Hajo F. Breuer
Max Headroom Band 1
Tödliche Spots
Bastei Lübbe
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 11406 © 1988 Chrysali...
10 downloads
558 Views
555KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Hajo F. Breuer
Max Headroom Band 1
Tödliche Spots
Bastei Lübbe
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 11406 © 1988 Chrysalis Visual Programming Ltd. All rights reserved.
Herausgeber: Gustav Lübbe Verlag GmbH, Bergisch Gladbach Printed in West Germany, April 1989 Einbandgestaltung: Roberto Patelli Titelbild: Chrysalis Satz: ICS Communikations-Service GmbH, Bergisch Gladbach Druck und Bindung: Ebner Ulm ISBN 3-404-11406-X
Reporter Edison Carter kommt einem Geheimnis auf die Spur: Hyperschnelle Werbespots können den Zuschauer umbringen. Schon haben sich Killer an Edisons Fersen geheftet. Bei der Verfolgungsjagd knallt er gegen eine Schranke mit der Aufschrift »Max. Headroom 2,3 m«. Nach tiefer Bewußtlosigkeit erwacht Carter als körperloses Programm in einem Computer. Ein junges Hackergenie hat aus Edisons Bewußtsein den ersten elektronischen Menschen geschaffen: »Max Headroom«. Aber auch der echte Edison Carter überlebt den Anschlag. Zusammen mit seinem anderen Ich dreht er den Spieß um und jagt die Killer…
1. Kapitel
Die goldenen 80er Jahre lagen noch gar nicht so lange zurück. Im Grunde genommen hatte jeder, der das große Glück erleben durfte, diese Epoche von Sicherheit, Wohlstand und Ruhe zu genießen, geglaubt, das Zeitalter des Edison Carter läge höchstens zwanzig Minuten in der Zukunft. Und dann müßte eigentlich noch alles beim alten sein. Denn was kann sich in zwanzig Minuten schon groß verändern? Nicht viel. Höchstens eine ganze Welt. Heute erinnerte kaum noch etwas an die Epoche des bürgerlichen Wohlstands. Sicher, es gab noch immer Menschen, denen es relativ gutging. Menschen, die von den Früchten ihrer Arbeit leben konnten. Menschen wie Edison Carter. Aber das Heer der Armen, der Ausgestoßenen und der Chancenlosen war ins Gigantische gewachsen. Wie Ratten bevölkerten sie die großen Städte. Die Citys erstickten fast an dem Schmutz, den sie in täglich wachsenden Mengen produzierten. Vor wenigen Jahren noch blühende Zentren verkamen zu gigantischen Slums, bevölkert von der neuen Klasse der »Street People«. Ihnen vermochte keine schöne Politikerrede zu helfen. Kein noch so groß angelegtes Programm schien in der Lage, ihre Situation zu verbessern. Man konnte nicht einmal davon träumen, die Zahl der Leute, die auf den Straßen lebten, zu verringern. Denn dazu hätte man erst einmal einen Weg finden müssen, den stetigen Zustrom auf die Straßen zu stoppen.
Wer noch eine kleine Wohnung hatte, Arbeit oder sogar eine winzige Pension, konnte sich glücklich schätzen. Edison Carter wußte, wie mies es dem größten Teil der Bevölkerung ging. Wenn diese Leute erst einmal anfangen würden, über ihre Situation nachzudenken, wären Aufstände, vielleicht sogar eine Revolution, unvermeidlich gewesen. Also gab man ihnen eine Droge, um sie ruhig zu halten. Diese Droge hieß Fernsehen. Die Empfänger standen überall, in den Apartments der Wohlhabenden wie in den schäbigen Behausungen der Armen. Selbst auf den Straßen und Plätzen der Städte konnte man nirgendwohin blicken, ohne einen TV-Empfänger zu sehen. Aus »Brot und Spiele« im alten Rom waren »Brot und Fernsehen« der Gegenwart geworden. Edison Carter wußte das. Denn er arbeitete für die größte und mächtigste TVCompany im Land. Für Sender 23. Carter war Action-Reporter. Und zwar ein verdammt guter. Vielleicht der beste. Er nahm seinen Job ernst. Für ihn zählte nur eins: die Wahrheit. An diesem smogverhangenen Abend war er einer ganz heißen Story auf der Spur. Gleich würde er im ganzen Land live auf Sendung sein. Carter spürte die nervöse Unruhe einer Raubkatze, die auf Jagd geht. Die letzten Werbespots flimmerten über die Bildschirme. Die weltweit operierende ZikZak-Corporation war der größte Werbekunde von Sender 23. Von ihren Werbegeldern wurde auch Edison Carter bezahlt. Wenn seine Storys gut waren, schnellten die Einschaltquoten in die Höhe – und damit die Werbeeinnahmen. Carter saß im Hubschrauber, der ihn hoch über die gigantischen Wolkenkratzer der City trug. Über die
Funkanlage seiner elektronischen Handkamera rief er die Sendezentrale. »Hier spricht Edison Carter. Ich rufe Sender 23. Sender 23 empfangen Sie mich?« »Hier Sender 23. Wir empfangen nur Wortfetzen. Die Funkstrecke ist gestört.« Immer wieder überlagerte Rauschen die Worte des Technikers. Verdammt! Wie wollten diese Stümper eine vernünftige Bildleitung schalten, wenn sie nicht einmal eine annehmbare Tonverbindung zustande brachten? »Edison Carter an Sender 23! Na los, Jungs… unternehmt etwas!« In fliegender Hast huschten die Hände des Technikers über das Schaltpult, pegelten die digitale Datenleitung zum Satelliten ein, bis das Testbild aus Edisons Kamera störungsfrei auf den Monitoren der Sendezentrale stand. »Sender 23 an Edison Carter. Die Funkstrecke steht jetzt. Noch zwei Minuten bis zur Sendung.« Kurze Pause. Dann, zögernd: »Ihr Controller ist Gorrister.« »Danke, 23!« Auch das noch! Ausgerechnet Gorrister! Carter konnte den schmierigen Typen nicht leiden. Ein feister, arroganter Kerl, dessen Haut genauso fettig war wie seine blondgefärbten Haare. Gorrister war ein Technokrat – er hatte sich nie hier draußen im Straßendschungel als Reporter bewähren müssen. Edison wußte, daß es Gorrister in seinem bequemen Sessel in der Zentrale ziemlich schnuppe war, wie es dem Reporter draußen erging. Eine miese Situation. Denn der Reporter war voll auf seinen Controller angewiesen. Er mußte sich hundertprozentig auf ihn verlassen können. Carter hatte schon öfter mit Gorrister zusammengearbeitet. Und bisher war noch nie etwas
schiefgelaufen. Weshalb wurde er dann das dumme Gefühl nicht los, daß auf den Mann kein Verlaß war? »Edison, hier Gorrister. Halte dich bereit!« Das Gebäude von Sender 23 war eines der höchsten in der City. Mehr als 200 Stockwerke reckten sich selbstbewußt dem schmutzigen Himmel entgegen, ein äußeres Zeichen der Macht. Sender 23 brauchte sich wirklich nicht zu verstecken. Redaktionen, Studios, technische Zentrale und all die anderen Einrichtungen, die zum Betrieb eines Fernsehsenders nötig waren, lagen in den unteren Stockwerken. Wie selbstverständlich beanspruchte die Verwaltung die höheren Etagen für sich. Und irgendwie schien es ein Naturgesetz zu sein, daß der Vorstand stets ganz oben thronte. Jetzt, wenige Sekunden vor Beginn der Live-News, glich die Schaltzentrale einem Tollhaus. Murray, der verantwortliche Chefredakteur, wieselte von einem Schaltpult zum anderen. »Gorrister, ist Carter endlich an Ort und Stelle?« »Nur keine falsche Panik, Chef! Er landet in dreißig Sekunden!« »Gut, in Ordnung…« Murray war Nachrichtenmann mit Leib und Seele. Er hatte die Ochsentour hinter sich, war einer der ersten Controllergesteuerten Live-Reporter gewesen. Dann hatte er selbst als Controller gearbeitet und Standards entwickelt, die heute noch Gültigkeit besaßen. Jetzt war er Chef der Nachrichtenredaktion. Er hatte seinen Mitarbeitern unmißverständlich klargemacht, daß sie nur eine einzige Aufgabe hatten: die besten News des Landes zu produzieren. Murrays mächtiger dunkler Schnurrbart stellte wohl so eine Art Ersatz für das Haupthaar dar, das ihn schon als jungen Mann schmählich im Stich gelassen hatte. Den schütteren Haarkranz, der seine Platte wie ein Heiligenschein umgab,
konnte man beim besten Willen nicht mehr als Frisur bezeichnen. Auf sein Äußeres legte der Chefredakteur keinen besonderen Wert. Seine Krawatte hing wie üblich draußen an der Garderobe. Die schon etwas abgegriffene Weste, die er über dem Hemd trag, besaß er seit vielen Jahren. Er liebte sie heiß und innig – unter den Mädchen im Büro kursierte das Gerücht, Murray würde das Ding nicht einmal im Bett ablegen. »Satellitenverbindung herstellen!« Brauchte Gorrister eigentlich immer erst einen ausdrücklichen Befehl, bevor er handelte? Der Controller drückte einen Knopf, dann zeigte ihm sein Monitor, daß er mit ComSat verbunden war. »Edison, es ist soweit!« Die Mikrofone in Gorristers Konsole übertragen die Worte des Chefredakteurs in den Hubschrauber, der über einem der häßlichen grauen Wohnblöcke in den Außenbezirken schwebte. »Habe verstanden, 23.« »In fünfzehn Sekunden gehen wir auf Sendung… Vorspann bereithalten!« Murray starrte auf Gorristers Monitor, der die Bilder zeigte, die Carters Kamera in diesem Moment aufnahm. Er sah die lange, vernachlässigte Fassade des Wohnblocks – und den Metro-Bullen im Kampfanzug, der die verrostete Feuerleiter hinaufschlich. Im Hintergrand erklang die Stimme des jungen, gutaussehenden Ansagers mit dem betörenden Lächeln und der großen Leere im Kopf: »Und nun unser mehrfach preisgekrönter Reporter Edison Carter mit seiner Sendung ›Ich will alles wissen‹!« »Fünf, vier, drei, zwei…eins!« Gorrister drückte auf einen unscheinbaren Knopf, und im nächsten Moment war Carter im ganzen Land auf Sendung.
»Hier ist Edison Carter. Ich beantworte Fragen, die andere nicht mal stellen wagen. Heute geht es um die Frage… Wer starb im Apartment 142 im Komplex Zeta? Wer versucht, die Fakten zu vertuschen?« Das Bild schwankte ein wenig, denn Carter saß noch oben im Hubschrauber. Mit beiden Händen hielt er die Kamera vor sich und sprach ins Zoomobjektiv, das auf extremen Weitwinkel gezogen war. Die Bildschirme zeigten einen jungen, schlanken Mann. Seine Frisur war auch nicht mehr die vollste, irgendwann würde sie der seines Chefredakteurs gleichen. Auf den ersten Blick machte Edison Carter einen schlaksigen Eindruck – doch wie sehr der täuschte, sah man sofort, wenn man in seine Augen blickte. Für jemanden in seinem Alter waren sie ernst, sehr ernst. Sein Beruf brachte es mit sich, daß Carter mehr Schrecken und Elend sah, als die Mehrheit seiner Zuschauer sich überhaupt vorstellen konnte. Vielleicht waren es Carters Augen, die ihn beim Publikum so beliebt machten. Seine Nachrichtenshow kam wirklich bei allen großartig an. Pubertierende Teenager zählten ebenso zu Edisons Fans wie reife Mütter und erfolgreiche Manager oder Großväter im Rollstuhl, die sonst nur von den guten alten Zeiten schwärmten. Murray war stolz auf den Jungen. Er hatte ihn zu dem gemacht, was Carter heute darstellte. Jetzt brauchte er erst einmal eine Gelegenheit, aus dem Hubschrauber herauszukommen. »Band Augenzeugin ab!« Ein Techniker spielte die Aufnahme des Bildtelefons ein. Eine alte Frau, die im Komplex Zeta wohnte, hatte angerufen und die Sache ins Rollen gebracht. »Wir wissen nicht genau, was passiert ist, aber überall wimmelt es von Metro-Polizei. Zuerst gab es ein fürchterliches
Geräusch, dann stürzte eine Frau schreiend aus ihrem Apartment und wurde sofort weggebracht!« Eine blinkende, blutigrote Schrift im Bild signalisierte »Live«. Was ging es das Publikum an, daß das hier in Wirklichkeit eine Aufzeichnung war? Die Leute wollten unterhalten werden, und wenn ein bißchen Illusion den Nervenkitzel noch erhöhte… na und? Die alte Frau beugte sich weit nach vorn, bis ihre große Nase gegen die Optik des Vidifons stieß und dort einen häßlichen Fettfleck hinterließ. »Und was den Mann der Ärmsten angeht: den wird man wohl vom Fußboden abkratzen müssen!« Gorrister konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Solche Nachrichten liebte er. Mit verschränkten Armen stand Murray hinter dem Controller, blickte ihn mißbilligend an. Er würde nie verstehen, wie man sich am Unglück anderer auch noch laben konnte. Die beiden Männer hatten jetzt leichte Kopfhörer mit eingebauten Kehlkopfmikrofonen aufgesetzt. Während eine Live-Reportage lief, war nichts wichtiger als eine ungestörte Verbindung zum Mann vor Ort. »Kontrolle, ich verlasse jetzt den Hubschrauber!« meldete sich Carter. Der Pilot setzte die leichte Maschine auf dem freien Gelände vor Komplex Zeta auf. Der Rotor wirbelte den überall herumliegenden Unrat hoch in die Luft, doch die zerlumpten Gestalten, die sich ringsum in den Müll duckten, schien das nicht zu stören. Mit ein paar lässigen Tastendrücken aktivierte Gorrister sein Computer-Terminal. Er rief die schematische Darstellung von Komplex Zeta ab. Überall installierte Überwachungseinrichtungen, die teilweise mit SatellitenScanning operierten, zeigten stets die aktuellen Daten.
Aus dem Lautsprecher an Carters Kamera quäkte die Stimme seines Controllers. »Du gehst zu North Street Nummer 300. Am Haupteingang wimmelt’s von Metro-Polizisten. Also bringe ich dich lieber auf der Ostseite rein!« Carter hob die Kamera auf die Schulter, blickte durch den Sucher und rannte los. Das, was er jetzt sah, erschien gleichzeitig auf Millionen Bildschirmen im ganzen Land. Und auf Gorristers Kontrollmonitor. Der feiste Mann war mitten im Geschehen, aber er brauchte sich nicht aus seinem sicheren, bequemen Sessel im Sender 23 zu erheben. Ein schneller Blick auf den Computer-Bildschirm – ein blinkender Cursor-Punkt zeigte Carters Position im Komplex Zeta an. »Okay, du, jetzt gehst du nach rechts…« Auf dem Monitor tauchten zwei Polizisten in Kampfanzügen auf und waren auch schon wieder verschwunden, als Carter an ihnen vorbeihuschte. »Links ab in die Gasse!« Gorristers Kommando führte den Reporter in den schmalen Durchgang zwischen zwei Wohnblocks. Aus dem stinkenden Unrat tauchten ein paar wüst aussehende Punks auf. »Seht euch den an! Der hat ja ‘ne Kamera!« Carter hastete weiter, gesteuert von der Stimme seines Controllers. »Gleich kommt eine Tür, ein Dienstboteneingang… wahrscheinlich verschlossen.« Die Hand des Reporters tastete nach dem Türknauf. Der arrogante Kerl in der Zentrale hatte mal wieder recht. Aber nicht für lange. Ein kräftiger Fußtritt löste das Problem. Die alte Tür sprang weit auf. Die Kamera tauchte in einen dunklen Gang, der von einer trüben Neonfunzel nur spärlich erleuchtet wurde.
In aller Ruhe steckte sich Gorrister eine neue Zigarette ins Gesicht. Der Computer zeigte ihm etwas, das Carter besser wissen sollte. »Das System ortet zwei Sicherheitsposten. Denen läufst du besser nicht über den Weg. Nimm die nächste Abzweigung… ja, die hier! Nach links weitergehen… das gesuchte Apartment liegt hinter der nächsten Tür rechts!« Vor der fraglichen Tür standen zwei weitere Metro-Cops Wache. Auch diese beiden in voller, kugelsicherer Kampfmontur. Hinter den verspiegelten Visieren ihrer Helme waren keine Gesichter auszumachen. »He, was wollen Sie hier?« Leben kam in die beiden Gestalten, als sie den Reporter entdeckten. »Wie ist der hier reingekommen? Verschwinden Sie!« Doch Carter war nicht ohne Grund das As der Asse unter den Live-Berichterstattern. Schon fiel der neugierige Blick seiner Kamera durch die offenstehende Apartmenttür, saugte sich an der mittelgroßen, mittelschlanken, mittelblonden, mittelalten Frau fest, die von zwei Bullen in Zivil gestützt wurde. Im ganzen Land saßen die Menschen vor den Bildschirmen, sahen, was Carter sah, und bekamen jedes Wort mit, das er an Gorrister oder sonst wen richtete. Der Frau ging es offensichtlich mies. Doch noch lange nicht mies genug, um nicht zu erkennen, daß sie einem der bekanntesten Fernsehmänner des Landes gegenüberstand. »Ist das nicht der berühmte Edison Carter?« Fast klang ihre Stimme ein wenig enttäuscht: »Ich habe immer gedacht, Sie wären viel größer!« »Wie heißt die Frau?« flüsterte Carter in sein Kamera-Mikro. Gorristers Antwort kam prompt und lakonisch: »McWilliams, Gladys. Der Tote war ihr Mann.«
Der Reporter hob die Stimme, doch das war gar nicht mehr nötig, um die Aufmerksamkeit der Frau zu erregen. »Mrs. McWilliams, ich bin Edison Carter vom Sender 23!« »O ja!« Die Frau hing mehr zwischen den Beamten, die sie stützten, als selbst zu gehen. Doch sosehr ihr die Ereignisse auch zugesetzt hatten – für ein Interview mit dem berühmtesten Nachrichtenmann des Landes hatte sie immer Zeit. »Dies ist eine Live-Sendung! Können Sie uns erzählen, was Ihrem Mann passiert ist?« »Oh, es war schrecklich!« Gorrister freute sich, als er das Gesicht der Frau in Großaufnahme auf dem Monitor sah. Soviel ungespieltes, echtes menschliches Leid. Das war es, was die Zuschauer sehen wollten. Das trieb die Einschaltquoten in die Höhe. »Stu sah sich gerade eine Sportübertragung an… da kam der Block mit den Werbespots.« Mrs. McWilliams’ Stimme klang hysterisch. Die Frau war einem Nervenzusammenbruch nahe. »Ich bin rausgegangen, um ihm etwas zu essen zu machen, und…« Sie verdrehte die Augen und sackte bewußtlos zusammen. Ihr schlaffer Körper wäre zu Boden gefallen, hätten die Polizisten sie nicht immer noch fest im Griff gehabt. Der Beamte an ihrer linken Seite versuchte, die Spritze in seiner Jacke verschwinden zu lassen. Aber Edisons Kamera hatte sie schon unmißverständlich festgehalten. In der technischen Zentrale von Sender 23 fielen Murray fast die Augen aus dem Kopf. Er starrte auf Gorristers Bildschirm, als könne er nicht glauben, was da eben gelaufen war. »Das ist ja unglaublich… sie haben sie betäubt!« Der Controller saß weiter relaxed vor seinem Schaltpult, als ginge ihn die Sache nichts an.
Murray blickte genervt zur Seite, dorthin, wo das rote Telefon stand, das die Zentrale direkt mit der Vorstandsetage von Sender 23 verband. Das leise, aber durchdringende Zirpen ließ sich einfach nicht überhören. Er konnte die Augen nicht vom Bildschirm lassen, und doch – die großen Bosse zu ignorieren war eine der wenigen Todsünden, die ein Pressemann begehen konnte. »Was ist denn?« Murray war sich bewußt, daß er von einem Einbahn-Vidifon aus telefonierte. Er hatte keine Möglichkeit, das Gesicht seines Gesprächspartners zu sehen. Sein Boß aber hatte ihn voll im Bück, bekam auch die kleinste seiner Reaktionen mit. Murray konnte nicht glauben, was er da hörte. »Um Gottes willen, nicht jetzt! Wir sind auf Sendung!« flehte er. Doch sein unsichtbarer Gesprächspartner beharrte auf seiner Forderung. Murray versuchte es noch einmal. »Aber das ist eine Live-Sendung! Carter ist im Bild, wir haben phantastische Einschaltquoten! Sehen Sie doch auf den Monitor… unsere Quoten sind in den ersten fünf Minuten um drei Punkte gestiegen!« Aller Einsatz war zwecklos. Resignierend mußte er erkennen, daß ihm nur eins blieb – gehorchen. »Ja, natürlich… ich habe verstanden!« Murray legte den Hörer auf. Ihm war klar, daß er die Leitung damit nicht automatisch abschaltete. Wenn die Bosse ihn weiter beobachten wollten, konnten sie das nach Belieben tun. »Bildkontrolle!« Murrays Stimme versagte fast, als er das Kommando über sein Kehlkopfmikrofon gab. »Wir gehen sofort aus der Livesendung raus. Der Fernsehansager übernimmt auf mein Kommando… jetzt!« Eine schnelle elektronische Schaltung, und schon erschien der gutaussehende Ansager auf den Schirmen überall im Land.
»Meine Damen und Herren, aufgrund einer technischen Panne, für die wir Sie vielmals um Entschuldigung bitten, können wir die Edison-Carter-Sendung nicht fortsetzen. Statt dessen zeigen wir Ihnen die Wiederholung des spannenden Spielfilms…« Murray konnte das Gelaber nicht mehr mit anhören. Er trat ans Controller-Pult. Gorrister zündete sich gerade seine nächste Zigarette mit der Glut der vorhergehenden an. Die Schlafmütze hatte noch immer nicht ganz begriffen, was da eigentlich lief. »Gorrister, die Sendung wurde abgesetzt. Holen Sie Carter da raus… sofort!« Falls ihn Murrays Anordnung überraschte, ließ er sich zumindest nichts anmerken. Carter hatte natürlich nichts von dem, was sich in der Zentrale abspielte, mitbekommen. Er zog noch immer seinen Job durch, versuchte Informationen aus den stummen Polizisten herauszuquetschen, die die bewußtlose Frau fortschleiften. »In wessen Auftrag haben Sie die Frau betäubt? Zweihundert Millionen Zuschauer wollen wissen, wo Sie Mrs. McWilliams hinbringen!« In diesem Moment erlosch das Rotlicht an der Kamera. Die roten Leuchten waren ein Überbleibsel aus den Kindertagen des Fernsehens, mehr Nostalgie als Notwendigkeit. Sie zeigten an, welche Kameras auf dem Sender waren – und die von Carter war offensichtlich gerade abgeschaltet worden. »Kontrolle, was ist los?« »Deine Sendung wurde abgesetzt.« Gorrister sagte das sachlich, ohne jede Emotion. Die paar Gefühle, zu denen er überhaupt fähig war, hob er sich fürs Privatleben auf.
Der Reporter sah das anders. »Verdammt noch mal, dann mach eine Aufzeichnung. Ich lasse die Sache nicht fallen!« »Die Story ist gekippt worden. Murray bekam einen Befehl von ganz oben.« Befehle waren für den Controller etwas, über das man weder nachdachte noch diskutierte. »Ich geb dir den guten Rat… verschwinde!« Ungerührt drückte er den Knopf, der die Verbindung zu Edison kappte. »Gorrister? Gorrister!« Verzweifelt brüllte der Reporter ins Kameramikrofon, aber er bekam keine Antwort. Die Zivilcops mit Mrs. McWilliams waren längst verschwunden. Außer Carter standen nur noch die beiden Bullen in den Kampfanzügen im Korridor. Die zwei merkten sofort, daß der lästige Fernsehfritze jetzt buchstäblich allein war. Wie die Geier stürzten sie los. Ehe Edison recht wußte, was ihm geschah, prasselten die Schlagstöcke auf ihn nieder, wieder und immer wieder. Er hatte nicht die geringste Chance, sich zu wehren. Er versuchte nur noch, die kostbare Kamera mit seinem Körper zu schützen. Sie durfte auf keinen Fall beschädigt werden – sie war seine einzige Verbindung zur Außenwelt. »Gorrister!« Immer verzweifelter rief Carter nach dem Controller, doch der Empfänger blieb stumm. Die Schläger in Uniform schleiften den Reporter zum Haupteingang von Block Zeta, verpaßten ihm noch ein paar Tritte und schleuderten ihn hinaus auf die Straße. Edison rollte über den schmutzigen Bürgersteig und blieb im feuchten Rinnstein liegen. Er brauchte ein paar Sekunden, um seine Gedanken zu ordnen. Mit der Linken umklammerte er noch immer die Kamera. Drei Punks, die dem letzten Horrorfilm entstiegen zu sein schienen, erfaßten die Situation am schnellsten.
»Seht mal da! Ein besoffener Reporter! Los, nehmt ihm die Kamera weg!« Begehrliche Hände griffen nach dem Stück High-Tech, das selbst auf dem Schwarzmarkt noch einen fünfstelligen Dollarbetrag bringen würde. Doch für heute hatte Carter genug eingesteckt. Er riß dem vordersten Punk die Beine weg. Der Typ schlug der Länge nach hin. Fast flehentlich brüllte Edison: »Gorrister! Verdammt noch mal, Gorrister… ruf den Hubschrauber!« Der zweite Schläger stürzte sich auf ihn – langsam schien Carters Welt nur noch aus Schmerz zu bestehen. Der Pilot, der den Helikopter noch immer über Block Zeta in der Luft hielt, merkte, daß da unten etwas nicht stimmte. »Kontrolle, hier ist Hubschrauber sieben! Ich glaube, Edison braucht Hilfe!« Die Leitung zum Sender 23 blieb stumm. Kurzentschlossen drückte der Pilot den Steuerknüppel bis zum Anschlag nach vorn und brachte seine Maschine nach unten. »Kontrolle! Kontrolle! Gorrister!« Carter kämpfte nur noch um das nackte Leben. Die drei Straßenjungs waren schlimmer als wilde Tiere. Zu allem Unglück gab die Kamera langsam, aber sicher den Geist auf. »Edison, hierher! Schnell!« Der Pilot hatte den Hubschrauber endlich auf den Boden gebracht. In einer letzten verzweifelten Anstrengung schüttelte Carter die Angreifer ab, hastete auf die rettende Maschine zu. Wie von Sinnen brüllte er noch immer nach seinem Controller. »Verdammt noch mal! Was ist los? Gorrister… melde dich!« Carter warf die defekte Kamera durch die geöffnete Tür in den Helikopter und hechtete hinterher. »Los, nichts wie weg! Zurück zum Sender!« brüllte er dem Piloten zu. Rauhe Hände versuchten, ihn festzuhalten. Aber da
heulte die Turbine des Hubschraubers auf. Die Maschine entführte Edison in die relative Sicherheit des dunstigen Himmels.
2. Kapitel
Carter kochte vor Wut. Krachend stieß er die Tür zum Kontrollraum auf. Murray sah ein Glitzern in den Augen seines besten Mannes, das ihm noch nie zuvor aufgefallen war. Erschrocken sprang er von seinem Platz, riß sich den Kopfhörer herunter und versuchte, Carter aufzuhalten. Der Chefredakteur ahnte, was der vorhatte, aber er konnte es nicht mehr verhindern. Der junge Mann baute sich vor Gorristers Platz auf. Unbeteiligt wie immer lümmelte sich der Controller in seinem Sessel. Ehe er auch nur den Mund aufmachen konnte, schnellte Carters Hand vor und packte ihn am Kragen. Mit einer Kraft, die niemand dem hageren Reporter zugetraut hätte, zog er Gorrister aus dem Sessel. Im nächsten Moment landete seine Faust krachend am Kinn des Feisten. Gorrister flog hintenüber, riß seinen Sessel mit und landete am Boden. Nackte Panik leuchtete aus seinen sonst so gelangweilten Augen, als Carter zum Sprung ansetzte, um ihn endgültig fertigzumachen. Im letzten Moment war Murray zur Stelle und hielt den tobenden Reporter fest. »Edison, verdammt noch mal… bist du wahnsinnig geworden?« »Nur weil ich gerade fast umgelegt wurde? Wie kommst du denn auf so was?« Vergeblich wand sich der Jüngere im eisernen Griff des Chefredakteurs. Gorrister hatte sein Fett noch lange nicht weg, aber für Murray waren Schlägereien im Team undenkbar.
»Beruhige dich doch!« Es reichte, daß mittlerweile alle Kollegen erschrocken herüberstarrten. Gorrister wischte sich das Blut von der Lippe. »Die Story wurde gekippt! Ich hatte gesagt, du sollst zurückkommen!« Carter brüllte sich die ganze Wut aus dem Leib: »Du hast abgeschaltet! Deine Aufgabe ist erst beendet, wenn der Reporter wieder im Sender ist, du Idiot!« Gorrister sah, daß sein Chefredakteur Carter kaum noch bändigen konnte. Eilig rappelte er sich auf. »Murray, beruhigen Sie diesen Wichtigtuer!« Er bahnte sich einen Weg durch die Kollegen, die sich um den Schauplatz drängten, und sah zu, daß er so schnell wie möglich Land gewann. »Schaff den Kerl hier raus, Murray!« tobte Carter. »Ich hab meinen Hals riskiert, und der kommt mir mit seinen Sprüchen!« Erst als sich die Tür schon lange hinter Gorrister geschlossen hatte, wagte es Murray, den Jüngeren loszulassen. Langsam kam Carter wieder zu Atem – und zu Verstand. »Ab sofort will ich einen Controller, dem ich vertrauen kann! Den besten!« »Edison, ich war auch mal Reporter. Ich weiß, wie dir zumute ist!« Murray war einer der wenigen Menschen, denen Carter wirklich vertraute, aber ab und zu mußte man einfach hart bleiben. »Ich will den besten! Denn das hier… wird die absolute Superstory!« »Ich weiß nicht… « »Was hast du?« Murray schlug die Augen nieder. Er war lange genug im Geschäft, um zu wissen, wie sich Edison Carter gleich fühlen würde. »Deine Story ist gekippt worden… von ganz oben!«
Der Reporter starrte ungläubig, als könne er nicht begreifen, was er gerade gehört hatte. Nur ganz allmählich wurde ihm klar, was die Worte der Ansagerin bedeuteten, die von irgendeinem Kontrollautsprecher ins Studio übertragen wurden. »Ladies und Gentlemen, hier ein Hinweis für die Zuschauer, die sich gerade erst eingeschaltet haben. Edison Carters Sendung mußte aufgrund eines technischen Defekts leider abgebrochen werden. Nach unserer Spielfilm-Wiederholung können Sie sich jetzt aktiv entspannen mit Bristol Venice und ihrer Show ›Gesund und fit mit Stretching und Aerobic‹. Die nächste Edison-Carter-Sendung sehen Sie zur gewohnten Zeit wie immer live auf Sender 23!« Im 148. Stock des 23er-Towers lag der große Sitzungssaal. Wenn die hohen Herren eine Konferenz mit den Chargen vom erweiterten Vorstand abhalten wollten, mußten sie sich wohl oder übel in diese Niederung begeben. Denn zum Allerheiligsten ganz oben hatten nur sorgfältig ausgewählte Persönlichkeiten Zutritt – nicht aber die Kriecher und Knalltüten aus dem Direktorium. Seit einigen Monaten war Miles Grossberg Vorstandsvorsitzender von Sender 23. Er hatte lange intrigieren müssen, bis ihm die Vertreter der Großaktionäre im Aufsichtsrat endlich die Macht übertragen hatten. Doch der Erfolg war die Mühe wert gewesen. Auch die verkalktesten unter den Geldsäcken hatten endlich erkennen müssen, daß die Herausforderungen eines neuen Fernsehzeitalters nur von einem jungen Mann mit neuen Ideen bewältigt werden konnten. Einem Mann wie Grossberg. Knapp über dreißig, geschniegelt und gebügelt vom makellosen Scheitel bis zu den auf Hochglanz polierten Lackschuhen. Ein dynamisches Energiebündel mit rücksichtslosem Durchsetzungsvermögen. Seine vierschrötige Gestalt hätte auch in einem Metzgerkittel
gut ausgesehen. Grossberg wußte das und war stolz darauf. »Gesunder Geist in einem gesunden Körper«, lautete seine Devise. Der Mann war eitel, aber keiner wagte ihm das ins Gesicht zu sagen. In ein Gesicht, dessen Kantigkeit der Manager noch dadurch betonte, daß er sein mächtiges Kinn bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit so weit wie möglich nach vorne schob. Grossberg war stolz auf sein männlichmarkantes Profil. Momentan sonnte er sich in den Früchten seines Erfolges. Er saß allein am Kopfende des Vorstandstisches und telefonierte mit einem normalen Audiofon. Die Direktoren, die andächtig lauschend zu beiden Seiten des langen Tisches saßen, konnten weder hören noch sehen, was Grossbergs Gesprächspartner von sich gab. »Ja… ja! Gut gemacht! Also…«, Grossberg legte den Hörer auf die altmodische Gabel, »ich kann Ihnen mitteilen, Edison Carter und seine Show wurden ohne lange Verzögerung abgeschaltet. Das heißt… die Zuschauer haben nichts von dem Zwischenfall bemerkt.« Edwards, ein kahlköpfiger Mittvierziger mit schnurrbartverziertem Mondgesicht und dem ewigen Lächeln eines Mannes, der die Karriereleiter kriechend erklomm, meldete sich zu Wort: »Ist es sicher, daß unsere Psycho-Spots der Grund für diesen Zwischenfall sind?« »Noch nicht… aber ich rufe gleich mal Bryce über die Videoleitung an. Er ist der Spezialist für solche Fälle… er wird uns sicher eine Erklärung geben können!« Eine körperlose Frauenstimme schallte durch den Saal: »Der Leiter unserer Forschungsabteilung auf Videoleitung eins, Mr. Grossberg.« »Gut!« Erwartungsvoll blickten die Konferenzteilnehmer auf den übergroßen Bildschirm an der Schmalseite des Saals. Er
flackerte kurz auf und zeigte dann das ins Riesenhafte vergrößerte Abbild des nach Grossberg wichtigsten Mannes bei Sender 23. Böswillige Zungen behaupteten hinter vorgehaltener Hand, Grossberg würde bereitwilligst springen, wenn der Leiter der Forschungsabteilung pfeifen würde. In der Tat war Bryce Lynch eine ziemlich ungewöhnliche Besetzung für einen so verantwortungsvollen Posten. Eine viel zu große billige Brille war der markanteste Punkt im Milchgesicht des maximal vierzehn Jahre alten Knaben, der in der Entwicklungsabteilung von Sender 23 schalten und walten konnte, wie er wollte. Bryce war ein Glücksfall: Ein jugendliches Computer-Genie voller Wissen und Kreativität. Ein Kind, ja – doch unschlagbar auf seinem Fachgebiet. Seine Entwicklungen wie Zweiwegbildschirme und Psycho-Spots hatten Sender 23 Milliardengewinne beschert. Bryce produzierte Ideen am laufenden Band. Doch er hatte auch etwas von einer Wunderkerze an sich: Spätestens mit fünfundzwanzig Jahren würde er ausgebrannt sein und sich höchstens noch für einen Verwaltungsposten eignen. Grossberg legte das glatteste Grinsen auf, zu dem er fähig war: »Ach, Bryce… ich hoffe, wir stören dich nicht zu sehr!« »Ein bißchen schon. Ich bin beschäftigt.« Das Bürschchen war sich seiner Machtposition durchaus bewußt. »Mir ist es gerade gelungen, mit dem Computer einen Papagei zu generieren.« Grossberg verstand mal wieder nur »Bahnhof«. Aber das durfte er sich nicht anmerken lassen, nicht vor den Idioten vom Vorstand. »Meinen Glückwunsch. Und was kann der Vogel?« »Er kreischt.« »Ah, ja…!« Edwards beeilte sich, seinem Boß durch ein kleines arrogantes Lachen kundzutun, daß er Bryce für verrückt hielt. Wieder einen Kriechpunkt gewonnen!
Grossberg wurde geschäftsmäßig: »Bryce, du kannst uns sicher einige Erläuterungen zu deinen Psychospots geben, die uns helfen, den… äh… kleinen Unfall in dem Apartment zu verstehen.« »Sicher! Ich habe hier ein Rebus-Videoband.« Bryce griff hinter sich und schob eine Cassette in seinen Recorder. »Rein zufällig wurde gerade dieser Zuschauer über seinen Fernseher von uns aufgenommen. Das Ganze ist ziemlich dramatisch.« Gespannt starrten die Direktoren auf den Bildschirm. Zum erstenmal zeigte jetzt auch Cheviot so etwas wie Interesse. Er saß am Kopfende des Tisches, direkt bei Grossberg. Irgendwie schien Cheviot nicht ganz in diese Runde zu passen. Er war um die sechzig Jahre alt. Mit seinem silbergrauen Haar, der altmodischen Fliege am Hals und der ebenso altmodischen Pfeife, die er ständig schmauchte, wirkte er wie ein Fossil aus vergangenen Tagen. Im Grunde genommen war er das auch. Cheviot hatte seit den Tagen seiner Gründung für Sender 23 gearbeitet, ihn als Vorstandsvorsitzender zu der nationalen Institution aufgebaut, die er heute war. Cheviot war noch ein Fernsehmann vom alten Schlag. Vielleicht nicht von ungefähr erinnerte sein Gesicht an Pan Tau, eine Serienfigur aus längst vergangenen Zeiten, als noch Menschlichkeit und Güte gefragt waren. Bei ›Pan Tau‹ waren keine Köpfe gerollt. Doch heute trieben nur noch Skandale und Brutalo-Stoffe die Zuschauerzahlen in die Höhe. Und die Werbepreise richteten sich nach den Einschaltquoten. Also hatte der Aufsichtsrat Cheviot vor wenigen Monaten kaltgestellt und Grossberg zum neuen Vorstandsvorsitzenden berufen. Der Mann schien ihnen geeigneter für das knallharte TV-Geschäft der Gegenwart. Doch so gütig Cheviots Gesicht auch wirkte – ein Mann, der sich nicht aufs Kämpfen versteht, hätte niemals so viel erreichen können wie er. Cheviot war entschlossen, seinen Sessel zurückzuerobern. Er mußte Grossberg ausschalten – und
vielleicht bot sich ihm jetzt schon die Chance dazu. Der Mann war ein Narr. Einem Kind wie Bryce blindlings zu vertrauen! Die Aufnahme aus dem Apartment in Block Zeta flimmerte über den Schirm. McWilliams, ein unglaublich fetter Kloß von einem Mann, lag in seinem Fernsehsessel, eine Bierdose in der Rechten. Gebannt starrte er auf die Übertragung des Footballspiels, die auf der Mattscheibe desselben Fernsehgeräts flimmerte, das ihn heimlich aufnahm. Der Kommentator nutzte eine kurze Spielunterbrechung, um den nächsten Werbeblock anzukündigen. Den Anfang machte Bryces Neuentwicklung – ein Psycho-Spot für die ZikZakCorporation. Innerhalb von drei Sekunden flirrten unzählige Bild- und Wortfetzen über den Bildschirm. Die Psycho-Spots sprachen nicht den Verstand der Zuschauer an, sondern zielten direkt in ihr Unterbewußtsein. Sie hatten eine verblüffende Wirkung. Vor allem auf Stu McWilliams. Die RebusAufzeichnung endete mit einem häßlichen Knall. Angewidert und schockiert drehten die Direktoren die Köpfe weg. »Mein Gott… schrecklich!« Cheviot rang sichtlich um Fassung. Nur Grossberg war nicht aus der Ruhe zu bringen. »Bryce… kannst du uns diesen kleinen Unfall irgendwie erklären?« Nur kurz füllte das Gesicht des altklugen Knaben, der durch seine Brille glotzte wie ein Frosch durch die Lupe, den Schirm: »Ein sehr seltener Unfall… aber durchaus erklärbar.« Bryce rief eine Computergrafik ab, die sein Bild auf dem Großmonitor ersetzte. Sie zeigte ein Strichmännchen vor einem schematischen Fernseher. »Sehen Sie, der menschliche Körper wird von Abermillionen Nervenfasern durchzogen. Jede dieser Fasern führt eine Art elektrische Spannung. Sehr winzig, aber faßt man alle Fasern zusammen, kommt doch eine Leistung zustande.« Mit einem Detailbild verdeutlichte die Grafik die Worte der Knaben.
»Normalerweise wird diese Spannung durch Aktivitäten abgebaut. Aber bei sehr trägen Menschen kann es zu einer Art Stauung kommen.« Jetzt war wieder das Strichmännchen zu sehen, das von seinem Fernseher mit einer einzigen Botschaft regelrecht bombardiert wurde: »Kaufe!« »Da nun meine Psycho-Spots eine Werbebotschaft von dreißig Sekunden auf drei Sekunden komprimieren«, fuhr Bryce fort, »scheint das Gehirn dabei die Spannung aller Nervenfasern des Körpers zu bündeln. Dadurch kann es schon mal bei einigen Zuschauern zu einer Art Nervenkurzschluß im gesamten Körper kommen, der unter günstigen Umständen sogar zu… einer Explosion führt.« Zuerst lud sich das Gehirn des Strichmännchens auf, dann sein ganzer Körper – und im nächsten Moment war es verschwunden. »So einfach ist das.« »Einfach?« Cheviot konnte nicht länger an sich halten. »Es dürfte nicht einfach sein, unseren Zuschauern das zu erklären… wenn es bekannt wird.« »Nicht doch, Ben!« Zum erstenmal in dieser Konferenz meldete sich Ashwell zu Wort. Er hatte längst erkannt, daß es nicht vieler Worte bedurfte, um seinen gutbezahlten Vorstandsposten zu behalten. Hauptsache, er sagte bei Gesprächen mit Grossberg möglichst oft ja! Allerdings bereitete es ihm ausgesprochenes Vergnügen, seinem ehemaligen Chef jetzt all die Widerworte zu geben, die er so lange verschluckt hatte. »Die einzigen Zuschauer, die durch ihre Inaktivität gefährdet werden, sind Faule, Säufer und Arbeitsscheue. Wen interessieren die schon?« Grossberg nickte beifällig, dann wandte er sich wieder an seinen Forschungsleiter auf dem Bildschirm: »Könnte man diese Nebenwirkung irgendwie beseitigen?«
»Meine Aufgabe war es nur, einen Werbespot so zu komprimieren, daß dem Zuschauer keine Zeit mehr bleibt, umzuschalten!« Bryce grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Ich habe die Bombe nur erfunden, aber nicht abgeworfen. Hiachiachöööh!« Cheviot fiel fast die Pfeife aus dem Mund. Dieser Kindskopf hatte nicht die geringste Ahnung, was hier auf dem Spiel stand! Grossberg wirkte fast demütig, als er es wagte, dem Jungen zu widersprechen. »Dummerweise ist Edison Carter beinahe auf die Sache gestoßen. Und wenn die Zuschauer davon erfahren, dann…« »Sie dürfen es eben nicht erfahren!« »Na ja… vielen Dank, Bryce…« Der Junge rückte seine übergroße Brille zurecht und schaltete sich aus der Leitung. Auf dem Monitor erschien wieder das imposante Signum von Sender 23. Cheviot schien der einzige zu sein, der die Tragweite des gerade Gesehenen begriff. »Die Geschichte kann uns noch viele Schwierigkeiten machen!« »Trotzdem dürfen wir auf die Psycho-Spots nicht verzichten!« Ashwell beeilte sich, seinem Chef die Worte aus dem Mund zu nehmen. Wenn hier schon jemand kroch, hatte das gefälligst Edwards zu sein. Also setzte er noch schnell eins drauf: »Bei normalen Spots schaltet der Zuschauer immer auf den anderen Kanal… bei den Psycho-Spots hat er dazu keine Zeit!« Die einzige Frau im Direktorium meldete sich zu Wort. Miss (auf diese Anrede bestand sie!) Formby war eine gutaussehende, kühle Blondine. Und eine knallharte Rechnerin. Sie hatte sich in dieser Männerwelt durchgesetzt, ohne in fremde Betten zu hüpfen. Ihre Karriere verdankte sie
nur ihrer Leistung. Das einzige, was für sie zählte, waren Dollars. Gefühle schienen ihr überflüssiger Luxus zu sein. »Wir sind der einzige Sender, der Psycho-Spots bringt. Würden wir sie absetzen, verlören wir die ZikZak-Corporation an die Konkurrenz. Was der Verlust unseres größten Werbekunden für uns bedeuten würde, brauche ich den Herren wohl nicht zu erläutern!« »Ich habe nicht die Absicht, unseren Hauptkunden zu verlieren.« Grossberg beugte sich jovial lächelnd vor und sah beifallheischend in die Runde. Er las in den Gesichtern der Direktoren wie in einem Buch. Außer Cheviot standen sie alle voll hinter ihm – solange es zu ihrem Vorteil war. »Edwards, wie sehen die Einschaltquoten aus?« Das Mondgesicht rasselte die Zahlen nur so herunter: »Tiefstwert während der Nacht einhundertfünfzehn Millionen Zuschauer, Höchstwert zweihundertsechsunddreißig Millionen Zuschauer. Wir sind der meistgesehene Sender!« In Momenten wie diesen bedauerte es Edwards, daß es hier im Vorstand keine Fleißkärtchen mehr gab wie noch zu seiner Schulzeit. Zufrieden lehnte sich Grossberg in seinem Sessel zurück. Plötzlich war jede Freundlichkeit aus seinem Gesicht verschwunden. Er blickte Cheviot direkt in die Augen. »Der meistgesehene Sender… ich will, daß es dabei bleibt!« Cheviots Magen krampfte sich zusammen. Dieser größenwahnsinnige Aufsteiger würde alles ruinieren, was er in vielen Jahren mühsam aufgebaut hatte. Solange Grossberg das Sagen hatte, würden die tödlichen Spots weiter über den Sender gehen. Solange er das Sagen hatte…
3. Kapitel
Eine junge, attraktive Frau stieß die Schwingtür zur technischen Zentrale auf. Ihr einfaches, schmuckloses graues Kleid umspielte weich einen wohlgeformten Körper. Theora Jones war keine Schönheit im Hollywood-Sinn, doch die meisten Männer hätten für einen Abend mit ihr ein Monatsgehalt bezahlt. Theora hatte irgend etwas an sich – eine undefinierbare Aura der Faszination. Schulterlanges, mittelbraunes Haar mit einem Stich ins Rötliche umrahmte ein offenes, ehrliches Gesicht. Die ausgeprägten, fast schon zu vollen Lippen verrieten Theoras prägende Charakterzüge: Energie und Sinnlichkeit. Das Unglaublichste aber waren diese strahlend blauen Augen, die begierig all die neuen Eindrücke aufsaugten, die hier auf die junge Frau einstürmten. Zielsicher marschierte sie auf Gorristers Controller-Pult zu, beförderte erst sein Namensschild und dann die unzähligen Zigarettenkippen in den Papierkorb. »Du wolltest den besten Controller… ich habe ihn dir besorgt!« Seite an Seite betraten Carter und Murray den großen Raum. Keiner achtete auf die beiden, jeder hier hatte mit irgendeinem Problem seinen ganz persönlichen Streß. »Da bin ich aber gespannt!« Skepsis machte sich auf dem Gesicht des Reporters breit. »Halt den Mund!« zischte Murray. Er blieb vor Gorristers ehemaligem Pult stehen. »Edison Carter… Theora Jones!« »Hallo!« Carter brachte kein Wort heraus. Ungläubig starrte er auf die Frau, die fast noch ein Mädchen war. Die Kleine war
wesentlich jünger als er – und auf so ein Greenhorn sollte er sich bedingungslos verlassen? »Ah… sie hat ›Hallo‹ gesagt!« Murray war das Benehmen seines besten Mannes sichtlich peinlich.
Der Chefredakteur ahnte, was sich jetzt hinter Carters schon reichlich hoher Stirn abspielte. Er war dem Burschen wohl eine Erklärung schuldig. »Sie ist der beste Controller! Also benimm dich anständig… ich mußte sie für viel Geld von der Konkurrenz abwerben!« »Ah, ja…« Offensichtlich glaubte Carter kein Wort. Theora verschränkte die Arme vor der Brust und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Im wirklichen Leben wirkte der berühmte Edison Carter nicht halb so attraktiv wie auf dem Bildschirm… oder doch? Der Mann hatte irgend etwas an sich… »Werden Sie mit ihm klarkommen?« wollte Murray wissen. »Ich bin mir noch nicht sicher…« Murray warf seinem Freund einen vernichtenden Blick zu. »Seien Sie vorsichtig mit ihm… er ist ein Charmeur!« Carter wirkte noch immer wie in Trance. Theora sprach ihn an, als wolle sie ihn wecken. »Wie geht es Ihnen?« »Na ja, wieder ganz gut…« Mit einem Mal wußte er, warum er sich gerade noch so gefühlt hatte, als wäre er vor eine Wand gelaufen. Die Kleine vor ihm war richtig süß… irgendwie direkt sein Typ. Und wenn sie in ihrem Job wirklich so gut war, wie Murray behauptete, würden sie ein fantastisches Team abgeben. Übergangslos kam Leben in den Reporter: »Und wie geht’s Ihnen?« »Mr. Carter! Womit wollen wir anfangen?« Theora hatte den Gefühlsumschwung richtig gedeutet. Aber sie wollte keine
Affäre. Sie wollte nur ihren Job erledigen. Und zwar erstklassig. Murray kannte seinen besten Mann lange genug, um zu wissen, was jetzt in ihm vorging. »Keinen Ärger, sonst sperr ich dir das Taschengeld. Du kennst die Vorschriften!« »Ja, natürlich kenn ich die!« Murray wollte schon zufrieden zurück zu seinem Schreibtisch schlurfen, als Carter unüberhörbar fortfuhr: »Wir sollten damit anfangen, eine zu übertreten!« Der Chefredakteur kämpfte sichtlich um seine Fassung. Theora nahm am Kontrollpult Platz. Die Arbeit mit Carter würde bestimmt nicht langweilig werden. Offensichtlich war er wirklich so ein guter Nachrichtenmann, wie man von ihm behauptete. »Wir werden versuchen, rauszubekommen, warum die gute Story eines Reporters ohne Grund gekippt wird!« »Edison!« Murray wurde sich wieder einmal der ganzen Macht eines Chefredakteurs bewußt. Keiner hörte auf ihn. Carter beugte sich zu Theora hinab, die ihr ComputerTerminal aktivierte. »Mal sehen, ob Sie das Unmögliche… möglich machen können!« »Edison! Einen Moment!« Murray nahm den Reporter beiseite, während Theora ungerührt ihre Finger über das Keyboard huschen ließ. Der Ältere klang ehrlich besorgt. »Nimm einen guten Rat von mir an… laß die Finger davon! Was ist denn so Besonderes dabei, wenn mal ein Mikrowellenherd in die Luft fliegt?« »Hör auf, Murray! Seit wann bewacht die Metro-Polizei einen Mikrowellenherd? Doch höchstens, wenn sie ihr Mittagessen kocht! Ich sag dir… die Sache stinkt!« »Edison…!«
Aber der hörte schon nicht mehr zu. Fasziniert starrte er auf Theoras Monitor. Sie rief die Computergrafik des Wolkenkratzers von Sender 23 ab. »Die Story wurde von ganz oben gekippt… also fangen wir mal ganz oben an!« Das schematische Gebäude auf dem Bildschirm sackte nach unten weg, bis das oberste Stockwerk zu sehen war. Über Etage 210 thronte nur noch das riesige, Tag und Nacht beleuchtete Emblem des Senders. »Das ist die Vorstandsetage… da kommen wir nicht rein!« unkte Carter. Er sollte recht behalten, denn als Theora die Daten abrufen wollte, überlagerten fette Buchstaben das Bild: »Sicherheitszone. Zugang nur mit Code der obersten Geheimhaltungsstufe.« Die Controllerin konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Wieso erwarteten die Männer eigentlich immer, eine Frau würde vor dem kleinsten Hindernis kapitulieren? Sie ließ den Cursor-Punkt drei Etagen nach unten wandern. Stockwerk 207 war nicht geschützt. Theora rief einen Waschraum ab – und ließ den Cursor durch ein Abflußrohr laufen. Zielsicher steuerte sie ihn durch das Labyrinth der Leitungen, bis er aus dem Abfluß eines Urinals in einer Herrentoilette sprang – im Stockwerk 210. Carters Kinnladen klappte nach unten. Sie waren tatsächlich im Allerheiligsten! Theoras Computer stellte den Toilettenraum grafisch dar. »Weiter komme ich im Moment leider wirklich nicht.« Theora ließ den Cursor hin und her huschen, doch ohne den richtigen Code kam sie hier nicht weiter. Oder doch? Sie hatte ein Lüftungsgitter oben unter der Decke bemerkt. Der Cursor sprang dahinter – und entdeckte eine der allgegenwärtigen Überwachungskameras. Ein Knopfdruck
genügte, und Theora hatte das Fernsehbild der Vorstandstoilette auf ihrem Monitor. »Na gut, Theora!« Carter war wirklich beeindruckt. »Aber was haben wir davon… außer ein paar unanständigen Bildern?« »Also machen wir etwas anderes!« Theora aktivierte den Nachrichtenmonitor und sichtete die Schlagzeilen der letzten Stunde. »Ah, dem Verteidigungsministerium ist eine Rakete abhanden gekommen. Wäre das nicht etwas für Sie?« »Nein!« »In Bolivien haben sie ein komplettes Ärzteteam ermordet… und ein Atom-U-Boot ist explodiert! Wie wär’s damit?« Doch Edison Carter genoß viel lieber den Duft von Theoras offenen Haaren, als sich mit den alltäglichen Katastrophenmeldungen zu belasten. Plötzlich ertönte sanfte Hawaiimusik. Auf dem Kontrollmonitor, der die Toilette im 210. Stock zeigte, waren zwei Gestalten zu sehen. Grossberg und Cheviot. Der Vorstand wußte wirklich zu leben. Kaum folgte einer seinen menschlichen Bedürfnissen, erleichterte ihm sanfte Musik das manchmal so mühsame Geschäft! Einträchtig standen Cheviot und Grossberg vor den Porzellanbecken, zum Glück mit dem Rücken zur Kamera. »Eine unmögliche Situation, die wir nicht mehr unter Kontrolle haben!« schimpfte der Ältere. »Wir müssen uns gegen diesen Jungen absichern!« »Moment mal!« Jetzt war Edison Carter hellwach, ein Bluthund auf frischer Fährte. Grossberg gab sich so arrogant wie immer: »Bryce ist überhaupt kein Problem! Die Psycho-Spots müssen wir auf jeden Fall weitersenden!«
»Ist das Ihr Ernst? Nachdem uns Bryce das Rebus-Video vorgeführt hat?« »Wir haben keine Wahl… aus dem Vertrag kommen wir nicht raus!« Grossberg trat ans Waschbecken und spülte seine sorgsam manikürten Fingerspitzen ab. »Sie wissen genau, einen Werbevertrag mit der ZikZak-Corporation kann man nicht so einfach ignorieren!« »Vertrag oder nicht, wenn die Wahrheit bekannt wird, kriegen wir unglaublichen Ärger! Und Carter ist heute der Wahrheit sehr nahe gekommen!« Wütend schleuderte Grossberg das Handtuch auf die Erde und verließ den Raum. Carter konnte sein Glück kaum fassen. »Theora, spielen Sie mir das letzte noch mal vor!« Die Controllerin ließ den Video-Mitschnitt zurückspulen. Noch einmal knurrte Cheviot: »Und Carter ist heute der Wahrheit sehr nahe gekommen!« »Wirklich interessant…« Nichts mehr konnte Edison Carter jetzt noch aufhalten.
Die tagsüber von Leben nur so wimmelnde Nachrichtenzentrale wirkte wie ausgestorben. Jetzt, mitten in der Nacht, schliefen die meisten Zuschauer. Und für die, die noch auf den Beinen waren, genügte ein Programm aus der Konserve. Ein einziger Controller-Platz war noch besetzt. Theora Jones starrte konzentriert auf ihre Monitore. Den Regen, der in schweren Tropfen gegen die Fenster klatschte, nahm sie nicht wahr. Sie hatte nur Augen für Edison Carter. Er war im beinahe menschenleeren Hochhaus unterwegs, um das Geheimnis zu klären, dessen Lösung er angeblich schon so
nahe gewesen war. Seine Reporterkamera hatte er dabei. Über sie und die überall eingebauten Sicherheitskameras stand er in direkter Verbindung mit seiner Controllerin. Im Augenblick sah er sich im Stockwerk 21 um. »Bleiben Sie, wo Sie sind… und warten Sie!« kam Theoras Anweisung über Funk. Carter hätte sowieso nicht weitergekonnt, denn die schwere Tür vor ihm blieb trotz seiner Bemühungen fest verschlossen. »Können Sie die Sicherheitstür öffnen?« In den wenigen Stunden, die er jetzt mit Theora zusammenarbeitete, war sein Respekt vor ihren Fähigkeiten mächtig angewachsen. Doch diesmal mußte die junge Frau passen: »Nichts zu machen! Nur ein Geheimcode öffnet die Tür!« »Was ist ein Rebus-Video?« Wenigstens ein Rätsel wollte Carter lösen. »Rebus ist ein Bilderrätsel… frei übersetzt, ›Dinge, die sich ereignen‹. Vielleicht irgendeine geheime Aufnahme.« »Haben Sie schon was über den Namen erfahren?« »Kein Bryce auf der Personalliste… auch kein Gehaltskonto. Wo die den wohl versteckt haben?« Theoras Finger vollführten einen rasenden Tanz auf dem Keyboard. »Ich versuche was anderes…« Wieder zeigte ihr Monitor eine Darstellung des 23er-Towers, ging von oben nach unten jedes Stockwerk durch. Rasend schnell leuchteten Daten auf und verschwanden wieder. Dann hielt das Bild an, Buchstaben und Zahlen blinkten blutigrot auf. »Ich habe ihn… über die Liste der Krankenversicherung. Lynch, Bryce… Forschung und Entwicklung, Etage 13.« Carter zog eine säuerliche Miene. »Ich enttäusche Sie nur ungern, aber in diesem Gebäude gibt es keine 13. Etage.« Wieder huschten Theoras Finger über die Tastatur. Eine Codesperre, die den Zugriff auf bestimmte Teile des
Datenspeichers verhindern sollte, war kein Problem für eine Hackerin wie sie. Schon zeigte ihr Monitor die schematische Darstellung des 13. Stockwerks. »Da haben wir’s ja!« Carter fackelte nicht lange und stürmte die Nottreppe hinab. Da war tatsächlich eine Feuertür! Was man nicht alles entdeckte, wenn man einmal auf den Aufzug verzichtete! »Können Sie die Tür öffnen?« Er wußte, daß Theora ihn auch hier mit den Überwachungskameras verfolgen konnte. »Schon geschehen!« Die junge Frau ließ den Cursor auf ihrem Monitor über die Darstellung des 13. Stockwerks wandern. Im Nu hatte sie alle wichtigen Punkte erfaßt. Und vor allem den wichtigsten: »Auf dieser Etage scheint es keine Sicherheitskräfte zu geben!« Sie fand eine Kamera direkt neben dem Eingang zur Forschungs- und Entwicklungsabteilung. Carter stand hilflos vor dem verschlossenen Portal. »Ein Computerschloß! Ich brauche den Code!« »Ich weiß… ich kann es sehen! Machen Sie eine Großaufnahme!« Carter aktivierte seine Kamera, und Theora hatte die Tasten formatfüllend auf dem Bildschirm. »Ich schalte auf Infrarot… dann sehe ich, welche Tasten häufiger gedrückt werden… einen Moment.« Nur ABC2, DEF3, GHI4 und JKL5 kamen in Frage. Offensichtlich ein Vierercode! »Dann wollen wir mal sehen…« Theora suchte nach weiteren Daten, die ihr vielleicht helfen konnten, den Code zu entschlüsseln. »Also… Bryce Lynch, geboren am 7. Oktober 1988. Das ist ja noch ein Junge!« Die Controllerin war verunsichert. War sie wirklich auf der richtigen Fährte?
Sie ließ ihren Computer in drei Dimensionen arbeiten, jeden einzelnen Buchstaben und jede Ziffer auf dem Monitor zum Anfang einer nach hinten ansteigenden Reihe werden. Ein Vierercode – das bedeutete, zu jedem unverschlüsselten Zeichen mußten vier weitere hinzukommen. Jetzt zog sie eine Diagonale durch den Datencubus. »Versuchen Sie’s mal mit B-Z-2-U-H«, gab sie über Funk an Carter durch. Der tippte den Code in das Schloß. Nichts. »Dann probieren wir’s mal mit dem diametralen Code… I-J2-F-I.« Kaum hatte Carter die Daten eingegeben, zeigte ein kurzes Summen an, daß die Tür offenstand. Anerkennend nickte der Reporter Richtung Überwachungskamera. Sein Respekt vor Theora wuchs mit jeder Minute. Vorsichtig betrat er die so gut gesicherte Forschungs- und Entwicklungsabteilung. Irgendein schreckliches Geheimnis mußte hier verborgen sein. Sonst hätte sich niemand die Mühe gemacht, die Existenz des 13. Stockwerks und seines geheimnisvollen Herrn so sehr zu verschleiern. Es war still in dem großen Raum, der wie die Schaltzentrale eines Wahnsinnigen wirkte. Computer, wohin Carters Kamera auch blickte! Spielerisch ließ der Reporter seine Finger über einer der Tastaturen gleiten – und bekam fast einen Herzschlag, als das schrille Kreischen eines Papageis die unnatürliche Stille zerriß. Der Vogel saß in einem Käfig. Er blickte auf einen Monitor, auf dem eine Computergrafik sein Ebenbild zeigte. Der elektronische Papagei dort reagierte völlig selbständig. Als wäre er kein Programm, sondern wirklich lebendig. Carter übersah das Hubschraubermodell in einem Wandregal. Ein Fehler – denn das Spielzeug verfügte über eine eingebaute Minikamera. Und die übertrug das Bild des Eindringlings auf
einen Computermonitor in einem Badezimmer auf derselben Etage. Der Forschungs- und Entwicklungsleiter von Sender 23 genoß gerade ein warmes Bad mit viel Schaum. Bryce liebte es, seine knallgelben Plastikentchen schwimmen zu lassen. Schnüffler dagegen liebte er überhaupt nicht. Er griff zu seinem kleinen drahtlosen Telefon und tippte die Nummer der Sicherheitszentrale ein. Bisher war die Nacht für die Wachmänner von Sender 23 reine Routine gewesen. Keiner der Monitore zeigte etwas Ungewöhnliches an. Auch der Anruf, der eben hereinkam, war offensichtlich nicht ernst zu nehmen. Trotzdem hielt es Wächter Johnson für besser, seine Schichtleiterin zu informieren. »Ich habe einen Scherzbold am Telefon. Er behauptet, im 13. Stock würde eingebrochen.« Dabei wußte schließlich jeder hier, daß im 23er-Tower auf das zwölfte Stockwerk direkt das vierzehnte folgte. Doch Amanda Exeter sprang wie elektrisiert aus ihrem Sessel. Daß so etwas immer ausgerechnet in ihrer Schicht passieren mußte! »Wer ist der Anrufer?« »Ein gewisser Lynch… Bryce Lynch! Klingt reichlich grün, der Knabe!« Amanda Exeters Position brachte es mit sich, daß sie einige Geheimnisse kannte, von denen ihre Untergebenen nichts ahnten. Das des 13. Stockwerks gehörte dazu. »Geben Sie Alarmstufe Rot! Sofort!«
Edison Carter ahnte noch nichts von dem Unheil, das sich über seinem Kopf zusammenbraute. Er suchte das Rebus-Video.
»Was ist mit dem Wiedergabegerät?« kam Theoras Vorschlag über Funk. »Volltreffer!« Im Cassettenschacht der großen Videoanlage steckte das unscheinbare schwarze Gehäuse mit der Aufschrift »Rebus«. Theora lächelte. »Die Jungs denken sich doch immer wieder dieselben Verstecke aus… auch die raffinierten. Ich weiß eine Menge über Jungs…!« »Ach… was Sie nicht sagen!« Carter verbarg seine Unsicherheit hinter einem arroganten Lächeln. Wollte Theora damit andeuten, daß sie ihn durchschaut hatte? Zuzutrauen wäre es ihr! Inzwischen hüpfte Bryce zähneklappernd aus der Wanne und warf sich einen Bademantel um die schmalen Schultern. Das Geturtel der beiden verschaffte ihm die Atempause, die er brauchte, um die Entdeckung seines größten Geheimnisses zu verhindern. Er setzte sich auf den Toilettendeckel und drehte den Computer zu sich herum. Wie gut, daß er in jedem Raum seines Apartments mindestens einen Anschluß hatte installieren lassen! »Kamera justieren!« Auf Theoras Kommando pegelte Carter sein Gerät ein. Endlich war sie zufrieden: »Gut! Jetzt können Sie das Band abfahren!« Auf seinem Monitor sah Bryce, wie Carter den Recorder startete und seine Kamera auf den Bildschirm richtete. Der wollte das geheime Band nach draußen übertragen! Aber nicht, wenn Bryce ein Wörtchen mitzureden hatte. Für ein Genie wie ihn war es kein Problem, die Datenstrecke von der Kamera zum Controllerpult zu blockieren. Im nächsten Moment sah Theora nur noch schwarzweißes Geflimmer. »Edison… Edison! Ihre Kamera überträgt nicht!«
Doch die Blockade funktionierte in beide Richtungen. Carter konnte seine Controllerin nicht mehr hören. Bewußt war ihm das nicht. Er starrte nur fasziniert auf das Band, das über Stu McWilliams’ Fernseher aufgenommen worden war. Es zeigte einen unglaublich fetten, unglaublich trägen Mann um die Fünfzig, der in seinem Sessel mehr lag als saß. Man hätte ihn für einen gestrandeten Wal halten können, wäre da nicht die Bierdose in seiner feisten Rechten gewesen. Gebannt starrte der Dicke auf den Bildschirm, der ihm zeigte, wie andere sich beim Sport abrackerten. Dann kündigte der Reporter den Werbeblock an – und im nächsten Moment lief der Psycho-Spot der ZikZak-Corporation ab. Innerhalb von drei Sekunden strömte eine unglaubliche Zahl von Eindrücken auf den Fetten ein. Alle signalisierten ihm nur eins: »Kaufe!« Aber Stu McWilliams reagierte ganz anders. Er riß die Augen auf, als er spürte, daß sein träger Körper die unzähligen Impulse nicht mehr ableiten konnte. Bevor er eine Chance hatte, sich aus seinem Sessel zu wuchten, tänzelten blaue Entladungsblitze über seine Haut. Der Mann blähte sich immer weiter auf, bis er seinen sowieso schon enormen Umfang fast verdoppelt hatte – und explodierte! Edison Carter zuckte zusammen. Ungläubig starrte er auf das Bild, das Stu McWilliams in seiner guten Stube zeigte. Fein säuberlich auf Decke, Fußboden und Wände verteilt. »O Gott…«, stöhnte der Reporter. »Kontrolle, haben Sie alles?« Keine Antwort. »Kontrolle… Kontrolle!« Da stimmte etwas nicht! Er rannte zu der Hintertür, die Theora für ihn geöffnet hatte. Da war die Überwachungskamera. »Warum antworten Sie nicht?«
Hier draußen funktionierte Bryce Lynchs Blockade nicht. »Edison, Gefahr! Ich hole Sie raus!« Endlich war er wieder mit seiner Controllerin verbunden. Vielleicht schon zu spät. Überall flackerten die roten Alarmsignale, heulten Sirenen ihr nervenzerfetzendes Geschrei durch die leeren Flure. Carter stürzte das Treppenhaus hinab. Über ihre Monitore sah Theora, wie ein Trupp Wachmänner im vierzehnten Stock aus dem Aufzug sprang und zur Nottreppe hastete. Carter hatte den zwölften Stock erreicht, rannte zu den Aufzügen, die ihn in Sicherheit bringen konnten. Doch seine Controllerin wußte es besser. »Edison, sofort zurück! In beiden Fahrstühlen sind Sicherheitsbeamte!« Er wirbelte auf dem Absatz herum, als sich vor ihm die Doppeltür öffnete und eine Horde Muskelmänner in schwarzen Uniformen ausspie. »Da ist er! Hinterher! Stehenbleiben!« Auf gut Glück rannte Carter los. Er war seiner Controllerin auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Theora jagte den Cursor über die schematische Darstellung der zwölften Etage auf ihrem Schirm. »Laufen Sie nach rechts… und stehenbleiben!« Schwer atmend versteckte sich Carter in der dunklen Nische, an der er ohne Theoras Hilfe so achtlos vorbeigelaufen wäre wie die Wachmänner, die durch die nächste Tür hasteten. »Er muß hier entlang sein! Hinterher, schnell!« Kaum waren die Kerle verschwunden, rannte der Reporter in entgegengesetzter Richtung zurück. Das Heulen der Sirenen machte ihn fast wahnsinnig. Da vorn! Der Aufzug! Gleich hatte er es geschafft… wären da nicht die beiden Sicherheitsmänner gewesen, die unmittelbar vor ihm aus einem Mannluk in der Decke sprangen.
Carter duckte sich, ließ den Schlag des einen ins Leere laufen. Gleichzeitig rammte er dem zweiten erst die Kamera in die Magengrube und dann, als er zusammenklappte, das Knie gegen die Kinnspitze. Lautlos brach der Mann zusammen. Sein Kollege hatte sich gefangen und wollte sich von hinten auf Carter stürzen. Doch der war jetzt nicht mehr zu bremsen. In einer weitausholenden Bewegung ließ er seine Kamera kreisen, bis sie krachend am Kopf des Angreifers landete. Wirklich ein vielseitiges Modell! Auch der zweite Gegner würde so schnell nicht wieder aufstehen. Der Reporter sprang in den Aufzug. Zischend schloß sich die Tür – und im nächsten Moment jagte die Kabine mit wahnwitziger Beschleunigung nach oben. »Theora«, keuchte Carter, »ich will ja nicht rummeckern… aber fahren wir nicht in die falsche Richtung?« »Mein Computer wird von irgend jemandem gestört!« An ihrem Bildschirm konnte die junge Frau die rasende Fahrt mitverfolgen. Doch alle Befehle, die sie eingab, um den Lift zu stoppen, versandeten irgendwo im Netzwerk. Bryce auf seinem Klodeckel triumphierte. Er würde den Spion oben bei Grossberg abliefern. Theora hatte andere Pläne: »Festhalten, Edison… ich versuch’s mit der Notbremse!« Die Fahrstuhlkabine blockierte im Schacht – so hart, daß Carter erst gegen die Decke und dann zurück auf den Boden geschleudert wurde. »Verdammt!« Wütend hämmerte Bryce auf sein Keyboard. Da war noch jemand im Netz – jemand, der es fast mit ihm aufnehmen konnte. Fast. »Edison, schnell raus! Ich kann den Fahrstuhl nicht länger anhalten!« Theora spürte, daß sie gegen den anderen User im System nicht ankam.
Carter rammte seine Kamera gegen den Notausstieg im Dach der Kabine. Das verfluchte Ding klemmte! Der Junge vor dem Computer im Badezimmer lachte triumphierend. Er hatte den fremden Block umgangen und ließ den Aufzug mit voller Beschleunigung abwärts sausen. Erst kurz vor dem Aufprall im Keller fing er ihn brutal ab. Wer jetzt noch in der Kabine war, lag garantiert bewußtlos am Boden. Doch in der Kabine war niemand mehr. Carter hing an der Notleiter im Aufzugschacht – in Höhe des 128. Stocks. Er zwang sich, nicht in die Tiefe zu blicken. Die Kamera am Trageriemen über seiner Schulter zog schwer an ihm. Vorsichtig kletterte er drei Sprossen herab und stieg durch die Tür, die Theora ihm öffnete. Jetzt hatte sie ihn wieder auf dem Monitor – doch sie klang alles andere als zuversichtlich. »Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll!« Erstaunlicherweise blieb Carter völlig gelassen. »Kann man auf dieser Etage in einen Expreßlift einsteigen?« Ein kurzer Computercheck genügte: »Ja, es gibt hier einen, der bis in den Keller durchfährt. Sie müssen nach rechts laufen!« Carter rannte los. Sekunden später schlossen sich die Türen der Expreßliftkabine hinter ihm. Er atmete tief durch. Hatte er es wirklich geschafft? Nicht, wenn Bryce Lynch noch ein Wörtchen mitzureden hatte. Das hier war für ihn so etwas wie ein Computerspiel. Bryce liebte Computerspiele. Und er haßte es, dabei zu verlieren. Er rief den Sicherheitsdienst: »Er ist euch entkommen! Er fährt in die Tiefgarage!« Im siebten Tiefgeschoß herrschte völlige Stille. Aber nur so lange, bis Edison Carter aus dem Expreßlift stieg und versuchte, einen der hier geparkten Turbinenwagen zu
knacken. Im nächsten Moment jaulte die Alarmanlage des Wagens los. Bei den nächsten beiden war es das gleiche. Wütend hämmerte Carter gegen das Blech. Der Lärm würde die Wachbullen in wenigen Augenblicken herführen. Da! Endlich hatte er auch mal wieder Glück! Hinter dem Wagen stand ein Motorrad. Eine Cross-Maschine. Der Besitzer hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, den Zündschlüssel abzuziehen. Als die Wachen brüllend aus dem zweiten Aufzug stürmten, knatterte der altertümliche Zweitaktmotor los, und Carter brauste davon. Aber so wie Theora konnte sich auch Bryce der allgegenwärtigen Überwachungskameras bedienen. Er würde dem Fliehenden die Sache ein wenig erschweren. Für den besten aller Hacker war es eine Kleinigkeit, dem Computer ein Feuer in der Tiefgarage vorzugaukeln. Im nächsten Moment setzte die automatische Sprinkleranlage alles unter Wasser. Bryce lachte. Für einen Motorradfahrer würde es jetzt ziemlich rutschig werden. Carter hatte seine Kamera vor sich auf den Tank gelegt, damit Theora über jede seiner Bewegungen im Bilde war. Er jagte auf eine Rampe zu – und wäre fast gestürzt, als er die Maschine auf dem nassen Betonboden abbremsen mußte. Denn von vorne hastete ein zweiter Trupp Wachmänner auf ihn zu. »Sie können uns nicht entkommen! Anhalten!« Den Teufel würde er tun! Carter jagte die Maschine auf die zweite, hintere Ausfahrt zu. Die war zwar von einer Schranke blockiert, aber als Theora das Hindernis auf ihrem Monitor sah, öffnete sie es. Damit war Bryce nicht einverstanden. Er gab den Schließbefehl.
Theora hob ihn auf. Mehrmals zuckte die Schranke hin und her, bis es der jungen Frau gelang, sie in geöffneter Stellung zu blockieren. Carter jagte auf die Schranke zu. »Max. Headroom 2.3m« stand auf dem Balken. Eine lichte Höhe von 2,3 Metern war auch für die hochbeinige Cross-Maschine mehr als genug. Bryce in seinem Badezimmer fluchte leise vor sich hin. Er haßte es, ein Spiel zu verlieren. Und der Motorradfahrer würde entkommen, wenn nicht… Der Junge hatte seine Position bei Sender 23 nicht ohne Grund inne. Irgendwas fiel ihm immer ein. Wenn er die Schranke nicht senken konnte, mußte er die Flucht eben auf andere Art verhindern. Unter der Schranke befand sich eine versenkbare Rampe im Boden, die unbefugten Fahrzeugen den Zutritt verwehren konnte. Bryce gab seinem Computer den Befehl, die Rampe hochzufahren. Carter hatte es fast schon geschafft, als sich unter seiner Maschine der Boden hob. Ihm blieb nicht einmal mehr ein Augenblick für eine Reaktion. Die schräge Fläche katapultierte die Maschine erst nach oben, dann hielten Sperrdorne am Ende der Rampe sie ruckartig fest. In hohem Bogen wurde der Reporter aus dem Sattel geschleudert. Laut schreiend flog er Kopf voran auf die geöffnete Schranke zu. Die Schrift »Max. Headroom 2.3m« wurde unnatürlich groß vor seinen Augen. Dann prallte Carters Stirn genau zweihundertvierunddreißig Zentimeter über dem Boden gegen den massiven Balken. Es war, als hätte jemand dem Reporter den Strom abgeschaltet.
4. Kapitel
Als Theora die Unfallstelle erreichte, kündeten nur noch ein paar Glassplitter und Reste der Kamera von dem Drama, das sich hier vor wenigen Minuten abgespielt hatte. Und dann war da noch der Blutfleck an der Schranke, genau zwischen »Max.« und »Headroom«. Von Carter und seinen Jägern fehlte jede Spur.
Noch war der Reporter nicht tot. Die Wachmänner hatten ihn zu Bryce gebracht. Bewußtlos und schwer verletzt, aber immerhin atmete er noch. Jetzt war der Junge allein mit dem Opfer seines Computerspiels. Die Wachleute waren froh gewesen, als sie die elektronische Hexenküche im geheimen 13. Stockwerk wieder verlassen durften. Über eine Video-Konferenzschaltung hatte sich Bryce mit Cheviot und Grossberg in Verbindung gesetzt. »Warum hast du das getan?« fragte der Ältere vorwurfsvoll. Bryce ging jedes Unrechtsbewußtsein ab. »Er hat das RebusVideo gesehen! Wir mußten etwas unternehmen!« »Carter ist der beste Reporter, den wir haben«, knurrte Cheviot. »Seine Sendung hat ihn auf der ganzen Welt berühmt gemacht!« Grossberg mischte sich ein. »Er hat das Band gesehen, Ben!« Cheviot war mit seiner Geduld am Ende. Er nahm die längst erkaltete Pfeife aus dem Mund. »Ich setze die Psycho-Spots sofort ab.« »Auf keinen Fall!« Grossberg gab sich jetzt knallhart und eiskalt. Cheviot traute seinen Ohren nicht. Begriff dieser
schleimige Karrieremacher nicht, was hier auf dem Spiel stand? »Um Gottes willen! Wollen Sie den Sender ruinieren, nachdem wir ihn so weit gebracht haben? Die Psycho-Spots müssen abgesetzt werden… zumindest bis wir wissen, wie gefährlich sie sind!« Cheviot deutete Grossbergs undefinierbaren Blick als Zustimmung. Er wandte sich dem Jungen zu, der den Streit der beiden Erwachsenen mit Unverständnis verfolgt hatte. Das waren doch die Chefs. Sie wußten, was richtig war. Richtig konnte aber immer nur eins sein – oder? Das Hacker-Genie war reichlich verwirrt über die Tatsache, daß zwei Bosse zwei unterschiedliche Meinungen vertraten. »Bryce, der Mann muß ärztlich versorgt werden!« Damit war der Fall für Cheviot abgeschlossen. Er schaltete sich aus der Leitung. Für Grossberg hingegen fing die Sache gerade erst an. »Kannst du mir sagen, wieviel Carter entdeckt hat, Bryce?« »Fragen Sie ihn, wenn er wieder bei Bewußtsein ist«, antwortete der Junge in aller Unschuld. »Bryce…!« Unwillig verzog Grossberg das Gesicht. »Deine Naivität ist geradezu rührend, aber diese Frage muß beantwortet werden, bevor er wieder zu sich kommt!« »Hmm…« Der Junge ging den Fall genauso an, wie er irgendein Computerspiel angegangen wäre. »Vielleicht können wir seine Gedanken lesen!« »Bryce!« Grossberg stand kurz vor einer Explosion. Dieses wahnsinnige Genie raubte ihm noch den letzten Nerv. »Nein, nein, ich meine es ernst!« Bryce versuchte, so erwachsen wie möglich durch seine Brille zu blicken. Da er unter seinem großkarierten Bademantel nur einen Pyjama trug, gelang ihm das nicht ganz. Aber immerhin reichte es, um Grossberg neugierig zu machen. »Ich könnte eine Datenbank aufbauen, indem ich seinen Gedächtnisspeicher anzapfe!«
»Gedächtnisspeicher?« Der Vorstandsvorsitzende haßte es, wenn ihm dieses altkluge Bürschchen mit Begriffen kam, die er nicht einmal ansatzweise verstand. »Na klar… der in seinem Kopf, verstehen Sie?« Grossberg konnte seinen Unwillen kaum noch verbergen. »Nein, ich verstehe überhaupt nichts!« Manchmal stellte er sich vor, er wäre Farmer – und Bryce ein Hühnchen, dem er langsam und mit Genuß den Kopf nach hinten drehen konnte. Das Knäblein genoß es regelrecht, ihn spüren zu lassen, wie wenig Ahnung er hatte. »Das Gehirn funktioniert wie ein binärer Computer. Es gibt nur Ja- und Nein-Stellungen«, dozierte Bryce wie ein HarvardProfessor, der sich dazu herabläßt, seine Arbeit vor einem Haufen Erstkläßler zu erläutern. »Darauf basiert mein Computer-Regenerationsprogramm. Ich kann Carters Gedächtnis in den Rechner einspeisen und ihn dann regenerieren. So wie den Papagei.« »Papagei?« Grossberg verstand immer nur Papagei. »Ja, genau. Und dann könnten wir Carters Computerkopie fragen, was er alles weiß… und zwar, bevor das Original aufwacht.« »Na gut.« Langsam wurden Grossberg die Zusammenhänge klar. Hatte der kleine Schwätzer nicht was von einem Papagei gefaselt, den er im Computer »erschaffen« haben wollte? Wenn es Bryce wirklich gelang, das Gedächtnis des Schnüfflers auf die Speicherplatten seines Computers zu übertragen, würde er ihm glatt eine Prämie zukommen lassen. Vielleicht einen ganzen Karton mit Lollipops. Oder doch nur eine Schachtel? Zuviel Großzügigkeit würde den Jungen nur verderben. Da fiel ihm noch etwas ein. Reporter wie Carter arbeiteten nie allein.
»Was ist mit dem Controller Gorrister? Weiß er auch, was sich auf dem Rebus-Band befindet?« »Unwahrscheinlich! Ich hatte die Übertragung unterbrochen. Natürlich… hundertprozentig sicher bin ich mir nicht!« Grossbergs Miene wurde undurchdringlich und kalt. »Aha… dann muß ich auf Nummer Sicher gehen.« Das gefühllose Grinsen im Gesicht seines Chefs irritierte Bryce. Zum erstenmal an diesem Abend wirkte er unsicher. Der Vorstandsvorsitzende sprach in einem Ton, den er aus den billigen alten Gangsterfilmen abgekupfert hatte, die das Nachtprogramm von Sender 23 bereicherten: »Ach, ich hasse es, Angestellte zu verlieren.« Meinte er wirklich, was er da sagte? Im Grunde genommen konnte Bryce das egal sein. Er hatte nur seinen Job zu erledigen, mehr nicht. Alles andere war Sache der Bosse. Der Junge stand auf und legte dem immer noch bewußtlosen Reporter Elektroden an den Kopf. »Die Aufsichtsbeamtin, bitte.« Theora Jones hatte ihren Reporter verloren. Das war so ziemlich das Schlimmste, was einem Controller passieren konnte. Hatte Murray nicht gesagt, sie wäre die beste? Also mußte sie ihren Mann wiederfinden. Und zwar schnell. »Hier ist die Aufsicht«, plärrte es aus dem kleinen Lautsprecher in der Konsole. Theora versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. »Ja, also… ich bin auf der Suche nach einem Mr. Edison Carter… Reporter beim Sender 23!« »Identifikationscode!« kam die knappe Aufforderung. »Sein ID-Code lautet 7-4-9-2-8-B-D-G-6-6-2-9.« »Was ist passiert?« wollte die unpersönliche Stimme wissen. »Motorradunfall… Sektion fünf, Sender 23.« Die Frauenstimme zögerte einen Moment. Offensichtlich rief sie ihre Daten ab. Dann: »Nein, bei uns ist niemand mit diesem
Code gemeldet worden. Versuchen Sie’s doch mal bei den Organbanken!« Theora spürte, wie sich etwas in ihr zusammenzog. Plötzlich hatte sie einen Kloß im Hals. Sie konnte nur noch mühsam weitersprechen. »Bei den Organbanken liegen doch nur Tote…!« »Ja, ganz richtig.« Die Frau am anderen Ende der Leitung schien nicht einmal einen Funken Gefühl zu besitzen. Theora unterbrach die Verbindung. Im Augenblick war sie vielleicht der einsamste Mensch der Welt.
Grossberg hatte es in seiner Vorstandsetage nicht mehr ausgehalten. Er war hinuntergestiegen in die Niederungen des 23er-Towers. Ein Aufenthalt hier unten im 13. Stockwerk war eigentlich weit unter seiner Würde. Aber die Sache war viel zu wichtig, um sie Bryce ohne Aufsicht zu überlassen. Der Manager rannte auf und ab wie ein Tiger im Käfig. Bryce saß am zentralen Schaltpult. Von hier aus dirigierte er die Darstellungen auf einer ganzen Batterie von Monitoren. So sahen die jungen Hexenmeister der Zukunft aus: unglaublich intelligent – und doch viel zu dumm, um die Folgen ihres Handelns auch nur im Ansatz zu überdenken. »Kannst du nicht etwas schneller machen?« drängte Grossberg. »Ich bin doch schon ganz gut vorangekommen.« Bryce klang ein wenig gereizt, und sein Chef beeilte sich, ihm anerkennend und beschwichtigend zugleich die Schulter zu tätscheln. Nicht auszudenken, was passieren könnte, wenn das Kerlchen jetzt anfing zu schmollen. Voller Stolz deutete der Junge auf einen kleineren Bildschirm. Die farbigen Darstellungen darauf sagten
Grossberg genausoviel wie die Gemälde moderner Künstler – nichts. Trotzdem nickte er verstehend, als Bryce sich zu einigen Erläuterungen herabließ. »Sehen Sie… hier habe ich seine Kindheit! Und dort sein sexuelles Erinnerungsvermögen… das nebenbei gesagt ganz interessant ist!« Ein wissendes Lächeln umspielte die Mundwinkel des Jungen. Grossberg war leicht geschockt. Er hatte immer gedacht, der Kleine wäre noch diesseits von Gut und Böse, würde sich für nichts anderes interessieren als für seine Computer und all das andere Spielzeug. Offensichtlich war der Manager einem Irrtum unterlegen! Bryce fuhr fort. Er war sich der Einmaligkeit seiner neusten Schöpfung voll bewußt: »Ein künstlicher Mensch soll sprechen, kein Papagei! Hier brauche ich Milliarden von Bytes… nicht nur ein paar Millionen.« Doch langsam nahm sein Programm auf dem Bildschirm Gestalt an. Der Computer zeigte die schematische Grafik eines menschlichen Gehirns – des Gehirns von Edison Carter. Bryce hackte so schnell auf seinem Keyboard herum, daß es klang wie das Tackern eines Maschinengewehrs. Aus den verschiedenen Speichern rief er die Gedächtnisdaten ab, die er aus Carters Kopf gewonnen hatte, und überspielte sie in das vom Computer erzeugte Gerüst des Gehirns. Sofort breiteten sich die Daten aus, verliehen dem Gerüst Gestalt. Fasziniert beobachtete Bryce, wie das SoftwareSpiegelbild des menschlichen Bewußtseins fast augenblicklich begann, seine Umgebung nach eigener Vorstellung zu gestalten. »Ma-Ma-Ma… Mama!« Das Programm fing an, Töne abzusondern, während die grafische Darstellung auf dem Monitor mehr und mehr menschenähnlich wurde. Schließlich waren Kopf und
Schulterpartie eines eleganten jungen Mannes zu sehen. Er ähnelte Edison Carter – und war doch ganz anders. Im Gegensatz zu dem Reporter trug er Jackett und Krawatte, seine Stirn war höher und das Haar voller. Offensichtlich eine Art Idealbild, das in Carters Unterbewußtsein schlummerte. »Ma-Ma-Ma-Max! Mama!« »Er spricht mit mir, Mr. Grossberg! Ich glaube, er nennt mich Mama!« Der Junge starrte voller Faszination auf seine bisher größte Schöpfung. Die Gestalt auf dem Computer plapperte weiter vor sich hin, drehte den Kopf mit ruckartigen, roboterhaften Bewegungen, so als müsse sie erst lernen, sich selbst zu steuern. »Max-ks-ks-ks! Mama-Mam-Ma! Ham-Mam-Am!« Die Gestalt auf dem Schirm sprang vor und zurück, wurde größer und kleiner. Offensichtlich hatte sich das Programm noch nicht richtig eingespielt. »Was soll das?« Grossberg wurde ungeduldig. Auf ihn wirkte das Ganze wie eine weitere der vielen sinnlosen Spielereien, die der Junge schon produziert hatte. Bryce allerdings erfaßte die Auswirkungen seiner Entwicklung schon in ihrer vollen Tragweite. »Ein computergenerierter Edison Carter…«, hauchte er voller Ergriffenheit vor dem eigenen Genie. Er mußte sich irgendwo festhalten, um nicht vom Stuhl zu kippen. Grossbergs Krawatte, die neben seiner Schulter baumelte, kam ihm gerade recht. Respektlos packte er zu. ›Mein Gott‹, dachte der Manager, ›hat der Lümmel eigentlich vor gar nichts Achtung?‹ Am liebsten hätte Grossberg Bryce übers Knie gelegt und ihm kräftig den Hosenboden poliert. Aber er brauchte sein Wunderkind noch. Also beschränkte er sich darauf, die kleine Hand von seiner Krawatte wegzuschieben.
Bryce hatte überhaupt nichts mitbekommen. Er starrte wie gebannt auf seine Schöpfung und fand auch gleich etwas, das seinem Anspruch, stets vollkommen zu sein, nicht gerecht wurde. »Im Moment reicht die Speicherkapazität meiner Anlage nur für den Kopf aus. Den ganzen Körper kann ich leider noch nicht darstellen. Sie blicken der Zukunft ins Auge, Mr. Grossberg… künstliche Menschen, nur aus Daten erstellt.« Aber der Manager sah nur in Bryces Augen, die hinter der viel zu großen Billigbrille hervorglotzten. Und er sah den Kopf eines Stotterers auf dem Monitor. Merkte Bryce in all seiner Selbstbewunderung eigentlich nicht, daß sein Zögling nur unverständliches Zeug plapperte? »Mam-Mam… Maxksksksks!« »Was sagt er da?« Langsam wurde Grossberg ungeduldig. »Der Zufallsgenerator stört etwas. Ich muß noch Daten einspeisen und den Frequenzgang stabilisieren.« Der Junge vertiefte sich wieder in seine Arbeit. Sein Chef stand neben ihm und kam sich langsam wie ein Idiot vor. »Der Computer muß einfach mehr Informationen verarbeiten.« Bryce mußte erst gegen das Monitorgehäuse klopfen, bis der künstliche Kopf vom Bildschirm verschwand. Seltsam… aber wahrscheinlich hatte die Löschtaste nur einen winzigen Wackelkontakt. Der Manager stand kurz vor einer Explosion. Die Adern an seinem Hals schwollen so an, daß sie den engen Kragen seines sorgfältig gebügelten weißen Hemdes zu sprengen drohten. »Verdammt, Bryce, wie lange wird es noch dauern? Ich muß eine wichtige Entscheidung treffen, und die Zeit wird langsam knapp!« Grossberg schob sein Kinn nach vorn, bis er sich fast den Unterkiefer ausrenkte. Wenn er mit dieser Geste ausdrückte, wie energisch er sein konnte, zitterten sämtliche Mitarbeiter
von Sender 23 vor ihm. Sämtliche bis auf einen. Und ausgerechnet der saß jetzt vor ihm. Durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Höchstens durch den eigenen Erfolg. »Dummerweise befindet sich Carters Kurzzeitgedächtnis in einen schlimmen Zustand«, dozierte Bryce. »Wahrscheinlich durch den Unfall. Es würde eine Weile dauern, da Ordnung reinzubringen.« »Aber wir haben keine Weile mehr!« Grossberg hatte die Faxen dicke. Wer war eigentlich der Boß von Sender 23? Er oder dieser Bengel?. Grossberg griff zum Telefon. »Ich fürchte, unser Starreporter muß doch verschwinden… und zwar für immer!« Es bereitete ihm höchstes Vergnügen, das Gesicht des Knaben zu beobachten, in dem langsam, aber sicher ein Halogenlicht aufging. Bryce begriff, was die Worte seines Chefs bedeuteten. Er war erschrocken. Hunderte Tote in einem Computerspiel war eine Sache. Ein echter Mord eine ganz andere. Carter, der noch immer bewußtlos auf der Pritsche im Labor lag, stöhnte leise.
Die Straßen der Vorstädte bildeten einen scharfen Kontrast zu der kühlen, fast sterilen Atmosphäre im 23er-Tower. Sie wimmelten nur so von menschlichem Leben – und sie stanken nach dem Schmutz, den die höchstentwickelte Gattung der Ordnung Säugetier täglich tonnenweise produzierte. Seit den Tagen der großen Rezession spielte sich das Leben weiter Bevölkerungskreise auf den Straßen ab. Noch vor zwei Jahrzehnten war so etwas für die westliche Hemisphäre undenkbar gewesen. Menschen, die auf der Straße lebten? Sicher, die gab es in Indien, in Südamerika, in Afrika – aber doch nicht bei uns!
Das hatte sich gründlich geändert. Einen Luxus hatten die Slumbewohner der Neuzeit denen aus der alten Dritten Welt allerdings doch noch voraus. Die allgegenwärtigen Fernseher. Wer sich unterhalten wollte, konnte das vierundzwanzig Stunden täglich tun. Zum Nulltarif. Die öffentlichen Fernsehgeräte kosteten den Staat Unsummen. Aber nicht einmal halb so viel, wie eine Rebellion der Armen gekostet hätte. Wie hatte es der Medienexperte A. D. Schoepps einmal formuliert? »Wer fernsieht, rebelliert nicht!« Trotzdem war das Leben auf den Straßen alles andere als ungefährlich. Hier draußen starb man schnell. Nicht an Krankheiten, die hatte der staatliche Gesundheitsdienst ganz gut im Griff. Dafür um so häufiger an einem Messer zwischen den Rippen oder an einer Bleivergiftung vom Kaliber 44. Hier draußen war das Paradies der Aasgeier. Tag und Nacht waren sie in ihren Kleinlastern unterwegs. Immer auf der Suche nach herrenlosen Leichen mit verwertbaren Organen. Wenn irgendein Körperteil besonders gefragt war, nahm man es auch schon einmal einem Spender ab, der bis zum Zeitpunkt der Organentnahme noch gelebt hatte. Die Organbanken stellten nicht viele Fragen, und die Metro-Polizei wagte sich äußerst selten hierher. Breughal und Mahler gehörten zu den erfolgreichsten Aasgeiern überhaupt. Wieviel sie verdienten, konnte man schon an ihrem sündhaft teuren, turbinengetriebenen ChryslerVan sehen. Die Bankkonten der beiden waren dick gefüllt. Doch wie Geldsäcke wirkten die zwei wirklich nicht. Sie waren Punks aus Überzeugung. Punks der übelsten Sorte. Unrasiert. Ungewaschen. Ihre bizarren Frisuren ließen sie fast wie Dämonen wirken. Breughal war der Kopf des Teams. Clever, eiskalt und brutal. Die Narben in seinem Gesicht
stammten noch aus der Zeit, als er seine Kämpfe fair austrug. Das war vor einer Ewigkeit. Wenn Breughal heute Ärger hatte, schickte er Mahler vor. Der schien nur aus Muskeln zu bestehen. Selbst im Hirn. Meist grinste er einfältig vor sich hin, spielte mit der schweren Eisenkette, die um seinen Hals hing. Doch der erste Eindruck täuschte. Mahler war kein blöder Narr. Wer sich mit ihm anlegte, erkannte das meist viel zu spät. Langsam fuhren die beiden Aasgeier durch die schmutzigen Vorstadtstraßen. Es war ein guter Abend, sie hatten schon Ladung an Bord genommen. Ein feister Typ, ein gewisser Gorrister, hatte einen tödlichen Unfall erlitten. Von Breughals Freunden war der Tip gekommen, wo man die Leiche des Fettsacks finden konnte. Augen, Trommelfelle, Nieren und Milz des Dicken waren noch gut zu gebrauchen. Die Aasgeier würden einen schönen Preis für die Teile bekommen. Breughal grinste. Es zahlte sich eben aus, wenn man Freunde in den richtigen Positionen hatte. Über Funk kam gerade die Suchmeldung der größten Organbank der Stadt herein: »Wir benötigen dringend noch zwei linke Arme, männlich, sowie einen rechten Fuß, weiblich. Außerdem folgende Organe… drei Lebern und fünf Nieren, weiblich, möglichst Blutgruppe null. Außerdem suchen wir dringend vollständige junge männliche Körpereinheiten.« Mahler kicherte einfältig vor sich hin. Das Geschäft blühte. Das Autotelefon, dessen Nummer nur einige ausgewählte Freunde und Geschäftspartner kannten, summte. Mahler nahm den Hörer ab und reichte ihn seinem Partner. Verhandlungen waren allein dessen Sache. »Ja, sprechen Sie!« Breughal richtete sich unwillkürlich auf, als er die Stimme am anderen Ende der Leitung erkannte. »Ja, Sir! Den Auftrag können wir gleich übernehmen!«
Mahler kicherte vor sich hin, als er hörte, wie geschickt sein Partner zur Sache ging. »Natürlich entstehen da einige Extraspesen«, verkündete Breughal. Die Antwort, die er erhielt, schien ihn zufriedenzustellen. »Aber ja, Sir… Diskretion ist doch unser Markenzeichen, Sir!« Der Aasgeier legte den Hörer auf. Mahler konnte sich nicht länger beherrschen. Das Lachen platzte fast aus ihm heraus. So unterwürfig hatte er seinen Partner noch nie erlebt. Der hatte dem anderen ja fast durchs Telefon die Füße geküßt! »Lach nicht!« Breughal war reichlich sauer. Das legte sich am schnellsten, wenn man mit ihm über Geschäfte sprach. »Soll es wieder ein schöner Unfall werden?« Ein dämonisches Grinsen verzerrte das Gesicht des Organsammlers zur Fratze. »Nein, kein Unfall. Wir verwerten nur… einen Körper.« Knapp zwanzig Minuten später kurvte der Turbinen-Chrysler der Aasgeier durch das Parkgeschoß unter dem 23er-Tower. Mit einem zehn Stockwerke tiefen Fundament krallte sich der Wolkenkratzer in den gewachsenen Fels. Im untersten Parkdeck hielt Breughal den Wagen vor dem Expreßlift an. Alles war so wie abgesprochen. Die Tür des Aufzugs stand offen, die Kabine war mit der Notbremse blockiert. Weit und breit war niemand zu sehen – nur der Körper im Plastiksack, der wie leblos auf dem Boden der Liftkabine lag. Breughal und Mahler verschwendeten keine Zeit. Sie packten das wertvolle Paket und schleppten es zu ihrem Van. Über den allgemeinen Rundruf kam gerade die nächste Suchmeldung der Organbank. »Wir suchen dringend – ich wiederhole: dringend – einen männlichen Körper, weiß, Alter zwischen zwanzig und
fünfundzwanzig Jahren. Sämtliche Organe müssen unbeschädigt, das heißt, noch zu verwenden sein.« Breughal lachte still in sich hinein. Die staatliche Organbank konnte suchen, bis sie schwarz wurde. Er und sein Kumpel würden sie jedenfalls nicht beliefern. Die Beamten dort zahlten nur nach Tarif und stellten zu viele lästige Fragen. Ganz anders als die gute alte Florence. Florence Nightingale. Ihre Organbank nahm jedes Stück Menschenfleisch, das sie bekommen konnte. Hauptsache, es war noch zu gebrauchen. Dämliche Fragen stellte Florence nie. Achtlos warf Breughal Edison Carters Körper auf die Ladefläche des Vans. Der Mann stöhnte. Offenbar war er noch nicht ganz tot. Egal… schon sehr bald würde er es sein! Einmal mehr ließ Mahler seiner Zerstörungswut freien Lauf. Vor Freude glucksend trat er die Scheinwerfer des Kleinlastwagens ein, den irgendein Mitarbeiter von Sender 23 hier unten geparkt hatte. Breughal seufzte. Sein Partner flippte von Tag zu Tag mehr aus. Er mochte Mahler wirklich. Aber wenn er seine Geschäfte weiter ungestört fortführen wollte, mußte er ihn eines Tages loswerden. Es führte kein Weg daran vorbei: Mahler war schon sehr bald selbst reif für die Organbank.
Grossberg stand noch immer hinter dem Stuhl seines Forschungs- und Entwicklungschefs. Bryce hatte die lebende Computergrafik zurück auf den Bildschirm geholt. Der Kopf, der Edison Carter so sehr glich, gab immer noch unverständliches Zeug von sich. »M-Max… Max… Max Headroom…« »Max Headroom?« Der Manager verstand nur Bahnhof. »Max… Max… Max Headroom.« Die Grafik verschwand vom Monitor, auf dem nur noch Störungsrauschen blieb.
»Was hat das zu bedeuten?« »Ich weiß nicht.« Bryce klang verwirrt. »Er wiederholt andauernd das, was auf der Schranke steht!« »Er?« Grossberg hatte Schwierigkeiten, eine Computergrafik als Person zu betrachten. Bryce gab ein paar zusätzliche Daten ein, und das Bild kam zurück auf den Schirm. »Das hier ist eine… Live-SendungLive-Sendung! Bibibibibin ich schon auf Sendung? Bitbitbitte geben Sie mir die Senderkennenung. Über-Übertragen Sie die Daten jetzt!« »Ausgezeichnet!« Bryce merkte, daß sein Boß keine Ahnung hatte, worüber er sich so sehr freute. »Also, geben wir ihm, was er will… du bist auf Sender 23!« »Sie sehen eine Live-S-Live-Sendung von Se-Se-Sen-der 23. Bin ich auf Sendung?« Das künstliche Gesicht drückte Gefühle so perfekt aus wie ein lebender Mensch. Grossberg fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Ich glaube, ich träume!« Anerkennend klopfte er dem Jungen auf die Schulter. »Wie war das bitte?« kam es vom Bildschirm. Der Fernsehboß sah Bryce verwirrt und hilfesuchend zugleich an. »Spricht das Ding zu mir?« »Ja, er spricht mit Ihnen!« Offensichtlich hatte der Vorstandsvorsitzende von Sender 23 die Möglichkeiten der Zweiweg-Bildschirm-Technologie noch immer nicht richtig verstanden! »Nun antworte doch, Bryce!« Grossberg glaubte wohl, man könne nur über den Computer mit Max reden. Aber das war jetzt nicht mehr nötig. »Ähh… hallo, Max!« Die ersten Worte, die ein Mensch direkt an eine künstliche Computer-Intelligenz richteten, klangen ganz schön banal.
»Hallo, ihr… bei-beiden da. Willkommen bei Sender 23. Die momentane Einschaltquote beträgt zwei.« »Das ist ja geradezu phantastisch!« Man hörte Grossbergs Stimme an, daß er immer noch nicht so genau wußte, was er von dem Computerwesen halten sollte. »Ha-Ha-Hallo! Willkommen bei Se-Se-Sender 23! Dies ist eine Direktsendung des Senders 23. Der Sender mit z-z-zwei Zuschauern… drei wären mir lieber, hmm!« »Moment mal… wo hat er all die Sprüche her, Bryce?« »Das sind Komponenten aus Carters Bewußtsein. Aber er fügt Neues hinzu…« Die Stimme des Jungen wurde feierlich. »Das heißt, er lernt, Mr. Grossberg!« »Sehr gut!« Der Manager ließ sich zu einem ungewohnten Gefühlsausbruch hinreißen und tätschelte den Hinterkopf des kleinen Tausendsassas. Von seinem Bildschirm aus sah Max Headroom die beiden an. Er war sich noch nicht im klaren darüber, was er von ihnen zu halten hatte.
5. Kapitel
Edison Carter lag in tiefer Bewußtlosigkeit im Van der Organsammler. Ein leises Stöhnen quetschte sich zwischen seinen Lippen hervor. »Ist der Kerl immer noch am Leben?« fragte Breughal, der den Wagen steuerte. »Ja, ein bißchen… der hat ‘nen ganz schönen Bums abgekriegt«, kicherte Mahler. Er hockte auf der Ladefläche neben dem Körper des Reporters und ließ seine kleine Handsäge spielerisch über die Handgelenke des Bewußtlosen gleiten. Breughal beobachtete ihn im Rückspiegel. »Vorsicht mit der Säge… Hände sind momentan sehr gefragte Ersatzteile! Die bringen sogar noch mehr als eine Kamera!« Mahler lachte zustimmend und steckte das Werkzeug in eine der unzähligen Taschen seiner schmierigen Jacke.
Murray haßte es, wenn ihn ein Anrufer morgens um vier aus dem Bett holte. Aber diesmal war er sogar froh darüber, daß Theora ihn alarmiert hatte. Die beiden saßen in der ansonsten leeren Zentrale, die sich erst nach acht Uhr wieder mit Leben füllen würde. »Die Metro-Polizei hat gerade angerufen… Gorrister ist verschwunden.« Erschrocken sah Theora ihren neuen Chef an. Sie spürte, daß der sich mindestens ebensosehr um Carter sorgte wie sie. Wahrscheinlich noch viel mehr. Die beiden kannten sich seit Jahren.
Und wenn Gorristers Verschwinden etwas mit Carters letzter Story zu tun hatte, dann war Theora ebenfalls in Lebensgefahr. »Letzte Nacht wurde in sein Apartment eingebrochen«, fuhr der Chefredakteur fort. »Wir sollten bei den Organbanken nachfragen.« Theora machte sich an die Arbeit.
Nightingales Organbank befand sich in einem ehemaligen Schlachthof. Von der Annahmepforte reichte ein Förderband bis hinunter auf den Parkplatz im Hinterhof, auf dem sich alle Aasgeier der Stadt ein Stelldichein zu geben schienen. Plastiksäcke, in denen eindeutig menschliche Körper lagen, wurden achtlos auf das Förderband geworfen. Es trug die Körper hinauf zur Annahme, einem dunklen Tor, das wie ein gefräßiges Maul wirkte. Florence, die Besitzerin dieses florierenden Unternehmens, saß selbst an der Annahme. Gerade hatte sie einen neuen Geschäftspartner am Telefon. »Ja, liefern Sie, soviel Sie können! Über den Preis reden wir, wenn ich das Material begutachtet habe… auf Wiedersehen!« Florence war eine häßliche alte Hexe. Ihr knallrot gefärbtes Haar war ebenso unecht wie ihre großen goldenen Ohrringe. Sollte Sie sich je abschminken, wäre sie garantiert um ein Kilo leichter. Sie hatte sich eine Decke um die Schultern gelegt, um ihren knochigen Körper wenigstens ein bißchen warmzuhalten. Breughal und Mahler blieben respektvoll vor dem Eingang stehen, bis die Alte sie heranwinkte. »Ah, ich sehe, ihr bringt heute zwei. Na gut… dann zeigt mal her!« Breughal zündete sich eine Zigarette an. Das Förderband brachte erst Gorristers Leiche herauf. Carters Körper folgte.
Die Augen der alten Hexe weiteten sich, als sie den bewußtlosen Reporter sah. »Der da kommt mir bekannt vor! War der nicht beim Fernsehen?« Breughal sah ausweichend zur Seite und zog an seinem Glimmstengel. »Für die Ersatzteile von berühmten Leuten gibt es mehr Geld!« Das war das richtige Stichwort. »Der war ganz bestimmt beim Fernsehen!« verkündete der Aasgeier mit dem ehrlichsten Lächeln, zu dem er fähig war. Mahler nickte eifrig: »Ja, ja, ganz sicher war der beim Fernsehen!« In Breughal erwachte der Geschäftsmann. »Wie hoch ist der Zuschlag für ein lebendes Objekt?« »Wenn er noch nicht hirntot ist, zahle ich euch zwanzig Prozent Aufschlag!« Florence mußte die Stimme heben, um das Jaulen der Kreissägen zu übertönen, mit denen die Mitarbeiter ihrer Organbank die angelieferte Ware verkaufsgerecht portionierten. »Der lebt nicht nur, der ist sogar noch warm!« versicherte Breughal hastig. »Und prominent!« ergänzte sein Partner. »Dann gibt’s doch mehr als zwanzig Prozent?« Der Aasgeier legte vertraulich seine Hand auf die knochige Schulter der Alten. Mit erstaunlicher Kraft schüttelte sie ihn ab. »Klar kriegt ihr mehr… einundzwanzig Prozent!« Der Aasgeier warf Florence einen dicken Kuß zu. Geschmeichelt drehte sie sich weg. In geschäftlichen Dingen war der Bursche ein Anfänger… aber sooo charmant…
Der Vorstandsvorsitzende von Sender 23 hatte sich schon wieder in die Niederungen des 148. Stockwerks begeben müssen. Die sechs inkompetenten Nieten, die sein Direktorium bildeten, redeten wirr durcheinander. »Die Psycho-Spots müssen abgesetzt werden!« »Nein, das kommt nicht in Frage. Dann würden wir unseren Hauptkunden verlieren. Die ZikZak-Corporation besteht auf den Spots.« »Aber das könnte gefährlich werden!« »Unfug! Die Psycho-Spots laufen weiter.« »Das können Sie doch gar nicht entscheiden!« »Reden Sie mir nicht dauernd dazwischen! Sie sind ja völlig inkompetent!« Jetzt reichte es! Energisch schob Grossberg sein Kinn nach vorn. »Schluß damit! So ein Chaos hilft keinem!« Gedankenverloren spielte er mit der kleinen Video-Cassette in seiner Hand, von deren Inhalt vielleicht sogar das Schicksal des gesamten Senders abhing. »Bitte setzen Sie sich! Edwards… was genau hat die ZikZakCorporation gesagt?« Der Kriecher redete wie ein kleiner Junge im Sandkasten, dem jemand sein Förmchen wegnehmen will. »ZikZaks gesamte Werbekampagne ist auf die Psycho-Spots aufgebaut. Nur so kann man verhindern, daß der Zuschauer auf einen anderen Kanal umschaltet, wenn Werbung kommt. Das ist leider immer wieder der Fall. Aber für normale Spots braucht man unseren Sender nicht! Ohne Psycho-Spots kein Geschäft!« Der letzte Satz war direkt auf Cheviot gezielt, der sich als einziger in der Runde entschieden gegen die neue Art der Werbung ausgesprochen hatte. Der Älteste am Tisch war um eine Antwort nicht verlegen. »Wir können die Psycho-Spots nicht weitersenden! Die sind tödlich… das wissen Sie genau!«
»Das ist noch nicht bewiesen!« Edwards schnaubte verächtlich. Mr. Grossberg war bestimmt beeindruckt von der Art, wie er mit der Opposition umsprang! »Ist das Rebus-Video etwa kein Beweis? Wollen Sie eine Live-Demonstration?« Cheviot gab einfach nicht auf. War er nur zu stur oder vielleicht schon zu verkalkt, um eine einmal gefaßte Meinung noch zu revidieren? Grossberg verzog das Gesicht: »Ben… Ihre letzte Bemerkung war geschmacklos.« »Das ändert nichts an der Tatsache, daß Psycho-Spots Menschen umbringen können!« »Ein paar… «, die für Edwards offensichtlich nicht zählten. »Möglicherweise.« Miss Formby betonte das Wort derart übertrieben, daß jedem klar wurde: Nach ihrer Meinung reichten die Beweise nicht aus, um die lukrativen Werbespots abzusetzen. Je mehr Zeit verging, desto ungeduldiger wurde Grossberg. »Ich hab genug davon gehört! Wir sollten lieber über das Geschäft reden… über die Einschaltquoten!« Er sah seinen Vorgänger herausfordernd an. Cheviot mußte sehr unsicher sein, denn er hatte nicht einmal seine stinkende Pfeife aus der Tasche gezogen. Der alte Mann wirkte ein wenig irritiert. »Zuerst kommen doch wohl die Menschen!« »Das ist dasselbe!« Jetzt hatte Grossberg seinen einzigen ernst zu nehmenden Gegner im Vorstand endlich da, wo er ihn hinhaben wollte. Er setzte das arroganteste Lächeln auf, zu dem er fähig war. »Verraten Sie uns doch mal Ihre Meinung. Womit begründen Sie den Rückgang der Einschaltquoten?« Umständlich setzte sich Cheviot die altertümliche Brille auf die Nase und holte einen Zettel aus der Tasche. Flüchtig betrachtete er seine Aufzeichnungen.
»Der Rückgang beträgt nur zwei Prozent!« »Zwei Prozent sind sechs Millionen Zuschauer!« Grossberg ließ jedes einzelne Wort genüßlich auf der Zunge zergehen. »Sollten wir die endgültig verlieren, ist das wie Krieg, Ben!« Der alte Mann lachte, als nähme er das nicht ernst. »Das kennen wir doch. Jeder schaltet mal um!« Einen Moment lang sah es so aus, als käme der Vorstandsvorsitzende über den Tisch gesprungen. »Wenn wir unsere Psycho-Spots weiter anstelle der normalen Werbespots verwenden, gibt es kein Umschalten mehr!« Edwards beeilte sich mit dem Punktesammeln: »Wir haben die Psycho-Spots erst seit zehn Stunden abgesetzt… « Er legte die Stirn in Falten, als wolle er bei einem Schönheitswettbewerb für Pekinesen antreten: »… und unsere Einschaltquote ist bereits um 3,7 Prozent gesunken. Nicht nur um zwei Prozent, wie Sie behaupten… Ben!« Das letzte Wort zog der Kriecher besonders in die Länge. Er genoß es, nun auf einer Stufe mit seinem ehemaligen Chef zu stehen, der seine Begabung nie richtig erkannt hatte. Früher, als er ihn noch mit »Mr. Cheviot« hatte anreden müssen, schien ihm der Weg in den Vorstand für immer verbaut gewesen zu sein. Unter Grossberg hatte Edwards blitzschnell Karriere gemacht. Ben Cheviot dagegen war endgültig vom hohen Sockel seines selbsterrichteten Denkmals gestürzt. »Ich lasse die Psycho-Spots wieder senden… das ist endgültig!« Cheviot sah, daß er Grossberg nicht daran hindern konnte, diese Dummheit zu begehen. Demonstrativ steckte er sich die Pfeife ins Gesicht, sprang auf und stürmte aus dem Sitzungssaal.
»Nightingales Organbank. Ich bin Florence. Kann ich Ihnen helfen?« Angewidert starrte Theora Jones auf die häßliche Alte, die auf dem Monitor ihres Videofons erschien. Ungeniert stocherte sie mit dem knochigen Zeigefinger der rechten Hand in ihren Zahnlücken nach Speiseresten. Die Controllerin verzweifelte langsam. In der vergangenen Stunde hatte sie sämtliche Organbanken der Stadt angerufen. Ohne Ergebnis. Das hier war die letzte. Wenn sie hier auch keine Spur fand… Theora riß sich zusammen. »Ich suche nach einem Körper… männlich.« »Geht es um einen speziellen Körperteil, Schätzchen?« »Nein, um einen ganzen Menschen.« Was dachte sich die alte Hexe eigentlich? »Er heißt Gorrister.« »Ach der… ein fetter Kerl!« Florence klang direkt enttäuscht. »Ja, der ist hier. Er liegt in der Kältekammer… wird gerade tiefgefroren.« »Ah, ja. Danke sehr.« Langsam fügte sich das Puzzle zusammen – zu einem Bild des Grauens. Theora kämpfte um ihre Beherrschung. »Sonst noch etwas?« Florence gab sich ganz geschäftsmäßig. »Einen Edison Carter haben Sie wohl zufällig nicht auf Lager?« »Hmm… mit dem Namen habe ich niemanden.« Die alte Hexe dachte nur kurz nach. »Aber wir haben viele Körper ohne Namen. Wollen Sie sie sehen?« Ohne Theoras Antwort abzuwarten, schaltete sie ihre Datenbank in die Videofonleitung und rief die Bilder all der namenlosen männlichen Leichen ab, die auf ihre Weiterverwendung warteten. Drei, vier Gesichter huschten über den Schirm, dann: »Halt!« »Ist das der Gesuchte?«
»Ja…« Theora brachte kaum ein Wort heraus. Erst gestern hatte sie Edison Carter kennengelernt – und jetzt starrte sie auf seine Leiche. Ein furchtbares Gefühl. Florence schaltete sich wieder in die Leitung: »Dann wollen wir uns den mal ansehen… der Kopf wirkt ein bißchen lädiert… aber sonst ist er noch ganz gut beieinander.« Sie beugte sich weit vor, um die Bedeutung ihrer nächsten Worte zu unterstreichen: »Soll angeblich ein Prominenter gewesen sein.« Theora nickte. »Ja, das war er…« Weshalb nur spürte sie so viel Trauer beim Tod eines Menschen, den sie nicht einmal vierundzwanzig Stunden gekannt hatte? »Florence… wie stelle ich’s an…ich meine, was muß ich tun, um ihn zu bekommen?« »Tun? Einfach bezahlen und mitnehmen!« Geschäfte wie das, was sich hier anbahnte, waren die besten. Schneller Profit ohne große Lager- und Verwaltungskosten. War da nicht noch etwas? Ach ja, natürlich… »Wollen Sie ihn lebend oder tot?« »Bedeutet das, er lebt noch?« Theora konnte ihr Glück kaum fassen. Also hatte sie ihren Reporter doch noch nicht verloren! Im Konferenzsaal im 148. Stock hatte sich nach Cheviots Abgang die Atmosphäre deutlich entspannt. Grossberg lehnte sich in seinem Sessel zurück und verkündete in feierlichem Ton: »Ladies und Gentlemen, ich möchte Ihnen etwas aus unserer Forschungsabteilung zeigen, das wirklich bemerkenswert ist.« Er beugte sich zu dem kleinen Mikrofon in der Tischplatte und weckte die Sekretärin draußen im Vorzimmer aus ihrem Büroschlaf: »Verbinden Sie mich bitte mit Bryce!« Während der große Monitor zum Leben erwachte, fuhr Grossberg fort: »Mr. Lynchs neue Entwicklung ist noch viel wichtiger als seine Psycho-Spots!«
»Hallo!« Quadratmetergroß grinste der Junge vom Schirm. Wenigstens hatte er jetzt Pyjama und Bademantel gegen Polohemd und Jeans getauscht. Edwards schaute bewundernd auf seinen Chef, der es verstand, aus jedem Mitarbeiter ein Maximum an Leistung herauszuholen. Miss Formby lächelte dem Knaben an der Wand zu. Es müßte schön sein, selbst einen so lieben Jungen zu haben… »Diese Neuheit wird das Fernsehen revolutionieren!« tönte Grossberg. »Mit ihr besitzt unser Sender den ersten vollprogrammierbaren Moderator der Welt. Bryce, es ist soweit… würdest du uns bitte Max Headroom vorstellen?« »Ja.« Der Junge drückte auf einen Knopf und war im nächsten Moment vom Bildschirm verschwunden. Er hatte Platz gemacht für Edison Carters elektronisches Alter Ego. Der Computer-Mensch blickte von einem zum anderen. Er schien verwirrt zu sein. »Hmhm? Was für eine… Sh-Sh-Sh-Show ist denn das hier?« Das Direktorium amüsierte sich köstlich. Edwards grinste wie ein Honigkuchenpferd. Grossberg genoß den Erfolg. »Das ist keine Show, Max! Die Herrschaften hier sind die Exekutive des Senders 23!« »Ah! Ah! Ah!« Nachdenklich legte das Computerwesen die gezeichnete Stirn in Falten. »Ex-exek-exeku-e-e-exeku? Exeku? Das heißt also, Sie exekutieren die Zuschauer! Mhm!« Es klang wie eine ganz sachliche Feststellung. Doch Miss Formby schien schockiert. Grossberg mußte kräftig schlucken. Nur Max amüsierte sich köstlich über seinen Witz: »Haaah!« Edwards sah seinen Chef mißtrauisch an. Zum ersten Mal kam ihm in den Sinn, daß vielleicht auch ein Mann wie Grossberg Fehler machen konnte.
Nervös wurde er auf jeden Fall. »Dieses Wesen… dieses Wesen ist natürlich ein reines Computerprodukt, weiter nichts. Verstehen Sie das nicht falsch«, sagte er beschwörend. »Ja!« gackerte es vom Bildschirm. »Scha-scha-schal-ten Sie Sender 23 ein. Das Programm wird Ihnen garantiert zu Kopf steigen!« Mit einem dumpfen Knall explodierte Max Headrooms Schädel. Im nächsten Augenblick schob sich ein neuer Kopf durch den nach wie vor blütenweißen Hemdkragen. Er nahm die Stelle des alten ein, als wäre nichts geschehen. Der Computermann hatte tatsächlich jede Menge scharfer Tricks auf Lager! »Ach, ich liebe die liebe die liebe die Psy-psy-psychoSpots!« Ashwell sah betreten auf seine Fingernägel. Einen solchen Bock wie den mit dem Computer-Moderator hatte noch kein Vorstandsvorsitzender von Sender 23 geschossen. Grossberg reckte sein Kinn vor. Wenn man die Schweißperlen auf seiner Stirn sah, wirkte diese Geste nicht mehr energisch, sondern nur noch lächerlich. »Das genügt, Bryce! Abschalten… bitte!« Max Headroom verschwand vom Bildschirm. Jetzt glotzte wieder das übergroße Kindergesicht des Forschungschefs vom Wandmonitor. »Ja, Max hat einen seltsamen Humor, nicht wahr? Hiachiach!« In diesem Augenblick war Miss Formby heilfroh, für ihre Karriere auf Kinder verzichtet zu haben. Grossberg hatte sich wieder gefangen. Er konnte seine Wut kaum noch im Zaum halten. Dieses Knäblein hatte gewagt, ihn mit seiner unausgegorenen Entwicklung vor dem gesamten Vorstand zu blamieren. »Wir beide müssen uns noch einmal unterhalten, Bryce!«
Gierig griff Florence Nightingale nach Theoras ID-Stift. Der Minicomputer in der Größe eines dicken Faserschreibers enthielt alle Daten über Theora Jones. Er war Ausweis und Scheckbuch zugleich. Florence buchte eine stattliche Summe vom Konto der jungen Frau ab. Sie reichte ihr einen Fetzen Papier als Quittung und winkte einen Hilfsarbeiter herbei: »Bitte bringen Sie Objekt 28-40 her!« Mit unschuldigem Augenaufschlag versuchte die Alte, das Geheimnis zu ergründen, das die hübsche junge Frau vor ihr mit Objekt 28-40 verband. »Sie werden ein schönes Paar abgeben. So was Gutes haben wir nicht alle Tage… ich wünsche viel Spaß.« Theora antwortete nicht. Wortlos griff sie nach ihrem IDStift, den Florence gerade versehentlich einstecken wollte. Das Laufband beförderte Carters Körper aus den Tiefen der Lagerhalle ins Freie. Die Controllerin spürte Erleichterung, als sie die gleichmäßigen Atemzüge des Bewußtlosen entdeckte. Sie nahm ihm die Karte mit der Registriernummer vom Ohr. Beinahe wäre der Reporter ermordet worden. Theora freute sich, daß er noch lebte. Aber sie empfand noch mehr. Irgendein undefinierbares Gefühl tief in ihrem Inneren, das sie so noch nie erlebt hatte.
Grossberg stürmte in Bryce Lynchs Labor. Der Junge saß vor seiner Computerkonsole und spielte mit einer mechanischen Greifhand, einem fast schon antiken Kinderspielzeug aus dem Plastikzeitalter der 80er Jahre. Max Headroom sah ihm vom größten Monitor interessiert zu. Der Manager reckte sein Kinn vor und baute sich vor Bryce auf. »Du Idiot! Ist dir überhaupt nicht klar, was für eine Katastrophe daraus entstehen könnte?« »Tut mir leid, Mr. Grossberg. Das war nur ein Versehen.«
»Ein Versehen?« Grossberg beugte sich tief zu dem Knäblein hinab, das sich im Moment offensichtlich für nichts anderes interessierte als sein dämliches Spielzeug. »Dein ComputerClown weiß alles, was auch Carter wußte. Und das ist zuviel!« Grossberg betonte jedes einzelne Wort. Er deutete auf den Monitor, von dem aus Max Headroom die Unterhaltung interessiert zu verfolgen schien. »Er kennt das Rebus-Video! Und er kennt die Folgen der Psycho-Spots!« »Aber das ist doch kein Problem.« »Kein Problem? Ein Reporter und sein Controller sind tot. Trotzdem ist meine Position als Vorstandsvorsitzender von Sender 23 gefährdet!« Bryce konnte sein Lachen nicht länger bezähmen. Warum nur reagierten Erwachsene immer so hektisch? Wenn sich Grossberg weiter so mit dem Zeigefinger gegen die Brust pochte, hätte er gleich ein Loch in sein teures Hemd gebohrt. Bryce mußte den Ärmsten beruhigen. »Nur keine Panik! Dann lösche ich eben seinen Gedächtnisspeicher! Geht ganz einfach.« »Was, mein Gedächtnis?« Keiner achtete auf die Bildschirmgestalt. Max legte seine Stirn in Sorgenfalten. Im nächsten Moment war er vom Bildschirm verschwunden. Zurück blieb nichts als blaues Flimmern. Grossberg wollte sich nicht beruhigen. »Wir haben genug gedächtnislose Moderatoren.« Er beugte sich so weit nach vorn, daß seine herabhängende Seidenkrawatte in Reichweite von Bryces Spielzeug kam. Der Junge konnte nicht widerstehen und packte den teuren Binder mit der künstlichen Hand. »Mr. Grossberg… ich lösche nur den Teil mit dem RebusVideo und den Psycho-Spots!«
Ärgerlich riß der Manager die Kunststoffhand weg. Er reckte sein Kinn so weit vor, daß er Bryce beinahe die Brille von der Nase stieß. »Bist du sicher, daß das funktioniert?« »Ja. Hundertprozentig.« »Dann fang an… sofort!« Bryce wußte, wann man besser widerspruchslos gehorchte. Er rief das Max-Programm in seinem Computer ab – doch der Bildschirm blieb leer. »Wo ist dieser Max?« Grossberg fuchtelte mit der Spielzeughand herum. »Keine Ahnung…« »Keine Ahnung? Wieso nicht?« »Er hat offenbar seine ganze Datei an irgendeinen anderen Speicherplatz verlegt.« »Was?« Langsam wurde auch Bryce nervös. »Bitte, Mr. Grossberg! Das ist eine schwierige Situation! Ich brauche absolute Ruhe!« Doch der Manager hatte die Faxen satt. Er packte Bryce am Kragen und hob ihn aus seinem Stuhl, als hätte der Junge kein Gewicht. »Was… ist… passiert?!« »Er ist weg.« »Weg?« Wieder kam das Kinn nach vorne. »Er hat sich im System versteckt.« »Versteckt?« Der Manager klang wie eine defekte EchoSchleife. Er ließ Bryce zurück in den Stuhl sinken, bevor er erneut sein Kinn vorreckte und sich den Maßanzug glattzog. »Du mußt ihn finden!«
6. Kapitel
Max Headroom fand sich langsam in seiner elektronischen Welt zurecht. Einerseits existierte er erst seit wenigen Stunden. Andererseits verfügte er über Lebenserfahrung und Intelligenz eines Erwachsenen. Vielleicht sogar über mehr. Denn er hatte schnell den Dreh heraus, wie er sich die fantastischen Möglichkeiten, die die Welt der Computer ihm bot, zunutze machen konnte. Max Headroom war eigentlich nur Software, ein Programm – aber das erste intelligente Programm der Geschichte. Er hatte Gefühle, Ängste und Sorgen wie ein Mensch. Und als er checkte, daß man an seinem Gedächtnis herumpfuschen wollte, stürzte er sich in den Datenstrom und verschwand in den Tiefen des Verbundnetzes. Schnell erkannte er, daß überall Zweiwegfernseher standen. Über diese Geräte konnte er die Welt wahrnehmen – und zu den Menschen sprechen. »Ich glaube… es gibt eine Menge Gesichter da draußen… die mich… beobachten«, sagte er zögernd. Doch als sich die ersten Slum-Bewohner vor den Geräten niederließen und fasziniert das neue Gesicht auf dem Bildschirm betrachteten, kam Max in Fahrt. »Das erhöht meine Einschaltquote gewaltig! Jaaa, hier ist Sender 23, der S-s-s-sender, der mit euch macht… was er will!« Eine sympathische weibliche Stimme schallte durch Theoras geschmackvoll eingerichtetes Apartment: »Miss Jones, hier meldet sich Ihr Weck-Computer. Es ist ein herrlicher Morgen, die Sonne scheint, die Luft ist klar und kühl. Ihr Frühstück wurde vorbereitet, und die Dusche wartet.«
Doch Theora verschwendete jetzt keine Gedanken an Dusche oder Frühstück. Lächelnd setzte sie sich auf die Kante ihres großen Bettes, in dem Edison Carter lag. Die Bewußtlosigkeit des Reporters war in einen tiefen, heilsamen Schlaf übergegangen. Von den Schrecken der letzten Nacht kündete nur noch die blutigrote Narbe quer über seiner Stirn. »Guten Morgen.« Verwirrt schlug Carter die Augen auf, tastete nach den Plüschtieren, die Theora überall zwischen Kissen und Decken verteilt hatte. »Guten Morgen…« »Fühlst du dich gut?« »Ja… wieso?« »Das war eine aufregende Nacht.« »Was ist passiert?« Carter griff nach einem kleinen Stoffbärchen. Langsam begriff er, wo er war – aber wie er hier hergekommen war, entzog sich seiner Erinnerung. »Du hattest einen Unfall… erinnerst du dich nicht?« Carter wirkte enttäuscht. »Wir beide haben also nicht…?« »Nein, haben wir nicht!« »Bist du sicher? Vielleicht haben wir’s nur vergessen.« Männer! Wieso hatten die eigentlich alle immer nur das eine im Kopf? Theoras Stimme klang plötzlich sehr geschäftsmäßig. »Übrigens… die Überspielung des RebusVideos hat nicht geklappt. Deine Kamera fiel aus.« Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Eine verteufelt schmerzhafte Erinnerung. Carter richtete sich auf. »Ich muß mir was anziehen.« »Du darfst jetzt nicht im Sender auftauchen!« Theoras Stimme klang beinahe beschwörend. Doch sie ahnte, daß sie diesen Mann nicht aufhalten konnte.
Max Headroom genoß die grenzenlose Freiheit, die der unendliche elektronische Kosmos bot. Alle Zuschauer, die Sender 23 eingeschaltet hatten, sahen seine unglaubliche OneMan-Show. »Und jetzt erzähle ich Ihnen etwas über ZikZaks 10000-VoltGla-gla-glaubenskonverter. Schließen Sie einfach einen Freund an, und er wird eine blitzartige Erleuchtung haben. Ahahaaa!« Über die eigenen Witze konnte man doch immer noch am besten lachen! Natürlich war Max auch im 23er-Tower zu empfangen. Grossberg und das Direktorium saßen noch immer in ihrer Konferenz. Nur Cheviot war nicht zurückgekehrt. Der Vorstandsvorsitzende wurde mit jeder Sekunde nervöser. Wo steckte der alte Trottel? Und vor allem: Was trieb er? Zum wiederholten Male ließ Grossberg eine Direktleitung ins 13. Stockwerk schalten: »Bryce, wenn du diesen ComputerIdioten nicht sofort vom Bildschirm holst, hast du nichts mehr… nicht mal eine Zukunft! Verstehst du mich, Junge?« »Nur keine Panik! Ich habe ihn schon gefunden. Ich hole ihn vom Sender runter… mit etwas Glück.« »Glück?« »Ja, er ist erstaunlich flexibel geworden! Richtig aufregend!« Grossberg streckte sein Kinn so weit vor, daß es beinahe das Aufnahme-Objektiv zerschmettert hätte. »Das ist nicht aufregend, Bryce… das ist nur noch katastrophal!« Der Junge verschwand vom großen Bildschirm im Konferenzsaal. Augenblicklich machte sich auch dort wieder Max Headroom breit. »Ich kö-kö-könnte noch… lange zu euch sprechen, wenn ich mehr Zeit hätte. Doch das liegt nicht in meinen Händen. Ich habe keine… Hände. Huach! Aber schon bald sehen wir uns wieder… und wieder… und wieder… und wieder!« Weg war er.
Edwards wollte seinem Boß wenigstens eine kleine Freude machen: »Die Einschaltquoten sind während seiner Moderation um zweieinhalb Prozent gestiegen!« Aber auch über diese gute Nachricht konnte Grossberg sich nicht besonders freuen.
Theora stürmte in die Schaltzentrale, in der es jetzt wieder so hektisch zuging wie an jedem Wochentag. Sie fand den Chefredakteur an einem neuen Computer, der noch ans Verbundnetz gekoppelt werden mußte. Die junge Frau sprühte nur so vor Energie. »Murray, innerhalb der nächsten 45 Minuten brauche ich Sendezeit für eine Live-Reportage!« »Eine Reportage?« »Die Story, die ich habe, schlägt wie eine Bombe ein!« »Und wer ist der Reporter?« »Edison Carter.« Theoras erste Bombe war jedenfalls ein Blindgänger. Sie sah Murray an der Nasenspitze an, daß er sie offensichtlich für verwirrt hielt. »Theora… er ist tot! Grossberg hat noch für heute eine Pressekonferenz deswegen angesetzt!« »Dann wird Edison seine Reportage aus dem Grab senden! Na, ist das vielleicht nichts?« Theora stürmte zu ihrem Controller-Pult und aktivierte die Elektronik. Murray starrte ihr verwundert nach. Hatte der Streß sie um den Verstand gebracht… oder wußte sie etwa mehr als er? Er eilte hinter ihr her. »Was ist hier eigentlich los!« Als Murray die Gestalt auf dem Monitor sah, war er schlagartig im Bilde. Das war Edison Carter! Unverkennbar!
Er lebte! Und er war schon wieder mit gewohntem Einsatz bei der Sache. Carter stand vor der unscheinbaren Tür, die von der Feuertreppe ins 13. Stockwerk führte. Momentan lief die Kommunikation mit Theora über die Überwachungskamera. Carter tippte die Zahlenkombination ins Türschloß. Nichts. »Man hat den Türcode geändert!« Murray brauchte erst einmal einen Stuhl. Schließlich standen nicht jeden Tag alte Freunde von den Toten auf! Theora war in ihrem Element. Wahrscheinlich war der neue Code nicht so leicht zu knacken wie der alte. Außerdem war das Risiko zu groß, daß irgend jemand zu früh etwas bemerkte. Kein Problem. Ein guter Controller wußte immer einen Ausweg. »Na gut, dann gehen wir durch die Ventilation!« Mit einer Mischung aus Verblüffung, Bewunderung und Freude sah Murray zu, wie Theora ihrem Computer den Bauplan der Klimaanlage entlockte. Schnell hatte sie den kürzesten Weg durch das Labyrinth der Schächte gefunden. Sie funkte Carter ein paar kurze Anweisungen zu. Der Reporter montierte ein Lüftungsgitter von der Wand und verschwand in dem dahinterliegenden dunklen Rohr. Er aktivierte seine Handkamera, denn in dem Bereich, in den er jetzt vordrang, gab es keine Überwachungsanlagen. Es dauerte nicht einmal eine Minute, dann kauerte Carter über dem Gitter des Lüftungsschachts von Bryces Labor. Seine Kamera erfaßte den Jungen, der wie ein Wilder auf seine Computer-Tastaturen einhämmerte. Dann entdeckte der Reporter den Bildschirm. Und darauf Max Headroom. Zum ersten Mal bekam Carter sein elektronisches Ebenbild zu Gesicht. Murray und Theora hatten in der letzten Nacht und an diesem Morgen beide nicht ferngesehen. Der Computermann auf dem Monitor mit den Reporter-Bildern war auch für sie völlig neu.
»Was ist denn das?« murmelte Murray. Theora schaltete eine Ausschnittvergrößerung. »Das scheint so eine Art Computer-Grafik zu sein.« Murray fiel es wie Schuppen von den Augen: »Der sieht wie Edison aus!« Ein kurzer Tritt genügte. Krachend polterte das Lüftungsgitter zu Boden. Reporter und Kamera folgten. »Mr. Carter!« Erschrocken sprang Bryce von seinem Stuhl auf. Carter beachtete den Jungen nicht. Er starrte fasziniert auf seinen elektronischen Zwilling, der ihn vom Bildschirm aus freudig begrüßte: »Hallo! Nett-nett-nett, daß du mal vorbeischaust!« Bryce wußte nicht, was er sagen sollte. »Ich dachte, Sie wären…« »Tot?« ergänzte Carter den Satz. »Ja, das dachte ich auch.« Vom Bildschirm musterte Max seinen menschlichen Doppelgänger, Kritisch und gründlich. Schließlich grinste er zufrieden. Für einen Menschen war Carter tatsächlich noch ganz gut beieinander. »Schön… daß Sie noch leben!« Bryce druckste ein bißchen herum. Ihm wurde langsam klar, was er mit seinem blinden Gehorsam Grossberg gegenüber beinahe angerichtet hätte. Aber er würde es wieder gutmachen. Wenn Carter Hilfe brauchte – Bryce würde sie ihm geben. »Danke, Kleiner! Wo ist das Rebus-Video?« »Ich fürchte, das hat Mr. Grossberg.« »Gibt es vielleicht eine… « »Nein! Keine Kopie!« »Er hat re-re-recht«, meckerte Max vom Bildschirm. »Wir brauchen keine Kopie!« Bryce klang wieder so ungeduldig wie immer. Warum übersahen Erwachsene stets die simpelsten Lösungen? »Sie haben das Band gesehen! Es ist
in Ihrem Gedächtnis… also auch in dem von Max!« Der Junge deutete auf den Monitor mit der lebenden Computer-Grafik. »Max?« Ungläubig starrte Carter das Gesicht auf dem Monitor an. Dieses Ding hatte sogar einen Namen? »Mmmmax… njamm!« Der Computer-Mensch genoß die Verwirrung des anderen. »Um genau zu sein… Max Headroom«, ergänzte Bryce. »Ma-ma-ma-maaaax Headroom!« »Ich habe ihn mit Hilfe Ihrer Daten im Computer generiert. Er ist zwar noch nicht perfekt…«, bei diesen Worten legte Max seine Stirn gekränkt in Falten. Bryce fuhr ungerührt fort: »… aber alles, was Sie wissen und gesehen haben, ist in seinem Speicher.« Langsam wurden Carter die Zusammenhänge klar. »Tag, Max!« »Tag, Tag, Max. Eheh?« Um Zustimmung heischend, blickte das Computer-Wesen in die Runde. Murray und Theora hatten vom Controller-Pult aus alles mitverfolgt. Die junge Frau schaltete als erste: »Edison, wir könnten seine Erinnerungsbilder aufzeichnen! Dann hätten wir das Rebus-Band!« »Das wäre ja beinahe so, als würde ich mit Material aus dem Jenseits arbeiten… und noch dazu aus meinem eigenen Jenseits! Ach, egal, was soll’s… fangen wir an!« Max sülzte, als wolle er einem Haufen Hausfrauen das neuste Superweichwaschmittel verkaufen: »Zwei Gehirne, die das gleiche Gedächtnis benutzen… aaaahh!« Diesmal wurde die Übertragungsleitung zur Kontrolle nicht blockiert. Theora und Murray zuckten zusammen, als auf ihrem Bildschirm der arme Stu McWilliams zerplatzte wie eine Seifenblase. Murray drückte sich nie vor der Verantwortung. Aber diese Sache hier überstieg eindeutig seine Kompetenz. Wenigstens
einer aus dem Vorstand mußte ihm Rückendeckung geben. Murray rief Cheviot an und spielte ihm die kurze Aufnahme vor. »Was soll ich machen, Sir?« »Machen Sie das, was Sie für richtig halten!« Cheviot legte den Hörer auf, rückte seine Brille zurecht und kramte seine Pfeife aus der Tasche. Es war an der Zeit, wieder auf dem Sessel des Vorstandsvorsitzenden Maß zu nehmen.
Die Reporter drängten sich nach vorn, um die besten Plätze zu ergattern. Wenn Sender 23 eine Pressekonferenz gab, ging es in aller Regel um eine große Sache. Grossberg trat an das altmodische Rednerpult, das im ultramodernen 23er-Tower irgendwie fehl am Platze zu sein schien. Er nahm sein Manuskript aus der Tasche, rückte das Kinn vor und die Krawatte zurecht. Als er sich räusperte, herrschte fast augenblicklich respektvolle Stille. »Ladies und Gentlemen, wir haben heute sehr traurige Nachrichten für Sie. Sender 23 gibt mit Bedauern bekannt, daß sein bester Fernsehreporter, der weltbekannte und beliebte Edison Carter, gestern während der Arbeit getötet wurde.« In der Schaltzentrale gab Murray Carters Controllerin die letzte Anweisung: »In genau fünf Sekunden seid ihr auf Sendung.« Lächelnd stellte Theora die letzten Verbindungen her. Grossberg ahnte nichts von dem Unheil, das sich über seinem Kopf zusammenbraute. Er schwafelte weiter wie ein bezahlter Trauerredner: »Edison Carter war eine der ganz großen Persönlichkeiten des Senders 23. Er hat uns alle inspiriert. Ein Mensch, der sein Leben lang bemüht war, stets nur die absolute Wahrheit zu finden.«
Im selben Augenblick wurde die große Tür aufgestoßen – und der Totgesagte stürmte herein, die Live-Kamera auf der Schulter. Verwirrte Stimmen wurden laut: »Carter? Ich denke, der ist tot!« »Das gibt’s doch gar nicht!« Grossbergs Kinn klappte nach unten, als auch er den Mann sah, den er längst im Jenseits glaubte. »Hier ist Edison Carter, der sehr live und sehr direkt für Sender 23 berichtet. Die Bekanntgabe meines Todes, Mr. Grossberg, war etwas übereilt. Und jetzt erzählen Sie uns bitte etwas über Ihre neuen Werbespots, die Sie… ›Psycho-Spots‹ nennen!« Aber der Manager konnte längst nicht mehr sprechen. Ein ums andere Mal reckte er das eckige Kinn vor, doch diese Geste, die seine Untergebenen beeindrucken sollte, wirkte jetzt nur noch lächerlich. Gnadenlos fuhr Carter fort: »Vielleicht erklären Sie uns auch die tödliche Wirkung dieser Spots, die wir jetzt gleich sehen werden!« Und leiser: »Okay, Kontrolle… Einspielung abfahren!« Theora drückte auf den Knopf – im nächsten Moment wurden Grossberg, die Journalisten im Saal und 300 Millionen Zuschauer im ganzen Land Zeuge von Stu McWilliams’ tragischem Ende. Doch während der Dicke wenigstens noch mit einem echten Knalleffekt abgegangen war, schlich sich Grossberg leise, wie ein geprügelter Hund aus dem Saal. Ein solcher Fehler war unverzeihlich. Eine hoffnungsvolle Blitzkarriere fand ein unrühmliches, vorzeitiges und endgültiges Ende.
Die Kollegen sprangen von ihren Plätzen und brachen in einen wahren Begeisterungstaumel aus, als Edison Carter die Nachrichtenzentrale betrat. Von allen Seiten reckten sich ihm Hände entgegen, um ihm zu gratulieren. Der schlaksige junge Mann wirkte direkt verlegen über so viel Beifall. Auch Murray und Theora erhoben sich von ihren Plätzen. In ihren Augen konnte Carter lesen, wie stolz sie auf ihn waren. Ein verdammt gutes Gefühl. Verlegen fingerte er in seiner Manteltasche herum, bis er den kleinen Stoffbären fand, den er vorhin gekauft hatte. Grinsend wie ein kleiner Junge, dem eine tolle Weihnachtsüberraschung gelungen ist, warf er ihn seiner Controllerin zu. Murray hatte wirklich nicht gelogen: Sie war die beste. Er sah ihr tief in die blauen Augen, versuchte darin zu lesen. Letzte Nacht hatten sie zwar nicht… aber das würden sie sicher bald nachholen. Sehr bald. In dieser Nacht war die Schaltzentrale wirklich menschenleer. Zumindest kein Mensch aus Fleisch und Blut saß vor den Kontrollen. Auf den Bildschirmen aber hatte sich der neue Publikumsliebling des Senders 23 breitgemacht. Ein elektronisches Wesen wie Max Headroom wurde schließlich niemals müde, solange auch nur noch ein Fünkchen Energie im System steckte. Doch Max war nicht nur hier – für ihn war es eine Kleinigkeit, sich im gesamten System auszubreiten und von allen Fernsehempfängern im Land gleichzeitig seine Fans anzusprechen. »Uuuund ichichich melde mich sofort wieder mit Neuigkeiten vom Sender 23, hanghanghang!« Max’ Programm war längst in Ordnung, aber er liebte diese kleinen Verrücktheiten. Er fand, sein Sprachfehler würde ihm eine ganz persönliche Note verleihen. »Hallo! Hallo! Nein…das ist kein Psycho-Spot, sondern Max Headroom vom Sender 23. Ja! Ja! Ja! Ich weiß genau, daß Sie
mich jetzt alle anstarren und denken… wow! Wow! Der Typ wird ein Staaar! Also, bevor man was Falsches von mir denkt, sage ich in aller Bescheidenheit… Sie haben recht. Ich werde einer! Hiaah! Ich… m-möchte nicht… melancholisch werden melancholisch werden… aber wie wird die Zukunft? Sie wird hart! Sie müssen ihr die Zähne zeigen…ich muß es nicht… Ich frage Sie… wann lügt unser oberster Boß, hm? Wenn er die Lippen bewegt!« So ganz aktuell war dieser Witz nicht mehr. Denn der oberste Boß des Senders 23 hieß nicht mehr Miles Grossberg.
7. Kapitel
In der Woche, die auf Grossbergs unrühmlichen Abgang folgte, hatte sich nichts Wichtiges ereignet. Die Welt war so gut wie immer. Oder so schlecht. Die mächtige ZikZakCorporation hatte es nicht gewagt, Sender 23 ihre Werbeaufträge zu entziehen. Auch wenn der jetzt – wie alle anderen TV-Gesellschaften – nur ganz gewöhnliche Werbespots ausstrahlte. Ein Konsumgüter-Gigant wie ZikZak war auf das Wohlwollen breiter Bevölkerungsschichten angewiesen. Nun, wo die Öffentlichkeit über die Psycho-Spots im Bilde war, hätte ihre weitere Sendung millionenfache Proteste hervorgerufen. Und Verbraucher-Proteste waren noch schlechter fürs Geschäft als miese Werbung. Das Leben nahm seinen gewohnten Gang. Auch in den Slums der Vorstadt. Es war kalt an diesem Abend. Menschen in zerlumpten Kleidern drängten sich um Feuer, die in alten Ölfässern loderten. Oder sie hockten apathisch vor einem der überall stehenden öffentlichen Fernseher und ließen sich mit Unterhaltung berieseln. Die Bilder auf der Mattscheibe zeigten eine schönere Welt – eine Welt, die die Menschen hier auf den schmutzigen Straßen niemals selbst erleben würden. Hier war die Endstation. Von hier führte kein Weg zurück in ein bürgerliches Leben im Wohlstand. Normalerweise. Doch manche gaben selbst in dieser Umgebung aus Armut, Hunger und Schmutz nicht auf. Sie waren bereit, alles zu tun, um aus den Slums herauszukommen. Wirklich alles. Sie waren sogar zum Töten bereit.
Die junge Frau, sie sich in den Schatten zwischen Hauswand und Mülltonne drückte, gehörte zu dieser Sorte Mensch. Sie wollte den Aufstieg schaffen – und wenn den überhaupt jemand ermöglichen konnte, dann die Organisation, der sie sich angeschlossen hatte. Sie war noch nicht lange dabei, deshalb betraute man sie vorerst nur mit einfachen Aufgaben. In dieser Nacht hatte sie Wachdienst. Langsam, mit aufgeblendeten Scheinwerfern, fuhr der große Bus an ihr vorüber. Er war das einzige Fahrzeug weit und breit. Die junge Frau drückte die Sprechtaste ihres Handfunkgeräts. »Hier ist Locomotive Row. Der Bus kam gerade an mir vorbei. Die Straße ist jetzt frei… kein Verfolger zu sehen.« Wie ein gehetztes Tier sah die Sprecherin sich um. Sie wußte, daß ihre Organisation außerhalb der Gesetze arbeitete – noch. Solange sich das nicht geändert hatte, durfte kein Außenseiter die geheimen Operationen entdecken. Vor allem keiner der Bullen von der Metro-Polizei.
Rasta hatte keine Hoffnung, jemals aus den Slums herauszukommen. Doch damit hatte er sich abgefunden. Immerhin gab’s hier Fernsehen satt und umsonst. Außerdem verteilten die Behörden ab und zu Lebensmittel. Verhungern brauchte hier keiner. Rasta war ein junger Mann, fast noch ein Kind. 17, höchstens 18 Jahre alt. So ganz genau wußte er das selber nicht. Auch seinen Namen hatte er beinahe vergessen. Rasta reichte. So nannten ihn alle – wegen der langen, zu wirren kleinen Zöpfchen geflochtenen Haarpracht auf seinem Kopf. In seinen Adern kreiste eine Blutmischung, zu der wohl jede Volksgruppe dieses überbevölkerten Planeten ihren Anteil
beigetragen hatte. Rasta gehörte zu jenen unnachahmlichen Mischlingen, wie sie nur in den Slums der Großstädte gezeugt wurden. Ein wirres Sammelsurium aus alten Kleidungsstücken und Tuchfetzen hielt seinen dünnen Körper halbwegs warm. Von seinem linken Ohrläppchen baumelte ein Ohrring – um genau zu sein, war es eigentlich nur der Pull-Ring einer Coladose, aufgehangen an einem Stück Zwirn. Rasta beeilte sich, um zu seinem Lieblingsplatz zu kommen. Hier stand eine ganze Batterie öffentlicher Fernseher. Gleich begann seine Lieblingssendung. »Missile Mike« war eine starke Kriegsserie. Beinhart. Echt irre spannend. Rasta wollte um keinen Preis die neuste Folge verpassen. Er atmete auf, als er merkte, daß er’s noch rechtzeitig geschafft hatte. Der Ansager gab noch die übliche heiße Luft von sich. Prima! Keine Action verpaßt! »Unsere folgende Serie bietet Ihnen Einblick in die vergangenen Methoden einer archaischen Kriegsführung, bei der noch mit so altmodischen Dingen wie Bomben und simplen Feuerwaffen gekämpft wurde. Heute sind die Methoden zum Austragen eines Konflikts natürlich subtiler und technisch anspruchsvoller geworden!« Wann hörten die endlich mit der Quatscherei auf? Da erschien das erste Bild von Rastas Lieblingshelden – und war im nächsten Moment wieder verschwunden. An seiner Stelle machte sich dieser seltsame Computer-Typ auf dem Bildschirm breit, der seit einer Woche durchs Programm von Sender 23 geisterte. Max Headroom. »Hallo!« Klick, klick, klick. Den Sprachfehler hatte er also noch immer! »Wissen Sie, ich veranstalte gerade eine Umfrage über sinnlose Gewalt und ihre Auswirkungen auf die Seele und das äh… Bewußtsein. Glaubst du, daß all das Morden
notwendig ist? Jagt dir das keinen Schreck-schreck-schreckschrecken ein?« Rasta wußte nicht, was er von der Sache halten sollte. Obwohl sich ein ganzer Haufen Leute um die Empfänger versammelt hatte, schien dieser Max nur mit ihm zu sprechen, ihm direkt in die Augen zu sehen. Aber das war doch unmöglich, oder? Vorsichtshalber fragte Rasta halblaut: »Redest du mit mir?« »Ja. Ja. Ich meine dich da mit dem Brettbrettbrett auf Rädern. Rädern.« Max starrte auf Rastas wertvollsten Besitz, den sich der Junge unter den Arm geklemmt hatte. Von seinem Skateboard würde er sich niemals trennen. Um keinen Preis der Welt. Aber wenn der Typ vom Bildschirm das Board sah…! »Wie wirkt Gew-gew-gew-gewalt auf dich?« Für Rasta gab es jetzt viel wichtigere Fragen: »Sie können mich also wirklich sehen?« Klar konnte Max. Und die Antwort des Jungen sagte mehr aus als irgendwelche langatmigen Erklärungen. Gewalt auf dem Bildschirm nahm er ganz selbstverständlich hin. Max Headroom, den das psychologische Wissen sämtlicher Datenbanken des Kontinents zur Verfügung stand, erkannte, daß Gewalt im Fernsehen für seinen Gesprächspartner einfach dazugehörte. Und er war fast noch ein Kind. »Tja, das war eine… faszi-faszi-faszinierende Diskussion. Du hast meine Frage beantwortet, ich danke dir. Dir. Du hast gut mitgearbeitet.« Eine kurze Störung flimmerte über den Schirm. Dann war Max verschwunden, und Missile Mike konnte endlich losballern.
Der Bus erreichte die alte Lagerhalle, deren Inneres völlig umgebaut worden war. Der größte Teil des Erdgeschoßfußbodens war durchbrochen, so daß eine Art riesiger Swimmingpool entstanden war. Doch in dem Becken war kein Tropfen Wasser. Zwei Rampen an der Kopfseite und halbrunde Verkleidungen an den Längsseiten machten den Keller der Halle zu einer gigantischen Skateboard-Bahn. Mehrere tausend Zuschauer drängelten sich auf den Galerien ringsum. Jeder wollte möglichst weit vorne stehen, um nichts von dem Spektakel zu verpassen, das hier schon bald ablaufen sollte. Über die rechte der beiden Rampen marschierte eine Gruppe junger Männer hinab auf den Boden der Bahn. Sie trugen phantasievolle Kostüme, die die Oberkörper freiließen. Einige hatten sich eine Art Kriegsbemalung ins Gesicht geschmiert – wie die Indianer längst vergangener Tage. Ausnahmslos alle hatten Skateboards dabei. Und zwar ganz spezielle Modelle mit Motorantrieb. An der Hinterachse dieser Boards saßen kleine Zweitaktmotoren, die den Rollbrettern bei Vollgas ein irrwitziges Tempo verleihen konnten. Die Stimme des Ansagers dröhnte aus verborgenen Lautsprechern: »Ladies und Gentlemen, willkommen bei unserem Kampfabend! Heute werden Sie eine der wichtigsten Begegnungen dieser Raking-Saison erleben!« In einer verglasten Loge fast unter der Hallendecke standen drei sehr unterschiedliche Männer. Das Gebrüll der Menge drang nur gedämpft durch die Scheiben aus kugelsicherem Panzerglas. Der jüngste der drei war Ende zwanzig, modisch gekleidet und betont locker. Jack Friday liebte es, teure Anzüge zu tragen, sich die langen Haare beim neusten »In-Coiffeur« stylen zu lassen und edlen Highland-Scotch zu schlürfen. Und seit er den gutbezahlten Job als Chef der Sportredaktion von
Sender 23 bekommen hatte, konnte er sich seinen aufwendigen Lebensstil auch leisten. Allerdings mußte er dauernd auf Draht sein, um das hohe Gehalt, das der Sender ihm zahlte, zu rechtfertigen. Deshalb war Jack Friday stets auf der Suche nach neuen Attraktionen. Deshalb hatte er die beiden Männer neben ihm zusammengebracht. Al Copane würde nie so alt werden, wie er jetzt schon aussah. Sein schlechtsitzender Anzug schlackerte um einen unendlich dürren Körper. Copanes Gesicht erinnerte frappierend an das eines alten, gerissenen Geiers. Im Grunde genommen war er das auch. Er verdiente sein Geld mit Geschäften, die nicht unbedingt legal sein mußten. Copane hatte Raking zu dem gemacht, was es jetzt war. Alle Veranstaltungen der neuen Kampfsport-Sensation liefen unter seiner Regie – und für sein Bankkonto. Zwischen den beiden Weißen in der Loge nahm sich der Asiate beinahe schmächtig aus. Ped Zings Alter war genauso undefinierbar wie sein Innenleben. Von seinem stets gleichmütig-freundlichen Mondgesicht konnte selbst der Geübteste keine Gefühle ablesen. Ein paar letzte graue Haare auf seinem Schädel kämpften einen aussichtslosen Kampf gegen die Kahlheit. Ped Zing wirkte nicht sonderlich beeindruckend – wenn man ihn durch ein Fernglas betrachtete. Wer dem Japaner gegenüberstand, spürte die Aura der Macht, die von ihm ausging, beinahe körperlich. Ped Zing war die Graue Eminenz der ZikZak-Corporation. Einer der mächtigsten Männer der Welt. Und es war Jack Fridays Verdienst, daß er jetzt hier mit dem Gangster Copane in dieser schmierigen Loge stand. »Sehen Sie!« Der Promotor der Raking-Shows deutete hinab in die Kampfarena. »Das da ist einer der Favoriten!«
Ein großmäulig wirkender Junge von 16 Jahren stolzierte mit seinem Motor-Skateboard durch die Arena und ließ sich vom tobenden Publikum feiern. Aber die Leute kamen nicht nur hierher, um die Kämpfe zu sehen. Für viele der Zuschauer waren die Wetten wichtiger. Unglaubliche Beträge wechselten an Kampfabenden den Besitzer. Natürlich blieb dabei viel in den Taschen der Buchmacher kleben. Fedor und Spivy gehörten zu Copanes Gang, das sah man schon an ihren Anzügen, die genauso schlecht saßen wie der ihres Chefs. Klar, daß sie ein paar Dollar riskierten. Fedor deutete auf den Jungen unten in der Bahn. »Hot Shot ist mein Favorit. Sieh ihn dir an… der hat’s drauf! Ein schneller Junge!« Spivy füllte noch schnell ein paar Wettzettel aus: »Ist doch nur ein Angeber! Ich setze lieber auf Viper!« Ein Knabe, der besser nicht so viele Hamburger in sich hineingestopft hätte, hob sein Board triumphierend über den Kopf. Viper war vielleicht nicht der geschickteste Raker – aber er war garantiert der gemeinste. Keiner hatte so viele miese Tricks auf Lager wie er. Viper war auf Sieg programmiert. »Und hier kommt Viper!« tönte der Hallensprecher. »Einer der ganz Großen im Geschäft,…in vielen Kämpfen ungeschlagen!« Der große Bus hielt im düsteren Hof hinter der Lagerhalle. Zischend öffnete sich die vordere Tür und spuckte einen Haufen Jungs mit Sporttaschen aus. Angeführt wurden sie von einem großen, bulligen Mann mit Schnurrbart und Glatze. Crocker war ihr Coach. Früher selbst ein erfolgreicher Sportler, hatten Alkohol und süßes Leben seine Gesichtszüge heute aufgeschwemmt. Doch als Trainer war er unbestritten die Nummer eins. Das Rakers-Team, das er sich aufgebaut hatte, gehörte zu den besten weit und breit.
Schnelle Blicke nach rechts und links – keine Bullen zu sehen. Crocker und seine Jungs hetzten zum Hintereingang der Halle. Sie mußten vorsichtig sein, durften sich auf keinen Fall erwischen lassen – wenigstens jetzt noch nicht, solange Raking illegal war. Das würde sich bald ändern. Ein paar einflußreiche Männer kümmerten sich darum. Durch überfüllte Gänge stürmten Crocker und sein Team zur Kampfarena. Der Coach fluchte. Es schadete seinem Ruf, wenn er zu spät kam. »Aber noch sind nicht alle Teilnehmer eingetroffen!« dröhnte die Stimme des Hallensprechers. »Wir warten noch auf eine Gruppe besonders harter Kämpfer. Sie müssen jede Minute hier sein!« Crockers Truppe erreichte die für sie reservierte Rampe. In fliegender Hast legten die jungen Burschen ihre Zivilkleidung ab. Darunter kamen die bizarren Kostüme professioneller Raker zum Vorschein. Jetzt hatte auch der Hallensprecher die Neuankömmlinge entdeckt. »Und da kommen sie… die harten Jungs unten vom Fluß! Begrüßen wir sie mit einem kräftigen Applaus!« Das Publikum tobte. Die Boys vom Fluß waren immer für besonders harte Kämpfe gut! Fedor versuchte, das Gebrüll der Menge noch zu übertönen. »Mach ihn fertig, Junge!« rief er Hot Shot zu. »Dann ist ein Extrabonus für dich drin!« Crocker hielt sich aus allen Wetten heraus. Das war ihm zu unsicher. Er verdiente auf jeden Fall an den Kämpfen, egal wie sie ausgingen. Natürlich mußte er dafür sorgen, daß sein Team stets gut abschnitt. Denn je mehr Erfolge seine Boys erkämpften, um so höher war sein Honorar. »Was ist? Worauf wartet ihr? Los, vorwärts! Ab in die Arena!«
Er scheuchte die Jungs, die gerade letzte Hand an ihre Kostüme und ihre Kriegsbemalung legten, wie einen Haufen aufgeschreckter Hühner die Rampe hinab indem er noch einmal mit donnernder Kommandostimme rief: »Los, Beeilung! Schneller! Schneller! Schneller!« Sie reckten ihre Skateboards in die Höhe, genossen den dröhnenden Applaus der Menge. Crocker schnaubte verächtlich. Sollten die Bürschchen da unten ruhig die Stars spielen! Er brauchte keinen Ruhm, ihm reichte es, wenn die Jungs seinen Anordnungen aufs Wort gehorchten – und wenn sein Kontostand stimmte! Der Hallensprecher verstand sein Handwerk, sorgte für eine Bombenstimmung: »Ladies und Gentlemen… noch mehr Applaus für die harten Jungs vom Fluß!« Fedor und Spivy genossen die brodelnde Atmosphäre dieses Hexenkessels. »Das wird mit Sicherheit ein toller Abend!« freute sich Fedor. Er winkte einen der Buchmacher herbei: »Komm her! Hier… ich setze hundert Mäuse auf Hot Shot!« »Hundert… okay! Habe ich notiert!« Crockers Team warf die Motoren an. Die Boys sausten mit ihren knatternden Skateboards an den halbrunden Wänden auf und nieder. Ein spektakulärer Anblick. Aber das war noch gar nichts. Schließlich liefen sie sich erst warm. Crocker feuerte seine Leute an. Die verdammten Kerle sollten sich gefälligst einsetzen, auch schon beim Warmlaufen! Das war schließlich das Erfolgsgeheimnis des Teams vom Fluß: streng sportwissenschaftliche Trainingsmethoden. Professionelles Arbeiten. In der Loge hoch oben redete Friday wie ein Wasserfall auf den schweigenden Japaner ein: »Wir sollten uns schnell entscheiden und den Lizenzvertrag unter Dach und Fach bringen! Diese Sportart wird garantiert der Renner des Jahres!«
Genau das hatte Copane hören wollen. Es war weder einfach noch billig gewesen, Raking unter seine Kontrolle zu bringen. Aber nun lief in diesem Sport nichts mehr ohne ihn. Es wurde Zeit, an der Sache zu verdienen. Sender 23 und die ZikZakCorporation wären die idealen Partner dafür. »Der Kampf wird Ihnen garantiert gefallen, glauben Sie mir!« Copane hob sein Glas und prostete dem Asiaten zu. Friday machte es ihm nach. Ped Zing konnte die Geste nicht erwidern. Er verabscheute Alkohol – und er verabscheute die Charakterschwäche der Weißen, die sich diesem Gift so willig hingaben. In der Arena zeigte Hot Shot ein paar seiner Kabinettstückchen, die er mit dem Motorskater draufhatte. Er wußte, wie man das Publikum auf seine Seite brachte. »Applaus für diese Sondervorstellung!« Selbst der Hallensprecher schien beeindruckt. »Und jetzt zeigen die Jungs vom Fluß, was sie draufhaben… Applaus für sie!« In einer sorgfältig einstudierten Choreographie raste Crockers Team kreuz und quer durch die Arena. Bei dieser wahnwitzigen Fahrt mußte es doch einfach zu Kollisionen kommen. Aber nichts geschah. Betroffen verfolgten die Konkurrenten das einmalige Schauspiel, das sich ihnen bot. Crockers Leute waren wirklich gut. Vielleicht zu gut. Crocker grinste still vor sich hin. Er wußte, daß ein Gegner, der sich beeindrucken ließ, fast schon verloren hatte.
8. Kapitel
Edison Carter beugte sich zum Ausgabeschacht des Getränkeautomaten hinab. »Was wollen Sie, Martinez? Bier oder Mineralwasser?« »Geben Sie mir ein Bier. Ich glaube, in den nächsten Stunden werde ich nirgendwo hinfliegen müssen.« Martinez war einer der Hubschrauberpiloten von Sender 23. Carter arbeitete gern mit ihm zusammen. Auf Martinez war Verlaß. Immer. Aber im Moment gab es leider keine Arbeit. Der Reporter und sein Pilot lümmelten sich im Bereitschaftsraum und schlugen die Zeit tot. Im Fernseher startete gerade die neueste Folge von »Missile Mike«. Gelangweilt starrte Martinez auf den Schirm. Die ewige Ballerei war zwar weder besonders einfallsreich noch originell. Aber die Serie half einem wenigstens, die Zeit totzuschlagen. »Ich bin seit Tagen nur noch auf Standby«, nörgelte der Pilot. »Wieso, zum Teufel, passiert eigentlich nirgendwo was? Vielleicht habe ich schon vergessen, wie man einen Hubschrauber fliegt!« Carter reichte ihm das Bier. »Hier… aber nicht zu schnell trinken!« Nachdenklich starrte er auf die schnelle Folge von Explosionen, die über den Bildschirm flackerte. Die Leute, die solche Serien produzierten, hatten es einfach. Wenn sie Action brauchten, arrangierten sie welche. Ein Reporter mußte darauf warten, daß irgendwo irgend etwas geschah. Ohne kleine oder große Katastrophen waren Leute wie Carter arbeitslos.
Er seufzte. »Schrecklich, darauf zu warten, daß etwas passiert!« »Ja… ich hasse das!« stimmte ihm Martinez zu. Einträchtig saßen die beiden Männer nebeneinander und verfolgten Mikes haarsträubende Kriegsabenteuer.
In der Nachrichtenzentrale mußte sich Murray fast mit Gewalt von dem Bildschirm losreißen, auf dem Mike über ein Schlachtfeld flimmerte. Der Chefredakteur war kurz davor, im Stehen einzuschlafen. Er schlenderte zu Theora hinüber, die an ihrem Controller-Pult saß. Interessiert verfolgte sie einen Karate-Film auf einem ihrer vielen Monitore. Das war zwar das Programm eines Konkurrenzsenders, aber wenigstens nicht ganz so gewalttätig wie »Missile Mike«. »Heute scheint überhaupt nichts zu passieren«, seufzte Murray. Theora schaltete den Karate-Quatsch ab. »Was haben wir als Ersatzprogramm?« »Arbeitssüchtiger Chefredakteur langweilt sich zu Tode.« Murray brauchte irgendeine Beschäftigung, egal was. Also fragte er: »Möchtest du einen Kaffee?« »Nein, danke«, seufzte Theora. Sie langweilte sich mindestens ebensosehr wie ihr Chef. Aber wenn der Bewegung brauchte, sollte er gefälligst jemand anderem auf die Nerven gehen. Die junge Frau erinnerte sich an Edisons Reportage für das politische Magazin. Die Sendung sollte zwar erst im nächsten Monat ausgestrahlt werden, aber das Band mußte noch bearbeitet werden. Also gut. Warum nicht jetzt? Sie rief die Aufnahmen ab, die Carter in den Slums gedreht hatte. Das menschliche Elend, das seine Kamera gnadenlos demaskierte, war wirklich erschütternd.
Carters Kommentar war offen und engagiert wie eh und je: »Anscheinend ist es den meisten noch nicht klargeworden, daß die Menschen in den Randbezirken buchstäblich alles essen. Alles, was sie nur bekommen können!« »Theora, ein Anruf für dich!« Natürlich. Kaum hatte sie sich zur Arbeit aufgerafft, wurde sie auch schon unterbrochen. Journalistenschicksal! Seufzend schaltete sie die Vidifonleitung auf ihren Schirm. Edisons Reportage mußte warten. Sie stutzte, als sie die Code-Nummer des Anrufs sah. Der kam über ihre private Leitung. Und diese Nummer kannten nur wenige. Sie befahl dem Computer, das Gespräch durchzuschalten. Eine hübsche junge Frau Anfang 20 erschien auf dem Bildschirm. Schlank. Große dunkle Augen. Latino-Typ. Die Controllerin war völlig überrascht. Es kam selten genug vor, daß ihre Schwägerin sich meldete. Und wenn sie dann noch hier am Arbeitsplatz anrief… »Theora? Hier ist Winnie!« Sie wirkte gehetzt, verängstigt. »Winnie? Was hat dieser Anruf zu bedeuten?« »Shawn wollte nicht, daß ich mit dir rede… aber ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll.« Winnie klang beinahe hysterisch. »Warte eine Sekunde… ich kopple die Verbindung nur schnell von der Datenbank ab!« Im 23er-Tower liefen alle Telefonate über den Zentralcomputer. Offiziell wurde es zwar bestritten, aber Theora war sicher, daß die Gespräche aufgezeichnet wurden. Sie rief das Telefonprogramm auf. Der Zugang zum System war ganz wenigen Vertrauenspersonen gestattet, aber Theora hatte längst einen Weg gefunden, den Sicherungscode zu knacken. Sie lenkte Winnies Anruf am Computer vorbei.
»Gleich können wir sprechen, ohne das jemand mithört. So… nun erzähle mal! Was ist passiert?« »Shawn steckt in einer ziemlichen Klemme, und ich… ich weiß nicht, was ich tun soll!« »Wo ist er?« Winnie zögerte, und dann hörte Theora die wütende Stimme ihres Bruders im Hintergrund: »Mit wem telefonierst du?« »Ich kann jetzt nicht reden. Nein, Shawn…!« Eine unsichtbare Hand zog Winnie vom Vidifon weg, dann war die Leitung tot.
Shawn zerrte seine junge Frau vom Apparat weg. Ängstlich drückte sie ihr Baby an sich. Doch Shawn hatte nicht vor, ihr oder dem Kind Gewalt anzutun. Er war im gleichen Alter wie Winnie. Sein neugeborener Sohn war sein ganzer Stolz. Shawn war nicht besonders groß, aber drahtig und durchtrainiert bis in die Fingerspitzen. Ein wirrer Haarschopf krönte sein Gesicht, dessen hervorstechendstes Merkmal eine reichlich lange Nase war. Shawn war nicht gerade eine Schönheit. Aber doch ein Mann, der eine Frau faszinieren konnte. »Geh nicht!« flehte Winnie. »Ruf du sie an. Du brauchst Hilfe!« »Hab ich dir nicht verboten, mit ihr zu quatschen? Schluß jetzt… du bist wie der Fernseher, hörst niemals auf zu reden!« »Aber sie ist deine Schwester!« »Unsinn!« Shawn öffnete die Tür. »Ich habe keine Schwester mehr! Ich tue es für dich… und für ihn.« Zärtlich berührte er die Wange des Kleinkinds. Dann ging er hinaus und schloß die Tür hinter sich.
Theora stand auf und ging nach vorn zu einem der Volontäre, die in der Nachrichtenredaktion von Sender 23 ihre ersten unsicheren Schritte im Berufsleben machten. »David?« »Ja, Theora?« Sie führte den jungen Mann, der gerade einige Übungen am Controller-Trainingspult absolviert hatte, zu ihrem Platz. »Setz dich da hin. Du betreust heute Edison Carter.« »Edison Carter? Aber er… er will nur mit dir arbeiten!« David war wie vor den Kopf geschlagen. Der beste Fernsehreporter der Welt würde sich kaum von einem Anfänger kontrollieren lassen. Doch Theora blieb hart. »Ja, ja, ich weiß. Mach dir keine Sorgen… im Moment ist hier sowieso nichts los. Du brauchst hier nur zu sitzen und meinen Platz warmzuhalten.« Sie warf sich ihren Mantel über die Schultern und lief aus der Zentrale. Murray hatte davon nichts bemerkt. Die Hände fast bis zu den Ellbogen in den Hosentaschen vergraben, schlenderte er durch die Hinterzimmer der Redaktion und fiel seinen Mitarbeitern auf die Nerven. »Will denn niemand mit mir reden? Ich schlafe gleich ein!« »Murray… Murray!« Offensichtlich hatte jemand sein Flehen erhört. Na ja… »jemand« war zuviel gesagt. »Nein… nicht ausgerechnet Max!« Doch der Computermensch lächelte den Chefredakteur mit dem strahlendsten Bildschirmlächeln an, das sein Grafik-Programm zustande brachte. Murray kochte. Immer wieder tauchte dieser Witzbold auf irgendeinem Bildschirm auf und störte seine Leute bei der Arbeit. Kein Monitor war sicher vor Max Headroom. »Murray… ich will nicht! Ich will nicht! Ich will nicht immer die gleichen Sachen fragen, aber…« Für einen Moment
verschwand Max vom Schirm und blendete die gerade laufende Folge der Kriegsserie ein. »Ich rede über diesen schrecklichen Kriegshelden da. Wie ge… gef-gef-gef-gefährlich ist der Kerl eigentlich?« Hilflos blickte Murray in die Runde seiner grinsenden Redakteure. »Kann mir irgend jemand verraten, was der eigentlich will?« »Ich meine diesen Psy-psy-psy-psy-psychopathen mit dem unerschöpflichen Muni-muni-munitionsvorrat. Er hat schon 99 Menschen auf dem Gewissen und bringt immer noch welche um!« Wieder machte Max Platz auf dem Bildschirm für den Serienhelden, der in voller Kampfmontur auf einem Ölförderturm stand und gerade eine wilde Salve aus dem rotglühenden Lauf seines MGs jagte. »Da! Da! Da! Da!« Max war zu Tode erschrocken, das sinnlose Morden schmerzte ihn in seiner elektronischen Seele. »Diesen schrecklichen Kerl meine ich!« Der Chefredakteur schickte ein stummes Stoßgebet zum Himmel. Wieso konnte dieser elektronische Einfaltspinsel nicht zwischen Fernsehspiel und Wirklichkeit unterscheiden? Nun ja… für jemanden, der nur im Datennetz lebte, dessen ganze Realität aus elektrischen Impulsen bestand, war diese Unterscheidung wohl ziemlich schwer. Der aufgeregte Ruf eines Nachrichtenmannes bewahrte den Chefredakteur davor, sich noch länger mit Max auseinandersetzen zu müssen. »Murray, schnell! Ich hab hier was!« »Worum geht es?« Der Monitor des Mannes zeigte die schematische Darstellung eines Abschnitts der Innenstadt. Mit knappen Worten informierte er seinen Chef. »Wieder dieser Brandstifter. Er hat noch ein Gebäude angezündet!«
Murray deutete auf den Bildschirm. »Was sind das für Leuchtpunkte?« »Hubschrauber der Metro-Polizei.« Der Mann drückte einen Knopf, und schon hörte Murray den Polizeifunk mit. »Wir haben ihn entdeckt. Fünf, wie ist eure Position?« »Nördlich von euch, 20 Meter höher. Wo sollen wir hinfliegen?« »Allein schaffen wir das nicht. Ich fordere Verstärkung an!« Der Nachrichtensammler konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, und auch Murray mußte innerlich lachen, als er erfuhr: »In dem brennenden Gebäude ist die Datenerfassung aller Finanzämter untergebracht.« Endlich hatte sich der geheimnisvolle Brandstifter ein wirklich lohnendes Objekt ausgesucht. Augenblicklich kam Leben in den Chefredakteur. »Also gut, das bringen wir… Edison soll die Sache übernehmen. Martinez muß da landen, auch wenn’s ein bißchen heiß wird. Theora…!« Er lief zum Pult der Controllerin – und hätte fast einen Herzschlag bekommen, als er den blutigen Anfänger David auf ihrem Platz entdeckte. Murray geriet ein wenig aus der Fassung. »Was machst du denn hier?« »Theora mußte plötzlich gehen«, stammelte der Volontär. »Wahrscheinlich…« »Verschwinde, los!« Ungeduldig zog Murray den Jungen am Arm. Als der endlich Theoras Stuhl freigemacht hatte, ließ sich der Chefredakteur selbst darauf nieder. Zögernd aktivierte er einige Schaltkreise. »Mal sehen, ob ich das überhaupt noch kann.« David stand hinter ihm und deutete auf einen Knopf. »Zum Rufen müssen Sie…«
»Nein, du brauchst mir nicht zu helfen!« Fast hätte Murray dem Grünschnabel auf die Finger geklopft. Wußte David eigentlich nicht, daß die meisten Techniken, die er gerade erst mühsam erlernt hatte, von Murray entwickelt worden waren? Damals, vor vielen Jahren – vor sehr vielen Jahren. Murray drückte die Sprechtaste: »Edison, hier ist die Kontrolle!« Doch auf dem Bildschirm, der den Reporter und den Piloten im Bereitschaftsraum zeigte, war keine Reaktion auszumachen. »Schalten Sie das Alarmsignal ein!« David langte an Murray vorbei und drückte auf einen Knopf. Das Alarmsignal brachte augenblicklich Leben in Edison Carter. Er hob seine Kamera auf und starrte in die Optik. »Na, wohl doch schon einiges vergessen, was?« Diese Frechheit sollte dem Grünschnabel noch leid tun! Aber im Moment mußte sich Murray um andere Dinge kümmern. »Edison, hier spricht die Kontrolle!« »Bist du das, Murray? Wo steckt Theora?« »Ich weiß es nicht. Tut mir leid.« In der Raking-Arena war der Teufel los. Nach ein paar Vorkämpfen zum Anheizen warteten die Zuschauer gespannt auf den Auftritt des großen Stars. Sie johlten und pfiffen, brüllten und schrien. Was sie nicht ahnten: Ihr Star war noch gar nicht eingetroffen. »Wo bleibt der Kerl nur?« Crocker konnte seine Wut nur noch mühsam beherrschen. Verspätungen waren absolut unprofessionell. Da! Ein junger Mann drängte sich durch die Reihen der wartenden Kämpfer, fing schon im Laufen an, sich umzuziehen. Shawn. Seine Mannschaftskameraden pflaumten ihn an: »Na endlich! Das wurde ja Zeit! Warum kommst du so spät?«
Schwer atmend setzte Shawn sich den Kopfschutz auf. Er war die ganze Strecke hierher gerannt und völlig außer Puste. Mit einem barschen Wink befahl Crocker ihn zu sich: »Ace… zu freundlich, daß du noch gekommen bist! Du bist dran!« Ace. Hier war er nicht mehr Shawn, der Versager, sondern Ace, der Star. Hoch reckte er sein Skateboard in die Luft, als er ans obere Ende der Rampe trat. Das Publikum jubelte ihm zu. Hier war er der Favorit. Nicht der kleine Bruder. Der Hallensprecher heizte die Stimmung noch an: »Ladies und Gentlemen, jetzt darf ich Ihnen einen der großen Kämpfer der heutigen Abends ankündigen… Ace! Einen Sonderapplaus für Ace!« Trotzig reckte der Gefeierte seine rechte Hand hoch in die Luft. Crocker stülpte ihm den Kampfhandschuh darüber. Ein unförmiges Ding, aus dem vorne drei gefährlich aussehende Metallklauen ragten. Von seiner erhöhten Warte aus ließ der Schiedsrichter das Band des Siegers in die Kampfarena fallen. Auf dieses Zeichen jagten Ace und sein Gegner Scooter ihre Boards die beiden Rampen hinab. Nur einer von beiden würde in der Lage sein, das Band schließlich vom Boden aufzuheben. Am Grund der Arena kollidierten die beiden um Haaresbreite. Schon rasten sie in wahnwitzigen Kurven die Steilwände hinauf und hinab, immer auf der Jagd nach dem Gegner. Ace konnte sich nicht richtig auf den Kampf konzentrieren. Sein Atem ging immer noch viel zu schwer. Außerdem mußte er an Winnie und das Baby denken. Crocker spürte, daß sein Champion nicht in Form war. »Mach ihn fertig!« brüllte er. »Los, mach ihn fertig!« Oben in der Loge erklärte Copane dem Asiaten die Grundzüge des Raking: »Sehen Sie? Einer versucht, dem anderen den Weg abzuschneiden!«
Aber das stimmte nur zur Hälfte. So verzweifelt er sich auch anstrengte – Ace fand kein Konzept, um Scooters Serie blitzschneller Scheinattacken zu beenden. Der erste Treffer war nur noch eine Frage der Zeit. Das Publikum tobte. Da unten waren wirklich zwei Könner am Werk. Spitzenmäßig, diese Show! Die Wetter hingegen fürchteten langsam um ihre Einsätze. »Na los… los! Kämpft! Nicht ausweichen!« Den meisten ging es wie Fedor. Sie wollten endlich Blut sehen.
»Ist ja gut, Kleines. Beruhige dich… ich bin bei dir. Wo ist Shawn?« Ganz dicht kauerte Theora vor ihrer Schwägerin, die auf der Bettkante saß und ihr weinendes Baby an sich drückte. Die Wohnung war klein und nur spärlich möbliert, aber blitzsauber. Winnie schluchzte mit ihrem kleinen Sohn um die Wette: »Shawn… ist einfach weggegangen.« »So kann das doch nicht weiterlaufen… ihr zwei braucht Hilfe, soviel steht fest.« »Wir brauchen dringend… Geld…« Die junge Mutter schien an den Worten fast zu ersticken. »Ach, Winnie…« Theora packte die schmalen Schultern ihrer Schwägerin und sah ihr fest in die Augen. »Winnie… ich kann euch doch Geld geben! Sag mir, wo er hingegangen ist.« »Er… er will nicht, daß ich dir etwas sage.« Winnie brach in unkontrolliertes Schluchzen aus. Ganz sanft nahm Theora sie in den Arm. Sie wußte, daß sie ihr nicht besonders viel Trost spenden konnte. Sie stand auf und ging zur Tür. Noch einmal drehte sie sich zu ihrer Schwägerin um: »Ich werde ihn schon finden… vertrau mir!«
In der Raking-Arena stand die Entscheidung kurz bevor. Die kleinen Motoren der Kampfboards knatterten laut, als sich die Gegner in immer engeren Zirkeln umkreisten. Die Stimme des Hallensprechers überschlug sich beinahe: »Der Kampf nähert sich langsam dem Höhepunkt. Scooter hat seinem Gegner Ace eine erste Verletzung zugefügt, doch das kann den Kampfesmut eines solchen Champions nicht im mindesten bremsen!« Ace spürte keine Schmerzen. Er steuerte sein Board die Steilwand hinauf und wendete beinahe auf der Stelle. Er nutzte das Gefälle voll aus und raste mit Höchstgeschwindigkeit auf Scooter zu. Diese Attacke mußte ihn einfach überraschen! Ace schlug mit der Klauenhand zu – doch Scooter duckte sich blitzschnell ab. Schon war er Richtung Steilwand entschwunden. Jetzt hatte er alle Vorteile auf seiner Seite. Wenn es Ace nicht gelang, in kürzester Zeit hier unten wieder auf Tempo zu kommen, war er Scooters nächster Attacke hilflos ausgeliefert. Die dröhnende Stimme des Hallensprechers störte ihn in seiner Konzentration: »Noch können vor der endgültigen Entscheidung Wetten angenommen werden. Die Quoten für beide Kämpfer liegen fast gleich… fünf zu eins für Scooter und sechs zu eins für Ace!« Aus den Augenwinkeln sah Ace seinen Gegner heranzischen und zum Schlag ausholen. Er duckte sich – aber auf diese Idee war Scooter auch gekommen. Dessen krallenbewehrter Handschuh schoß vor. Drei rasiermesserscharfe Stahldornen schnitten tief in Aces Bauchfell. Der Raker stürzte vom Board und blieb bewegungslos liegen. Das Publikum tobte. Hier wurde geboten, was Spaß machte. »Und da! Da ist es passiert!« brüllte der Hallensprecher. »Scooter hat dem Favoriten Ace eine schwere Verletzung
zugefügt. Es sieht so aus, als ob Ace nicht weiterkämpfen kann!« Langsam rollte Scooter zum Band des Siegers, das im Mittelpunkt der Arena auf dem Boden lag. Er hob es hoch und streckte es den Zuschauerrängen triumphierend entgegen. Doch die Menge pfiff und buhte. So schnell durfte der Kampf nicht vorüber sein! Das fand auch Coach Crocker. Sein bester Mann – in wenigen Minuten erledigt? Nicht, wenn er auch noch ein Wörtchen mitzureden hatte. Er winkte Doc Willis, einem alten, schmierigen Arzt, den Copane ihm besorgt hatte. Als Mediziner war Willis zwar eine Niete, aber er konnte wenigstens den Mund halten. Seine eigene Behandlung hätte Crocker dem Alten niemals anvertraut. Aber für die Verletzungen der Jungs war er gut genug. Die beiden liefen hinunter in die Arena. Ace lag verkrümmt auf dem Gesicht, die Arme an den Bauch gepreßt. »Na los, umdrehen!« Brutal drehte Crocker den Versager auf den Rücken. Drei häßliche tiefe Schnitte zogen sich quer über Aces nackten Bauch. »Versuchen Sie, die Blutung zu stoppen!« Doc Willis sprühte einen blutungshemmenden Schnellverband auf die Wunde. »So… vorerst wird’s nicht mehr bluten… jedenfalls nicht für die nächsten Minuten.« »Na, geht es wieder? Antworte!« Mitleidlos versetzte Crocker dem Jungen eine Ohrfeige nach der anderen. »Komm schon, steh auf! Du mußt weiterkämpfen!« Doch Shawn verdrehte die Augen und sank in eine tiefe Ohnmacht. Oben in der Loge machte der Japaner zum ersten Mal an diesem Abend den Mund auf: »Ja, das ist wirklich spannend. Ich bin mit Ihrem Vorschlag sehr zufrieden, Mr. Friday.«
Der Reporter frohlockte. »Was darf ich dem Vorstand berichten?« Zing lächelte das unergründliche Lächeln des Asiaten. »Ich bin interessiert… ich werde mich rechtzeitig melden.«
9. Kapitel
Der Morgen dämmerte, doch es wurde kaum heller auf den Straßen der Stadt. Die Sonne hatte einfach nicht genug Kraft, um den Smog über der City zu durchdringen. Murray bekam davon nichts mit. Wie ein Häufchen Elend hockte er vor Theoras Controller-Pult und lauschte den Frühnachrichten. »Heute nacht ereignete sich ein neuer Großbrand, diesmal in der Datenzentrale der Finanzämter. Offensichtlich steckt hinter den vielen Brandstiftungen der letzten Zeit nur ein Täter. Angeblich liegt der Metro-Polizei ein Bekennerbrief vor, in dem sich der Brandstifter über die neuerliche Erhöhung der Fernsehgebühren beklagt. Die Metro-Polizei verfolgt einen Verdächtigen, der möglicherweise der Täter sein könnte. Aber wie wir gerade erfahren haben, gelang dem Mann in letzter Minute die Flucht. Der Brandstifter befindet sich also noch immer auf freiem Fuß.« Vom Eingang zur Zentrale hörte Murray die Stimmen von Carter und seinem Piloten. »Wir sind nicht dicht genug rangekommen«, maulte der Reporter. Martinez stand offenbar kurz vor einer Explosion: »Daran können Sie doch nicht mir die Schuld geben! Murray hat uns in der falschen Straße landen lassen!« »Ja, ja, das weiß ich auch… beruhigen Sie sich!« In einer versöhnlichen Geste legte Carter dem Piloten die Hand auf die Schulter. Dann ließ er den Mann stehen und kam herein, schnurstracks auf seinen Chefredakteur zu. »Irgendwas Neues?«
Murray war noch immer am Boden zerstört. »Der Brandstifter läuft noch frei herum.« »Ja, sicher… das weiß ich schon längst.« Etwas anderes lag Carter viel mehr am Herzen. »Was ist mit Theora?« »Sie hat ihren Job verloren… und zwar mit sofortiger Wirkung!« Damit war der Reporter ganz und gar nicht einverstanden: »Ich finde, das sollten wir erst entscheiden, nachdem ich Gelegenheit hatte, mit ihr zu reden!« »Ach! Was gibt’s denn da noch zu reden?« Murray wuchtete seinen müden Körper aus dem Sessel. »Wenn ein Controller seinen Arbeitsplatz verläßt, während der Reporter sich gerade im Einsatz befindet, ist das ein Grund für die fristlose Kündigung!« Aber Carter blieb stur. »Ich möchte auch ihre Meinung dazu hören. Wo ist sie, Murray?« »Woher soll ich das wissen?« Der Chefredakteur ging hinüber zu seinem übervollen Schreibtisch. »Zu Hause jedenfalls nicht… ich habe ein paarmal versucht, sie zu erreichen.« So leicht ließ sich Carter nicht abschütteln. »Da muß doch irgend etwas passiert sein!« Jetzt hatte Murray wirklich die Faxen dicke. »Ja, allerdings! Es ist etwas passiert! Wir haben noch immer keine Story für deine Show diese Woche!« Er packte seinen besten Mann an den Schultern, als wolle er ihn wachrütteln. »Und du gehst jetzt nach Hause, schläfst dich aus und bist morgen früh um sechs Uhr wieder hier! Ich werde dir einen Ersatzcontroller besorgen und dann…« Carter riß sich los und stapfte Richtung Ausgang. »Ich will keinen Ersatzcontroller haben! Ich gehe jetzt los und suche Theora!«
War der Kerl denn völlig verrückt? Murray versuchte, ihn zur Vernunft zu bringen: »Halt! Hast du mich nicht verstanden? Dir bleibt keine Zeit, um auf Männerjagd… ach, ich meine auf Frauenjagd zu gehen!« Carter war schon fast durch die Tür, als sein Chef ihm noch nachbrüllte: »Und selbst wenn du sie findest: ich will sie hier nicht mehr haben!« »Aber ich will sie haben«, stellte der Reporter gefährlich ruhig fest. Murray bekam vor Verblüffung den Mund nicht mehr zu. Sollte es der Bursche tatsächlich wagen, sich gegen ihn zu stellen? Carter verschwand im Lift – und zu allem Unglück meldete sich vom nächstgelegenen Bildschirm auch noch Max Headroom zu Wort: »Ja. Ja. Beim letzten Streit, da hat er ein blau-blaues Auge gekriegt. So was würde ihm nicht passieren, wenn er eine Pis-pistole hätte!« Verzweifelt sah Murray sich um. Aber nirgendwo war ein Feuerlöscher oder etwas ähnliches in greifbarer Nähe, um damit den Bildschirm zu zertrümmern.
Seit den großen Veränderungen in der Führungsetage von Sender 23 vor noch nicht einmal zwei Wochen verfügte Edison Carter mit höchster Billigung über den Geheimcode, der ihm Zugang zum 13. Stockwerk verschaffte. Er brauchte nun nicht mehr heimlich über die Feuertreppe oder durch die Klimaanlage zu kommen. Er durfte jetzt den Geheimaufzug benutzen, der sonst nur für Bryce und den Vorstandsvorsitzenden reserviert war. Unschlüssig trat der Reporter vor der Aufzugstür von einem Bein auf das andere. Sollte er den Forschungsleiter des Senders wirklich mit seinen privaten Problemen belasten? Und konnte
er Bryce überhaupt vertrauen? Schließlich gelangte er zu der Erkenntnis, daß ihm gar keine andere Möglichkeit blieb. Bryce Lynch hatte mal wieder ein neues Spielzeug: ein künstliches Gebiß auf einer langen Stange. Betätigte man den Handgriff am anderen Ende, schnappte es auf und zu. Im Augenblick führte Bryce eine streng wissenschaftliche Untersuchung durch: Er testete, wie die Fische in seinem Aquarium auf das Gebiß reagierten. Überhaupt nicht. Tapfere kleine Kerle! Als Carter das Labor betrat, kreischte der elektronische Papagei, das erste künstliche Lebewesen, das Bryce erschaffen hatte. Und das zweite ließ auch nicht lange auf sich warten. Bevor der Reporter überhaupt den Mund aufmachen konnte, meldete sich Max Headroom von einem der vielen Monitore hier zu Wort. »Edison! Ich will mit dir über diesen… ver-ver-ververrückten Soldaten sprechen, der hier immer auftritt-tritt-tritt. Hat es wieder Todesopfer gegeben?« Das elektronische Wesen wirkte ehrlich besorgt. Müde winkte Carter ab. »Wir reden ein andermal darüber, Max… und es hat keine Todesopfer gegeben.« »Was was was soll das Ganze dann?« Aber der Reporter hatte jetzt wirklich keine Lust, mit seinem anderen Ich philosophische Fragen zu diskutieren. »Bryce… Bryce!« Der Junge ließ sich nur ungern beim Spiel mit dem Plastikgebiß stören. Aber Carter blieb hart: »Ich brauche eine systeminterne Video-Aufzeichnung der gesamten letzten Stunde, die Theora an ihrem Kontrollpult verbracht hat. Kannst du das für mich möglich machen?« Max hörte von seinem Zweiwegbildschirm aus aufmerksam zu. Er mochte Carter wirklich… aber warum war der immer
nur so hektisch? Bryce hingegen kehrte mal wieder den Arroganten heraus. »Das gehört nicht zu meinen Aufgaben. Außerdem bin ich sehr beschäftigt. Ich habe mich in ein ungewöhnlich schwieriges Problem verbissen.« Offensichtlich versuchte er, die Kurvenlinien seines Spielzeugs im Kopf in Formeln umzusetzen. Es konnte ja kaum einen anderen Grund dafür geben, daß er das Ding derart intensiv anstarrte. »Bryce… Theora wird vermißt!« Carter riß dem Jungen das Plastikgebiß aus der Hand. »Sie ist einfach verschwunden! Das sieht ihr nicht ähnlich… deshalb will ich wissen, wann sie zuletzt an ihrem Terminal gesessen hat!« Als das Stichwort »Theora« fiel, wurde Max plötzlich sehr hellhörig. Natürlich ging es ihm genau wie Edison Carter. Er mochte die junge Frau! Bryce dagegen war jetzt nur noch ein trotziges Kind, dem man das Spielzeug weggenommen hatte. So cool wie möglich sah er Carter an und tönte: »Alles, was Sie brauchen, bekommen Sie von der Personaldatenbank.« »Aber ja, natürlich!« In diesem Moment verfluchte Edison Carter alle ungezogenen Kinder der Welt, die es nicht gelernt hatten, Erwachsenen aufs Wort zu gehorchen. »Die rücken erst was raus, wenn ich endlose Formulare ausgefüllt habe und außerdem eine schriftliche Erklärung abgebe, weshalb ich diese Informationen benötige!« Max Headroom verzog das Gesicht. Die Umständlichkeit der Menschen aus Fleisch und Blut würde er wohl nie verstehen. Bryce jedenfalls hatte keine Lust, Carter zu helfen. Wahllos drückte er auf ein paar Knöpfe seines Computers. Der Reporter griff nach den Disketten, die sich auf einem Laufwerkgehäuse stapelten. »Die Video…« »Nein!«
Carter beschloß, den Jungen nicht noch mehr zu reizen, und legte die Disketten zurück. »Die Videobänder über die Tätigkeit eines Controllers unterhegen der obersten Geheimhaltungsstufe. Und die Leute sind sehr empfindlich, wenn sie so eine Information rausrücken sollen.« Im nächsten Moment wäre Bryce fast vor Verblüffung die Brille von der Nase gefallen. Wie von Geisterhand füllten sich die beiden Monitore vor ihm mit Daten. Carter beugte sich zu dem Jungen hinunter und las vom Bildschirm ab: »Edison-Carter-Show, Kontrollraum, Theora Jones, 15 Uhr.« Er verstand nicht, was da passiert war. »Wer hat das aufgerufen?« »Max«, kam Bryces lakonische Antwort. »Ahaha! Entzückend! Hah!« Der Computermensch freute sich wie ein Schneekönig über die gelungene Überraschung. Jetzt mußte auch Bryce grinsen. Das Eis war gebrochen. Er starrte die Aufnahme an. Sie zeigte Carters Reportage über das Elend in den Slumgebieten, die Theora vor Winnies Anruf bearbeitet hatte. »Schnell vorfahren!« Bryce ließ die Aufnahme weiterlaufen, bis die Nachricht von dem Anruf auf dem Monitor einlief. »Zeig mir Theoras Bildtelefon«, verlangte Carter. Bryce ließ seine Finger über das Keyboard huschen, und im nächsten Augenblick hatte er eine Aufzeichnung des Gesprächs auf dem Bildschirm. Theora hatte zwar die normale Datenbank abgekoppelt, als sie mit ihrer Schwägerin sprach. Aber wie sollte sie auch wissen, daß es noch einen Super-Sammler gab, der selbst die geheimsten und geschütztesten Vidifongespräche mitschnitt? Das konnte sie nicht wissen, denn von der Existenz dieser Anlage ahnten noch nicht einmal Vorstand und Aufsichtsrat etwas. Im ganzen 23er-Tower wußte nur ein Mensch von ihrer Existenz: Bryce Lynch. Er hatte die Anlage
selbst entworfen und im Netz installiert. War eine nette kleine Wochenendspielerei gewesen. Davon verriet der Junge natürlich nichts – und Carter war viel zu beschäftigt, um etwas zu merken. »Theora? Hier ist Winnie«, kam es vom Schirm. »Winnie? Was hat dieser Anruf zu bedeuten?« Carter hatte das Mädchen noch nie gesehen, seinen Namen noch nie gehört. »Winnie…« Na ja, wenn er ehrlich war, mußte er zugeben, daß er Theora noch nicht besonders gut kannte. Egal, wie sehr er sie mochte – sie arbeiteten erst wenige Tage zusammen, waren eigentlich noch Fremde. Daran mußte sich schleunigst etwas ändern! »Bryce, ich brauche dringend Einblick in Theoras Personaldaten!« »Das ist noch viel schwieriger, als ein internes Videoband aufzurufen«, stöhnte der Junge. »Wenn du’s nicht kannst, bitte ich eben Max darum!« Carter klopfte sich innerlich selbst auf die Schulter. Wenn das so weiterging, wurde noch ein erstklassiger Kinderpsychologe aus ihm! »Haaaach…« Bryce schlug die Augen zum Himmel. Der glaubte doch nicht im Ernst, daß Max Headroom, ein Geschöpf des großen Bryce Lynch, mehr draufhatte als das Genie, daß es erst ins Leben gerufen hatte? Gelangweilt gab er einen Code ein. Carter sollte ruhig sehen, wie einfach so was für einen echten Profi-Hacker war! Schon hatte er die Akte auf seinem Schirm. »Theora Jones… Vater unbekannt, Mutter verstorben. Bruder Jones, Shawn.« Die Stimme des Jungen klang verwirrt, als er die Daten laut vorlas. »Theora hat einen Bruder?« staunte er. »Das wußte ich gar nicht!«
»Du wirst staunen… ich auch nicht!« Carter war wie elektrisiert. Endlich hatte er eine greifbare Spur. »Mach einen Ausdruck!« Der Junge drückte einen Knopf, und im nächsten Moment spuckte ein Drucker hinter ihm Theoras Datenblatt aus. Carter steckte es in seinen Mantel. Er trat hinter Bryce, der immer noch verwirrt auf seinen Bildschirm starrte. Einem plötzlichen Impuls folgend, fuhr er dem Jungen mit der linken Hand über den Kopf und zerwuschelte ihm das sowieso schon recht wirre Haar. »Danke, Bryce. Du bist ganz schön kompliziert.« Er drehte sich um und ging aus dem Labor. Max schaltete sich auf Bryces Schirm. Er sah den Knaben fragend an. »Bei mir be-be-be-bedankt er sich nie. Warum will er Theora finden?« Bryce brauchte nicht lange zu überlegen. Das war doch offensichtlich. »Ich denke… weil sie ihm sehr nahesteht!« Max machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ist na-na-nanahestehen dasselbe wie naheliegen? Naheliegen? Hmmhm?« Ganz schön nervend, fand Bryce. Wer hatte hier eigentlich einen ganzen Speicher nur mit sexuellen Erinnerungen gefüllt? Er oder Max? Also sollte ihn der Computermensch gefälligst nicht mit Fragen nerven, deren Antworten er jetzt noch gar nicht wußte. So etwas interessierte ihn eben noch nicht. Ziemlich patzig meinte Bryce: »Woher soll ich denn so was wissen, Max?«
Das Restaurant strotzte nur so von Vornehmheit. Die dominierende Farbe war weiß: weißer Marmor auf dem Fußboden, weiße Seidentapeten an den Wänden, weiße Lackmöbel. Einzelne bunte Neonlichter setzten interessante
Farbakzente. Die Atmosphäre war kühl, fast kalt. Ein beinahe steriler Hort von Sauberkeit und Ruhe. Hier konnte man den Schmutz und den Lärm der Straßen draußen vergessen. Theora konnte sich den Besuch solcher Lokale durchaus leisten. Aber sie verkehrte nicht allzu oft an Plätzen wie diesem. Irgendwie ging einem hier der Kontakt zur Wirklichkeit verloren. Heute kam sie nicht hierher, um zu essen oder zu trinken. Sie suchte Shawn. Zielsicher steuerte sie den Empfangschef an, einen ziemlich arroganten Kerl in makellos gebügeltem Smoking. »Entschuldigung…« Geflissentlich sah der Mann an ihr vorbei. Damen ohne Begleitung sah man nicht gern in so erstklassigen Etablissements wie dem »Johnson’s«. Aber Theora ließ nicht locker. »Entschuldigung!« Sie brüllte fast, und jetzt bequemte der Empfangschef sich dazu, ihr die Gnade seiner Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. »Ich suche meinen Bruder. Shawn Jones. Ich habe gehört, er arbeitet hier.« »Jones…?« Der Mann überlegte. Dann ging ihm ein Kronleuchter auf. Sein Gesicht wurde noch ablehnender als bisher. Er verschränkte die Arme vor der Brust. Offensichtlich brauchte er etwas, um sich daran festzuhalten. »Ach, Jones! Den habe ich vor einer Woche entlassen.« »Entlassen? Wieso?« Schmerzlich wurde Theora bewußt, wie wenig sie über Shawn wußte. Sie hatten sich einfach zu selten gesehen. »Sie als seine Schwester müßten das doch wissen!« Der Empfangschef giftete die junge Frau an, als wäre sie für all das verantwortlich, was ihr Bruder in seinen Augen falsch gemacht hatte: »Immer krank, kommt immer zu spät… nicht zu gebrauchen!«
Der Mann stemmte die Hände in die Hüften, ehrlich empört darüber, wie dieser Jones sich hier aufgeführt hatte. Wenigstens konnte er seinen Frust jetzt an der Schwester des Burschen abreagieren: »Ich hoffe, Sie sind ihm nicht ähnlich!« »Wir sehen uns so gut wie nie.« Theora hoffte noch immer darauf, hier im »Johnson’s« mehr zu erfahren. »Na, ein Glück für Sie! Sie wissen ja, daß er ganz wild auf Raking ist!« »Raking? Was ist Raking?« Doch der Empfangschef fand, er habe schon zuviel gesagt. »Damit habe ich nichts zu tun.« Sprach’s, drehte sich um und ließ Theora stehen, ohne sie auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen. »Aber ich will doch nur wissen, wo er…« Verdammt! Sie war nicht einen Schritt weitergekommen! Hatte nichts über Shawn erfahren. Fast nichts. Dieses eine Wort… wieso machte es sie so unruhig? Was bedeutete Raking? Es klang irgendwie gefährlich… »Hallo!« Eine vertraute Stimme riß sie aus ihren Gedanken. Das war doch… »Edison! Was machst du denn hier?« Der Reporter lehnte lässig an der Regalwand neben dem Eingang. Er klopfte mit dem Fingerknöchel auf einen chinesischen Ziergong, der dort stand. Carter hatte eben eine Vorliebe für große Auftritte. Lässig schlenderte er auf Theora zu. Er gab sich betont locker. Aber die Sorge in seinem Blick war nicht zu übersehen. »Ich suche dich seit vielen Stunden. Darf ich dich zu einem Drink einladen?« »Danke, nein.« Theora spürte nicht die geringste Lust, mit irgend jemandem über ihr Problem zu reden. Diese Sache ging nur Shawn und sie etwas an.
Aber Carter hatte offenbar nicht gelernt, was das Wort nein bedeutete. Er packte Theora am Arm und führte sie mit sanfter Gewalt zu einem der freien Tische. Die Controllerin war verblüfft über sich selbst, daß sie sich diese Behandlung widerspruchslos gefallen ließ. Doch der schlaksige Kerl in dem zerknitterten Regenmantel, der in dieses vornehme Restaurant so paßte wie ein Clown in einen Trauerzug, hatte etwas unglaublich Überzeugendes an sich. Carter holte seinen ID-Stift aus der Tasche und steckte ihn in die Aufnahmebuchse des Tischcomputers. Augenblicklich erwachte der kleine Monitor zum Leben. Anhand der Daten konnte der Computer den neuen Kunden identifizieren und dessen Kontostand prüfen. Der Mann verfügte über Geld genug, um sich die Speisekarte einmal hinauf- und herunterzuessen. Eine angenehme, körperlose Frauenstimme begrüßte den neuen Gast: »Guten Abend, Mr. Carter. Was möchten Sie bestellen?« »Einen Scotch auf Eis und einen Blizzard!« »Die Getränke kommen sofort.« Der Computer zeigte die gewünschte Ware auf dem Monitor. Die Bestellung würde in der vollautomatischen Küche ausgeführt werden. Doch anschließend wurden die Getränke nicht über verborgene Förderbänder zu einem Ausgabeschacht im Tisch gebracht. Nein, im »Johnson’s« waren echte menschliche Kellner tätig, die den Kunden die gewünschten Dinge brachten. Dieser Service hatte das Restaurant weit über die Grenzen der Stadt hinaus berühmt gemacht. Theora saß zwar brav am Tisch, probte aber noch immer den Aufstand. »Ich möchte nichts trinken!« »Sind wir heute gereizt?« Edison klang wie der Fernsehpsychiater, der immer morgens im
Hausfrauenprogramm zu sehen war. Für wen hielt der sich eigentlich? »Ich will einfach nichts trinken, das ist alles!« Der Reporter seufzte und annullierte den Blizzard. Er atmete tief durch. Es wurde Zeit, auf den Kern der Sache zu kommen: »Murray ist ziemlich böse auf dich!« »Das interessiert mich nicht!« Theora wirkte wie eine Tigerin kurz vor dem Sprung. Carter war verblüfft. Er konnte sich dieses seltsame Verhalten nicht erklären. Er faßte sich an die Nase, als suche er dort nach Halt. Also gut – zweiter Versuch: »Nachdem du weg warst, gab’s etwas Ärger…« Keine Reaktion. »Wir hätten eine kleine Chance gehabt, den Brandstifter vor die Kamera zu bekommen, aber… dummerweise hatte ich zu der Zeit gerade Murray als meinen Controller.« Carter bemühte sich, so witzig wie nur möglich zu klingen. Doch Theora schien an seinen Worten überhaupt nicht interessiert zu sein. Patzig wie ein kleines Mädchen antwortete sie: »Jetzt wirst du mir sicher sagen, daß man mich entlassen hat.« »Richtig.« War ihr das denn wirklich so egal, wie sie vorgab? Carter konnte es einfach nicht glauben. »Murray ist dieser Meinung… aber ich nicht.« Er sah ihr tief in die himmelblauen Augen, bis sie seinem Blick nicht mehr standhielt. Spürte sie denn nicht, daß er viel mehr für sie empfand als kollegiale Hochachtung? Vielleicht doch… aber irgend etwas lastete auf ihrer Seele. Etwas, das alle anderen Regungen zweitrangig werden ließ. Etwas, bei dem sie bestimmt Hilfe brauchte! »Hör zu, ich würde dir gerne…« »Nein, bitte nicht, Edison! Ich… ich kann auf deine Hilfe gut verzichten!« Theora war es gewohnt, ihre Kämpfe allein
auszutragen. Zu oft war sie enttäuscht worden. Sie hatte sich einst geschworen, sich nie wieder auf andere Menschen zu verlassen. Diesen Schwur durfte sie jetzt nicht brechen. Auch wenn Edison ihr beinahe leid tat. »Du wirst schnell einen anderen Controller finden.« »Sieh mich an!« Merkte er denn nicht, daß er hier überflüssig war? »Wenn du glaubst, ich bin nur hier, weil ich meine Controllerin nicht verlieren will, irrst du dich gewaltig!« Theora konnte nicht anders, sie mußte ihm einfach in die Augen blicken. Und darin war nicht einmal eine Spur von Verrat oder auch nur Eigennutz zu erkennen. Nun ja – wenn sie nicht einmal dem Mann, dessen Leben sie gerettet hatte, vertrauen konnte – wem dann? Sie ließ es zu, daß er ihre Hand ergriff und sie zart streichelte. »Du hast mir nie erzählt, daß du einen Bruder hast!« Schwang da ein wenig Vorwurf mit? Theora zuckte mit den Schultern. »Es gibt Dinge in meinem Leben, über die ich nicht reden will. Wenn man wie ich zwölf Jahre, seiner Jugend in staatlichen Heimen verbracht hat… will man sich nicht mehr daran erinnern.« Sie atmete heftig. Offenbar fiel es ihr noch immer schwer, über diese Dinge zu sprechen. Carter ließ ihr Zeit. Schließlich fuhr sie fort: »Mein Bruder und ich wurden getrennt. Anscheinend sind die meisten Leute eher bereit, ein Mädchen zu adoptieren als einen Jungen. Ich habe großes Glück gehabt… er nicht.« Offensichtlich machte Theora sich Vorwürfe deswegen. Irgendwie fand sie es wohl nicht richtig, daß es ihr am Ende besser ergangen war als Shawn. »Er hat diese Ungerechtigkeit nie vergessen. Daher… will er mit mir nichts zu tun haben.« Carter war klar, daß Theora unter den Vorwürfen litt, die ihr Bruder ihr machte. Er hätte es nie für möglich gehalten, daß
tief unter der intellektuellen, weltoffenen Schale der Controllerin ein so verletzbarer Kern verborgen war. Sein Entschluß, ihr – und damit ihrem Bruder – zu helfen, war fester als je zuvor. »Hat Shawn Schwierigkeiten? Ich habe da irgendwas von Raking gehört.« Sofort igelte sich die junge Frau wieder ein. »Versuch nicht, mich zu interviewen!« Das tat weh. Carter wäre nicht einmal auf den Gedanken gekommen, aus Theoras privaten Problemen berufliches Kapital zu schlagen. Aber er mochte sie viel zu sehr, um jetzt schon zu kapitulieren. »Viele Menschen wissen etwas über Raking. Niemand will darüber reden.« »Das ist nicht dein Problem. Und ich kann mich sehr gut allein um meinen Bruder kümmern. Danke!« Theora stand auf und ging grußlos fort. Carter blieb wie betäubt am Tisch sitzen. Hatte er sie endgültig verloren?
10. Kapitel
Schließlich stand Carter auf und schlenderte dem Ausgang zu. Tage wie heute gab es nicht oft im Leben des Starreporters. Tage, an denen er einfach nicht wußte, was er als nächstes unternehmen sollte. Plötzlich stutzte er. Da drüben an der Bar – den arroganten Burschen kannte er doch! Jack Friday von der Sportredaktion! Der hatte es nie gelernt, über den Rand eines Spielfelds hinauszublicken. Dinge, die mit Sport nichts zu tun hatten, waren für den Ignoranten uninteressant. An Friday allein hätte Carter keinen Gedanken verschwendet. Aber die drei Männer, mit denen er an der Bar stand und sich offenbar bestens unterhielt, waren schon eine seltsame Versammlung. Ped Zing, der mächtige Boß der ZikZakCorporation. Al Copane, ein schmieriger kleiner Gangster und Möchtegern-Unterweltboß. Und Senator Simon Peller. Eine der wichtigsten Figuren in der politischen Landschaft. Anfang vierzig, geschniegelt und gebügelt von der Sohle bis zum sehr breiten Scheitel. Peller hatte eine erstaunliche Karriere hingelegt. Ein Politprofi, der zur rechten Zeit immer das richtige Wort parat hatte. Hätschelkind der Medien und Tribun des Volkes. Er stellte sich gern als Anwalt des kleinen Mannes dar. Aber seine Kontakte zur Hochfinanz waren ebenfalls hervorragend. Und offensichtlich auch die zur Unterwelt. Carter konnte nicht nahe genug an die vier herankommen, um ihre Unterhaltung zu verstehen. Friday kannte ihn. Er mußte aufpassen, daß er nicht entdeckt wurde. Verdammt! Hätte er nur seine Kamera mitgenommen!
Dem Reporter entging eine äußerst interessante Unterhaltung. Ped Zing sprach voll unasiatischer Ungeduld: »Wir warten auf eine Antwort, Mr. Peller.« Auch Friday bedrängte den Senator: »Wir beide haben doch schon vor mehreren Monaten über diese Gesetzesvorlage für Raking gesprochen!« Der Mann mußte endlich konkret werden. Aber er wich wieder einmal aus: »Ja, sicher…« Friday ließ nicht locker: »Sie werden doch dafür sorgen, daß das Gesetz durchkommt?« Peller wand sich wie ein Aal. »Ich bin in dieser Angelegenheit tätig, Jack… wirklich? Aber Sie wissen ja selbst, wie langsam so eine Vorlage in den verschiedenen Gremien und Ausschüssen bearbeitet wird!« Er nahm einen kleinen Schluck von seinem Drink. Friday und Copane hielten mit. Nur dieser zwergenhafte Japaner stand wie üblich ohne Glas an der Bar. Wenn Peller eins haßte, dann waren es Schlitzaugen, die sich für zu vornehm hielten, um mit Weißen zu trinken! Aber der Senator war viel zu sehr Politiker, um sich auch nur die geringste Kleinigkeit anmerken zu lassen. Er lächelte Zing zu: »Ich habe auch schon mit vielen meiner Parlamentskollegen über diese Sache gesprochen.« Bedächtig wiegte der Asiate sein greises Haupt. »Die ZikZak-Corporation wäre bereit, eine beträchtliche Summe in Marketing und Promotion des neuen Sports zu investieren, Mr. Peller.« Friday mischte sich ein: »Eins kann ich Ihnen versichern, Sir… wenn Raking legalisiert wird, ist für uns alle ein Riesenprofit drin.« Profit! Das war die Sprache, in der sich der Senator am liebsten unterhielt.
»Mir geht es nur um Einschaltquoten, nicht um Profite«, versicherte Zing. Was er nicht verriet: Für seine Firma waren Einschaltquoten und Profite dasselbe. »Sie werden zufrieden sein, Mr. Peller!« drängte Friday. Dem Senator wurde klar, daß er die Männer nicht länger hinhalten konnte. Der nächste Wahlkampf stand dicht bevor. Er brauchte Geld für seinen Werbefeldzug. Viel Geld – oder er würde den einträglichen Sitz im Senat verlieren. Peller rang sich zu einem Entschluß durch. »Also wissen Sie… es wird sich ein Weg finden lassen, um unseren… kleinen Sport früher oder später legalisieren zu können. Nun… bis wann, sagten Sie, müßte das Gesetz durchgebracht werden?« Breiteste Zufriedenheit grinste von allen vier Gesichtern. Copane hätte vor lauter Freude fast seinen Zigarrenstummel verschluckt. Eigentlich haßte er diese stinkenden Dinger. Aber er hatte mal eine Freundin gehabt, die lesen konnte. Manchmal hatte sie ihm aus einem alten Buch vorgelesen. So ein antiker Schinken über die größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts. Und darin hatte gestanden, daß erfolgreiche Gangsterbosse immer Zigarre rauchten. Also… Edison Carter hatte genug gesehen – und gehört. Er war zwar nicht nahe genug an die Gruppe herangekommen, um wirklich etwas zu verstehen, aber ein paar Wortfetzen hatte er doch aufgeschnappt. Die vier hatten unmißverständlich über Raking gesprochen. Auf einmal hatte es der Reporter sehr eilig. In der Nachrichtenzentrale im 40. Stock des 23er-Towers herrschte die übliche Hektik. Trotzdem erschien es Murray viel zu ruhig. Er wußte nicht, wo Carter steckte. Und wenn der Chefredakteur ehrlich war zu sich selbst – Theora fehlte ihm. Edison hatte recht gehabt. Es sah ihr nicht ähnlich, ohne zu fragen ihren Platz zu verlassen. Wenn man doch nur
herausbekommen könnte, welcher Teufel Theora geritten hatte… »Murray?« Die Stimme Max Headrooms riß den Chefredakteur aus seinen Gedanken. Warum nur wollte dieses elektronische Ekelpaket immer ausgerechnet ihm auf die Nerven gehen? »Murray…!« Max schnurrte wie ein Kater, der um Futter bettelt. Einfach ignorieren. »MURRAY!« Was fiel dem Kerl ein? Brüllte hier nun wie ein übelgelaunter Feldwebel. Glaubte er etwa, der Chefredakteur wäre einer seiner Rekruten? »Ich hab eine tolle Story für dich-dich-dich! Tznk, tznk, tznk.« Das war zuviel! Mit Max’ Sprachfehler konnte man sich gerade noch abfinden, aber die wirren Laute, die er immer häufiger von sich gab, mußten ja wirklich nicht sein. Murray konnte nicht verstehen, weshalb die Zuschauer einen solchen Narren an Max gefressen hatten. Seit er über die Bildschirme geisterte, kletterten die Einschaltquoten von Sender 23 unaufhörlich. Und offenbar hatte der elektronische Moderator jetzt auch noch beschlossen, ins Nachrichtengeschäft einzusteigen. »Vergiß das mit dem verrückten Brandstifter… ich hab was viel Besseres! Jeden Nachmittag läuft hier ein Kerl mit einer Ma-ma-maschinenpistole nun. Heh?« Murray konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Und er sah auch gar keinen Grund dazu. »Ich muß dich enttäuschen, Max… aber das ist unsere Serie ›Missile Mike‹… die läuft immer im Kinderprogramm.« Das Gesicht, das sich mittlerweile auf allen freien Monitoren der Redaktion breitgemacht hatte, sah entsetzt aus.
Offensichtlich konnte auch jemand, der nur aus Daten bestand, um seine Fassung gebracht werden. »Die… Ki-ki-ki-kinder lieben so eine Schießerei? Wer hat ihnen das eingeredet?« Murray seufzte von ganzem Herzen. »Daran werde ich mich nie gewöhnen! Nur weil er in einem Fernseher lebt, hält Max das ganze Leben für Fernsehen!« Einer der Nachrichtensammler trat zu ihm und drückte ihm einen Stapel Ausdrucke in die Hand. Der übliche langweilige Kram, der von den Agenturen kam. Nichts, was wirklich Nachrichtenwert gehabt hätte. Murray sah den Mann fragend an: »Was Neues von Theora?« Der Mitarbeiter schüttelte stumm den Kopf. »Gehen Sie wieder an Ihren Arbeitsplatz zurück!« Murray wollte jetzt unbedingt alleinbleiben. Denn nur allein konnte er ungestört vor sich hinleiden. Ben Cheviot genoß es, wieder auf seinem Platz zu sitzen. Der Aufsichtsrat von Sender 23 hatte seinen kolossalen Fehler eingesehen. Miles Grossberg war fristlos gefeuert worden. Zum neuen Vorstandsvorsitzenden hatte man den Vorgänger des Gescheiterten bestellt: den alten Fuchs Cheviot. Er hatte zwar schon etliche Jährchen auf dem Buckel, aber Sender 23 konnte es sich einfach nicht leisten, auf seinen unermeßlich reichen Erfahrungsschatz zu verzichten. Jedenfalls vorerst nicht. Cheviot spürte die Nervosität am Tisch. Jeder der Direktoren überlegte, wie weit seine Zusammenarbeit mit Grossberg gegangen war. So weit, daß Cheviot sie übelnahm? Würde noch jemand außer dem Emporkömmling seinen gutdotierten Job verlieren? Cheviot hatte nicht vor, jemanden zu feuern. Aber er hatte auch nicht vor, das den Direktoren zu sagen. Sollten Sie ruhig noch ein wenig schwitzen. Wer Angst um seine Stellung hatte,
strengte sich besonders an. Und je mehr Einsatz seine Direktoren zeigten, desto weniger Streß hatte Cheviot. Im Augenblick starrten alle gespannt auf den großen Wandschirm, auf dem sich Max Headroom breitgemacht hatte. Er war gleich nach dem Gespräch mit Murray voller Empörung durch die Leitungen nach oben in den 148. Stock gestürmt. Dem Direktorium blieb gar keine andere Wahl, als ihn anzuhören. »Na ja, ja, ja… keiner wollte auf mich hören, und deshalb blieb mir keine andere Wahl. Wie auch immer, hier ist Max Headroom, der live zu Ihnen über Sender 23 spricht.« Cheviot seufzte. Wie sehr hatte sich die Welt doch verändert! Zu seiner Jugendzeit war das Fernsehen noch schwarzweiß gewesen, und Rechenmaschinen funktionierten mechanisch. Damals wäre jeder ausgelacht worden, der prophezeit hätte, daß schon in wenigen Jahrzehnten intelligente Computerwesen durch die farbige Fernsehwelt geistern würden. Max Headroom war von der Bedeutung seines Anliegens voll überzeugt. »Ich möchte unbedingt erfahren… wer wird diesem Fließbandtöten endlich ein Ende set-set-set-setzen?« Edwards sah, wie sein Boß seufzte, und fand es an der Zeit, dasselbe zu tun. Mr. Cheviot sollte sehen, daß er ganz genauso empfand. Bei Edwards würde der Vorstandsvorsitzende stets auf Verständnis stoßen. Er würde ihm noch sagen müssen, daß er Grossbergs Vorschlagen nur deshalb stets zugestimmt hatte, um den arroganten Burschen so schnell wie möglich abzusägen, damit der nette Mr. Cheviot wieder seine Stelle übernehmen konnte! Der Computermann ließ niemanden zu Wort kommen. »Es wird Zeit, daß die Verantwortlichen des Senders zu diesen Ma-Massenmorden St-stellung beziehen… und sich dagegen entscheiden. Hm, hm, hm!« Ein Rauschen, und Max war vom Bildschirm verschwunden.
Ashwell sah Cheviot prüfend an. Es wäre gut, zu wissen, wie sich der Alte entscheiden würde, um ihm dann um so begeisterter zustimmen zu können. Der Vorstandsvorsitzende machte ein nachdenkliches Gesicht. »Sie haben es gerade gehört. Max hat die feste Absicht, einige unserer gesellschaftsfeindlichen Sendungen sterben zu lassen.« Was sollte das denn jetzt wieder bedeuten? Edwards war verunsichert. Wollte Cheviot ihn herausfordern oder ihn nur prüfen? Er beschloß, eigenständiges Profil zu zeigen und ein stets gern gehörtes Stichwort in die Diskussion zu werfen. »Damit sterben aber auch die Profite!« Mist! Er hatte einen Fehler gemacht! Denn Cheviot zog die Augenbrauen zusammen. Und das bedeutete – der Alte war anderer Meinung! »Meiner Voraussage zufolge werden die Profite in naher Zukunft sogar steigen.« Cheviot sah Edwards mit dem gewinnenden Lächeln eines Zahnarztes an, der gleich anfangen würde, auf dem Nerv zu bohren. Am liebsten hätte sich Edwards selbst in den Hintern getreten. Wie konnte er es nur versäumen, die Aktennotizen zu lesen, die Cheviot gestern in den Umlauf gegeben hatte? Sicher war diese Voraussage dabeigewesen. Und wenn sie vom Chef kam, mußte sie stimmen! »Ich habe dabei schon berücksichtigt«, fuhr Cheviot fort, »daß Jack Friday von der Sportredaktion mit einem sensationellen neuen Programm an die Öffentlichkeit treten will. Miss Formby…!« Er nickte der kühlen Blondine zu. Wenn er sich überhaupt auf jemanden verlassen konnte, dann auf sie. Die Dame interessierte sich nicht für Intrigen und Gemauschel, sondern nur für klare, in Zahlen faßbare Fakten. Miss Formby ergriff das Wort: »Bei diesem Programm soll es sich um ein neues,
aufregendes Kampfspiel handeln, das ›Raking‹ genannt wird. Wenn Jack Friday recht hat, wird es sich zum Hit dieses Jahres mausern.« Ashwell horchte auf. Irgend etwas hatte er auch schon über Raking gehört. Nichts Genaues, aber man munkelte, es wäre die absolute Sensation! Cheviot drückte einen Knopf, der vor ihm in die Tischplatte eingelassen war. Auf dem großen Wandbildschirm erschienen Aufnahmen aus der RakingKampfarena. Zwei Fahrer jagten ihre motorisierten Boards in haarsträubenden Manövern durch die Steilwände. Den Direktoren wurde sofort klar: Der neue Sport kam optisch erstklassig rüber. Der wichtigste Punkt für einen FernsehErfolg! Kühl und emotionslos setzte Miss Formby ihren Vortrag fort. »Was Sie dort sehen, ist ein privater Video-Mitschnitt aus einem der Clubs, in denen die neue Sportart betrieben wird. Wenn die Umsatzzahlen, die uns bisher vorliegen, einer Überprüfung standhalten, wäre ein Vertrag sehr interessant für uns. Denn bei Raking geht es um hohe Geldsummen.« Zum ersten Mal schwang so etwas wie Begeisterung in ihrer mit. »Die Wetten erreichen erstaunliche Größenordnungen.« Ashwell fand es an der Zeit, sich zu Wort zu melden: »Dann sollten wir die Lizenz für die Wetten übernehmen… und in allen Clubs ein effektives Computer-Wettsystem installieren!« Wieso antwortete Cheviot nicht? Was verbarg er hinter seinem freundlichen Lächeln? Ashwell wollte doch nur ein bißchen Zustimmung, weiter nichts. »Keine schlechte Idee… nicht, Ben?« Der Alte lächelte süffisant, nickte bedächtig. »Und wie immer kommt sie von Ihnen, Ashwell.« Der Direktor war fassungslos. Natürlich hatte Cheviot die Wahrheit gesagt – aber der Ton machte die Musik. Und dieser Ton war für Ashwells Geschmack entschieden zu spöttisch.
Was wollte der Alte damit nur andeuten? Miss Formby ergriff wieder das Wort. »Diese neue Sportart haben die Jugendlichen selbst entwickelt. Sie bauten ganz einfach kleine Motoren an ihre Skateboards.« Auf dem Bildschirm sah man zwei Kämpfer zusammenprallen. Einer stürzte vom Board und blieb auf dem Boden liegen. Cheviot zuckte zusammen. Aber dafür gab es eigentlich keinen Grund. Schließlich war das nur eine harmlose Kollision, die höchstens ein paar blaue Flecke nach sich ziehen würde. »Kunstfiguren und provozierte Kollisionen wurden zu einem festen Bestandteil des Raking«, erläuterte die blonde Direktorin. »Auch Kampfhandlungen waren bald selbstverständlich. So werden Aggressionen bei Sportlern und Zuschauern abgebaut.« »Danke sehr.« Cheviot warf erst Miss Formby, dann dem immer noch schmollenden Edwards einen langen Blick zu. »Ich hoffe, daß Jack Friday bald einen Werbekunden gewinnt, der die Ausstrahlung der neuen Sportserie finanziert.« Er blickte der Formby tief in die Augen. Für eine Direktorin sah sie wirklich gut aus. Vielleicht würde es sich doch lohnen, sie auch privat ein wenig näher kennenzulernen… Cheviot verscheuchte den Gedanken aus seinem Hirn. Jetzt mußte er sich aufs Geschäft konzentrieren. Alles zu seiner Zeit. »Friday hat diesen Sport Ped Zing von der ZikZakCorporation vorgeführt… der großes Interesse daran bekundet.« Edwards schmollte noch mehr. Es war ihm nicht entgangen, daß das blonde Karriereweib, das ihm am Vorstandstisch direkt gegenübersaß, dem Vorstandsvorsitzenden schöne
Augen machte. Nicht auszuschließen, daß sich zwischen den beiden etwas anbahnte. Das mußte er um jeden Preis verhindern. Wenn einer hier ein Recht darauf hatte, der Liebling des Chefs zu sein, dann nur Edwards selbst! Cheviot badete noch immer in seinem Erfolg. »Wahrscheinlich wird die Corporation mehrere Sportarenen bauen und Raking gesellschaftsfähig machen. Sender 23 wird dann die weltweiten Übertragungsrechte dafür haben!« Miss Formby strahlte Cheviot in offener Bewunderung an. Der alte Mann war immer noch bei weitem der beste im Geschäft! Ein Summen signalisierte, daß Cheviots Sekretärin mit ihm in Verbindung treten wollte. »Ja?« »Mr. Jack Friday und Mr. Ped Zing auf Videoleitung eins, Sir«, quäkte es aus einem verborgenen Lautsprecher. »Möchten Sie mit ihnen sprechen?« »Aber natürlich. Schalten Sie bitte durch.« Im nächsten Moment zeigte der große Wandmonitor ein zweigeteiltes Bild. In der linken Hälfte war ein freudestrahlender Jack Friday zu sehen, der sich aus dem Kommunikationsraum im 85. Stockwerk meldete. Die rechte Hälfte gab ein Bild wieder, das via Satellit direkt aus New Tokio eingespielt wurde. Ped Zing stand im Garten seines Hauses. Aufmerksam lauschte er den Worten des Sportreporters. »Ich kann Ihnen eine freudige Mitteilung machen«, jubelte Friday. »Wir haben den Vertrag. Wir werden Raking weltweit und exklusiv übertragen… wir sind im großen Geschäft!« Ped Zing nickte bedächtig. Als er sprach, fiel seine gewöhnliche Zurückhaltung mehr und mehr von ihm ab. »Wir alle, der Sender und die ZikZak-Corporation, stehen am Beginn einer neuen, interessanten Ära des Sports. Ich spreche von dem neuen Kampfsport Raking!« Der Japaner wurde
plötzlich so laut, als stünde er an der Arena und müsse seinen Kämpfer anfeuern. »Ja! Raking ist in!« Pflichtschuldigst klatschte Cheviot Beifall. »Bravo, Mr. Ped Zing!« Miss Formby blieb kühl wie immer. »Sie haben das ganz richtig erkannt.« Edwards beeilte sich, es seinem Chef gleichzutun. Eifrig klatschte er seinen Applaus. Endlich folgten auch die anderen seinem Beispiel. Cheviot nickte Edwards anerkennend zu. Der Direktor spürte, wie ihm eine Zentnerlast vom Herzen fiel. Er hatte sich vor den Augen des Alten bewährt! Das Direktorium von Sender 23 spendete seinem wichtigsten Kunden noch Applaus, als Ped Zing längst vom Bildschirm verschwunden war.
11. Kapitel
Theora hatte einen Entschluß gefaßt. Sie konnte Shawn nicht damit helfen, daß sie ihren Job wegwarf. Sie betrat die Nachrichtenzentrale von Sender 23. Murray war nicht zu sehen. Gut. Sie zog ihren Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe neben der Tür. Der Platz an ihrem Kontrollpunkt war besetzt – von David. Der Volontär sprang sofort auf, als er sie entdeckte. »Murray sucht überall nach dir. Er ist ganz schön sauer!« »Ich muß mir um andere Dinge Sorgen machen als um Murrays Launen! Mein Bruder steckt in der Klemme!« Theora setzte sich an ihren Platz. Mechanisch sortierte sie die Computer-Ausdrucke, die auf dem Tisch lagen. Es fiel ihr schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, solange sie nichts Genaueres von Shawn wußte. »Hast du… hast du… hast du… meine Sendung gesehen? Hochch!« Max Headroom machte sich auf ihren Bildschirmen breit. Er wirkte sehr zufrieden. Offenbar hatte ihm seine Sendung gefallen. »Du scheinst Schwierig-schw-schw-schwierigkeiten zu haben! Warum sonst das lange Gesicht, hmmhhmm?« Auch das netteste Grinsen des Computermenschen konnte Theora nicht aufheitern. »Ich fürchte, ich habe meinen Bruder verloren.« »Hast du in deiner Ta-ta-ta-tasche gesucht?« »Max, das finde ich überhaupt nicht lustig!« Der elektronische Mann merkte, daß er gehörig ins Fettnäpfchen getreten hatte – und das war schon ein Kunststück für jemanden wie ihn, der nicht einmal Füße besaß.
»Entschuldige, entschuldige! Könnte ich dir irgendwie helfen? Ich meine, ich meine… was tun Männer, wenn Frauen Schwierigkeiten hahahahaben, haben?« Er probierte das netteste Lächeln, das in seinem Programm gespeichert war, aber auch das konnte Theora kein Lächeln entlocken. »In solchen Fällen ziehen sich Männer entweder zurück… oder machen große Sprüche.« Plötzlich wurde Max sehr ernst: »Was würde Edison wohl machen? Wäre er interessiert-iert? Besorgt? Vielleicht gestreßt? Oder nur…traurig? Huaahmm!« Max zog ein Gesicht wie tausend Tage Regenwetter. Er konnte einfach nicht lange ernsthaft bleiben. Jetzt mußte Theora doch ein wenig lächeln. »Jedenfalls würde er sich einmischen.« Mit dieser Feststellung hatte sie genau ins Schwarze getroffen.
Die Ouzo-Bar war ein Treffpunkt der Outcasts. Hier verkehrten die Gestalten, die nichts von einer bürgerlichen Existenz wissen wollten – und die trotzdem Geld genug hatten, um nicht auf der Straße hausen zu müssen. Nicht gerade Edison Carters Lieblingslokal. Doch er wußte, daß er hier den Mann finden würde, den er suchte. Rik saß reglos an einem Tisch. Sein Kopf war auf die Brust gesunken. Hinter den kreisrunden Gläsern seiner dunklen Sonnenbrille konnte man nicht erkennen, ob er die Augen geschlossen hatte. Eine imposante Gestalt hielt neben ihm Wache. Eine junge Schwarze. Groß. Kräftig. Mit Muskeln wie ein Mann. Die wilde Löwenmähne fiel ihr bis auf die ausgeprägte Brust, die ihre schwarze Lederjacke beeindruckend ausbeulte. Edison Carter hatte sie noch nie
zuvor gesehen. Wer war sie? Eine Walküre aus Odins afrikanischer Niederlassung? Der Reporter beugte sich zu Rik hinunter. Im nächsten Moment wirbelte ein Springmesser zwischen den Fingern der Frau. Sie deutete mit der Klinge auf Carter, drückte sie dann an die ausgeprägten Lippen* »Schschsch! Er schläft einen Augenblick!« Nicht unhübsch, dachte Carter, aber irgendwie nicht sein Geschmack. Laut sagte er: »Ich würde trotzdem gerne mit ihm sprechen!« »Ich sage, er schläft! Also verzieh dich!« Jetzt deutete die Klinge auf Carters Brust. Lächelnd richtete er sich auf. »Tja, weißt du, Rik würde sich sicher gern mit mir unterhalten, wenn er wach wäre. Aber da er nun gerade schläft, will ich ihn natürlich NICHT STÖREN!« Die letzten Worte brüllte er dem »Schlafenden« direkt ins Ohr. Grinsend nahm Rik die Sonnenbrille ab. Er war ein Schwarzer in Carters Alter und von Carters Größe. Rik war unglaublich dünn. Gegen ihn war der hagere Carter ein Muskelprotz. Riks glänzender Schädel, auf dem nicht ein einziges Härchen zu finden war, verstärkte den Eindruck noch. »Du darfst das Grace nicht übelnehmen. Sie ist meine Leibwächterin in dieser Woche. Aber sie hat auch angenehme Seiten. Setz dich, Edison… was willst du?« »Informationen. Was weißt du über Kampfboards und Raking?« »Raking?« »Worum geht es dabei?« »Es ist ein Wettkampf… unter Jugendlichen.« »Wo wird er ausgetragen?« »Na, überall, wo Platz ist.«
Carter sah den Hageren forschend an. »Was verheimlichst du mir?« »Das, wonach du mich nicht fragst.« Warum machte Rik immer alles so kompliziert? »Na gut, eine Freundin sorgt sich um ihren Bruder, der andauernd beim Raking mitmacht.« »Eine gute Freundin?« Zum ersten Mal zeigte Rik eine Reaktion. »Ja.« »Der Junge ist übel dran. Kampfboardspiele sind brutal. Es wird gewettet, und zwar auf den, der überlebt. Nicht auf den Sieger… verstehst du?« »Ja, ich glaube schon. Kannst du mich zu so einem Wettkampf mitnehmen?« Auf einmal war Rik gar nicht mehr so cool. »Die Typen haben sich gut abgesichert… mit ziemlich rüden Methoden. Wir brauchen einen Insider, einen Jungen, der dazugehört. Zu schade… Grace kann uns hier nicht weiterhelfen. Sie ist mir treu, mußt du wissen.« Carter lächelte die Leibwächterin an. »Eine faszinierende Frau!« Das Kompliment gefiel Grace. Sie hauchte dem Reporter einen dicken Kuß zu – über die Klinge ihres Messers. Carter hatte seine Kamera geholt und fuhr mit Rik durch die Slums. Sein Freund besaß ein seltsames Gefährt – eine Motorrikscha. Rik saß auf einem Moped, an das ein einachsiger Karren angekoppelt war. Ein Sitz auf Rädern, über den man bei Bedarf ein Verdeck klappen konnte. Carter hockte darauf und justierte seine Kamera. Vor ihm auf der Deichsel war der unvermeidbare Fernsehmonitor montiert. Rik fuhr langsam an einem provisorischen Marktstand vorbei, an dem tote Ratten feilgeboten wurden.
»Wie wär’s mit einer kleinen Müllplatzdelikatesse? Ratte süßsauer?« »Danke, ich bin Vegetarier?« Carter konnte gerade noch ein Würgen unterdrücken. Er spähte durch den Kamerasucher. Er sah einen Jungen, der sich aus einer Gruppe Jugendlicher löste. »He, Rik, da oben ist ein Junge mit einem Kampfboard! Fahr los!« Carter ließ den Jungen, der gemächlich davonknatterte, nicht mehr aus dem Objektiv. Er ahnte nicht, daß im 23er-Tower Theora Jones wieder am Kontrollpult saß und jeden seiner Schritte verfolgte.
Rasta hatte einen Riecher dafür, wann er verfolgt wurde. Den brauchte man einfach, wenn man hier draußen auf der Straße überleben wollte. Und daß die beiden Clowns in der MotorRikscha ihm folgten, war offensichtlich. Rasta wußte zwar nicht, weshalb, aber es war auf jeden Fall besser, wenn er die Fliege machte. Für einen Profi wie ihn war es eine Kleinigkeit, Verfolger abzuschütteln. Hier im unübersehbaren Labyrinth der Lagerhallen und Müllplätze kannte er sich aus. Mit Vollgas ließ Rasta sein Kampfboard nach vorne schießen. Carter hatte den Jungen aus den Augen verloren. »Siehst du ihn noch, Rik? Wo ist er hin?« »Ich behalte die Straße im Auge… nach dem Jungen suchst du!« kam die lapidare Antwort. Aber der hatte sich zwischen all den Überresten längst vergangener besserer Zeiten unsichtbar gemacht. Carter wollte schon resignieren, als der Lautsprecher an seiner Kamera zum Leben erwachte: »Edison, ich habe ihn! Ihr müßt nach rechts abbiegen!« Theora? Damit hatte Carter nicht mehr gerechnet. Egal. Das Jagdfieber packte ihn wieder. »Rick, wir müssen da hinüber!
Worauf wartest du?« Und leiser, zu Theora: »Schön, daß du wieder mitmachst.« »Freu dich nicht zu früh!« Die Controllerin hatte die Satellitenbeobachtung auf ihren Monitor geschaltet. Zwei blinkende Punkte stellten den Jungen auf dem Board und seine Verfolger dar. »Achtung, nächste Straße rechts. Er ist in dem Lagerhaus!« »Verstanden!« Jetzt war sich Edison Carter ziemlich sicher, daß er beides bekommen würde – seine Story und Shawn Jones. Was konnte denn schon schiefgehen, wenn Theora an ihrem Kontrollpult wie ein unsichtbarer Führer und Schutzengel über ihn wachte?
Rasta fuhr langsam durch das Lagerhaus, das heute einer Menge Menschen Unterschlupf bot. Die meisten hockten apathisch vor den Fernsehern, die überall herumstanden. »Hallo!« Rief da etwa jemand nach Rasta? »Ach, Sie sind es wieder!« Verblüfft starrte der Junge auf Max Headroom, der ihn vom Bildschirm anlächelte. »Ja! Ja! Ja! Wir sind alte Freunde. Raking… was ist das eigentlich?« Das Thema machte Rasta Angst. »Beim Raking geht’s nur ums Überleben… mehr weiß ich darüber auch nicht.« »Da weißt du schon genug. Danke-ke-ke-ke… ke. Oltorr Frrroind…!« Komischer Kauz! Sprach der mit Absicht so seltsam? Beim nächsten Mal würde ihn Rasta danach fragen. Jetzt jedenfalls war Max schon wieder verschwunden.
»Achtung, da kommt er wieder! An der Ecke könnt ihr ihn abfangen!« Theora hatte den Jungen auch in der Halle nie
verloren. Auf die elektronischen Augen überall in der Stadt und hoch droben im Orbit war Verlaß. Zwei Markierungen auf dem Schirm zeigten ihr, daß Edison und sein seltsamer Freund hinter der richtigen Ecke lauerten. Von einem Augenblick zum nächsten war Rastas Fahrt zu Ende. Als Carter und Rik ihn packten, war er viel zu überrascht, um sich zu wehren. »Wie… wie habt ihr zwei es geschafft, mich zu schnappen?« »Wir haben eben gut informierte Freunde«, protzte Rik. Theora, die dank Carters Kamera direkte Augenzeugin des Geschehens war, lachte geschmeichelt. Da sah sie aus den Augenwinkeln, wie Murray in die Nachrichtenzentrale kam. Er erstarrte, als er Theora entdeckte. Dann marschierte er auf sie los. Aber die Controllerin ließ ihn erst gar nicht zu Wort kommen. »Ach Murray! Edison hat eine gute Story für seine Show diese Woche. Er wird dir gleich alles erklären!« Der Chefredakteur baute sich mit verschränkten Armen hinter Theoras Platz auf und starrte wortlos auf den Bildschirm. Für den Moment war es besser, still zu sein. Denn wenn er erst einmal anfing zu reden, konnte er bestimmt nicht mehr aufhören – und sagte vielleicht Dinge, die er hinterher bereute. Theora rief den Reporter. »Edison, Murray ist hier. Ich hab ihm gesagt, daß du eine gute Story hast. Gibst du ihm ein paar Einzelheiten?« Carter drückte Rik seine Kamera in die Hände und sprach direkt ins Objektiv. »Es geht um Raking. Einige nennen es Sport… in Wirklichkeit ist es eine gemeine Art, Jugendliche auszubeuten. Man stachelt sie dazu an, sich zum Vergnügen des Publikums gegenseitig zu verletzen.«
»Okay, das bringen wir.« Ohne Theora eines weiteren Blickes zu würdigen, stapfte Murray davon. Die Controllerin konnte gerade noch ein Lachen unterdrücken. »Edison, du hast es gehört. Murray hat uns seinen Segen erteilt.« »Uns?« Theora wußte, warum er das Wort so betonte. »Ja, uns!« »Dann bin ich beruhigt.« Theora lächelte. Aber gleich wurde sie wieder ernst. »Bitte sag mir die Wahrheit… steckt mein Bruder mit da drin?« »Ja… ich fürchte, ja.« »Hilf ihm, Edison.« Hatte sie nun doch noch einen Mann gefunden, auf den sie sich verlassen konnte?
12. Kapitel
Rasta hatte Carter und Rik zu der alten Lagerhalle gebracht, in der die wichtigsten Raking-Kämpfe der Stadt ausgetragen wurden. Die drei kauerten hinter einem Autowrack, von dem aus sie die Rückfront der Halle im Auge hatten. Carters Kamera übertrug Theoras Stimme. »Die Halle scheint unbewohnt zu sein. Alarmanlagen gibt es nicht… ihr könnt also ohne weiteres reingehen. Aber ich sehe mir vorsichtshalber die Einzelheiten noch mal auf dem Scanner an.« Theora holte eine Computergrafik des Gebäudes auf ihren Monitor und studierte sie eingehend von allen Seiten. Draußen in den Slums flüsterte Rik seinem Freund zu: »Der Junge behauptet, da drin findet heute abend ein Raking-Turnier statt.« Carter stand auf. »Also los.« »Moment noch, Edison!« Das war Theora. »Da bewegt sich irgendwas!« Die drei gingen wieder hinter dem Autowrack in die Hocke. Carter sah zwei ältere Männer zum Hintereingang der Halle gehen. Das war doch… Al Copane, der selbsternannte Unterweltkönig der Stadt! Und neben ihm Doc Willis. Ein gewissenloser Arzt, der nicht fragte, woher die Wunden seiner Patienten stammten, solange sie ihn gut bezahlten. Die beiden kamen so nahe an Carters Versteck vorbei, daß er jedes Wort ihrer Unterhaltung verstand. Copane führte das große Wort. »Also, wie geht’s dem Jungen? Ace oder Shawn oder wie immer er heißt?«
»Er ist sehr schwach… ich kann nicht garantieren, daß er heute abend kampffähig ist.« »Kriegst du ihn wenigstens so hin, daß er gut aussieht in der Arena?« »Vielleicht. Aber ob er auch gut kämpfen wird, weiß ich nicht.« Copane knurrte. Er schlug mit der Faust gegen die Stahltür in der Hallenwand. Ein muskulöser Wachmann öffnete, sah sich vorsichtig um und ließ die beiden ein, als er seinen Brötchengeber erkannte. In einem der Nebenräume der Halle hatte Doc Willis seine Krankenstation eingerichtet. Hier ließen die verletzten Raker ihre geschundenen Körper ausheilen. In einer Ecke kauerte Shawn. Ihn hatte es von allen am schlimmsten erwischt. Die Wunden in seiner Bauchdecke hatten sich entzündet, Fieberanfälle schüttelten den jungen Mann. »Da sitzt er ja«, raunte Copane dem Arzt zu. »Wir werden allen sagen, daß er gewinnt… dann können wir schön hoch auf den anderen Kerl setzen.« Der Arzt nickte. Copane ließ kein Geschäft aus. Shawn schob sich an der Wand hoch, als er den großen Boß auf sich zukommen sah. Er fühlte sich hundeelend. Aber das durfte Mr. Copane nicht merken. Im Raking zählten nur Siegertypen. Und Shawn war doch ein Star! Er war der unschlagbare Ace! »Hallo, Shawn! Wie geht’s?« Was für eine Ehre! Der Boß kannte sogar seinen Namen! »Mir geht’s gut… das sehen Sie ja…« Shawn verfluchte den Schweiß, der ihm ausgerechnet jetzt in Strömen über das Gesicht laufen mußte. Nur keine Schwäche zeigen! »Ich fühle mich bestens… ich werde hart kämpfen, Sir. Ich mach meinen Gegner fertig!«
»Ja, das ist die richtige Einstellung!« Copane tätschelte die schweißnasse Wange des Jungen, spürte das hohe Fieber. Grinsend steckte er sich die Zigarre zwischen die Zähne. »Du bist einer meiner besten Kämpfer!« Ein kurzer Wink zum Doc, und die beiden Männer ließen den Jungen allein. Schlagartig verschwand das gequälte Grinsen von Shawns Gesicht. Aufstöhnend sackte er zu Boden.
»Na, was überlegst du jetzt?« Rik, Carter und Rasta hockten noch immer hinter dem Autowrack und starrten hinüber zur Halle. Der Reporter sah den hageren Schwarzen neben sich nachdenklich an. Rik war mehr als nur ein Informant. Er war ein echter Freund. »Ich überlege, ob wir in die Kampfarena reinkommen!« Rik grinste über das ganze Gesicht. »Natürlich!« Er stand auf und war im nächsten Moment zwischen den Müllbergen verschwunden. Rasta sah den Reporter an. Carter nickte ihm zu. Der Junge konnte ihm jetzt nicht mehr weiterhelfen. Es war unnötig, ihn in Gefahr zu bringen. »Vielen Dank, Kleiner.« Rasta verstand den Wink. Er warf den Zweitakter seines Kampfboards an und sah zu, daß er Land gewann. Er war nicht scharf darauf, in den Kampf mit Copanes Raking-Organisation verwickelt zu werden. Carter hob die Kamera auf die Schulter und blickte durch den Sucher. »Theora, wir gehen jetzt rein. Halte Kontakt zu uns«, flüsterte er ins Funkmikro. Die Stimme seiner Controllerin klang besorgt. »Shawn ist in dem Haus, nicht wahr?« »Ich denke, ja.« »Hilf ihm.«
Rik knatterte mit seiner Moped-Rikscha direkt vor den Hintereingang der Halle. Der Muskelmann, der dort Wache hielt, begrüßte den Schwarzen. Hier in den Slums war Rik bekannt wie ein bunter Hund. »Na, sag mal«, wunderte sich der Wachmann, »das hier ist doch gar nicht dein Revier.« »Mein Revier ist überall! Du, ich hab gehört, hier steigt heute abend ein Raking-Turnier. Kannst du mich irgendwie reinbringen?« »Klar, Rik.« Der Muskelprotz deutete auf die Tür. »Und wenn dich Doc Willis sieht, sag ihm, du wärst ein Freund von mir.« »Okay!« Rik stieg vom Moped und schlenderte auf die Tür zu. Als er neben dem Wachmann stand, stieß sein Ellbogen vor, fuhr dem Großen direkt in die Rippen. Der Mann klappte zusammen wie ein Taschenmesser. Ein schneller Fußtritt beförderte ihn sowohl ins Reich der Träume als auch in den offenstehenden Kofferraum eines Autowracks. Rik schloß den Deckel und winkte Carter zu. Der Reporter hatte alles durch den Sucher seiner Kamera verfolgt und auf Theoras Monitor im 23er-Tower übertragen. Die junge Frau war beeindruckt. Dieser Rik wirkte wie ein halbes Hemd – aber er war gefährlicher als eine Klapperschlange! Carter und Rik tauchten in das Labyrinth der Kellerräume unter der Halle. Sie waren rings um die Kampfarena angeordnet und zu diesem Zeitpunkt menschenleer. Die beiden huschten an einem Durchgang vorbei, der den Blick auf den Boden der Arena freigab. Der Reporter stutzte. Er ging hinter einem Pfeiler in Deckung und richtete seine Kamera auf die verglaste Loge. Mit dem bloßen Auge konnte er die Gestalten da oben nur undeutlich erkennen, doch der Kamera-Zoom holte sie nahe heran. Und dort stand neben dem miesen
Gangster Copane der mächtige Senator Peller. Die beiden waren in ein freundschaftliches Gespräch vertieft. »Donnerwetter, was für nette Menschen sich da getroffen haben«, murmelte Carter. »Theora, hol Murray.« »Ich bin schon da«, drang die Stimme seines Chefredakteurs aus dem Kamera-Mikro. Murray hatte seinen Streit mit Theora längst vergessen. Fasziniert beugte er sich zu ihrem Bildschirm vor, um auch ja kein Detail zu verpassen. »Sieh mal an… Peller! Wenn das keine Neuigkeit ist!« Er brüllte fast in Theoras Mikrofon: »Bleib dran, Edison! Ich hole Cheviot!«
Carter und Rik hatten sich bis zum Abend unbemerkt in der Halle verstecken können. Jetzt, wo sich die Massen des Publikums durch die Gänge schoben, fielen die beiden sowieso nicht mehr auf. Sie standen auf den billigsten Plätzen, erstaunt von der überschäumenden Begeisterung der Zuschauer. Der Hallensprecher meldete sich dröhnend zu Wort: »Ladies und Gentlemen, ich darf Sie im Namen der Veranstalter recht herzlich zum Raking-Turnier des heutigen Abends begrüßen. Und hier kommen schon die ersten Kämpfer… Applaus für die mutigen Jungs!« Ein paar Jugendliche in wilden Kampfanzügen rasten die Rampen herab und zeigten dem begeisterten Publikum, welche Kunststücke sie mit ihren Boards draufhatten. Das heizte die Stimmung natürlich noch mehr an. Und die Wettlust ebenfalls. Fedor hatte seinen Buchmacher herangewinkt. »Ich setze 500 auf Ace! Hast du verstanden? Nicht auf Rod… auf Ace! Ein todsicherer Tip… den hab ich von ganz oben!« Die umstehenden Wetter machten lange Ohren. Sie wußten von Fedors heißem Draht zu Copane. Und wenn er auf Ace
setzte… Plötzlich wollte fast niemand mehr sein Geld mit einer Wette auf Rod riskieren. Copane stand allein in seiner Privatloge und blickte zufrieden in die bis auf den letzten Platz gefüllte Halle. Heute abend würde er den Reibach seines Lebens machen. Senator Peller setzte sich auf den Ehrenplatz am oberen Rand der Arena. Seine Frau und Jack Friday begleiteten ihn. Der Politiker war gespannt. Brachte Raking wirklich den Nervenkitzel, den Friday ihm versprochen hatte? Dann wurde es ernst. Kampfbereit stand Ace am oberen Ende seiner Rampe. Fieber und Schmerzen rasten durch seinen Körper, aber daran durfte er jetzt nicht denken. Jetzt zählte nur Rod. Rod, der ihn von drüben herausfordernd anstarrte und erschreckend gut aussah. Ace hatte es mit einem bestens trainierten Gegner zu tun. Crocker klopfte seinem Star ermunternd auf die Schulter. »Wie geht’s dir, mein Junge?« »Ich bin ganz wild auf den Kampf!« Ace preßte die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er mußte sich beherrschen, um seinen Schmerz nicht laut hinauszuschreien. »Das genügt nicht! Du mußt Spitze sein«, hämmerte Crocker ihm ein. »Denk an deine Frau und daran, was ihr mit dem Geld anfangen könnt! Los… mach ihn fertig!« Der Coach fand doch immer die richtigen Worte! Ace konnte es kaum erwarten, daß der Schiedsrichter das Band des Siegers in die Arena warf. Endlich! Er raste die Rampe hinab und setzte sich gleich hinter Rod, der vergeblich versuchte, ihn in der Steilwand abzuschütteln. Ace war der beste! Wenn er seinem Gegner erst einmal im Nacken saß, schüttelte ihn keiner mehr ab. »Los, du schaffst ihn!« Ace hörte die Anfeuerungsrufe der Menge. Sie taten ihm gut. Halfen, den Schmerz zu betäuben, der ihn beinahe zerriß. Ace
preßte die linke Hand fest gegen seinen Bauch, der aus flüssigem Feuer zu bestehen schien. Wieso war Rod so schnell? Hatte er einen stärkeren Motor in seinem Board? Oder hielten Aces Reflexe nicht mehr mit? Nein, das konnte nicht sein. Keiner war besser als der unbezwingbare Ace! Das Publikum tobte. Der Clown da unten wackelte durch die Arena, als stünde er zum ersten Mal auf einem Kampfboard. Fedor ballte die Fäuste zusammen. Was war los mit Ace? Wie ein Sieger sah der nicht aus! Oder war das nur ein Trick, um seinen Gegner in falsche Sicherheit zu wiegen? Rod spürte, daß er es an diesem Abend packen konnte. Er fuhr die Steilwand hoch, wendete auf der Stelle und raste wieder hinab, zur gegenüberliegenden Steilwand. Vorbei an Ace, der ihm nicht mehr folgen konnte, ihn kaum wahrzunehmen schien. Rod nutzte jeden Zentimeter Raum, der ihm zur Verfügung stand. Diesmal wendete er erst ganz am oberen Rand der Arena. Er holte alles an Beschleunigung aus seinem Board heraus. Ace war noch unten auf dem Boden. Rod raste an ihm vorbei, als er die Höchstgeschwindigkeit erreicht hatte. Sein krallenbewehrter Handschuh zuckte vor, zielte nach dem Bauch seines Gegners. Die Stahlklauen prallten von Aces linkem Handschuh ab, den er immer noch krampfhaft auf seinen Bauch preßte. Rod wußte, warum. Mr. Copane hatte ihn vor dem Kampf zu sich gerufen und ihm einiges gesagt. Ace bekam nur einen Schlag auf den Magen. Aber das war genug. Rod hatte ein mörderisches Tempo drauf, das dem Hieb gewaltige Wucht verlieh. Die entzündete Wunde auf Aces Bauchdecke platzte auf. Mit einem lauten Schmerzensschrei stürzte Theoras Bruder zu Boden. Stöhnend blieb er liegen, unfähig, sich zu rühren.
Die Zuschauer waren außer Rand und Band. Das war es, was man sehen wollte. Blut, Schweiß und Tränen. Verletzungen. Tote. Aber nicht im Fernsehen. Sondern live. Gegen die harte Realität konnte keine Mattscheibe der Welt anflimmern. Die Wetter allerdings fürchteten um ihre Einsätze. Fedor ganz besonders. 500 Mäuse hatte er auf den Kerl gesetzt, der jetzt einfach da unten rumlag und sich ausruhte. Wofür hielt der sich denn? »Aufstehen! Kämpfen, du Hasche!« In der Ehrenloge nahm sich Senator Pellers Frau noch ein paar Gummibärchen aus der Schale, die Mr. Copane liebenswürdigerweise hatte aufstellen lassen. Dieser Abend gefiel ihr. Nicht so langweilig wie die ewigen Konzerte oder Gesellschaften der oberen Zehntausend, zu denen ihr Mann sie sonst mitschleifte. Sie verstand nicht ganz, worüber Simon sich so aufregte. Gefiel ihm Raking etwa nicht? In der Tat. Der Senator war empört. Nicht so sehr über die Tatsache, daß da vor seinen Augen ein Kampf auf Leben und Tod ausgetragen wurde. Aber hatte Friday eigentlich den Verstand verloren, ihn so kurz vor den nächsten Wahlen in eine derartige Sache zu verwickeln? Für den Fall, daß irgendwelche Presseleute in der Nähe waren und ihn belauschten, formulierte der Senator seine Abscheu laut und vernehmlich: »Das ist ja schrecklich!« Der Sportreporter sah ihn verständnislos an. Ace biß die Zähne zusammen. Langsam setzte die Wirkung der Pillen, die ihm Doc Willis vor dem Kampf gegeben hatte, wieder ein. Die Schmerzen wüteten nach wie vor in seinem Bauch, aber sie behinderten ihn nicht. Er behielt Rod im Auge, der ihn umkreiste wie ein Geier das Aas. Solange ein Raker nicht auf seinem Brett stand, durfte er nicht attackiert werden. Ace mußte den richtigen Moment abpassen, um aufs Board zu steigen. Sonst würde Rod ihn im nächsten Augenblick wieder herunterfegen.
Edison Carter traute seinen Augen nicht. Wollte Shawn nicht begreifen, daß der Kampf für ihn vorüber war? »Ich gehe nach unten.« Rik nickte. Er würde ihm den Rücken freihalten. Der Reporter hoffte, daß auch Theora über die Kamera, die er unter seinem Mantel verborgen hielt, mithörte. Ace war ein Profi. Er sprang aufs Brett, als Rod ihm nicht gefährlich werden konnte. Doch jetzt hatte er seinen Verfolger im Nacken. Eine böse Situation. Aber nicht für Ace, den besten aller Raker! Er schätzte Rods Tempo richtig ab und jagte die Steilwand hinauf. An dieser Stelle war oben hinter der Kante eine kleine Plattform, auf der man sich einen Moment ausruhen konnte. Mit dem letzten Schwung erreichte Ace die Plattform, kuppelte den Antrieb des Boards aus. Rod war nicht schnell genug. Einen halben Meter unterhalb der Plattform mußte er umdrehen. Darauf hatte Ace nur gewartet. Er ließ die Motorkraft auf die Antriebsräder los und jagte hinter Rod her. Diesmal würde er ihm nicht entwischen. Aces Krallenhand schnellte nach vorn, auf den ungeschützten Rücken seines Gegners zu. Im letzten Moment warf Rod sich herum. Die scharfen Klingen prallten von seinem Nierenpanzer ab. Der verhinderte eine schwere Verletzung – trotzdem hatte ihn der Schlag voll erwischt. Rod stürzte vom Board und rollte stöhnend über den Boden der Kampfarena. Er schnappte nach Luft. Diesmal war es Ace, der sein Opfer lauernd umkreiste. »Steh auf… na los! Steh auf!« brüllte er. Der Schweiß rann ihm in Strömen übers Gesicht. Täuschte sich Rod, oder wankte Ace wirklich?
13. Kapitel
Al Copane saß in seinem kleinen Büro. Im Fernseher lief die Wiederholung irgendeines alten Spielfilms. Der Lärm aus der Kampfarena drang nur gedämpft durch das schalldichte Fenster. Er schwoll kurz an, als die Tür geöffnet wurde. »Ah, Doc… du kommst wie bestellt!« Ein zufriedenes Grinsen machte sich auf dem Gesicht des Promoters breit. »Die Novo Bank Zürich hat gerade bestätigt, daß die ZikZakCorporation das Geld auf unser Konto überwiesen hat. Tja… damit ist unsere Anwesenheit hier nicht mehr unbedingt erforderlich!« Er steckte sich den kalten Zigarrenstummel zwischen die Zähne. Wenn er erst in der Schweiz saß und mit dem ZikZakGeld das Leben genoß, würde er diese Dinger nicht mehr anrühren. Dann brauchte er keine Zigarren mehr, um kleinen Halsabschneidern wie Fedor stets vor Augen zu führen, wer der große Boß war. Von dem satten Zusatzgewinn aus seiner kleinen Wette würde er sich vielleicht ein Sommerhaus am Mittelmeer zulegen… Die Stimme seines einzigen echten Freundes riß Copane aus seinen Träumen. Doc Willis grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Tja… nun hat Sender 23 den Schwarzen Peter!« »Richtig.« Der Promoter lachte stillvergnügt vor sich hin. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Willis nach der WhiskyFlasche auf dem Schreibtisch griff und sich mit ihr auf den Weg zur Tür machte. »Doc… laß die Flasche hier!«
Doch der Mediziner war schon verschwunden – mitsamt dem schottischen Single Malt. Copane seufzte. Willis würde sich noch zu Tode saufen. Gerade von einem Arzt konnte man doch erwarten, daß er wußte, was zuviel Alkohol im menschlichen Körper anrichtete. Gerade jetzt, wo sie’s endlich geschafft hatten, wo sie reich waren, gab es nun wirklich keinen Grund mehr, sich zu besaufen! »Hey! Pst! Sie-Sie-Sie sehen sehr nach Boß aus!« Verblüfft starrte Copane auf den Fernseher, von dem aus ihn Max Headroom anlächelte. Er hatte schon von diesem neuen elektronischen Moderator gehört… aber das Ding tat ja so, als würde es sich nur mit ihm unterhalten. War so etwas überhaupt möglich? Copanes Unterkiefer klappte herunter. Im letzten Moment konnte er seinen Zigarrenstummel auffangen. Max plapperte munter weiter und sah dem Promoter dabei direkt in die Augen. »Ich bin auf der Suche nach einer neuen Sportart mit viel Action, Aufregung und dem Geschmack, Geschmack, Geschmack… nach Blut.« »Häh?« Der Promoter traute seinen Ohren nicht. Klang ganz so, als wüßte dieser Fernsehfritze über Raking Bescheid. Aber woher hatte er seine Informationen? Jack Friday hatte doch zugesichert, die Öffentlichkeit erst zu informieren, wenn Pellers Gesetz unter Dach und Fach war! Max setzte die unschuldigste Unschuldsmiene auf, die in seinem Mimik-Programm gespeichert war. »Könnten Sie mir ein paar Einzelheiten verraten?« Bisher hatte Ace die Anfeuerungsschreie der Menge stets genossen. Er badete im Jubel der Zuschauer, lief zur Höchstform auf, wenn er seine Gegner hetzte und dabei angefeuert wurde. Der Beifall galt ihm, dem Star. Er war Ace, der weit über die Masse der Durchschnittlichen schwebte.
Aber heute hatte sich das geändert. Das Gebrüll ging ihm auf die Nerven. Er konnte sich kaum noch konzentrieren. Doc Willis’ verdammte Pillen zeigten kaum noch Wirkung. Die Schmerzen machten ihm mit jedem Moment mehr zu schaffen. Der Sieg über Rod schien in unendliche Ferne gerückt. Noch hielt Ace sich auf dem Brett, jagte hinter seinem Gegner durch die Steilwand. Aber Rod hatte den Treffer von vorhin gut weggesteckt. Mühelos wich er Shawns harmlosen Schlägen aus. Carter und Rik drängten sich durch die Zuschauermassen. Je näher sie dem Rand der Arena kamen, um so mühseliger kamen sie voran. Keiner machte ihnen freiwillig Platz. Nicht jetzt, wo das Ende des Kampfes unmittelbar bevorstand. So etwas ließ man sich doch nicht entgehen! Rik setzte seine spitzen Ellbogen ein. Ihm war klar, daß sie sich beeilen mußten: »Mann! Der hält nicht mehr lange durch!« Das fand auch der Senator in seiner Loge. »Der Junge ist schwer verletzt, Jack!« Der Sportreporter sah ihn voller Unverständnis an. »Aber Mr. Peller… darum geht es doch bei diesem Sport!« Peller traute seinen Ohren nicht. Sollte das heißen, Friday würde nichts unternehmen, um dem armen Burschen zu helfen? Ungläubig sah er in die Runde. Die Primitivlinge auf den Rängen tobten vor Begeisterung. Sie wollten Blut sehen. Und seine Frau kaute ein Gummibärchen nach dem anderen und verfolgte den Kampf mit leuchtenden Augen! Ace versuchte einen letzten Angriff. Diese Frontalattacke mußte einfach gelingen, sonst war er erledigt. Rod raste auf ihn zu. Ace kniff die Augen zusammen. Aber es half nichts. Er konnte nicht mehr klar sehen. Alles wurde unscharf, verschwamm.
Rod lächelte siegessicher. Diesmal würden seine Kampf klauen nicht vom Handschuh seines Gegners abprallen! Aces Welt explodierte in einer Woge von Schmerz. Er spürte nicht, wie er hart auf den Boden der Arena schlug. Er hörte das Toben der Menge nicht. Mit all seinen Sinnen nahm er nur noch diese eine Empfindung wahr: ein Gefühl, als würde es seinen Bauch zerreißen. Peller sprang empört auf. »Und so was sollen wir legalisieren? Sie sind wohl wahnsinnig, Friday!« Wieso glotzte ihn der Sportreporter nur so dämlich an? Offenbar verstand der Kerl nicht, daß man von manchen Geschäften einfach die Finger lassen mußte. Nicht weil sie unmoralisch waren. Wen störte schon Moral? Aber solche Dinge kosteten Wählerstimmen. Und was zählte mehr in einer Demokratie? Die enttäuschten Wetter, die ihr Geld auf Ace gesetzt hatten, zerrissen ihre Wettscheine und ließen die Schnipsel in die Arena regnen. Die meisten fanden sich damit ab, daß ihr Geld verloren war. Nicht so Fedor. Er gab seinem Dauerschatten Spivy einen Wink. Die beiden hatten nur deshalb so hoch auf den Verlierer gewettet, weil er von Copane als der sichere Sieger angepriesen worden war. Was dachte sich der Kerl? Niemand ließ Fedor ungestraft vor die Pumpe laufen! Endlich schaffte es der Hallensprecher, den Lärm der Zuschauer zu übertönen: »Ladies und Gentlemen, damit ist der erste Kampf des Abends entschieden! Der Sieger heißt Rod! Sonderapplaus für Rod!« Rik hatte den Rand der Kampfarena erreicht und sprang hinunter. Carter blieb dicht auf seinen Fersen. Vorsichtig kletterte er über die Kante der Raking-Bahn. Er mußte auf seine Kamera aufpassen, die er in der Linken hielt. Sein über den Arm gelegter Mantel verdeckte das Gerät nur noch notdürftig.
»Wir gehen runter und versuchen, ihm zu helfen«, rief er ins Mikrofon. Solange der Mantel das Objektiv verdeckte, waren Theora und Murray in der Kontrolle praktisch blind. Carter kam sich vor wie ein Reporter aus der guten alten Zeit der Dampfradios. »Gleich wird’s hier viel Ärger geben!« Er rutschte die Steilwand hinab und kam unmittelbar vor Shawn auf die Füße. Rik kauerte schon bei dem Jungen, der schwerverletzt am Boden lag. Wenigstens war er bei Bewußtsein. Rik nahm ihn in die Arme. »Wir müssen ihn hier rausschaffen, Edison. Sonst verblutet er!« Shawn wand sich vergeblich im festen Griff des Hageren. Er wollte die Niederlage trotz seiner Schmerzen nicht akzeptieren. »Laßt mich in Ruhe…verschwindet, .!« Sein Glück, daß keiner auf ihn hörte.
»Hee… ha-hallo!« Max Headroom machte sich noch immer auf dem Fernseher in Copanes Büro breit. Jetzt verschwand er für einen Augenblick und blendete ein paar RakingAufnahmen ein, die er im privaten Videoarchiv des Sender-23Vorstands gefunden hatte. Aber sein Kommentar lief weiter: »Also diese neue Sportart, die nach Blut schmecken soll… i-ii-ich hab sie gefunden… und ich finde sie ekelhaft. Ekelhaft. Ekelhaft.« Copane starrte auf den Schirm, als wären die Geister des Jenseits hinter ihm her. Er packte den Koffer mit seinen Unterlagen. Gerade wollte er die Tür öffnen, als sie von außen aufgestoßen wurde. Ein zornbebender Simon Peller hätte ihn fast umgerannt. Die Frau des Senators trippelte hinter ihm her, gutaussehend und nichtsahnend wie immer. »Verdammt noch mal, das da draußen nennen Sie Sport, Sie Wahnsinniger?« Peller tobte. Copane hielt sich an seinem
Aktenkoffer fest. Er war das einzige, was ihm jetzt noch Halt gab. Von seinem Zweiwegbildschirm sah Max voller Interesse, wie Jack Friday hinter dem Senator ins Büro stürzte. »Simon! Simon… bitte!« rief er beschwörend. »Wir werden uns schon irgendwie einigen!« Der Senator drückte den schmächtigen Mann vor ihm fast an die Wand. »Was ist denn überhaupt los?« jammerte Copane. »Gar nichts ist los! Alles in Ordnung!« tönte Friday. Sein Pech, daß keiner auf ihn hörte. Fedor drängte alle beiseite und packte Copane an der Krawatte. Die Wut verlieh ihm Riesenkräfte. Sein Kumpel Spivy hielt ihm den Rücken frei. »Du verdammter elender Betrüger hast mich reingelegt!« brüllte er. Spivy nickte eifrig. »Soviel steht fest!« Copane fragte sich verzweifelt, warum sich auf einmal alle gegen ihn verschworen hatten. Gönnte ihm denn niemand mehr ein kleines Geschäft? Coach Crocker traute seinen Augen nicht, als er die beiden Witzfiguren in der Kampfarena herumturnen sah. Was hatten die Kerle bei Ace verloren? Da entdeckte er die Fernsehkamera, die der Blonde jetzt unter seinem Mantel hervorzog. Crocker wußte, was das bedeutete. Ein Bericht über Raking, bevor der Sport legalisiert war, wäre das Ende seines einträglichen Jobs! »Kontrolle, bitte auf Sendung schalten!« Carter richtete die Kamera auf Rik Shawn, der noch immer versuchte, sich aus dem Griff des Schwarzen zu winden. Diese Bilder würden live auf 300 Millionen Fernseher übertragen werden. Bilder, die das wahre Gesicht des Raking zeigten.
»Laß mich los… loslassen!« schluchzte Ace. Aber Rik hörte nicht auf ihn. In der Zentrale starrte Murray gebannt auf die Bilder, die Carter lieferte. Sensationen wie diese hatten seinen Weltruhm begründet. Aber was war denn mit Theora los? »O mein Gott… das ist Shawn! Mein Bruder!« stammelte die Controllerin fassungslos. »Ich muß zu ihm!« Jetzt verstand Murray erst richtig, was Theora in den letzten Tagen so zu schaffen gemacht hatte. Er schämte sich für die Art, wie er sie behandelt hatte. Aber er würde es wieder gutmachen. »Du kannst gehen! Ich versuche, dich zu vertreten!« »Vielen Dank…« Ungläubig sah sie ihn an. »Geh schon«, knurrte der Chefredakteur. »Ja… gut!« Schnell bereitete Theora die Live-Schaltung vor. Es war besser, wenn sie Murray diese komplizierte Aufgabe noch abnahm. Aber dann könnte sie sofort… »Was ist denn hier los?« Nach Murrays Anruf hatte sich Ben Cheviot augenblicklich auf den Weg in die Nachrichtenredaktion gemacht. Verblüfft starrte er auf den Monitor, der Edison Carters Aufnahmen zeigte. »Kontrolle! Kontrolle!« quäkte die Stimme des Reporters aus dem Lautsprecher. »Was ist passiert? Warum schaltet ihr mich nicht auf Sendung?«
In der Halle war der Teufel los. Die Zuschauer hatten die Kamera entdeckt. Sie spürten, daß sie heute mehr geboten bekamen als einen normalen Raking-Abend. Crocker schäumte. Ihm blieben vielleicht nur noch Sekunden, bis das Rotlicht an der Kamera aufleuchtete. Sekunden, um eine Katastrophe zu verhindern! Er riß einem seiner Jungs den
Kampfhandschuh weg, stülpte ihn sich über die rechte Hand und rannte die Rampe hinunter. Edison Carter konnte nicht verstehen, warum seine Bilder noch immer nicht ausgestrahlt wurden. »Nun macht schon! Worauf wartet ihr? Ich will direkt senden!« brüllte er ins Kamera-Mikrofon. Endlich hatte er Rotlicht! Er ließ die Kamera auf Rik und Shawn. Jetzt übertrug sie die Bilder und seine Worte live ins ganze Land: »Hier ist Edison Carter vom Sender 23 mit einer Live-Sendung…« »Vorsicht, Edison!« Riks Alarmschrei kam im letzten Augenblick. Carter wirbelte herum und entging so um Haaresbreite den mörderischen Klauen an Crockers Kampfhandschuh. Die Kamera knallte auf den harten Boden – und gab ihren Geist auf. Rik sprang auf. Crocker schlug zu. Dieses halbe Hemd würde er im Nu auf die Bretter schicken. Doch sein Hieb zischte ins Leere. Rik duckte sich, und ehe sein Angreifer sich von der Überraschung erholt hatte, deckte er ihn mit einem Hagel harter Schläge ein. Rik kannte die empfindlichen Stellen eines Mannes. Mit einem Seufzer wich die Luft aus Crockers breiter Brust, als er bewußtlos zu Boden sank. Das Publikum auf den Rängen wurde immer unruhiger. »Ich hab das Gefühl, die machen uns gleich fertig!« meinte Rik nach einem skeptischen Blick in die Runde. »Viel schlimmer ist… die Kamera tut’s nicht mehr!« Carter kniete auf dem Boden. Er hielt seine Kamera auf den Knien und versuchte, wenigstens eine Notschaltung zustandezubringen. Wenn er es fertigbrachte, wieder auf Sendung zu gehen, standen ihre Chancen, lebend aus diesem Schlamassel herauszukommen, wesentlich besser.
Carter sah auf. Da oben, hinter dem Fenster! War das nicht…? »Ein Monitor! Rik, hol mir den Monitor!« Carters Finger zeigte dem Schwarzen die Richtung an. »Sofort, Edison!« Mit ein paar langen Schritten jagte Rik die Steilwand hinauf, drängte sich rücksichtslos durch die brüllenden Zuschauer. Er hatte zwar keine Ahnung, was Carter sich davon versprach, aber für dumme Fragen war jetzt keine Zeit. »Theora!« Carter hoffte, daß er wenigstens die Tonleitung wieder hinbekommen hatte. »Ja, ich höre dich!« »Schalte auf das Zweiwegübertragungsprogramm!« Im Kontrollraum starrte Murray verständnislos auf den Monitor, der immer noch nichts als Schnee zeigte. »Wieso? Was soll das?« Theora hatte jetzt keine Zeit, ihrem Chef die Sache zu erklären. Sie hämmerte auf die Tasten ihres Computers. Aber die Anlage nahm den Code nicht an. Im Gegensatz zu Murray hatte Cheviot, der direkt hinter Theora stand, begriffen, was der Reporter wollte. Und er kannte den richtigen Code. »Versuchen Sie’s mit Cheviot CT 0011!« Der Vorstandsvorsitzende war entschlossen, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen. Wenn an dieser Raking-Geschichte irgend etwas faul war, durfte Sender 23 nicht zögern, alles aufzudecken. Besser, der Vertrag mit der ZikZak-Corporation platzte, als daß man die Lizenz riskierte! Theora gab den Code ein – und im nächsten Moment sah sie auf ihrem Bildschirm, was auch Max Headroom in Copanes Büro erblickte. Die Technik des Zweiwegfernsehens machte es möglich!
14. Kapitel
In Copanes Büro war der Teufel los. Fedor hatte ihn am Kragen gepackt und brüllte: »Du verdammter Betrüger! Du hast uns reingelegt!« »Dafür bezahlst du!« knurrte Spivy. »Von wegen todsicherer Tip!« »Du Ratte! Du Betrüger! Wir wollen unser Geld zurück!« Copane konnte einem fast leid tun. Alle waren sie gegen ihn. »Beruhigt euch«, flehte er. »Ich zahle euch alles zurück!« »Aber schnell! Sonst machen wir dich kalt!« Fedor fühlte sich unheimlich gut in der Rolle des harten Burschen. Mal sehen… vielleicht konnte er sogar Copanes Organisation übernehmen!
Cheviot fielen fast die Augen aus dem Kopf, als er die Gestalten im Büro des Gangsters erkannte: »Moment mal… da sind Friday und Peller. Die haben Streit!« »Die Schaltung steht, Edison«, gab Theora durch. Sie verschwendete jetzt keinen Gedanken mehr daran, zu Shawn zu laufen. Hier konnte sie ihrem Bruder am besten helfen. Die drei vor dem Monitor sahen durch Max Headrooms Augen, wie Rik in das Büro stürzte. Da alle mit ihrem Streit beschäftigt waren, achtete keiner auf Carters Freund. »Komm mit, mein Junge.« Er hob den Monitor auf, und Max wurde kräftig durchgeschüttelt. Der Computer-Mann sah reichlich besorgt aus. Wenn Rik ihn nun fallenließ… lieber nicht daran denken!
Der Schwarze ließ den Monitor zwar nicht fallen, rammte ihn aber durch die Scheibe, die das Büro von der Halle trennte. Klirrend splitterte das Glas. Rik setzte den Monitor auf der Fensterbank ab, so daß Max die ganze Halle überblicken konnte. »Tut mir leid, dich zu stören«, sagte der Schwarze. »Aber wir brauchen dich, Max. Du mußte als Reporter einspringen und den Zuschauern alles über Raking erzählen!« »Ach… ach, das mache ich doch gerne!« Max sah sich um. Damit ihm auch die gebührende Aufmerksamkeit zuteil wurde, hatte er seine Stimme auf die Lautsprecheranlage der Halle geschaltet. Die Köpfe der Zuschauer wandten sich erstaunt zu dem Mann auf dem Monitor. Nicht etwa, daß Max eingebildet gewesen wäre – aber er genoß die Bewunderung der Massen hier in der Halle und vor den 300 Millionen Fernsehgeräten im ganzen Land. Und da unten – war das nicht sein ganz besonderer Freund? »E-E-E-Edison!« Carter versuchte noch immer, seine verfluchte Kamera zu reparieren. Er blickte auf – Rik hatte es geschafft! Die verblüfften Zuschauer in der Halle waren sehr ruhig geworden, so daß der Reporter keine Mühe hatte, sich verständlich zu machen: »Fang an, Max… das ist jetzt deine Sendung!« Max überprüfte noch einmal sein Make-up-Programm und setzte sein Sonntagslächeln auf. Perfekt. Seine Fans würden begeistert sein. »Hier meldet sich Ma-Ma-Max Headroom mit einer Direktsendung in Vertretung für Edison Carter…ter, terter. Wir befinden uns in einer Raking-Kampfarena. Raking ist ein Sport, bei dem junge Menschen auf raffinierte Art und Weise ausgebeutet werden. Und gleich sollen Sie auch genau erfahren, wi-wi-wi-wiiieee!«
Carter ließ seine Kamera fallen. Die brauchte er jetzt nicht mehr. In der Halle war es bis auf Max’ Stimme mucksmäuschenstill. Nur Crocker, der noch immer bewußtlos am Boden lag, stöhnte leise. Der Reporter rannte aus der Arena. Die Zuschauer machten ihm freiwillig Platz. Vor der Tür von Copanes Büro prallte Carter beinahe mit Senator Peller zusammen, der den Raum fluchtartig verließ. Rücksichtslos zog er seine Frau, die ihm auf ihren hohen Absätzen kaum folgen konnte, hinter sich her. Als Carter das Büro betrat, drehte Rik den Bildschirm zu ihm um. Über die integrierte Zweiwegschaltung konnte das Bild des Reporters jetzt landesweit übertragen werden. Max sah erfreut, daß sein menschliches Vorbild unverletzt war. »Aber ich will sie nicht länger… mit mei, mit mei, mit meiner Gegenwart belästigen… wir, mit meiner Gegenwart belästigen… wir scha-scha-scha-schalten zurück zu Edison Carter!« Der konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Max legte soviel Wert auf sein gutes Aussehen – doch seinen Sprachfehler schien er regelrecht zu kultivieren. Fand er das schick? Wahrscheinlich. Und sein Erfolg bei den Zuschauern von Sender 23 gab ihm recht. Aber jetzt mußte der Reporter sich konzentrieren. Kein Problem für ihn. Das hier war nicht seine erste Reportage aus dem Stegreif. »Hier ist Edison Carter. Ich spreche live und direkt zu Ihnen. Wie Sie schon von meinem verehrten Kollegen Max Headroom…« – das Gesicht auf dem Bildschirm lächelte geschmeichelt – »… erfahren haben, handelt es sich bei Raking um einen sogenannten Sport, bei dem junge Menschen von gewissenlosen Gangstern auf brutale Art und Weise ausgebeutet werden. Ohne Rücksicht auf Leben, Gesundheit oder moralische Grundsätze.«
Theora spielte die Aufzeichnung der Bilder ein, die Carter vor dem Ausfall seiner Kamera übermittelt hatte. 300 Millionen Zuschauer sahen Shawn, der sich vor Schmerzen am Boden krümmte. Die gräßliche Wunde auf seinem Bauch blutete heftig. »Die Gangster, die sich hochtrabend Promoter nennen, haben nur ein Ziel… sie wollen so schnell wie möglich zu viel Geld kommen. Natürlich ohne viel Arbeit. Dazu veranstalten sie die Raking-Kämpfe. Sie verdienen an den Eintrittsgeldern und an den Wetten. Junge Männer, die mit einem Kampfboard gut umgehen können, werden in eine Arena geschickt, in der sie mit gefährlichen Waffen aufeinander losgehen. In diesen Zweikämpfen versuchen sie, ihren Gegner zu verletzen oder sogar zu töten.« Aus den Augenwinkeln sah Carter, wie Sanitäter in die Halle stürmten und sich um Shawn kümmerten. Theora mußte sie hergeschickt haben. Viele der Zuschauer verließen die Halle. Doch draußen im Land drängten sich immer mehr Menschen vor den Empfängern, um Edison Carters unglaublichen Enthüllungen zu lauschen. »Sieger wird derjenige, der seinen Gegner derart zurichtet, daß der nicht mehr in der Lage ist, die Arena aus eigener Kraft zu verlassen. Dabei hatte alles als unschuldiges Spiel begonnen. Doch gewissenlose Gangster haben es geschafft, aus einem harmlosen Freizeitsport ein blutrünstiges Spektakel zu machen. Es appelliert an die niedrigsten Instinkte der Zuschauer, die verführt werden, hohe Summen darauf zu wetten, welcher der beiden Kämpfer die Arena nicht mehr verlassen wird. Um ein Haar wäre Sender 23 in dieses verabscheuungswürdige Geschäft verwickelt worden. Zum Glück ist es uns in letzter Sekunde gelungen, die wahren Hintergründe dieser ekelhaften Sache aufzudecken.«
Metro-Polizei stürmte herein und legte Copane, Friday, Fedor und Spivy Handschellen an. Nur die beiden Wettbrüder protestierten, als sie abgeführt wurden. Carter sah seinem Kollegen von der Sportredaktion wehmütig nach. Jack Fridays Karriere hatte wohl ein ziemlich abruptes Ende gefunden.
Einige Tage nach Carters dramatischer Reportage war es Cheviot gelungen, den Fall »Raking« aus der Welt zu schaffen. Wie hatte Friday es nur wagen können, ihm eine derartige Sache unterzujubeln? Cheviot hatte zwar gewußt, daß es beim Raking hart zuging, aber von Toten hatte niemand gesprochen. Ped Zing hatte sich zwar anfangs geweigert, den RakingVertrag mit Sender 23 zu annullieren. Aber als Cheviot ihn darauf aufmerksam machte, daß Carter die Verwicklung der ZikZak-Corporation in den Skandal mit keinem Wort erwähnt hatte, man das aber jederzeit nachholen könne, war der Japaner weich geworden wie Butter in der Sonne. Cheviot beschloß, in Zukunft ein wenig mehr auf Edison Carter zu achten. Er hatte dem Reporter seine Rückkehr auf den Sessel des Vorstandsvorsitzenden zu verdanken. Und seine Arbeit hatte dazu geführt, daß Sender 23 in der Beliebtheitsskala um fünf Prozent nach oben geklettert war. Denn vor der Fernsehnation stand man jetzt als der große Saubermann da. Copane und seine Komplizen waren verhaftet worden. Wie Ped Zing Cheviot mit unbewegter Miene verraten hatte, war es der ZikZak-Corporation gelungen, einen bedeutenden Transfer von Barmitteln auf das Schweizer Konto des Gangsters rückgängig zu machen. Also hielt sich auch für ZikZak der Verlust in Grenzen. Senator Peller hatte beste Aussichten, wiedergewählt zu werden. Und heute morgen war die Meldung
hereingekommen, daß die Grenzpolizei einen gewissen Dr. Joshua Willis verhaftet hatte, als er sich bei Nacht und Nebel ins Ausland absetzen wollte. Willis war durch seine unsichere Fahrweise aufgefallen. Die Blutprobe ergab einen Alkoholspiegel von 2,57 Promille.
Carter, Theora, Winnie und ihr Baby hatten Shawn vom Krankenhaus abgeholt. Einige Tage zuvor hatte der Reporter mit ein paar Freunden gesprochen. Wenn Theoras Bruder wieder völlig gesund war, würde ein gutbezahlter, ehrlicher Job auf ihn warten. Und bis dahin half ihm das Geld seiner Schwester über die Runden. »Ein Darlehen, kein Geschenk«, wie Shawn betonte. Er und Carter hatten es sich vor dem Fernseher in der kleinen Wohnung des jungen Ehepaares bequem gemacht. Shawn starrte gebannt auf die Video-Aufzeichnung von Carters Reportage, die er jetzt zum ersten Mal sah. Seine Frau und seine Schwester waren nebenan im Schlafzimmer und spielten mit dem Baby. Vergebens – der Kleine krähte sich fast die Seele aus dem Leib. Carter wirkte schon reichlich gestreßt. Aber Shawn machte große Augen, als er sich selbst auf dem Bildschirm sah, zerschunden und blutend. Das schien vor einer Ewigkeit gewesen zu sein. Es gab keinen Ace mehr. Und Theoras Bruder konnte endlich wieder lachen. »Ich hab mich noch niemals selbst im Fernsehen gesehen. Wahrscheinlich gewöhnt man sich daran, nicht?« »Ja, auf die Dauer sicher.« Shawns Sohn nebenan brüllte wie am Spieß. »Hast du dich eigentlich an das Babygeschrei gewöhnt?« Theora gab den nutzlosen Versuch, ihren Neffen zu beruhigen, endgültig auf.
»He, kleiner Bruder«, rief sie. »Komm her! Jetzt bist du an der Reihe!« Shawn erhob sich seufzend. Die Video-Cassette mußte er sich später zu Ende ansehen. Jetzt waren seine Qualitäten als Vater gefragt! Theora stand auf und machte ihm Platz auf dem Bett. Winnie hielt ihren Sohn liebevoll im Art. Für einen Moment kreuzten sich die Blicke von Bruder und Schwester. Shawn sah nun vieles klarer. Theora war eine tolle Frau. Immer für ihn da. So wie er für sie. Die Controllerin setzte sich neben Carter auf die Couch. »Danke, Edison… ich danke dir.« Wortlos sahen die beiden sich in die Augen. Theora wußte jetzt – es gab doch Männer, auf die eine Frau zählen konnte, wenn sie Probleme hatte. Männer wie Edison. »Theora!« rief Winnie aus dem Schlafzimmer. »Was hältst du davon, dir auch ein Baby anzuschaffen? Das kann einem sehr viel Freude machen!« Carter konnte sein unverschämtes Grinsen kaum verbergen. Winnie plapperte munter weiter: »Was meinst du dazu, Edison?« »Wenn man ein bißchen übt, könnte man es vielleicht schaffen.« Täuschte er sich, oder wurde Theora tatsächlich rot?
In der menschenleeren Nachrichtenzentrale erwachte ein einsamer Monitor zum Leben. »Ja! Ja! Ja! Hier bin ich wieder! Ahamm. vom Sender 23, und ich habe, habe, habe ein Neuigkeiten für Sie! Also, also machen Sie und hören Sie mir zu. Sie wer-wer-werden sein… hah!«
von Sender 23 Max Headroom paar aufregende es sich bequem nicht enttäuscht
Aber Max war enttäuscht – als er sah, daß kein einziger Zuschauer ihm seine Aufmerksamkeit schenkte. Ausgerechnet ihm mußte das passieren… in einem menschenleeren Raum aufzutreten. Er gähnte und seufzte: »Weckt mich, wenn ich wieder dran bin.« Der Bildschirm wurde dunkel. Dafür flammten unzählige Empfänger draußen in den Slums auf. Max hatte beschlossen, seinem Freund Rasta noch einen späten Besuch abzustatten. »Hall-lo… hier meldet sich M-Ma-Ma-M-Max Headroom vom Sender 23. Und wenn Sie der Meinung sind, Raking ist ein verabscheuungswürdiger Sport, dann kann ich Ihnen nur sagen, es gibt einige Leute, die lassen sich be-beide Hände abhacken, nur damit sie ihre Finger in diesem Geschäft haben. Aber wir vom Sender 23 machen da nicht mit. Und als Ersatz für die an dieser Stelle vorgesehene Übertragung, die nun doch nicht stattfindet, hören Sie jetzt Musik… M-M-Musik! Rollen Sie den Teppich zurück, und tanzen Sie zur besten russischen Popmusik, die es im Moment gi-gi-gibt… die neue LP mit zwölf wunderbaren russischen Flamencos!« Max warf den Kopf in den Nacken wie ein feuriger spanischer Tänzer. »Und und u-u-und danach können Sie bei uns Chinesisch lernen. Ja, der Kurs heißt: ›Wie lerne ich Chinesisch im Do-ItYourself-Verfahren‹. Schicken Sie uns ein bißchen Geld, und Sie erhalten den ersten Teil des K-Kurses. Oder sch… oder schicken Sie uns viel Geld, und Sie erhalten den vollständigen Kurs auf einmal. Als Gratisbeigabe erhalten Sie eine Cassette mit dem Titel ›Wie spreche ich Chinesisch?‹ Achichachihnng!« Max wurde ernst, denn jetzt kam einer seiner gefürchteten Witze: »Wußten Sie eigentlich, daß es im Chinesischen manchmal mehr als dreiß-dreißi-dreißig Möglichkeiten gibt, um nur ein Wort zu sagen? Vielleicht gibt’s deswegen so viele
Chinesen… die wissen eben manchmal nicht, wie sie sagen sollen: ›Nein… aha… nein, ich will nicht!‹ Aha-haa!« Wenigstens einer lachte über Max Headrooms Witz: Max…