Steff Steffân
Sufi-Praxis
Gerd Gerken sei für die atmosphärische Anregung zu diesem Buch gedankt.
Ein Damm um den Ve...
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Steff Steffân
Sufi-Praxis
Gerd Gerken sei für die atmosphärische Anregung zu diesem Buch gedankt.
Ein Damm um den Verstand verhindert das Verstehen der sufischen Lehre. Doch die Zeit seiner plötzlichen Auflösung ist immer erregend. Neue, unerwartete Fortschritte werden sich ergeben. Doris Lessing
Sufismus ist immer zeitgemäß gewesen. Er steht unserer modernen Kultur näher als alle anderen mystischen Traditionen. Arthur J. Deikmann Therapie und Erleuchtung
ZUM GELEIT
Der Sufismus ist nicht nur eine Lehre, sondern in erster Linie eine Lebensweise, ein geistiger Weg. Eine zugleich meditative und praktische Einführung in diesen Weg hat es bisher in Buchform noch nie gegeben. Die Übungen wurden nämlich bislang in geistigen Kreisen »behütet«. Für den Anfänger war der Zugang zur Sufi-Praxis sehr schwer. Er stieß auf Hindernisse wie Geheimnistuerei und komplizierte Riten. Diese Geheimhaltung funktioniert in der offenen Kommunikationsgesellschaft von heute nicht mehr. Ein jedes »Angebot« wird offen ausgegeben. Die »Zirkelhaftigkeit« hat augenscheinlich ausgedient. Das Geistige wird von einer immer homogeneren Gesellschaft als ganzer deutlich mehr in Anspruch genommen. Die Exklusivität des geistigen Weges ist nicht mehr zeitgemäß. Der geistige Anspruch ist integrativ. Alle wollen daran teilhaben. Beinahe jeder Mensch ist heute bemüht, sein Selbst-Sein durch Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis selbst zu erstreben. Aus diesem Grunde wurde dieses Buch geschrieben. Es führt Sie selbst durch Sie selbst zum geistigen Weg. Sie bleiben selbstbestimmt und autonom und verkaufen sich an keine Institution.
EINFÜHRUNG
Um Weisheit, Gesundheit und Glück erlangen zu können, dürfen wir nicht in die Ferne schweifen, sondern müssen die Suche in uns selbst beginnen. Diese Hinwendung zum eigenen Innern bildet die Grundlage etlicher Philosophien und Heilslehren. Eine perfekte »Selbst-Kultur« sollte sich mit dem Körper, dem Verstand, den Gefühlen, der Seele und den Eigenschaften des Individuums befassen. Im Sufismus wird die Selbst-Kultur auf die Spitze getrieben. Ein Mensch, der den Namen Sufi verdient, ist seelisch makellos, geläutert vom »Ich«. »Sufismus ist die Mystik des Islam«, können wir im Großen Brockhaus nachlesen, »deren Ansätze sich, von endzeitlichen Drohungen des Korans ausgehend, schon um 700 zeigten und im wesentlichen innerislamisch sind. Er ist nach der Verwendung eines Büßerkleides aus Wolle (arabisch Suf) benannt. Die Anhänger dieser Richtung werden als Sufis – mit einem Wollhemd Bekleidete – bezeichnet.« Der Sufismus regelt durch göttliche Empfehlungen das Leben als Ganzes, von der Geburt bis zum Tod. Er ist keine Meditationspraxis, der man täglich nur ein paar Minuten widmet, sondern ein Lebensweg, der in all seinen Aspekten Vollkommenheit anstrebt. Sufismus ist also eine »Therapie« für das Leben selbst - wenn man therapeia im ursprünglichen Sinne als den göttlichen Dienst, die »Pflege der Göttlichkeit« versteht. Der Geduldige – der »Patient« –, in dem die Leidenschaft nach seiner inneren Wirklichkeit brennt, ist eingeladen, diesen Weg zu sich selbst zu beschreiten. Die Sufi-Weisheit besagt, daß nur das Herz für die dauerhafte Gesundheit von Körper und Seele verantwortlich ist:
»Wohlan, da ist ein kleiner Klumpen Fleisch im Körper. Ist dieser gesund, ist der Körper als Ganzes gesund. Wohlan, dieser Klumpen Fleisch ist das Herz.« Die Herzenspflege steht im Mittelpunkt ihrer geistigen Praxis – man nennt die Sufis daher auch »jene, die Herzen haben«. Das Credo der Sufis besagt, daß das Leben aus Göttlichkeiten beziehungsweise aus der Gottesgegenwart besteht. Mit Worten allein läßt sich der allumfassende Gott jedoch nicht begreifen. Verstand, Seele, Körper und Geist sollen gemeinsam den »Gottesdienst« leisten. Daher tanzt ein Sufi-auf-dem-Weg. Niemand hat je einen vollkommeneren, ekstatischeren Tanz erschaut als den der Sufis und Derwische. Ihr Tanz symbolisiert die Drehung des Mondes um die Erde, der Planeten um die Sonne. Der Sufi/Derwisch tanzt auf viele Weisen. Wichtig ist ihm dabei, sich Gottes zu erinnern, während sein Körper sich beugt, wendet und dreht. Zur Reinigung und Läuterung kennt der Sufi-Weg Hunderte von kunstvollen Atemtechniken. Darunter gibt es lautlose und auch solche, bei denen die Stimme eingesetzt, ja sogar gesungen und geseufzt wird. Nur der Atem zählt, der vom Herzen kommt und auf das Herz gerichtet ist. Denn auch jeder einzelne Atemzug soll der Gotteserinnerung und der Erinnerung an die eigene Göttlichkeit dienen. Zu diesem Zweck werden auch die »Schönen Namen Gottes« immer wieder ausgesprochen. Sie sind Ausdruck der vergessenen Göttlichkeit, die im Innersten des Menschen verborgen lebt, doch jederzeit »zum Sprung bereit« ist. »Schönheit«, »Milde«, »Majestät«, »Verzeihung«, »Erhabenheit«, »Stärke«, das »Königliche« und »Weitumfassende«, »Großzügigkeit«, »Liebe« und mehr als neunzig weitere Begriffe werden erinnert und dadurch wieder wachgerufen. Der Anrufende spricht die Namen Gottes aus, um sie in sich selbst zu hören. Die Lebendigkeit dieser Ströme zerbricht alle Schalen und Krusten, sie weicht den »Panzer« um das Bewußtsein auf.
Die erstarrte Persönlichkeit ist dann bald nicht mehr gewillt, weiterhin einengende Grenzen zu errichten. Durch diese Technik erlangt der Praktizierende Zugang zu seinen göttlichen Eigenschaften. Die Namen Gottes werden auch als »Wasser der Quelle des ewigen Lebens« bezeichnet. Der Bewußtseinsforscher Ornstein fand heraus, daß es keine vollkommeneren mantrischen Schwingungs- und Stimmverfahren gibt als die des Sufismus. Das Erreichen der Göttlichkeit und die Heiligung des Alltags sind Teil des sufischen Zieles. Das Leben soll bewußt gemacht werden. Dazu gehört unter anderem eine Reinigungswaschung, die den profanen Alltag vom Ritus des Weges trennt. Reine Kleidung ist ebenfalls ein Teil des Weges, der im Anschluß an die Waschung auch das Einreiben mit Parfüms und duftenden Essenzen vorsieht. Es gibt wohl keinen anderen geistigen Weg, der die physiologische und psychologische Anwendung von Heildüften so sehr einbezieht wie der Sufismus. Selbst Männer werden dabei hochsensibel und geradezu begierig nach Düften. Auch das von den Sufis praktizierte Gebet bezieht den Körper mit ein und wird daher nicht umsonst als »Sport« bezeichnet. Denn während des Gebets steht der Sufi/Derwisch erst aufrecht, beugt sich dann, richtet sich wieder auf, wirft sich zu Boden und setzt sich schließlich wieder hin. Bei den »Schweigenden Derwischen«, einem sufischen Hauptweg, gibt es auch das (Seitwärts-)Liegen während des Gebets. Die dafür erforderliche extreme Rücken-und Beinstellung versetzt den Betenden in eine fast explosive Spannung. Doch nach kurzer Zeit wird – aus Gründen der Barmherzigkeit – das Zeichen zur Entspannung und Veränderung der Körperhaltung gegeben. Mediziner haben herausgefunden, daß ein Sufi, der dieses »sportliche« Gebet regelmäßig praktiziert, praktisch keine Gefahr läuft, Opfer eines Herzinfarktes oder der Verkalkung zu werden.
Wie wir gesehen haben, besteht Heil-Sein für die Sufis aus dem rechten Dienst an Gott. Davon geht auch ihre Heilkunst aus. Die rein geistige Heilung – durch Gebet und Atemübertragung – überwiegt, es gibt jedoch auch physiotherapeutische Behandlungsmethoden. Für den Sufi kommt alle Krankheit, aber auch alle Heilung allein von Gott. Der Kranke ist im allgemeinen Gott näher. Er erinnert sich seiner Göttlichkeit und Vollkommenheit eher, weil die Krankheit ihn aus seiner selbst- und gottvergessenen Lebensroutine gerissen hat. Die wesentliche Zielrichtung der sufischen Heilkunst ist die existentielle Schwingung, auf die der Sufi-Meister einwirkt. Ein sufischer Arzt (Hakim) kann dem Patienten zum Beispiel empfehlen, einen anderen, geeigneten Atemrhythmus zu praktizieren, um wieder gesund zu werden. Ein Sufi ist der, der nur Gutes sieht, nur Gutes hört und nur Gutes denkt. So wird er zum ethischen Vorbild. Im Zusammenleben mit seinen Mitmenschen läßt er sich ausschließlich von Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit leiten. Voraussetzung dafür ist allerdings die Reinigung der Seele. Die Beziehungen zu anderen Menschen werden göttlichen Normen und der »feinen Lebensart« des sufischen Höflichkeitskanons unterstellt. Dadurch empfängt der Sufi-auf-dem-Weg eine besondere »Herzensgesundheit«. Denn auch das Verhalten wirkt heilend – ebenso wie es krank machen kann. Viele von uns wären verwundert, wenn sie wüßten, wie leicht man durch falsches Verhalten (sowohl eigenes als auch das anderer) erkranken kann. Die von den Propheten überlieferten Gesundheitsempfehlungen regeln im Sufismus sowohl das »Was« als auch das »Wie« der Nahrungsaufnahme. Die Gesundheit hängt unter anderem auch davon ab, wie – und mit wem – man ißt. Als Vorbild gilt hier der Prophet Abraham, der beim Essen nie alleine war. Es wird daher empfohlen, jedes Essen mit mindestens zwei anderen Menschen/Gästen einzunehmen. Wenn man
nämlich allein ißt, dann ißt Satan (die Negativität der Gedanken und Gefühle) mit. Auf diese Weise können bis zu sechs Siebentel des Nahrungsgehaltes verlorengehen! –Aus der Sicht Gottes ist die beste Nahrung die, die mit vielen geteilt wird. –Wenn du ißt, dann entkleide dich von deinen Schuhen, denn wahrlich haben deine Füße dann mehr Ruhe. –Der Segen steckt in der Mitte eines Gerichts. Beginne also am Rande, nicht in der Mitte. Das sind nur drei der zahlreichen Empfehlungen die in diesem Fall das Essen betreffen. Auch die Kleidung, Wachen und Schlafen oder das Fasten unterliegen solchen Gesetzen. Es findet also ein Ausgleich zwischen Tun und Nicht-Tun, zwischen Haben und Lassen statt – eine Sichtweise, die der grenzenlosen Gier unserer Zeit deutlich widerspricht. Einst wurde der Derwisch-Heilige Mullah Nasruddin gefragt: »Was hast du für diesen Winter vorbereitet?« Er entgegnete: »Das Frieren!« Derwischgeschichten wie diese sind multilaterale Witze. Sie vermögen den menschlichen Verstand von all seinen Dunkeln zu reinigen. Die Derwische haben sich als göttliche Anarchisten und legendäre Mystiker in der menschlichen Geistesgeschichte einen Namen gemacht. Mullah Nasruddin (wörtlich übersetzt: »Meister Glaubenshilfe«), der oft auch als vollendeter Narr bezeichnet wird, ist der Sufi-Heilige mit dem größten Humor und den verquersten Gedankengängen. Doch er ist nur scheinbar verrückt. In Wirklichkeit hinterlassen seine Anekdoten beim Zuhörer ein Gefühl der Unschuld und Erleuchtung, wie auch die folgende Geschichte beweist: Nasruddin heiratete eine Witwe. Fünf Tage später gebar sie einen Sohn. Der Mullah ging sofort los und besorgte eine Schulausrüstung. Die Leute fragten ihn: »Wozu kaufst du diese Sachen?« Nasruddin erwiderte: »Wenn mein Sohn eine Neunmonatsreise in
fünf Tagen hinter sich gebracht hat, muß man jeden Tag damit rechnen, daß er schulpflichtig wird.« Durch solche Geschichten kann der Sufi-Meister die Negativität seiner Zuhörer »ausradieren« und damit ihren Verstand reinigen. Keine Lehrmethode ist so einfach und zugleich so komplex wie die Derwischgeschichten. Ihr Ziel heißt Selbsterkenntnis und Loslösung von der persönlichen Biographie – bis man über das eigene Leben und die eigenen Verschrobenheiten nur noch lächeln kann. Ein Sufi kann nur der sein, der Zustandssouveränität besitzt. Normalerweise wird der Zustand eines Menschen automatisch, sowohl von außen als auch von innen, bestimmt. Neigungen, Süchte, Stimmungen, Verspannungen und Neurosen dominieren. Fast niemand weiß, wie der eigene Zustand zu regulieren ist – und die meisten Menschen glauben, daß das gar nicht möglich ist. Der Sufismus weist einen Weg aus der Seelenautomatik. Er beginnt mit dem »Anbinden« an das Selbst und führt zu höchster Konzentration auf kleinstem Räume – zum sogenannten »SelbstPunkt«. Bei der Arbeit an sich selbst wird, aus der Sicht des Sufismus, das private geistige Training von der Gemeinschaftserfahrung unterschieden. Bei beiden handelt es sich um »heilige Pflichten«, die jedoch von keiner »höheren Instanz« kontrolliert, werden, denn das Sufitum ist ein Weg, der einzig und allein auf Selbstverantwortung abzielt. Jeder muß selbst wissen, wie er sich geistig engagiert. Der Sufismus ist »mir« die Methode. Es gibt keine übergeordneten Institutionen, sondern nur SufiLehrer/Meister, die Lehre und Methode vermitteln. Ein Großteil der Selbst-Lehre besteht aus mantrischen Litaneien, die täglich aufgesagt werden. Das geschieht im allgemeinen privat und von anderen unbemerkt. Sufigruppen treffen sich im Regelfall einmal pro Woche zum sufischen Reigen. Derzeit gibt es weltweit etwa zwanzig bis vierzig Millionen Menschen,
die sich auf dem Sufi-Weg befinden. Sie erzeugen ein geistiges Kraftfeld, das mit kaum einem anderen zu vergleichen ist. Auf dieser geistig hochdosierten Frequenz kann kaum jemand umhin, seelische Heilung und Stärke und ein hohes Maß an Ethik zu erreichen. Dem Fortgeschrittenen verspricht die sufische Methode zudem die Erlösung von der Last der Materialität, die Befreiung aus der Enge des Daseins. Oder, um es in Sufi-Worten auszudrücken: das Sein im Nicht-Sein.
DER WEG DES HERZENS
Das Sufitum/der Sufismus wird als »Weg zur höchsten Erkenntnis«, »Pfad der Liebe« und »Weg des Herzens« bezeichnet. Sufis heißen die, die »Herzen haben«. Der Sufi-Weg eröffnet dem Menschen die Liebe.
DER WANDERER UND DAS ZIEL DES WEGES
Für jeden, der Autonomie, Unabhängigkeit und Einssein erstrebt, ist der Sufi-Weg der richtige Weg. Denn sein Ziel ist – so sagt uns ein Sufi-Meister: Eine Welt zu schaffen, die man mit niemandem mehr teilt. Voraussetzung dafür ist der Wille, dem Guten zu dienen, der vollkommene Wunsch, frei von sich selbst zu sein. Auch wer begreift, daß, wie ein Sufi-Spruch weiß, die Unfähigkeit wahrzunehmen, die (übliche) Wahrnehmung ist, und doch hoffnungsvoll und stark nach wahrer Wahrnehmung strebt, ist richtig auf dem Weg. Wer erkennt, daß er ist und doch nicht ist, doch zu einem Sein, das wirklich ist, fortschreiten will, der sollte sich auf diesen Weg begeben. Sein Ziel ist perfekte Selbst-Kultur, der Luxus, sich selbst zu werden.
SELBSTERKENNTNIS
Der Sufi widmet sich allein der Selbsterkenntnis. Denn: »Wer sein Selbst erkennt, erkennt seinen Herrn.« Damit ist der Sufi-Weg gleichzeitig als Weg zu Gott und zum Menschen beschrieben. Er bringt die Vergöttlichung des Menschen und befreit von der Not des Menschlichen, von üblen Eigenschaften, Konditionierung, Unruhe, Leid. Zum Ausgleich bringt er die Seligkeit des Sich-selbst-erkennen-Dürfens.
VOM KLEINEN ZUM GROSSEN EGOISMUS
Die Herrschaft des Ich steht dieser Befreiung/Erkenntnis entgegen. Der Egoismus des Menschen ist zu klein, um dieser Bedrängnis, in die das Selbst durch die Störung des Ich geraten ist, entgegenzuwirken. »Ich bin mir selbst im (geistigen) Wege!« Die sufische Methode regt den Willen und die Kraft zum Großen Egoismus an, zur absichtsvollen Vernichtung des gefängnis-schaffenden, bitteren Ich. Sie zeigt den Weg, die Hindernisse zu beseitigen. Nichts bleibt, denn Gott und Göttlichkeit.
ANERKENNTNIS
Voraussetzung für die Willenskraft, für den Großen Egoismus, ist die Anerkenntnis, daß der gewohnte Egoismus – letztendlich und auf Dauer – zu keiner Befriedigung führt. Das Scheitern aller Ich-Konzepte. Zu wissen und zu bekennen: Das war und ist der falsche Weg. Das bedeutet auch: Das Bekennen der eigenen Bedürftigkeit. Das Begehren nach sich selbst. Das unumwundene Bekenntnis zum Drängen und Streben.
INNERE STREBENSKRÄFTE
BÜNDELUNG
Die sufische Methode berücksichtigt die in jedem Menschen wirksamen Liebes- oder Strebenskräfte, die Schöpfungs- und Wahrnehmungsmomente zugleich sind. Der Mensch sucht die Erschöpfung von sich selbst. Er sucht nach dauerhaften Schöpfungswerken – nicht so sehr nach schöpferischer Erregung, die ihn bald wieder verläßt. Das Sufitum weiß solche »Dauerwerke« durch Übungen wie die Magnetisierung des Herzens und die Verdichtung der Seelenkraft zu schaffen.
Die Seele wird in alle Richtungen getrieben. Der Mensch dies und das. Die sufische Methode ist eine Verstrebung, die die umhertreibenden Kräfte systematisch ausrichtet, konzentriert und zügelt – bis in der Bündelung aller Strebenskräfte die verlorene Einheit erscheint.
So entstehen Strebenszentren, in denen diese Liebes- oder Strebenskräfte konzentriert werden und aus denen sie ständig wirken – wie ewige Quellen, die nie versiegen.
ABSICHTEN ZÄHLEN
DER KAMPF MIT DEN WIDERSTREITENDEN KRÄFTEN
Ohne Absicht kann sich keine Bündelung ergeben. Die Absicht ist es, die – in bezug auf Konzentration – zählt. Die Absicht des Sufi zielt auf das Eine/den Einen, der – und das ist überaus wichtig! – die Absicht formuliert.
Der erste »Gegner« taucht auf, nachdem die Absicht formuliert wurde: Die Schwäche! Die Motivation verflüchtigt sich, flieht. Leere entsteht. Ein Schwall von Gedanken wird aufgefächert und führt zu Schwindel im Kopf. Die Sufis nennen das Einflüsterungen.
Anders als in Systemen, in denen man sich beispielsweise auf einen Punkt an der Wand konzentriert, liegt der Konzentrationspunkt des Sufi-Übenden nicht außerhalb. Er selbst ist das Zentrum der Erfahrung, der Absicht, des Willens! Das Selbst des Menschen will nichts anderes – nur sich selbst! In der Praxis wird diese Rückführung auf sich selbst durch Einschränkung der Wahrnehmung, der Vorstellung und der Beziehungen erreicht. Im Moment ist wichtig, daß Ihre Absicht auf das Einssein zielt. Die wirkliche Absicht ist notwendig und zählt.
Bleibt der Aspirant bei seiner Absicht, so bedrängen ihn fortan die »widerstreitenden Kräfte«. Der Wille wird provoziert. Das Ich pocht auf seine Gewohnheitsrechte. Der Vestand sagt: »Das ist unmöglich. Ein Einssein kann es nicht geben!« Trösten Sie sich mit dem sufischen Wort: »Uns interessieren nur >zwei<: Das, was notwendig ist, und das, was unmöglich ist.«
DIE ORIENTIERUNG IM RAUM
DIE AUSWAHL DES PLATZES
Zur Wissenschaft und Praxis der Sufi gehört, daß für jede Handlung und für jeden Zweck eine Richtung eingenommen wird.
Der Platz für Gebet und Übung sollte mit Bedacht ausgewählt werden – möglichst so, daß die Augen durch keine Gegenstände (Vielheit!) abgelenkt werden.
Das ist ein Teil des Bewußtseinstrainings, denn jeder sollte wissen, wohin er sich im kosmischen Raum orientiert.
Eine Ecke in einem Zimmer kann genügen. Es ist wichtig, daß dieser Ort, dieser Boden saubergehalten wird. Eine Decke oder ein Tuch sollte nur für diesen Platz verwendet werden, denn dies ist ein Ort der Einkehr.
Die Absicht regelt das »Was« und »Wie«, die Orientierung im Raum das »Von wo nach wohin«. Wohin wende ich mich? Welche Strecke ist zurückzulegen im angestrebten Projekt der Selbst-Entwicklung? Für Gebet und Übung gilt, daß man in Richtung 23 Grad Ost nach Süden oder 113 Grad Nord nach Süden steht, sitzt oder liegt.
ENTWELTEN
DIE ZEIT
Der Sufi betrachtet die Welt als ein zu großes Gewand für die Liebe. Es gilt, die Welt zu »entwelten«.
Der Sufi sieht die Zeit nicht als seinen Meister, sondern er sieht sich selbst als Meister der Zeit.
Sorgen sind zurückzulassen. Wichtigkeit und Streß sind abzulegen. Der Druck der Zeit wird eingetauscht gegen »Zehn Minuten Ewigkeit«.
»Zeit ist ein Schwert. Entweder schneidest du damit. Oder sie schneidet dich.«
Gleich, was gerade noch war, am Platz der Einkehr herrschen die Gesetze eines anderen »Reiches«.
Die wahre Zeit wird auch als »reine Form« bezeichnet, während Zeit, wie sie gewöhnlich verstanden wird, Formen, Erlebnisse und Ebenen vermischt.
Was immer Sie sind – Manager, Kaufmann oder Bankier –, bestehen Sie auf täglich zwanzig bis dreißig Minuten (oder mehr) autonomer Zeit, in der Sie von allen anderen Dingen frei sind.
Es ist die Veränderung der Phänomene, an der sich Zeit für den Menschen bemißt: Je weniger Phänomene, desto weniger Zeit - ohne Phänomene Ewigkeit. Das ist das Ziel der Sufi-Praxis.
ALLEINSEIN
SICH NICHT SCHEREN
Die Einstellung, mit der sich der Sufi-Aspirant an seinen Platz der Einkehr begibt, hat ein in Deutschland lebender SufiMeister so beschrieben:
Sich nicht scheren bedeutet ein »Leeren des Herzens«. Das ist die Voraussetzung für wahres All-ein-Sein, die Bedingung für das Bei-sich-selbst-Sein.
»Ein-sam und All-ein« Es ist das Für-sich-Sein ohne Ablenkung, nach dem der Reisende auf dem Sufi-Weg strebt. Ist er darin geübt, so übt er auch »draußen« das »All-ein-Sein in der Menge«. Denn auch der Marktplatz ist »ein-sam« – Einheit dem Einssein entsprungen.
Die Stufen des Sich-nicht-Scherens sind: – Sich nicht um Dinge scheren. – Sich nicht um Worte scheren. – Sich nicht um die Aufmerksamkeit anderer scheren. – Sich nicht um den eigenen Ruf scheren. – Sich nicht darum scheren, ob man gesehen wird oder nicht. Versuchen Sie sich in dieser Übung. Sie wird Sie stark machen.
BESITZLOSIGKEIT
»Streife die Sandalen ab!« Das fordert jeder Hüter eines Heiligtums von jedem Besucher. Es bedeutet: Glaube nicht, daß du etwas hättest, daß du etwas besitzt oder daß du etwas bist! Laß alle Zuschreibungen zurück. Laß dein Gepäck, deine Persönlichkeit und deine Stellung fahren zugunsten der Besitzlosigkeit. Für den Sufi bedeutet Besitzlosigkeit auch, die geistigen Gaben nicht wichtig zu nehmen. Denn Stolz auf den eigenen geistigen Zustand hilft nicht weiter. Das heißt zugleich, daß er nichts ablehnt. Es komme, was kommt! Und was geht, das geht. Einst wurde ein Sufi gefragt, wo denn ein Gottesfreund seinen Wohnort nehme. Er gab zur Antwort: »Er lebt im Strom seines Schicksalsmoments.«
WAS SOLL‘S DENN?
Die Sufis sagen: »Ereignisse sind Wellen und Ströme.« Höhen und Tiefen des Lebens sind vorprogrammiert. Keine Welle kann dauerhaft auf einer Stelle bleiben, und auf jede schwere Lebensphase folgt Erleichterung und bringt irgendwann neuen Segen. Die Einstellung »macht nichts« oder »was soll‘s denn?« ist angesichts scheinbar beklagenswerter Zustände oder Situationen und kleiner Unglücksfälle nur selten verkehrt. Ein erstes Mantra zum Üben.
EINWILIGUNG
ZUSTÄNDE, STUFEN UND STATIONEN
Sufitum bedeutet, seine Einwilligung in das Schicksal zu geben, in die Schöpfung. Der Sufi übt sich in Ergebenheit – Ergebenheit in das, was das Leben an Überraschungen, Tests und Prüfungen in jedem Augenblick bereithält.
Die »Lage« des geistig Reisenden ist definiert durch Zustände, Stufen und Stationen.
AI - ham du - li - Iah (Der Dank (sei) dem Gott.) »Gott sei Dank« ist es, was Sufis angesichts jeder Herausforderung sagen – ein rechtes Zauberwort. Üben Sie es! »Dank sei Gott – in jedem Zustand, auf jeden Fall« bedeutet, auch in schwierigen Zeiten und selbst in der vetracktesten Lage aktiv nach dem Nutzen zu suchen, den diese Situation enthält.
Ein Zustand kommt und geht. Er ist ein »Überfall«, ein Wechselspiel, das unberechenbar und nicht zu beeinflussen ist. Tritt eine Art von Zustand häufiger auf, so entsteht eine Stufe – zuerst fließend, dann fest. Doch hat der Reisende keine Eingriffsmöglichkeit. Er weiß die Stufe nicht zu •pflegen«. Noch herrscht das Ich, die Seele. Der Aspirant ist dem Dasein ausgeliefert/unterlegen. »Manipuliert« der Reisende mit den Instrumenten der sufischen Methode seine Daseinsart partiell oder gar weitgehend selbst, dann ist er in eine der Stationen eingekehrt. Der Raum zwischen den Stationen, in den der Reisende aufgrund von Erschöpfung und Hilflosigkeit gelangt, wird »Rastplatz« genannt. Dort ruht er kurz aus – um weiterzureisen.
HANDELN UND ABWARTEN
Eine Sufi-Weisheit besagt: »So du dich nicht mit guten Taten beschäftigst, beschäftigst du dich mit schlechten.« Sind Taten zweifelhaft, so sollte man sie meiden. Wann immer man sich über eine Handlungsweise unsicher ist, gilt es zu warten, denn: »Geduld ist die Hälfte des Weges.« Das Schöpfungsziel wird sich zeigen. Und dann zugefaßt!
FLIESSGLEICHGEWICHTE
Ein Sufi zu sein bedeutet, nur aus dem Augenblick zu leben. Man nennt den Sufi daher auch »den Sohn des Augenblicks«. Er schafft und schöpft nur das, was die Ganzheit des Augenblicks in ihm inspiriert. Das bedeutet umgekehrt, daß es für ihn keine Schöpfung durch Gedankenimpulse oder ähnliches gibt. Im Gegenteil sollte der Sufi-Aspirant möglichst auf alle Reaktionen etwa auf Träume, Zeichen und Visionen absichtlich und bewußt verzichten. Das erlaubt ihm sogar, bewußt zu verdrängen, was ihn als »Zeichen« bedrängt. – Solange, bis er still und durchsichtig ist. Jede Fixierung ist – erst einmal – zu vermeiden.
REITEN
LENKEN UND TRAGEN
Auf seelischen und gedanklichen Impulsen gilt es zu »reiten«. Das wilde Ich muß permanent gezähmt werden. Die »Reitarten« sind folgende:
Wer resigniert, verfällt. Die Seele kommt zu Schaden. Nur wer sich selbst trägt, vermag die Welt zu tragen. Lerne, dich selbst zu tragen, denn ständiges Schwachsein macht krank.
– Bei Zweifeln: Geh einfach weiter, der Absicht deines Weges nach. Zweifelhafte Dinge (erlaubt oder nicht erlaubt) sollten gemieden werden. – Gegen Resignation: Die tägliche Übungsdisziplin und vor allem Gebete. – Bei seelischem Druck und bei Beklemmung: Das Tragen (wie auf der nächsten Seite beschrieben).
Unterdrücke deinen Unmut nicht, doch spei‘ ihn auch nicht aus. Durch Katharsis (etwa infolge von ausgedrückter Wut) wird deine Seele niemals unter den großen Seelen auftragen.
Ein zeitgenössischer Meister sagt uns dazu: »Üblicherweise ist dein Ich der Reiter, und du bist das Reittier. (Was heißt, dein Ich macht mit dir, was es will.) Bei uns wirst du zum Reiter, und dein Ich wird zum Reittier.«
Tragen bedeutet, wie ein Dompteur vor einer Raubkatze zu sitzen. Die drohende Gefahr, die von der Unbeherrschtheit des Ich ausgeht, wird deutlich bewußt und fixiert. Sich abzuwenden und/oder sich zu vergessen, ist ist für einen Sufi verboten. Der wahre Dompteur beginnt, die Bedrängung/Bedrohung zu lenken, der Seele absichtsvoll neue Kräfte zu schenken – bis sich das Ich diesen Kräften ergibt. Beim Tragen halten die Sufis die Lippen verschlossen. Die Zunge stößt leicht gegen Zähne und Gaumen und bleibt wahrend der ganzen »Attacke« dort.
DAS SITZEN
Mit dem Sitzen will der Sufi dem Körper Erleichterung geben. Die Müheverwaltung der menschlichen Würde ist groß. Die Sitzhaltung der Sufis ist daher eine Beinahe-Schlaf-Haltung, ein Kauern. Der Kopf fällt leicht zur linken Seite, bis die Brust das Kinn stützt. Kopf und Herz liegen jetzt nahe beieinander. Die Schultern fallen nach unten. Die entspannte Haltung des Schlafes ist nahe. Die Augenlider sind niedergeschlagen. Der Körper ist zusammengesunken. Man sitzt auf den Unterschenkeln und auf den Innenkanten der Füße. Die Fußsohlen zeigen nach hinten.
FALLENLASSEN/NIEDERWERFEN
Wie das kauernde Sitzen, so ist auch das Niederwerfen eine Körperübung, die der menschlichen Sehnsucht nach Hingabe entspricht. Das Stichwort ist: fallenlassen, sich selbst fallenlassen, sich ergeben. Voraussetzung dafür ist Vertrauen. Doch vertrauen wir – erst einmal – niemandem, außer dem Einen, sehr persönlichen Gott, der Göttlichkeit in uns selbst. Dieser spricht – erst einmal – als Hoffnung zu uns, als Liebesgefühl, als Welle der Sehnsucht. Dieser Welle mögen wir uns vertrauend ergeben. Sich einfach auf den Boden fallen zu lassen, tut weh. Darum federn wir uns mit Knien und Händen ab. Auch das Gesicht möchte sich gern verlieren, wenn wir damit die tröstende Erde berühren. Also liegen Stirn und Nase auf dem Boden auf. Stehen – Niederwerfen – Fallenlassen, ein oder zweimal am Tag. Das ist die Übung zu Beginn des Weges. In der niedergeworfenen Haltung bleibt man, solange man will.
BEREUEN/VERGEBEN
ERFRISCHUNG/WASCHUNG/REINIGUNG
Wenn wir uns fallenlassen, steigt so manche Träne auf. Das Sufitum wird auch die Weisheit der Tränen genannt. In Erinnerung an all die vielen sinnlosen Wege, die man gegangen ist, kommt Reue auf. Schmerz und Erleichterung dringen nach außen. Doch oft bleibt etwas: das Nicht-Vergeben – sich selbst nicht zu vergeben und anderen nicht zu vergeben.
Tränen und Reue dienen der Reinigung, doch sind sie selten. Das ist der Grund für einen Ritus, der als das A und O der SufiPraxis gilt: Wudû, die rituelle Waschung. Sie ist vor dem Gebet/ der Übung durchzuführen.
Der Sufi legt daher täglich zu festgesetzter Zeit eine Reueminute ein, in der er siebzigmal hintereinander Gott um Verzeihung bittet. Die Formel dafür ist:
– Die Hände werden dreimal unter dem fließenden Wasser gerieben.
Astarch – fir – ul – lah (Verzeih uns Gott!) Wichtig ist, daß Gott uns nur verzeiht,vwenn auch wir selbst uns Verzeihung gewähren.
– Der Wasserhahn wird aufgedreht.
– Die rechte Hand fängt Wasser auf, mit dem der Mund dreimal gespült wird (nicht gurgeln!). – Die rechte Hand fängt Wasser auf und bringt es zur Nase. – Das Wasser wird zuerst durch das rechte Nasenloch hochgezogen, während der linke Daumen das linke Nasenloch verschließt. Das Wasser wird dann ausgeschneuzt. Dann folgt das linke Nasenloch, wobei der linke Zeigefinger das rechte Nasenloch verschließt. Wieder wird ausgeschneuzt. – Es folgt die Waschung des ganzen Gesichts, dreimal mit beiden Händen voll Wasser. – Männer waschen dann das Barthaar. Auch die Hautpartie darunter muß naß werden.
– Dann wird der rechte Arm dreimal gewaschen, vom Handgelenk bis hin zum Ellbogen.
GENIESSEN
– Der linke Arm wird dreimal gewaschen, vom Handgelenk bis hin zum Ellbogen. – Die nassen Hände werden einmal leicht über dem Haar abgestreift. – Mit den nassen Handrücken streift man einmal um Hals und Nacken. – Es folgt die rituelle Reinigung der Ohren - innen wie außen. Die Ohren werden gleichzeitig gewaschen. Die Zeigefinger gehen dabei in die Ohren, die Daumen streichen hinter die Ohren. – Der rechte Fuß wird dann mit der linken Hand dreimal unter fließendem Wasser gewaschen – auch zwischen den Zehen und bis zum Knöchel. – Der linke Fuß wird analog mit der rechten Hand gewaschen. Während der ganzen Waschung wird ein Satz immer wiederholt: Bismillah ir-rachmân ir-rachiem (Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Allerbarmers.) Der Sufi sagt: »Wes Auge rein ist, schaut die Reinheit.« Als Übung zur Erfrischung – zur Reinigung von schlechter Energie – empfiehlt ein Meister unserer Zeit das absichtsvolle Duschen als Sufi-Übung täglich ein Mal.
Die Waschung und jede andere Übung soll gefühlsneutral durchgeführt werden – ohne Gefühl also. Auch nicht zu kurz oder zu lang und nicht bitter oder schlecht gelaunt. Ein SufiMeister unserer Zeit sagt dazu: »Du sollst lernen, Gott zu genießen!« Das ist eine starke Empfehlung. Gott zu genießen bedeutet auch, Übung und Gebet nicht gegen sich zu wenden. Wer betet, um sich selbst zu strafen, hat sein Herz vom Schöpfer abgewendet. Wer übt, um zu leiden, wird auf dem geistigen Weg elend »verenden«. Niemand kann Gott lieben, ohne sich selbst zu lieben. Die Sufi-Methode führt letztendlich dazu, daß man die geistigen Gaben subtil zu genießen versteht.
DÜFTE UND PARFUMS
ALMOSEN
»Parfüm und Frauen sind mir teuer geworden...«, sagte der Prophet. Er war ein Liebhaber aller Wohlgerüche.
Auch wer andere beschenkt, beschenkt sich selbst. Das Schenken und das Almosengeben gehören zu den besten und wichtigsten Sufi-Traditionen.
Rosenwasser, Veilchen und Jasmin und die unzähligen anderen heilsamen Essenzen, mit denen sich der Sufi-Aspirant (sei er eine Frau oder ein Mann) umgibt, sind für ihn eine Art, Gott zu gedenken – ein kleiner Duft aus dem Paradies. Indem man Parfüm aufträgt, beschenkt man sich selbst, und dies ist die köstlichste Pflicht auf dem geistigen Weg, der subtilste Zugang zu sich selbst. Neulingen seien besonders Bergamotte (am Anfang), Rose, Jasmin und teures Aloe empfohlen, für Eßsüchtige ist Patschuli richtig. Zitrone steigert die Kreativität. Gegen zu wilde, chaotische Gedanken empfehlen die Sufis.Ylang-Ylang, bei Nervosität das milde Sandelholzöl. Kinn und Herzbereich werden damit eingerieben.
Nichts ist besser geeignet, um Hindernisse aus dem Weg zu räumen, als das Almosengeben, denn Geben bedeutet lösen – und Erlösung ist das, worum es dem Sufi geht. Gemäß der sufischen Lehre kann auch der Beischlaf eine Form des Almosengebens sein, ebenso wie ein gutes Wort und eine hilfreiche Tat. Almosengeben gilt auch als Heilmittel, oft gar bei schwersten Krankheiten. Wer zögert zu geben, ist gefesselt. Wer gibt, befreit sich.
KÜSSE
TRENNUNG UND VERSAMMELTSEIN
Auch das Küssen ist ein Weg. Zu küssen liebte der Prophet. Er sagte: »Geht nicht auf eure Frauen wie Tiere. Schickt Botschafter voraus.« Man fragte ihn, was er denn mit den »Botschaftern« meine. Da gab er kund: »Gute Worte und Küsse.«
Der Kuß ist eine sinnliche Erfahrung, und Sinnlichkeit ist ein Teil des Weges. Die Sufis nennen sie »Land« – Opakheit, Dichte, Festigkeit und Nähe.
Selbst im Fastenmonat ist dem Sufi das Küssen erlaubt, fast könnte man sagen geboten. Darum küß‘ deinen Mann oder deine Frau. Vertrau dich deinem Anvertrauten allerbarmend und gnädig an. Gib ihm Küsse zuhauf.
Wo Nähe ist, ist auch Ferne nicht allzu weit, da es die Nähe ohne die Ferne nicht gibt – wie auch die Wahrnehmung ohne ihre Bedeutung vom Menschen nicht erfahrbar wäre. Bedeutung und Sinn jedoch bedeuten uns Ferne. Die Bedeutung trennt uns vom Objekt. Und doch sind uns Sinn und Bedeutung näher. Wir wissen, was etwas ist, wozu es ist, warum es ist. Wir versammeln uns in der Bedeutung. Der Sufi bezeichnet daher das Eintauchen in den Sinn/die Bedeutung als »Versammeltsein« oder »Versammeltheit«, wohingegen die Wahrnehmung und Sinnlichkeit für den Sufi zu den Trennungen gehört. Am Beispiel des Kusses erläutert heißt das: Der Kuß trennt, das Nachsinnen über ihn verbindet. Die beste Übung besteht darin, beides zu tun – denn Außen und Innen sind eins. Aus diesem Grund empfängt und entschlüsselt der Sufi-Reisende die guten Dinge.
UNTERSCHEIDUNG
WAHR-SAGEN
Um herauszufinden, was und wie »dieses« oder »jenes« ist, bedarf es der Unterscheidung. Es ist Ziel eines geistigen Trainingsprogramms, zu lernen, was alles unterschieden werden kann – und wie.
Wahrheit ist einer der Schlüsselbegriffe des Sufismus. »Wirklichkeit« ist das Synonym dafür. Gott und die Wahrheit sind dem Sufi eins.
»Was gut ist, ist gut. Und was schlecht ist, ist schlecht.« Das ist keineswegs ein banaler Satz. Er verlangt Entschiedenheit im Denken, Fühlen und Handeln. Der Sufi-Aspirant läßt sich nichts Schlechtes für etwas Gutes einreden. Wenn seine Brust bebt, wenn es darin webt, dann ist das, nach Sufi-Auffassung, schlecht. Das Gewissen ist aktiv. Die Seele findet keinen Frieden. Entströmt dem Herzen ein Glücksgefühl, dann ist es gut – trotz negativer Gedanken und seelischer Schmerzen.
Es gilt also, die Wahrheit zu suchen – trotz Enge und Schmerzen in die Wirklichkeit einzukehren. Wer die Wahrheit sagt, erfährt die Liebe aus sich selbst heraus – auch wenn ihm von anderen Feindschaft droht. Wer die Wahrheit meidet, meidet die Liebe. Freiheit und Seligkeit bleiben dem verwehrt, der lügt. Wer lügt, fesselt das, was zu sagen ist. Der Drang des Sagenwollens, ein schöpferischer Trieb, wird verletzt. Daher gilt das Wahr-Sagen als das »Herz« aller sufischen Übungen.
DEMUT
»Demut ist die Akzeptanz der Wahrheit über die Wahrheit durch die Wahrheit.« Dieser Satz, den ein Sufi formuliert hat, gibt Anlaß zum Nachdenken. Demut bedeutet zugleich das Bekenntnis der Unfähigkeit, das Bekenntnis, daß in Wahrheit jeder schwach, bedürftig und abhängig ist. Der Mensch aber tut, als gäbe es die Schwäche, das Schwachsein nicht. Er »hat es nicht nötig«, schwach zu sein. Doch Not ist für uns alle da, und vielleicht hat sie der Reiche und Mächtige sogar noch nötiger. Nur gibt er es nicht zu. Auch der Ruhm hat ein solches, falsches Gesicht. Der Sufi darf, ja muß ein Bettler um Erfüllung sein. Und wer bettelt in Wahrheit nicht täglich um Liebe, um Selbstfindung, um ein Maß an täglichem und nächtlichem Glück, ein Stück Befriedigung? Wer demütig ist, verachtet selbst die Bosheit nicht. »Verachte nicht den Staub!« sagt uns der Sufi Yunus Emre. »Was alles liegt im Staube! Wie viel‘ der Heiligen, Propheten! Dort liegen hunderttausend...!« Nur wer nicht länger glaubt, die Welt sei sein Besitz, für den steht Demut an.
DUMMSEIN
Die Schlauheit grassiert auf diesem Planeten. Cleverness ist gefragt, will man den Karrieresprung machen. Der Sufi will von all dem nichts. Er sagt – wie einst Odysseus bei Homer – »Ich bin Niemand«. Und ist ob der Nichtigkeit seines Seins – so berühmt er auch sein mag – still, schweigend und betreten. Die Dummheit ist ihm Trost auf seinen Wegen. »Tröstung majestätica« hat sie ein Sufi-Meister genannt. Der Sufi darf seine Dummheit eingestehen. Er darf sich von seiner Ignoranz behütet und verwaltet sehen. Dumm-sein-Dürfen bringt Segen. Das Zu-schnell-, Zu-voreilig-Sein und die Anspannung dürfen sich zur Ruhe legen. Wahre Dummheit ist köstlich und muß Weisheit hervorbringen!
ARMUT
Ein Mann sagte zu einem Propheten: »Ich liebe Gott.« Da gab dieser zur Antwort: »Dann wirst du bald die Armut sehen.« Wie arm ist der, der die Wahrheit vertritt, in den Augen der anderen. Wie arm scheint der, der niemals seine Bedürftigkeit und Schwäche verleugnet. Doch wie erfüllt ist er auch, wie voll von Segen! Die Sufis nennen sich »die Armen« – ob sie reich an materiellen Gütern sind oder nicht. Jeder Erfolg hat sie ärmer gemacht, für jedes Wissen mußten sie »zahlen«. Auch Sokrates hatte nichts zu verkaufen – und ein nichtiger Niemand war der Odysseus Homers. Die Armut im Geiste, das Scheusein im Licht, ist der Reichtum der Sufis. Sie hüten sich davor, den Vulkan des Stolzes ausbrechen zu lassen. Armut heißt für den Sufi auch, daß er sich nicht sorgenvoll um das Geld zum Leben kümmert. Der Sufi zieht sein Selbst der angsterfüllten Ichheit vor.
FASTEN
Genußsüchtig ist der Mensch – und verwegen. Doch sind nicht alle Genüsse in dieser Welt gelegen. Der Sufi strebt nach höchsten Genüssen. Ein Mystiker ist unersättlich. Er will alles und nichts. Verlangt sein Appetit nach allem, so erhält er – Gott weiß es besser – nichts. Es ist wie mit einer Waage: Legt er sein Gewicht auf »alles«, steigt »nichts« nach oben, legt er es auf »nichts«, steigt »alles«. So vernünftig ist die Welt eingerichtet! Zu subtilem Genuß führt uns das Fasten. Außerdem ist es gut für die Gesundheit. Daher fastet der Sufi so gern. Dies sind die Fastenzeiten: Montags und/oder donnerstags von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Nach dem Mondzyklus am 13., 14. und 15. Tag nach Neumond. Während des Fastenmonats Ramadan. (Das Institut für SufiFörderung und Sufi-Forschung (siehe letzte Seite) gibt Auskunft darüber, in welche Zeit dieser Monat im jeweiligen Sonnenjahr fällt.)
Anfänger sollen nur zwölf Stunden am Tag fasten, auch wenn die Sonne länger am Himmel steht. Bei gesundheitlichen Problemen und Krankheiten (etwa Diabetes oder Fehlfunktion der Nieren) sollte man einen Arzt um Rat fragen.
STERBEN
Für den Anfänger auf dem geistigen Weg gehören Fastentage nicht zu den unbedingten Notwendigkeiten. Es steht ihm frei, sich zum Fasten zu entschließen oder nicht.
Der Fastende nimmt weniger auf, aber erhält viel: Fingerspitzengefühl für das Leben, Barmherzigkeit und Milde und ein Verständnis für alle Geschöpfe.
Während der Sufi fastet, ißt und trinkt er nicht und hat auch keinen Sex. All das jedoch kann er zwischen den täglichen Fastenzeiten, also nach Sonnenuntergang und vor Sonnenaufgang, tun.
Während der Sufi fastet, enthält er sich nicht nur von Essen, Trinken und Sex, sondern auch von jeder Negativität im Denken und Fühlen. Er fastet, je weiter seine Praxis entwickelt ist, von sich selbst – und vom Leben. »Stirb, bevor du stirbst!« ist der Leitsatz der Sufis. Es geht darum, endlich erlöst zu sein vom Leben und – auch wenn es unglaubhaft klingt – ohne Dasein zu leben. Weit weg vom Hier und Jetzt ist das Reich der Sufis nicht von dieser Welt. Ein solches, reines Sein ist göttliches Vergnügen.
WEINEN
SCHWEIGEN
Tränen finden immer den Weg zum Herzen. Ab und zu zu weinen ist gesund für Körper und Seele, denn Weinen ist ein Reinigungsprozeß.
Die Ethik der Sufis besagt: Es ist eine Pflicht, über andere zu schweigen. Über sich selbst gibt es dagegen rein gar nichts zu reden.
Einern Sufi ist das Weinen um Gottes willen erlaubt, Weinen um des Schicksals, um der nicht gelebten Möglichkeiten oder um materiellen Verlustes willen ist verboten.
Über andere zu reden – ob positiv oder negativ –, ist für jeden Sufi verboten. Die Rede über andere ist nämlich, wenn sie wahr ist, eine Nachrede. Wenn sie jedoch falsch ist, ist sie Verleumdung. Das Reden über den eigenen Zustand ist Verrat von Geheimnissen.
Nach einem Todesfall darf ein Sufi drei Tage lang trauern. Darüber hinaus ist heftige Trauer verboten. Leichte Trauer, die nicht zu Selbstmitleid führt (etwa wenn man das eigene Unvermögen, die eigene Ohnmacht oder die eigene grenzenlose Unwissenheit erfährt), ist dagegen geboten. Wer nicht weinen kann, darf und sollte es üben!
Auch die Liebe gedeiht allein im Garten des Schweigens – weil das Schweigen der längste Schöpfungsmoment ist.
ERWACHEN UND WACHEN
»Der Mensch, er schläft«, so sagte der Prophet. »(Erst) wenn er stirbt, erwacht er.« Für den Sufi ist das Leben ein Traum – ein Traum in einem Traum. Irgendwann wird er aus diesem Traum erwachen. Auf dieses Erwachen kann er sich durch Wachen vorbereiten, durch Nachtwachen und dadurch, daß er nachts erwacht: – Er steht um Mitternacht kurz auf, wäscht sich, wirft sich einmal nieder und schläft dann wieder ein. – Wer will, kann, bevor er wieder schlafen geht, sechsundsechzigmal den Namen »Allah« wiederholen. – Wer etwas fortgeschrittener ist, kann, wenn er will, das letzte Drittel der Nacht wach verbringen. Dabei empfiehlt sich das Lesen heiliger Schriften (Thora, Evangelium, Koran), von Heiligenlegenden sowie das Meditieren über die Zeichen Gottes.
SCHERZE UND LACHEN
Die Sufi-Lehre fördert das Lachen und bringt zugleich auch die Tränen in Bewegung. Lachen ist ein Mittel zum Erwachen, Scherze tauen Verkrustungen auf. Der verquere Derwisch-Heilige Mullah Nasruddin muß, stellvertretend für die zu belehrende Person, immer wieder für manche Untat und irrige Einstellung herhalten. Es gibt unzählige Geschichten über ihn. Ein Beispiel soll hier genügen: »Mitten in der Nacht stritten sich zwei Männer draußen vor Nasruddins Fenster. Schließlich stand er auf, wickelte sich in seine einzige Wolldecke und rannte hinaus, um dem Lärm ein Ende zu machen. Er versuchte, die Betrunkenen zur Vernunft zu bringen. Da schnappte sich einer seine Wolldecke, und beide rannten davon. Wieder bei seiner Frau, fragte ihn diese: »Worum ging denn der Streit?« »Es muß um meine Wolldecke gegangen sein. Nachdem sie die hatten, hörte der Streit auf.«
ICH-ÜBERWACHUNG
Eine wichtige Sufi-Übung heißt Selbstkontrolle oder IchÜberwachung. Dabei schaut der Sufi-Aspirant in einen reinen Spiegel – um entweder (häufiger) zu weinen oder (manchmal) zu lachen. Er weint oder lacht über die eigene Verlorenheit, Besessenheit, Irrtümlichkeit – den eigenen Abgrund. Die Spiegel, in die der Aspirant schaut, sind der Reihe nach: – der Meister, – das Herz, – der Tod und – Gott. Für den, der keinen (oder noch keinen) Meister hat, ist der Spiegel das Herz. Doch wo ist das Herz, und was ist das Herz? – Bleibt der Tod – und Gott.
DIE SELBST-KONTROLLE ANGESICHTS DES TODES
– Eine Meditation des Sterbens und des Todes – Diese wichtige sufische Übung wird in folgenden Schritten durchgeführt: – Man führt die rituelle Waschung durch. – Man setzt sich in die Kauerhaltung. – Man nimmt die Richtung 23 Grad Süd-Ost ein. – Man rezitiert halblaut die Formel »Verzeih uns Gott«. – Man ruft sich die eigenen Fehler, Schwächen und Sünden ins Gedächtnis. – Man stellt sich das eigene Sterben vor. – Welche Personen sind anwesend, welche nicht? – Man stellt sich seinen letzten Atemzug vor. – Man stellt sich die Person/die Personen vor, die bei der Leiche verweilen. – Man stellt sich vor, wie die Leiche gewaschen, eingekleidet und geschmückt wird.
– Man stellt sich vor, wie das Grab ausgehoben und die Leiche hineingelegt wird. – Man stellt sich die Grabesbefragung vor. – Was wird man den Engeln im Grab auf ihre Fragen nach den eigenen guten und schlechten Taten zur Antwort geben? Es genügt, wenn man diese Übung einmal wöchentlich zehn bis zwanzig Minuten lang macht. Dabei spricht man unablässig und ohne zu zählen die Verzeihungsformel.
STOP–HALT
Auch dies ist eine Übung zur Selbst-Kontrolle oder IchÜberwachung: Einmal am Tag – vielleicht stellen Sie sich den Wecker oder programmieren Ihre Armbanduhr – sagen Sie, wenn es klingelt oder piept: »Stop! Halt!« Was denke ich gerade? Was habe ich mir soeben vorgestellt? Als Regel gilt, daß man so lange unbeweglich verharrt, bis man sich über seinen Gesamtzustand völlig im klaren ist. Erst dann sagt man wieder »Start!« und beendet das Eingefrorensein. Das Leben fließt wie gewohnt weiter.
DEN PULS BEOBACHTEN
Der Rhythmus einer jeden Sufi-Übung geht auf den Herzschlag zurück. Es geht darum, zur Resonanz mit dem Herzschlag zu finden. Bei Streß, Erschöpfung und innerer Verlorenheit wird die ordnende Beobachtung des eigenen Pulses empfohlen. – Mit dem Mittelfinger der rechten Hand fühlt man den Pulsschlag am linken Handgelenk. – Dann beginnt man, den Puls wie auch das Herz zu hören. – Das Gefühl schwingt nun mit und wenn möglich auch die Liebe. – In etwa zehn Minuten fühlt man sich all-ein und nimmt wahr, daß alles wieder »gut« ist.
DER ATEM
Eine Sufi-Weisheit besagt: »Alles ist im göttlichen Atem enthalten.« Jeder Atemzug, mit dem der Sufi-Reisende sich nicht an Gott/die Göttlichkeit erinnert, ist ein toter Atemzug. Atmen ist Gottesdienst – ein ständiges Gebet – ein ständiges Geben und Nehmen – ein Akt der Liebe, von Gott begünstigt. Ein wahrhaft lebendiger Weg. »Sei dir jeden Atemzugs gewärtig!« Machen Sie also die Fenster auf und lassen Sie frische Luft herein. Sie stehen gerade, Ihr Körper wippt nach vorn und hinten. Machen Sie den Mund ganz weit auf und atmen Sie fünf Minuten lang stimmhaft und rhythmisch.
GOTTESERINNERUNG/EKSTASE
»Alles Erkennen ist (nur) Erinnerung.« Das hat ein großer Weiser gesagt. Es bedeutet, daß sich nichts erzeugen läßt, denn alles ist bereits da. Das gilt auch für die Göttlichkeit, die Eigenschaft Gottes im Menschen. Indem man sich daran erinnert, öffnet man sich dem Rausch, der Ekstase. Besinnung schafft Erinnerung. Es ist daher naheliegend, daß sich der Sufi-Aspirant besinnt, daß er die göttliche Eigenschaft erwähnt, sich in Erinnerung ruft – und das immer wiederholt. Besinnen – Erwähnen – Anrufen – Wiederholen – Erinnern. Die Sufis nennen das »Sikr«. Sikr ist das Hauptinstrument auf dem geistigen Weg: die Anrufung der Namen Gottes – mit Rhythmus, Bewegung, Atem und Tanz. Für den Sufi ist Erkennen gleichzeitig Begeisterung.
GOTTESNAMEN/MANTREN
Der Sufi kennt die göttlichen Eigenschaften als Gottesnamen. Gott hat 99 Namen, wobei die Begrenztheit dieser Zahl nur sinnbildlich ist. Einige dieser Namen sind: – der Allbarmherzige/Erbarmer – der Wächter/Schützer, der Zwingende – der Wahre, der König, der Lebendige – der Reiche, der Freie, der Heilige – der Starke, der Lichte, der Feine Diese Namen ruft der Sufi in Litaneien und Mantren an, denn es gilt, eins mit den göttlichen Eigenschaften zu werden. Wir empfehlen den Anfängern auf dem geistigen Weg, mit dem folgenden Namen zu beginnen: Ya wadud (Oh, du Liebender!) Dieser Name wird 124mal hintereinander gesagt, erinnert oder gerufen.
Weitere mantrische Übungen sollen nicht ohne ausdrückliche Erlaubnis gemacht werden, denn wie die Medizin gegen eine Krankheit bedarf auch die Verschreibung eines geistigen »Medikaments« einer, in diesem Fall seelischen, Diagnose. Unbedacht angewandte Medikamente können nämlich auch eine schädliche Wirkung haben. Aus diesem Grund soll man ein Mantra nicht ohne die Erlaubnis eines geistigen Meisters üben.
SUFI-TANZ UND REIGEN
Wenn unsere Stimme schwingt und unser Atem »fliegt«, dann möchte auch unser Körper »fliegen«, denn Stimme, Körper und Atem sind eins. Wir wollen uns als Ganzheit bewegen. Wenn unser Atem und unsere Stimme rhythmisch gehen, beginnt auch unser Körper zu tanzen. Er wippt und schaukelt im Rhythmus. Die Sufis nennen das »Hören«, denn der Körper reagiert auf das, was er als Stimm- und Atemton hört. Die Bewegung, die dann im Körper entsteht, ist auch als Sufi- oder Derwisch-Tanz bekannt. Für den privaten Tanz gelten folgende Regeln: – Der Körper neigt sich zur rechten Seite nach vorn. – Er kehrt zurück nach rechts hinten. – Dann bewegt er sich rhythmisch im Takt der Anrufung nach vorn links. – Dann kehrt er zurück nach hinten links. – Danach beginnt eine neue Bewegungsfolge: rechts vorn – rechts hinten – links vorn – links hinten. Günstig ist es, den Körper in der Kauerhaltung zu bewegen. Wer nicht so sitzen kann, mag im Schneidersitz oder, wenn es gar nicht anders geht, im Sessel sitzen, denn der Sufi-Weg soll – erst einmal – bequem sein. Üben mehrere Sufi-Aspiranten gleichzeitig, so entsteht ein resonierender Reigen. Darüber jedoch erfahren Sie mehr, wenn Sie sich einem Sufi- oder Derwisch-Kreis anschließen.
DERWISCH- UND SUFI-MUSIK
REZITATIONEN
Den »Geschmack« für den Sufi-Tanz, die rhythmische Bewegung von Körper und Atem, die allein der Gotteserinnerung dient, bekommt man arn besten durch Derwisch- und SufiMusik.
Die vorzüglichste Art, Stimme und Atem einzusetzen, sind Rezitationen. Heilige Texte sind Buchstabe für Buchstabe so komponiert, daß ihre Rezitation die Schwingungen hervorbringt, die den Atem und die Stimme – die Seele – in alle Winkel und zu allen auf Erden erfahrbaren Orten führen.
Das ist beispielsweise pakistanische Qawwali-Musik (von liebestollen Wanderderwischen gespielt) oder türkische MevleviMusik (Musik der Tanzenden Derwische). Man bekommt sie auf Platten oder Kassetten in guten Musikgeschäften. Anfänger können diese Musik, von der beispielsweise Ravels Bolero inspiriert wurde, auch während des letzten Drittels der Nacht zur Meditation hören.
Rezitation ist die Hohe Kunst des Weges – zu schwer für den Anfänger. Doch er kann sich Rezitationen anhören. Auf diese Weise werden sie zu seinen ewigen Begleitern. Wer sich für Rezitationen zum Anhören interessiert, kann sich an den West-östlichen Divan e.V., Niederwaldstr. 1, 6200 Wiesbaden wenden.
MEDITATIONEN
DIE ERWECKUNG DER SUBTILORGANE
»Ein Fühlen ohne Gefühle« wäre eine sinnvolle Umschreibung für Meditation. In der Meditation geht es um die Ausbreitung von Seinsqualitäten, nicht darum, Gedanken und Gefühle zu haben, sondern darum, bestimmte Eigenschaften zu sein. Es ist kein starrer Zustand, sondern ein Werden, ein Einschenken von mystischem »Wein«, ein Geschehenlassen – Hingabe an ein Geschehen.
Wer aufmerksam in seiner Selbsterfahrung ist, wird bemerken, daß das Denken leicht im Bereich des Kopfes zu lokalisieren ist. Schwerer ist es, das Gefühl zu lokalisieren. Es sind so viele Körperstellen betroffen. – Was geschieht im Körper – und wo?
Nichts wird fixiert. Jede Absicht wird fallengelassen. Meditation bedeutet, sich alles gefallen zu lassen – doch so, daß es auch wirklich »gefällt«, ohne Reaktion. Heitere Wunschlosigkeit. Wer tiefer geht, meditiert über sein Niemand-Sein – dann über sein Niemals-Sein – und wer es wagt, meditiert über sein Nicht-Sein. So fährt der Sufi fort, sein Dasein zu erlösen. Wer meditiert, schenkt sich selbst. Versuchen Sie es – zehn Minuten täglich. Machen Sie erst kleine, dann immer größere Geschenke der Liebe, Sanftmut und Freude.
Nach der Sufi-Methode ist es möglich, jeden Punkt im Körper, an dem man etwas erlebt/erfährt, ganz präzise anzugeben. Man kann also genau sagen, an welchem Punkt eine ganz bestimmte Erfahrung gemacht wird. Viele haben schon erfahren, daß Gefühle Schmerzen im Herzen oder einen Druck in Brust oder Bauch hervorrufen können. Für die verschiedenen Ebenen des Erfahrens und Erlebens gibt es bestimmte Zentren im Körper – Sende- und Empfangsstationen. Die Sufis unterscheiden sieben oder neun dieser Subtilorgane oder »Lataîfe«. Die folgende Übung zur Erweckung der Lataîfe soll nach der sufischen Tradition bereits von Jesus und seinen Jüngern durchgeführt worden sein.
DIE ÜBUNG
Die besten Zeiten zur Durchführung dieser Übung sind folgende: – während der Morgendämmerung, – gegen 11.oo Uhr morgens, – während der Abenddämmerung. – Man nimmt die beschriebene Kauerhaltung ein. Der Schneidersitz ist ebenfalls erlaubt. Ein Kissen zwischen Füßen und Gesäß kann Störungen durch Schmerz und Spannung im Körper verhindern. – Die linke Hand wird auf die rechte Schulter gelegt. – Die rechte Hand wird auf die linke Schulter gelegt (die Arme liegen jetzt über Kreuz). – Es wird ausschließlich durch die Nase geatmet. – Nun stellt man sich ein leeres Dreieck vor – etwa in der Größe der Fläche, auf der man sitzt. Dabei wiederholt man innerlich die Besinnungsformel: »Ich denke an die Einheit aller, die in der Arbeit sind.« oder »Ich denke an die Einheit aller, die auf dem Weg sind.« Dieser Übungsteil soll genau fünf Minuten dauern.
Im zweiten Teil der Übung wird die Körperhaltung beibehalten. – Der Kopf wird jetzt langsam über die linke Schulter gewendet – so weit, bis Kopf und Schulter parallell sind. – Jetzt stellt man sich mit geschlossenen Augen die Farbe Zitronengelb etwa einen halben Meter vor den Augen vor. – Danach stellt man sich das Wort »Gedanken« vor der Farbfläche vor. – Der Atem wird angehalten, bis die gesamte Vorstellung durchgeführt ist. – Erst wenn man sich beides vorgestellt hat, wird wieder geatmet: tief durch die Nase ein – dann tief aus – und wieder ein.
– Nach dem Einatmen hält man den Atem wieder an und läßt den Kopf nach unten sinken, bis die Wange auf dem rechten Handrücken aufliegt. – Erst nachdem der Kopf/die Wange sanft und ohne Anstrengung auf den Rücken der rechten Hand gefallen ist, wird der angehaltene Atem zusammen mit dem göttlichen Laut und Namen Gottes Hû (wörtl. Gott ist) wie ein barmherziges Stöhnen durch den Mund entlassen. Dies ist ein Akt der Erleichterung im Namen Gottes und gleichzeitig eine Erinnerung an Gott. – Danach wird der Atem wieder angehalten.
– Mit angehaltenem Atem wird der Kopf wieder in die Position vor dem Fall zurückgebracht und nach rechts hinten gewendet, bis er parallel zur Schulter ist. – Nun stellt man sich – noch immer mit angehaltenem Atem – die Farbe Dunkelrot und davor das Wort »Seele« vor. – Erst dann atmet man wieder tief durch die Nase ein – dann tief aus – und wieder ein.
– Nach dem Einatmen hält man den Atem wieder an und läßt den Kopf nach unten sinken, bis die Wange auf dem linken Handrücken aufliegt. – Erst nachdem der Kopf/die Wange sanft und ohne Anstrengung auf den Rücken der linken Hand gefallen ist, wird der Atem mit einem Hû durch den Mund entlassen. – Danach wird der Atem wieder angehalten.
– Mit angehaltenem Atem wird der Kopf in seine gewohnte Haltung zurückgebracht (geradeaus). – Dann läßt man ihn – immer noch mit angehaltenem Atem – in den Nacken sinken. – Nun stellt man sich – mit noch immer angehaltenem Atem – die Farbe glänzend Schwarz oberhalb der Stirn vor. – Zusätzlich stellt man sich das Wort »Intuition« vor der Farbfläche vor. – Erst dann atmet man wieder: tief ein – tief aus – tief ein.
– Mit angehaltenem Atem hebt man den Kopf behutsam und läßt ihn dann nach vorn sinken. – In dem Moment, in dem der Kopf seine normale, aufgerichtete Haltung erreicht, stellt man sich – nur für den Bruchteil einer Sekunde – die Farbe Weiß und in diesem Blitz von Weiß das Wort »Bewußtsein« vor. – Dann läßt man den Kopf ganz auf die Brust fallen, bis das Kinn auf dem Brustkorb aufliegt. – Jetzt stellt man sich mit noch angehaltenem Atem die majestätische Farbe Grün vor und davor das Wort »Wahrheit«. – Dann läßt man den Atem mit einem Hû durch den Mund entweichen.
– Mit angehaltenem Atem hebt man den Kopf wieder in seine normale Position und dreht ihn dann nach links, bis er parallel zur Schulter ist. – Man stellt sich die Farbe Zitronengelb vor und wiederholt den gesamten zweiten Übungsteil 18 Minuten lang immer wieder. Im dritten Teil der Übung sitzt man in derselben Haltung wie zu Beginn der Übung. Jetzt wird wieder ausschließlich durch die Nase geatmet. Man wiederholt die Besinnungsformel: »Ich stelle mir vor: das Herz des Meisters (Sheykhs), das die Wahrheit verkündet.« Das Aufsagen der Formel wird unterstützt durch die innere Vorstellung und Konzentration. Die gesamte Übung soll ein bis zwei Jahre lang regelmäßig jeden Tag gemacht werden. Über das Ende der Übungszeit entscheidet ein geistiger Meister. Im Zweifelsfall oder wenn Sie allein üben, sollten Sie spätestens nach einem Jahr einen SufiLehrer um Rat fragen.
DIE DONNERSTAGSÜBUNG
Diese Übung ist ein Ersatz für die Verbindung mit dem Meister. Der Neuling übt sie einmal pro Woche, donnerstags nach Sonnenuntergang. – Man sitzt in der Kauerhaltung. – Die Hände liegen mit den Handflächen auf den Knien. – Man atmet zehn Minuten lang tief durch die Nase und hört dabei eine Ney-Musik der Mevleviyye (Tanzende Derwische aus Konya). Die Struktur der eigentlichen Übung ist folgende: – Konzentration auf das eigene Herz. – Gleichzeitig denkt man an das eigene Ich. – Dazu spricht man innerlich das Wort Lâ (keiner, nicht, nichts). – Konzentration auf das »Dritte Auge« auf der Stirn. – Währenddessen denkt der Übende an alle Menschen, die ihm den geistigen Weg nahegebracht haben. – Dazu spricht er innerlich das Wort ilâha (Gottheit).
– Dann konzentriert er sich auf das »rechte Herz« (genau spiegelgleich gegenüber dem Herzen).
DAS DIENEN
– Währenddessen denkt er an die »Arbeit der Sterne am Firmament«. – Zugleich spürt er die Schwere seines rechten Armes (dessen Handfläche jetzt nach oben gerichtet ist). – Dazu spricht er innerlich das Wort illa (es sei denn, außer, wenn nicht). – Erneute Konzentration auf das Herz. – Gleichzeitig denkt man an das eigene Selbst. – Dazu wird innerlich das Wort Llâh (Gott) gesprochen. – Der Zyklus (Konzentration auf das Herz/Denken an das eigene Ich und innerliches Aussprechen des Wortes Lâ) beginnt wieder von vorn. Die Übung wird dreißig Minuten lang durchgeführt. Das Lâ ilâha illa Llâh kann man sich auf einer Kassette anhören, bis seine Intonierung in Fleisch und Blut übergegangen ist.
»Keine Seligkeit, ohne zu dienen.« Ein junger Sufi-Scheich hat diesen weisen Satz geprägt. Mit »dienen« ist kein Ableisten gemeint. Dienen heißt in Gott aufzugehen, eins mit seinen Geschöpfen zu sein, die Bedürftigkeit des anderen/der anderen zu begreifen. Dienen bedeutet, lieben zu dürfen. Dienen bedeutet ausgewählt zu sein, im Geben angenommen zu sein. Es ist nichts Altruistisches dabei. Hier wird vielmehr ein Verlangen, ein Grundbedürfnis des Menschen befriedigt. Der Sufi dient Gott, dem Meister, den Brüdern und Schwestern, den Menschen, den Geschöpfen und sich selbst. Deswegen bedient der Sufi-Gastgeber ebenso gern wie freudig seinen Gast oder noch lieber die häufigen und zahlreichen Gäste. Darum bittet der Bruder den Bruder/die Schwester die Schwester ihm/ihr dienen zu dürfen. Dienen ist ein göttlicher Dienst, ein Fest. Wer richtig dient, ist hingerissen. Dem Sufi-Neuling sei gesagt; »Du hast ab heute die Erlaubnis zu dienen.«
BRÜDERLICHKEIT/SCHWESTERLICHKEIT
BETEN UND BITTEN
Gemeinschaft ist ein Teil des Weges. Gemeinschaft bedeutet, mit allen Menschen einig zu sein, denn Adam und Eva sind aller Menschen Mutter und Vater.
Wie Schmuckpflanzen in einem Garten, so wirken Gebete im Garten Gottes. Wer nicht betet, sollte wissen, daß er sich der feinsten Genüsse beraubt. Nach Auffassung der Sufis ist es nicht Gott, der von den Gebeten »profitiert«, sondern ganz allein der Mensch, denn während der Mensch betet, ist er mit seinem Selbst, tief im Herzen, intim und innig vereint. Beten bedeutet für den Sufi, dem Schöpfer für jedes Geschenk und jede Prüfung dankbar zu sein, die das Leben bereithält.
Warum sollten die Menschen also nicht brüderlich und schwesterlich miteinander leben? Etwa nur, weil man im Leben Eifersucht, Neid und Mißgunst erleidet? Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit ist das Bekenntnis zu einem »Bund«: Leben für Leben, Leben mit Leben, Geben und Geben. Für den Sufi bedeutet das, daß der Bruder/die Schwester wichtiger ist als man selbst – jemand, mit dem man äußerste Höflichkeit im Umgang pflegt, den feinen Rückzug auf sich selbst. Wer Freunde verliert, weil er sich auf den Weg begibt, dem werden bessere gegeben. Wer sich darum sorgt, daß diese Freunde plötzlich fehlen, wird bald merken, daß Brüderlichkeit/ Schwesterlichkeit ihm ungeahnte Sicherheit gibt.
Dem Gebet geht die Reinigung voraus. Sie trennt den Gottesdienst vom Alltäglichen. Dann macht der Sufi die Hände auf, öffnet sich, um leise oder laut zu beten. Der Wortlaut eines Bittgebets kann von jedem Beter frei gewählt werden. Anders ist das bei wirksamen Standardgebeten, deren Wortlaut genau festgelegt ist. Kommt jemand vom Christentum auf den Sufi-Weg, so mag er das Vaterunser beten, wobei er statt »Vater unser« »Elli, Elli« und »Führe uns recht in der Versuchung« sagt. Das folgende Gebet ist das von den Sufis am häufigsten gebetete, durch das der Mensch alle Eröffnungen seiner Seele gewinnt.
Al-Fâtihah - Die Eröffnende (1. Sure des Koran)
DIE LIEBE
Bismi-l-lâhi-rachmâni-r-rachîm (Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Allerbarmers) Al-hamdû li-llâhi rabbi-l-‘âlamîn (Aller Dank sei Gott, dem Herrn der Welten) Ar-rachmâni-r-rachîm (Dem Gnädigen, dem Allerbarmer) Mâliki yaümi-d-dîn (Dem König am Tag des Gerichts) Ij-jâka na‘bûdû wa ‘ijâka nâsta ‘in (Dir dienen wir, und Dich gehen wir um Hilfe an) Ichdina-s-sirâta-l-mustaqîm (Führe uns auf den geraden Weg) Sirata-l-lasîne an‘amta ‘aleihim (Den Weg derer, denen Du Gnade erweist) Gheiri-l-maghdûbi ‘aleihim (Nicht derer, denen Du zürnst) Wâ-lâ dôlîn (Und nicht den der Irregehenden) Anfänger können dieses Gebet ein- oder siebenmal am Tag sprechen, und zwar zu jeder Zeit, die sie selbst für richtig halten.
»Sein Herz wird zu seiner Schule. Sein Lehrer ist sein Herr.« Was in der Schule des Herzens studiert wird, ist die Liebe – die Liebe des Schöpfers, die alles Geschaffene durchdringt. Von Rabia, der großen Sufi-Meisterin, wird gesagt, daß sie auf dem Vorrang der Liebe bestand, darauf, daß Liebe das Sufitum ist. Wir lieben, um geliebt zu werden. Doch um wahrhaft lieben zu können, brauchen wir jemanden, dessen Liebe ansteckend ist, dessen Herz ein Quell der Liebe ist – einen Liebesmeister. Gebe Gott, daß Sie Ihrer göttlichen Liebesflamme möglichst bald begegnen! Hier noch ein Rezept: Wenn Sie das nächste Mal Brot backen, nehmen Sie all die Ingredienzien, die Sie mögen, doch während Sie den Teig rühren und kneten, sagen Sie 124mal Ya wadud (Oh du Liebender). Nach jedem siebten Ya wadud blasen Sie auf den Teig. Dann wird das Brot gebacken und mit Freunden gegessen. – Wir wünschen einen wahrhaft gesegneten Appetit!
DER LEHRER
Wir gehen davon aus, daß Sie noch keinen Lehrer haben – wobei das Wort »haben« unserem Anliegen eigentlich widerspricht. Sie sind noch nicht bei einem Lehrer, wäre richtiger. Auf dem Weg ist der Lehrer Vater und Mutter, Schwester und Bruder – und Kind zugleich. Er ist ein Spiegel. Wo immer sich der Blick hinwendet – da ist er. Später trifft das nur noch für Gott zu. Die Hände aller Lehrer und Meister bilden eine Kette, über die die Wahrheit weitergereicht, die Liebe von einem zum anderen gegeben wird – wie ein Kuß, der die Menschheit mit dem Genuß Gottes speist. Der eine gibt es an den anderen weiter, damit dieser es »weiß«. Das nennt man Initiation. Alle Initiierten bilden eine Kette, die über die Oberhäupter und Heiligen des sufischen Weges bis zu den bekannten und unbekannten Propheten reicht. Die Propheten sind Menschen, die auf einer Stufe der Vollendung angelangt sind. Von den Propheten reicht die Kette weiter zu Gabriel, dem Offenbarungsträger. Er gleicht der letzten Zustandsform oder besser, dem letzten formhaften Zustand irgendeines Menschen. Nach Gabriel kommt das göttliche Reich, in dem der Mensch ohne alle Form ist. Hier sind keine Gedanken, kein Gefühl, nicht einmal Existenz. Der Mensch geht ein in Gott. Die Kette ist geschlossen. Er kam von Gott und ist zu Gott zurückgekehrt. Ein
wenig Leben war dazwischen. Nimmt er die Hand eines Meisters, so ist der Sufi-Aspirant an jene Kette angeschlossen. Man sagt, er »nimmt den Bund«. Ein Treueverhältnis zwischen Lehrer und Schüler, Seele und Seele, Geist und Geist beginnt. Wer das sucht, mag sich an den Autor dieses Buches wenden, der, so Gott will, gern diesbezügliche Ratschläge gibt (Institut für Sufi-Förderung und Sufi-Forschung der BRD, Sektion Österreich, Oberleiten 13, A-4881 Straß).
LEHRZEIT UND ÜBUNGSZEITEN
Für die Niederwerfung: – eine halbe bis eine Stunde vor Sonnenaufgang, – kurz nach dem höchsten Sonnenstand,
Das klassische Noviziat der Sufis dauert 1001 Tag (daher auch die 1001 Nächte im Märchen). Viele sprechen von zwölf Jahren, die zur Großen Reife notwendig sind. In unserer Zeit jedoch bewegt sich selbst der Himmel schneller. So kann auch die notwendige Lehrzeit – bei konsequentem Studium eines authentischen Weges – durchaus kürzer sein. Die individuelle Dauer des Noviziats richtet sich nach den Bedürfnissen des einzelnen Aspiranten.
– etwa zwei Drittel zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Sonnenstand, – nach Sonnenuntergang, – nach Einbruch der Dunkelheit. Für die tägliche Reueminute: nach Sonnenuntergang.
Wir raten, nach spätestens einem Jahr der Übung den Rat eines Lehrers einzuholen.
Für die Selbst-Kontrolle angesichts des Todes: montags nach Sonnenuntergang.
Als Übungszeiten werden – in der Reihenfolge ihrer Wirksamkeit – empfohlen:
Es sei dem Übenden jedoch freigestellt, auch andere Zeiten zu nutzen.
– die Morgendämmerung bis Sonnenaufgang, – das letzte Drittel der Nacht, – 20 bis 45 Minuten nach Sonnenaufgang, – vormittags von 10.00 bis 11.00 Uhr. Für das Gottesgedenken, den Sikr: nach Sonnenuntergang. Für das Lesen des Eröffnungsgebets für den geistigen Lehrer: 2.30 Uhr nachts.
DIE EINKEHR
Zehn, zwanzig, dreißig oder vierzig Minuten täglich soll der Anfänger der Einkehr widmen – je nachdem, welche und wieviele Übungen er machen will. Der Rückzug zur Übung wird Einkehr genannt. Eine wirkliche Einkehr findet jedoch erst statt, wenn man sich mehrere Tage und Nächte lang zurückzieht. Diese richtige sufische Einkehr – Khulwat genannt – ist für den Anfänger nicht geeignet, da sie für ihn eine zu große seelische Belastung darstellt. Sie umfaßt: – Fasten, bis auf eine halbe Scheibe Brot mit Salz und Öl zweimal täglich, – niemanden sehen, mit niemandem sprechen, – völlige Dunkelheit, – keine Ablenkung durch Radio, Fernsehen oder ein Buch, – maximal zwei Stunden Schlaf bei Tag und Nacht. – Die restliche Zeit (etwa 22 Stunden pro Tag) wird mit fortdauerndem Gebet und ständiger Übung verbracht. Dies alles tut man Tag für Tag und Nacht für Nacht, drei, vier, sieben, einundzwanzig, vierzig, einundvierzig oder siebzig Tage und Nächte lang. Aber, wie gesagt: Diese Form des Rückzugs ist für Anfänger verboten!
Für ein Wochenende jedoch kann man sich an einen stillen Ort zurückziehen, um sich zu sammeln und seine täglichen Übungen zu machen. Dabei kann man Sufi-Bücher lesen und findet Zeit für das Gebet. Die Welt mag zwei, drei Tage lang warten.
DIE PILGERFAHRT
BESUCHE
Der Weg ist leer ohne göttliche Kräfte. Technik allein genügt auf Dauer nicht. Die Übung schafft nur ein Gefäß. Der Trank, der es füllt, wird als Geschenk empfangen. Es kann vom Herzen des Meisters zu dem des Aspiranten gelangen, wenn dieses offen dafür ist.
Auch Besuche sind eine Übung, mit der ein Sufi alle Arten von äußerer und innerer Höflichkeit verbindet. Wer einen anderen Menschen besucht, bringt geistige Botschaften in Form von Zuständen und Taten mit. Die Höflichkeit eines Sufi verlangt, keine schlechten Zustände mitzubringen – es sei denn, daß er zu seinem Lehrer geht.
Eine solche Herzenskraft geht auch von Pilgerstätten, etwa von den Gräbern der Heiligen, aus. Diese Gräber sind die stärksten Kraft-Stationen, in deren Nähe auch die belastetste Seele all ihre Sorgen vergißt. Die Energie, die die Heiligen während ihrer Lebenszeit angesammelt hatten, ist in diesen Gräbern verewigt und strahlt von dort aus. Daher ist die Pilgerfahrt zu den Gräbern der Heiligen heilige und auch heilende Pflicht für jeden Sufi – ein unvergleichliches Erlebnis, stärker und beeindruckender als alle Drogen der Welt. Der Sinn der Pilgerfahrt liegt in der unmittelbaren Begegnung mit einer heiligen Seele, die keinerlei irdische Ambitionen mehr hat. Durch die Begegnung mit dieser Seele, mit dem Geist dieses Ortes – die Sufis nennen ihn ruch – wird die Seele des Besuchers entwirrt. Dies ist der Ort, an dem der Mensch seine tiefere Existenz anschaulich und aufatmend spürt und wo er sich die Frage stellt, wie es wäre, wenn auch er selbst so frei von jedem irdischen Ehrgeiz würde.
Der Sufi besucht Alte, Schwache und Kranke – und Menschen, die Vorbild für ihn sind. Wichtig ist auch der Besuch von Freunden, wobei dringend empfohlen wird, besonders die alten Freundschaften zu pflegen und sie nicht um neuer Freundschaften willen aufzugeben. Besonders zu erwähnen ist, daß die Sufis ihre Brüder und Schwestern auf dem Wege besuchen sollen. Diese Besuche sind eine Pflicht für jeden Sufi. Wo eine Sufi-Gemeinschaft besteht, besucht man sich donnerstags abends. Man trifft sich jeweils dort, wo der wöchentliche Sufi-Tanz stattfindet. mit.
Übrigens: Der Besucher bringt ein kleines Gastgeschenk
GASTFREUNDSCHAFT
HÖFLICHKEIT UND LEBENSART
Jeder, der zu Besuch kommt, ist sofort die Königin/der König des Hauses. Der Gastgeber wird auf der Stelle zum Diener des Gastes. Er zieht ihm die Schuhe aus, serviert Tee, Kaffee oder ein Erfrischungsgetränk und einen kleinen Imbiß.
Lebensart ist Selbstkultur, ein in Form gebrachter Reflex der Seele. Die Schöpfungskraft wird dabei in eine Verhaltens- oder Umgangsform gebracht. Um höfliche Umgangsformen zu pflegen, braucht man Kraft – die Absicht und die Entschlossenheit, das Ich zu meistern, aus der Trägheit aufzustehen. Hier einige Übungen für Anfänger:
Zur Gastfreundschaft gehört auch, daß man dem Gast ausschließlich gute Worte schenkt. Wer beten kann, zieht sich (nur kurz) zurück, um ein Bittgebet für den Gast zu sprechen. Dem Gast wird alles aufgetragen, was die Küche an Schätzen zu bieten hat. Nichts Gutes wird für den Gastgeber oder seine Familie zurückgehalten. Drei Tage lang ist die Gastfreundschaft Pflicht. Danach muß und darf der Gast um Entlassung bitten, die der Gastgeber gewährt – oder auch nicht. Auch das ist Sufi-Höflichkeit.
– Nur Positives sagen – ausschließlich und immer. – Niemals »nein« sagen, bestenfalls schweigen oder sagen: »So Gott will«. – Augen und Ohren vor allem Schlechten und Perversen schließen. Und die letzte Übung: – Niemals über das Essen klagen. Schlimmstenfalls schweigend beiseite schieben.
ORTE DES FRIEDENS
GRÜSSEN
In jedem Haus sollte es einen Ort geben, an den man sich in Stille und Frieden zurückziehen kann. Ein kleines Kämmerchen genügt als Refugium für Übung und Gebet.
Ein Gruß ist eine öffentliche Übermittlung von guten Wünschen. Was wünschen wir uns, wenn wir uns grüßen? Die Zeit soll eine gute sein: »Guten Morgen«, »Guten Tag«, »Guten Abend«, »Gute Nacht«.
Diesen Raum darf niemand in Arger, Eifersucht, Zorn, Neid oder Wut betreten. Und niemand darf in diesem Raum laut, bitter oder aggressiv sein. Dies ist ein Ort bewußter und absichtsvoller Tabus, ein Ort der sichtbaren und fühlbaren Abgegrenztheit, ein kleines Heiligtum – ein Ort der Einkehr und des Friedens. Die ganze Welt, das ganze Haus ist Ich-Raum. Eine winzige Kammer genügt als Selbst-Raum. Wir werden sehen, wie das Ich auf diese Herausforderung reagiert.
Nur was Frieden bringt, den Frieden der Seele, ist für den Sufi gut. Was läge also näher, als den Frieden selbst zu wünschen. Daher lautet der sufische Gruß: »Ich wünsche dir Frieden.« - »Ich wünsche Ihnen Frieden.« Allein, auch in diesem Gruß könnte noch ein Quentchen an Überlegenheit mitschwingen. Der Grüßende könnte sich bereits in Frieden wähnen, doch den, den er grüßt, nicht. Aus diesem Grund sei Freund wie Feind mit »Ich wünsche uns Frieden« gegrüßt.
INTIMITÄTEN
Beten, Üben und Höflichkeit sind Intimitäten, denn sie kommen aus einer Nähe zu sich selbst. Sie finden auf den Brükken und an den Nähten des Seins statt, dort, wo der lange Brief des In-Wirklichkeit-doch-nicht-von-der-Welt-Seins geschrieben wird – mit Worten, die unaussprechlich sind, voll von den Tiefen des überexistentiellen Seins und den Meeren der unerklärbaren Erfahrungen. Wer das tut, braucht Schutz: einen möglichst ungestörten Ort, eine sichere Zeit – und eine weite Umhüllung für den Körper. Das kann eine Decke sein, ein weiter Mantel oder eine Kopfbedeckung – Gewänder, die einhüllen und von der Außenwelt isolieren.
MEINE POSITIVEN EIGENSCHAFTEN
Eine sufische Übung Eingehüllt und von der Außenwelt isoliert oder auch ohne Verhüllung machen Sie folgende Übung: – Bekennen Sie sich selbst, welche positiven Eigenschaften Sie haben. Sagen Sie diese Eigenschaften dreimal halblaut vor sich hin. – Steigern können Sie diese gar nicht so leichte Übung, indem Sie Ihre positiven Eigenschaften Ihren Mitmenschen mitteilen. – Setzen Sie danach diese postiven Eigenschaften ganz bewußt und gezielt ein. Das sollte doch leicht sein, oder?
DER SCHÖNHEIT GEDENKEN
»Gott ist schön und liebt die Schönheit.« Dies ist ein Satz, den ein Sufi nur allzu gern bedenkt. In Wahrheit gibt es nichts, das ohne Schönheit wäre. Auf die Frau als Zeichen der Schönheit Gottes hat einer der großen Sufis unsere Aufmerksamkeit gelenkt: »Denn Gott kann unstofflich nicht sein. Und die Frau ist der schönste der Anblicke Gottes.« Die nun folgende Übung heißt »Zeichenlesen«, und sie besteht darin, alles Geschaffene als Zeichen Gottes zu sehen. Was ist es, was uns an einer Frau fasziniert? Es ist die Begegnung mit dem Göttlichen – das Unaussprechliche, das unerklärlich Unerklärte. Wenn Göttlichkeit auf Göttlichkeit trifft, wenn Gott in seinem Geschöpf erkannt wird – dann erfährt man Gott selbst. Denn hat nicht Gott den Menschen erschaffen, »Damit Er Sich Selbst durch Sich Selbst im Erkennenden erkennt?« Doch erst die Übung macht den Meister.
DIE GOTTGESCHENKTE VISION
Was ist göttlich? Was nicht? Wo ist der gerade Weg? Wo nicht? Auf dem Sufi-Weg kommt es darauf an, die kürzeste Strecke zu wählen. Ein Sufi-Meister sagte dazu, indem er auf Herz und Stirn wies: »Das (verbunden) ist der Weg! Nicht mehr als ein halber Meter.« Noch kürzer ist dieser Weg, den der Prophet empfiehlt: »Sage (einfach) Gott. Und dann stehe dazu.« Auf einem solchen Weg gibt es keine Verzögerung. Doch welcher Novize vermag ihn schon zu gehen? Es ist also nur recht und billig, daß wir ihm einen Kompaß mit auf den Weg geben – die gottgeschenkte Vision, das Istihara-Omen. Wer immer an einer Wegkreuzung steht und einen Rat braucht, der bitte Gott auf diese Art um ein Zeichen oder Omen.
ISTIHARA – DAS GEBET UM EIN OMEN
– Während man dieses Lichtkreuz siebenmal zeichnet, spricht man halblaut die folgenden fünf Buchstaben: ha mim ha lâm ya
Istihara ist das traditionelle Sufi-Gebet um ein göttliches Zeichen. Diese Übung, die nur in entscheidenden Phasen des Lebens durchgeführt werden soll, dauert einen, drei oder sieben Tage. Sie wird in der folgenden Abfolge gemacht: – rituelle Waschung, – zwei Niederwerfungen, – Einnehmen der Richtung und der Sitzhaltung. – Du‘a (Bittgebet) an Gott (die Handflächen zeigen dabei nach oben), in dem das gewünschte Zeichen exakt beschrieben und die unentschiedene Lage innerlich (vor Gott) formuliert wird. Bitte um ein deutliches Zeichen im Traum oder im Wachzustand. – Mit dem Mittelfinger der linken Hand wird ein Lichtkreuz auf die rechte Handinnenfläche gezeichnet:
– Dann wird halblaut (oder auch laut oder leise) die Sure Al-Fâtihah rezitiert. – Fortgeschrittene können danach dreimal die Sure Al-Ihlas rezitieren (112. Sure). – Man geht zu Bett, ohne etwas zu essen und zu trinken, ohne mit jemandem zu reden, ohne etwas zu lesen und ohne seinen Gatten/seine Gattin zu berühren. – Zum Einschlafen liegt man auf der rechten Seite, die rechte Handinnenfläche mit dem eingeschriebenen Lichtkreuz liegt unter dem rechten Ohr. Der linke Arm liegt auf der linken Körperseite auf. Das Herz weist in Richtung qibla/Ka‘ba (23 Grad Ost/Südost). – In dieser Haltung liegt man bis zum Einschlafen. – Ein deutliches Zeichen erhält man in der ersten, der dritten oder der siebten Nacht im Traum (oder im Wachzustand während des Tages). – Falls keine deutlicheren Zeichen auftauchen, bedeuten auftretende Farben folgendes: Rot und/oder Schwarz: Die Absicht fallenlassen! Grün und/oder Weiß: Die Absicht kann verwirklicht werden.
MOTIVE
Die Förderung der Intelligenz gehört ebenfalls zur Sufi-Methode. Das folgende Rad – eines von vielen, die der Autor als Lehr-Matrix verwendet – hilft dem Aspiranten, den Stand seiner eigenen Entwicklung und die Motive seines Handelns besser zu verstehen. Das Rad stellt uns fünf Fragen nach der Art unseres Tuns. Es fragt, wie stark wir uns von den anderen Menschen – und damit auch von uns selbst – abgrenzen, ausschließen oder mit ihnen übereinstimmen. Aus welchen Motiven handeln wir? Sehen wir uns aus innerer Not heraus gezwungen, das Gegenteil von dem zu tun, was andere uns an Absichten oder Gefühlen anbieten? Stehen wir unter dem Zwang, immer und überall ausschließlich in Opposition zu sein – im Wollen, im Fühlen und im Handeln? Oder sind wir gezwungen, immer und ewig anders zu sein, etwas Besonderes im Leben zu (er-)finden? Ein Differenzierungskünstler zu sein, der das Leben und die Lebensformen »alternativ« ergründet? Oder sind wir bereits bestrebt, dem anderen/den anderen ähnlich und daher auch schon näher zu sein, bedacht darauf, die passende Übersetzung der anderen in das eigene Leben zu finden, ihre Ähnlichkeit mit uns selbst nach und nach zu bekunden?
Was ist das Motiv der Lebenskraft in uns? Was macht uns krank? Was erregt unser Mitempfinden, unser Mitgefühl mit anderen und läßt uns gesunden? Sind wir den anderen nicht gleich – in unserer Lust ebenso wie in unseren alltäglichen Sorgen und Plagen? Wer Gleiches will, ist ein stückweit frei. Wer sich als gleich erkennt, für den wird Kantiges zu Rundem. Er nähert sich sich selbst. – Und hat er sich selbst gefunden, hat er das Ziel des Weges, das Zentrum des Rades erreicht. Das Andere (wollen/denken/tun) Interferente Motive Das Ähnliche (wollen/denken/tun) Interferente Motive
Das Selbe (wollen/denken/tun) Kohärente Motive Das Gegenteil (wollen/denken/tun) Polare Motive
Das Gleiche (wollen/denken/tun) Symmetrische Motive
LINKS, RECHTS UND DAS BEWUSSTSEIN DAZWISCHEN
Es sind die ganz kleinen Dinge, das Wenige und Feine, die auf dem Weg den Ausschlag geben und den Zustand der Seele bestimmen. Jedes Wort des Dankes glättet, pflegt und bringt »schönes Wetter«. Jede milde Handlung, jede Freizügigkeit läßt den inneren Himmel blau werden. Jede Versenkung in das eigene Innere erzeugt duftende Rosen. Öffnen wir die Tore unserer Persönlichkeit, wird das Herz seufzend frei. All diese Weisheit läßt sich auch erfahren – in Übung und Praxis, die hoch über allem Nachdenken steht. Manchmal bringt ein einziges Mittel die Heilung – ein paar wenige Tropfen, und der Körper ist geheilt. Ein solches Mittel ist der bewußte Einsatz von linker und rechter Hand und linkem und rechtem Fuß. Dadurch, daß man bestimmte Handlungen nur mit der rechten oder der linken Hand macht, entwickelt man ein größeres Bewußtsein für die alltäglichen Handlungen und verfällt nicht so leicht in »bewußtlose« Automatismen. Der »Anfänger« soll mit der rechten Hand essen und trinken und mit dem rechten Fuß jeden neuen Raum betreten. So ist er bald auf dem rechten Weg.
Literatur Bakhtiar, Laleh: Sufi; Kösel, München, 1987 Deikmann, Arthur L: Therapie und Erleuchtung; Rowohlt, Reinbek, 1986 Dschalaloddin Rumi: Von allem und einem; Eugen Diederichs, München, 1988 Lings, Martin: Was ist Sufitum;Aurum, Braunschweig,1990 Peseschekian, Nossrat: Der Kaufmann und der Papagei; Fischer, Frankfurt, 14. Aufl., 1990 Schimmel, Annemarie: Gärten der Erkenntnis; Eugen Diederichs, München, 3. Aufl., 1991 Schimmel, Annemarie: Rumi. Ich bin Wind und Du bist Feuer; Eugen Diederichs, München, 7. Aufl., 1991 Shah, Idries: Die Hauptprobe; Herder, Freiburg, 1984 Shah, Idries: Die fabelhaften Heldentaten des Mullah Nasruddin; Herder, Freiburg, 4. Aufl., 1990 Shah, Idries: Karawane der Träume; Sphinx, Basel, 1982 Shah, Idries: Die Sufis; Eugen Diederichs, München, 7. Aufl., 1990 Steffän, Steff: Allahs Diener in Europa, Dagyeli, Frankfurt, 1992 Stoddart, William: Das Sufitum; Aurum, Braunschweig, 1979 Tweedie, Irina: Der Weg durchs Feuer; Ansata, Interlaken, 2. Aufl., 1989
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