschaftsausweis winkte, und selbstverständlich unter Wahrung der österreichischen Neutralität, kaum zu schaffen. Eine Tarnkappe hätte er haben müssen, oder die Größe einer Laus. Angefangen hatte alles vor zehn oder zwölf Stunden drüben im schönen US-Staat Virginia. 3. Der FBI-Agent James Gordon erwachte nach dem Bleirohrtreffer mit den üblichen starken Kopfschmerzen. Ihr Zentrum lag an einer Stelle, die auf zentimetergenaue Profiarbeit schließen ließ. Der Mann, der diesen Hieb plaziert hatte, mußte das geübt haben. Tiefer im Nacken hätte der Schlag vielleicht getötet, weiter oben hätte er weniger anhaltend narkotisiert. Gordon wankte ins Badezimmer, hielt den Kopf unter die Dusche, tastete sich dann zum Telefon und gestand dem FBI-Sektionschef seine Schande. »Lohnt sich noch Großfahndung?« überlegte man im Hauptquartier blitzschnell. »Wenn es diesen Leuten lohnend schien, die Keith aus unserem Gewahrsam herauszubrechen, dann lohnt es sich auch für uns, Sir.« »Wann passierte es?« fragte der Sektionschef. Gordon schaute auf die Uhr. Nicht zu fassen. Glatte zwei Stunden hatte er dagelegen und vor sich hingeträumt. »Schätze gegen null vier Uhr, Sir.« »Für Ringfahndung zu spät. Bis die anläuft sind die über alle Grenzen. Wie ist Ihr Eindruck von dem Täter?« »Nachhaltig, Sir«, sagte Gordon. »Er kam als Etagenkellner getarnt. Das Tablett mit den Drinks rechts. Als Waffe benutzte er einen länglichen Gegenstand. Aussehen und Stärke entsprachen dem eines umschäumten Lenkradkranzes.« »Fingerabdrücke am Tablett sichern.« »Er trug Handschuhe, Sir.« »Und das fiel Ihnen nicht sofort auf?« »Ich überlegte noch, Sir«, erklärte Gordon, »ob das ein so feiner Laden ist, dieses Hotel Cormoran, daß Etagenkellner nur mit Handschuhen servieren, oder…. und bei oder schlug er schon zu.« 19
»Vermutlich einer vom KGB Stammpersonal der Botschaft. Wurden Sie auf dem Weg durch die Stadt verfolgt?« »Ich habe Dr. Keith weisungsgemäß weiterverhört, Sir.« »Und nicht auf Beschatter geachtet.« »Die Straßen waren leer, Sir.« »Und Ihre Heckscheibe vom Regen noch benetzt. Das Übliche. Kurieren Sie sich aus, dann melden Sie sich zum Dienst.« James Gordon schluckte eine Tablette und fuhr dann stadteinwärts. Als er im FBI-Center ankam, herrschte dort Niedergeschlagenheit. »Das war bravouröse Arbeit«, höhnte der Sektionschef vor versammelter Mannschaft. »Wirklich erstaunlich und hervorragend. Leider von Seiten der Russen.« Die Fahndung hatte sich inzwischen von selbst erledigt, denn Dr. Ella Keith war mit einem sowjetischen Passagierjet abtransportiert worden. »Die Besatzung verzögerte den Start zweimal unter dem Vorwand eines Relaisdefekts am Hauptgenerator«, faßte der Sektionschef zusammen, »dann wurde angeblich ein Ersatzteil geliefert. Ein Wagen brachte es aus dem Aero-Flot-Depot direkt zu der Tupolew. Vom Tower aus will man gesehen haben, daß sich eine weibliche Person von der Limousine über die Gangway in das Flugzeug begab. Da man jedoch nicht sicher war, und es mit den Russen bekanntlich rasch Ärger gibt, kümmerte man sich lieber nicht darum. Wenige Minuten später meldete sich die Tupolew startklar.« »Die weibliche Person war Dr. Keith«, kommentierte James Gordon, »dafür lasse ich mich hängen.« »Ja, das sollten Sie wirklich tun, James«, riet der Sektionschef und entschuldigte sich, er müsse nach Langley zur CIA, um den Kollegen vom Geheimdienst reinen Wein einzuschenken. Vielleicht wußten die noch einen Rat und konnten auf irgendeine Weise diese Panne beheben. Schließlich hatte die CIA auch schon Mist gebaut, wenn das auch nicht so bekannt wurde, weil die Misthaufen der CIA meist jenseits der Grenzen im Ausland lagen.
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Die Flucht von Dr. Ella Keith war für die Bundespolizei nur eine Panne mittleren Ausmaßes, für den Geheimdienst jedoch eine Vollkatastrophe. Zum Glück wurde dies sofort bekannt, so daß man NotMaßnahmen überdenken konnte. »Alles verdammt häßlich und schlecht«, gestand der FBI-Chef seinem CIA-Kollegen zu, »daß uns diese Person entwischte. Aber ein Weltuntergang ist es nicht. Wozu also Ihre Aufregung.« »Es ist ein Weltuntergang«, betonte der CIA-Direktor, »und zwar wegen Midas.« Der FBI-Beamte, zuständig für die Spionageabwehr in 51 USBundesstaaten, kannte die internationalen Zusammenhänge zu wenig. »Inwiefern wegen Midas?« Der CIA-Direktor weihte ihn in groben Zügen ein. »Midas«, erklärte er, »ist das Haupt unseres Agentennetzes im Ostblock mit. Zuständigkeit bis zur Ural-Linie. Man kann sagen, das Midas-Netz ist das bedeutendste und wirkungsvollste, über das der Westen da drüben verfügt. Es dauerte zwanzig Jahre, um es aufzubauen und zur heutigen Effizienz zu bringen. Die Fühler von Midas reichen sowohl in den Kreml, als auch in das Herz des sowjetischen Geheimdienstes, in der Dzerzhinsky-Straße. Der Tip bezüglich eines Spions bei den Londoner Chapman-Labors kam aus einer Midas-Quelle. Ein neuer Hinweis richtet sich gegen Dr. Ella Keith. Da wir in dieser Sache selbst nicht tätig werden können, leitete ich die Information an Sie weiter. Schweren Herzens, wie ich gestehen muß. Und was machen Sie damit, mein lieber Allen, Sie lassen den schönen runden Luftballon einfach platzen.« Der FBI-Sektionschef verzichtete darauf, sich in Selbstkritik zu ergehen. Man sah ihm aber seine Zerknirschung an. »Was bedeutet das für Midas?« fragte er voll schlimmer Ahnungen. Der CIA-Kollege sagte es mit aller Deutlichkeit. »Seit Jahren läuft in der UdSSR eine Operation, um Midas unschädlich zu machen. Da man ihn aber nicht kennt, man hat nur den Verdacht, daß Midas dieser oder jener Mann sein könnte, ver21
teilt man Spielmaterial und gezielte Falschinformationen. Dies in der Hoffnung, Midas würde sie weiterleiten und unsere Reaktion darauf könnte ihn verraten. Bis heute ist es uns gelungen, taubes von echtem Material zu unterscheiden und damit zu verhüten, daß Midas dem KGB in die Falle tappte.« Der FBI-Chef verstand. »Und nun fürchten Sie… das…« »Daß der Hinweis auf Dr. Keith eine neue großangelegte Kampagne ist, um Midas zu demaskieren. Die Russen wissen genau, wem sie diese Information zuspielten. Unser blitzartiger Zugriff in Richtung Ella Keith beweist ihnen erstens, daß Midas sie weitergab, und zweitens, wer Midas ist. Das liefert ihnen Midas an den Galgen.« »Mein Gott«, äußerte der FBI-Sektionschef nur. »Aber warum hat man uns das nicht gesagt, uns nicht die ganze Tragweite dieser Aktion geschildert… uns…« Der CIA-Direktor ließ nicht erkennen ob er froh darüber war, daß das FBI endlich in ein offenes Messer gerannt war. Die Rivalität zwischen CIA und FBI war alt. Jeder versuchte Rechte und Kompetenzen der anderen Organisation an sich zu ziehen. Wenn man dem FBI nachweisen konnte, daß durch seine Unfähigkeit das MidasNetz aufgeflogen war, dann würde sich manches rasch ändern. Um die eigene Macht zu vergrößern, scheute man vor keinem Mittel zurück. Dafür opferte man vielleicht sogar Midas. In diesem Fall aber ging es ausnahmsweise nicht um Machtpositionen innerhalb der USA. »Wenn diese Frau Moskau erreicht«, führte der CIA-Direktor weiter aus, »dann ist es um Midas geschehen. Das verursacht bei uns schlaflose Nächte und monatelanges Zittern. In Geld ausgedrückt, kostet uns das Milliarden. Nicht zwei, sondern zwanzig, vielleicht sogar zweihundert in letzter Konsequenz, falls Sie verstehen was ich meine, Allen.« Der FBI-Beamte wirkte jetzt recht winzig im Besuchersessel. »Was können wir tun?« fragte er mit rauher Stimme. »Meine Experten arbeiten schon an einer Lösung.« »Welche Möglichkeiten sehen Sie?« »Praktisch keine«, gestand der CIA-Direktor, »oder haben Sie ei22
ne Idee, wie man einen Passagierjet daran hindern könnte sein Ziel zu erreichen, ohne ihn abzuschießen, was sich aus bekannten Gründen ja wohl verbietet.« »Und wenn er irgendeinen Defekt bekäme?« »Darauf haben wir keinen Einfluß«, bedauerte der CIA-Chef. »Meist fliegen Jets recht zuverlässig weiter, wenn sie die Startphase hinter sich gebracht haben.« »Wie ist das Wetter?« »Auch das Wetter läßt sich nicht manipulieren. Drüben in Mitteleuropa ist es zwar reichlich ungünstig, aber in fünf Stunden kann sich das ändern. Außerdem stört schlechtes Wetter Großraumjets kaum. Es müßte schon ziemlich dick kommen.« Der FBI-Beamte steckte sich hastig eine Zigarette an. »Gar keine Chance, also.« »Es sieht zum Verzweifeln aus.« »Können Sie Midas nicht warnen?« »Natürlich könnten wir das. Aber die Russen haben schon einen Ring um alle Midas-Verdächtigen gezogen und warten, daß sie den Fehler begehen abzuhauen.« Ein Mann in Hemdsärmeln kam herein. Schwitzend legte er dem CIA-Direktor ein Papier vor. Es enthielt nur wenige Zeilen. Der grauhaarige ehemalige Politiker las und blickte seinen Experten an. »Geht das denn?« zweifelte er. »Die Air-Force garantiert es, Sir.« »Und zeitlich ist es auch zu machen?« »Mit einer doppelschallschnellen F-15 von den Azoren aus, wenn binnen drei Minuten der Alarmstartbefehl erfolgt, Sir.« »Dann kriegt sie die Tupolew noch?« Der Experte schielte den FBI-Chef an. »Ja, sie würde sie noch kriegen, Sir.« »Hat die F-15 das Gerät an Bord?« »Sie fliegen derzeit Laserversuche gegen Raketen, Sir.« »Mit welchem Erfolg?« erkundigte sich der CIA-Direktor. »Der Laserstrahl legte bis jetzt immer die gesamte Elektronik lahm, wenn er das Objekt traf.« 23
»Sofern eine Rakete im Flug zu treffen ist«, schränkte der CIADirektor ein. »Raketen fliegen Überschall, Sir, die Tupolew aber nur achthundertachtzig.« »Und keine Gefahr für Menschen und Maschinen?« »Nur die Elektronik macht schlapp, Sir.« Schweren Herzens zeichnete der CIA-Direktor gegen. Sofort rief er den Stabschef der Air-Force im Pentagon an und dann lief alles. »Mal sehen«, wandte er sich andeutungsvoll an den FBIKollegen, »ob es hinhaut. Sie haben jedenfalls nichts gehört, Allen.« »Ich bin froh«, versicherte dieser, »wenn mich diese Affäre nicht den Kopf kostet.« * Drei Stunden und siebzehn Minuten nach dem Start in Washington traf die Tupolew-154 der sowjetischen Luftfahrtgesellschaft Aeroflot auf Reiseflughöhe ein Blitzstrahl. Der Einschlag war ungewöhnlich. Unter besonderen meteorologischen Bedingungen kam es jedoch vor, daß gegen hochfliegende Jets Energieentladungen stattfanden. Der Jet wirkte wie ein Faradayscher Käfig. Die Blitzenergie wurde von der Außenhaut abgelenkt. Den Passagieren geschah nichts, aber auf dem Weg über die Antennen erlitt die Elektronik Totalschaden. Die Tupolew funkte per Notsender Mayday. Wenig später überhitzte das mittlere der drei Triebwerke und mußte abgeschaltet werden. Die zwei noch funktionierenden Kusnezow-Turbinen mußten den Ausfall durch höhere Leistung wettmachen. Dadurch stieg der Kerosinverbrauch enorm an. Hinzu kamen starke Gegenwinde bis in Höhe von Portugal, die sich zusätzlich auf den Verbrauch auswirkten. Der Tupolew-Kapitän funkte, daß er Prag nicht wie vorgesehen erreichen könne und in Mailand her unter müsse. Man ersuchte ihn, wenigstens bis Wien durchzukommen. 24
Österreich war neutral. In Wien glaubte man, vor Maßnahmen der NATO-Geheimdienste in Bezug auf den Passagier Dr. Ella Keith sicher zu sein. * Über der Biskaya geriet die Tupolew erst recht in schlechtes Wetter, in ein Sturmtief, das bis zu den Karpaten reichte. Die NATO-Funkstellen hörten den Kontakt der Tupolew mit Warschau Wort für Wort mit. Die Radarstationen ließen sie nicht mehr aus den Antennen. Als sich ein Erfolg abzuzeichnen begann, telefonierte der CIADirektor noch einmal mit seinen Geheimdienstfreunden in München-Pullach. »Wie ist das Wetter bei euch?« »Katastrophal. Ich denke man kann es hören«, rief Oberst Sebastian in den Hörer. Tatsächlich heulten Sturmböen ums Haus, die Ulmen rauschten, der Regen prasselte gegen die Fensterscheiben. »Die Tupolew versucht Wien zu erreichen.« »Dann geht Ihre Kalkulation ja auf.« »München oder Mailand wären uns lieber gewesen.« »Sie werden sich hüten, hier zu landen.« »Was können Sie für uns tun, Kollege Sebastian?« wollte der Amerikaner wissen. »Mein bester Mann ist unterwegs«, erklärte der deutsche Operationschef. »Als Bizet-Fan wollte er sich heute abend in Salzburg die Karajan-Inszenierung der Oper Carmen ansehen. Jetzt ist er unterwegs nach Wien. Ich stehe in drahtloser Verbindung mit ihm.« »Er kennt die Situation?« »So wie Sie und ich.« »Und er wird mit der Tupolew in Wien sein?« »Er versucht es. – Aber wie stellen Sie sich die Sache eigentlich vor? Seine Möglichkeiten sind begrenzt.« »Das weiß ich«, erwiderte der CIA-Direktor. »Es geht uns ja nicht um das Flugzeug, sondern ausschließlich um diese Ella Keith.« 25
Oberst Sebastian schwieg für Augenblicke. »Ich sagte schon, daß ich meinen besten Mann einsetze. Sie kennen ihn. Er hat schon manchen Brand gelöscht. Er ist einfallsreich und scheut auch kein Risiko. Aber diese Miß Keith wird gewiß wie ein Kronjuwel geschützt. Die Russen werden gerade noch den Tankwagen an das Flugzeug heranlassen, aber niemals Fremden Zutritt zur Maschine gewähren.« »Das befürchten wir«, gestand der Amerikaner, »und hoffen, durch gezieltes Sperrfeuer Ihrem Agenten behilflich zu sein. Wir müssen jetzt Hand in Hand arbeiten, Colonel Sebastian.« »Gern, aber wie, bitte?« Der Amerikaner erläuterte ihm seine Absichten. »Wir haben soeben die UNO angerufen und gegen die Entführung einer amerikanischen Staatsbürgerin protestiert. Des weiteren haben wir Interpol Wien verständigt, daß sich an Bord der in Schwechat landenden Tu-154 eine Amerikanerin befindet, gegen die hier Haftbefehl vorliegt. Ferner sucht unser Botschafter in Wien zu dieser Stunde den österreichischen Innenminister auf. Er trägt ihm unsere Bitte, die sowjetische Passagiermaschine nicht starten zu lassen, ehe man die gewaltsam entführte Dr. Ella Keith freiläßt, vor.« »Keine dieser Maßnahmen wird zu dem gewünschten Erfolg führen«, befürchtete Sebastian, der sowohl die internationalen Gepflogenheiten als auch die Verhaltensweise der Russen sehr gut kannte. »Darüber besteht hier kein Zweifel«, bestätigte der Amerikaner Sebastians Meinung. »Aber die Russen haben längst vorausberechnet, was wir zu tun beabsichtigen und werden entsprechend handeln. Das heißt, sie werden Gegenmaßnahmen einleiten.« Sebastian hatte verstanden. »Und Dr. Keith heimlich wegbringen, um ein Debakel wie damals in New York mit dieser russischen Tänzerin zu vermeiden.« »Genau das erwarten wir.« »Sie hoffen, die Russen würden sich der heißen Fracht entledigen.« »Auf welche Weise wissen wir nicht, aber sie werden es versuchen.« 26
»Die Grenze ist nahe. Von Wien-Ost bis Ungarn oder in die CSSR fährt ein schneller Wagen knapp eine Stunde.« »Eine Chance für Ihren Mann«, sagte der Amerikaner. »Ich informiere ihn sofort«, versprach Sebastian. »Sie hören wieder von uns.« »Thank you, Colonel«, beendete der Amerikaner das Überseegespräch. 4. »Presse!« sagte Bob Urban zu dem Mann am Zoll. »Eine Tupolew mußte notlanden. Stimmt’s?« »Welche Zeitung?« fragte der Beamte vorsichtshalber. »Kurier.« »Die hört wohl das Gras wachsen.« »Ich saß zufällig im Restaurant und sah sie vorbeidonnern.« »Bei dem Wetter sieht man keine fünfzig Meter weit.« »Ich kenne eine Tupolew am Ton.« »Sie hören also doch das Gras wachsen.« Immerhin mußte der Beamte zugeben, daß an der Behauptung des Reporters etwas dran war. Nur wie er davon wissen konnte, war ihm ein Rätsel. Er nahm an, die Burschen von der Zeitung hätten wieder einmal den Pilotensprechfunk abgehört, wie sie ja auch den Polizeifunk abhörten, obwohl es verboten war. »Ob man«, tippte Urban an, »mit denen ein Interview machen kann?« »Die lassen keine Mücke in die Maschine. Sie tanken auf, nehmen eine kurze Reparatur vor und warten, bis der Himmel aufreißt.« »Reparatur«, fragte Urban, »welcher Art?« Der Beamte konnte darüber keine Angaben machen. Er wußte nicht was an der Tupolew defekt war. Außerdem beendete er jetzt seinen Dienst. Für die nächsten Stunden gab es weder Starts noch Landungen, also auch keine Arbeit für ihn. Plötzlich blinkte bei Urban Rotlicht. »Warum haben Sie die Paßkontrolle geöffnet, wenn keine Flugbewegungen stattfinden, Wachtmeister?« »Ein Sonderfall.« 27
»Los Mann, helfen Sie der Presse. Ein andermal helfen wir euch wieder.« »Nur zwei Personen kamen durch«, rückte der Beamte heraus. Urban hakte nach. »Zwei von der Tupolew?« »Technisches Personal. Sie besorgen im Depot Ersatzteile, glaube ich.« »Mechaniker?« »Ein Pilot mit drei Ärmelstreifen am Jackett und eine Frau. Aber die Russen setzen ja Frauen als Mechaniker ein.« »Blond?« fragte Urban absichtlich die falsche Haarfarbe nennend. »Eher ziemlich dunkel.« »Uniform?« »Für mich war das mehr ein Reisekostüm.« »Merci!« Urban eilte durch die Halle nach draußen. Da er sich nicht vorstellen konnte, daß die Russen so schnell ein Fahrzeug nach Schwechat beordert haben konnten, wandte er sich an den ersten Taxifahrer in der Reihe. »Schlechtes Geschäft, he?« Der Fahrer blickte von seinem Pornoheft auf und kurbelte die Scheibe ein Stück abwärts. »Kein Wunder bei dem Wetter. Wohin soll’s denn gehen, der Herr?« Urban reichte ihm einen Hundertschillingschein. »Nirgendwohin. Nur eine Auskunft brauche ich.« »Bitte der Herr.« »Seit wann sind Sie der Erste in der Reihe?« »Gut zehn Minuten. – Läuft ja nichts heute.« »Der Kollege vor Ihnen hatte zwei Fahrgäste?« »Einen Piloten und ein Mädchen. Woher wissen Sie das?« »Es geht um das Mädchen«, sagte Urban. »Aus privaten Gründen.« »Verstehe.« »Wohin fuhren sie? Stadteinwärts?« Der Taxifahrer bedauerte. »Das ist von hier aus nicht zu sehen, mein Herr.« 28
»Aber vielleicht im Taxifunk zu hören.« »Stimmt.« Urban schob einen zweiten Hunderter nach. Der Fahrer erinnerte sich jetzt. »Es war mein Kollege Lavizek. Hat sich bei der Zentrale für eine Fuhre nach Nickelsdorf abgemeldet.« »Das liegt an der Grenze nach Ungarn.« »Man nimmt die Straße über Bruck/Parndorf. Wenn Sie den Zubringer verlassen, an der Kreuzung gleich rechts. Darf ich Sie hinterherfahren, mein Herr?« »Gern, wenn Sie den anderen noch einholen.« »Das kann ich nicht garantieren bei dem Sauwetter mit meinem Diesel.« »Welchen Wagen fährt Lavizek?« »Granada.« »Dann rufen Sie Lavizek über Funk. Er soll sich Zeit lassen.« »Soweit reicht unser Funk nicht, mein Herr.« Urban dankte und eilte durch den Regen zu seinem BMW. Beim Losfahren drückte er den Knopf der Selbstwählautomatic, in der die Nummer des Hauptquartiers gespeichert war. Seine Meldung bestand aus zwei Sätzen. »Achtzehn an Oper! Objekt unterwegs nach Ungarn. Versucht die Grenze zu schließen.« Er glaubte nicht daran, daß sie es durchsetzen konnten. Aber vielleicht erreichten sie eine verzögerte Abfertigung. * Eine Jubeltournee wurde es nur für den BMW-Motor. Der drehte ständig bei 6000 Touren. Für Urban war es Wahnsinn. Die selbstverständliche Dosis Wahnsinn, die auch Professionelle einsetzten, um an die Grenze des Machbaren vorzustoßen. Von Schwechat führte die Straße schnurgerade nach Südosten durch sanfthügeliges Land. Es duschte wie aus tausend Schläuchen. 29
Scheibenwischer dritte Stufe, aufblenden und fullspeed durch die ausgestorbenen Nester. Hin und wieder ein Lastwagen. – Ausscheren und daran vorbei. Noch sechzig Kilometer bis zur Grenze. Für Urban bedeutete das sechzig Kilometer großer Gang und Vollgas. Nur in den kleinen Städten liftete er ein wenig den Fuß. Trotzdem achtete er auf alles, auf die Straße, auf die Bäume, ahnte jede Kurve voraus. Er hörte jedes Geräusch, das Schmatzen der Räder, das Summen des Motors, jedes Krachen im Funk. Brück an der Leitha kam. Straßen, Plätze, alles leer. Wenig später Parndorf. Das Land wurde flach, pußtaeben. Ungarische Ziehbrunnen tauchten auf, Piroschka-Gehöfte. Noch zehn Kilometer bis zur Grenze. Kurz vor Nickeldorf stachen ihm zwei auf geblendete Scheinwerfer in die Augen. Ein Wagen raste ihm entgegen. Urban drückte den BMW bei Hundertvierzig so nah wie möglich an den Rand. Mit Dauerhupton zischte der andere vorbei. In letzter Sekunde sah Urban, daß es ein Granada war, ein großer Ford in der Wiener Taxifarbe. Wenn er sich nicht irrte, saßen mehrere Personen drin. Nicht nur der Fahrer. Ob sie vor der Grenze kehrt gemacht hatten? Urban trat auf die Bremse. Der BMW schlitterte und stand. Er wendete auf der schmalen Straße. Einschlagen, rückwärts herum, Lenkraddrehung bis zum Gehtnichtmehr, und mit voller Pulle hinterher. Er war doppelt so schnell wie das Taxi. Die Rücklichter des Granada tauchten auf. Urban sah das Taxi auf eine schmale Nebenstraße abbiegen. Sie mußte zum Neusiedler See führen. Die Straße war knapp vier Meter breit. Keine Chance zum überholen. Das Taxi legte Tempo zu. Die Straße wurde wellig. Das Taxi sprang mit vollem Anlauf von einer Kuppe ab und landete so hart, daß der Auspuff Funken hinterließ. So fuhr kein Taxifahrer, wenn er nicht ein Messer im Kreuz hatte. Urban ging nicht eine Spur vom Gas. Nach jeder Kuppe machte der BMW meterweite Sprünge, federte ein bis zu den Gummipuffern. 30
Lange hielt das der Granada nicht durch. Dafür war er nicht gebaut. Der BMW aber auch nicht. Irgendwann ging etwas in Trümmer. Urban wartete darauf, daß das Taxi eine Ölspur zeigte. Doch selbst wenn es öl verlor, der Regen hätte es sofort weggespült. Das Gelände senkte sich unmerklich. Eine Mulde, in ihr eine strohgedeckte Hütte. Pferde drängten sich eng in einer Koppel. Links flaches Weideland und voraus ein schmaler Strich von Braun in Grün übergehend, der See. Er war flach, das wußte jedes Kind, kaum einen Meter tief und hatte breite Schilfgürtel. Die Grenze lief mitten hindurch. Das Taxi nahm die letzten Kilometer, als wolle es durch den Uferschlick bis Ungarn waten. Jetzt bog der Granada links ab, raste den Strandweg entlang, steigerte das Tempo eher noch und wurde dann scharf herumgerissen. Wo es jetzt hinfuhr gab es keine Straße mehr. Die Wiese senkte sich zum Seeufer hin, ging in den Schilfgürtel über, hinter dem nach hundert Metern etwa das offene Wasser begann. Selten hatte Urban erlebt, daß ein Taxifahrer sein Auto für einen Fahrgast opferte. Den Wiesenhang abwärts nahm der Granada Anlauf. Er brach ins Schilf hinein und wühlte sich, dank des Schwungs den er hatte, mit durchdrehenden Reifen noch ein gutes Stück, bis Schilf, Wasser und Moder die vorwärtsdrängende Energie von eineinhalb Tonnen Stahl abbremsten. Urban sah nur noch das Dach. Aber er sah auch, daß die Türen aufgewuchtet wurden, und daß zwei Personen sich ins Freie zwängten. Der Mann zog die Frau hinter sich her. Beide arbeiteten sich zum wasserseitigen Ende des Schilfwaldes vor. Urban folgte ihnen. Er war schneller, weil besser trainiert. Außerdem hatte er eine schmale Stelle im Schilfgürtel erkannt. Er versuchte die zwei zu umgehen. Mit einem Hechtsprung warf er sich ins Schilf, schluckte das spritzende salzige Wasser. Bis zu den Hüften im Dreck brach er die Halme auseinander, erreichte das Ende des Schilfwaldes, begann zu crawlen. 31
Drüben, keine achtzig Meter entfernt, sah er die zwei. Nur achtzig Meter. Aber achtzig Meter zuviel. Fluchend mußte er erkennen, daß er zu spät kam. Der Pilot und das Mädchen wurden in ein Schlauchboot gezogen, das die Abmessungen und die Farbe von Pioniergeräten hatte. Der Motor am Heck verfügte schätzungsweise über hundert PS und wirkte auf einen Flugzeugpropeller. Kaum hatten sich die Flüchtlinge über den Gummirand gewälzt, nahm der Motor schon Touren auf. Während sich das Boot mit Südkurs entfernte, sich dabei einem Luftkissenfahrzeug ähnlich über die Wasserfläche hob, und Urban noch darüber nachdachte, wie es so schnell zur Stelle sein konnte und welchem Umstand es zu verdanken war, daß das österreichische Zollboot nichts davon bemerkt hatte, hörte er hinter sich ein Schnauben. Der Taxifahrer Lavizek stapfte durch das Schilf. »Sie Herr!« rief er. »Können Sie mich herausziehen. Ich habe den Weg ein kleines Stück verfehlt.« Obgleich ebenso durchnäßt und verdreckt wie der Taxifahrer, fühlte sich Urban keineswegs mit ihm solidarisch. »Wie komme ich dazu«, sagte er. »Bin ich ein Traktor?« 5. Als Ausgleich für ihre Arbeit im Büro spielte Lily Malone Tennis. Als Ausgleich für die oft ermüdenden Partys, die sie als Präsidentin der Darling-Cosmetics besuchen mußte, schwamm sie jeden Morgen zwanzig Bahnlängen im Pool. Den Mangel an frischer Luft, hervorgerufen durch die Klimaanlage im Malone-Building, ergänzte sie am Wochenende auf meilenweiten Ritten über ihre Ranch. Das Reaktionsvermögen trainierte sie beim Fliegen ihres Geschäftsreiseflugzeugs. Die Bräune holte sie sich beim Skifahren in Aspen oder St. Moritz, die beanspruchten Nerven beruhigte sie beim Golf spielen. Nur für das Herz blieb allzuwenig Zeit. »Miß Malone ans Telefon!« rief der Lautsprecher durch die Kampfhalle der Damen-Judo-Schule in Santa Monica/Kalifornien. 32
Die schlanke blonde Dreißigerin Lily Malone hatte gerade ihren Gegner, die Koreanerin Ming Corda, Trägerin des schwarzen Gürtels, per Schulterwurf gelegt, als die Durchsage wiederholt wurde. »Machen wir Schluß für heute«, sagte sie. Die Koreanerin verbeugte sich. Lily Malone verbeugte sich ebenfalls und ging hinaus. Zwischen Duschraum und Bar betrat sie die Telefonzelle. Einer ihrer Vizepräsidenten, der Mann, der für die Finanzen verantwortlich zeichnete, war am Apparat. »Was, zum Teufel, ist so wichtig, Jim«, fuhr sie ihn an, »daß Sie mich hier belästigen? Judo ist kein Luxus für mich, sondern Körperertüchtigung. Wenn andere in der Mittagspause ihren Lunch reinschaufeln, tue ich etwas für meine Gesundheit. Ich bin pünktlich um vierzehn Uhr im Büro.« Der Finanzdirektor von Darling-Cosmetics stoppte die Vorwürfe seiner Präsidentin mit einem Satz, bestehend aus fünf Worten. »Die Bank macht Ärger, Madam.« »Was heißt das?« »Sie verlangt Abdeckung.« »Die wissen doch, daß wir immer eine Durststrecke haben, bevor die neuen Präparate im Herbst auf den Markt kommen.« »Aber es mißfällt ihnen offenbar, daß die letzte Kreation ein Fehlschlag war.« »Zum Teufel, weil sich diese fetten alten Weiber immer nur mit stinkenden Parfüms bekleckern, betupfen und beschmieren wollen, statt mit Naturprodukten.« »Die leider nur nach Kuhmilch riechen, Madam«, sagte der Finanzdirektor. »Und, pardon, nach Hammelpisse.« Daran brauchte er die Managerin von Darling Cosmetics nicht zu erinnern. Sie kannte die Ursachen für den Reinfall im letzten Jahr. Sie hatte gehofft, die schlaffen Häute alternder Amerikanerinnen auf gesunde Weise straffen zu können. Und wie hatte man es ihr gedankt? Indem man die Darling-Produkte nicht mehr kaufte. Sie verstaubten in den Regalen der Drugstores. Der Umsatzeinbruch war verheerend. Die Welt wollte eben betrogen werden. Die Qualität spielte keine Rolle, Hauptsache, der Geruch stimmte. 33
Durch die katastrophale Saison waren ihre finanziellen Mittel jetzt völlig erschöpft. »Wieviel«, fragte Lily Malone. »Die Bank besteht auf Abdeckung der kurzfristigen Kredite. Viermal hunderttausend Dollar.« »Bis wann?« »Bis übermorgen Freitag 12 Uhr.« Sie hatte diesen Betrag nicht. Selbst wenn sie alles noch höher belieh, den Schmuck, die Bilder, die Villa in Bel-Air, die Ranch im Norden, soviel kam nicht zusammen. Nicht in 48 Stunden. »Ich komme!« Sie hängte auf und ging erst einmal duschen. Beim Duschen hatte sie schon immer die besten Ideen gehabt. Oder im Bett mit einem erstklassigen Mann. Aber die waren auch längst so rar wie hochkarätige Diamanten. * Ihre alten Freunde ließen Lily Malone nicht im Stich. Viermal hunderttausend Dollar war ihnen die Verbindung zu dieser Frau leicht wert. Außerdem wusch eine Hand die andere. Sie bestanden lediglich darauf, daß sich die Präsidentin von Darling-Cosmetics in Sante Monica/Kalifornien persönlich zum Empfang des Kredits nach Washington bemühte. Natürlich verfolgten sie dabei einen Hintergedanken. Den aber wollte man Lily Malone mit angemessener Vorsicht zur Kenntnis bringen. Man kannte nicht nur ihre Schönheit und ihre Intelligenz, sondern auch ihr Temperament. Wegen des schlechten Wetters über Nebraska und Kansas, und weil es schneller ging, nahm Lily Malone den Linienjet. Per Direktflug erreichte sie die Hauptstadt noch vor Mitternacht Ostküstenzeit. Ein Mann, der aussah wie ein Wallstreet-Bankier, der aber ihr Vater hätte sein können, erwartete sie mit einem schwarzen Lincoln. »Sie bemühen sich selbst, Hank?« staunte Lily Malone. »Das wäre aber nicht nötig gewesen.« »Sie sind ein so seltener Gast«, sagte der Mann im dunkelblauen 34
Börsenanzug, »daß Sie einen großen Bahnhof verdienen. – Außerdem habe ich ein Attentat auf Sie vor, Lily.« Lily Malone dachte zunächst, Hank wolle sich auf einer Party mit ihr schmücken. Aber der Wind wehte leider aus anderer Richtung. »Ihr Laden«, fragte Hank und meinte wohl Lilys Firma, »befindet sich während Ihrer Abwesenheit gewiß in guten Händen.« »Ich entferne mich nie weiter als zehn Flugstunden von ihm.« »Jim Prowse ist doch ein First-Class-Mann.« »Der gleich die Sirene anstellt, wenn eine halbe Million in der Kasse fehlt.« Damit war sie schon beim Thema angelangt. Hank wich ihm nicht aus. »Ach ja, diese dumme Sache, deretwegen Sie mich vorhin anriefen.« »Deretwegen ich über den Kontinent flog«, fügte Lily hinzu. Samtweich gefedert rollte der Lincoln stadteinwärts. Mit Knopfdruck schloß Hank die schalldichte Trennscheibe zum Fahrer. Außerdem stellte er Musik an, aber nur so laut, daß man sich gut unterhalten konnte. »Sind Sie pleite mein Kind?« fragte er. »Mir können Sie es sagen.« »Mit dem neuen Programm bin ich bis Dezember aus dem Schneider. Es wird einschlagen wie ein Hit. Aber die Werbung verschlingt große Mittel.« »Fünfmal hunderttausend.« Präzise diese Summe hatte sie von ihnen verlangt. Besser etwas mehr, hatte sie gedacht. »Das ist die Untergrenze«, erwiderte Lily. Der distinguierte graumelierte Herr im Maßanzug legte seine Hand auf die von Lily. Seine war kalt, die ihre warm. »Sie sollen haben, Darling, was Sie brauchen.« »Und die Konditionen, Zinsen, Tilgungsraten?« Hank zeigte sich unerwartet generös. »Geschenkt, Darling.« Das mißfiel Lily Malone sofort aufs Äußerste. Wenn sie eine halbe Million verschenkten, hatten sie Hintergedanken. »Sind Sie krank?« erkundigte sich Lily halb frivol, halb besorgt. 35
»Nicht gerade krank«, gestand der CIA-Vizedirektor, »nur ebenfalls so gut wie pleite, Darling.« Mit wenigen Sätzen schilderte er der Ex-Agentin Lily Malone die Lage, in der sich die Firma seit kurzem befand. »Ein Fehlschlag auf der ganzen Linie«, beendete er seine Ausführungen, »stürzte uns in außerordentliche Schwierigkeiten.« Lily Malone hatte zehn Jahre für die Agency gearbeitet, ehe sie sich mit dem Ersparten und der Abfindung in eine kleine Kosmetikfabrik in Kalifornien eingekauft hatte. Seit vier Jahren gehörte ihr der Betrieb und seit dem letzten Herbst war sie in der Klemme. Es war nicht die erste Klemme. Auch als ihr das Geld zum Erwerb der Aktienmehrheit gefehlt hatte, war die Agency eingesprungen. Für Gegenleistungen natürlich. Lily Malone kannte das Geheimdienstgeschäft mindestens ebensogut wie inzwischen die KosmetikBranche. Dementsprechend lautete ihre Frage: »Und was habe ich dafür zu tun, Hank?« Der CIA-Vize hob das Autotelefon ab und reichte ihr den Hörer. »Rufen Sie Jim an und sagen Sie ihm, daß mit der Finanzierung alles okay sei. Sie selbst würden einen kurzen Abstecher nach Paris machen, um das Angebot eines Duftschnüfflers, der eine neue Herren-Toilett-Serie entwickelt hat, zu überprüfen.« »Das nimmt mir Jim nicht ab.« »Ihr Problem, Darling.« Lily erledigte das Gespräch, legte auf und bat um eine Zigarette. * Der Lincoln war längst von der Stadtautobahn nach Langley abgebogen. »Und wie geht es weiter?« wollte Lily Malone wissen. »Wir kleiden Sie völlig neu ein«, schlug Hank vor, »damit nichts von unserer Staragentin Malone übrigbleibt. Ferner nehmen wir leichte Veränderungen von Haarfarbe, Aussehen et cetera vor. Sie kennen ja die Prozedur. Natürlich kriegen Sie andere Papiere, eine gute Legende und werden sofort nach Italien geflogen. Von dort reisen Sie per Automobil nach Jugoslawien ein.« 36
»Ist ja wirklich alles hervorragend organisiert«, bemerkte Lily voll Spott. »Hatten Sie mich etwa schon im Visier für dieses Unternehmen?« »Zunächst dachten wir an Rosita Malinos.« »Sie ist noch aktiv. Warum verzichten Sie auf Rosita?« »Weil«, setzte Hank an, »weil eine Kreolin, und mag sie noch so perfekt sein, schon allein wegen ihrer Hautfarbe in Europa zu sehr auffällt.« »Sie meinen ich sei der blassere Typ.« »Zumindest nimmt man Ihnen die Journalistin und Expertin für Meeresökologie eher ab. Sie besuchen unter anderem eine Versuchsstation in Dubrovnik und einen Kongreß in Split. Ihr Anruf heute Mittag kam uns äußerst gelegen. Plötzlich leuchtete ein Erkenntnisblitz ins Dunkel unserer Not. Binnen weniger Stunden haben wir das ganze Programm auf Sie umgestellt, Lily.« »Und wenn ich nein gesagt hätte?« Hank lächelte. »Dann hätten wir Ihnen den Kredit verweigert.« »Die sind ein Hundling, Hank«, sagte Lily Malone, aber es klang freundlich, fast vergnügt. Wenn sie ehrlich war, hielt sie sich nicht deshalb so fit, um ihr Leben lang Hautcreme und Schönheitswässerchen zu verkaufen. »Sie lieben doch die Abwechslung«, fuhr Hank fort, »und ein schnelles Mädchen sind Sie auch. Genau das Richtige für uns. Gestern gelang es dieser Spionin, über den Neusiedlersee nach Ungarn zu entkommen. Man wird Dr. Keith verhören und dann Midas ergreifen. So etwas läuft nach unserer Erfahrung binnen zwei Tagen ab. Von dieser Zweitagefrist sind inzwischen schon zwölf Stunden verstrichen. Bleiben noch…« »Sechsunddreißig«, fiel ihm Lily Malone ins Wort. »Wo finde ich Midas und was habe ich ihm zu sagen?« »Er hält sich in Split an der dalmatinischen Adriaküste auf. Dort nimmt er an einem Kongreß für Biophysiker teil, deshalb ist auch der Funkkontakt zu ihm unterbrochen. Sie werden als Reporterin des Wissenschaftsmagazins .Science’ am Kongreß teilnehmen und Midas warnen. Für den Fall, daß Ihre Warnung zu spät kommt, und man ihn schon enttarnt haben sollte, müssen Sie versuchen…« 37
»Ihn zu befreien?« fragte Lily Malone erstaunt. »Da überschätzen Sie aber meine Kräfte, Hank.« In diesem Punkt stimmte ihr der CIA-Vize unumwunden zu. »Wenn der KGB zugegriffen hat, dann bedarf es einer militärischen Operation ersten Grades, um ihm die Beute wieder zu entreißen. Das können wir natürlich nicht machen. Andererseits muß Midas daran gehindert werde, Struktur, Aufbau und Mitarbeiter seines Netzes preiszugeben. Midas ist gewiß ein tapferer Mann, aber den subtilen Verhör- und Foltermethoden der KGB-Fachkräfte kann auch ein Mann wie er nicht widerstehen. Es sei denn…« »Er ist tot.« Hank nickte wortlos. »Soll ich ihn etwa töten?« »Sie werden ihm zwei Todeskapseln zukommen lassen… versuchen, zukommen zu lassen«, verbesserte sich der CIA-Vize. Diese Zumutung schockte die Ex-Agentin keineswegs. Sie kannte die Zwänge, in die man als Agent oder als Spion geraten konnte. Es handelte sich um einen ganz gewöhnlichen Auftrag. Sie lehnte sich zurück und war jetzt ganz kühl. Der Wald von Langley tauchte auf. Der Lincoln fuhr die lange Allee, an deren Ende eine hohe Lichterwand auftauchte, hinunter. In den meisten Abteilungen des CIAHauptquartiers wurde Tag und Nacht gearbeitet. »Und wie erkenne ich Midas?« fragte Lily Malone. * In erster Linie kam es auf Midas an. Es gab noch eine zweite und eine dritte Linie, aber ganz oben stand Midas. Auf der Suche nach ihm graste Lily Malone alle Hotels zwischen Split und Zadar, in denen Kongreßteilnehmer untergebracht waren, ab. Schließlich erfuhr sie auf dem Weg über ein Fünfzig-DollarTrinkgeld, daß ihm ein Hotel auf der Insel Brac zugeteilt worden sei. Alle sowjetischen Wissenschaftler wohnten aus Sicherheitsgründen dort. 38
Mit dem ersten Schiff begab sie sich auf die Insel. Es war Sonnabend 07 Uhr 45 europäischer Sommerzeit, als sie den Motor ihres Fiat X-l/9 startete und von der Autofähre an Land rollte. Vor zweiunddreißig Stunden hatte ihr Gespräch mit Hank in Washington stattgefunden. In einer Blitzaktion von generalstabsmäßiger Genauigkeit war sie per Air-Force-Jet und Hubschrauber an die jugoslawische Grenze befördert worden. Die Strecke Triest-Split hatte sie in Rekordzeit zurückgelegt. Die kalkulierte Gnadenfrist für Midas’ Leben war jetzt auf vier Stunden zusammengeschrumpft. Zweihundertvierzig Minuten, ehe der KGB frühestens zuschlagen würde. Lily Malone rief in dem Hotel an, das Midas mit anderen sowjetischen Delegierten bewohnte. Es hieß, er sei beim Frühstück. Lily Malone parkte vor dem Hotel, schlenderte hinein und fragte, ob sie ein Zimmer bekommen könne. Voll belegt, hieß es. Daraufhin erkundigte sie sich, ob man hier frühstücken könne. Nur für Gäste, erklärte man ihr. Im übrigen sei das Hotel ein Gästehaus der Regierung. »Wie wär’s mit einem Drink«, fragte sie seufzend, »auf Regierungskosten?« »Die Bar ist noch geschlossen«, antwortete der Mann an der Rezeption. »Eigentlich ist das Betreten dieses Hotels für Touristen untersagt.« Nun zeigte sie ihren internationalen Presseausweis. Der Mann an der Rezeption starrte darauf wie ein Analphabet auf babylonische Hieroglyphen. »Ich hätte gern einen der Moskauer Professoren gesprochen.« »Welchen?« »Irgendeinen.« »Dann müssen Sie sich nach Split ins Kongreßzentrum begeben«, sagte der Mann an der Rezeption. »Gerade ist der Bus abgefahren.« Lily Malone sah den Bus noch. Er fuhr als letzter auf die Fähre. Aber hinter dem Bus ging die Rampe hoch. Die Fähre legte ab. Bis die nächste kam, verging eine Stunde. Lily Malone fluchte nicht. Sie war Rückschläge gewohnt. 39
Mit etwas Glück, dachte sie, könntest du Midas das Feuerzeug mit der Warnung und den Giftkapseln in die Tasche geschmuggelt haben. – Zu spät ist zu spät. Wäre schön gewesen. Doch dann hatte sie eine Idee und setzte alles auf eine Karte. Sie ließ den Fiat stehen, hängte nur die Tasche und die Fotoausrüstung um und lief zum Pier. Dort tankte ein junger Bursche sein Motorboot auf. Der Kunststofflitzer hatte hinten einen riesigen 110 PS-MercuryMotor hängen. »Der macht seine dreißig Knoten, he!« rief sie. Der Junge blickte auf, verschüttete etwas Benzin, antwortete aber freundlich und in perfektem Englisch: »Fünfundvierzig, Madam.« »Wetten, daß nicht?« behauptete sie. »Wetten, daß schon!« »Hundert Dollar, wenn Sie die Fähre einholen.« Der Junge grinste. »Ist Ihnen Ihr Typ durchgebrannt, Madam?« »Erraten.« Der Junge beendete in Ruhe das Tanken. »Zweihundert«, forderte er unverschämt. Lily Malone sprang in das Boot. Der Junge schnallte sich im Sitz fest, startete und drehte in einer Kurve, die das Boot fast senkrecht auf Backbord stellte, ab. Binnen weniger Minuten querte er das Kielwasser der Fähre. »Muß ohnehin nach Split«, erklärte er. »Dafür sind Sie ganz schön teuer.« Der Junge grinste. »Amerikaner«, sagte er, »sind in Europa, was Geldausgeben betrifft, ziemlich bescheuert.« »Woher wissen Sie das?« fragte Lily, froh ihren Erfolg für zweihundert Dollar möglicherweise doch noch zu bekommen. »Bin selbst Amerikaner«, gestand der Junge.
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Als der Bus am Kongreßzentrum hielt, stand Lily Malone längst mit schußbereiten Kameras da. Sie fotografierte jeden der aussteigenden Wissenschaftler. Dabei ging sie immer näher heran, bis jener Experte, den man ihr als Midas beschrieben hatte, den Bus verließ. Auch ihm gab sie das übliche Zeichen, das die Bitte ausdrückte, schön ins Objektiv zu lächeln. Dabei unterlief ihr eine Ungeschicklichkeit. Genau war die Ursache, warum sie den Herrn mit dem weißen Oberlippenbart und der Goldrandbrille rempelte, nicht zu erkennen. Vielleicht hatte sie im Eifer des Gefechtes die Balance verloren. Jedenfalls prallte sie mit ihm zusammen. Dabei löste sich etwas von einer Kamera, ein Filter, eine Vorsatzoptik, und schepperte zu Boden. Der höfliche Russe bückte sich. Lily bückte sich ebenfalls. Diese halbe Sekunde genügte, um ein Signalwort zu zischen und den daumenkleinen Gegenstand in der linken Sakkotasche des Wissenschaftlers verschwinden zu lassen. Der Zwischenfall war so alltäglich, daß er kaum beachtet wurde. Die sowjetische Delegation verschwand im Konferenzraum. Lily Malone fotografierte noch andere Teilnehmer. Deutsche Experten, die mit Mercedes-Automobilen vorfuhren, Briten, die bescheiden ihre Rolls Royce Limousinen zu Hause gelassen hatten und in Taxis kamen, Franzosen in ihren traditionellen Citroen-Flundern. Geschafft, dachte Lily Malone. Im Grunde hätte das jede andere auch gekonnt. Am Hafen nahm sie einen Drink, Weißwein mit wenigen Tropfen einer dunklen Flüssigkeit, die den Wein ungeheuer aromatisch machte. Dazu rauchte sie eine Zigarette. Sie hatte es sich zwar abgewöhnt, aber seit zwei Tagen rauchte sie wieder. Noch unschlüssig, auf welche Weise sie die vereinbarte Vollzugsmeldung abgeben würde, per Telefon oder Telegramm, bezahlte sie, verließ die Bar und lief zwei Typen in die Arme. Sie sahen nicht aus wie Jugoslawen, hatten aber die Einheitsvisagen von Geheimpolizisten. »Dürfen wir Sie sprechen, Madam?« fragte der eine. Er sprach sie englisch an. 41
In Lily Malone wurden alle Instinkte wach. »Nein«, zischte sie, stieß den Typ im Trenchcoat beiseite, nützte die Lücke und begann zu rennen. Die Altstadt war voller Touristen. Sie hoffte, die Polizisten im Gewühl abhängen zu können. 6. Dem BND-Agenten Robert Urban war die Lust an einem Opernbesuch gründlich vergangen. Ganz abgesehen davon, daß er die Strecke Burgenland-Salzburg bestenfalls bis zum letzten Taktstockschwung von Meister Karajan geschafft hätte. Also quartierte er sich in einem Landgasthof ein und ersetzte den Ohrenschmaus der Carmen durch die gebratenen Bruststücke einer zarten Junggans. Am nächsten Tag regnete es unverdrossen weiter. Wenn es hier regnete, regnete es in Salzburg erst recht, und der bestgepflegte Golfplatz wurde zur matschigen Wiese. Außerdem stellte ihm der Wirt in Aussicht, daß es am Abend Spanferkel gebe. – Urban blieb noch einen weiteren Tag, weil man frischgeräucherte Seerenken ankündigte. Er wäre vermutlich eine ganze Woche geblieben, denn die Speisekarte bot noch eine Reihe seltener Köstlichkeiten, aber am Sonntag hatte ihn die Zentrale ausfindig gemacht. »Sind Sie noch zu retten?« krähte der Oberst ins Telefon. »Nein«, erwiderte Urban, »und ich wünsche es auch nicht zu werden, zu allerletzt von Ihnen.« »Zerknirscht sind Sie aber gar nicht«, stellte Sebastian fest. »Warum, bitte, sollte ich?« »Nun, nach diesem grandiosen Erfolg vor drei Tagen. Sie hatten die Notbremse schon zum Greifen nah vor Augen und zogen nicht daran. Jetzt donnert der Zug durch den Tunnel und hinter dem Tunnel über die Brücke. Aber die Brücke ist von Hochwasser unterspült. Der Zug wird mit allen Wagen in die Schlucht stürzen.« Die übliche Übertreibung, dachte Urban. Sie werden schon Möglichkeiten der Rettung finden. Daran, daß er selbst das Notsignal sein könnte, dachte er an diesem lauen Sonntagabend im Burgenland nicht. 42
»Gewiß stellt die Agency in letzter Sekunde eine Weiche um.« »Man versuchte es«, sagte der Alte, »aber man weiß nicht, ob die Maßnahmen greifen. Der Weichensteller hüllt sich in Stillschweigen.« Washington hatte also versucht, das Midas-Netz zu retten und eine Warnung losgelassen. Ungewißheit bestand allerdings darüber, ob die Warnung angekommen war. – Aber warum erzählte ihm der Alte das? »Es ist nicht unser Netz, das in Gefahr ist.« »Auch wir beziehen über Midas wichtige Informationen.« »Man soll das Stricken solcher Netze denjenigen überlassen, die sich darauf verstehen, und die Maschengröße sowie die besten Knoten kennen.« Schließlich war es der BND, der sich seit seinen Uranfängen, seit vierzig Jahren also, mit der Aufklärung nach Osten befaßte. Sogar beim BND gab es Pannen. Wen wunderte es also, daß die Amerikaner, für die das Ostterritorium spionagemäßig gesehen Neuland war, Rückschläge erlitten. »Sie kennen doch die Zusammenhänge«, fuhr der Alte fort. »Da läuft einem ein fabelhafter Rassehund zu. Man verschenkt ihn nicht an andere Leute, die schon Erfahrung mit Hunden haben, sondern behält ihn. Man zieht ihn groß, hätschelt ihn, bildet ihn aus bis er einem ans Herz gewachsen ist.« »Und plötzlich wird er krank, hat die Staupe. Man geht zum Arzt. Aber der kann nicht helfen, weil er kein Hundedoktor ist.« Sebastian stimmte Urban vollinhaltlich zu. »Der Name des Doktors lautet Malone.« Urban blieb auf dem Code. »Ah, Doktor L. Malone«, wiederholte er, »den kenne ich gut. Wenn Dr. Malone nicht helfen kann, wer dann.« »Doktor Malone wurde gerufen, um Midas eine vorsorgliche Injektion gegen die Staupe zu verpassen. Jetzt haben möglicherweise beide die Staupe.« »Aber Genaues weiß man nicht.« »Deshalb muß jemand hin und nach den beiden sehen.« Das fehlte noch, dachte Urban. Erst entwischt der CIA eine Spio43
nin. Damit das Netz im Osten nicht reißt, schicken sie Lily Malone hinterher, um Midas zu warnen. Jetzt war auch Lily verschwunden. Nun sollte er starten wie eine Rakete, um Lily die letzte Ölung zu gewähren. Erst diese Physikerin, dann Midas, dann Lily Malone, dann er. »Wir sind ihre letzte Hoffnung«, betonte der Oberst. Was Urban schließlich weich machte, war nicht das Problem der Amerikaner, sondern Lily Malone. Er kannte sie recht gut, hatte schon mit ihr zusammengearbeitet, ehe sie es satt bekam, sich für Sachen, die die Politiker verschusselt hatten, rund um den Erdball zu Tode hetzen zu lassen. Warum war Lily wieder eingestiegen? Hatte sie mit ihrer Salbenfabrik Schiffbruch erlitten, oder hatte man sie unter Druck gesetzt? Wenn er jetzt einstieg, dann nur wegen Lily, aus alter Freundschaft, ein bißchen auch, weil sie sich einmal sehr gern gehabt hatten. Die Stichflamme dieser Beziehung war in beiderseitigem Einverständnis rasch zum Verlöschen gebracht worden. Ein Liebesverhältnis unter Geheimagenten, das hätte nur zu Komplikationen geführt. »Ich tu’s für die Malone«, erklärte Urban. »Aber bitte nicht mit der Präzision einer Lippenstiftdreherin.« »Nein, mit der Präzision einer deutschen Panzerdivision«, spottete Urban. »Und einen Rat gebe ich Ihnen, Chef: Trinken Sie schon mal gemeinsam mit der Agency auf einen Agenten weniger. Einer mehr oder weniger, was spielt das für eine Rolle, heute im Zeitalter der Wegwerfgesellschaft.« * Von einem ziemlich berühmten Geheimdienstchef des Westens ist folgender Ausspruch überliefert: Der beste Geheimagent ist der, der nach erfolgreicher Arbeit tot im Ziel zusammenbricht. Das enthebt uns der Notwendigkeit, ihn mit Orden zu behängen und ihm zeitlebens eine Rente dafür zu zahlen, daß er einmal der Sieger war. 44
Daran mußte Urban denken, als er von Österreich hinüber nach Jugoslawien fuhr. Schön, er war bereit, seinen Job zu machen, aber daß er im Ziel zusammenbrach, den Gefallen würde er ihnen nicht tun. Anhand der nachgelieferten Fakten begann er Lily Malone und den weißen Fiat X-l/9 mit der Roma-Nummer zu suchen. Dabei beschränkte er sich nicht auf Split allein. Im Kongresszentrum erfuhr er, daß die sowjetischen Tagungsteilnehmer auf der Insel Brac wohnten. Urban kannte Midas nicht. Seine Identität war so geheim, daß man sie den Agenten eines anderen Dienstes nicht preisgab. Selbst bei der CIA wußten angeblich nur zwei Personen, welche prominente Figur der UdSSR sich hinter Midas verbarg. Aber Lily Malone mußte man es gesagt haben. Lilys Auftrag lautete, Midas zu warnen. Dies war nur zu erfüllen, wenn sie sich Midas näherte. Also suchte er zuerst Lily Malone. Auf dem Parkplatz des Kongreßzentrums fand er den weißen Sportwagen nicht. Auch als die sowjetischen Wissenschaftler am Nachmittag einen Busausflug zu den Plitvicer Seen unternahmen, folgte dem Bus kein weißer X-l/9. Am Abend begab sich Urban zur Insel Brac hinüber, wo er den weißen Keil überraschend am Bootshafen von Supetar stehen sah. Zweifellos handelte es sich um den Flitzer, den der CIA-Resident in Rom für Lily bereitgestellt hatte. Urban setzte sich auf die Kaimauer in den Schatten einer Palme und wartete geduldig. Das Targadach des Fiat war geöffnet. Gewöhnlich ließ man einen Wagen mit offenem Dach nicht die Nacht über am Hafen stehen. Später schlenderte Urban an dem Fiat vorbei zu der Bar hinüber. Dabei entdeckte er Staub auf den schwarzen Kunstledersitzen des Wagens. Im Staub hatten sich pfenniggroße, kreisförmige Stellen gebildet, als seien Tautropfen in den Staub gefallen und in der Hitze des Tages getrocknet. Tau fiel hier nur sehr früh am Morgen von den Bäumen. Der Staubschicht nach zu urteilen stand der Fiat schon mehrere Nächte lang im Freien. Urban setzte sich vor die Bar und entdeckte bald einen Mann, der 45
offenbar ihn und das Auto beobachtete. Damit reimte sich schon die zweite Zeile mit der ersten. Möglicherweise hatte Lily Malone ihr Auto hier abgestellt, um sich Midas zu nähern. Vielleicht hatte es geklappt, vielleicht war es auch schiefgegangen. Höchstwahrscheinlich aber hatte dabei, oder danach, eine Berührung mit unangenehmen Leuten, sprich jugoslawischen Sicherheitskräften stattgefunden. Jetzt wagte sie nicht mehr, ihren Wagen abzuholen. Sie wurde beschattet, oder saß gar schon in Gewahrsam. Deshalb ihr Schweigen über die äußerste Zeitgrenze hinaus. Urban griff in die Trickkiste. – Er riß eine Zigarettenpackung auf und beschrieb die weiße Innenseite des Papiers. Daß er zwei verschiedene Texte entwarf und das Stück Papier dann noch in zwei Hälften riß, war für den Mann drüben bei der Kirche nicht zu erkennen. Nun zahlte Urban, steckte sich eine MC an, schlenderte wieder zu dem weißen Fiat hin und klemmte die eine Hälfte seiner Nachricht unter den linken Scheibenwischer. Die andere Hälfte warf er zerknüllt auf die Fußmatte vor dem Fahrersitz. Dann spazierte er in den Ort hinein. Kaum im Halbdunkel der Gassen, nahm er eine Position ein, von der aus der Pier gerade noch zu überblicken war. Der Mann auf der Bank vor der Kirche hatte schon Ortswechsel vorgenommen. Er eilte auf den Fiat zu und zog blitzschnell Urbans Nachricht an Lily Malone unter dem Wischerblatt hervor. Er würde enttäuscht sein. Schade um das hübsche Auto – hatte Urban geschrieben, sollte es morgen immer noch hier stehen, betrachte ich es als Fundstück. Verärgert warf der Mann im hellen Sommeranzug die Nachricht weg, schaute sich um und folgte Urban durch die Gassen hinauf zu der Festungsruine. * Urban nahm den einzigen Weg, der über Treppen durch Torbögen zwischen verwinkelten Häusern hindurch und über steile Pfade zur Festungsbastion führte. 46
Der Postkartenblick über das Meer zum Festland war ihm relativ gleichgültig, denn schon hörte er die Schritte des Verfolgers. Hinter einem verfallenen Ziegelsteinpfeiler fand er Deckung. Die Ruine war nach Westen hin offen. Die tiefstehende Sonne blendete ihn. Es herrschte Windstille. Plötzlich hörte Urban die Schritte nicht mehr. Der Mann verhielt sich vorsichtig. Aber das Knirschen des feinen Sandes unter seinen Sohlen konnte er nicht völlig vermeiden. Flach atmend wartete Urban eine gute Minute, dann riskierte er einen Blick durch die Mauerritze. Etwa acht Meter entfernt stand der Typ. Er schien zu wissen, daß Urban nur in der Ruine stecken konnte, zögerte aber, sich ihr zu nähern. Schließlich griff er in die Tasche, entnahm ihr ein taschenrechnergroßes Gerät, zog die Teleskopantenne aus und schaltete ein. Das Sprechfunkgerät begann zu rauschen. Vorsicht, überlegte Urban, jugoslawische Sicherheitspolizei! – Sekunden später mußte er seine Meinung revidieren. Der Mann rief seinen Kollegen. Aber er sprach nicht jugoslawisch, sondern russisch. Noch einmal rief er seinen Partner, bekam aber keine Antwort. Da die Russen auf diesem Territorium ebenso illegal operierten wie Urban, beschloß Urban zu handeln. Er bückte sich, ergriff einen Ziegelsteinbrocken und warf ihn, indem er blitzschnell die Deckung aufgab und wieder in sie zurücktauchte. Der Stein traf nicht, sollte auch nicht treffen. Er flog vor dem Russen vorbei und lenkte diesen automatisch ab. Es war nur ein kurzer Reflex, mit dem der Russe wegguckte, aber ausreichend für Urban. Mit zwei, drei langen Sätzen war er hinter ihm und hämmerte ihm die Handkante auf das Schlüsselbein. Der Gegner, ein harter Bursche, war mit dem Treffer nicht voll bedient. Er vollführte eine Drehung und schlug, mit dem Funkgerät in der Faust, zurück. Der Hieb traf Urban an der Schulter, verlieh dem Russen aber soviel Schwung, daß er den Nacken freigab. Ein Karateschlag ließ ihn weich werden wie eine faule Melone. Er kam nicht mehr hoch, sondern blieb ruhig am Boden liegen. 47
Urban schaltete das Walkie-Talkie ab, zog dem Russen den Gürtel aus der Hose und fesselte ihm die Füße. Dann band er ihm mit der Krawatte die Hände auf den Rücken und knebelte ihn mit seinem buntgemusterten kirgisischen Taschentuch. Auf dem Rückweg von der Bastion zum Hafen war Urbans Stimmung eine Idee besser. Wenn sie Lilys Wagen unter Beobachtung halten, so sagte er sich, dann haben sie Lily noch nicht. Lily Malone war keine Fließband-Agentin. Sie hatte natürlich längst bemerkt, was lief. Daß sie die Gegend noch nicht verlassen hatte, erklärte sich Urban damit, daß sie blieb, um die KGBAgenten irrezuführen. Solange sie sich in Split oder auf Brac herumtrieb, mußte die Gegenseite annehmen, daß sie Midas noch nicht kontaktiert hatte. Lily Malone war auch schlau genug, sich einem anderen Wissenschaftler zu nähern, um eine falsche Spur zu ziehen. Aber warum hatte sie sich nicht bei ihrer Relaisstation in Rom gemeldet? War ihre Bewegungsfähigkeit eingeschränkt, oder hatte sich eine neue Lage mit völlig veränderten Voraussetzungen ergeben? Wie dem auch sei, wenn sie die Augen offen hielt, mußte sie merken, daß er ihr Luft verschafft hatte. Und eine Lily Malone würde die Augen offen halten, das wußte Urban. Er kannte sie. Den Beweis fand er um 19 Uhr 45 am Pier von Supetar. Zwar stand der weiße Fiat immer noch an der Kaimauer, aber das Zigarettenpapierknäuel auf der Fußmatte war verschwunden. * Das Wetter hielt sich. Für Bob Urban war dies insofern zweitrangig, als er sich vorwiegend in einer Bar nahe dem Diokletianspalast aufhielt. Über dem Meer zuckten die Blitze von Ferngewittern auf, aber in Split fiel bis 23 Uhr kein Tropfen Regen. Immer wieder strömten neue Gäste herein. Lily Malone war nicht darunter. Immer wieder schrillte das Telefon, aber kein Anruf für Urban. Als er seinen vierten Bourbon-Tonic vor sich hatte, gingen ihm die Zigaretten aus. Im Hotel hatte er noch eine Stange MC. Um sie 48
zu holen, hätte er den Treffpunkt verlassen müssen. Seine Tischnachbarin, eine außerordentlich üppige Dame fortgeschrittenen Alters, hätte ihm sicherlich ausgeholfen, aber ihr schwarzes Kraut war nicht seine Geschmacksrichtung. Da fiel ihm ein, daß im Handschuhfach noch eine angerissene Packung lag. – Er käme gleich wieder, sagte er. Draußen vor dem Perlvorhang fiel ihn feuchte Schwüle an. Vielleicht änderte sich das Wetter doch noch. Er schlenderte die Promenade ein Stück hinauf. Jetzt, um Mitternacht, herrschte hier ein Leben wie in Schwabing um fünf Uhr. Er überquerte die Straße, ging die paar Schritte hinein in die Gasse, sperrte den BMW rechts auf, weil er mit der Fahrerseite an einer Mauer stand. Ein Griff, und er hatte die Zigaretten. Da wurde seine Schulter berührt. »Bloß weg hier. Ich werde verfolgt.« Er brauchte sich nicht umzublicken. Das war Lily. Rasch glitt er auf die Lenkradseite und machte ihr Platz. Sie kam hinterher, zog die Tür zu. Er startete und fuhr los. »Immer noch bei derselben Automarke«, sagte sie, »wie lange schon?« »Seitdem mein Carrera-Porsche die Beine streckte.« »Zehn Jahre?« »Länger.« »Und wie lange ist es her mit uns beiden?« »Unser Sohn käme gerade aufs Gymnasium.« »Und unsere Tochter?« »Wäre zweifellos der hübscheste Teenager von München.« »Oder von Los Angeles.« »Daran scheiterte es«, sagte Urban. »Du dort, ich hier.« »Hast du es bedauert?« »Manchmal«, gestand er. »Und du?« »Oft.« »Laß es uns vergessen«, schlug er vor. »Laß uns neu beginnen.« »Zu spät, Darling. Viel zu spät. Wenn man so abgefeimt ist wie wir, glaubt man nicht mehr an Liebe.« 49
Sie nickte. Aber ihre Augen schimmerten feucht, wenn sie log. Sie sah immer noch aus wie damals, immer noch so betörend wie in Hongkong, als er sie kennenlernte. »Laß uns später darüber sprechen.« »Einverstanden, zunächst bringen wir das Notwendige hinter uns. Erst die Arbeit, dann das Tandaradei. Du hast Probleme?« »Nein«, antwortete sie, »sie sind nur hinter mir her. Sie dachten, sie hätten mich unter Kontrolle, tatsächlich aber hatte ich sie unter Kontrolle. Ich fand deine Nachricht.« »Du warst in Brac drüben?«. »Nicht wegen Midas«, erklärte sie. »Midas, das ist erledigt.« »Positiv?« »Positiv.« Doch dann schränkte sie ein: »Hoffe ich.« Sie schlug das linke Bein über das rechte, aber wie sie es machte, wie sie dabei ihr Knie und den halben Oberschenkel seinen Blicken preisgab, auf diese Art brachte das keine andere Frau der Welt zustande. Bildete er sich ein. Es erregte ihn immer wieder aufs Neue. »Nicht wegen Midas«, blieb er bei der Sache. »Warum dann?« Während Urban die hellbeleuchteten Straßen mied, durch die Gassen der Altstadt nach Osten fuhr und weiter um die Bucht herum Richtung Kastela, erfuhr er verblüffende Dinge. »Midas«, berichtete Lily, »ist doch ein kleiner Fisch. Midas ist nur die Spitze eines alten langsam morsch werdenden Eisbergs. Ob Midas weiter existiert oder stirbt, das ändert verdammt wenig.« »Was hast du entdeckt?« »Etwas Sensationelles«, deutete Lily an. »Etwas, womit drüben keiner rechnet, woran niemand jemals auch nur denkt.« »Ein Hit also.« »Wenn es je einen gab.« »Dann laß mich teilhaben.« »Nach dem Motto, geteilte Freude ist doppeltes Leid.« »Bei mir ist es sicher.« »Weiß ich«, räumte Lily ein, »außerdem besteht immer die Gefahr, daß einer wie wir ausgeschaltet wird. Dann nimmt man das Beste mit ins Grab. Wieviel unersetzbares Wissen haben Geheimagenten schon ins Jenseits mitgenommen.« 50
»Der KGB ist ausgeschaltet«, sagte Urban. »Also sag es, wenn du willst, oder behalte es für dich, wenn du willst.« »Es ist eine Weltsensation«, äußerte sich Lily. »Du erlaubst, daß ich im Moment noch darüber schweige.« »Klar, jeder hat das Recht, sein eigenes Heu in die eigene Scheune zu fahren.« »Es ist mein letzter Einsatz für die Agency.« »Und er soll mit einem Feuerwerk enden.« »Daß sie Lily Malone nie vergessen werden.« »Daß man, wenn man von Lily Malone spricht, fragen wird: Wer bitte war eigentlich Mata Hari!« »So ungefähr stelle ich mir das vor.« »Du warst immer offen und ehrlich.« »Morgen«, sagte sie, »habe ich alle Fakten beisammen. Diese Nacht brauche ich noch.« Er verstand ihre Beweggründe. »Dann ist es also nicht unsere Nacht?« »Die findet morgen statt.« »Versprochen?« Sie nahm seine Hand. »Ich bestehe darauf. – Bring mich jetzt bitte in mein Hotel.« Er wendete und lieferte sie vor einer kleinen, aber feinen Pension ab. Sie verabredeten sich, bestimmten agentengenau Ort und Stunde. »Wenn es dunkel ist.« »Blinkzeichen.« »Morsebuchstabe L wie Liebe, Punkt, Strich; Punkt, Punkt.« »Paß gut auf«, bat er sie. Das war unnötig. »Eine Frau«, flüsterte sie, »die Aussichten hat, mehrere Tage mit dem Mann ihrer Träume zu verbringen, wird weder Austern essen, noch zu weit hinausschwimmen. Sie wird sich jeden Schritt überlegen und sich am liebsten in Watte wickeln.« »Was immer du vorhast«, sagte er, »viel Glück.« Er wußte, daß jeder Versuch, sie zu beeinflussen, sie von ihrem Vorhaben abzubringen, vergebliche Mühe gewesen wäre. Men51
schen in diesem Gewerbe verfügten entweder über zuviel Ehrgeiz, Dickköpfigkeit, Egoismus und Verbissenheit, oder sie taugten nicht dafür. Urban ließ den Motor wieder an. Plötzlich hing sie an seinem Hals, küßte ihn, küßte hingebungsvoll und lange. Er hatte ihre Küsse heiß in Erinnerung, aber nicht feucht. Das Feuchte waren wohl ein paar Tränen. Und die wiederum paßten ganz und gar nicht zu Lily Malone. * In den nächsten 19 Stunden erfaßte Bob Urban eine merkwürdige Unruhe. Er machte sich Sorgen. Immer wieder sagte er sich, daß Lily Malone ein Vollprofi sei, eine Spitzenagentin, und diesen mittelprächtigen KGB-Typen haushoch überlegen, selbst wenn sie in Massen auftraten. Ein Spitzenagent hatte einfach alles. Intelligenz, Ausbildung, Training, Instinkt. Selbst in Stressituationen, wenn eine dieser Eigenschaften ausfiel, wurde sie von den anderen kompensiert. Lily Malone gehörte zu jener Kategorie, die für jeden Trick der Gegenseite einen Übertrick wußte. Lily würde es schaffen. Es sei denn, man setzte einen First-Class-Mann auf sie an. So sah es aber nicht aus. Die Moskauer KGB-Zentrale hätte ihn schon bei Nacht und Nebel nach Split einfliegen lassen müssen. Auf diese Weise beruhigte sich Urban immer wieder. Den Nachmittag verbrachte er entspannend auf dem Bett des kühlen Hotelzimmers. Um 17 Uhr warf er das Gepäck in den Kofferraum und nahm noch einen Drink. Um 18 Uhr fuhr er los. Als er Split hinter sich hatte und auf der Jadranska-Magistrale nach Norden rollte, speicherte er in seinen Bordcomputer Entfernung und gewünschte Ankunftszeit. Das Gerät arbeitete wie ein Rallye-Tripmaster. Nur waren es hier rote Leuchtdioden, die ihm anzeigten, wie schnell er fahren mußte, um gut in der Zeit zu liegen. Die Sonne sank und spiegelte sich rot in der Adria. Er kippte die Blende vor. 52
Noch 119 Kilometer bis zum Treffpunkt. Oder zwei Stunden zwanzig, laut Bordcomputer. Mit gemütlichen Sechzig am Tacho schaffte er das mühelos, die Stadtdurchfahrt in Zadar eingerechnet. Warum Lily Malone ausgerechnet die Bucht von Novigrad als Treffpunkt ausgewählt hatte, wußte er nicht. Er hatte sie gefragt, aber sie hatte ihm die Antwort verweigert. Vielleicht fand sie dort das letzte Beweisstück für die erwähnte Sensation. Ob es wirklich eine Sensation war, oder ob es sich um weibliche Übertreibung handelte, wer konnte das sagen. Immerhin war Lily einige Zeit aus dem Geschäft gewesen. Man verlor rasch den Durchblick, weil sich die Krisensituationen in der Welt, sowohl auf politischmilitärischem Gebiet als auch auf dem Sektor der Rohstoffe, des technischen Fortschritts, der Rüstung, überraschend schnell veränderten. Was gestern noch lebensnotwendig erschien, war morgen schon überholt, sei es durch den Tod eines Staatsmannes, oder weil in der Chemie, der Physik, der Elektronik ein neuer Durchbruch gelang. Was heute Goldwert besaß, wanderte morgen schon auf dem Schrotthaufen. Oder umgekehrt. Der Computer zeigte an, daß er zu langsam war. Urban drückte das Gaspedal ein wenig tiefer durch. Der BMW zog an. Im letzten Licht tauchte Zadar auf. Die Magistrale, die große Küstenstraße, bog, die Halbinsel abschneidend, nach Osten ab. Vor der Brücke über den Sund verließ er sie und rollte die letzten 12 Kilometer am Novigrader Meer entlang. Die Föhrenwälder reichten streckenweise bis zum Ufer heran. Manchmal sah man den Fischerort liegen, dann entzog er sich wieder den Blicken. Urban trat auf die Bremse. Durch eine Schneise konnte er zum ersten Mal die Festungsruine über Novigrad sehen. Hier mußt du abbiegen, hatte Lily Malone gesagt, der Strand weiter unten ist feinkiesig und leer um diese Zeit. Niemand wird uns dort stören. Wir sind dort nicht mehr in Gefahr. Sobald es dunkel ist, gib das Morsezeichen für L mit den Scheinwerfern. L, wie Liebe. . Danach wollten sie gemeinsam die Heimfahrt antreten. Urban stieß einige Meter zurück, schwenkte in den schmalen Weg, der durch den Föhrenwald abwärts führte, ein, und folgte 53
seinen Windungen. Nach hundertfünfzig Metern etwa wichen die Bäume zurück. Feiner Kies knirschte unter den Conti-Walzen des BMW. Am Strand parkte er das Coupe so, daß sein Blinken weithin zu sehen war und er in einem Zug wenden konnte. Dann stellte er den Motor ab und wartete bis 21 Uhr 30. Die Sonne war jetzt untergegangen, die Sterne kamen heraus. Lauer Wind wehte von Maslcenica herüber. Fischerboote liefen aus. Am anderen Ufer bewegten sich Lichter. Vermutlich gehörten sie zu den Leuten bei den Muschelbänken. Er steckte sich eine MC an und legte den Kopf in den Nacken. Punkt 21 Uhr 30 piepte der Bordcomputer. Urban betätigte den Lichthupenhebel. Die Nachtscheinwerfer blitzten auf. Kurz lang kurz kurz. * Er lauschte in die Stille, achtete darauf, ob sich im Dunkel ein noch dunklerer Schatten bewegte. Nur der Wind rauschte in den Bäumen und die Dünung lief am Strand aus. Manchmal strich ein Nachtvogel tieffliegend vorbei. Aus Erfahrung wußte Urban, daß man Treffs nicht immer auf die Sekunde vorprogrammieren konnte. Er wartete geduldig. Um 21 Uhr 45 wiederholte er das vereinbarte Blinksignal. Unruhe erfaßte ihn erst, als der Zehn-Uhr-Schlag von Sibenik herüberschallte. Er stieg aus und wanderte am Strand entlang. Erst in Richtung auf den Ort bis zur Einmündung eines Baches. Dann machte er kehrt und ging nach Nordwesten, wo die große Magistrale-Brücke den Sund überspannte. Man konnte sie nicht sehen. Bei Tag war es vielleicht mit dem Fernglas möglich. Plötzlich sah Urban etwas liegen. Es schimmerte metallisch. Die übliche Bierbüchse, dachte er zunächst, oder Verpackungsmaterial, eine Alufolie. Aber es war eine Sandale mit feinen Riemchen aus Goldleder. Lange lag der Schuh nicht hier. Das Leder war noch geschmeidig. Die Schnalle zeigte keinerlei Rostansatz. Urban hätte den Schuh 54
weggeworfen, wenn nicht die Prägung im Futterleder gewesen wäre. – Almeria-Shoes-Santa Monica. – Seine Unruhe wuchs. Der Strand war flach, breit und kilometerlang. Er machte kehrt, rannte zu seinem Wagen, ließ an und preschte voll schlimmer Ahnungen den Strand hinauf. Er hatte alle Lichter geschaltet. Sie leuchteten den Strand vom Wasser bis dorthin, wo der Wald begann, in voller Breite aus. Eine Mulde kam, ein Rinnsal. Er drosch den BMW hindurch. Ein morscher alter Kahn tauchte auf. Er driftete um ihn herum, visierte die Durchfahrt zwischen zwei Felsbrocken. Voraus war alles frei. Im letzten Moment, ehe es aus der beleuchteten Zone geriet, sah er etwas im Augenwinkel. Er trat auf die Bremse. Der Wagen zog eine Spur im Kies. Er stürzte hinaus. – Da war sie. Der Anblick erschütterte ihn bis ins Innerste. Lily lag völlig entspannt da, als habe sie sich müde geschwommen und verschnaufe jetzt ein wenig. Ihr Kopf ruhte auf dem ausgestreckten Oberarm. Das geöffnete Haar bedeckte strähnig ihr Gesicht. Ihr völlig nackter Körper war gleichmäßig gebräunt, und für eine so trainierte Athletin erstaunlich weiblich. Es sah aus, als schlafe sie. Aber sie atmete nicht. Lily Malone war tot. Urban beugte sich zu ihr hinab, strich das Haar zurück. Ihre Lippen waren geöffnet, als wolle sie etwas sagen. Seitlich am Hals entdeckte Urban die Druckstelle. Der Laie mochte sie für einen Knutschfleck halten. Doch wenn man an diesem lebenswichtigen Nervenknotenpunkt nicht saugte, sondern Druck ausübte, dann wirkte dieser, entsprechend fest ausgeführt, binnen Sekunden tödlich. Entweder hatte Lilly Malone hier ihren Meister gefunden, oder die Killer standen drei zu eins gegen sie. Nachdem sich Urban einigermaßen gefaßt hatte, suchte er die nähere Umgebung nach Spuren ab. Er fand Lilys Bikini. Die Bänder, die das Unterteil zusammenhielten, waren nur noch Fetzen. Also hatte ein Kampf stattgefunden. Der feine Kies war an mehreren Stellen tief zerwühlt. Urban löschte die Scheinwerfer des Coupés und steckte sich eine MC an. An einen Felsblock gelehnt, überlegte er lange. 55
Sie waren Lily hierher gefolgt, darüber bestand kein Zweifel. Aber es konnte ihnen nicht darum gegangen sein, sie zu töten. Sie wollten entweder etwas, das Lily bei sich hatte, oder sie selbst. Da sie Lily Malone nicht lebend bekommen hatten, hatten sie sich auf den Gegenstand konzentriert. Lily Malone war nicht die Frau, deren einzige Garderobe aus einem Tanga-Bikini bestand. Möglicherweise hatte sie den Weg von Split hierher mit dem Taxi oder mit einem Mietwagen zurückgelegt, aber bestimmt nicht ohne Gepäck. Urban suchte weiter. Es dauerte nicht lange, dann fand er im Wald einen weißen Samsonite-Koffer. Er war aufgebrochen, der Inhalt durchwühlt und verstreut worden. Damen haben Handtaschen, überlegte Urban. Wo ist ihre Handtasche? Endlich fand er auch diese, eine weiße Krokotasche mit doppelter Goldkette. Auch ihr Inhalt war geplündert. Er ging zurück zum Strand, zu Lily, und war ziemlich ratlos. Da lag sie nun, weil sie ein Problem, das groß genug für zwei war, allein hatte lösen wollen. Steckte wirklich nur Ehrgeiz dahinter, oder hatte sie die Gefahr erkannt und ihn nicht hineinziehen wollen? Arme Lily. Urban fragte sich, warum sie den rechten Arm so unnatürlich weggestreckt hatte. Die Instinktreaktion eines Sterbenden war, die Glieder an sich zu pressen. Hatte sie ihm, als sie wußte, daß es aus war, noch ein Zeichen geben wollen? Nur eine Frau wie Lily war dazu fähig. Urban folgte der Richtung in die Lilys Arm deutete. Sie führte schräg zum Wasser hin. – Dort war nichts. Aber vielleicht im Kies. Möglicherweise hatte sie das, worauf es den Verfolgern angekommen war, rechtzeitig versteckt. Urban durchwühlte in der Verlängerung von Lilys ausgestrecktem Arm den Kies. Er grub seine Arme bis zu den Ellbogen hinein. Dort, wo der lockere Kies in festere Schichten überging, stieß er auf etwas Hartes. Eine Weinflasche. Er fand kleine und große Gegenstände, Muscheln, Plastikkram, einen kaputten Gummiball. Und ein Zigarettenetui… Das kam gewiß nicht zufällig hierher. Goldene Etuis verlor man 56
nicht, und wenn man sie verlor, suchte man sie. Außerdem führte dieses Etui das Monogramm L in ein M verschnörkelt. Urban öffnete es. Ein quadratisches Stück Papier und ein fingerlanger Zelluloidstreifen steckten darin. Das Papier fühlte sich steif an. Er drehte es um. Es handelte sich um ein Polaroidfoto in Color und zeigte das Gesicht eines älteren Herrn, Typ Wissenschaftler. Woran mochte es bloß liegen, daß man diesen Leuten sofort ansah, daß sie Chemiker, Physiker, Biologen oder Ärzte waren. Der Mann hatte weißes Haar, trug es aber kurz und borstig, etwa so lang wie den Bart unter dem Kinn. Man konnte sagen, der Kinnbart stellte das Gegenstück zu seinem Kopfhaar dar. Die Mitte zwischen beiden bildete eine auffallend kräftige Nase und ein Metallrandzwikker, dessen schwarze Sicherheitsschnur im Knopfloch endete. Sofort stellte sich die Frage, ob das Midas sei. Er drehte das Foto wieder um. Was er für eine Papiermarkierung gehalten hatte, war eine Notiz, sehr klein geschrieben, wie gedruckt: Prof. Chapman. Und das Datum von heute. Mister Chapman also. Damit konnte er nicht viel anfangen. Seines Wissens war Dr. Ella Keith bei den Chapman Labors in London tätig. Sollte die Keith der sensationelle neue Aspekt sein? Hatte Lily Malone etwa Chapman in Split unter den Kongreßteilnehmern gesehen? Warum sollte Chapman als anerkannter Ökologe nicht eingeladen worden sein? Häßlich war in diesem Zusammenhang nur die Nähe von Midas, ferner der Umstand, daß man Chapmans Mitarbeiterin als Spionin entlarvt hatte, und daß alles zur gleichen Zeit geschehen war. Möglicherweise lieferte der Zelluloidstreifen, Filmmaterial aus einer Minikamera, weitere Aufschlüsse darüber. Wenigstens ihn hatten die Russen nicht bekommen. Aber zu welchen Bedingungen… Lilys Anblick war wie ein Schuß, der einem ans Leben ging. Die Kugel hatte Leber, Milz und Lunge mehrmals durchbohrt, aber man durfte nicht sterben, sondern mußte den Schmerz ertragen. Wut stieg in Urban hoch. Auf den Job, auf seine unumgänglichen Brutalitäten, auf diese Killer. Raserei war in ihm, pures Toben. Aber was nützte es. Man konnte tun was man wollte, nichts än57
derte sich. Langsam ging er zu seinem Wagen, warf sich hinein, startete, wendete und fuhr davon. Er rollte zur Magistrale und wußte eines, egal ob man schnell fuhr oder langsam, egal wohin man fuhr, wohin man auch floh, man nahm es immer mit. Man konnte ihm nicht entkommen. Auf der Brücke über dem Sund hielt er noch einmal an, stieg aus und starrte nach Süden. Dort irgendwo lag Lily Malone. Was er für sie tun konnte, war verdammt wenig. Er konnte von Triest aus die amerikanische Botschaft in Rom verständigen, damit sie ihren Leichnam bargen und nach Kalifornien überführten. Mehr konnte er nicht tun, weil er sich nicht selbst enttarnen durfte. Zum Heulen war ihm zumute, wie einem verlassenen Hund. 7. Er hatte nicht irgendeinen Wohnsitz an Spaniens Küste, er besaß den schönsten maurischen Palast auf der höchsten Klippe über der feinsten Bucht des Golfes von Almaria. Mit seinen Marmorarkaden, den Mosaiken, der Parkanlage, dem riesigen runden Pool, hatte er Milliardärniveau. Professor Chapman war reich, aber kein Milliardär. Er hatte alles geerbt. Seine Ehefrau Carmen entstammte altem spanischen Adel, dem einst große Teile der iberischen Halbinsel gehört hatten. Chapmans Frau war bei einem Attentat der Rechtsextremisten auf dem Flugplatz von Malaga ums Leben gekommen. Damit war eine große Liebe zu Ende gegangen. Und weil er in dieser Villa mit Carmen sehr glücklich gewesen war, fuhr Chapman, obwohl er das Klima nicht vertrug, jedes Jahr im Sommer hierher. Deshalb surrte auch Tag und Nacht die Air-Condition. Selbst die zwei Gentlemen, die Chapman am Dienstag besuchen wollten, fanden die Atmosphäre zu frostig. Rasch zogen sie ihre Jacketts wieder an. Dabei blickten sie sich staunend um. Sie waren weitgereist, aber so etwas hatten sie selten gesehen. »Woran erinnert mich das?« fragte der Kleinere den langen Hageren. »An einen Hollywoodfilm.« 58
»Mehr an Versailles.« »Versailles ist ein Puff dagegen. Heruntergekommen, überladen und geschmacklos.« Plötzlich vernahmen sie hinter sich eine Stimme. »Don Chapman würde sich freuen über dieses fachgerechte Urteil, Senores.« Sie drehten sich um und sahen einen Mann, der wie ein spanischer Majordomus gekleidet war. Er trug schwarze seidene Bundhose, eine Jacke mit Schwänzen, weißes Hemd, weiße Handschuhe. »Und warum freut er sich nicht?« erkundigte sich der lange Hagere. »Weil er es nicht hörte, Senores.« »Dann sollten Sie es ihm rasch bestellen. Und, daß es uns eine Ehre sein wird, ihn begrüßen zu dürfen.« Der Oberbutler hob die Schultern, synchronisiert mit einer Handbewegung des Bedauerns. »Gerne, wenn der Patron zur Stelle wäre.« Die Besucher blickten sich an. »Wir sind angemeldet.« »Die Anmeldung kam offenbar zu spät.« »Seine Sekretärin nahm sie ab.« »Möglicherweise hatte der Professor Cabo Gato schon verlassen.« Die Besucher drückten durch deutliches Mienenspiel aus, daß sie dies nicht für die feine englische Art hielten. »Und ich komme extra von Washington herüber«, sagte der eine. »Ich aus London«, fügte der andere hinzu. »Das wird der Senor Professor aufs äußerste bedauern.« Die zwei Besucher, berufsmäßige Ausfrager, hakten sofort nach. »Wie erreichen wir ihn?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich bin über die Reisen des Patron nicht unterrichtet. Führen Geschäfte die Senores hierher?« »Ein Staatsauftrag«, knurrte der Engländer. Er hätte sagen können, daß es sich um dringende Nachforschungen im Auftrag des britischen Geheimdienstes handelte, aber was ging das den Lakaien an. Das Wort Staatsauftrag beeindruckte den Butler nicht im mindesten. 59
»Verdammt«, fluchte der Amerikaner, »einer in diesem Laden muß doch wissen, wo der Boss steckt.« Der englischsprechende Diener oder was immer er war, schluckte mehrmals. »Das Sekretariat besitzt gewiß Informationen, Gentlemen.« »Und wo ist das Sekretariat?« »Die Sekretärin macht gerade Siesta.« »Ab wann ist das Office geöffnet?« »Um sechzehn Uhr, Senores.« Sie nahmen ihre Panamahüte. »Okay, wir kommen in drei Stunden wieder vorbei. Aber dann lassen wir uns nicht mehr abspeisen. So long, mein Guter!« Nun war es der Mann im Dienerlook, der die Gentlemen überraschte. In vollendeter spanischer Gastfreundlichkeit erklärte er, daß ihre Apartments vorbereitet seien. Bis zur Rückkehr von Professor Don Chapman seien die Gentlemen selbstverständlich Gäste des Hauses. Der Amerikaner blickte den hageren Engländer an. »Wir nehmen die Einladung an«, schnarrten sie. * Ihre Suiten hatten eine gemeinsame Terrasse. Dort trafen sie sich wieder. »Stinkvornehme Bude«, zischte der Amerikaner, »goldene Hähne im Bad und WC.« »Die Klobrille ist aus Porzellan und handbemalt.« »Von Salvador Dali, schätze ich.« »Gewiß von keinem Minderen.« Sie bedienten sich vom Inhalt des in die Wandpaneele integrierten Kühlschrankes. Von Wodka bis Champagner war er gut sortiert. Im Schatten der Markise tranken sie verdrossen vor sich hin. Ihre Unterhaltung fand im Flüsterton statt. »Denn«, sagte der Amerikaner, »wer solchen Luxus hat, der hat auch Abhörmikrofone.« »Nur, wenn sein Gewissen unrein ist. Und das ist noch nicht bewiesen.« 60
»Kommt darauf an, wo er am Wochenende steckte, der Don Professor. Ein Foto ist ein Foto, und es wurde am siebzehnten geschossen.« »Aber wo.« »Gefunden wurde es in Jugoslawien bei einer toten CIAAgentin«, erinnerte der Amerikaner seinen MI-6-Kollegen. »Was besagt das?« »Daß es hier Abhöranlagen geben könnte.« Sie stellten das Radio lauter und unterhielten sich noch leiser. »Und Chapman glänzt mit Abwesenheit.« »Was sollte eine Weltkapazität auf diesem drittklassigen Kongreß zu suchen haben? Ein Klassenprimus mischt sich nicht unter Hilfsschüler.« »Oder er tut es, um zu glänzen.« »Außerdem, wer sagt uns, daß das Foto anläßlich des ÖkologieKongresses gemacht wurde.« »Der Bildreporter ist anschließend leider verstorben.« »Er wurde ermordet, behauptet Mister Dynamit.« »Die Obduktion in Rom ergab Tod durch Lähmung des goldenen Knotens.« »Per Daumendruck.« »Die genaue Stelle kennen nicht einmal alle Ärzte.« »Aber Berufskiller kennen Sie.« »Darf man daraus gleich schließen, daß Chapmans Anwesenheit nicht bekannt werden sollte? Ich denke, das geht zu weit.« Der Engländer trank und hob dann den Zeigefinger. »Noch ist nichts bewiesen. Noch ist der Mann auf dem Foto nur ein Typ, der aussieht wie Chapman. Um das nachzuprüfen sind wir hier.« Das bedurfte keiner nochmaligen Erwähnung. Wenn man sich in Washington und London der Sache sicher gewesen wäre, hätte man nicht zwei Investigators losgeschickt. Der Engländer steckte sich eine Havanna aus der Gästekiste an. »Er wird uns sein Alibi minutiös aufschlüsseln müssen, der Herr Professor.« »Für die letzten vier Tage.« 61
»Davon weiche ich nicht einen Millimeter ab. Und wenn er der Kaiser von Andalusien wäre.« Der Amerikaner stand auf. »Weiß nicht, aber der Luxus hier, das Panorama, der Gedanke an den Inhalt der Kühlschränke, das verführt zum Besaufen. Heute abend, wenn wir alles wissen, habe ich nichts dagegen, aber jetzt würde ich lieber schlafen, bevor ich richtig loslege.« »Alte spanische Regel«, sagte der Engländer. »Alkohol erst nach Beendigung des Stierkampfes, wenn der letzte Toro tot aus der Arena geschleift wurde. Ich schließe mich der Auffassung meines geehrten Vorredners an. Bis später, Gordon!« »Bis später, Smily!« rief der Mann aus Washington und schloß die Sonnenblende hinter sich. * »Von der Reise kann keine Rede sein, Gentlemen«, erklärte ihnen um 16 Uhr 45 Chapmans Sekretärin. »Der Herr Professor ist mit der Yacht raus.« »Zum Fischen?« »Wir nennen das, der gestörten Umwelt Proben entnehmen.« »In Form von Fischen.« »Vorwiegend in Form von verseuchtem Meerwasser aus verschiedenen Tiefen. Natürlich läßt auch die Vergiftung von Fischeiweiß Schlüsse zu, inwieweit das Mittelmeer schon zur Kloake wurde und wann es nicht mehr zu retten sein wird.« »Arme Menschheit«, erwiderte der Amerikaner, »selbst wenn die Apokalypse ihre Reiterschar auf zwei Dutzend erhöht, meine Gnädigste, das Ungeziefer Menschheit ist unausrottbar. Nun erzählen Sie mal schön, wo wir Mister Chapman finden können.« »Er kehrt demnächst zurück.« »Demnächst ist uns zu spät, Teuerste«, mischte sich der Engländer ein. »Wir werden ihn suchen gehn.« »Das Mittelmeer hat erhebliche Abmessungen, Gentlemen.« Der Amerikaner winkte ab. »Danke für die Aufklärung, Gnädigste, aber wir verfügen über 62
die Unterstützung der sechsten US-Flotte. Außerdem sind wir nicht mit dem Fahrrad da, sondern mit dem Hubschrauber.« Die leicht hochnäsige Sekretärin schien die Besucher jetzt mit einer anderen Elle zu messen, was sie aber nicht attraktiver machte. Sie war pummelig, warzig mit Brille und superdicken Gläsern. Der Engländer brachte eine Karte, die den Seeraum bis zu den Balearen umfaßte, zum Vorschein. »Wo«, fragte er, »hält sich Chapman Ihrer Meinung nach auf?« Die Sekretärin zögerte, nahm dann einen spitzen Bleistift in die spitzen Finger und umschrieb damit ein Seegebiet von mindestens zehntausend Quadratmeilen Größe. Es sah aus, als habe sie keine Ahnung. Der Amerikaner aber witterte, daß man sie in die Irre führen wollte. Diese Dame sah ihre Lebensaufgabe darin, dem abgöttisch geliebten Chef Unannehmlichkeiten vom Hals zu halten. Smily schoß jetzt einen Hagel von Fragen ab. »Wie groß ist die Yacht?« »Eine sechzig Fuß Reynolds.« »Stahl, Glasfaser?« »Teakholz selbstverständlich«, antwortete die Sekretärin beinah beleidigt. »Wieviel Mann sind an Bord?« »Professor Chapman ist ganz alleine. Er ließ auf einer schottischen Werft die Takelage automatisieren. Ein einziger Mann kann die ganze Segelei bedienen.« »Hilfsmotor?« »Sogar zwei, Sir. Der Professor ist Sicherheitsfanatiker.« »Dann hat er auch Funk.« »Das nehme ich an.« »Gibt es ein Foto des Schiffes?« Sie verschwand für längere Zeit und brachte schließlich ein Foto mit. Es zeigte Senora Chapman bei der Taufe der Yacht auf den Namen Carmen. »Schönes Schiff«, bemerkte Percy Nader, »schöne Frau.« »Bomben läßt es leider völlig kalt, wen sie zerfetzen. Schöne oder häßliche Menschen, reiche oder arme«, erklärte die Sekretärin in merkwürdig schneidendem Ton, der die Männer aufhorchen ließ. 63
»Wann kommt der Professor zurück?« »Wohl erst wenn sich das Wetter verschlechtert.« »Und wenn es gut bleibt, bleibt er bis Silvester auf See?« »Dann erwarte ich ihn zu Beginn der kommenden Woche.« Der Amerikaner versuchte es noch einmal. »Meine Teuerste«, sagte er, »machen Sie es uns doch nicht so schwer. Wir kleinen Angestellten sollten mehr Solidarität mit unseresgleichen als mit unseren Arbeitgebern üben. Was ist denn das bevorzugte Gebiet, in dem Chapman herumschippert? Zieht er die Tiefsee vor oder flache Gewässer? Bleibt er in Küstennähe, oder sucht er Inseln auf?« »Inseln«, schnappte sie zurück. »Sehen Sie hier irgendwo eine Insel?« In der Tat zeigte die Karte zwischen Spanien und Afrika keine einzige, wenn man von den Balearen im Norden absah. Sie dankten für das Gespräch, wenn auch nicht gerade überschwenglich. * Noch am gleichen Tag begann die Suche nach Professor Denis Chapman auf mehreren Ebenen. Seine Segelyacht Carmen wurde über Funk gerufen. Immer wieder ging die Aufforderung, sich zu melden, auf den gebräuchlichen Frequenzen hinaus, ohne daß Antwort erfolgte. Die Verbände der 6. US-Flotte, soweit sie im Mittelmeer kreuzten, wurden aufgefordert, Ausschau nach der Yacht zu halten. Gleichzeitig erhielten alle in Frage kommenden Einheiten eine Beschreibung des gesuchten Schiffes. Die Spezialagenten Smily und Nader flogen indessen mit dem Hubschrauber den Golf von Almeria ab. Binnen einer Stunde zählten sie mehr als hundert Yachten. Ein reichliches Dutzend davon konnte, von oben betrachtet, Chapmans Carmen sein. »Das bringt nichts«, sagte Smily immer wieder und dirigierte den Piloten auf östlichen Kurs, der die Sonne für wenige Minuten in 64
ihre Rücken brachte. Trotzdem sank die Backofentemperatur im verglasten Cockpit nur unwesentlich. Der Engländer hatte die Seekarte auf den Knien und markierte die abgesuchten Quadrate. Plötzlich fiel ihm etwas auf, das ihm äußerst mißfiel. »Dieses verdammte Biest von einer Sekretärin«, fluchte er, »was antwortete sie, als wir wissen wollten, ob Chapman die Tiefsee, flache Gewässer oder Inseln verzieht?« Der Amerikaner versuchte den Tonfall des Mädchens nachzuahmen. »Sehen Sie hier irgendwo Inseln, Gentlemen, hat sie zuckersüß gefragt.« Der Engländer deutete auf einen kaum sichtbaren Punkt 65 Meilen südlich von Almeria. Er lag fast genau zwischen den Küsten Spaniens und Afrikas. »Was’n das? Ein Papierfehler?« »Auch kein Mückenschiß. Das sind die Alboran-Inseln.« »Auf deiner Karte war Alboran gar nicht verzeichnet. Sie umging also die Lüge mit einer Gegenfrage, die wir nicht beantworten konnten.« »Mit der Absicht, uns abzulenken.« Der Engländer legte den Maßstab an. »Siebzig Meilen. Zu weit für uns.« Kurzentschlossen hängte der Amerikaner das Mikrofon des Sprechfunkgerätes aus, nahm Kontakt mit einem patrouillierenden US-Zerstörer auf und erklärte dem Kommandanten sein Problem. Der Zerstörerkommandant wollte sich mit einem vor Gibraltar ankernden Flugzeugträger in Verbindung setzen. Nachdem Smily eingehängt hatte, übersetzte er dem Engländer das Navy Kauderwelsch. »Sie haben ständig mehrere Aufklärer in der Luft. Einer von ihnen wird einen Bogen über Alboran schlagen und die Inseln und die Gegend abfotografieren.« »Zurück zum Festland!« befahl Nader dem Piloten. Vierzig Minuten später landeten sie auf einer in der Sierra Almahilla liegenden Hazienda. Sie gehörte einem Engländer namens 65
Garret, der hier die berühmten Almahillarosen züchtete. Garret war einige Zeit Staatssekretär im Verteidigungsministerium gewesen und mit Lord -B-, dem Chef von Mi-6, dick befreundet. Als Patriot stellte er seine Hazienda stets zur Verfügung, wenn sie als Basis für geheime Operationen benötigt wurde. Beim Sonnenuntergang nahmen die Gentlemen ihre Drinks im Schatten der Arkaden. Bald darauf läutete das Telefon. Smily wurde an den Apparat gebeten. Er sprach mehrere Minuten. Als er zurückkam, strahlte er. »Die Aufklärungsabteilung der Gibraltar-Escuadra«, berichtete er, »hielt es gar nicht für nötig, einen Fotoaufklärer nach Alboran zu entsenden.« »Man sollte ihnen in den Hintern treten«, schlug Percy Nader vor. »Die sechste Flotte ist auch nicht mehr das, was sie einst war«, kommentierte der alte Garret. »Sie traten sich offenbar selbst in den Hintern.« Smily nahm erst noch einen Schluck. »Und studierten zunächst einmal die Fotoserien der vergangenen Tage. Und siehe da, außer sowjetischen Spionagetrawlern, die das Mittelmeer befallen haben wie Maden vergammeltes Fleisch, entdeckten sie in einer Bucht der südlichen Alboran-Insel ein Schiff. Weiß, achtzehn Meter lang, Teakholzdeck.« »Chapmans Carmen?« »Auf einigen Fotos ist Chapman sogar zu sehen. Einmal auf dem Schiff, einmal auf der einsamen Insel. Aber das besagt wenig.« »Wann wurden die Fotos gemacht?« »Immer zur Zeit des besten Lichts und günstigsten Schattenwurfes.« »Ich meine an welchen Tagen.« »Freitag-Montag-Mittwoch-Freitag.« »Zufällig?« »Rein routinemäßig. Die Spanier sind dankbar dafür, weil die Inseln bei Stürmen oft von havarierten Fischern aufgesucht werden.« »Wäre schön«, wandte Percy Nader ein, »wenn man wüßte, ob Chapman noch dort weilt. Wir könnten ihm einen Besuch abstatten.« 66
»Unnötig.« Smily machte sie nun mit der allerletzten Information bekannt. Sie war brandneu. »Chapman befindet sich auf Kurs Almeria. Eine Korvette hat ihn gesichtet.« Garret gratulierte. Und Percy Nader gab seinen Kommentar: »Erst passiert überhaupt nichts, dann alles auf einmal. Das ist das wahre Leben.« Befriedigt nahm er noch einen Schluck. * Das Gespräch mit Professor Denis Chapman fand 22 Stunden später auf dessen Landsitz in gelockerter Atmosphäre statt. Chapman zeigte sich als aufmerksamer Gastgeber, sorgte dafür, daß seine Besucher stets zu trinken hatten und beantwortete jede an ihn gerichtete Frage bereitwillig. Er zeigte sich beinah eine Spur zu freundlich. »Wie lange waren Sie unterwegs, Sir?« fragte Percy und machte sich dabei Notizen. »Gut eine Woche.« »Davon auf See?« »Drei Tage.« »Sie ankerten aber nicht vier Tage in Alboran.« »Eine Nacht lang ließ ich mich mit gerefften Segeln treiben. Das Meer war außerordentlich ruhig. Ich fischte.« »Und auf der Insel, was taten Sie dort?« »Ich ging zur Jagd«, antwortete der weißhaarige Chapman, ein Mann, mittelgroß, kräftig aber nicht beleibt, mit sehnigen Händen, sehnigem Hals, einem Kopf, in dem Intelligenz aber auch Energie komprimiert war. Percy Nader erhob einen Einwand. »Auf Alboran gab es nichts Jagdbares, Sir.« Um Chapmans Augen zuckte es, aber er beherrschte sich meisterhaft. »Für Sie vielleicht nicht, Gentlemen.« »Sie bleiben also dabei, auf der Insel gejagt und auf See gefischt zu haben.« »So ist es.« 67
Smily beugte sich etwas nach vorn und glaubte den neunmalklugen Wissenschaftler jetzt zu kriegen. »Auf Ihrer Yacht Carmen fand sich nicht die Spur einer Fischschuppe, Sir.« »Was Sie nicht sagen.« Der Engländer schlug in dieselbe Kerbe. »Nach mir vorliegenden Informationen leben auf Alboran nicht einmal wilde Karnickel, Sir. Was also wollen Sie unter diesen Umständen gejagt und gesucht haben?« Der Professor blieb bei seiner Aussage, bat die Besucher jedoch in sein Labor, das in einem Pavillon neben der Villa untergebracht war. »Leider«, sagte der Amerikaner, »kann man Fisch und Wild beliebig lang in Kühltruhen aufbewahren. Bitte speisen Sie uns nicht mit tiefgekühlten Heringen und gefrorenen Kaninchen ab, Sir.« Chapman lächelte. »Sie werden nur frische Ware zu Gesicht bekommen, Gentlemen«, versicherte er. Wenn sie erwartet hatten, irgendein Säugetier oder einen Eierleger mit Flossen zu sehen, so irrten sich die Spezialagenten gewaltig. Was ihnen der Professor zeigte, war der graugrüne Inhalt mehrerer Glasbehälter und eine Handvoll algigen Drecks, den er einer Zentrifuge entnahm. »Dieses hier«, erklärte er, »ist getrocknetes Salzwasserplankton, fertig zum extrahieren von Giftbestandteilen. Was in den Glaskolben wimmelt, sind Meerwasserproben aus verschiedenen Tiefen. Dort drüben in den Wannen sehen Sie Bodenproben, entnommen an 12 Stellen der Alboran-Inseln, und in den Kästen befinden sich Kleinlebewesen, Würmer, Spinnen, Insekten. Dies ist meine Jagdbeute, Gentlemen.« »Danke, Sir«, schnarrte Nader enttäuscht, und der Amerikaner stellte eine Frage, die höchst überflüssig war, weil er sie selbst hätte beantworten können. Er wußte mehr über Chapmans Forschungsgebiet als er zugab. »Und was machen Sie mit dieser Jagdbeute, Sir?« »Ich stelle lediglich fest, wie weit die Menschheit noch vom 68
Selbstmord entfernt ist. An den Umweltgiften, die sie produziert, sterben die einfach strukturierten Lebewesen bereits. Der Prozeß ist unaufhaltsam. Mich interessiert schon gar nicht mehr-, ob er zu bremsen ist, sondern nur noch der Zeitablauf.« »Und«, wollte Nader wissen, »wann ist es soweit, Sir?« Chapman schüttelte den Kopf. »Wenn ich Ihnen das sage, schmeckt Ihnen der nächste Bourbon nicht mehr, Gentlemen.« »Dann behalten Sie es besser für sich.« »Trotzdem war es mir ein Vergnügen, daß ich Sie als Gäste in meinem Hause begrüßen durfte«, sagte Chapman. Als sie über den gepflegten Rasen zum Ranch-Rover gingen, zischte der Amerikaner dem Engländer zu: »Ich glaube, der nimmt uns auf den Arm.« »Nicht nur das«, bemerkte Percy Nader, »er verarscht uns richtiggehend.« 8. Mitte Juni wurde dem Verteidigungsminister der britischen Regierung ein streng geheimer Antrag zur Genehmigung vorgelegt. Der Minister studierte ihn, schloß ihn in seiner Safe, studierte ihn vierundzwanzig Stunden später erneut und rief dann seinen ersten Staatssekretär. »Was halten Sie von diesem Antrag der Atomforschungsbehörde?« fragte er geradeheraus. »Er wird von der Luftwaffe unterstützt, Sir.« »Ja, und von der Navy. Ich weiß das. Aber so ein Test, muß der denn sein?« »Der letzte wurde vor elf Jahren durchgeführt, Sir.« »Die Sprengköpfe in den Raketen und Bomben sind doch alle nach dem gleichen erprobten Verfahren hergestellt worden.« »So ist es, Sir.« »Was, zum Teufel, gibt es da noch zu testen?« »Eigentlich nichts, Exzellenz«, erklärte der Beamte. Das machte den Minister für einen Augenblick sprachlos. 69
»Aber…«, er fing zu stottern an, »… aber, warum legt man mir diesen Antrag dann zur Genehmigung auf den Tisch. Als ob ich keine anderen Sorgen hätte.« »Wegen des Streuungsfaktors, Sir, wegen der Unsicherheit sind Kontrollen nötig.« Der Minister wußte, daß er sich auf die Meinung seines Ersten Staatssekretärs verlassen konnte. Nun fragte er gezielt: »Wie halten das die anderen Atommächte?« »Von den Russen ist uns bekannt, daß sie immer wieder testen. Nicht nur die laufenden Produktionsserien, sondern auch Stichprobenweise aus den Lagerbeständen.« »Ist das wirklich unumgänglich?« »Offenbar.« »Können sich die Bestandteile einer Atombombe, ich meine dieses Uran-zweihundertsoundsoviel-Zeug, denn verändern?« »Eigentlich nein, Sir.« Der Minister hob die linke Braue. »Das bedeutet, daß es sich im Grunde doch verändern kann.« »Genaugenommen ja, Sir, aber das dürfen wir unberücksichtigt lassen.« »Inwiefern?« »Veränderungen im Zeitraum von bis zu hunderttausend Jahren sind für unsere Sicherheit nicht relevant, Sir.« Der Minister brauste jetzt auf. »Wozu dann, in Dreiteufelsnamen, dieser Antrag auf einen unterirdischen Test mit einem Atomsprengkopf aus der Serie?« »Aus der Mini-Serie, Sir.« »Atomtest ist Atomtest.« »Der Testsprengsatz hat nur ein Zehntel der Wirkung der Hiroshima-Bombe, Sir.« »Das reicht ja wohl aus, oder?« Der Minister führte noch Gespräche mit mehreren Experten. Anschließend kam er zu dem Ergebnis, daß dieser stichprobenartige Test wohl notwendig sei, auch wenn er den absoluten Grund, warum die Wissenschaftler und Militärs darauf bestanden, nicht erforschen konnte. Jeder brachte hundert Argumente vor. Schließlich 70
gab der Minister sein Okay. Er war verantwortlich für die Abwehrbereitschaft des Staates. Die Funktionssicherheit von Waffen konnte man eben nur erfahren, wenn man sie ausprobierte. Wenige Tage später wurde der Test bei der internationalen Atombehörde in Genf angemeldet. * Der Mini-Sprengkopf wurde von einem Transporter der Royal Airforce aus den Geheimdepots von Bedford nach Fair-Isle geflogen. Diese einsame unbewohnte Insel, auf halbem Wege zwischen den Orkneys und den Shetlands in der Nordsee gelegen, glich einem Ameisenhaufen. Luftlande-Pioniere des Exeter-Garderegiments waren schon Anfang des Monats auf Fair-Isle abgesetzt worden. Binnen zehn Tagen hatten sie die Stollen der alten Wikinger-Minen freigelegt und auf der zweihundert Meter tiefen Sohle der Eisenerzgrube alles für die Aufnahme der Bombe vorbereitet. Achtundvierzig Stunden vor dem Zünden wurde der Mini-Kopf, ein fußballgroßer 0,1-MegatonnenSprengsatz, in Beton eingegossen. Binnen 12 Stunden war der Spezialbeton ausgehärtet. Jetzt führte nur noch ein gepanzertes Zünd- und Kontrollkabel aus der Tiefe des Stollens zur Inseloberfläche. Vierundzwanzig Stunden vor der Zündung brachten die GardePioniere mit Hilfe von gezielt verbohrten Ekrasitstangen den Bergwerkstollen zum Einsturz. Damit befand sich eine Schuttsäule von zweihundertdreiundzwanzig Metern Höhe zwischen Erdoberfläche und Atombombe. Als Dämmschutz gegen radioaktive Strahlung hielt man dies für ausreichend, zumal der Zutritt zu der Insel für zehn Jahre untersagt werden würde. Zwölf Stunden vor der Zündung wurde das gepanzerte Zündkabel von der Inseloberfläche zur Minibombe auf Funktionstüchtigkeit mehrmals überprüft und an die Relaisstation angeschlossen. Die Relaisstation wiederum war auf einen Funkempfänger geschaltet, der mit einem Schlachtschiff der Königlichen Marine in Verbindung stand. 71
Sechs Stunden vor der Zündung lief die Evakuierung der FairInsel an. Die Exeter-Pioniere wurden auf Landungsboote eingeschifft. Helikopter überflogen noch einmal die Insel, um festzustellen, ob auch kein Lebewesen auf ihr zurückgeblieben war. Mit dem Ablegen des letzten Landungsbootes vom Nordstrand wurden die Insel sowie zehn Meilen des Seeraumes um die Insel zur Sperrzone erklärt. Drei Stunden vor der Zündung erreichte das Schlachtschiff »Sunderland« das ihm zugewiesene Beobachtungsgebiet. Die Radaranlage begann sich auf Fair-Isle einzupegeln. Einhundertzwanzig Minuten vor der Zündung kam General Asingthon an Bord, um gemeinsam mit einem Admiral die Zündung auszulösen. Sechzig Minuten vor der Zündung wurden die seismographischen Meßgeräte auf der Insel, auf dem Meeresgrund vor der Insel sowie in Schottland, in Island, in Norwegen und Dänemark aktiviert. Dreißig Minuten vor der Zündung startete ein Fotoaufklärer, der hoch über Fair-Isle kreisend, Aufnahmen zu machen hatte. Für diesen Zweck führte er sowohl Film- als auch Videokameras an Bord mit. Fünfzehn Minuten vor der Zündung wurde automatisch ein Ballon mit Helium gefüllt. Fünf Minuten vor der Zündung wurde der Ballon, versehen mit Geigerzählern per Funksteuerung, von Fair-Isle hochgelassen. Zunächst hing er an einem Nylonseil, das im Moment der Detonation von einem selbsttätig arbeitenden Kappmesser durchtrennt werden sollte. Sechzig Sekunden vor der Zündung standen der Admiral und der General sowie das Brückenpersonal auf dem Schlachtschiff »Sunderland«, die Augen mit schwarzen Brillen geschützt, bereit. Ein Lichtblitz war nicht zu erwarten, aber mit atmosphärischen Störungen schien man zu rechnen. Dreißig Sekunden vor der Zündung wurde der Stahldeckel des Senders abgenommen. Zwanzig Sekunden vor der Zündung war die Relaisstation auf 72
der Insel empfangsbereit. Durch mehrere hintereinander geschaltete Codes wurde die Entschlüsselung synchronisiert. Zehn Sekunden vor der Zündung leuchteten drei rote Lampen auf. »Klar zur Zündung, Gentlemen!« sagte der verantwortliche technische Offizier. Die Uhr lief. Jemand begann zu zählen: »Neun… acht…!« Der General und der Admiral zogen ihre Handschuhe aus. »Sieben… sechs…!« Zwei Hände näherten sich den griffigen Schaltern, die um 45 Grad nach unten bewegt werden mußten. »Fünf… vier… drei…!« Der General und der Admiral blickten sich an. Sie lächelten tapfer wie vor einem Sturmangriff. »Zwei… eins…!« Die Hand des Generals bebte ein wenig. »Zero!« Die hohen Offiziere zogen gleichzeitig die Hebel auf den roten Punkt. Sie waren der Meinung, ihre Handgriffe würden die Zündung auslösen. In Wirklichkeit wurde sie von einer mittels Quarzuhr gesteuerten Mechanik bewirkt. Die Stimme zählte weiter. – Jetzt von eins aufwärts. Bei zehn tat sich noch nichts, bei zwanzig auch nicht. Bei Sekunde 25 nach dem Zündzeitpunkt hätte die Detonationswelle aus dem Erdinneren das Schlachtschiff spürbar erschüttern müssen. Sie kam auch bei 60 nicht, weder drei noch dreizehn Minuten später. »Was ist passiert?« war der Admiral endlich zu vernehmen. »Ist das Pulver naß geworden?« fragte der General spöttisch. Niemand wagte eine Analyse. »Sie ging einfach nicht hoch«, nannte es einer der jungen Offiziere beim Namen. Eine fieberhafte Tätigkeit setzte ein. Sie hielt mehrere Wochen an und steigerte sich von Tag zu Tag. Aber die Ursache, warum die Mini-Bombe nicht detoniert war, fand man nicht. 73
Der Vorfall wurde als absolutes Sicherheitsmanko behandelt und bekam die höchste Geheimhaltungsstufe ›Cosmic-atomal‹. * Je mehr sogenannte Fakten man Urban vorlegte, desto weniger glaubte er an sie. Er versuchte sich ein eigenes Bild zu formen. Da es aber nur eine einzige Logik gab, lief alles auf die von MI-6 und den Amerikanern gelieferte Rekonstruktion hinaus. »Irgend etwas daran ist faul«, grübelte Urban halblaut, »aber was?« »Das Foto zeigt doch einwandfrei Chapman«, beharrte Sebastian. »Daß der Mann auf dem Foto Chapman ist, wurde von allen, die ihn persönlich kennen, bestätigt.« »Dann müßte Chapman am siebzehnten des Monats in Jugoslawien gewesen sein.« »Was sollte er dort?« »In Split fand der Ökologen-Kongreß statt.« »Ein Schwätzerkongreß war das«, erwiderte der Operationschef. »Ich hab mich erkundigt. Wirklich erstklassige Leute wurden gar nicht eingeladen. Der Split-Kongreß hatte nur eine Art AlibiFunktion der Weltöffentlichkeit gegenüber, daß Umweltschutz jetzt auch von den Balkan- und Ostblockländern ernst genommen wird.« Urban nahm zum x-ten Mal die Lupe und verglich die Druckschrift auf der Rückseite des Fotos mit einer Schriftprobe Lily Malones, die man aus Kalifornien hatte kommen lassen. »Es handelt sich eindeutig um ihre Handschrift.« »Trotzdem kann das Foto irgendwo, werweißwo, aufgenommen worden sein.« Urban lehnte sich zurück und starrte solange in den grellsonnigen Mittag hinaus, bis seine Augen schmerzten. »Sollte«, fragte er leise, »der Tod von Lily Malone umsonst gewesen sein?« »Niemand kann mit Sicherheit sagen, daß sie wegen dieses Fotos getötet wurde, und erst recht nicht wegen der Filmstreifen. Sie ent74
halten lediglich Sitzungsprotokolle, die der Öffentlichkeit jederzeit zugänglich sind.« »Warum hatte sie das Etui dann im Kies versteckt?« »Es geriet wohl im Handgemenge dorthin.« »Ihre Hand deutete noch im Tode zu der Stelle.« »Zufall.« »Ihr Gepäck war durchwühlt.« Der Oberst versuchte es anders zu erklären. »Eine junge Frau badet nachts an einem einsamen Strandstück. Sie kann ganz ordinären Straßenräubern in die Hände gefallen sein.« »Mit denen wäre sie fertig geworden. Sie war Judo- und Karatemeisterin.« »Möglicherweise waren diese Leute bewaffnet.« »Und brachten sie durch Druck auf den Sinus-Nervenknoten um.« »Auch nur Zufall.« »Mir sind das zu viele Zufälle«, entgegnete Urban, unzufrieden mit sich und der restlichen Welt. »Schön, aber was wollen Sie unternehmen?« »Weiß ich noch nicht.« Urban schickte sich an, die Abteilung zu verlassen. »Ich werde jetzt meine eigenen Fakten sammeln. Und wenn sie mikroskopisch winzig sind.« »Verderben Sie sich dabei die Augen nicht«, riet ihm der Alte. * Im Gespräch mit Experten des BND informierte sich Urban hinsichtlich des Split-Kongresses, über die wissenschaftlichen Teilnehmer im allgemeinen und über Prof. Denis Chapman im besonderen. »Die Russen werden allmählich wach«, erklärte man ihm. »Auf den Getreidefeldern der Ukraine ist das giftige Schwermetall Cadmium in unzulässig hoher Konzentration entdeckt worden. Wolga und Dnjepr sind nur noch Kloaken, ähnlich dem Rhein. Die großen Binnengewässer der UdSSR, das Kaspische Meer und der Aral-See 75
beginnen umzukippen. Blei findet sich dort, wo es nicht hingehört. Alles eine Folge von Überdüngung, übermäßigem Gebrauch von Schädlingsgiften, ungereinigter Ableitung von Industrieabfällen und Abgasen, wie Untersuchungen der landwirtschaftlichen Forschungsanstalt in Kiew ergaben. Jetzt werden sie aktiv.« »Und damit sie nicht zugeben müssen«, kombinierte Urban, »wie mies es aussieht, und welch große Sorgen sie sich machen, hielten sie den internationalen Kongreß nicht in Moskau ab, sondern verlegten ihn nach Split.« »Das wäre denkbar.« »Warum aber hat man Denis Chapman, eine der größten Weltkoryphäen auf diesem Gebiet, nicht eingeladen?« »Vielleicht wollte er nicht kommen.« »Oder er ist gar nicht die Kapazität, für die man ihn hält.« Darauf gab es eine Reihe von Antworten. »Chapman«, sagte einer der BND-Fachleute, »arbeitet angeblich an einem Verfahren, das Umweltgifte auf sehr einfache Art isolieren soll.« »Möglicherweise ist dieses Projekt noch nicht ausgereift.« »Kann sein, daß er nur mit fertigen Ergebnissen vor die Weltöffentlichkeit treten will.« »Erst wenn sie industriell anwendbar sind«, ergänzte Urban. »Denkbar ist«, räumte man ein, »daß einige Chemie-Multis dahinterstecken.« »Um die Entwicklung zu unterdrücken?« »Im Gegenteil, um sie zu fördern. Natürlich auf eine Weise, daß man die Patente erwirbt und man Chapmans Ideen in den nächsten zwanzig Jahren, solange der Patentschutz hält, allein auswerten kann. Angenommen, Chapman findet wirklich ein simples Mittel, um die Giftprobleme in Boden, Wasser und Luft zu beseitigen, dann wäre das für den Hersteller dieses Mittels ein Multimilliardengeschäft.« »Ein Billionen-Dollar-Geschäft«, verbesserte Urban. »Das größte Geschäft, gleich nach dem Erdöl.« Dies wäre allerdings eine brauchbare Erklärung dafür gewesen, daß Chapman den Split-Kongreß nicht besucht hatte. Was sollte er 76
dort. Wenn er den anderen Forscherkollegen meilenweit voraus war, hatte er keine Veranlassung nach Split zu gehen. Aber warum, so fragte sich Urban, war es Lily Malone dann möglich gewesen, am 14. ein Foto Chapmans in Dalmatien zu schießen. Er ging wieder in sein Büro, um wieder im Kreis herum zu denken. * Einen Ausbruch aus dem Teufelskreis schienen die Luftaufnahmen der 6. US-Flotte zu ermöglichen. Urban bekam sie von der Auswertung auf den Schreibtisch gelegt, betrachtete sie lange und stellte Fragen: »Tomcat-Fotos?« »Aufgenommen mit Spezial-Luftbildkameras aus dreitausend Fuß Höhe mit vierzigfacher Vergrößerung.« »Es sind die Alboran-Inseln«, stellte Urban fest, »ich kenne sie.« Die Fotos hatten verschiedene Markierungen. Eine Markierung bezeichnete die Yacht ›Carmen‹ in einer Inselbucht, die zweite Markierung einen Mann auf den Klippen der Südseite, einen langen Schatten werfend. »Zweimal Denis Chapman. Einmal auf dem Schiff, einmal bei der Jagd.« In der linken oberen Ecke der Hochglanzabzüge fanden sich Zahlen und Buchstabenkombinationen. Sie waren nur vom Fachmann identifizierbar. »Die ersten drei Zahlen«, erklärte der Luftbildauswerter des BND, »deuten auf die Escuadra hin und das Flugzeug. Dann folgt Flughöhe, Uhrzeit und Datum.« Urban ordnete die Fotos der Reihe nach. »Dreizehnter… fünfzehnter… siebzehnter… neunzehnter«, murmelte er. »Sie haben auch Fotos von vorher und nachher.« »Die vier genügen. Zum entscheidenden Zeitpunkt waren also Mann und Schiff in Alboran.« Urban blickte den Kollegen auffallend lange an. »Sind Fälschungen ausgeschlossen?« 77
»So gut wie.« »Aber möglich.« »Mit einem tausendstel Prozent, das wir vernachlässigen dürfen.« »Aber in der Geschichte der Aufklärungsfotografie kamen schon Fälschungen vor.« Dem Experten fielen nur zwei Fälle ein. »Einmal im zweiten Weltkrieg, glaube ich, lieferte ein deutscher Fernaufklärer Luftbilder der englischen Radarstationen ab, die ihm vorher von der britischen Spionageabwehr zugespielt worden waren. Entdeckt wurde das Komplott letztenendes, weil der englische Film eine andere Korngröße hatte als der von Agfa. Das fiel rein zufällig auf. Bei dem zweiten Fall, an den ich mich erinnere, ging es um die Stellung eines deutschen Langrohrgeschützes in Nordnorwegen. Die Engländer versuchten es durch Bombardements und Kommandounternehmen zu vernichten. Es mißlang, weil die Luftaufnahmen nur die Position der Attrappe lieferten, während die Superkanone irgendwo in Fels-Kasematten sicher versteckt war. Diese zwei Fälle sind mir bekannt.« »Kann ich die Fotos behalten?« fragte Urban. »Solange du sie brauchst«, zeigte sich der Auswerter großzügig. Als Urban allein war, betrachtete er sie noch einmal. Dabei fiel ihm etwas auf, das allen Personen, die die Aufnahmen bis jetzt gesehen hatten, entgangen war. Oder sie hatten es für unbedeutend gehalten. Am 16. des Monats war Prof. Chapman nicht allein auf der Insel Alboran gewesen. Entweder der Mann auf dem Yachtdeck, oder der auf der Insel war ein anderer. Jedenfalls warf die Abendsonne am 16. nicht einen sondern zwei Schatten. * Als der BND-Agent Urban in der darauffolgenden Nacht das Teakholzdeck der Segelyacht Carmen betrat, hatte er nicht nur eine Blitzreise hinter sich, sondern sich von seinem ersten Einsatzort im Falle ›Midas‹ rund zweitausendfünfhundert Kilometer entfernt. Er wurde das Gefühl nicht los, daß zwischen Dalmatien und dem Golf 78
von Almeria Zusammenhänge bestanden. Sie waren nur noch nicht erkennbar. Um sie deutlich zu machen, war er mit Flugzeug, Automobil und Motorboot nach Südwesten geeilt. Sofort fiel ihm auf, daß es an Bord dieses Edelschiffes anders roch als auf gewöhnlichen Kähnen. Meist herrschte eine Mischung von Teer-, Algen-, Färb- und Dieselausdünstungen vor. Hier erinnerte alles ein wenig an Madame, als hause der Geist der verstorbenen Carmen Chapman noch im Rumpf und verströme einen Duft von Maja, jener spanischen Kosmetikmarke mit der Flamenco-Tänzerin auf schwarzem Grund. Urban ließ sich nicht über Gebühr davon irritieren. Er wartete noch ab, bis der Mond in die Wolken tauchte und droben in der Villa auf dem Kliff die Lichter verloschen. Dann machte er sich ans Werk. Es war ein hartes Stück Arbeit, den Vierzigtonner vom Bug bis zum Heck und vom Deckhaus bis in die Bilge zu durchsuchen. Zunächst verlief sein Sistieren ergebnislos. Das Schiff stellte sich so dar, wie sich sein Besitzer darstellte. Es war luxuriös ausgestattet, besaß aber zusätzlich ein Labor und einen Kühlraum für Chapmans ›Jagdbeute‹. An Bord befand sich, wie nicht anders zu erwarten, eine komplette Tauchausrüstung, bestehend aus zwei Neoprenanzügen, Preßluftatemgeräten und einem Kompressor zum Aufladen der Luftflaschen. Nachdem sich Urban einen groben Überblick verschafft hatte, ging er in den Mikrokosmos. Er suchte nach Spuren eines zweiten Passagiers. Chapman selbst hatte keinen Grund, zu vertuschen, daß er oft wochenlang auf diesem Schiff lebte. Überall klebten seine Fingerabdrücke, standen seine Pfeifen herum, seine Tabaksdosen, die von ihm bevorzugten Getränke. Im Schreibtisch gab es Notizen von ihm. Die Platten und Tonbandsammlung für die Bordstereoanlage trugen die Handschrift seines Geschmacks. Aber jeden Hinweis auf einen zweiten Mann an Bord hatte er mit Akribie beseitigt. Auf Alboran waren am 16. jedoch zwei Männer fotografiert worden. Zwei Männer und nur ein Schiff. Beide mußten mit großer Wahrscheinlichkeit mit der Yacht angekommen und wieder abge79
fahren sein. Aber warum fand sich keine Spur dieser zweiten Person. Auch vom Geschirr, vom Besteck, hatte immer nur eine Person Gebrauch gemacht. Entweder hatte hier eine perfekte Spurenlöschung stattgefunden, oder die Sache lag noch einmal anders. Urban ging jetzt ins Detail. Zum dritten Mal begann er mit der Suche von vorne. Nach stundenlanger Mühe entdeckte er in einer Backkiste mehrere Gegenstände aus weichem Gummi, deren Verwendungszweck ihm rätselhaft war. Es handelte sich um eine kinderballgroße Kugel, um vier armdikke runde Stränge von je fünfzig Zentimeter Länge und um eine Walze aus demselben rosa Gummimaterial. Sie hatte den Umfang einer Diskusscheibe und etwa dreißig Zentimeter Dicke. Was, zum Teufel, ließ sich damit bloß anfangen? Urban wanderte, einen der Gummistränge in der Hand, durch alle Decks, suchte etwas, das man damit in Verbindung bringen könnte, und fand nichts. Als Kopfkissen war das Zeug nicht verwendbar, zum Stopfen von Lecks taugte es auch nicht. Er versuchte sich ein Leck vorzustellen, ein Leck im Rumpf, durch das Wasser eindrang und das man mit dem Gummi abzudichten versucht. Zur Leckdichtung gab es andere Mittel. Es mit Gummi zu versuchen, wäre eine merkwürdige Methode gewesen. Trotzdem dachte Urban auf dieser Schiene weiter. Plötzlich fielen ihm die zwei Neoprentauchanzüge ein. Einen davon zog er vom Bügel, schob die Gummistränge in die engen Durchlässe für Füße und Hände und das walzenförmige Stück in die Halsöffnung. Hier klappte es. Hier konnten die Gummipfropfen das Eindringen von Wasser verhindern. Aber, verdammt, wozu sollte das gut sein? Endlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Was das Eindringen von Wasser verhinderte, verhinderte auch das Entweichen von Luft. Diese Anzüge waren aufblasbar. Wenn man sie unter Druck setzte, nahmen sie die Form eines menschlichen Körpers an. Fehlte nur noch der Kopf. Die rosa Gummikugel hatte genau Kopfgröße. Ein Hut darauf, eine Jacke um die Puppe, eine Hose, Stiefel 80
dazu, und das Ganze sah aus wie ein Mensch. Zwar bewegte er sich nicht, aber Fotos zeigten den Menschen stets statisch und nicht dynamisch auf. Eine Puppe an Deck oder auf der Insel, und schon klappt die von Chapman beabsichtigte Täuschung perfekt. Wenn es so war, dann hatte sich Chapman am 17. von der Insel Alboran unter Hinterlassung einer Puppe entfernt. Demnach hatte er mit der Möglichkeit von Luftaufnahmen gerechnet. Natürlich war ihm das nicht von selbst eingefallen. Er war von einer Seite, die sich auskannte, darauf aufmerksam gemacht worden. Diese Erkenntnis stempelte das gesamte Material, das MI-6 und CIA bis heute gesammelt hatten, zu Pseudofakten. Für Urban stellten sich jetzt drei Fragen: Wie war Chapman von der Insel weggekommen, wer hatte ihn heruntergeholt, und wohin hatte man ihn gebracht? Frage eins ließ sich beantworten. Es gab Wasserflugzeuge und Hubschrauber. Frage drei beantwortete Lily Malones Foto. Man hatte Chapman nach Dalmatien geflogen. Offen blieben Frage zwei und das Motiv, warum man es heimlich gemacht hatte und es zu verschweigen trachtete. Urban verließ die Yacht Carmen in einem Zustand, als hätte niemals ein Unbefugter sie betreten. Mit dem Motorboot kehrte er nach Almeria zurück. Mit dem Mietwagen fuhr er nach Malaga. In Malaga bekam er die Frühmaschine nach Madrid. Von Madrid aus flog er mit der Lufthansa über Frankfurt nach München. Am späten Nachmittag betrat er wieder die Operationsabteilung. * Urbans Meldung wurde von Oberst Sebastian nur mit halbem Ohr aufgenommen. Er wirkte abwesend, in sich gekehrt, als höre er kaum hin. Was Urban für eine mittlere Sensation hielt, nämlich die Theorie mit der Puppe auf Alboran, zündete beim Alten überhaupt nicht. Offenbar lag eine bedeutend sensationellere Nachricht vor. »Dann kann ich ja nach Hause gehen«, sagte Urban. »Sie kriegen morgen meinen schriftlichen Bericht.« 81
»Bleiben Sie, Bob«, bat der Alte. Daß er Urbans Vornamen nannte, kam wirklich selten und nur in extremen Situationen, wenn von Zusammenhalt und Kameradschaft die Rede war, vor. Irgendwie roch es nach Krise. »Wer hat den Pudding anbrennen lassen?« fragte Urban. »Fragen Sie besser danach, wer die Atombomben anbrennen läßt.« »Sind die Pakistanis schon so weit oder gar Libyen?« »Nein, auch Argentinien und Brasilien nicht.« »Einer aus dem Club?« »England«, sagte der Alte. »Die können nicht nur, sie dürfen auch. Zwar ist mir nie ganz klar geworden, warum die einen dürfen sollen und die anderen nicht, denn ihre Moral ist auch nicht besser oder schlechter, aber die Briten haben nun mal die Mitgliedskarte zum Atom-Verein.« »Alles richtig, was Sie sagen«, erwiderte der Alte, »bis jetzt. Nur in einem Punkt liegen sie falsch. Die Engländer dürfen, aber sie können nicht. Sie zündeten zwar eine Atombombe, aber die Bombe zündete nicht.« Urban wischte sich über die Augen. »Wo liegt da der Unterschied, bitte?« »Sie versuchten sie zu zünden, aber sie verweigerte ihnen den Gehorsam.« Mit wenigen Sätzen wurde Urban in den supergeheimen Vorfall auf der Fair-Isle eingeweiht. »Unterirdischer Atomtest also«, faßte er zusammen. »Funktionsprüfung einer Mini-Bombe aus der Serie. Und sie blieb stumm.« »Wie ein Fisch.« »Das ist amtlich?« »Können Sie sich die Aufregung vorstellen?« »Ja, sie dürfte um einiges schlimmer sein als wenn sie nach Hause kommen, wollen das Licht anknipsen, und es bleibt dunkel.« »Natürlich suchen Sie fieberhaft nach der Ursache.« »Davon gibt es ja nur zehn Dutzend«, erwiderte Urban immer noch zweifelnd. 82
»Alles war okay. Sender, Funkbefehl, Empfänger, Relaisstation, die ganze Telemetrie, die Zündservos, die Kabel in die Tiefe der Erzmine, alles absolut in Ordnung. Nachgemessen, nachgeprüft, gecheckt und kontrolliert.« »Aber die Bombe tat es nicht. Es wird wohl an der Explosivstoffladung gelegen haben, die die zwei Uran-Pakete zusammenschießt.« Der Alte war kein Atombombenexperte, aber soviel wußte er über Aufbau und Funktion eines Nuklearsprengkörpers, daß in jedem von ihnen die kritischen Massen zunächst isoliert lagerten und im Moment der Zündung durch TNT zusammengebracht wurden. »Auch der Zünder in der Bombe arbeitete. Die Funktionsmeldung liegt vor.« »Dann war das Nuklearmaterial unrein.« »Das wird aufs heftigste bestritten.« »Uransprengstoff wird nicht alt, fault nicht, rostet nicht, oxydiert nicht, nicht solange Sie und ich und weitere hundert Generationen von Geheimdienstleuten leben.« »Darin liegt ja das Problem.« »Ein Herstellungsfehler«, vermutete Urban. »Auch das wurde nachgeprüft. Über jeden A-Sprengkopf existiert eine umfangreiche Dokumentation. Alles hat seine Richtigkeit.« »Dann muß einer grauen Sand statt Uran 235 reingefüllt haben.« Urban glaubte selbst nicht, was er sagte, aber irgendeine Erklärung mußte es ja geben. »Das war noch nie da«, bemerkte der Alte fast ein wenig schadenfroh. »Die drehen noch durch bei der britischen AtomKommission.« Kopfschüttelnd steckte sich Urban eine Zigarette an. »Wäre zu schön um wahr zu sein«, murmelte er, »wenn es ein Mittel gäbe, Bakterien, Viren oder was weiß ich, die Nuklearmaterial auffressen, verdauen, einfach unwirksam machen.« »Man fände rasch ein Mittel dagegen.« »Dessen bin ich leider sicher.« Plötzlich, er wußte nicht, aus welcher Ecke seines Gehirns es kam, hatte Urban einen Gedanken. 83
»Auch unterirdische Atomtests setzen radioaktive Strahlung frei. Sie kriecht allmählich durch die Erdrinde.« »Behauptet man.« »Es ist meßbar und wird gemessen.« »Von wem?« »Von einem gewissen Professor Denis Chapman.« »Ach, von diesem Mister Schlaukopf.« »Er führte schon vor Jahren einen Feldzug gegen Atombombentests in der Atmosphäre und in der Stratosphäre. Also ging man unter die Erde. Enttäuscht mußte Chapman erkennen, daß er gegen die Absichten der Regierungen machtlos war und gab auf.« »Der kluge Mann tut dann etwas anderes.« »Oder«, überlegte Urban, »er nimmt Umwege.« Weil Urban sich nicht näher dazu äußerte, fragte Sebastian: »Woran dachten Sie?« Weil es absurd war, winkte Urban ab. »An nichts«, antwortete er. »Trotzdem sollte man nachforschen, ob Denis Chapman in letzter Zeit Zugang zu den britischen Atombombendepots hatte, ob er sie im Rahmen irgend einer Sicherheitsaktion, mit denen die Regierungen die Öffentlichkeit routinemäßig zu beruhigen pflegen, besuchte.« »Was hat das mit der Testpanne in der Nordsee zu tun?« »Weiß nicht«, Urban zögerte, »aber man sollte trotzdem nachfassen.« »Kein Problem. Das wird alles in Protokollen festgehalten.« »Lord Babington von MI-6 ist doch Ihr Busenfreund. Ein Telefongespräch mit ihm kostet, selbst wenn es lange dauert, vielleicht hundert Mark. Eine Ausgabe für die der Steuerzahler mehr Verständnis hätte als…« »Als?« fragte der Alte. Urban antwortete nicht. Die Antwort hätte möglicherweise die Länge eines Buches eingenommen.
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10. Der amerikanische Geheimdienst CIA war um einiges größer als alle anderen Geheimdienste. Zwar wuchs die Trägheit einer Organisation mit ihrem Umfang, aber wenn diese überwunden war, bekam so ein Koloß ziemlich viel Wucht und Schwung. Nachdem Zweifel an der Entstehung der Chapman-Fotografie vom 17. aufgekommen waren und diese Zweifel sich ausgebreitet hatten, ging man ihnen endlich auf den Grund. Der Draht zu Midas wurde aktiviert. Mehrere CIA-Funkstationen entlang dem eisernen Vorhang versuchten Kontakt mit Midas aufzunehmen. Dies war auf verschiedenen Frequenzen zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten möglich. Die ganze Palette wurde solange durchprobiert, bis man auf einer Notrufwelle Antwort erhielt. Der Sender wurde eingepeilt und irgendwo am Balkan schwach geortet. Midas hatte demnach die Warnung von Lily Malone erhalten und ein Ausweichquartier bezogen. Der Mann von der Ostabteilung der CIA, David Brimble, saß bei dem Funker und gab leise seine Anweisungen. »Geben Sie jetzt den Code«, sagte er. Der Funker morste: »Dyonisos.« Midas antwortete: »Gold.« Damit war David Brimble jedoch nicht zufrieden. »Funken Sie das Wort Hunger.« Der Funker tastete es Richtung Osten hinaus. Nach einer Minute antwortete Midas: »Paktolos.« »Paktolos ist in Ordnung.« David Brimble gab eine kurze Erklärung dazu: »Der Deckname Midas bezieht sich auf den griechischen König gleichen Namens. Er lebte in Phrygien. Eines Tages bekam er Besuch des Gottes Dyonisos. Dyonisos gewährte Midas einen Wunsch. Midas wünschte sich, daß alles, was er berühre, zu purem Gold werde. Demgemäß wurden aber auch Speise und Trank zu Gold. Der Ärmste wäre rasch verhungert und verdurstet. Um wieder essen und trinken zu können, badete er auf einen Rat des Gottes im Flusse Paktolos. Soweit die Sage. Unser Funkpartner drüben hat richtig geantwortet. Fragen Sie jetzt an, ob er bereit ist.« 85
Der Funker betätigte seinen Quetschertaster. Dann nickte er. »Er gibt das Zeichen für guten Empfang, Sir.« Brimble fragte: »Ihre Position am 16.?« »Split«, lautete die Antwort. Da sie verschlüsselt war, drückte der Funker die Buchstaben in die Decodiermaschine, wo der Ostexperte sie von der Mattglasscheibe ablesen konnte. »Nächste Frage: Hatten Sie Kontakt mit unserer Agentin?« Midas antwortete: »Erhielt Nachricht zugespielt, daß Gefahr von Enttarnung besteht.« »Beschreiben Sie diese Frau!« »Schlank, etwas über mittelgroß, hübsch, brünett, elegant.« »Ließen Sie dieser Frau eine Information zugehen?« »Richtig.« »Auf welchem Wege?« »Ich rief sie im Hotel an.« »Trafen Sie sie noch einmal?« »Das war nicht möglich.« »Welcher Art war Ihre Information?« »Fahren Sie nach Novigrad. In der Kirche, letzte Bankreihe, finden Sie unter dem Sitz eine Fotografie.« »Wie brachten Sie die Fotografie dorthin?« »Die Gruppe für Gewässerverseuchung durch Ölrückstände machte anläßlich des Kongresses einen Ausflug dorthin.« »Wen oder was zeigte das Foto?« »Einen Mann.« Es war ein dauerndes Hin und Her, Verschlüsseln, Morsen, Lauschen, Empfangen, Entschlüsseln. Die Übertragung eines mittleren Satzes nahm etwa vier Minuten in Anspruch, aber David Brimble ging es um jede Kleinigkeit. Er hatte viel Geduld und nahm sich vor allem Zeit. »Nächste Frage«, wandte er sich an den schwitzenden Funker. »Wer ist der Mann auf dem Foto?« »Professor Denis Chapman«, antwortete Midas erwartungsgemäß. 86
»Fotografierten Sie selbst Chapman?« »Er wurde von einer Spezialabteilung des KGB fotografiert. Ich konnte mir eines der Fotos beschaffen.« »Wo fotografierte man Professor Chapman?« Das wisse er leider nicht, funkte Midas zurück. »Warum fotografierte man ihn?« »Als Anhaltspunkt für die Mitglieder der Operativabteilung.« »Zu welchem Zwecke?« »Chapman soll entführt werden, wie auch seine Assistentin, Dr. Ella Keith, entführt wurde.« Brimble wollte dies ganz genau wissen. »Chapman war also nicht in Split?« Midas antwortete: »Er wurde auch nicht erwartet. Chapman sollte direkt in das KGB-Forschungszentrum nach Gorki gebracht werden.« »Sind Sie sicher, Midas?« »Absolut.« »Ist die Gefahr, daß man Ihnen eine falsche Information zuspielte, auszuschließen?« »Unbedingt.« »Was bedeutet das Datum 17. auf der Rückseite des Fotos?« »Ich legte einen Zettel bei, daß die Entführung Chapmans möglicherweise am siebzehnten stattfindet«, funkte Midas nach längerer Pause. Das war die Erklärung. Zwar befriedigte sie Brimble ganz und gar nicht, aber er mußte sie akzeptieren. Endlich kam er zum Schluß seines Funkkontaktes. »Sie sind in Gefahr, Midas. Die Gefahr wächst stündlich. Man wird Sie finden, wo immer Sie sich verstecken. Wann setzen Sie sich ab?« »Umgehend«, antwortete Midas. »Auf welchem Tunnel?« »Es gab mehrere vorbereitete Fluchtwege. Sie hatten die Decknamen von bekannten Alpentunnels. Der eine hieß ›Gotthard‹, der andere ›Simplon‹, der dritte ›Montblanc‹. Midas funkte: »Bernardino!« 87
Sofort wurde Brimble stutzig. Er blätterte im Midas-Codebuch nach und fand keinen Fluchtweg dieses Namens. Außerdem gab es keinen Bernardino-Tunnel, sondern nur eine Bernardino-Paßstraße. Er ließ sich seine Zweifel nicht anmerken, sondern funkte den Schlußcode des Tages nach Osten. »Apollo!« »Eselsohren!« gab Midas als Bestätigung. Auch das war einwandfrei falsch. Seine Antwort hätte ›Pan‹ lauten müssen. Sinngemäß war Eselsohren richtig, denn der Gott Apollo ließ Midas Eselsohren wachsen, weil sich Midas bei einem Sangeswettstreit zwischen Apollo und Pan unzufrieden darüber zeigte, daß man Apollo den Preis zuerkannte. Midas war dafür, ihn Pan zu geben. Die Vereinbarte Antwort hätte jedoch ›Pan‹ lauten müssen. »Da stimmt etwas nicht«, sagte David Brimble und ließ der hochfliegenden Boeing 747 der US-Air-Force für die Unterstützung als Relaisstation danken. * »Midas ist also erledigt?« fragte der CIA-Direktor besorgt. »Das wissen wir nicht«, erklärte David Brimble, »aber daß der Mann an der Midas-Station nicht Midas war, das wissen wir.« »Nur weil er statt ›Pan‹ das Wort ›Eselsohren‹ durchgab?« »Die Russen haben diese Station zweifellos mit einem Experten für griechische Mythologie besetzt«, führte Brimble näher aus. »Seine Antwort war naheliegend, aber leider unrichtig.« Der Direktor wirkte ein wenig hilflos. »Und was müssen wir daraus schließen?« »Daß der KGB auf dem Wege, Midas zu enttarnen, schon so weit vorangekommen ist, daß er die kleine Reservestation in einem Notversteck aufspürte und sogar benutzt.« »Um den Kontakt mit uns aufrecht zu halten.« »Und uns über unsere Absichten auszuhorchen.« »Und uns in die Irre zu führen. Sind Sie dessen auch ganz sicher, Brimble?« 88
»Er nannte als Fluchttunnel Bernardino. Es gibt keinen Fluchtweg namens Bernardino. Damit war der sowjetische Experte klar überfordert.« Der CIA-Direktor hatte immer noch Zweifel. Er wollte einfach nicht wahrhaben, daß seine beste Position im Ostblock abgeschrieben werden müsse. »Wurde Bernardino vielleicht nachträglich noch hinzugefügt?« »Meine Unterlagen sind auf dem neuesten Stand, Sir«, versicherte Brimble. »Dann spielen die Russen also seinen Funk weiter.« »Und alle Angaben in Bezug auf das Foto von Professor Chapman müssen bezweifelt werden.« »Schöne Bescherung.« »Damit steht Chapman erneut unter Verdacht.« Dieser Schlußfolgerung stimmte der CIA-Direktor nicht zu. »Ella Keith hat dem KGB das Foto zugeleitet, ist doch ganz klar.« »Hoffentlich«, sagte Brimble. »Wo ist Denis Chapman zur Zeit?« »In seinem Haus in Spanien.« »Na also. Und wo war er am siebzehnten?« »Auf einer kleinen Insel vor der spanische Küste.« »Ist das eine gesicherte Erkenntnis?« »Bis zur Stunde ja.« »Na bitte, was wollen Sie dann, Brimble, Sie alter Schwarzseher.« »Von Seiten des BND erreichte uns eine neue Theorie, wonach Chapmans Anwesenheit auf der Insel am siebzehnten durch eine Puppe getürkt worden sein könnte, aber…« »Aber Sie halten das für höheren Blödsinn«, unterbrach der CIADirektor seinen Abteilungsleiter. »Auch ich halte es für Blödsinn. Also, Flagge hoch, wir machen weiter.« »Gern, Sir, aber wie?« »Mit allen Mitteln, die uns noch zur Verfügung stehen.« David Brimble merkte, wenn sich der Bogen überspannte. Dann wurde sein oberster Chef ungehalten. Es lief heute nicht nach seinen Vorstellungen, also sollten sich seine hochbezahlten Experten gefälligst darum bemühen, daß es 89
nach seinen Vorstellungen lief. Wenn er ihnen erst sagen mußte, was sie tun sollten, konnte er es auch selbst tun. Schließlich hatte er noch ein paar andere Sorgen, als den Fall Midas. Brimble stellte sich darauf ein. Man machte sich unbeliebt, wenn man immer nur anderer Meinung war und ständig Schwierigkeiten und Fehlschläge meldete. »Uns wird etwas einfallen, Sir«, versprach David Brimble und zog mit einem Lächeln ab. Schon als er die Polstertür schloß wußte er, daß ihnen nichts mehr dazu einfallen würde. 11. Noch einmal führte eine Blitzreise Bob Urban in den Süden. Diesmal wieder an die dalmatinische Küste. Dort saß er im obersten Stockwerk des Adriatic-Hotels in einem Eckzimmer. Tief unter ihm lag die Stadt, der Hafen und die Strände. Auf dem Balkon hatte er ein Stativ, bestückt mit einer Fernrohrkamera, aufgebaut. Ein Nachtsichtgerät stand daneben, ebenso eine Flasche Maraskino, angeblich nach dem einzigen Originalrezept hergestellt, sowie eisgekühltes Sodawasser. Da das Hotel über vierzehn Stockwerke verfügte, konnte Urban von oben in die Gassen hineinblicken. Er sah den Triumphbogen des Trajah, die Reste des römischen Forums, die Kirche des heiligen Donat aus dem IX. Jahrhundert und auch die nackten Grazien draußen am Borik-Strand. Doch das alles interessierte ihn wenig im Vergleich zu dem grauen, von Sturm und See gezeichneten Schiff am Pier. Der Fischdampfer hatte möglicherweise ein paar Antennen mehr, als gewöhnliche Heringsfänger, aber auch das war es nicht, was diesen 400-Tonnen-Pott so wichtig machte. Urban hegte einen Verdacht und suchte die Bestätigung dieses Verdachtes. Deshalb hatte er keine Zeit für die Schönheiten von Zadar. Nicht eine Minute ließ er das graue Schiff aus den Augen. Schon einen Tag, eine Nacht und wieder einen halben Tag lag er auf der Lauer, ohne daß sich etwas ereignete. Trotz hohen Kaffeekonsums wurde er müde. Der Körper forderte 90
sein Recht auf Schlaf. Lange hielt er das nicht mehr durch. Verdammt, warum tat sich nichts. Es mußte etwas geschehen. Aus Spanien hatte er die Nachricht erhalten, daß Professor Chapman mit seiner Yacht ausgelaufen war. Und im BND-Hauptquartier München-Pullach glaubten sie vor 60 Stunden, das fehlende Zwischenglied gefunden zu haben. * Der Mann von der Luftbildauswertung war ein besonders hartnäkkiger Bursche. Ein Foto war für ihn nicht nur ein Foto, sondern eine Ansammlung von Hell-Dunkel- und Farbwerten auf Papier, die hundertmal mehr enthielten als nur das Abbild eines Menschen, einer Landschaft oder einer Maschine. Immer wieder hatte er das von Lily Malone gelieferte Originalfoto unter x-fache Vergrößerung gebracht, hatte es in fluoreszierendem Licht untersucht, im Stereogerät und als EpiskopVergrößerung an der Perlglasleinwand. Dabei war ihm ein Schatten aufgefallen, der rechts neben Chapmans Schulter aufragte. Auf diesen Schatten konzentriert, hatte er herausgefunden, daß es sich um einen Kirchturm handeln müsse, und zwar um den Turm einer Kathedrale. Ein Graphiker hatte den Turm rekonstruiert. Mit der Zeichnung war man alle erreichbaren Bildbände und Fotosammlungen der dalmatinischen Küste durchgegangen, bis man einen ähnlichen Turm gefunden hatte. Leider fand man mehrere. Nachdem er soweit in das Geheimnis der Fotografie vom 17. vorgedrungen war, suchte der Experte verbissen weiter. Als schon niemand mehr mit einem Ergebnis rechnete, kreuzte er bei Urban in der Operationsabteilung auf. Freudestrahlend legte er ihm eine Vergrößerung des Fotos vor und deutete auf ein Punktmuster am oberen Rand. »Wofür halten Sie das, Bob?« »Für den Rand einer Tapete«, sagte Urban. »Was genau sehen Sie?« »Punkte, rund, abschattiert, damit sie wie Erhebungen aussehen.« 91
»Also keine Blumen.« »Eher Nagelköpfe.« »Sind sie nicht zu groß dafür? Wenn man sie mit Chapman in Bezug bringt, sind sie größer als ein menschliches Auge.« »Nun, der Musterentwerfer wird sich etwas dabei gedacht haben.« Nun rückte der Experte mit seinem Verdacht heraus. »Die Rückwand hat gar keine Tapete. Dafür glänzt sie zu stark.« »Tapeten kann man lackieren.« »In diesem Fall ist die Wand nicht tapeziert, sondern mit gelber Ölfarbe gestrichen.« »Und die Punktreihe?« »Nietköpfe.« Der Experte wirkte sehr sicher. »Die Wand ist oben an der Deckkante vernietet.« »Aus Stahlblech also.« > »Das man eigentlich nur bei Schiffen auf diese Weise verwendet.« Urban kam aus dem Staunen nicht heraus, als der Fotoauswerter fortfuhr: »Der Turm der Kathedrale ist eine Glasspiegelung.« »Anzunehmen.« »Und er ist leicht gekrümmt.« »Dann kann das Glas nicht flach sein, es muß ebenfalls eine Krümmung aufweisen«, kombinierte Urban. »Es ist rund und leicht sphärisch«, fuhr der Experte fort. »Erkennen Sie diesen Schattenansatz hier neben Chapmans Schulter?« »Diskusförmig würde ich ihn nennen.« »Es handelt sich um das Segment einer runden Fensterfassung, vermutlich aus Metall. Messing, schätze ich.« Urban hatte kapiert. »Ein Schiffsbulley.« »Runde Fassung, rundes Glas, die Nietköpfe an der Wand. Schlußfolgerung: Das Chapman-Foto wurde auf einem Schiff gemacht, das aus Eisen besteht.« »Seine Yacht besteht aus Holz.« »Und in Spanien gibt es keine solchen Kirchtürme. Zumindest nicht an der Küste von Almeria.« 92
»An welcher Küste dann?« erkundigte sich Urban. Er konnte es sich denken, wollte dem Jungen aber sein Erfolgserlebnis nicht nehmen. »Wir hatten drei Kathedralen zur Wahl. Eine in Titograd, aber das liegt in den Bergen. Eine zweite Kathedrale in Rijeka ist zu weit vom Hafen entfernt, als daß sie sich spiegeln könnte, selbst wenn man es beabsichtigt und sie mit allen Tricks einzufangen versuchte. Bleibt nur noch Zadar.« »Zadar«, murmelte Urban. »War erst vor kurzem in der Gegend.« »Lag vielleicht ein Schiff aus Eisen dort?« »Die jugoslawischen Fischkutter sind aus Eiche. Aber Zadar ist Anlegeplatz für die Fähre nach Ancona.« »Ob man Chapman auf der Fähre fotografierte?« »Kaum anzunehmen.« »Wo dann?« »Schon eher auf einem sowjetischen Trawler.« »Sind die aus Eisen?« »Da sie auch im Nordmeer unter Treibeisbedingungen eingesetzt werden, baut man sie in der Regel sehr massiv.« »Haben Sie einen solchen Trawler in Zadar gesehen?« bohrte der Fotoauswerter unverdrossen. Urban mußte einräumen, daß er nicht darauf geachtet hatte. Aber er versprach, das Versäumnis sofort nachzuholen. « * Die Sonne brannte auf den Eckbalkon im vierzehnten Stock des Adriatic-Hotels in Zadar. Urban überfiel bleierne Müdigkeit. Er wußte, daß der Schlaf nicht zu umgehen war und hoffte, daß sich in den Nachmittagsstunden nicht viel ereignen würde. Andererseits steckte man nicht in der Materie. Vielleicht passierte es gerade, wenn er schlief. Also montierte er das große Spezial-Filmmagazin an die Fernrohrkamera. Es enthielt zweihundert Meter Kino-Farbfilm 35 mm. Eine Automatik schoß alle 10 Sekunden eine Aufnahme, also sechs pro Minute. 93
Nach jeder Aufnahme zog der Motor den Film um ein Bild weiter. In vier Minuten liefen soviele Bilder durch, wie bei Kinowiedergabe in einer Sekunde. Der Inhalt der Kassette reichte für 8 Minuten Kinoprojektion oder für 1900 Minuten Einzelaufnahmen. Das waren über 30 Stunden. Nach Urbans Berechnung dauerte es mindestens zwanzig Sekunden, bis ein Mann am Pier ein Automobil verließ, über die Gangway an Bord ging und unter Deck verschwand. Oder umgekehrt. Da alle zehn Sekunden eine Aufnahme erfolgte, wurde das Geschehen auf dem Trawlerdeck im wesentlichen festgehalten. Urban visierte noch einmal das Objektiv nach, arretierte das Gerät und legte sich beruhigt hin. Erst störte ihn das stetige Klicken des Kameraverschlusses und das Summen des Motors beim Einschlafen, doch allmählich gewöhnte er sich daran. Als er erwachte, dämmerte es schon. Die Kamera lief zuverlässig, das Zählwerk stand mittlerweile bei Aufnahme 1856. Das einzig Beunruhigende war, daß er nicht wußte, was sich auf dem Film befand. Die Dunkelheit kam. Solange der Spezialfilm noch Bilder aufnehmen konnte, ging er rasch essen. Nachdem er ins Hotel zurückgekehrt war, schaltete er die Kamera ab und übernahm jetzt selbst ihre Funktion. Noch brannten überall Lichter, auch an Deck des Trawlers mit der roten Flagge. Gegen 23 Uhr verloschen erst die Bogenlampen am Pier, dann die Decksbeleuchtung des Fischdampfers. Urban schnallte das Nachtsichtgerät vor die Augen. Um wach zu bleiben, hörte er Musik. Dazwischen trank er Kaffee aus der Thermoskanne. Noch fuhren Autos durch die Stadt. Man hörte Straßenlärm, Discoklänge, Lachen von Menschen, die unbeschwert Urlaub machten. Irgendwo schössen sie ein Feuerwerk ab. Urban sah die bunten Sterne und Girlanden aufblitzen und verlöschen. Mitternacht. Allmählich wurde es still. Nicht einmal ein Hund war zu hören, obwohl im Süden fast immer irgendwo ein Hund bellt. 01 Uhr. Das Nachtsichtgerät war ziemlich schwer und ermüdete 94
die Halsmuskulatur. Seine Augen tränten. Man muß die Dinger leichter bauen, dachte er. Da vernahm er ein Geräusch. Nur ein Mofafahrer. 01 Uhr 20. Scheinwerferlicht am Pier, aber abgeblendet. Ein Wagen rollte zum Trawler hinaus. Urban betrachtete das Schiff durch stärkste Vergrößerung und Restlichtverstärkung. An Deck des Russen stand eine Gruppe von Männern. Einer davon war weißhaarig mit Kinnbart. Man redete noch miteinander, verabschiedete sich dann händeschüttelnd, Bruderküsse wurden getauscht. Der Weißhaarige eilte mit schnellen kleinen Schritten über die Gangway. Bevor er am Pier in die Limousine einstieg, drehte er sich noch einmal um und grüßte mit erhobenen Händen. Wie ein Fußballspieler, der soeben das rettende Tor geschossen hatte. Nicht daß Bob Urban geschockt gewesen wäre, aber die Bestätigung seines Verdachtes fuhr ihm doch einigermaßen in die Glieder. Der Mann, der jetzt wegfuhr, war Professor Denis Chapman. Darüber bestand nicht mehr der geringste Zweifel. Die Limousine rollte davon und schaltete erst weiter oben volles Licht ein. Urban ging hinein. Jetzt brauchte er einen Drink. Nicht etwa einen Mix aus dem süßen Maraskino-Zeug, sondern einen Bourbon unverdünnt. Dann rief er München an. »Wo ist Chapman?« fragte er. »Auf Unterwasserjagd in der Bucht von Almeria.« »Unmöglich, gerade war er noch hier.« »Wird sofort überprüft«, versicherte das Hauptquartier. * Um 10 Uhr 30, Urban nahm gerade sein Frühstück ein, meldete sich München. »Chapmans Yacht lief heute früh in Almeria. ein«, übermittelte man ihm. »Wer behauptet das?« »Das Gespann Nader-Smily.« 95
»Und der Professor ist an Bord?« »Er war an Bord.« »Wo ist er jetzt?« »In der Villa. Nader und Smily überzeugten sich davon, daß er es höchstpersönlich ist und nicht etwa eine Puppe oder ein Roboter.« »Dann hat er einen Doppelgänger.« »Schön, aber was hätte Moskau von einem Doppelgänger?« »Dann ist dieser Chapman in Spanien eben der falsche.« »Nader und Smily verbürgen sich für seine Echtheit.« »Womit garantieren sie es?« »Sie nahmen ihm vorsorglich die Fingerabdrücke.« »Dann«, Urban seufzte, »bleibt mir nur noch die Erklärung, daß die Russen Chapman in einer kombinierten Jet-FlugbootHubschrauber-Blitzaktion hin und hertransportierten.« »Das ist Science-fiction«, wandte der Oberst ein. »Ich habe Chapman vor sieben Stunden hier in Dalmatien gesehen«, beharrte Urban. »Das ist es, was ich unter Science-fiction verstehe«, erwiderte Sebastian. »Übrigens trägt sich Denis Chapman mit der Absicht, seinen Urlaub vorzeitig zu beenden und schon morgen nach England zurückzukehren.« »In sein berühmtes Labor.« »Angeblich wartet dringende Arbeit auf ihn.« »Ja, im Dienst der Sowjetunion.« »Durch den Ausfall seiner Assistentin Dr. Ella Keith müsse er verschiedene Versuchsreihen nun selbst durchführen, behauptete er Nader und Smily gegenüber.« »Der Ärmste«, sagte Urban. »Wer’s glaubt.« »Und was glauben Sie?« »Daß hier eine ganz große Schweinerei läuft. Initiiert von den Russen, ausgeführt von Chapman.« »Von einem Umweltschützer? Ich bitte Sie, Nummer achtzehn, was wäre Chapmans Motiv, so plötzlich zum Freund des Ostens zu werden? Ein Kapitalist wie Chapman, ein wirklich unerhört reicher Mann mit großem Besitz überall in Europa, ändert nicht so leicht die Couleur.« 96
»Wer kennt schon des anderen Herz.« »Chapman ist Engländer bis in die Knochen und durch und durch ein Gewächs des Westens.« »Dem immerhin Rechtsextremisten bei einem Anschlag das Liebste nahmen, was er besaß, seine Frau.« »Wird man deshalb zum Kommunisten?« »Wenn man schon für zehn Dollar zum Mörder werden kann.« »Nicht ein kultivierter Mensch wie Chapman.« »Die sogenannten Kultivierten sind doch die ersten, die alles satt haben und aussteigen.« Der Alte brauste jetzt auf. »Ich weigere mich«, zischte er, »weiterhin solchen Blödsinn zu diskutieren.« Damit erwies er Urban einen großen Gefallen. Urban legte auf. Es fiel ihm leicht. 12. Dr. Ella Keith wurde wie eine Gefangene behandelt. Sie protestierte und verlangte, daß man sich an die Abmachungen halte. Sie wurde vertröstet. Die Bewachung des Hauses begründete man damit, daß dies nur zu ihrer Sicherheit geschehe. Sobald man in der UdSSR sei, würde sich das selbstverständlich ändern. Man forderte sie auf, Einzelheiten ihrer Arbeit in den ChapmanLabors schriftlich niederzulegen. Dies verweigerte sie. Dann schlug man ihr vor, ihr Wissen und ihre Erkenntnisse auf dem Gebiet des Umweltschutzes in einem Gespräch vor Fachkollegen auszubreiten. Auch dies lehnte sie, in der Annahme, daß sie damit ein Faustpfand aus der Hand gebe, ab. Dann verlangte man, sie solle vor ausgesuchten Experten des Ostblocks, soweit sie sich in Split aufhielten, ein Referat halten, das selbstverständlich geheim bleiben würde. Auch diesem Wunsch entsprach die Biophysikerin nicht. Daraufhin riß ihren neuen Freunden die Geduld. Eines nachts weckte man sie und brachte sie in den Keller. Der Raum und seine Einrichtung waren typisch. Weiße Wände, ein Schreibtisch, vor dem Tisch ein Hocker, beiderseits davon auf Ständern zwei starke 97
Lampen. Man setzte sie auf den Hocker. Die Scheinwerfer wurden eingeschaltet. Ihr Licht schmerzte in den Augen. Sie mußte warten. Endlich ging eine Tür. Zwei Männer kamen herein und nahmen hinter den Lampen Platz. Dr. Ella Keith protestierte wieder einmal. »Wohin soll das führen«, fragte sie, »welche Art von Gespräch erwarten Sie unter diesen Bedingungen?« »Das ist kein Gespräch«, antwortete ein Mann mit russischem Akzent, »das ist ein Verhör.« »Dann weigere ich mich zu antworten.« »Sie weigern sich immer nur, meine Liebe.« »Weil man die Abmachungen nicht einhält. Man versprach mir ein eigenes Laboratorium, Mitarbeiter, ausreichende Mittel und Freiheit der Forschung, damit ich die in London gewonnenen Erkenntnisse realisieren kann.« Zunächst vernahm sie nichts als das Ticken einer Uhr. Dann wieder den Russen: »Erzählen Sie uns etwas über diese Dinge, dann sehen wir weiter. Noch müssen wir nämlich bezweifeln, daß Sie uns etwas von Wert aus dem Westen mitbrachten. Wir möchten kein Risiko eingehen. Das müssen Sie verstehen.« Ein wenig hatten sie Dr. Keith schon zermürbt. Man konnte es ihrem klirrenden Lachen entnehmen. »Was verstehen Sie denn von diesen komplizierten Dingen?« fragte sie arrogant. »Ich«, erwiderte der Mann vom Geheimdienst, »ich verstehe gar nichts davon. Aber neben mir sitzt ein Fachmann. Vielleicht haben Sie schon den Namen Dr. Reval Policek gehört.« Wer hatte nicht von Dr. Policek gehört. Es war, als würde man einen Medizinstudenten fragen, ob er von Virchow gehört habe, oder von Sauerbruch. Policek war Vorsitzender des Direktoriums der technischen Universitäten der UdSSR, Professor für Nuklearphysik, Lehrstuhlinhaber und daneben ein großer Mann in der Forschung, speziell auf dem Rüstungssektor. Man erzählte sich, er sei sehr sympathisch, gar nicht hochgestochen wie andere Wissenschaftler, eher volkstümlich. Diesen Eindruck gewann Dr. Keith, als Policek begann: 98
»Sagen Sie einmal, mein Kind«, ein Streichholz wurde angerissen, eine Pfeife angesteckt, »was macht Chapman eigentlich so Geheimnisvolles?« Dr. Keith überlegte lange. »Er versucht Dämme aufzurichten gegen die Verseuchung unseres Planeten.« »Auf welche Art?« »Da dies aktiv nicht mehr möglich ist, man kann den Ausstoß giftiger industrieller Abfallprodukte verringern, aber nicht stoppen, versucht Chapman es auf passive Weise.« »Indem er nach einer Methode sucht, die bereits in der Umwelt befindlichen Giftstoffe zu isolieren. Ist das richtig?« »Sie abzukapseln«, präzisierte die Amerikanerin. »Etwa wie ein Maschinenteil aus Eisen, das man lackiert, verzinkt oder verchromt, damit der Rost es nicht befällt.« »Der Vergleich hinkt.« »Wie alle Vergleiche.« Policek fuhr fort: »Aber wie will er dies erreichen?« »Auf dem Weg über neue Bakterien.« »Bakterien, die sich an die Umweltgifte anlagern, sie umgeben…« »Und sogar verändern.« »Wie erreicht er das?« »Durch Beeinflussung der Gene, der Erbanlagen dieser Bakterien.« »Er fügt ihren Kernen also bestimmte DNS hinzu, die er bei anderen Bakterien, die schon klar definierte Eigenschaften besitzen, einsammelt.« »Das ist richtig.« »Und wie macht er das in praxi?« »Er impft Viren mit den gewünschten Perspektiven, das heißt, er züchtet sie und läßt sie auf natürlichem Wege in seine Killerbakterien eindringen. Dort verändern die mitgeführten neuen Eigenschaften die Eigenschaften der Bakterien auf die vorgesehene Weise.« »Das haben andere Forschungsgruppen schon vergebens versucht.« 99
»Ihm gelang es. Er ist genial.« Dr. Policek fuhr fort: »Was vermögen diese neuen Züchtungen zu bewerkstelligen?« »Nun«, jetzt zögerte Dr. Keith, als gebe sie schon Betriebsgeheimnisse preis, »sie können so gut wie alles. Sie beherrschen den Mikrokosmos. Auf Grund ihrer Winzigkeit durchdringen sie sogar feste Körper ähnlich wie Strahlen.« Policek formulierte seine nächste Frage: »Sie vermögen also nicht nur den Ölteppich, den geborstene Tanker auf dem Meer hinterlassen, aufzufressen und umzuwandeln?« »Sie sind in der Lage«, eröffnete Dr. Keith, »sogar giftige Chemikalien, die in verschlossenen Gefäßen auf dem Meeresgrund versenkt wurden, anzugreifen.« »Durch Beton und Stahl hindurch?« »Beton und Stahl sind für Mikroorganismen poröse Materialien.« Der Verhöroffizier des KGB mischte sich ein. »Dr. Keith«, fragte er, »ist das nur Theorie, Wunschtraum, oder gibt es eindeutige Ergebnisse?« »Die liegen schon einige Zeit vor.« »Wie lange?« »Seit Jahren.« »Damals waren Sie noch gar nicht bei Chapman.« In der Hoffnung, daß sie es nicht für ein Märchen hielten, schilderte ihnen Dr. Ella Keith ein Erlebnis. »Es war im Mai vergangenen Jahres«, erzählte sie, »ich assistierte einige Wochen bei ihm. Dr. Chapman schien Vertrauen in mich gefaßt zu haben. Er führte mich in sein Privatlabor, das ich bis zu diesem Tag noch nicht betreten hatte. Sie werden nicht glauben, was auf dem Tisch stand.« »Dann sagen Sie es uns bitte.« »Eine Konservendose mit Hawai-Ananas.« Beinah euphorisch fuhr Dr. Keith fort: »Chapman schnitt die Dose mit einem elektrischen Öffner auf. Dann bat er mich dem Gifttresor einige Milligram des stärksten Giftes zu entnehmen, über das wir verfügten.« »Was war das?« »Eines der verheerendsten Gifte die die Welt kennt. Schon gerin100
ge Mengen genügen, um Hunderttausende von Menschen zu töten. Die britische Atomenergiekommission überließ es uns zu Versuchszwecken.« »Dann kann es sich nur um Plutonium handeln, aus den erschöpften Brennstäben der Kernkraftwerke.« Dr. Keith nickte. »Es handelte sich in der Tat um Plutonium.« Sie machte eine wirkungsvolle Pause. »Chapman injizierte die plutoniumhaltige Lösung in die Ananasscheiben, verrührte den Doseninhalt noch einmal und setzte ihn kurz einer violett strahlenden Lichtquelle aus. Während der Bestrahlung gab er eine Pipette voll glasklarer Flüssigkeit in die Dose, wartete einige Minuten, um dann die Ananas vor meinen Augen zu verzehren. Mit Genuß, wenn ich Ihnen versichern darf.« »Ein Scharlatan«, bemerkte Policek, »ein Jahrmarkttrick.« »Professor Chapman ist kein Taschenspieler.« »Er erlaubte sich einen Scherz mit Ihnen, Dr. Keith. Entweder er vertauschte das Plutonium gegen etwas Harmloses, oder er vertauschte die Dose.« »Weder das eine noch das andere.« »Dann wäre er tot.« »Das nehmen Sie nur deshalb an, weil es noch niemandem gelang, Plutonium zu verändern, es sei denn durch eine Nuklearreaktion.« »Die Gesetze der Physik sind unumstößlich.« »Chapman veränderte das Plutonium nicht, er isolierte es nur auf dauerhafte Weise gegen die Umwelt. Uran 235 kommt im Grunde ja auch nur isoliert vor. Man gewinnt es durch Reinigen von völlig ungefährlichem Uranerz.« »Chapman hat das Plutoniumdessert also überstanden.« »Er lebt und ist gesund.« »Das glauben wir nur, wenn Sie bereit sind, uns die Molekularvorgänge im einzelnen…« Dr. Keith unterbrach den Wissenschaftler mitten im Satz. »Sie erfahren kein Wort mehr von mir, bevor Sie Ihren Teil der Abmachungen nicht erfüllt haben. Allmählich befürchte ich schon…« 101
»Was denn?« fragte der Verhöroffizier neugierig. Dr. Keith gab sich einen Ruck. »Daß Sie mich aus Washington entführten, um damit irgend etwas zu vertuschen, eine andere Aktion zu decken, etwas vorzutäuschen, eine falsche Spur zu ziehen.« »Wir haben nichts vorgetäuscht«, erwiderte der Mann im Dunkel. »Sie wurden unsere Mitarbeiterin. Nun müssen Sie endlich ein paar Details liefern, meine Teure.« »Nicht zu diesen entwürdigenden Bedingungen.« »Würden Sie unter Umständen mir diese Details anvertrauen?« wandte sich Policek in freundlichem Ton an die amerikanische Kollegin. »In meiner Gefängniszelle etwa?« »Wie wäre es während eines Mondscheinspazierganges im Park?« »Aber erwarten Sie sich nicht zuviel, Herr Professor«, erklärte sich Dr. Keith einverstanden. – Allerdings nicht ohne Hintergedanken. * Draußen auf der Terrasse bot ihr der weißhaarige Moskauer Wissenschaftler väterlich den Arm. »Gleich sind wir ganz unter uns«, flüsterte er. »Was ändert das?« »Vielleicht sehr viel«, deutete der Physiker an. Von mir aus, dachte Ella Keith, und war zu allem entschlossen, notfalls auch Policek niederzuschlagen und die Flucht zu ergreifen. Von den Bergen strich ein kühler, fast eisiger Wind herunter. Sie fröstelte. »Eine Jacke?« fragte der Professor. Sie bat darum. In der Jacke war alles was ihr wichtig erschien. Vor allem etwas Geld. Sie holten die Jacke und wanderten die Parkwege entlang. Ein Schatten tauchte auf. »Ach Sie sind es, Professor.« 102
»Ich achte schon auf die Gefangene«, sagte Policek und zu Ella gewandt: »Gut, daß Sie nichts preisgaben, verehrte Kollegin. Man hat Sie wirklich nur als Werkzeug benutzt.« »Als Werkzeug wofür?« »Um Ihren Chef, Dr. Chapman, zu decken.« »Auf welche Weise?« Policek senkte die Stimme. Er war kaum noch zu hören. »Man brauchte einen Strohmann, dem man die Schuld dafür anhalsen kann, daß Ergebnisse aus Chapmans Labor in den Osten gelangten.« »Gelangten sie denn dorthin?« Policek nickte heftig. »Und zwar durch Chapman persönlich. Aber Chapman soll weiterhin ungestört und unverdächtigt im Westen arbeiten können, um dort eine ganz große Sache zu erledigen, von der ich leider keine Ahnung habe. Ich weiß nur soviel, daß sie bald stattfinden wird.« Das Parktor tauchte auf. »Mein Gott«, stöhnte Dr. Keith, »ich ahnte es. Und warum sagen Sie mir das, Professor Policek?« »Weil«, setzte der Moskauer Wissenschaftler an. Er sprach nicht weiter. Kurz bevor sie das Parktor erreichten, stand plötzlich ein Posten neben ihnen und leuchtete sie mit der Lampe an. »Wohin, Professor?« »Zum Strand.« »Garantieren Sie für Dr. Keith?« »Selbstverständlich.« »Wollen Sie nicht lieber den Hund mitnehmen, Genosse Policek?« »Wozu? Sie ist eine Frau, ich bin ein Mann.« Der Posten ließ sie durch. Policek ging aber nicht zum Strand, sondern in den Ort hinein. »Warum«, wiederholte Ella Keith ihre Frage, »vertrauen Sie mir dieses Wissen an, Professor?« Sie bogen in eine Gasse ab, nahmen mehrere Treppen, kamen an einer schwach beleuchteten menschenleeren Piazza heraus. Policek 103
überquerte die Straße, blieb vor einem Briefkasten stehen und faßte in die Jackettasche. In diesem Moment, als er sich von Ella Keith abwandte, bückte sie sich, um einen Stein aufzuheben. Aber Policek war schneller. Bevor sie den Stein gegen seinen Hinterkopf schmettern konnte, packte er ihr Handgelenk. »Das ist wirklich unnötig, werte Kollegin«, sagte er, »Sie würden sich des letzten Mittels berauben, um Ihre Lage entscheidend zu verbessern. Allein, ohne mich, ohne meine Hilfsmittel, erreichen Sie niemals den freien Westen. Selbst wenn Sie hinkämen, wer sollte bestätigen, wie tapfer Sie sich hier verhalten haben?« Er warf einen frankierten Umschlag in den Briefkastenschlitz. »Jetzt kann passieren was mag«, murmelte Policek. »Kommen Sie schon. Wir haben nicht viel Zeit.« Sie blieben im Schutz der Platanen. Vor dem kleinen Hafen bog Policek in eine Sackgasse ab. Links lief eine unverputzte Mauer ins Dunkel. Nach etwa fünfzehn Metern kam ein doppeltes Holztor. Es war nur angelehnt. Im Hof stand ein Wagen. Ein jugoslawisches Fiat-Modell. »Was haben Sie vor?« fragte Ella Keith heftig atmend. »Los, einsteigen!« Sie hatte die Tür noch nicht geschlossen, da ließ Professor Policek schon den Starter gehen. »Wer sind Sie?« fragte Ella. »Professor Leonid Reval Cyon Policek. Auf Ehre.« »Warum tun Sie das für mich?« Lachend fuhr er an, nahm scharf die Kurve. »Ich tue es auch für mich, meine Teuerste.« Hinter ihnen wurde das Tor von Geisterhand geschlossen. Offenbar war alles prächtig organisiert. Sie rasten durch das schlafende Küstenstädtchen hinauf zur Magistrale.
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Nach wenigen Kilometern auf der Durchgangsstraße zeigte sich, daß Policeks perfekte Organisation Mängel aufwies. »Fährt ja prima, dieser Siebenhundertfünfziger«, rief Policek, »Tank ist auch voll.« »Aber wir werden verfolgt«, schränkte Ella ein. »Sie meinen die Scheinwerfer hinter uns? Nicht jedes Auto gehört gleich zu einem Verfolger. Haben Sie Vertrauen, Ella, ich verfüge über einige Erfahrung.« »Als Physiker vielleicht.« »Auch auf anderen Gebieten«, deutete der Russe an. Ella drehte sich um. »Der Abstand bleibt.« »Auch andere Leute haben das Recht nachts von A nach B zu fahren, oder nicht? Wir sind ja nicht in der Sowjetunion, wo man für alles ein Permit braucht.« »So reden Sie, ein verdienter Held der Wissenschaft, Träger des Leninordens, Mitglied der höchsten Funktionärsstufe, der Nomenklatura.« Der Wagen hinter ihnen hielt konstant seinen Abstand, egal ob der 750er Tempo zulegte oder langsamer fuhr. »Der hat was vor«, warnte Ella. »Unsinn, er hängt an unseren Rücklichtern und läßt sich ziehen. Bei Nachtfahrten ist das ein probates Mittel, um ein wenig dösen zu können. Auf der Fahrt von Moskau nach Gorki hängte ich mich einmal im Winter bei Schneesturm an einen vor mir fahrenden Lastwagen. Und wo, glauben Sie, kam ich heraus?« »In Nowgorod.« »Nein, wieder in Moskau.« Policek lachte. Doch plötzlich wurde er nachdenklich. Das Fahrzeug hinter ihnen holte jetzt spontan auf. Die Scheinwerfer kamen rasch näher. Es war, als habe der Verfolger auf etwas Bestimmtes gewartet. Der kilometerlangen Geraden folgte jetzt ein Kurvengeschlängel. An der Landseite ging die Böschung in Felswände verschiedener Höhen über. Links kam ab und zu ein Begrenzungsstein. Dahinter fiel das Gelände steil zum Meer ab. 105
Der Wagen hinter ihnen blinkte, forderte sie offenbar zum Halten auf. Ella deutete auf einen Einschnitt zwischen den Felsen. »Da hinein. Ein Weg!« Zu spät. Policek konnte nicht mehr bremsen. Zurückstoßen hätte wertvolle Sekunden gekostet. Voll nahm er die Kurve. Die Reifen pfiffen. Auf dem nächsten geraden Stück fiel der erste Schuß. Er traf irgendwo ins Blech. »Alles klar jetzt?« fragte Ella, sich festklammernd. »Alles klar.« Policek fluchte auf russisch. Der kleine 750er, den er organisiert hatte, ging hundert, aber nicht schneller. Bis zur nächsten Ortschaft hatten sie noch fünfzehn Kilometer. In einer Ortschaft würden sie nichts riskieren, also würden sie es jetzt versuchen. Und zwar sofort. Policek fuhr Schlangenlinien. Wieder fielen Schüsse. Glas splitterte. Reifenluft entwich zischend. Policek glaubte zu sehen, daß sich vom Meer herein Hügelrücken zur Straße heraufzog, mit Ginster oder anderem Gestrüpp bewachsen. Also wagte er es. Er riß das Lenkrad nach links. Der Fiat sprang von der Straße. Etwa einen Meter tiefer kam er auf, rollte, rutschte, geriet quer, schlitterte, war nicht zu halten. Erst allmählich bremste das steifästige Gebüsch seine Fahrt. Doch dann kam ein Felsbrocken, der warf ihn herum und auf die Seite. Er rollte mehrmals über das Dach ab, ehe er auf den kiesigen Strand krachte. Ella spürte nichts, keinen Schmerz und hoffte, unverletzt zu sein. Sie kroch aus der kleinen Limousine, riß drüben an der Fahrerseite die Tür auf. Den Professor hatte es bös erwischt. Das Lenkrad war zersplittert, die Lenksäule war ihm in den Brustkorb gedrungen und hielt ihn mit ihren blechernen Widerhaken fest. Policek blutete stark. Blut drang ihm sogar aus dem Mund. Sein Atem ging röchelnd. Mühsam konnte er noch ein paar Worte formen. »Der Revolver… Türtasche . sie werden bald da sein.« 106
»Ich werde mich teuer verkaufen«, versprach Ella. »Wenn Sie je durchkommen sollten«, keuchte der sterbende Physiker, »dann grüßen Sie meine Freunde in Washington von… von…« Seine Worte waren nur noch ein Flüstern. Seine Lippen bewegten sich, aber er brachte keinen Ton mehr zustande. Die Lenksäule mußte ihm Herz und Lunge zerstört haben. In einer letzten verzweifelten Anstrengung beendete er den Satz: »Grüßen Sie alle Freunde von… von Midas.« »Sie sind Midas?« fragte Ella erschüttert. Aber da war der große Meisterspion schon tot. Oben an der Magistrale hatte das Fahrzeug der Verfolger angehalten. Seine Scheinwerfer strahlten westwärts. In ihrem Licht stiegen Männer ab. Sie hatten Hunde bei sich und Maschinenpistolen. Ella Keith ergriff die Flucht. Aber die hochtrainierten KGBAgenten kamen immer näher. Ella Keith lief bis zur völligen Erschöpfung. Dann warf sie sich in eine Kiesmulde und ließ sie kommen. Sie schoß auf den ersten Schatten und traf. Dann hetzte ein Hund heran, den sie ebenfalls so erwischte, daß er sich winselnd zurückzog. Die Russen forderten sie auf, sich zu ergeben. Ella Keith feuerte weiter. Daraufhin deckten sie sie mit MPiSalven zu. Erst bei Sonnenaufgang wagten sie sich aus der Deckung. Nun sahen sie, daß Ella Keith keinen Widerstand mehr leisten würde. Ihr Körper war von Einschüssen durchsiebt. Sie war schon über eine Stunde tot. * Professor Denis Chapman kehrte am 29. des Monats nach London zurück. Einen Tag später nahm er seine Arbeit im Labor wieder auf. Er war voll Energie und organisierte ein neues, längst geplantes Programm. 107
Bei einem Essen im Club, bei dem ein Beamter des Innenministeriums und ein Gentleman der Spionageabwehr seine Gäste waren, gelang es ihm, auch die letzten Zweifel an seiner Loyalität zu zerstreuen. »Wenn jemals«, so versicherte er, »Forschungsunterlagen von meinem Labor an östliche Interessenten gingen, dann kann das nur über meine Mitarbeiterin Dr. Keith geschehen sein. Ich bedaure das, kann es aber nicht ändern. In Zukunft werde ich meine Mitarbeiter von MI-5 durchleuchten lassen.« »Einer unbestätigten Meldung nach«, deutete der Geheimdienstgentleman an, »soll Dr. Keith bei einem Fluchtversuch umgekommen sein.« »Was ich trotzdem zutiefst bedauere«, erklärte Chapman daraufhin. »Sie war eine überaus hübsche tüchtige, fast liebenswerte Frau. Aber wer mit dem Feuer spielt…« Einem gut geschulten Beamten wäre aufgefallen, daß Professor Chapman für den Rest des Abends so aufgeräumt war, als sei ihm ein Stein vom Herzen gefallen. Aber seine Gäste widmeten sich mehr dem vorzüglichen Dinner und den erlesenen Weinen, als der Aufgabe, Chapman zu beobachten. In London war soweit alles in Butter. * Ranzig hingegen wurde die Butter im Münchener BNDHauptquartier, als Bob Urbans Zadar-Film aus der Entwicklung kam. Ein einziges von zweitausend Fotos lieferte den Beweis. Der Nummer nach zu urteilen hatte es die Kameraautomatik gegen 17 Uhr 45 geschossen. Das Dia zeigte den von Urban in der Nacht beobachteten Vorgang in umgekehrter Reihenfolge. Am Pier vor dem Russentrawler stand eine schwarze Limousine. Ein Mann war ausgestiegen und eilte gerade über die Gangway an Bord, wo er von drei Herren erwartet wurde. Der Mann im weißen Anzug auf dem dunkelbraunen Sisalläufer war Chapman. Die Vergrößerung seines Kopfes schloß jeden Zweifel aus. »Er kam gegen 18 Uhr und verschwand im Dunkel der Nacht«, 108
sagte Urban, »wie schon einmal am siebzehnten, als Midas ihn fotografierte. Die Organisation solcher Blitzreisen von Spanien nach Dalmatien ist für den KGB weißgott kein Problem. Chapman übermittelte ihren Experten sein Wissensgut, von dem er offenbar glaubt, daß man es nicht nur dem Westen sondern auch dem Osten zugänglich machen müsse. Seine privaten Motive dafür sind wohl äußerst vielschichtig.« Oberst Sebastian blickte seinen Agenten staunend an. »Sie sind ein harter Brocken.« »Nur wenn man mich ärgert.« »Was werden Sie jetzt tun? Versuchen Sie bloß nicht, die Engländer oder die Amerikaner von Chapmans Schuld zu überzeugen. Für die stellt die tote Keith den Verräter dar. Chapman ist völlig rein gewaschen. Wenn die einem Mann den Meister-Proper-Orden verpassen, dann ist er nicht mehr antastbar.« »Nicht einmal durch Fakten.« »Was also…« Urband stand am Fenster und starrte in den grauen Himmel. »Chapman wird etwas unternehmen«, befürchtete er. »Er wird auf irgendeine Weise zuschlagen.« »Aber wie und wo?« »Eine Mini-Atombombe zündete nicht«, erwähnte Urban. »Verfolgen wir diesen Weg doch einmal weiter.« »Sie sind überzeugt, daß Chapman dabei die Hand im Spiel gehabt hat?« »Seine Teufelsviren – oder sind es Friedensengel?« »Um das zu beweisen, müssen Sie ihn auf frischer Tat ertappen.« »Nichts schwerer als das«, sagte Urban. »Melde mich mit Ihrer Genehmigung ab nach London.« Der Alte seufzte. »Ich habe nichts dagegen«, äußerte er, »aber ich weiß nichts davon. Die Ansichten des britischen Geheimdienstes müssen wir natürlich akzeptieren.« »Denn nichts ist leichter als das«, spottete Urban. »Und lassen Sie sich verdammt nicht in Situationen ein, wo Sie unsere oder irgend jemandens Hilfe brauchen.« 109
»Ich werde mich hüten«, sagte Bob Urban. Aber versprechen konnte er es nicht. * Von der Stunde seiner Ankunft in London an ließ Urban Denis Chapman nicht mehr aus den Augen. Da er nie im Leben näher als zweihundert Meter an Denis Chapman herangekommen war, erübrigte sich für Bob Urban jegliche Maskerade. Er beachtete jedoch die üblichen Vorsichtsmaßnahmen und multiplizierte sie mit dem Faktor drei. Wenn Chapman von seiner Villa am Regents Park nach Westend in sein Labor fuhr, folgte ihm Urban und wartete in angemessenem Abstand. Da Chapman ein wohlorganisiertes Leben führte, konnte man damit rechnen, daß er seinen Laborkomplex entweder gegen Mittag verließ, um in der City Gespräche zu führen, oder erst wieder nach den Rush-hours gegen 19 Uhr. Urban hatte dann Zeit, ebenfalls essen zu gehen oder in einem Pub ein Ale zu trinken. Abends setzte sich Urban wieder solange auf Chapmans Fersen, bis er zu Hause eintrudelte, absperrte, die Lichter löschte und schlafen ging. Dann fuhr auch Urban in sein nahegelegenes Hotel, war aber schon um 07 Uhr wieder auf Beobachtungsstation. Täglich wechselte er den Wagen. Für Nachschub an Fahrzeugen sorgten Londoner Freunde. In diesen drei Tagen sammelte Urban einige Erkenntnisse über Denis Chapman, die sich nach dem System der Zellteilung bald zu einem Mosaik und wenig später zu einem fast fotografischen Bild seiner Absichten verdichteten. Zunächst war da dieser Lieferwagen. Er hatte einen Kastenaufbau, die Farbe weiß und trug die Aufschrift einer Wäscherei. Er kam aber nicht aus London, sondern aus einer Grafschaft im Norden. Daß in einem Labor größerer Bedarf an frischen, vielleicht sogar sterilen Anzügen und Mänteln bestand, war Urban klar. Aber warum kam der Wagen täglich und blieb oft bis zum Abend im Laborgelände. 110
Und warum ließ sich Chapman von einer Wäscherei aus Bedford bedienen, neunzig Kilometer von London entfernt. Warum fuhr der Professor diesen Wäschereiwagen eines Nachmittags selbst auf einer Strecke von vierzig Meilen spazieren und warum existierte eine Wäscherei namens Terence Knight in Bedford gar nicht? Diesen Fragen ging Urban auf den Grund. Er weitete den Komplex aber noch aus. Ihn interessierte nicht nur, wen es in Bedford nicht gab, sondern wen es dort überhaupt nicht gab. Zumindest offiziell nicht. Dazu bemühte er den BND-Computer. * Der Datenspeicher in Pullach bei München äußerte sich zum Stichwort Bedford nicht anders, als das große Lexikon von Brockhaus. Zunächst erschien auf dem Bildschirm ein Herzogsname, der des dritten Sohnes Heinrichs des IV. von England. Das war Anfang des 15. Jahrhunderts. Auf ihn folgten eine endlose Reihe von verdienstvollen Männern. Königsmacher, Regenten, Heerführer, Politiker. Einem Bedford wurde sogar der Prozeß gegen die Jungfrau von Orleans angelastet. »Glaube nicht, daß Urban das wissen will«, wandte sich der Datenverarbeiter an seinen Kollegen. »Laß uns mal bis zur Gegenwart rauffahren.« Der Operator rief die nächste Aufzeichnung über Bedford ab. Sie betraf die Stadt Bedford. Sie galt als die Hauptstadt der gleichnamigen Grafschaft, hatte ca. 60.000 Einwohner. Sie lag an der schiffbaren Ouse und war Eisenbahnknotenpunkt. Man betrieb Handel mit landwirtschaftlichen Produkten. Schuhe und Strohhüte wurden industriell hergestellt. »Strohhüte«, bemerkte der Mann am Datensichtschirm kopfschüttelnd, »schätze Urban wird uns in den Hintern treten, wenn wir ihm mit Strohhüten kommen.« »Außerdem gibt es noch ein Hospital, ein Irrenhaus, fünf Kirchen, eine Kornbörse, ein Theater und eine Bronzestatue Bunyans.« »Und wer ist Bunyan bitte?« 111
»Keine Ahnung.« Sie quetschten ihren elektronischen Speicher noch weiter aus und fielen fast vom Stuhl, als er ihnen Geschichten aus der Römerzeit zu liefern begann. Die Bedford-Ebene, stand da zu lesen, sei zum Meerbusen Wash hin geöffnet und eine Ablagerung von acht Flüssen. Die Römer hatten als erste Deiche gegen das Meer aufgeführt. In vier Metern Tiefe hatte man Boote ausgegraben, Waffen, ja sogar eine Schmiedehütte. »Schmiedehütte«, meinte der Operator, »das ist Rüstungsindustrie, das ist was für Urban.« »Spinnst du?« fragte sein Kollege und ging hinaus, um außerhalb der klimatisierten Maschinenzone eine Zigarette zu rauchen. Wenig später kam sein Kollege nach. »Noch etwas entdeckt? Vielleicht ein Originalsonett Shakespeares auf Jasper Tudor, den Sieger von Bosworth?« »Leider nur ein Gedicht auf die landschaftliche Schönheit der Grafschaft.« »Wie schön ist sie denn?« »Eintönige Täler mit fischarmen Flüssen durchziehen unfruchtbare Kreidehügel. Was bedeutet eigentlich der Zusatz CA?« Fluchend drückte der andere seine Zigarette aus. »Stand CA dabei?« »Ich kann ja noch lesen.« »Das will ich sehen.« Sie gingen wieder hinein. Der Operator rief die letzten Daten über Bedford noch einmal auf den Sichtschirm. Ganz zum Schluß erschienen die flimmernden Buchstaben C und A. »Mann«, keuchte der Programmierer, »da schlaffst du echt ab. Hundert Zeilen über Herzöge, Kirchen und Viehzucht und dann das.« »Ein Geheimcode?« »Groß C bedeutet Cosmic und A bedeutet Atomal.« »Also liegt dort irgendwo eine supergeheime Atomwaffendeponie.« »In den Kreidehügeln, Kreide läßt sich leicht anbohren und ist relativ strahlendicht.« 112
»Darüber wird sich Urban freuen.« »Der freut sich nie.« Der Programmierer verfügte über einschlägige Erfahrung. Sofort meldete er das Ergebnis hinauf in die Operationsabteilung. Von dort wurde es nach London übermittelt. Am Ende des Nachtgespräches mit Urban fügte Sebastian noch etwas an. »Wollten Sie nicht wissen, ob Chapman Zugang zu Atomwaffendepots hatte?« »Niemand konnte oder wollte mir diese Frage beantworten.« »Er hatte keinen Zugang«, sagte der Alte, »aber er besitzt Land im Südosten der Grafschaft Bedford, in den sogenannten Chilteren Hills, zwischen Dunstable und Luton-Downs. Natürlich verkehrt er gesellschaftlich mit den Offizieren des dortigen DepotWachregiments. Sie sind oft seine Jagdgäste.« »Dann war er auch einmal im Depot. Diese Militäronkels zeigen doch ihre Errungenschaften gerne herum, um sich wichtig zu machen.« »Zumindest kennt er die Gegend wie seine Westentasche.« Urban bedankte sich nicht für die Information. Warum sollte er danken. Sie taten ihre Arbeit wie er seine Arbeit tat. Und sie alle wurden dafür bezahlt. * In dieser Nacht wechselte Professor Chapman seinen Rhythmus. Gegen 23 Uhr fuhr er nach Westend, wo seine modernen Labors in einem weißen Klinker-Flachbau untergebracht waren. Kurz nach Mitternacht öffnete sich das Tor, um einen Lkw hereinzulassen. Hinter dem Lastwagen schloß sich das Tor wieder. Im Licht von Scheinwerfern wurde im Hof abgeladen. Urban näherte sich der etwa zwei Meter hohen Backsteinmauer. Außer Männerstimmen und dem Brummen eines Gabelstaplers vernahm er ab und zu helles metallisches Dröhnen, das auf merkwürdige Weise nachhallte. Er erinnerte sich an Geräusche dieser Art. Sie entstanden, wenn man mit leeren Sauerstoff- oder Azetylengasflaschen umging. 113
Allein auf sein Gehör wollte sich Urban heute nicht verlassen. Vorsichtig tastete er den mit Stacheldraht und einbetonierten Glasscherben geschützten Mauerkranz ab, zog sich im Klimmzug hoch und brachte, obwohl er nur an acht Fingern hing, den Kopf ausreichend lange über die Mauer. Er hatte genug gesehen. Der Lastwagen lieferte Stahlbehälter von ungewöhnlicher Größe und Form. Sie waren gelbrot kariert, und kugelförmig mit einem Durchmesser von etwa achtzig Zentimetern. Zweifellos hielten sie einem Druck von mehreren hundert Atü stand. Nachdem der Lastwagen abgefahren war, wurden die Arbeiten in den Chapman Labors fortgesetzt. Erst am Morgen begab sich der Professor nach Hause und blieb dort bis zum frühen Abend. Vermutlich schlief er, denn die Vorhänge blieben zu. Bob Urban war überzeugt, daß jetzt eine größere Aktion bevorstand. Da vom eigenen Dienst keine Unterstützung zu erwarten war und ihn die Leute von MI-5 bezüglich seiner Beobachtungen wohl nur ausgelacht hätten, fühlte er sich im hochzivilisierten London so allein, als hätte man ihn nackt unter Kannibalen ausgesetzt. Um 18 Uhr begann es zu regnen. Wegen der frühen Dunkelheit, bedingt durch die tiefhängenden Wolken, gingen die Lichter früher an. Kurz nach 19 Uhr verließ Chapmans Bentley die Villengarage am Regents Park. Diesmal trug er nicht die übliche Gentlemankleidung, sondern schwarzen Rollkragenpullover und darüber eine ebenfalls schwarze Jacke. Es konnte aber auch ein Overall sein. Urban folgte ihm wie gewöhnlich nach Westend. Den Mini-Cooper vom Vortage hatte Urban gegen einen Sunbeam getauscht, der« kräftig geschaltet und geknüppelt werden mußte, damit er dem schnellen Bentley folgen konnte. Chapman fuhr nicht zu den Labors. Urban sah ihn im Wagen telefonieren, ehe er kurz vor Mebley auf die Harow Road abbog. Eine Meile weiter draußen stand das weiße Wäschereiauto aus Bedford. Chapman blinkte es an. Daraufhin setzte sich der Kastenlieferwagen sofort in Fahrt. Gemeinsam begaben sie sich auf die Nordum114
gehung, blieben auf ihr bis Highgate Wood und nahmen dann die Birmingham-Autobahn. Weiter im Norden hörte der Regen auf. Dafür wurde es neblig. Kein allzugünstiger Tausch für Urban. Er hatte Mühe den Kontakt zu den zwei Fahrzeugen zu halten. Sie fuhren außergewöhnlich flott. Zweifellos verfügte der Lieferwagen nicht über den serienmäßigen Dieselmotor, sondern über ein starkes Benzinaggregat. Vor Wolvertine nahmen sie eine Abfahrt, die Urbans Straßenkarte nicht verzeichnete. Aber ihr Ziel war jetzt klar. Sie rollten durch die Grafschaft Bedford. Es ging Richtung Dunstable, durch ein Flußtal hinein in die Chilteren-Hills. Oberhalb des Flusses lichtete sich der Nebel. Bald bewegte sich die Kolonne an vier Meter hohen Maschendrahtzäunen entlang. Ab und zu war ein Blechschild daran befestigt. – Betreten verboten. – Militärische Sperrzone. Urban rückte auf. Längst fuhr er ohne Licht. Chapman wäre die Verfolgung sonst aufgefallen. Da sich die Straße leicht bergwärts schlängelte, sah er, daß sich der Abstand zwischen dem Lastwagen und dem nachfolgenden Bentley vergrößerte. Plötzlich kurvte Chapman allein in ein Wäldchen ab. Urban folgte ihm auf dem schmalen Weg. Der Wald weitete sich bald zu einer etwa zwei Hektar großen Kahlfläche. Im Licht von Chapmans Scheinwerfern tauchte eine Mauer auf, darin ein kunstvoll geschmiedetes eisernes Tor, dahinter ein Haus mit bizarren Türmen, offenbar ein Jagdschloß. Vor dem Bentley öffnete sich das Tor wie von unsichtbarer Hand bewegt. Vermutlich reagierte der Mechanismus auf Funkbefehl. Drinnen umrundete der Bentley einen kunstvoll angelegten Teich mit Brunnenfiguren darin. Dann glühten seine Bremslichter auf. * Urban öffnete die schweren alten Fensterriegel lautlos. Er kam bis in die Halle, ohne daß Chapman ihn hörte. Der Professor saß vor dem brennenden Kaminfeuer, hatte ein Whiskyglas in der Hand und neben sich, auf dem Empiretischchen, zwei Sprechfunkgeräte. 115
Doch dann verblüffte der Wissenschaftler seinen späten Besucher durch eine unerwartete Reaktion. Er wandte sich Urban zu und bat ihn mit lässiger Handbewegung Platz zu nehmen. »Freut mich, Sie persönlich kennenzulernen, Mister Dynamit«, rief er. »Skotch?« Urban lehnte ab. Plötzlich schien es Chapman einzufallen. »Richtig, Sie nehmen ja nur Bourbon. Selbstverständlich gibt es in diesem Hause auch amerikanischen Whiskey. Nicht immer natürlich, aber stets dann, wenn meine Besucher diese Geschmacksrichtung bevorzugen.« »Sie haben mich erwartet«, bemerkte Urban. Es war eine Feststellung und keine Frage. »Wer außer Ihnen sollte sich sonst noch um mich bemühen.« »Nachdem Sie alle anderen Geheimdienste so bravourös abschüttelten.« »Es war leicht«, erklärte Chapman. »Niemand geht noch wirklich ambitioniert seinem Handwerk nach. Außer den gefährlichen Burschen, oder Männer wie Sie, Mister Dynamit.« »Sie kennen also meine Vorliebe für Bourbon.« »Mit ein paar Tropfen weißem Wermut.« »Sie haben sich mit mir befaßt.« »Mindestens so innig wie Sie sich mit mir befaßten. In Dalmatien, in Spanien.« Chapman mixte den Drink. »Aber hier genieße ich den Heimvorteil.« »Und ich habe den Vorteil, jetzt alles über Sie zu wissen.« »Was wissen Sie denn Schönes?« Urban kam gleich zur Sache. »Das Fehlschlagen des Atomtests auf der Fair-Isle geht zu Ihren Lasten.« Chapman schien die Sache zu bedauern. »Damals, als ich diese Miniköpfe strukturell veränderte, verfügte ich nur über geringe Mengen meiner Superbakterien. Leider.« »Heute haben Sie Tonnenmengen davon.« »Ja, es sollte genügen.« 116
»Für Ihre Giftfresser in den Drucktanks wird es ein wahrer Festschmaus werden.« Chapman bekam glänzende Augen. »Immerhin liegen in den Chilteren-Hills sechzig Prozent des britischen Atombombenpotentials. Wir schießen die Bakterien per Sonden unter hohem Druck in den Erdboden hinein. Von dort nehmen sie selbsttätig ihren durch Gene vorprogrammierten Weg.« »Wie andere ihren Weg nehmen, um ausgelaufenes Tankeröl zu vernichten, oder Blei in Äckern, Cadmium auf Viehweiden, Chlor Wasserstoffe in Flüssen…« Chapman winkte ab. »Mir brauchen Sie das nicht zu erzählen, mein Freund. Ich habe es erdacht, gefunden, weiterentwickelt.« »Und an die Sowjets verkauft.« Als wäre das eine Selbstverständlichkeit, sagte Chapman: »Nur so erhält man das Gleichgewicht der Mächte.« »Und nur so rächt man sich für die Unfähigkeit des Westens, seine Bürger vor terroristischen Anschlägen zu schützen.« Chapman blickte Urban an, als sei er erstarrt. Doch rasch entspannte er sich wieder. »Natürlich spielen bei allem, was man tut, auch Emotionen mit. Ohne Gefühl wäre man kein Mensch mehr.« Urban wurde wieder konkret. »Der Wäschereiwagen hat freie Durchfahrt zu den Unterkünften des Wachpersonals.« »Zur Vorbereitung dieser Aktion habe ich extra eine kleine Reinigungsfirma in Biggleswade gegründet.« »Auf den Rat des KGB hin?« »Ich brauchte deren Ratschläge nicht.« »Aber die Transportmöglichkeiten der roten Marine und Luftwaffe nahmen sie gerne in Anspruch.« »Wie sollte ich sonst unbemerkt binnen so kurzer Zeit mehrmals von Spanien nach Dalmatien gelangen.« »Waren Sie nicht auch heimlich in Moskau?« »Ja, letztes Jahr. Ohne daß jemand etwas davon wußte. Nicht einmal meine Sekretärin merkte es. Es fand an Pfingsten statt.« 117
Urban nahm einen Schluck. Der Bourbon war vorzüglich. Das aus Mineralwasser hergestellte Eis knisterte leise. Betulich setzte er das Glas ab und blickte ins Feuer. »Was tun wir jetzt?« fragte er. »Ja, was ist nun zu tun.« »Geben Sie auf, Chapman.« . »Geben Sie doch auf, Urban.« »Sie stehen allein auf verlorenem Posten.« Chapman lachte im Ton des haushoch Überlegenen. »Ich, auf verlorenem Posten, hier in meiner eigenen Höhle.« Im Sprechfunk erfolgte eine Durchsage. Chapman drückte die Sprechtaste und nannte ein Codewort. Bevor er sich wieder seinem Besucher widmete, warf er einen Blick auf die Kaminuhr. »In vierzig Minuten ist es soweit. Dann dürfte die Atombombenbedrohung der Welt um einige Prozent reduziert sein. Den großen Rest werden wir mit Fleiß, mit Einfallsreichtum und Ausdauer auch noch irgendwie schaffen.« »Auch die Atomsprengköpfe der Raketen in getauchten UBooten?« erkundigte sich Urban neugierig. »Ich betonte ja, mit Einfallsreichtum.« »In dieser Minute«, sagte Urban, »hält man Chapman noch für das große wissenschaftliche As, dem Westen treu ergeben. Schon bald wird Ihr Ruf nicht mehr der beste sein.« »Haben Sie Beweise.?« »Sie selbst liefern sie zu dieser Stunde in den Chilteren Hills.« »Man wird es nicht merken, ehe man wieder mal einen Test durchführt.« »Man wird es von mir erfahren, Sir.« . »Vorausgesetzt«, schränkte Chapman ein. »Sie lösen vorher das Problem, wie Sie Ihr Wissen den zuständigen Stellen übermitteln können.« Chapman griff zum Walkie-Talkie. Das war die Sekunde. Urban warf Whisky und Glas ins Feuer, sprang auf und drückte Chapman seine Pistole gegen die Schläfe. Der Sicherungsflügel der 7,65er Mauser schnappte auf den roten Punkt. 118
»Ein Wort und Sie sind ein toter Mann, Professor.« Chapman hob den Kopf, als halte er Urbans Vorgehen für eine große Dummheit. Plötzlich fühlte es Urban kalt werden, als habe sich das Fenster geöffnet und ein Windstoß fahre herein. »Eine Bewegung, Urban«, sagte jemand, »und Ihr Schädel geht durch Schrot in Fetzen.« * Bob Urban hatte Chapmans Jagdschloß dreißig Minuten lang beobachtet, bevor er eingestiegen war. Dem Umstand, daß Professor Chapman eigenhändig das Kaminfeuer in Brand gesteckt und Eis für die Drinks aus der Küche geholt hatte, glaubte er entnehmen zu dürfen, daß Chapman allein hier war. Die Anwesenheit von drei Mann Leibgarde überraschte Urban ziemlich. Nun versuchte er seinen Fehler mit einer verzweifelten Reaktion zu korrigieren. Er flankte, Chapman mit sich reißend, hinter die Sesselgruppe und trat die Stehlampe um. Sie verlosch, aber das Kaminfeuer lieferte genug Helligkeit. Außerdem hatten die Männer Lampen. Urban feuerte einen Schuß gegen die barocke Stuckdecke. Es tat ihm im Herzen weh, als der Gips herunterbröselte. Aber die Kunstschänderei brachte nichts. Hinter ihm stand einer, breitbeinig und drückte ihm einen Gewehrlauf mit Wasserrohrdurchmesser in den Nacken. Eine Waffe für die Rhinozerosjagd. Sie fesselten ihn und stießen ihn in den Keller. Noch einmal gesellte sich Chapman zu ihm. Er hatte eine Rose in der Hand, aber keine rote, sondern eine aus Metall. Die Rose schimmerte goldfarbig. »Man kann Blumen«, sagte er, »für alle Zeiten konservieren, indem man sie galvanisiert oder auch nur in Bronze taucht. Ich entdeckte ein neues Verfahren. Es fiel als Nebenprodukt bei meinen Zellkernversuchen an. Gewisse Bakterien okkupieren menschliche Körperzellen derart perfekt, daß sie quasi mumifiziert werden. Sie 119
sind ein großer Mann, Mister Urban, ich werde Sie auf diese Weise der Nachwelt erhalten.« »Und die goldene Farbe«, fragte Urban in einem Anflug von Galgenhumor, »wo bleibt die bitte?« »Die bringen wir, falls Sie es wünschen, nachträglich auf. Aber wer sollte etwas davon haben. Sie etwa? Sie sind tot. Und irgendwelche Zeugen Ihres Sterbens gibt es nicht. Vielleicht in tausend Jahren, wenn man sie bei Ausgrabungen finden wird.« »Immerhin«, sagte Urban, »es wäre dekorativ.« Chapman steckte sich die goldene Rose ins Knopfloch und gab seinen Leuten einen Wink. Sie drückte Urban auf eine Liege. »Ich nehme an«, sagte Chapman abschließend, »daß die Arbeit meiner Bakterien, speziell wenn sie sich der Zellstruktur Ihrer Nervenbahnen bemächtigen, äußerst schmerzhaft verläuft. Wenn man die Uranfüllung von Atombomben verändert, geht das lautlos vor sich. Atombomben weinen ja nicht, wenn man sie entmannt, aber Sie möchte ich nicht lange quälen. Man wird Ihnen deshalb ein starkes Betäubungsmittel verabreichen, Mister… Dynamit.« Chapman verließ den Kellerraum. Urban hörte noch lange sein schepperndes Lachen im Gewölbe. Seine Leute machten die Spritze fertig und jagten sie ihm in die Armvene. Der Einstich war das letzte, was Urban fühlte. Blitzschnell überwältigte schwarze Taubheit seinen Körper. * Urbans erster Gedanke, als er das graue Licht des Morgens vor den Augen spürte, war der, daß er träumte. Aber Tote haben keine Träume. Und daß Chapman ein Bluffer war, ließ sich mit Sicherheit ausschließen. Urban war der einzige und letzte Mann, der ihn vernichten konnte, also führte Chapman seine Absichten auch durch. Zweifellos hatte er sie bereits durchgeführt. Also mußte es sich bei den zwei unscharfen Gestalten vor Urbans Pritsche um Engel handeln. Falsch, kombinierte Urban, keine Engel, denn in den Himmel darfst du nicht. 120
»Er kommt zu sich«, sagte jemand. »Verdammt, ich bin schon längst bei mir«, fluchte Urban. »Es geht ihm offenbar gut.« Urban erhob sich, tastete sich zum Fenster, klappte es auf, atmete die frische Waldluft ein und das Giftzeug des Narkosemittels aus den Lungen heraus. Taumelig fuhr er herum. Noch dachte er, sie würden nur mit ihm spielen, so wie die Katze mit der Maus, ehe sie sie totbeißt. Aber schon wurden die Visagen dieser zwei Typen deutlicher. Urban setzte sich erst einmal hin. »Zigarette«, bat er. Sie gaben ihm eine. Es war eine stark parfümierte amerikanische. Nach zwei drei Zügen war Urban vollständig im Diesseits. »Smily, altes Ross«, rief er. »Wie kommst du hierher?« »Deine Aktivität entging uns schließlich nicht«, antwortete der andere, der sich anhörte wie Percy Nader von MI-6. – Klar, das war Percys gespreizter Orginalton Oxford. »Aber was veranlaßte euch zum Eingreifen?« »Laß ihn ackern«, dachten wir, »solange er sich dezent verhält, kann es keinem schaden.« »Aber was zum Teufel machte euch aktiv?« »Eigentlich nur ein Urlaubsgruß.« Urban überlegte. »Nicht von Chapman, der legte euch am laufenden Band aufs Kreuz.« »Ein Brief aus Dalmatien«, erwähnte Smily. »Leider brauchte er eine geschlagene Woche bis Washington. Und dann mißtraute man dem Inhalt solange, bis man eindeutig feststellte, daß es eine bekannte Handschrift war.« »Die von Midas«, ergänzte Nader. »Midas ist tot.« »Er starb am Datumstag des Poststempels.« Urban stand auf, ging hinaus und über die Treppe nach oben. Auf halber Höhe blieb er stehen, Übelkeit würgte ihn. »Und Chapman?« fragte er, nachdem es überwunden war. 121
»Nahm Gift.« »Und der Wäschereiwagen, das Virenzeug, seine Leute?« »In Gewahrsam der Polizei.« »Das war knapp, wie?« »Aber nicht zu spät.« »Dann seid ihr ja fein raus jetzt«, sagte Urban und ging weiter. Aber das er sich großartig bedankte, das fiel ihm nicht ein. Wozu sollte er sich bedanken. Sie alle wurden für ihre Arbeit bezahlt. 14. Nachdem der Fall Chapman zur Zufriedenheit aller NATO-Militärs erledigt war, verließ auch Bob Urban London. Auf dem Weg vom Taxi zur Abfertigungshalle des International-Airport hielt neben Urban plötzlich eine schwarze Rolls-Royce-Limousine. Die Tür öffnete sich. Urban wurde gebeten Platz zu nehmen. Im Fond saß Babington, der MI-6-Lord, Zylinder auf dem Kopf. Sie kannten sich gut. »Sie sehen nicht gerade aus wie ein Sieger«, rief der reichlich fette Lord aufgekratzt. »Immerhin haben Sie die Atomwaffen des Westens funktionsfähig erhalten, mein Junge.« »Gegen meine Überzeugung«, gestand Urban. »Halten Sie Atomwaffen etwa für unnötig?« »Ich mag sie nicht«, antwortete Urban. »Der Idealfall wäre gewesen, wenn alle westlichen und östlichen Atomwaffen vom Chapman-Virus zerfressen worden wären.« Babington lachte herzhaft. »Eine Utopie.« »Deshalb sehe ich auch nicht aus wie der Sieger von ChilterenHills, Sir«, erklärte Urban. Babington, der Urban sehr schätzte und nur hergekommen war, um ihm das erneut zu versichern, sagte: »Für mich sind Sie einer der größten, Bob. Schade, daß Sie ein lausiger German sind.« »Und Sie sind für mich der absolut Größte, Sir. Was für ein Glück, daß Sie kein lausiger German sind.« 122
»Und da nun einmal«, bedauerte der MI-6-Chef, »der große Geheimdienst dem großen Agenten schwerlich Blumen zum Abschied mitbringen kann, möchte ich fragen, ob Sie Interesse an einem Orden hätten.« »Besitze ich nicht schon alle, Sir?« »Was darf es dann sein?« »Wie wär’s mit einem kurzen Händedruck, Sir?« fragte Urban. Nicht aus Bescheidenheit, sondern weil er in Eile war. Vor dem Abflug der Maschine nach München hätte er an der Bar noch gerne einen Whisky genommen. ENDE
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