José Ortega y Gasset
TAGEBUCH EINER SOMMERFAHRT (Notas del vago estio) 1925
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Stern und Unstern · Über Sp...
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José Ortega y Gasset
TAGEBUCH EINER SOMMERFAHRT (Notas del vago estio) 1925
Entnommen aus
Stern und Unstern · Über Spanien S. 183-248
Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 1952
UNTERWEGS Welche Lust, dahinzurollen auf den Landstraßen Kastiliens. Da die Erde so nackt ist, sieht man die Wege sich unverhüllt den Wellen des Bodens anschmiegen. Kopfüber stürzen sie sich beherzt in die Schlucht, um federnden Sprungs die gegenüberliegende Höhe zu gewinnen, und man ahnt, daß sie im Fortwandern fröhlich singen, die unverwüstlich Jungen. Auf dem Rot und Gelb der weiten Landschaft sehen sie manchmal wie der große Namenszug des Malers aus. Im unaufhörlichen Wechsel der Felder zu beiden Seiten sind sie die tugendhafte Beständigkeit. Immer sich selbst gleich schlingen sie sich, getreu den Weisungen der Wegebaudirektion, um die Kilometersteine und verbinden so die Landschaften; sie verknüpfen die einzelnen Stücke jeder Provinz und dann die Provinzen untereinander und wirken den großen Teppich Spaniens. Wenn sie eines Nachts verschwänden, wenn ein Kobold sie entwendete, geriete Spanien in Verwirrung; es würde zur gestaltlosen Masse, und jede Scholle, in sich selbst verschlossen, kehrte ungesellig und barbarisch allen anderen den Rücken. Das Wegenetz ist der Blutkreislauf der Nation, der sie zusammenhält und den Strom eines Geistes in ihrem ganzen Körper zirkulieren läßt. Das haben die Nationalökonomen in ihren Traktaten hundertmal gesagt, und man ist baß erstaunt, wenn man plötzlich findet, daß sie recht haben.
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Tagebuch einer Sommerfahrt Aber auch ein Weg hat seine Leiden, moralische und körperliche. Zum Beispiel wenn unvermutet zwei oder drei andere Wege vor ihm liegen — der Kreuzweg, das Trivium oder Quadrivium. Was dann? Welchen Weg soll der Weg nehmen? Unschlüssigkeit ist eine Qual. Maimonides schrieb ein berühmtes Buch, ein Kompendium aller wesentlichen Weisheit, dem er den Titel gab: Wegleitung der Unschlüssigen. Kein Zweifel, zum Schlimmsten im Leben gehört das Schwanken, wenn man sich zwischen mehreren gleichwertigen Möglichkeiten entscheiden soll. Je heftiger die Vernunft in solchem Falle arbeitet, um so tiefer verstrickt sie sich in Ratlosigkeit, und um so klarer wird ihr, mit Respekt zu sagen, wieviel sie im Grund vom Esel Buridans hat. Ein paarmal im Leben ist es uns so ergangen. Dann braucht es einen herzhaften Entschluß zum Abenteuer und etwas wie Pascals Wette; man muß sich auf den Kreuzweg stellen und Kopf oder Wappen spielen. Unter den physischen Leiden ist eines besonders scharf und schrecklich. Er geht so sacht für sich hin, der brave Weg, und auf einmal — ratsch! — durchfährt ihn der Eisenbahnstrang. Es ist Sache eines Augenblicks, aber sehr schmerzhaft, sehr chirurgisch, eine doppelte Eisenspritze, die ihm durch und durch geht. Der Arme, an dieser Stelle ist er nun für immer krank und muß geschient werden mit den zwei Schranken des Bahnübergangs, und man muß ihm einen Wärter beigeben, der neben ihm wacht. Oft sehen wir im Vorüberfahren das
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Unterwegs blutgetränkte rote Tuch, das der Wärter schwingt zum Zeichen der Gefahr. Und so weiter. Und so weiter. Ein Panne. Wir sind in dem Bergland, das hinter dem Paß gegen Avila abfällt. Die Region goldfarbener Weizenfelder wird brutal unterbrochen von einem wild getürmten Haufen graugrünen Gesteins. Das rauhe Antlitz der kahlen Felsen erscheint so unvermittelt und plötzlich, so ungerechtfertigt und unbegreiflich, das sein Gegensatz zu dem üppigen Gold des Korns die Seele verstimmt. Man weiß nicht, sind diese Felsbrocken von der Erde ausgespien oder vom Himmel herabgefallen wie steinerne Flüche. Während der Chauffeur arbeitet, ein Sukkubus unter dem Bauch des Wagens, und ich mich gegen das Schicksal auflehne und die Sonne grausam herunterglüht, sind die beiden Kinder verlorengegangen, die ich bei mir habe. Wohin sind die beiden Kinder verschwunden in der ungeheuren Einsamkeit der Berglandschaft? Mir fällt das Hai-Kai des toten Kindes ein: Wo geht mein kleiner Jäger Heut auf Libellenjagd? Und die Wildheit der Szenerie jagt mir einen Schauder über den Rücken. Aber da sind die Kinder schon wieder; sie stehen auf dem Gipfel eines der Felsentürme und schwenken mit lustigem Geschrei die Mühlenflügel ihrer kleinen Arme im Wind. Auf und ab klettern sie über die rauhe Felshaut,
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Tagebuch einer Sommerfahrt verstecken sich, tauchen wieder auf, schießen imaginäre Pfeile aufeinander und spielen Indianer unter dem reinen Himmel. Die Welt ist weicher, bildsamer Stoff für die mächtige Phantasie der Kinder. Vielleicht ist unsere Rührung über ihr zartes Alter ein wenig unangebracht, und im Grunde sollten sie uns mit Rührung betrachten, da unser Leben sich schon abwärts neigt. Sie dagegen . . . Neid, Staunen, ja Entsetzen regen sich beim Anblick der Lebenskraft des Kindes, die ganze Landschaften und schwerste Sorgen in ihre gigantischen Kinnbacken nimmt und mit einer Geste göttlicher Anmut aus dem wilden grauen Gestein hier ein zierliches Spielzeug macht. Ein wenig weiter, und wir sind in Martín Muñoz de las Posadas, einem Dorf voll interessanter Dinge. Die Schutzpatronin des Ortes ist die Jungfrau unter einer sonderbaren Anrufung: Unsere liebe Frau der Verachtung, Nuestra Señora del desprecio. Tierra de Campos. Überall reife Saaten, goldenes Getreide, das im Winde wogt wie ein Meer. Die Mäher darin, Schiffbrüchige unter der sengenden Sonne, die weit mit den Armen ausholen, um das blaue Ufer des Horizontes zu gewinnen. BOGENGÄNGE UND REGEN Spanien muß im Lauf seines Lebens eine hochgemute Zeit gehabt haben, jene Zeit, da die großen Plätze mit ihren Arkadengängen gebaut wurden, von denen in
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Bogengänge und Regen manchen Städten ganze gedeckte Straßenzüge ausstrahlen. Das adelige Bild der Vergangenheit ist uns so geläufig, daß wir seinen Prunk kaum gewahren. Mir wenigstens, muß ich gestehen, ist erst heute aufgegangen, was für eine Idee hinter dieser Art des Stadtbaus steht und welchen Schwung ihre Verwirklichung voraussetzt. Ich frage mich, ob die Gegenwart trotz des Reichtums und Komforts, womit sie sich brüstet, eine ähnliche Leistung aufweisen kann. Der Aufwand war enorm für jene Zeit. Die stolzen Schäfte der Säulen gaben allen Häusern das Ansehen von Palästen und zwangen zu einer vorspringenden Konstruktion, die schwierig und kostspielig war. Überdies verzichtete man zugunsten einer öffentlichen Straßenanlage auf einen Teil des Grund und Bodens in einem Stadtgebiet, wo er am teuersten war. Als Idee setzt das eine Sänftigung des Gefühls voraus, derengleichen man heute vergeblich suchte. Es erfordert das Einverständnis und das gemeinsame Opfer aller Besitzer zugunsten einer Abstraktion, zugunsten der Urbs. Man wollte die Straße angenehm machen, den Spaziergang sichern, über den Regen triumphieren. In der Stadt ist der Regen widerwärtig; denn er ist ein unberechtigter Einbruch der urwüchsigen Natur in einen kleinen, aus dem Kosmos ausgesparten Bereich, der ausdrücklich geschaffen wurde, um das Natürliche und Elementare fernzuhalten. An dem Wilden befremdet uns am meisten, daß er ohne Ekel am Busen der Natur leben kann und sich im Schlamme niederwirft, unachtend
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Tagebuch einer Sommerfahrt der Berührung von Kröte und Schlange. Es mußte eine Zeit genialen Ekels kommen, durch den der halbe Kosmos zum Tabu wurde und das Stigma des Widerlichen empfing. Dieser sublime Ekel ging in erster Linie gegen das Feuchte. Bachofens großartige Konzeption scheint sich allgemein zu bestätigen; er setzt eine Urzeit der Kultur an, in welcher diese die Sumpfnatur, worin sie lebt, aufs äußerste betont. Es ist die dumpfeste und dunkelste Epoche: man wohnt in Pfahlbauten über toten Gewässern von monströser Fruchtbarkeit — Pflanzen, Insekten, Reptile, Menschen. Es ist die Zeit des Matriarchats; das Weib herrscht, feucht und fruchtbar. Die Götter sind trüb, und das ganze menschliche Dasein atmet die dicke, schwüle Luft der Moräste. Die Stadt ist der Versuch einer Sezession, den der Mensch macht, um außerhalb der Natur und ihr gegenüber zu leben, indem er sie nur in ausgewählten und gereinigten Stücken benutzt. Aber . . . es regnet, und das Wasser hat eine Zaubergewalt, alles zu mischen. Die feuchte Haut spürt deutlich die Berührung der Dinge — darum benetzen die Mandarinen genießerisch ihre Finger, wenn sie die Jadekugeln betasten. Beim Heraustreten aus dem Haus schwemmt der widerwärtige Guß uns von neuem in die Natur hinein, und ein vages Erschauern, vielleicht ein Überrest tausendjähriger Erfahrungen, erinnert uns an das Leben im Morast und die schielende, schmutzige Stunde unserer Freundschaft mit Kröte und Schlange.
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MADONNA MIT DEM WEIZENSIEB Auf dem Lande jedoch rauscht der Regen manchmal mit heiterstem Behagen herunter. In meinem Gedächtnis klingt noch die Erinnerung an ein Gewitter in Kastilien wie Musik, wie eine Sonate von Beethoven. Es ist schon lange her, und das Erlebnis ist mir zum Bild geworden. Ich folgte auf Eselsrücken den Spuren des Cid, wie unser Meister Menéndez Pidal sie am Leitfaden des Poema de Myo Cid festgestellt hat. Von Medinaceli, wo der Dichter des ehrwürdigen Heldenliedes wahrscheinlich gelebt hat, wandte ich mich nach Barahona de las Brujas. Die Gegend gehört zu den höchsten in Spanien und zu den ärmsten. Es gibt kaum Wege. Der Gebrauch des Rades ist unbekannt. Alle Beförderung geschieht auf dem Rücken von Lasttieren, und so herrscht hier der Maulesel, der Sohn von Eselin und Hengst, der wirklich ein verfeinerter Esel ist, recht zierlich und hübsch von Huf und Nüstern. Ich kann die „mulos romos“, die so bodenständig und altertümlich sind, nicht anschauen, ohne zu denken, daß sie beinah der Sehnsucht des großen Juan Ramón Jiménez genugtun würden1. Als er die illustrierte Ausgabe von „Platero y Yo“ vorbereitete — eines bezaubernden
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Juan Ramón Jimenez (geb. 1781 in Moguér) ist ein großer spanischer Lyriker. Platero y Yo, das den Untertitel Elegía Andaluza trägt, ist die Geschichte eines Dichters und seines Esels. (Anm. d. Übers.) 191
Tagebuch einer Sommerfahrt Buches, zugleich einfach und erlesen, demütig und sternenweit, das in allen spanischen Schulen als Prämie verteilt werden sollte —, gelang es dem Illustrator nicht, einen Esel zu zeichnen, wie ihn der Dichter träumte, und der Dichter beklagte sich bitter und bat immer wieder, er solle ihm einen feinen, sanften, anmutigen Esel malen. „Ich will einen Esel aus Kristall“, flehte Juan Ramón den verzweifelten Buchkünstler an. Nun, die mulitos romos sind beinah Kristallesel. Es ist rührend, sie über die steinigen Hänge der Sierra Ministra, Miedes, Barcones traben zu sehen, wohin nur Schafe und Disteln noch vordringen, die letzten Bewohner des Unbewohnbaren. Es war Augustwetter, schwül und unruhig, und in jenem kalten Land war man noch bei der Ernte. Um die Ortschaften lag der goldene Gürtel der Felder, auf denen die Getreidehocken wie gelbe Edelsteine glänzten. Um Mittag kam ich nach Romanillos, einem Dörfchen, das verschollen im Äthermeer lag. Ich trat ins Wirtshaus ein, mich vor dem Übermaß von Sonne zu bergen. Nach der blendenden Helligkeit draußen war der Flur wie ein frischer Nebel. Dagegen wurde nun von seinem Dunkel her die Toröffnung zu einer Filmleinwand, lichtgesättigt und ein wenig unwirklich. Die Schnitter gingen dort vorüber in kurzer Hose mit dem Halstuch der Leute aus Soria — schmächtige, holzige Leiber, schwarze Köpfe, elfenbeinerne Zähne. Hinter ihnen trabten die Maulesel mit klingenden Glöckchen und trugen Säcke voll goldgelber, frisch geworfelter Gerste. Das ganze Dorf, Män-
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Madonna mit dem Weizensieb ner und Frauen, war auf dem Felde und arbeitete fieberhaft; denn in dieser Jahreszeit droht immer Regen, und die Ernte kann verfaulen, wenn sie nicht rasch genug eingebracht wird. Über den Horizont schiebt eine runde Wolke ihre schwarze Schulter herauf, bös lauernd wie eine Hexe; und eine sonderbare Spannung kommt in die Landschaft. Auf einmal fegt ein Windstoß über die Schwelle und entzündet den dämmerigen Flur mit zahllosen goldenen Funken, winzigen Strohstäubchen, die flimmernd auf und ab tanzen. Kurze Pause — und wieder ein Windstoß — und noch einer. Ein paar Tropfen fallen und zerplatzen im Wegstaub. Die Vorübergehenden beschleunigen ihre Schritte. Die Tropfen werden rascher, und ein mächtiger Donner rollt. Die Wolke bedeckt den Horizont. Sie kommt en carrière, in einem triumphierenden Galopp, als reise ein barbarischer Gott in ihr. Es regnet. Die Leute laufen. Der Guß rauscht immer wilder. Abermals der Donner, als ginge die Welt in Stücke. Ein Blitz peitscht auf die Windrosse der Wolke ein. Wirbelnder Staub verhüllt alles; auf einmal drängt sich ein Schwarm Männer und Frauen in den Flur hinein, die Schutz vor dem Unwetter suchen. Lachen, Geschrei und die urwüchsige Ausgelassenheit des Landvolks. Auf der Schwelle, als Silhouette gegen das Licht, bleibt ein Mädchen stehen. Der rote Rock preßt sich ihr um die Hüften, das weiße Hemd bläht sich wie ein Segel unter dem schwellenden Doppelwind der Brüste. Ihr Haar ist so blond wie die Gerste, die Augen blau wie Quellen. Sie steht auf
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Tagebuch einer Sommerfahrt einem Bein, der andere Schenkel ist hochgestellt und dient einem Getreidesieb als Stütze, das sie im Arm hält. Aus dem Geschrei dringt die kreischende Stimme einer Alten hervor; sie hat ein schwarzes, rissiges Gesicht und Augen wie die Sibylle; von dem elementaren Geschehen erregt, elektrisiert von den Blitzen und der Menschenansammlung sprudelt sie Unanständigkeiten, und ihre geweiteten Pupillen sehen in der Luft die Priape, die seit Urzeiten den Ernten vorsitzen. Das Mädchen auf der Schwelle hört es und lächelt, und es ist, als löse in ihrer unantastbaren Jungfräulichkeit die unflätige Anspielung sich auf und vergehe. Sie ist so hübsch und unberührt, ich will sie verehren als Madonna mit dem Weizensieb. Das Gewitter zieht ab, die Böen lassen nach. Feuchte Frische verbreitet sich, die nach Stroh und Wolken riecht. Einzelne treten ins Freie hinaus. Man hört die Glöckchen der Esel wieder, und ein neuer Sonnenstrahl verfängt sich im Haar meiner reinen Magd. Dem symphonischen crescendo des himmlischen Aufruhrs folgt ein sanftes diminuendo. Die Landschaft kehrt zu ihrem Gleichmaß zurück, und ich reite weiter. Bei sinkendem Abend sehe ich von einem Eichengehölz aus Barahona de las Brujas vor mir. Aus der Ebene, einer der höchsten in Spanien, erhebt sich eine kegelförmige Anhöhe. Auf ihrem Gipfel späht die Kirche ins Land hinaus, und unter ihr, den Umriß des Hügels zerknitternd, drängt sich das Häusergewirr. Ich reite hinein und — wunderliche Überraschung, die Einwohner
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Gebärden der Burgen sind offenbar von Sinnen. In einem dichten Haufen stürzen sie bald hierhin, bald dorthin und schauen in die Luft. Ist der Ort verzaubert? Sehen sie Geister? Welche elementare Macht hat die Menschen ergriffen? Wie gebannt starren sie auf eine Erscheinung am Himmel, eine Feuerzunge wie jene bei der Ausgießung des Heiligen Geistes zu Pfingsten. Aus einem Bienenstand ist ein Schwarm ausgebrochen, und groß und klein verfolgt ihn, um ihn einzufangen. Endlich hängt er sich in der höchsten Höhe des Dorfes an einem Turmvorsprung, und der letzte Strahl verwandelt ihn in eine brodelnde goldene Traube.
GEBÄRDEN DER BURGEN Auf der Reise, die eine Jagd nach Eindrücken ist, sind Burgen und Kathedralen die großen Beutestücke, die wir erlegen. Dabei wandern wir an Bildern von viel feinerem Formen- und Farbenspiel vorüber; aber die Erscheinung der Kathedrale oder der Burg, ungeheuer und phantastisch über der stillen Linie des Horizontes, gibt uns einen Ruck, daß wir das Auge schärfen und uns bereit machen für die große Ergriffenheit. Offenbar sind wir alle nicht frei von einem melodramatischen Erdenrest, der in Gärung gerät, wenn diese steinernen Ungeheuer gestikulierend in unser Gesichtsfeld treten. Links in der Ferne segelt die Kathedrale von Segovia wie ein verzauberter Ozeanfahrer stolz durch ein Meer
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Tagebuch einer Sommerfahrt gelber Weizenfelder und erdrückt mit ihrer Beleibtheit alle anderen Gebäude. Um diese Stunde ist sie olivenfarben und scheint dank einer optischen Täuschung mit ihrer Apsis die Saaten zu durchschneiden, während zwischen ihren Strebebögen Stücke Himmelsblau durchschimmern wie zwischen den Rahen und Tauen eines Schiffes. Dann kommen die Burgen: Fuentes de Valdepero, Monzón, Aguilar de Campóo . . . Allerdings ist die Route, die ich diesmal gewählt habe, wenig ergiebig an Burgen. Aber das macht nichts; wenn eine auftaucht, wirkt sie wie eine Beschwörung, und das Gedächtnis bevölkert sich mit Türmen und zinnengekrönten Mauern. Wie eine Herde auf den Pfiff des Hirten kommen sie hergetrabt aus dem dunklen Schoß der Erinnerung, eine nach der anderen, alle die Festen, die an den Straßen früherer Wanderfahrten lagen. Jede bringt, an ihre Hänge geschmiegt, die ihr zugeordnete Landschaft mit herauf, und jede hat ihre eigentümliche Geste, aber alle sind maßlos, gespenstisch und wie Traumwandler. Dies ist die Burg Atienza. Sie blüht zuhöchst aus einer zweiten natürlichen Burg hervor, welche die Felsen mit ihrem leidenschaftlichen Hinausfahren über die ärmliche Erde bilden. Atienza, una peña muy fort — Atienza, ein Fels, stark wie keiner — singt der Dichter des Myo Cid, und dann weiter mit unbestimmter Trauer: Atienza las torres que moros los han — Atienza, die Feste gehört jetzt den Mauren. Das hohe steinerne Fundament hat die Form einer Barke, auf deren Bug sich die Ruine eines
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Gebärden der Burgen Turmes erhebt. Man sieht es von weither ungewiß zwischen Himmel und Erde schiffen. — Das ist die Burg Berlanga, silberfarben aufgereckt auf einer mächtigen Kalksteinklippe, die von weitem ebenfalls silbern glänzt, so daß das Ganze wie eine getriebene Arbeit auf metallener Platte erscheint. Zu ihren Füßen liegen die Mauern eines Renaissancepalastes, der, wenn ich nicht irre, dem Kondestable von Kastilien gehörte, und noch tiefer unten ein Nonnenkloster mit weitläufigem Garten. Wie manches Mal habe ich vom Bergfried am frühen Nachmittag den Nonnen zugeschaut, wenn sie klein und fern in der Abgeschiedenheit ihres Obsthains Fangen spielten. Sie jagten einander wie toll und entatmeten ihre zurückgedrängte Lebensfreude, diese Gefangenen eines milden Frauenhauses, die immer bereit sind zur himmlischen Hochzeit. — Das ist die Burg Mombeltrán. In einer Schlucht unterhalb Gredos, ganz Zierlichkeit, mit vielen Rundungen; sie hütet das Tal, worin die fünf Ortschaften von Mombeltran weiden. — Und Leire, schon nahe den Pyrenäen, die Wiege des Königreichs Navarra, rauh und urwüchsig, mit plumpen zwerghaften Gewölben aus dem Anfang der Romanik, die so eng sind, daß wir im stillen überschlagen, ob nicht ein Gotenhelm genau in sie hineingepaßt haben mag. Im Hintergrund Buchen- und Nadelwälder, eine nordalpine Flora; Spanien grenzt hier an das feuchte Europa. — Und Jadraque. Wieder im dürren Spanien, bleifarbene oder rote Erde. Ein unvermittelter Kegel mit fast senkrechten Wänden, und balancierend auf seiner Spitze das hochfahrende Gemäuer mit
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Tagebuch einer Sommerfahrt seiner Herausforderung an die Umwelt. — Ungeheure Gesten, ein gewaltiges Gebärdenspiel, abgesunken in das Jenseits der Erinnerung. Wie sie dastehen, die Burgen, auf hohen Warten, fast immer zerbröckelnd, geben sie der Landschaft mit dem Gebirge im Hintergrund das Aussehen verkalkter Kiefer, auf denen ein letzter Stockzahn übriggeblieben ist. Jetzt verstehen wir ein wenig besser die sichere melodramatische Wirkung der Burgen auf ein nicht gar zu verfeinertes Gemüt. In der Fauna der Eindrücke, auf die der Reisende Jagd macht, sind Burgen und Kathedralen eine Zwischengattung zwischen der reinen Natur und dem reinen Menschenwerk. Die Landschaft allein, ohne irgendwelche Gebäude, ist pure Geologie. Die Häuserkomplexe der Städte oder Dörfer sind allzu menschlich, zu gesittet und künstlich. Kathedralen und Burgen dagegen sind Natur und Geschichte in einem. Sie scheinen natürliche Geschöpfe des steinernen Erdgrunds, und ihre geplante Gestalt hat zugleich menschliche Bedeutung. Ihre Anwesenheit steigert die Landschaft und verwandelt sie zur Szenerie. Der Stein hört nicht auf, Stein zu sein, aber er ist geladen mit geistiger Spannung. Dieser Synthese wird immer die heimliche Vorliebe aller jener Seelen gehören, die nicht in einem engen Rationalismus erstarrt sind. Im Grunde empfindet der Mensch für seine Vernunft, wenn er sie von innen betrachtet in ihrem täglichen, bürgerlichen Gebrauch, nicht viel Achtung. Dagegen erschüttert es ihn, dieselbe Vernunft von außen zu sehen als eine kosmische Erscheinung, eine Natur-
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Ideen der Burgen kraft. Dann begreift er, daß die Vernunft, das heißt das Vermögen der Selbstbesinnung, letzten Endes eine ebenso ursprüngliche Gewalt ist wie der Instinkt oder die Gravitation. Es gibt Epochen, in welchen die Menschen, selbst die besten, die Erinnerung hieran verloren haben und nur das Innermenschliche erleben, blind und taub für den übrigen Kosmos. Dies sind die Zeitalter der Agora, des Marktplatzes, der Akademien und Parlamente, in welchen der Mensch von der unbestimmten Vorstellung ausgeht, daß die Gesetze seines Kirchsprengels die Welt beherrschen und sein kleiner Verstand alles entscheidet, ohne irgendwo Nebel und Geheimnisse übrigzulassen. Zweifellos sind es Epochen der Klarheit, aber sie sind ärmlich und saftlos. Es sind die sogenannten klassischen Zeitalter, in welchen der Geist ein beschränktes, provinzielles Dasein führt und sich selbst allzu ernst nimmt.
IDEEN DER BURGEN Ist die Schwärmerei und romantische Ergriffenheit, ein unvermeidlicher Bodensatz bei Leuten mit einer langen Geschichte im Rücken, glücklich abgeschüttelt, so beginnen die Burgen, uns Ideen zu offenbaren. Dieselben überspannten Formen, durch die sie uns erschütterten, laden uns jetzt zum Nachdenken ein. Ihr ein wenig grausiger und banal pittoresker Reiz rührt letzten Endes von ihrer außerordentlichen Fremdartigkeit her; es geht uns
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Tagebuch einer Sommerfahrt mit ihnen wie mit der Giraffe oder dem Okapi. Schließlich sind sie ja Häuser, die einmal Menschen gebaut haben, um darin zu leben. Aber das ist es: wie muß ein Leben beschaffen sein, damit das Haus, worin es Wohnung nimmt, eine Burg wird? Offenbar so verschieden von unserem eigenen wie nur denkbar. Darum wirft uns die Erscheinung dieser steinernen Ungeheuer mit dem Bizeps ihrer Türme und der struppigen Mähne der Zinnen, Wasserspeier und Kragsteine unvermittelt an den Gegenpol menschlicher Lebensformen. Ein griechischer oder römischer Portikus, ein Zirkus, ein Odeon erscheinen unserem eigenen Leben verwandter als diese Herrensitze auf ihren Hochwarten, errichtet zu Angriff und Verteidigung, finster und kampfbereit, die ihre uralten Fangzähne unablässig in das Himmelsblau schlagen. In der Tat, verglichen mit der Burg steht das Altertum der Neuzeit verhältnismäßig nahe; die Burg erscheint als Verkörperung des Nichtmodernen in seiner vollkommensten Ausbildung, und es zeigt sich, daß die Antike moderner ist als diese prachtvolle, unvermischte Barbarei. Es ist daher nicht erstaunlich, daß sich die Neuzeit vom klassischen Altertum genährt hat und die modernen Wissenschaften und modernen Revolutionen beim Schall griechisch-lateinischer Namen gemacht worden sind. Unser öffentliches Leben, das geistige und das politische, hat mehr von agora und forum als vom Rittersaal. Und warum? Aus einem sehr einfachen und sehr tiefen Grund: wegen einer radikalen Verschiedenheit. Das
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Ideen der Burgen Mittelalter war personalistisch, das Altertum war kollektivistisch; und die Neuzeit ist an ihrer Oberfläche, dem öffentlichen Leben, ebenfalls kollektivistisch. Der heutige Mensch ist nichts — er hat weder Rechte noch Eigenschaften —, wenn er nicht Bürger eines Staates ist. Aber der Staat ist ein Kollektivum, das früher da ist als jeder einzelne; „die anderen“ gehen dem einzelnen voraus als eine Bedingung seines rechtlichen, moralischen und gesellschaftlichen Daseins. Der ursprüngliche Nährboden seines Wesens ist also ein Gewebe von Kollektivitäten. Ebenso war es in der antiken Welt; das Individuum war zunächst Bürger einer Stadt, und nur als solcher besaß es menschliches Dasein. Für den mittelalterlichen Feudalherrn dagegen gab es nicht eigentlich einen Staat. Er besaß Rechte von Geburt an, oder er erwarb sie mit seiner Faust. Diese Rechte kamen ihm zu, weil er war, wer er war, vor jeder Anerkennung von seiten irgendeiner Autorität. Das Recht haftete an der Person; es war Privi-legium. Das öffentliche Leben war genau genommen Privatleben, und der Staat entstand nachträglich als eine Verflechtung persönlicher Beziehungen. Diese Art des Rechtsgefühls zog eine wesentliche Instabilität des Rechtes nach sich. Wenn heute jemand ein Recht besitzt, fühlt er sich sicher. Damals war ein Recht das Unsichere par excellence, das, was niemand verlieh und bestätigte, dessen Besitz und Bewahrung immer neu gewonnen werden mußte. Das Feudalrecht birgt den Krieg in seinem eigensten Wesen im Gegensatz zu dem antiken und moder-
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Tagebuch einer Sommerfahrt nen Recht, die zum Synonym des Friedens geworden sind. Doch wäre es ein Mißverständnis, zu glauben, daß der mittelalterliche Ritter Gewalt für Recht hielt. Es handelt sich um etwas Subtileres. Jene Menschen besaßen ein höchst verfeinertes Gefühl für juristische Fragen. Der vollkommene Ritter, wie er dem Ideal des Zeitalters entsprach, mußte kitzlig sein in allem, was die Rechte anging. Die Unzulänglichkeit, mit der man in Spanien mittelalterliche Probleme behandelt hat, ehe Menéndez Pidal und die jungen Rechtshistoriker auftraten, ist schuld daran, daß an der Gestalt des Cid, des Musterbildes eines Ritters, seine Eigenschaft als Rechtskundiger nicht mehr betont worden ist, wiewohl schon der Beiname Campeador diesen Sinn hat; er bedeutet nicht Streiter, sondern Rechtskundiger. Darum sieht man den Cid beständig in Rechtshändel verwickelt, beginnend bei dem Eid in Santa Gadea, der eine Dissertation über ein verfassungsrechtliches Thema ist. Gewalt ist nicht Recht in den Augen jener Menschen; aber sie ist die Justiz. Es dauerte lange, bis der Germane die Einmischung eines Gerichtes hinnahm, das entschied und bestrafte. Der öffentliche Richter macht den Rechtsstreit zu einer unpersönlichen Angelegenheit. In Übereinstimmung mit ihrer personalistischen Einstellung hielten die Völker des Nordens dafür, daß, wer ein Recht besitzen will, es selbst verteidigen muß; das Innehaben eines Rechtes und die Fähigkeit, es geltend zu machen, sind für sie in gewisser Weise ein und dieselbe Sache.
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Ideen der Burgen Und sie denken so von frühesten Zeiten an. Nichts brachte die Germanen so heftig gegen ihre Eroberer auf — sagt Seek in seiner Geschichte des Untergangs der alten Welt — wie der Umstand, daß auf ihrem Grund und Boden nach römischer Weise Recht gesprochen wurde. Darum suchten sie aus den Gefangenen der Schlacht am Teutoburger Wald die Richter heraus, um sie nach den raffiniertesten Martern hinzurichten. Es war nicht der Inhalt des Rechts, der diesen Ausbruch hervorrief — das römische jus gentium war geschmeidig genug, um sich den Sitten der verschiedensten unterworfenen Völker anzupassen —; was den „freien“ Germanen unerträglich schien, war die öffentliche Gerichtsbarkeit als solche und der Zwang, sich einer Autorität zu unterwerfen, welche in die Privatangelegenheiten des Individuums eingriff. In der Tat, wenn wir hinter den Erscheinungen, die immer verworren und widerspruchsvoll sind, nach dem Geist suchen, der die wesentlichen Züge des germanischen Rechts bestimmt hat, stoßen wir auf den Widerstand, das Persönliche im öffentlichen aufgehen zu lassen. Cicero versteht unter libertas die Herrschaft der geltenden Gesetze; frei sein heißt auf dem Boden der Gesetze leben. Für den Germanen ist das Gesetz immer das Zweite; es entsteht, nachdem die persönliche Freiheit anerkannt ist und nun autonom das Gesetz schafft. Aber ist dies nicht auch der Grundsatz des modernen Liberalismus? Werden die modernen Demokratien unter ihrer scheinbaren Übereinstimmung mit denen der alten Welt nicht von einer ganz anderen Idee geleitet, die völ-
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Tagebuch einer Sommerfahrt lig außerhalb des griechischen oder römischen Gesichtskreises lag — von der Idee der Freiheit, die dem Gesetz und dem Staat voraufgeht? Demokratie und Liberalismus! Die beiden Begriffe sind so durcheinandergeraten in den Köpfen der heutigen Menschen, daß es paradox klingt, wenn man behauptet, der Liberalismus sei die Frucht, welche die Burgen auf ihren Horsten getragen haben. Und doch ist es die reine Wahrheit; wir werden gleich sehen warum.
Liberalismus und Demokratie Es ist ein fruchtbares Experiment, das wir hier anstellen, indem wir die chemische Verbindung unserer Seele mit dem Reagens der Burgen in Berührung bringen. Ohne es zu beabsichtigen, erhalten wir einen Niederschlag, an dem das Gesetz des europäischen Geistes erkennbar wird. Im ersten Augenblick erschienen die Burgen uns als Symptome eines Lebens, das uns im tiefsten fremd ist. Wir schreckten vor ihnen zurück und suchten Zuflucht bei den antiken Demokratien, die wir unseren Formen des öffentlichen Lebens — des Rechtes und des Staates — verwandter fanden. Aber als wir versuchten, uns als Bürger Athens oder Roms zu fühlen, entdeckten wir einen dezidierten Widerstand in uns. Der antike Staat bemächtigt sich des ganzen Menschen und läßt ihm auch nicht den kleinsten Rest zu seinem Privatgebrauch übrig. In
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Liberalismus und Demokratie irgendwelchen unterirdischen Wurzeln unserer Persönlichkeit widerstrebt uns dieses vollständige Aufgehen im Kollektivkörper der Polis oder Civitas. Offenbar sind wir nicht so rein und ganz Bürger, wie wir im Eifer der Rede auf Versammlungen und in Leitartikeln beteuern. So wenden wir uns zurück zu den Burgen und finden, daß hinter ihren theatralischen Gesten ein Schatz von Ideen bereit liegt, die mit den tiefsten Bedürfnissen unserer eigenen Seele zusammenstimmen. Ihre Zinnen und Türme sind errichtet, um die Person gegen den Staat zu verteidigen. Meine Herren, es lebe die Freiheit! Aber da wir noch eben gerufen haben, es lebe die Demokratie, geraten wir ein wenig in Verwirrung zwischen unseren beiden Hochrufen. Aus dieser Verwirrung bestand, genau besehen, die europäische Geschichte der beiden letzten Jahrhunderte. Liberalismus und Demokratie sind in unseren Köpfen durcheinandergeraten, und nicht selten wollen wir das eine und schreien nach dem anderen. Darum ist es gut, die beiden Begriffe von Zeit zu Zeit zu klären und jedem seinen genauen Sinn zu geben. Denn Liberalismus und Demokratie haben nichts miteinander zu tun und wirken sich ihrer Tendenz nach in entgegengesetzten Richtungen aus. Sie sind zwei Antworten auf zwei grundverschiedene Fragen des politischen Rechts. Die Demokratie antwortet auf die Frage: „Wer soll die öffentliche Gewalt ausüben?“, und ihre Antwort lau-
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Tagebuch einer Sommerfahrt tet: „Die Gesamtheit der Bürger.“ Aber sie sagt nichts darüber, wie weit die öffentliche Gewalt reichen soll. Der Liberalismus antwortet auf die Frage: „Ganz abgesehen davon, wer die öffentliche Gewalt ausübt, wie ist sie zu begrenzen?“, und er entscheidet dahin, daß die öffentliche Gewalt, liege sie nun in den Händen eines Autokraten oder des Volkes selbst, auf keinen Fall absolut sein kann; die Personen besitzen Rechte vor jeder Dazwischenkunft des Staates. Die Tendenz muß dahin gehen, die Einmischung der öffentlichen Gewalt in bestimmten Grenzen zu halten. Ich denke, daß hierdurch die Verschiedenheit der beiden Prinzipe hinreichend deutlich geworden ist. Man kann sehr liberal und durchaus undemokratisch oder im Gegenteil sehr demokratisch und nichts weniger als liberal sein. Die antiken Demokratien waren absolute Herrschaften, viel absoluter als die irgendeines europäischen Monarchen im Zeitalter des sogenannten Absolutismus. Den Griechen und Römern war die Idee des Liberalismus unbekannt. Mehr noch: der Gedanke, daß durch das Individuum der Staatsgewalt Grenzen gesetzt werden und darum ein Teil der Person stets außerhalb der öffentlichen Rechtsprechung steht, ist unvereinbar mit dem Geist des Altertums. Es ist eine germanische Idee, und diese Idee war die treibende Kraft, welche die Steine der Burgen aufeinandergetürmt hat. In den Ländern, wohin die Germanen nicht gekommen sind, hat der Liberalismus keine Wurzeln geschlagen. So ist in Rußland nach
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Liberalismus und Demokratie der Vernichtung der absoluten Despotie des Zaren eine nicht weniger absolute Demokratie entstanden. Die öffentliche Gewalt ist nie und nirgends geneigt, irgendwelche Grenzen anzuerkennen, mag sie nun von einem einzelnen oder von allen ausgeübt werden. Es ist ein naiver Irrtum, zu glauben, man könne mittels der Demokratie dem Absolutismus entgehen. Ganz im Gegenteil. Es gibt keine grimmigere Autokratie als die ungreifbare und verantwortungslose des demos. Daher kommt es, daß der wahrhaft Liberale seine eigenen demokratischen Neigungen mit Mißtrauen und Vorsicht betrachtet und sie sozusagen auf seine Person beschränkt. Im Gegensatz zu der öffentlichen Gewalt, dem Recht des Staates, betont der Liberalismus das private Recht, das Privi-legium. Die Person bleibt zu einem größeren oder geringeren Teil den Eingriffen der Souveränität entzogen. Nun wohl, dies Prinzip des Privilegiums, das an der Person haftet, ist in der Geschichte unbekannt, bis eine Handvoll gotischer, fränkischer und burgundischer Adeliger es für sich in Anspruch nehmen. Daß uns heute der Inhalt dieser oder jener Privilegien unannehmbar vorkommt, ist eine andere Sache. Das Wichtige und Entscheidende ist, daß damit das Prinzip der Freiheit auf unserem Stern erschienen war, der Freiheit oder, mit dem genaueren technischen Ausdruck, der Immunität. Der spätere Fortschritt bestand in Erörterungen, hinsichtlich welcher Handlungen und Lebensinhalte die Person frei sein solle und welchen Individuen das Recht
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Tagebuch einer Sommerfahrt auf diese Freiheit zukomme. Hierin wie in vielen anderen Dingen haben die europäischen Bürgerherrschaften sich darauf beschränkt, die Lebensformen nachzuahmen, die von den alten Feudalaristokratien erfunden waren. Die sogenannten „Menschenrechte“ sind Privilegien und nichts weiter. In ihnen findet das Rechtsgefühl des Mittelalters, von dem unsere Kurzsichtigkeit uns weismachen möchte, daß es unserem eigenen entgegengesetzt sei, seinen abstraktesten und allgemeinsten Ausdruck. Die Herren jener ungeheuerlichen Häuser, die wir Burgen nennen, haben die galloromanischen, keltiberischen, toskanischen Massen zum Liberalismus erzogen. Es ist aufschlußreich, daß in Frankreich diejenigen, welche von der geistlichen und antiliberalen Seite her Geschichte machen möchten, sich immer auf das galloromanische Element berufen, das den absolutistischen Einschlag in der französischen Nation darstellt. Der liberale Geist andererseits, dessen Blick durch unsere augenblicklichen Vorurteile gegen das Mittelalter getrübt ist, wagt es nicht recht, den fränkischen Bestandteil zu bejahen, obwohl er sich heimlich zu ihm hingezogen fühlt. Und doch kommt die freiheitliche Tradition Frankreichs nirgends klarer heraus als in den Schriften der Adeligen, die ihre alten Privilegien gegen die Übergriffe des Königtums verteidigen. So bei Boulainvilliers oder bei Montlosier. (Ich empfehle als beste Orientierung die Lektüre der Lettres sur l’histoire de France, die Thierry seinen Narraciones Merovingias vorangesellt hat. Dem Verfasser liegt die Frage, die wir hier behandeln, voll-
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Liberalismus und Demokratie ständig fern; aber gerade darum tritt der liberale Sinn des Feudalwesens noch ungezwungener hervor, wobei unter Feudalwesen die ganze Entwicklung verstanden sein soll, die sich vom Einfalt der Franken bis zum Ende des 14. Jahrhunderts erstreckt.) Ich habe den Eindruck, daß wir unsere Ideen vom Mittelalter bald gründlich revidieren werden. Bis jetzt ist es noch nicht gelungen, die Tatsachen einfach und genau, wie sie sind, zu nehmen. So haben die deutschen Historiker aus Scham über die mangelhafte demokratische Gesinnung ihrer germanischen Vorväter den Tatsachen Gewalt angetan, um zu zeigen, daß im Mittelalter das öffentliche Recht bekannt war. Natürlich war es bekannt. Es ist ein zu wesentlicher Bestandteil des menschlichen Zusammenlebens, als daß man es unbeachtet lassen könnte. Die Frage ist, was vorherrscht, das private oder das öffentliche Recht. Die Germanen waren mehr liberal als demokratisch, die romanischen Völker mehr demokratisch als liberal. Die englische Revolution ist ein klares Beispiel für den liberalen, die französische für den demokratischen Geist. Cromwell will die Macht des Königs und des Parlaments beschränken, Robespierre will den Klubs zur Macht verhelfen. So erklärt es sich, daß die droits de l’homme in die konstituierende Versammlung durch die Vermittlung der Vereinigten Staaten von England her eindringen. Den Franzosen liegt mehr an der egalité.
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Der kriegerische Geist Schließlich und endlich, sagte ich, sind die Burgen Häuser, welche ein bestimmte Sorte Menschen sich gebaut haben, um darin ihr Leben zu führen. Und wir fragten: Wie muß ein Leben beschaffen sein, damit das Haus eine Burg wird? Die Art und die Gebräuche unserer Häuslichkeit sind das beredteste Zeugnis unseres täglichen Lebens. Die Burg setzt täglichen Krieg voraus, ein Leben als Kampf. Uns heutigen Menschen macht es große Mühe, uns die Struktur eines Lebens vorzustellen, für welches Kriegführen das tägliche Geschäft war. Bei uns ist es umgekehrt. Wir empfinden den Krieg als eine Katastrophe, die den Gang des Lebens unterbricht. Er erscheint uns so sehr als Negation alles dessen, was wir unter leben verstehen, daß wir am Krieg kaum etwas anderes sehen als den Tod. Seit Spencer pflegt man dem kriegerischen Geist den Geist des Gewerbefleißes gegenüberzustellen, und niemand zögert, diesem über jenen den Vorrang zu geben. Der Mensch des vorigen Jahrhunderts war stolz darauf, für industriell und ganz und gar unkriegerisch zu gelten. Der Krieg erschien ihm als eine Barbarei — was die reinste Wahrheit ist. Und die Barbarei erschien ihm als das absolute Böse — was nicht ganz so einleuchtend ist. Das Wort Barbarei, so wie wir es meist benützen, hat seine eigentliche Bedeutung verloren und wird nur noch im herabsehenden Sinn gebraucht; dasselbe Schicksal hat
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Der kriegerische Geist das Wort Wildheit gehabt. Man vergißt, daß sie zwei typische Geisteszustände bezeichnen, die ebenso unvermeidliche Stufen im Leben der Menschheit sind wie Kindheit und Jugend im Leben des Individuums. Niemand wird darauf verfallen, nur den Zustand der Reife als normal und ehrenwert gelten zu lassen und in Kindheit und Jugend zwei Krankheiten zu sehen; aber genau so schief ist es, wenn man auf Barbarei und Wildheit mit Verachtung herabblickt. Klüger wäre es, recht eingehend über die Binsenwahrheit nachzudenken, daß die Zivilisation die Tochter der Barbarei und die Enkelin der Wildheit ist. Nur Epochen ohne historischen Sinn, ohne die Fähigkeit, hinter jeder Wirklichkeit den Prozeß ihrer Entstehung und Entwicklung zu sehen, werden sich auf die zivilisierten Formen des Lebens beschränken und an der Barbarei lauter negative Werte entdecken. Ganz gewiß wäre es beklagenswert, wenn der kultivierte Mensch seine Kultur aufgäbe und wieder zum Barbaren würde. Aber es hat einen guten Sinn, wenn man den kultivierten Menschen ermahnt, einen barbarischen Rest in sich lebendig zu erhalten, ebenso wie es dem reifen Mann wohl ansteht, wenn in seiner Person der Quell der Kindheit und Jugend nie ganz versiegt. Wer je in seinem Leben dem Genius begegnete, wird mit Erstaunen gespürt haben, daß er wie von einer Aureole der Kindlichkeit umwoben war. Der Fortschritt besteht nicht darin, das Gestern zu zerstören, sondern seine Essenz zu bewahren, welche die Kraft hatte, das bessere Heute zu schaffen.
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Tagebuch einer Sommerfahrt Diese maßvolle Verteidigung der Barbarei mag paradox oder gesucht erscheinen; in Wahrheit enthält sie die reinste und einfachste Wahrheit. Sie kommt letzten Endes auf die Feststellung hinaus, daß die Kultur nicht aus der Kultur geboren wird, sondern aus ursprünglicheren Anlagen und Kräften, deren Frucht sie ist. Jede Kultur wurzelt in der Barbarei, und jede Erneuerung der Kultur quillt aus diesem ihrem barbarischen Grunde; wenn er erschöpft ist, so vertrocknet die Kultur, erstarrt und stirbt. Man kann nicht das eine wollen und das andere verachten. Wer eine neue Kultur für morgen erhofft, muß heute in Europa das unumgängliche Mindestmaß barbarischer Tugenden sicherstellen. Die besten Köpfe der Gegenwart empfinden eine gewisse Besorgnis, daß es in Europa mit den vitalen Reserven zu Ende geht, aus denen die Kultur gespeist wird — und vor allem mit dem kriegerischen Geist. * In jeder Unternehmung spielen zwei Faktoren eine Rolle, die Lust, sie auszuführen, und die Angst vor der Gefahr, die damit verbunden ist. Die Frage ist: Was ist unsere erste Regung, bevor wir noch Zeit haben zu Überlegung und Nachdenken? Überwiegt in uns die Lust zur Tat oder die Angst, die sich lieber drückte? Kriegerisch nenne ich den gewohnheitsmäßigen Lebenszustand, für den das Wagnis einer Unternehmung kein hinreichender Beweggrund ist, sie aufzugeben. Für den industriellen
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Der kriegerische Geist Geist hingegen entscheidet die Erwägung der Gefahr; für ihn ist das Leben eine einzige Vorsicht. Der Krieg ist, konkret betrachtet, eine der vielen Formen, in denen der kämpferische Geist zutage treten kann. Sein Wesen besteht darin, Todesgefahr zu sein. Es ist verständlich, daß sein Name zum Symbol jedes Wagnisses geworden ist, da in ihm dem Feind bewußt und vorbedacht Gefahr zubereitet wird. Im kriegerischen Geist überwiegt die Tatlust alle Angst vor Gefahr, weil er ein unerschütterliches Vertrauen zu sich selbst besitzt. Den industriellen Geist dagegen beherrscht ein radikales Mißtrauen. Die Barbarei ist das Zeitalter des Selbstvertrauens, und diese Tugend sollten wir unserer Epoche einimpfen, die an allzuviel Vorsicht und Behutsamkeit krankt. Sowohl dem Wilden, den beständige Angst jagt, wie dem Kulturmenschen, der von Argwohn und Mißtrauen unterhöhlt ist, gebricht es an der prachtvollen Gabe des Barbaren, auf sich selbst zu bauen. Der abgelebte Römer in seinen Zweifeln an sich selbst, seinem Kleinmut und Schwanken sieht an dem Barbaren vor allem seine Selbstherrlichkeit. Aber diese Selbstherrlichkeit ist eigentlich nur ein angeborenes unerschütterliches Selbstvertrauen und in diesem Sinn — nicht in dem der Eitelkeit — ein sicheres Bewußtsein des eigenen Werts. Als es zu der entscheidenden Auseinandersetzung kam, glaubte der Römer — ein Zeichen niedergehenden Lebens — schon nicht mehr an sich selbst, sondern an seine Kultur; und daß der Germane für diese nicht den
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Tagebuch einer Sommerfahrt geringsten Respekt zeigte, erschien dem feinen Quiriten als Barbarei, während in Wahrheit der Germane ein viel zu festes Vertrauen zu sich selbst hatte, als daß er sich durch ehrfürchtigen Dienst an der Kultur glaubte rechtfertigen zu müssen. Gestehen wir es uns doch ein, es liegt viel Götzenverehrung und ängstliches Zauberwesen in dieser Vergöttlichung der Kultur und den beständigen Gebeten, die zu ihrer Macht emporsteigen. Wir möchten, daß sie uns rechtfertigt und rettet, statt uns selbst zu rechtfertigen und zu retten. Der Tod als Schöpfer Es lohnt der Mühe, den Kampf der Meinungen über den industriellen und den kriegerischen Geist in unserer Zeit neu zu entfachen. Seit Spencer hat die Welt, und vor allem der Kern der Welt, unser eigenes Herz, sich sehr gewandelt, und den kleinsten Neigungsänderungen dieses Organs entsprechen die gewaltigsten Umstellungen der allgemeinen Perspektive. Spencer hatte von der Industrie eine zu gute und vom Krieg eine zu schlechte Meinung. Heute beginnen wir zu sehen, daß sie trotz ihrer gegensätzlichen Geistesart einander beeinflussen, anregen und begrenzen und uns weniger zu einer Wahl als zu einer fruchtbaren Synthese ermuntern. Hier zeigt sich wieder der eigentümliche Trieb unseres Zeitalters, das überall auf Vereinigung des Gegensätzlichen und nicht auf Anschluß drängt. Gegenüber dem „eines oder
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Der Tod als Schöpfer das andere“ geht unser Wunsch dahin, „eins und das andere“ zu umfassen. Der kriegerische Geist, da er von einem Lebensgefühl des Vertrauens zu sich selbst und zur Umwelt ausgeht, sollte zu einer lebensbejahenden Weltauffassung führen. In der Tat war das Mittelalter, das eine unfähige Geschichtsschreibung uns als eine düstere, von Ängsten erfüllte Welt geschildert hat, die Zeit der optimistischen Philosophien, während sich bei uns kaum andere als pessimistische Stimmen hören lassen. Rührt das Selbstvertrauen des kriegerischen Geistes vielleicht davon her, daß ihm die Schattenseiten des Lebens verborgen waren? Keineswegs; er kennt das Leid der Welt so gut wie Schopenhauer, er weiß, daß das Leben Wagnis und Mühsal ist. Aber, und das ist der springende Punkt, angesichts der Wirklichkeit von Qual und Bedrohtheit ist seine spontane Haltung gerade nicht pessimistisch. Dank seiner prachtvollen Lebenslust schluckt er das Dasein samt all seinen Schmerzen und Gefahren, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie werden bis zu solchem Grade als dem Leben wesentlich erkannt, daß man in ihnen nicht den geringsten Einwand gegen das Leben erblickt; man nimmt sie hin und rechnet mit ihnen, statt einzig darauf bedacht zu sein, wie man sie vermeiden kann. Diese Bejahung der Gefahr, die dazu führt, daß man sie läuft und nicht flieht, kennzeichnet die Gewohnheiten des Kriegers; sie ist der Ursprung des Hauses als Burg. Heute fühlen wir eine unvermutete Verwandtschaft
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Tagebuch einer Sommerfahrt mit diesem Naturell, das in unserer Zeit einen neuen Schößling treibt in der durch und durch modernen Form des Sports. Der Unterschied zwischen Sport und Spiel scheint mir darin zu bestehen, daß der Sport ein gewisses Wagnis einschließt, sei es auch nur das der äußersten Kräfteanspannung. Der Champion schreckt vor der Gefahr nicht zurück, sondern sucht sie. Es ist wunderlich, daß gerade die Geschöpfe, welche am wenigsten Lust zum Leben haben und das Dasein als drückende Last empfinden, wie es bei den meisten heutigen Menschen der Fall ist, doch alles aufbieten, um nur nicht zu sterben. Die Moral des modernen Zeitalters hat eine windige Sentimentalität gezüchtet, die als der Übel größtes den Tod hinstellt. Warum das, wenn das Leben so schlecht ist? Ist denn das Leben nicht — so wie das Geld zum Ausgeben — dazu da, daß man es zur rechten Zeit und mit Anmut verliert? Was für einen Wert hat es, wenn es, auf keine Karte gesetzt, sich nur in seiner eigenen Leere hinzieht und fortschleppt? Wollen wir denn den Planeten zu einem ungeheuren Hospital, einer einzigen Klinik ausbauen? Das ist in der Tat das Ideal des industriellen Geistes, des Bürgers. Er kann sich nicht damit abfinden, daß er in dem Tod ein wesentliches Attribut des Lebens vor sich hat; er will leben um jeden Preis, auch um den, das Leben auf ein Mindestmaß herabzusehen wie manche Tierarten während ihres Winterschlafes. Die Biologen bezeichnen einen solchen Zustand als vita minima. Das Leben wird verlängert auf Kosten seiner Intensität; die
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Der Tod als Schöpfer Moral des langen Lebens triumphiert über die des starken Lebens. Weder in der Ethik noch in der Biologie hat man bis jetzt die Tatsache der Unabwendbarkeit des Todes genügend beachtet. Das Leben läßt sich nicht definieren ohne den Tod. Es ist eine Kette chemischer Prozesse, von denen ein jeder unausweichlich den folgenden auslöst, bis die ganze vorbestimmte Reihe abgelaufen ist. Vom ersten Augenblick an fliegt das Leben, wie eine Kugel auf ihrer Bahn, seinem Ende entgegen; man kann mit dem gleichen Recht sagen, daß man lebt, wie daß man ablebt; der Prozeß des Sterbens setzt mit der Empfängnis ein. Der Ablauf ist unerbittlich, er läßt sich nur künstlich verzögern, in der Weise, daß alle Reaktionen langsamer vor sich gehen. Ein Dasein in tempo lento mag länger dauern als eines im prestissimo; aber chemisch gesprochen ist gleichviel Leben in beiden. Der Gehalt an Reaktionen bleibt derselbe, ebenso wie die Anzahl der Bilder auf einem Film dieselbe ist, gleichgültig ob er schnell oder langsam gedreht wird. Leidenschaften und Gedanken sind die mächtigen Beschleuniger des Gefühls-Chemismus; sie sind die dahinstürmenden Rosse, die durchgehen mit dem Sonnenwagen unseres Schicksals. Aber wenn chemisch gesehen die Langsamkeit oder Raschheit des biologischen Tempos auch keinen Unterschied macht, so bildet das konzentrierte Leben doch andere Formen aus als das dünn auf lange Zeit verteilte; diese Formen sind die verschiedenen Arten der frei-
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Tagebuch einer Sommerfahrt willigen Vorwegnahme des Todes, die wir als Heldentum bezeichnen. Es ist unverständlich, warum der Imperativ, der uns gebietet, das Leben willentlich zu formen und zur Erfüllung hoher Schicksale zu benutzen, sich nicht auch auf die Gestaltung des Todes erstreckt. Wenn der Tod auf so wesentliche Weise Teil des Lebens ist, sollten wir auch ihn als Werkzeug unseres Heils gebrauchen. Eine würdigere Moral als die herrschende müßte den Grundsatz verwerfen, dank dessen wir jedem Wagnis aus dem Weg gehen, um nur ja eines natürlichen Todes zu sterben. Der natürliche Tod ist der chemische, zwangsläufige, unfreiwillige Tod, der Tod des Tieres und der Pflanze, vielleicht des Universums. Aber der menschlichen Würde ist es angemessener, die Tatsache und die Kraft des Todes fruchtbar zu machen, indem man ihn bejaht und meistert. Eine solche höhere Moral müßte dem Menschen zeigen, daß er sein Leben besitzt, um es sinnvoll in Gefahr zu bringen. Der industrielle Geist hilft, ohne sich dessen bewußt zu sein, an der Verwirklichung dieser Norm des kriegerischen Geistes mit. Unter der Wirkung der Todesfurcht hat er wunderbare Mittel zur Beherrschung der Natur erfunden: die Technik, dank derer Menschenkraft gespart wird; die Medizin, die sinnloses Sterben an irgendeiner Krankheit unwahrscheinlich macht; die verschiedenen Arten sozialer Assekuranz, welche die materielle Existenz erleichtern und die Angehörigen eines Mannes sicherstellen, über deren Dasein er kein Recht hat, die
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Ehre und Vertrag ihm aber, da er für sie sorgen muß, ein möglichst langes Leben zur gemeinen Pflicht machen. Alle diese ausgezeichneten Vorkehrungen gegen den chemischen Tod geben uns, da sie die natürlichen Gefahren in hohem Grade ausschalten, mehr Freiheit, andere von unserer eigenen Erfindung aufzusuchen. So vereinigen sich die beiden entgegengesetzten Impulse zur Schöpfung einer neuen Moral. Aber nach zwei Jahrhunderten der Todesflucht tut es not, eine Kunst des Sterbens zu entwickeln. Neben den zahllosen Krankenhäusern, Sparkassen und Versicherungsanstalten sollte man die Gefahranstalten nicht vergessen. Der Sport hat hier wie in manchem anderen als erster die Aufgabe unserer Zeit in Angriff genommen und sich damit befaßt, die Gefahr zu organisieren. Der chemische Tod ist untermenschlich, die Unsterblichkeit ist übermenschlich. Die Vermenschlichung des Todes kann nur darin bestehen, daß man ihn mit Freiheit, Großherzigkeit und Grazie zu nutzen weiß. Laßt uns Dichter unseres Daseins sein und zu unserem Leben das genaue Reimwort finden in einem hochgemuten Tode.
Ehre und Vertrag Im Mittelalter ruhten die Beziehungen zwischen Menschen auf dem Grundsatz der Treue, der seinerseits in dem der Ehre wurzelte. Die moderne Gesellschaft dagegen ist auf den Vertrag gegründet. Nichts kann klarer
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Tagebuch einer Sommerfahrt den Gegensatz zwischen den Grundgefühlen zeigen, aus denen die beiden Weltalter lebten. Treue, ihr Name sagt es, ist das zur Norm erhobene Trauen. Der Mensch verbindet sich mit dem Menschen durch ein Band, das in ihrer beider innerstem Herzen verankert ist. Der Vertrag dagegen ist die kaltblütige Erklärung, daß wir unserem Nächsten im Umgang mit ihm mißtrauen und ihn zu binden suchen kraft eines materiellen Objektes — des Vertragspapiers —, das außerhalb der beiden vertragschließenden Personen bleibt und sich in all seiner armseligen Dinglichkeit gegen sie erheben kann. Welch Geständnis ist damit abgelegt! Unser Zeitalter traut der Materie mehr als dem Menschen, just weil sie keine Seele hat und nicht Person ist. Nicht umsonst hat es die Physik zum Rang einer Theologie zu erheben gesucht. In Einklang hiermit heißt derjenige, der den Vertrag nicht erfüllt, ein Verbrecher, und es wird eine automatisch festgelegte Strafe über ihn verhängt, eine äußere, das heißt eine Geld- oder Körperstrafe. Wer jedoch eine Untreue, eine Felonie, begangen hat, heißt treulos, und mit dieser Benennung ist die Strafe im Prinzip erschöpft. Sie besteht aus einer öffentlichen Entehrung, denn nur die Entehrung ist eine Strafe, welche die Person in ihrem Innersten trifft. Vielleicht wird man hier einwenden, daß unter den mittelalterlichen Burgherren zwar viel von Ehre gesprochen wurde, daß sie in Wirklichkeit aber von schamloser Habgier und die abgefeimtesten Schurken waren. Natürlich waren sie das. Auch in unserer Zeit werden Ver-
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Der Sport der Ideale träge häufig gebrochen oder verdreht; darum die Notwendigkeit des enormen Apparats der Rechtsprechung. Wenn man Zeitalter vergleicht, muß man ein doppeltes Spiel spielen. Man muß die Tatsachen und getrennt von ihnen die Ideale oder gültigen Normen der betreffenden Epochen gegeneinanderhalten. Das Soll für sich und das Haben für sich; ein anderes Vorgehen wäre unfair. Es gehört zum Wesen des Ideals, daß es sich nicht verwirklichen läßt; seine Rolle besteht darin, daß es sich jenseits der Wirklichkeit erhebt und sie symbolisch beeinflußt wie die Gestirne den Kurs des Schiffs. Norden und Süden sind keine Häfen, in denen man anlaufen kann; sie sind Fixpunkte, welche Wege festlegen und Richtungen geben. Dieses Projizieren von Idealen auf den unendlich fernen Grund eines Jenseits der Wirklichkeit ist eine natürliche Funktion der menschlichen Physis. Wie wir ein System von Gliedmaßen haben, so sind wir auch mit einem Vorrat von Normen ausgestattet; und wie jene uns ein bestimmtes Aussehen geben, so besitzen auch diese ihre eigentümliche Gestalt. Der Sport der Ideale Zuweilen, wenn wir bei der Betrachtung vergangener Zeiten bemerken, wie darin die Normen, die wir auf Schritt und Tritt gepriesen finden, immer wieder mißachtet werden, können wir uns des Gefühls nicht erwehren, daß all dies Gerede von hohen Idealen nur dazu da ist, ein rhetorisches Doppelleben zu ermöglichen, einer
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Tagebuch einer Sommerfahrt rauschhaften, künstlichen Begeisterung stattzugeben und uns den Genuß großer Gesten zu verschaffen. Man hat so viele Menschen gesehen, denen es ein Bedürfnis ist, ihrem wirklichen Schicksal in gutem Glauben eine Art imaginären zweiten Stockwerks aufzusetzen, worin sie in großem Stil Komödie spielen und lebende Bilder der Tugend, Enthaltsamkeit und Opferfreude stellen können. Diese Funktion der Ideale als Ersatz ist häufiger, als es scheint. Der Mensch, der in seinem wirklichen Schicksal zu kurz gekommen ist, benutzt sie als Entschädigung, und gerade weil er weder stark noch gesund ist, probiert er vor dem Spiegel die Gebärden strotzender Kraft. Ich gestehe, mir ist Tugend und Sendung nur erträglich, wenn ihr Besitzer sich ihrer so sehr schämt, daß er unablässig bemüht ist, sie zu verheimlichen und hinter anderen Masken zu verstecken. * Dieser gauklerische Charakter sublimen Spiels oder Sports, den die Ideale besitzen, enthüllt sich mehr und mehr, wenn ein Zeitalter seinem Ende zugeht. Nehmen wir als Beispiel das Ideal des Rittertums. Sein Bombast, seine Schiefheit und Rhetorik äußern sich nie übertriebener als am Ausgang des 15. Jahrhunderts, just weil die gesellschaftliche Wirklichkeit damals bereits eine Form angenommen hatte, die sich mit einem Gehaben dieser Art nicht mehr vertrug. Gerade in den Schriftstellern, welche die ritterlichen Ideale am feurigsten preisen und
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Der Sport der Ideale vor Rührung vergehen bei der Beschreibung von Turnieren, Frauendienst, Kreuzzügen gegen die Ungläubigen, Ehrenhändeln usw., stoßen wir unversehens auf die Grimasse des Spotts. „Das späte Mittelalter ist eine der Endperioden, in denen das Kulturleben der höheren Kreise fast ganz zum Gesellschaftsspiel geworden ist. Die Wirklichkeit ist heftig, hart und grausam; man führt sie auf den schönen Traum des Ritterideals zurück und baut darauf das Lebensspiel auf. Man spielt in der Maske des Lancelot; es ist ein ungeheurer Selbstbetrug, dessen schreiende Unwahrheit nur dadurch ertragen werden kann, daß ein leiser Spott die eigene Lüge verleugnet.“ (I.Huizinga: Herbst des Mittelalters, 1928; S. 107). Und derselbe Ton klingt aus dem Gedicht des Jean de Beaumont: „Sind wir in den Schenken, jene starken Weine trinkend, Mit den Damen uns zur Seite, die uns anschauen, Mit ihren glatten Busen, mit den verführerischen Hals bändern, Mit den schillernden Augen, die vor lächelnder Schönheit leuchten, Dann treibt uns Natur, ein tatenlustiges Herz zu haben, . . . Dann besiegen Wir Yaumont und Agoulant, Und andere gar Olivier und Roland. Wenn wir aber im Feld sind auf den schnellen Rossen, Die Schilde am Hals und die Lanzen gesenkt, Wenn der scharfe Frost uns ganz einfrieren läßt, Wenn die Glieder uns brechen, so vorn wie hinten, Und die Feinde an uns herankommen,
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Tagebuch einer Sommerfahrt Dann möchten wir in einem so großen Keller sein, Daß wir nie auch nur ein bißchen gesehen würden!“ Der mißtrauische Zweifel am eigenen Ideal führt zu Übertreibungen und gibt Anlaß zu den krausesten Auswüchsen. So ergötzte man sich an Abenteuern wie dem des Prinzen Wilhelm von Oranien, wenn ich mich recht erinnere, der in einem Turnier so viele Hiebe empfing und austeilte, daß er den Helm nicht mehr abnehmen konnte und sich schnurstracks in eine Schmiede begeben, den Kopf auf den Amboß legen und eine gehörige Tracht Hammerschläge erdulden mußte. Oder die Geschichte des Hemds, die ein belgischer Troubadour erzählt. Eine Dame schickte ihren drei Liebhabern nacheinander ein Hemd von sich, das sie statt jeglicher Rüstung im Turnier tragen sollten. Nur der dritte läßt sich auf die harte Probe stellen; er wird verwundet, und sein Blut tränkt das Hemd. Sein Heldenmut wird mit der Gunst der Dame belohnt. Aber der Liebende verlangt Gegenseitigkeit des Opfers und fordert die Dame auf, das Hemd, blutrot wie es ist, auf dem Fest zu tragen, das die Waffenspiele beschließt. Das Dienstwesen Orthodoxe Demokraten erröten, wenn sie lesen, daß Cervantes sich einen Diener des Grafen de Lemos nannte. Mit dem Mangel an historischem Sinn, der ihnen eigen
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Das Dienstwesen ist, meinen sie, hinter diesem Wort die Demütigung und Erniedrigung seines ganzen Standes zu sehen. Und doch klingt in Cervantes’ Wort noch leise und fern der Sinn einer der schönsten und edelsten Einrichtungen nach, die auf den Burgen entstanden sind. Bei ihrer Betrachtung wird es besonders klar, wie unmöglich es ist, eine menschliche Tatsache aus dem Zusammenhang aller anderen zu lösen, die in dasselbe Zeitalter gehören und ihm seine eigentümliche Färbung geben. Denn das Gesinde des Mittelalters diente seinem Herrn nicht anders als die modernen Dienstboten, und doch hat der gleiche Akt des Dienens in den beiden Epochen einen grundverschiedenen Sinn. Daß ein Mensch einem anderen dient, erscheint uns heute als eine untergeordnete und in gewisser Weise erniedrigende Handlung. Es ist nicht schwer zu verstehen, wie es dazu kommt, denn wir stehen unter dem Eindruck der fable convenue, daß alle Menschen gleich sind. Da Dienen Unterwerfung voraussetzt und eine Handlung ist, die moralisch genommen von unten nach oben geht, bedeutet es so viel wie ein Hinabsinken unter das Niveau der allgemeinen Gleichheit und damit eine Erniedrigung. Aber stellen wir uns einen Augenblick auf den entgegengesetzten Standpunkt, daß die Menschen ihrem Wesen nach ungleich sind, daß die einen mehr sind und mehr gelten als die anderen; dann bringt jede Annäherung an den Höheren Gewinn für den Niederen und bedeutet einen Aufstieg in der Rangordnung. Eine organische und nicht dem bloßen Zufall überlassene Form
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Tagebuch einer Sommerfahrt solcher Annäherung aber ist das Dienstverhältnis. Es ist die Form des Zusammenlebens, dank welcher der Gemeine an der Vortrefflichkeit des Edlen teilhat. Das ist der tiefere Grund, warum im Mittelalter der Dienst nicht entehrte, sondern adelte: er ist ein Mittel der Erhöhung auf der Stufenleiter des menschlichen Ranges. In den Burgen galt der Dienst nicht als Arbeit und wurde infolgedessen nicht bezahlt. Aber seit jenen Zeiten haben die wirtschaftlichen Ideen sich bedenklich vereinfacht und vergröbert: wir kennen fast keine andere Form der Entschädigung als die Bezahlung. Man bezahlt die Bemühung eines Menschen in demselben Sinn, wie man eine Ware bezahlt: das eine hat seinen Handelswert so gut wie das andere. Im Mittelalter belohnte man einen Dienst — aber nicht in der Absicht, ihn zu bezahlen. Wie soll man die Mühewaltung eines Menschen für einen anderen bezahlen! Es hieße, sie aller Feinheit und Würde berauben. Am nächsten verwandt mit der mittelalterlichen Dienstbelohnung sind in unserer Zeit, soviel ich sehe, die Ausgaben für Repräsentation. Und das ist es, was Cervantes von dem Grafen von Lemos erwartete. Im Mittelalter nahm jeder Mensch, der nicht dem Handarbeiterstand angehörte, einen genau umschriebenen Platz in der Gesellschaft ein, mit dem eine bestimmte Art und Höhe der Lebenshaltung verknüpft war, und es herrschte die Meinung, daß die Gesellschaft verpflichtet sei, jedem einzelnen die dazu notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, nicht so sehr zu seinem eigenen
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Das Dienstwesen Nutzen als zum Wohl der Gesellschaft selbst; und das galt für alle, auch die höchsten Ämter. Nach Thomas von Aquins trefflicher Lehre von der Verteilung des Reichtums soll man billigerweise nicht, wie wir es tun, von der Arbeitsmenge ausgehen, welche das Individuum leistet, sondern von dem Maß von Freigebigkeit und Prachtentfaltung, das sein Rang ihm auferlegt. Der Reichtum und seine Bemessung gründete sich nicht auf ein Anrecht auf Besitz, er war keine Erwerbung im eigentlichen Sinn, sondern richtete sich nach den Ausgaben, zu denen die jeweilige soziale Stellung verpflichtete. Diese Vorstellung wurzelt in der allgemeinen Form der Wirtschaft: man begann mit einem Voranschlag für die Ausgaben und nicht, wie der moderne Kapitalismus, für die Einnahmen. Die Gütererzeugung richtete sich nach dem Verbrauch und nicht der Verbrauch nach der Produktion, was, nach Aussage der Fachleute, ein wesentlicher Zug des Kapitalismus und, nach meiner unmaßgeblichen Meinung, eine Verdrehung der richtigen und natürlichen Ordnung ist. Denn Reichtum ist nur das Mittel zum Erwerb dessen, was man haben muß oder haben möchte. In der natürlichen Reihenfolge hat man zuerst das Bedürfnis oder den Wunsch, ein Ding zu besitzen, und dann sieht man zu, sich die dazu nötige Summe zu verschaffen. Aber der moderne Mensch strebt zunächst nach Reichtum, das heißt nach dem, was nur Mittel zum Zweck sein sollte. Er vergrößert die Produktion unbegrenzt, nicht weil er ihre Produkte braucht, sondern um immer mehr Reichtümer anzusammeln. Die
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Tagebuch einer Sommerfahrt Folge ist, daß die Ware zum Mittel und der Reichtum zum Endzweck wird. Doch ist mit allem diesem der wichtigste und feinste Zug des mittelalterlichen Dienstwesens noch unerwähnt geblieben. Es gab verschiedene Arten von Vasallen, die erworbenen, die sich durch einen Pakt in den Schutz und Dienst eines Mächtigeren gestellt hatten, und die natürlichen, welche in der Gefolgschaft einer anderen Person geboren waren und ihren Herrn, außer durch einen Treubruch, nicht verlassen konnten. Dieser pflegte einige seiner natürlichen Vasallen dadurch auszuzeichnen, daß er ihre Kinder von frühester Jugend an in seine vornehmere Haus- und Familiengemeinschaft aufnahm und in der sittlichen Tradition erzog, die sich darin ausgebildet hatte. Diese jungen Knappen besorgten die häuslichen Geschäfte und gehörten als eine Art Adoptivkinder zu der Familie ihres Herrn. Nach dem gewöhnlichen Brauch sandte ein Adliger seine Kinder in das Haus seines umittelbaren Gefolgsherrn, der den nächst höheren Rang auf der großen Stufenleiter der Gesellschaft einnahm. Fälle wie der des Cid, welcher seine Töchter, obgleich er zum niederen Adel gehörte, an den Hof des Königs bringen durfte, bedeuteten eine besondere Auszeichnung. Dies ist der Sinn des Dienstmannentums, einer unvergleichlichen sozialen und pädagogischen Einrichtung, die jahrhundertelang auf den Burgen blühte.
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WEITERFAHRT Kantabrien, das Land der Wappenschilder Die Burgen haben uns allzu lange aufgehalten mit der beredten Gebärdensprache ihrer Ruinen; wir müssen weiter. Mein Auto ist ein betagter Wagen, der schon viele Male kreuz und quer durch Spanien gefahren, über fast alle Pässe geklettert und in Tälern ohne Zahl zur Seite unserer siechen Flüsse dahingerollt ist. Er ist wie ein alter Diener; er murrt, aber er tut seine Pflicht. Ab und zu springt ihm ein Rad ab, das wie durch Zauberkraft auf eigene Faust durch das knackende Buschwerk rollt und so entschlossen seinen Weg verfolgt, daß man es für Fortunens höchsteigenes Glücksrad halten könnte. Das dürre Spanien bleibt hinter uns, und wir gelangen über das Gebirge in ein feuchtes Spanien. Das eben noch nackte, braungelbe oder rote Land bedeckt sich mit üppigem Grün und verengt sich zugleich und zerbricht in kleine, eng aneinandergedrängte Täler. Hier gibt es keine streitbaren Burgen mehr, die mit der schartigen Zahnreihe ihrer Zinnen in das Himmelsblau beißen, aber statt ihrer erscheinen die Herrenhäuser aus schwärzlichen oder hochroten Quadern. Die Burgen Kastiliens sehen aus wie hungrige Krieger, die Edelsitze hier künden von Frieden und mäßigem Wohlstand — von Reichtum niemals. Ich kenne nirgends in Spanien eine Landschaft, die als Ganzes den Eindruck von Pracht vermit-
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Tagebuch einer Sommerfahrt telte, höchstens tun es hier und da Ausschnitte oder ein einzelnes Bauwerk wie der Eskorial. Der Typus des Herrenhauses, eines finsteren, unwirschen Gebäudes, wiederholt sich mit leichtenVarianten von Asturien bis Navarra und kann daher wohl als die charakteristische Bauweise ganz Kantabriens angesprochen Werden. Es ist im Grund kein besonders großes Haus, und doch versteht man ohne weiteres, warum es einen so starken Eindruck hinterläßt. Die Größe dieser Häuser liegt nicht in ihren absoluten Maßen, sondern in dem Anspruch und den Verhältnissen, gewissermaßen in der Idee, die sie von sich selber haben. (Villiers de l’Île Adam definiert den Ruhm als die Idee, die ein jeder von sich selbst im Busen trägt.) In der Tat, sie erscheinen so würdevoll und stolz in sich selber ruhend, daß wir sofort bereit sind, sie für Schlösser zu halten. Die Burgen der weiträumigen kastilischen Landschaft wirken neben ihnen unruhig und gespannt, ihrer Rolle in der Welt nicht ganz sicher. Es geht mit diesen Gebäuden wie mit manchen Menschen, dem Keramiker Daniel Zuloaga zum Beispiel, dem Bruder Ignacios, des großen Malers; er war ein sehr kleiner Mann, fast ein Zwerg, aber er hatte die Gesichtszüge eines Riesen, michelangelesk, so daß er, wenn man ihn ohne Vergleichsmaßstab auf dem leeren Himmel der Erinnerung sah, monumentale Formen annahm. Er war ein gigantischer Zwerg — wie die kleinen Häuser, die in feierlicher Größe an den Landstraßen Kantabriens stehen. Was veranlaßt diese ernsten, gewichtigen Mauern,
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Kantabrien, das Land der Wappenschilder daß sie sich plötzlich kräuseln in dem phantastischen Linienwerk eines Wappenschilds? Die großen Burgen im trockenen Spanien tragen keine oder doch nur unscheinbare Wappen; aber die Häuser des kantabrischen Adels brüsten sich mit gewaltigen heraldischen Bildern, deren Zauberflora wie ein plastischer Ausschlag, ein Geschwür der Prahlsucht, den kahlen, keuschen Stein überwuchert. Alle verwegenen Abenteuer sind längst bestanden, man genießt behaglich die wohlgelungene Gegenwart und träumt von alten Heldentaten. Und der heroische Traum einer Seele, die den Heroismus aufgegeben hat, sickert aus den Mauern hervor als die Phantasmagorie einer unerschöpflichen heraldischen Fauna: biskayische Löwen, die Walfische Guipuzcoas, asturische Bären oder Helmstutzen mit hohen Federbüschen, Schiffskiele, schwerterschwingende Arme. Wir können kein halbes Duzend Schritte tun, ohne auf eine Mauer zu stoßen, die uns pathetisch ihr Wappenschild entgegenreckt. Und man beachte, daß die Linie, an welcher das Gewimmel der Wappen beginnt, mit dem Seltnerwerden der Städte zusammenfällt. Corpus Barga hat vor einiger Zeit darauf hingewiesen, daß dem Baskenland die Urbs im eigentlichen Sinne fehlt. Einem Anwohner des Mittelmeers würde es schwerfallen, in diesen zerstreuten Behausungen, die voreinander zu fliehen scheinen, seine Idee der Stadt wiederzuerkennen. Die andalusische oder kastilische Stadt ist ein kompaktes Gebilde; die kantabrische ist eher eine Landschaft, eine zentrifugale Stadt,
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Tagebuch einer Sommerfahrt in der jedes einzelne Gebäude einen Stoß gegen das freie Feld zu bekommen hat. (Eine Morphologie der Städte — welch anziehender Gegenstand!) Die echte Stadt ist undenkbar ohne einen Marktplatz als Mittelpunkt — die Agora, das Forum. Wie man eine Kanone definiert als ein Loch mit Stahl drum herum, so ist die Stadt ein Platz mit Fassaden drum herum. Was die Fassade birgt, das Haus dahinter, ist für die Stadt unwesentlich. (Der Leser vergegenwärtige sich nur recht deutlich das Bild, das ihm von Athen oder Rom vorschwebt.) Das heißt, daß es nur dort Städte gibt, wo das öffentliche vor dem Privaten, der Staat vor der Familie den Vorzug hat. In ganz Kantabrien ist das Gegenteil der Fall. Der Instinkt der Blutsgemeinschaft ist stärker als der politische Instinkt, und das erklärt uns mit einem Schlag sowohl die Zerstreuung der baskischen Stadt wie die Hypertrophie der Wappen. Die Kantabrer und Basken sind stolz auf ihre Familientradition und erhoffen alles von dem Heil des Stammes. Aber die Familie klammert sich an ein Stück Erde, denn sie braucht tiefe Wurzeln zur Ernährung ihres tausendjährigen pflanzenhaften Daseins. Irgendwo bei Guevara — ich weiß nicht, ist es in seinen Briefen oder in dem Buch „Verachtung des Hoflebens und Lob des Dorfes“ — meine ich gelesen zu haben, daß man sich in jener Zeit als einen Kastilier ausgab, wenn man für reich, und als einen Basken, wenn man für adlig gelten wollte. Heute ist der Reichtum — ein sehr relativer Reichtum, in Spanien gibt es keine reichen Leute — nach Kantabrien ausgewandert, aber der Stam-
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Santillana del Mar messtolz lebt weiter, wo er damals zu Hause war, und hält das innere Fieber in Gang, dessen Phantasien aus den Wappenschildern der Herrenhäuser herausschlagen.
SANTILLANA DEL MAR Vor der Höhle von Altamira Santillana del Mar, das aussieht wie eine altertümliche Theaterdekoration, erstellt, um endlose Jamben davor zu rezitieren, läßt uns nach einem Gegengewicht in der Höhle von Altamira suchen. Die überlieferte Kunst langweilt uns, wir haben sie schon so oft betrachtet, daß wir bei ihrem Anblick schwerlich noch einen Schauder der Ergriffenheit zu erwarten haben. Romantik, Gotik, Renaissance, unsere Reaktionen darauf laufen so gewohnheitsmäßig ab, daß sie fast schon Reflexe sind. Wir wissen im voraus, welche Platte in uns spielen wird, wenn das Kunstwerk erscheint. Auf Abenteuer und Wunder zu hoffen, haben wir längst verlernt. Aber wo diese beiden fehlen, gibt es keinen echten Kunstgenuß. Was man heute so zu nennen pflegt, ist ein behaglicher, sicherer, sozusagen ehelicher Genuß, der sich unfehlbar einstellt, wenn ein höchst bekannter, höchst trefflicher und jeder geistigen Spannung höchst barer Gegenstand in das Gesichtsfeld tritt. Es handelt sich um eine ein für allemal festgelegte Wirkung, die genau genommen in der Seele bereitliegt, ehe noch das Kunstwerk erblickt wird. Und der wackere Bürger will gar nichts anderes; er will dar-
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Tagebuch einer Sommerfahrt über beruhigt sein, daß die Dinge wirklich ihrem Ruf entsprechen, daß der schiefe Turm von Pisa tatsächlich schief ist, daß die gotische Kathedrale Spitzbogen hat und das Gemälde von Velázquez sich gelehrig wie ein Hund den Beschreibungen im Baedeker bequemt. Aber zur echten ästhetischen Erschütterung kann es nur kommen, wenn man nicht von vornherein innerlich darauf vorbereitet ist, sie zu empfinden, und die Gebärde der Bewunderung schon bereithält. Unwillkürlich sagt man sich: wenn es wirklich so viel schöne Dinge gibt, wie die Leute behaupten, muß dann nicht eines von beiden zutreffen, entweder sollte das Übermaß von Genuß uns längst getötet haben, oder die Schönheit ist eine so laue und langweilige Angelegenheit, daß es nicht der Mühe lohnt, darüber zu reden. Ich glaube, der Sinn für die Kunst ist uns verlorengegangen, weil sie allzu häufig und billig geworden ist. Wieviel reizender ist es, sie als ein Abenteuer anzusehen, das ab und zu — sehr selten im Grunde — wie ein Blitz aus heiterem Himmel niederfährt. Wir leben so dahin, unseren Geschäften nachgehend, und auf einmal packt uns etwas, wirft uns aus unserem täglichen Selbst und reißt uns fort wie der göttliche Wirbelwind die Propheten in eine jenseitige Welt. Kunst ist nicht denkbar ohne Ekstase, was wörtlich außer-sichsein heißt. Die Menschheit muß periodisch den Baum der Kunst schütteln, damit die verfaulten Früchte abfallen. Zum Besten der Kunst selbst ist Strenge gefordert; ihre Würde verlangt, daß wir sie zwingen, mit uns zu kämpfen, bis
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Vor der Höhle von Altamira wir sie segnen. Wenn wir hemmungslos fortfahren zu bewundern, mehrt jedes Jahrhundert die Last des angeblich Schönen, und nach weiteren tausend Jahren gibt es auf dem Planeten nur noch Friedhöfe und Museen. Die Kunst ist in die Hände des braven Bürgers gefallen; man muß sie ihm entreißen und wieder unbehaglich machen, das heißt sich selbst zurückgeben. Diese Haltung mag übertrieben scheinen; gleichwohl erlaube man mir, hier einen Augenblick zu verweilen. Die Frage ist nicht so verspielt, wie sie auf den ersten Blick aussieht. Sie ist sogar recht ernst, denn was in der Kunst geschieht, hat, wenn auch in geringerem Maß, sein Gegenbild in der Wissenschaft, und vielleicht tun wir besser, an dieser zu exemplifizieren. Ich bin wieder und wieder dafür eingetreten, daß man ein Ende machen sollte mit dem Kult der Wissenschaft, den das 19. Jahrhundert betrieben hat. Denn ein solches Vorurteil zugunsten der Wissenschaft bewirkt, daß man zu nachsichtig mit ihr ist, und verbreitet andererseits eine falsche und übertriebene Vorstellung von ihrer Macht und Sendung. Aber der Tag muß kommen, an dem der Betrug ruchbar wird, und dann proklamiert der brave Bürger den Bankrott der Wissenschaft und den Schiffbruch der Kultur und entlarvt die ganze Pseudo-Wissenschaft, die sich im Schutz des Kultes angesiedelt hat. Das ist keine bloße Phantasie. Der Weltkrieg gab bereits Gelegenheit zu solchen Deklamationen; denn der brave Bürger war der Meinung, die Wissenschaft und allgemein die Kultur sei dazu da, die Kriege abzuschaf-
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Tagebuch einer Sommerfahrt fen und ihm sein Leben zu verschönern. Wer weiß, wahrscheinlich denkt er auch, die Kunst sei dazu da, seine Töchter glücklich und tugendhaft zu machen. Und da das nicht der Fall ist, wird er sich eines Tages gegen die Kunst wenden und sie zum Tabu erklären. Ist es nicht klüger, zuzugeben, daß die Kunst und mutatis mutandis die Wissenschaft zwei höchst fragwürdige Dinge sind, von zweifelhafter Existenz, eigentlich nur Bemühungen einiger weniger Personen, die sie betreiben, weil sie Geschmack daran finden, aber ohne irgendwelche feierlichen Ansprüche — als spielten sie Schach oder jagten Schmetterlinge. Was sich von dieser bescheidenen Grundlage aus behaupten läßt, ist jedem Angriff gewachsen. Kunst und Wissenschaft sind unvorhersehbare Geschenke, die dem Menschen in den Schoß fallen, man weiß nicht, wie, wann und aus welchen geheimnisvollen Reichen. Darum ist es nicht ratsam, mit ihnen zu rechnen und das tägliche Leben auf so unsicheren Grund zu bauen. Aber gefordert ist, daß ihnen die Spende des Trinkopfers dargebracht werde. Im Altertum vergoß man ein wenig des besten Weines zu Ehren der abwesenden Götter, ohne darum etwas Besonderes von ihnen zu erwarten. Kunst und Wissenschaft brauchen keine allgemeine Gunst und Verherrlichung, nur von Zeit zu Zeit ein wenig feine, helläugige Beachtung und Kritik — damit es kund wird, wenn das Wunder geschehen ist. Nur eine Ausnahme ist zu machen: die Experimentalwissenschaften. Die Frage nach dem Rang, den sie im
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Vor der Höhle von Altamira Stufenbau der Erkenntnis einnehmen, lassen wir füglich beiseite, wir empfehlen sie nicht als Wissen, sondern als Werkzeug. Sie enthalten den Schlüssel zur Technik, und die Technik geht uns alle an. So ist es nur billig, daß man die große Menge aufruft zur Mitarbeit am Fortschritt der Technik, der weder fraglich noch ein Wunder ist. Es unterliegt keinem Zweifel: wenn die Laboratorien verdoppelt und besser dotiert werden und den Forschern Reichtum und Ehre winkt, läßt sich fast der Tag voraussagen, an welchem Krebs und Tuberkulose heilbar sind, an welchem die Erfindung neuer Energieformen die Beanspruchung der Menschenkraft weiter herabsetzt usw. Die Begeisterung der Massen für diese Art Wissenschaft zu gewinnen, ist kein Betrug; in ihr opfern sie einer Macht, die sie wirklich angeht: die Technik gibt Lösungen. Aber Kunst und reine Wissenschaft leben von ihrer Problematik und können nur die kleinen Fähnlein glorreicher Abenteurer zu echter Begeisterung entflammen. Gründen wir die Dinge lieber auf Ehrlichkeit; sie ist die feste Erde. Man wird mir einwenden, daß auch Kunst und Wissenschaft Geld und soziale Anerkennung brauchen. Ausgezeichnet. So möge ihnen beides von besonderen Gruppen der Gesellschaft zuteil werden, die wahrhaft empfänglich sind für solche göttlichen Abenteuer. Angesichts der Höhle von Altamira, in welcher die Malerei geboren wurde, laßt uns zugeben, daß die Kunst ein erlauchter Zufall ist. Man kann sie nicht planen wie ein Verbrechen oder ein Geschäft. Jene Menschen fanden
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Tagebuch einer Sommerfahrt sie, ohne sie zu suchen. Sie fiel sie an wie eine Offenbarung — wie ein Büffel. Der Schatten des Zauberstöckchens Der Führer schlägt das Tor auf, das wie ein Lid über dem schwarzen Auge der Höhle liegt, und wir treten ein. Der Fuß tastet sich vorwärts über feuchtes, schlüpfriges Gestein, und schon fühlen wir uns verschlungen von der Finsternis, die uns mit ungreifbaren Kiefern packt. Ein Eingang wie dieser muß zu dem Ort geführt haben, den die keltische Sage das Purgatorium des heiligen Patrizius nennt. Die von dorther wiederkehrten, lachten nie mehr. Und das soll ein Museum sein! Unsere Abneigung gegen Kunstsammlungen sänftigt sich ein wenig. Ausgezeichnet! Ein Museum im Dunkeln. Die Hände greifen Finsternis und öffnen sich Wege darin, während der Fuß abwärts stolpert und gleitet, dem Mittelpunkt der Erde entgegen. Indessen steckt der Führer eine Azetylenlampe an. Unsere Begierde, die berühmten Büffel zu sehen, duldet keinen Aufschub. Wir blicken zur Decke der Höhle hinauf. Da sind sie. Phantastisch, ungeheuer. Sie bewegen sich auf der Oberfläche des Steins. Doch nein, es ist ein Irrtum. Was wir sehen, sind unsere eigenen schwankenden Schatten, welche die am Boden stehende Lampe an die Decke wirft. Und die Büffel? Sie scheinen eine ironische Zurückhaltung zu üben, diese urweltlichen Ko-
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Der Schatten des Zauberstöckchens losse, und sich dem profanen Auge nicht ohne weiteres darzubieten. Offenbar hat sich der Boden der Höhle gehoben, und man ist den Zeichnungen, die meist von beträchtlicher Größe sind, zu nahe, als daß man sie mit einem Blick erfassen könnte. Der Führer muß unserem Auge zu Hilfe kommen, indem er aus der Ferne mit einem Zeigestock an dem Umriß des Tieres entlang fährt. Da das auf die Dauer das Wunderwerk zerstören müßte, ist er auf eine Auskunft verfallen, die gut zu der Szene, dem Ort und dem magischen Sinn der Bilder stimmt. Die Lampe legt über die Schildereien von Altamira die Schatten der Touristen in phantastischen Verzerrungen, so daß sie als erstes an diesem Ort ihre eigene gewöhnliche Silhouette entdecken. (Der Lehrling von Sais durchwandert die Welt auf der Suche nach der Wahrheit. Verzweifelt und am Ende seiner Kraft kehrt er zurück zum Tempel von Sais, betritt das innerste Heiligtum und, den Schleier zerreißend, der das Geheimnis der Isis verhüllt, findet er — sein eigenes Bild, das ihm aus einem Spiegel entgegenstarrt.) Unter den Schatten bewegt sich auch der eines Stockes in der Hand des Führers, und die Spitze dieses Schattens gleitet, unwirklich und körperlos, über die Decke hin und erweckt dort wie durch Zauberei die ganze paläolithische Fauna, die sich seit zwanzigtausend Jahren in dem nun geöffneten Bauch der Höhle verbarg. Ich bin zum zweitenmal hier, aber der Eindruck, den ich das erstemal empfing, ist nur noch stärker geworden. Die Vollkommenheit und Formenfülle dieser Felsen-
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Tagebuch einer Sommerfahrt kunst erschüttert in uns eine ganze Welt erstarrter Vorstellungen, die ihrer selbst allzu sicher waren. Kein Zweifel: die Höhle von Altamira ist eines der großen Menschheitsdokumente, die unserer Zeit in den Schoß gefallen sind. Sie hat auf einen Schlag den Gesichtskreis des menschlichen Gedächtnisses, der Geschichte und der Zivilisation verdreifacht. Und wie jede neue Tatsache großen Formats erfordert sie eine gewaltige Erweiterung unseres Ideensystems, wenn sie sich darin einfügen soll. Es läßt sich nicht leugnen, daß sie skandalöse Perspektiven eröffnet. Denn ist es nicht ein Skandal, daß die Malerei — eine so schwierige Kunst nach Aussage der Maler — mit dem Vollkommenen beginnt? Genau genommen gab schon die ägyptische Kunst einen Fingerzeig in dieser Richtung. Auch sie erreicht gleich im ersten Anlauf die plastische Vollkommenheit. Woher nahmen die Wilden von Altamira die Feinheit, Beschwingtheit und siegreiche Schönheit dieser Figuren? Aber gestehen wir es nur, unsere Verwunderung ist ein klein wenig rhetorisch. Haben wir nicht an manchen der besten heutigen Künstler bei näherem Umgang steinzeitliche Züge entdeckt? Das ist ohne böse Absicht gesagt; viele Leser werden die gleiche Beobachtung gemacht haben. Herrliche Schöpfungen entstehen nicht selten in Menschen von unbeschreiblicher Primitivität. Es überläuft einen kalt, wenn man sie über ihre eigenen Werke reden hört; fast möchte man zweifeln, daß sie wirklich die Urheber sind. Hierin wie überhaupt besteht ein großer Unterschied zwischen der Literatur und den anderen Künsten.
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Der Schatten des Zauberstöckchens Es ist nicht unmöglich, aber ungewöhnlich, daß ein gutes Buch einen groben und ungebildeten Verfasser hat. Wie das zu erklären ist, ich weiß es nicht; aber mir ahnt, daß diese Erfahrung eines Tages ein ernsthafter Einwand gegen Malerei und Plastik werden wird. Vielleicht hat das vorige Jahrhundert der tatsächlichen Ordnung Gewalt angetan und diese beiden Künste, indem es sie ungebührlich im Rang erhöhte, sehr zu Unrecht auf die gleiche Stufe mit der Dichtkunst gestellt. Unbildung an einem guten Tischler oder Tapezier setzt niemanden in Erstaunen. Es ist sehr wohl möglich, daß die bevorstehende Revision der Wertordnung aller menschlichen Dinge den Künsten wieder verschiedenen Rang zuteilen und auf diese Weise manche wunderliche Verwirrung auflösen wird. Es gibt Fälle, in denen das argumentum ad hominem große Kraft besitzt. Wir brauchen nicht zu versichern, daß die Maler von Altamira an der Schönheit, für die wir sie preisen, unschuldig sind. Was ihnen bei ihrer Arbeit vorschwebte, war nicht Schönheit, sondern etwas viel Wichtigeres: Magie. Zwischen den Büffeln, Hirschen, wilden Pferden und Ziegen finden sich einige Menschenhände. Man versuchte zuerst, sie rational zu erklären als Abdrücke einer Hand, die der Künstler, noch feucht von der Substanz, mit welcher er malte, gegen die Decke gestützt habe. Aber später fand man dieselbe Hand in anderen prähistorischen Malereien, und außerdem ist es kein Negativ, nicht die Spur einer Hand, sondern eine gemalte Hand.
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Tagebuch einer Sommerfahrt Das Geheimnis, in das wir eindringen, wenn wir die Höhle von Altamira betreten, ist nicht das Kellerdunkel der unterirdischen Grotte; es ist die Seele des primitiven Menschen. In ihr beginnt die Wissenschaft heute ihre ersten ungeschickten Schritte zu machen; die Hände vorgestreckt, sucht sie sich zurecht zu tasten. Aber der Abstand zwischen jenen Seelen und unserer eigenen scheint immer nur zu wachsen. Für uns haben zwei Dinge, die sich in etwas ähneln, darum noch nichts miteinander zu tun. Blitz und Waffe stimmen darin überein, daß beide töten; aber darum halten wir sie noch nicht für ein und dasselbe. Unsere Objekte besitzen eine gewisse Starrheit und Abgeschlossenheit. Nicht so im Denken des Wilden. Die Ähnlichkeit zweier Dinge bedeutet für ihn Identität, ein Teilhaben an der gleichen Substanz. Was man mit dem einen tut, hallt im anderen wider, da sie ein und dieselbe Wirklichkeit sind. Die Liane umschlingt den Baumstamm wie die Arme des Liebenden die Geliebte. Das heißt, daß der Mann, der einen Lianenaufguß trinkt, die Frau umarmen wird, die ihn ihm kredenzt. So entsteht der Liebeszauber. Und da die Dinge auch noch mit sehr entfernten anderen Ähnlichkeit haben können, bilden sie Zauberreihen oder –ketten und verbinden sich zu sonderbaren Gruppen, die durch ihre gleiche magische Substanz geeint sind. Die Welt des primitiven Menschen hat eine durchaus andere Ordnung als unsere Wirklichkeit; sie würde am ersten noch der Welt unserer Dichtung gleichen, wenn wir dieselbe ernst nähmen. Der Biß in
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Der Schatten des Zauberstöckchens eine Rose verletzt gleichzeitig die Wange des Mädchens, die der Blume gleicht. Bei gewissen wilden Völkern darf das Mädchen, das um die Rundung seines Busens besorgt ist, nicht ans Meeresufer gehen, denn die Wellen sind rund wie Brüste, und da sie beim Zurückfluten der Brandung hohl werden, sind sie Brüste, die welken und sterben. Für die primitive Seele besitzen die Dinge eine Alldurchdringlichkeit, als wären sie voller metaphysischer Poren oder von Natur gasförmig. Ein solcher Zustand der Welt ermöglicht die Technik des Zauberers und die Metapher des Dichters. Aber es gibt gewisse Dinge, die gewissen anderen in höchstem Maße gleichen; das sind ihre Bilder, Für uns besitzt die gemalte Gestalt nicht die geringste eigentliche Wirklichkeit, und vielleicht sind wir darin unserer Sache ein wenig zu gewiß. Aber man versteht, daß der Mensch Jahrtausende brauchte, ehe er sich davon überzeugte, daß ein gemalter Büffel schließlich doch kein Büffel ist. Es geht damit wie mit dem Namen, der für die primitive Seele eine Daseinsform des Dinges bedeutet. Die Eskimos glauben, daß ein Mensch aus drei Teilen besteht: dem Körper, der Seele und dem Namen. Wenn man den Namen ausspricht, hat man auf gewisse Weise das Ding selbst. Darum ist es eine allgemein verbreitete Sitte in primitiven Epochen, dem Kind zwei Namen zu geben, einen falschen, bei dem es von allen genannt wird, und einen anderen, wahren, den nur die Mutter kennt und später der Gattin anvertraut. Einen Überrest
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Tagebuch einer Sommerfahrt dieses Namenszaubers übt der fromme Leser, wenn er sich bekreuzigt im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. So sind wir denn gerüstet, die magische Hieroglyphe der Höhle von Altamira zu lesen. Ein Büffel und eine Hand daneben, das bedeutet: Ei, daß wir den Büffel fingen! Es ist die Formel eines Nahrungs- und, wer weiß, vielleicht schon eines Stierkampfzaubers.
AM STRAND Der Strand ist der weibliche Teil der Küsten, die Vorgebirge verkörpern ihre Männlichkeit. Der große Strand von Biarritz biegt sich wie eine geschwungene Peitsche, um seine abgerichteten Felsen in Schach zu halten. Es sind ein halbes Dutzend Ungeheuer mit ockerfarbenem Fell, die aus dem Wasser auftauchen und sehr nach künstlicher Staffage aussehen. Sie sind allzu notwendig in diesem Meer ohne Schiffe und ohne die Schwermut klippiger Vorgebirge, als daß ihre Gegenwart nicht Verdacht wecken sollte. Warum haben sie so gezierte Formen? Warum sehen sie aus wie die Traumgriffe kleiner Schreibmaschinenfräuleins? Und da ganz Biarritz mehr oder weniger ein Kunstprodukt ist, bin ich überzeugt, daß diese Felsen, die allzu gelegen kommen, keinem spontanen geologischen Einfall entstammen, sondern vom Verschönerungsverein hier aufgestellt sind zur Zierde des Badestrandes und damit all
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In der Bar Basque dem Blau Gelegenheit wird, beim Anprall zu zischendem Weiß zu zerstäuben. In der Tat, der Schaum legt sich in unschuldsreiner Krause um ihren Hals und gibt ihnen das Aussehen dressierter Seelöwen.
In der Bar Basque Über dem Strand im Erdgeschoß des Grand Hotel liegt die Bar Basque, wo wir essen wollen. Eine große Holzhaube auf ein paar Masten überdeckt die Tische. Der salzige Wind weht geradeswegs vom Meer an den freien Seiten herein und spielt mit den Markisen, daß sie wie Segel schlagen. Es ist wie auf einem Schiff. An der Tür nimmt eine junge Baskin uns die Hüte ab, ein schönes Exemplar ihrer Rasse. Die Augen ein wenig schräg, ein plattes Näschen, die Haut straff gespannt über den Bakkenknochen, das ganze Geschöpf mit einer leichten Andeutung des mongolischen Typus, ein häufiger Zug bei baskischen Frauen. Wir merken gleich, daß gerade im Augenblick unseres Eintritts alles in voller Fahrt ist. Alle Tische sind besetzt. Die Manöver überstürzen sich. Bootsmaate mit wehenden Schößen geben rasche Befehle an Matrosen und Schiffsjungen, die eilig kommen und gehen, ein wenig aufgescheucht offenbar von dem Ernst der Lage. An einem Tisch sitzt steif und ungerührt mit der Miene des Kapitäns ein Engländer und blitzt mit seinem enormen Monokel die Umgebung an.
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Tagebuch einer Sommerfahrt Aber schau, ein Befrackter nähert sich unserem Tisch unter Vorantritt eines Leichnams. Wir sahen schon, daß der Ritus auch an anderen Ankömmlingen vollzogen wurde. Es mag sich um das Sühneopfer handeln, das bei gewissen wilden Stämmen dem Fremdling als Zeichen der Wohlgesinntheit dargebracht wird. Auf einer Schüssel ruht ein mächtiger Fisch von weißlicher Farbe; er ist eingebettet in lithurgisches Gelee, und sein eisgekühlter Leib ist mit Substanzen verschiedener Farbe tätowiert. Ein Kunstwerk, in der Tat. Er könnte von Picasso gekocht sein. Wir bewundern ihn, und er schwebt weiter zu anderen Tischen auf seinem posthumen Triumphzug. Unter den Gästen herrschen die Amerikanerinnen vor. Der alte Kontinent wimmelt von Amerikanerinnen, die von jenseits des Meeres kommen, entschlossen, alles durcheinanderzubringen. Sie schwimmen, rudern, trinken, rauchen, spielen Golf, tanzen ohne Aufhören, toreïren in Spanien und beweisen ihre Kultur, indem sie von Spiritismus reden. Uns gegenüber sitzen zwei Jüdinnen und nicht weit davon zwei argentinische Damen. Beide Gruppen äußerst modern in ihrer exquisiten, weichen, fast unwirklichen Zartheit und ihrer tadellosen Kleidung. Und doch kann ich sie nicht anschauen, ohne hinter ihren zierlichen Gestalten endlose Schafherden zu erblicken. Immer ist für mich die Hebräerin begleitet von den Lämmern der Bibel und die Kreolin von den unendlichen Merinos der Pampas. All diese Vornehmheit und Eleganz ist nur möglich auf dem Hintergrund gewaltiger Herden, die ihr
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In der Bar Basque Vlies nicht für sich selber tragen. Mein Freund und ich plaudern eine Weile über den Sieg der Hirtenvölker, über die Zisternen von Kanaan und australische Nandus. Es liegt eine festliche Heiterkeit in der Luft, die den Geist frisch und behend macht. Man kann nicht leugnen, die Franzosen verstehen es, einer Mahlzeit allen feinen Schwung zu geben, dessen sie fähig ist, besonders seit sie ein Bündnis mit dem angelsächsischen cock-tail geschlossen haben. Doch beginnt unsere allgemeine Begeisterung, sich bestimmten Gegenständen zuzuwenden, und ihr bester Teil beugt sich huldigend vor einer Frau, die eben hereintritt, begleitet von einer Freundin und dem korrektesten aller Greise. Warum erregt diese Frau unsere Aufmerksamkeit, eine zarte, respektvolle Aufmerksamkeit? Warum möchten wir ihr befreundet sein und die Bemerkung auffangen, die sie eben gemacht haben muß, mit einem Lächeln, so leicht und beherrscht, als würde es von einem geistigen Zügel verhalten? Die anderen eleganten Frauen ließen uns völlig kalt. Warum? Die Antwort ist nicht leicht und zwingt zur Lüftung ein wenig unhöflicher Geheimnisse. Man müßte zugeben, daß die elegante Frau in der Tat häufig nicht die fesselndste ist, und das verlangt eine Erklärung; denn man macht sich über die Eleganz recht irrige Vorstellungen. Eleganz wird leicht zum Beruf und dadurch zu einer beständigen harten Knechtschaft. Die elegante Frau steht von morgens bis abends im Dienst ihrer Eleganz. Sie muß an den fünfzehn Orten erscheinen, wo sich die elegante Welt trifft;
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Tagebuch einer Sommerfahrt sie ist immer in Eile. Schon das genügt, um sie uninteressant zu machen. Aus dem Wesen der Frau, die wir eben bewundern, spricht eine Fülle einsamer Stunden; man fühlt, daß sie jeden Tag viel Zeit für sich selbst bewahrt und sich von der Tyrannei der „anderen“ befreit. In der Chemie gibt es Reaktionen, die nur an ganz stillen, von Erschütterungen freien Orten im verborgensten Winkel des Laboratoriums vor sich gehen können. Ebenso verlangen die besten geistigen Reaktionen, welche die Seele bereichern und verfeinern, Ruhe und tiefe Muße, ein Stillehalten, damit das Wunder geschehen kann. Diese Frau wird sicher den ganzen Rest des Sommers nicht mehr hierher kommen. Man sieht, daß sie nicht überall dabei ist, daß sie das gewöhnliche Unterhaltungsprogramm nicht mitmacht, sondern auswählt und nur weniges daraus entnimmt. Und diese feine Geste des Wählens — vieles zu lassen, eines zu behalten — prägt ihre ganze Person. Ihre Kleidung folgt der Mode, aber um einen Grad gedämpft; und der wichtigste Unterschied: die anderen Frauen sind ganz und gar hier, sie dagegen bleibt immer ein wenig fern, mit ihrem besten Teil ist sie nicht hier, sondern bei sich, in ihrer Einsamkeit, gleich den Dryaden Griechenlands, die den Baum, in dem sie lebten, nie ganz verlassen konnten. Und darum ist sie so fesselnd; denn wir sind gefesselt, wenn wir ahnen und noch nicht klar sehen.
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