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Wilfried Schönbäck Wolfgang Blaas Johann Bröthaler (Herausgeber)
Sozioökonomie als multidisziplinärer Forschungsansatz Eine Gedenkschrift für Egon Matzner
SpringerWienNewYork
Univ.-Prof. Mag. Dr. Wilfried Schönbäck A.o. Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Wolfgang Blaas Ass.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Johann Bröthaler Technische Universität Wien, Department für Raumentwicklung, Infrastruktur- und Umweltplanung, Fachbereich Finanzwissenschaft und Infrastrukturpolitik, Wien, Österreich
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© 2008 Springer-Verlag /Wien Printed in Germany SpringerWienNewYork ist ein Unternehmen von Springer Science + Business Media springer.at Satz: Reproduktionsfertige Vorlage der Autoren Druck: Strauss GmbH, 69509 Mörlenbach, Deutschland Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier SPIN 11890485
Mit 26 Abbildungen
%LEOLRJUD¿VFKH,QIRUPDWLRQGHU'HXWVFKHQ1DWLRQDOELEOLRWKHN Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen 1DWLRQDOELEOLRJUD¿HGHWDLOOLHUWHELEOLRJUD¿VFKH'DWHQVLQGLP,QWHUQHWEHU http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-211-69923-2 SpringerWienNewYork
Danksagung Folgende Institutionen haben die Drucklegung dieser Gedenkschrift dadurch XQWHUVWW]WGDVVVLH7HLOHGHU$XÀDJHHUZRUEHQKDEHQXPLQLKUHP:LUNXQJVkreis an das Leben und Werk Egon Matzners zu erinnern und zur Weiterentwicklung seiner Sichtweisen beizutragen: Fakultät für Architektur und Raumplanung der Technischen Universität Wien Gewerkschaft der Privatangestellten Kammer für Arbeiter und Angestellte Wien Österreichischer Städtebund Renner-Institut Dafür sei ihnen an dieser Stelle herzlich gedankt.
Vorwort Egon Matzner wäre am 2. März 2008 siebzig Jahre alt geworden. Die Schmerzen und die Trauer, die sein früher Tod am 15. September 2003 ausgelöst hat, sind bei vielen seiner Freunde, Weggefährtinnen und Leser früherer Tage durch ein stilles Bedauern überlagert worden, dass seine Stimme der kritischen Vernunft und der Obsorge für Benachteiligte nicht mehr erklingt, weil viele Anlässe dieser Stimme bedürften. Es lag daher nahe, sich erneut mit dem von ihm hinterlassenen Werk auseinander zu setzen. Ein erster großartiger Band, der aus einer solchen Intention heraus entstand, ist „Sisyphus als Optimist – Versuche zur zeitgenössischen politischen Ökonomie“, herausgegeben von G. Chaloupek, A. Heise, G. Matzner-Holzer und W. Roth (VSA-Verlag, Hamburg, 2005). Die dort vorgetragenen Gedanken werden im vorliegenden Band aufgegriffen und es werden neue hinzugefügt, auch sie gedacht als Anstöße zur Weiterentwicklung der Sozioökonomie als interdisziplinärer Forschungsansatz. Die einleitenden Beiträge sind der Person, Lebensgeschichte und dem Wissenschaftsverständnis Egon Matzners gewidmet. Weiters werden wirtschaftspolitische Grundsatzfragen in der langfristigen Stabilisierungs- und Beschäftigungspolitik sowie der Wirtschaftspolitik in den Transformationsländern und im Land Steiermark erörtert. Sodann erfolgen Auseinandersetzungen mit dem meistverbreiteten Buch Egon Matzners, „Der Wohlfahrtsstaat von morgen“. Dabei geht es um die Wiederentdeckung gültig gebliebener Erkenntnisse in diesem Werk, um die Reform des Wohlfahrtsstaats, seine Messung und um den Finanzausgleich. Neue Herausforderungen in der Forschungs-, Technologie- und Innovationspolitik, im Gesundheitswesen, in der Verkehrspolitik und bei Post und Telekommunikation werden aufgezeigt. Stadtentwicklungsfragen in Graz sowie in Wien und Bratislava werden erörtert, wobei Grenzüberschreitungen eine wichtige Rolle spielen. In den Beiträgen über Globalisierung geht es darum, wer sie steuert, wie Europa in einer globalisierten Welt dasteht und wie die Konturen einer globalen normativen Synthese aussehen können. Entwicklungszusammenarbeit im Iran, in Mexiko und Mosambik wird an Hand konkreter Initiativen dargestellt. Zuletzt berichtet ein alter Freund Egon Matzners über seine Suche nach dem Grab Ludwig Wittgensteins, dem von beiden hoch verehrten Denker. Abgeschlossen wird der Band mit einer Bibliographie der Werke Egon Matzners. Mit diesem Gedenkband wird versucht, jene Theorien und empirischen Befunde zeitgenössischer politischer Ökonomie, zu deren Herausbildung Egon Matzner so eindrucksvoll beigetragen hat, weiter zu entwickeln. Wien, im Jänner 2008
W. Schönbäck, W. Blaas, J. Bröthaler
Inhaltsverzeichnis A.
Zu Person, Lebensgeschichte und Wissenschaftsverständnis von Egon Matzner
Wilfried Schönbäck: Egon Matzner 1938–2003 – Ein Nachruf auf den sozioökonomischen Forscher, akademischen Lehrer und gesellschaftskritischen Denker.......................................................................3 Gernot Grabher: "Man muss sich Sisyphos als Optimisten vorstellen" .....................25 Werner W. Ernst: Weggegangen. Bericht über meine letzte Kontroverse mit Egon Matzner......................................................................................................29 Wolfgang Blaas: Das Dilemma der Gefangenen – Ökonomen. ..................................41 Peter Henseler: Auf(zu)brechende Arithmomorphien, Situationslogik, spontane Ordnung, soziale Gerechtigkeit und Konstruktivismus........................51 B.
Wirtschaftspolitische Grundsatzfragen
Klaus Mackscheidt: Die langfristige Perspektive bei Keynes..................................... 75 Fritz W. Scharpf: Die Lage – zwanzig Jahre später .................................................... 83 Geoffrey M. Hodgson: Fifteen Years of Economic Transition ................................... 89 Herbert Paierl: Wirtschaftspolitik in der Steiermark: Cluster & Helle Köpfe............ 97 C.
Der Wohlfahrtsstaat von morgen
Ewald Nowotny: Der Wohlfahrtsstaat von morgen – heute betrachtet...................... 117 Michael Getzner: Aufruf zur Wiederentdeckung des „Wohlfahrtsstaats“................. 125 Bruno Rossmann: Für einen reformierten Wohlfahrtsstaat!...................................... 135 Ernst Gehmacher: Sozialkapital – sein Wert zeigt sich besonders, wenn es schwindet ............................................................................................ 145 Alfred Franz: „Staat“: was ist das? Und wenn man’s weiß: wie messen? ............... 151 Johann Bröthaler: Wandel und Beständigkeit – eine Retrospektive des österreichischen Finanzausgleichs .................................................................... 171 D.
Neue Herausforderungen in ausgewählten öffentlichen Aufgabenbereichen
Sabine Mayer: Die Relevanz des Kontexts beim Design von Instrumenten der Forschungs-, Technologie- und Innovationspolitik..................................... 193 Gerhard Fülöp: Morbiditätsbasierte Standort- und Kapazitätsplanung im Gesundheitswesen........................................................................................ 201
Wolfgang Hanko: Die Verkehrspolitik von morgen..................................................219 Jörn Kaniak: Zur Einführung marktwirtschaftlicher Elemente bei natürlichen Monopolen – mehr Murks als Markt.................................................................229 E.
Stadt- und Regionalplanung
Gerhard Rüsch: Graz West – Impulse der Stadtentwicklungspolitik........................239 Christof Schremmer: Wien – Bratislava und Centrope: Twin Cities im neuen Mitteleuropa? .................................................................249 F.
Veränderte Handlungsbedingungen durch verstärkte Globalisierung
Christian Smekal: Wer steuert die Globalisierung? ..................................................269 Monika Mokre, Sonja Puntscher-Riekmann: Europa in einer globalisierten Welt, oder: Mit Egon Matzner weiterdenken ....................................................275 Amitai Etzioni: Basic Contours of the Global Normative Synthesis .........................281 G. Aufgaben der Entwicklungszusammenarbeit Klaus Semsroth: Wiederaufbau der Stadt Bam .........................................................289 Christina Narval: Zur Entstehung und Entwicklung informeller Siedlungen im Verstädterungsprozess der Agglomeration Mexiko City .............................299 Friedbert Ottacher: Entwicklungsstrategien und praktische Projektarbeit von Horizont3000 in Mosambik – Ein Beitrag des autonomen Sektors zur österreichischen Entwicklungszusammenarbeit ................................................309 H. Ein Nachwort Josef Kühne: Suche nach Wittgensteins Grab...........................................................323 Verzeichnis der Werke Egon Matzners (Britta Haßelmeier) ....................................325 Autorenverzeichnis ...................................................................................................347
Abschnitt A
Zu Person, Lebensgeschichte und Wissenschaftsverständnis von Egon Matzner
Egon Matzner 1938–2003 Ein Nachruf auf den sozioökonomischen Forscher, akademischen Lehrer und gesellschaftskritischen Denker Wilfried Schönbäck
Egon Matzner wurde am 15. September 2003 völlig unerwartet aus dem Leben gerissen – während des Lauftrainings im Kurpark in Wien-Oberlaa. Wie so oft in seinem Leben wollte er durch Sport seine Lust auf zwischenmenschlichen Austausch und seine geistige Schaffenskraft stärken und sich fit halten für seine Familie. Bis zur letzten Stunde seines Lebens zeigte er kaum eine Einbuße an Vitalität. Immer, auch in tristen Lagen, zu einem klugen Scherz aufgelegt, erklärte er Tage vor seinem Tod seinen ehemaligen Mitarbeitern am Institut an der TU Wien, warum er seit Beginn seines Ruhestandes (1998) weniger freie Zeit als vorher habe: Weil er Einladungen zur Arbeit nicht mehr glaubwürdig mit dem Argument ablehnen könne, er habe keine Zeit. Weil er nur mehr anpacke, was ihm Freude bereite. Und weil die ihm verbleibende Zeit immer knapper werde. Das Leben sei begrenzt. „Es geht zu Ende“, sagte er. Wer dies begriffen habe, der habe das Leben verstanden. Mit dieser Weisheit schied Egon Matzner aus dem Leben. Er hinterlässt ein eindrucksvolles Lebenswerk. Es hier zu würdigen, ist dem Verfasser eine Ehre. Einer gängigen beruflich-geistigen Gruppe war Egon Matzner schwer zuzuordnen. Er verstand sich vor allem als sozioökonomischer Forscher mit Blick auf die Gesamtheit der Verhältnisse in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Doch auch in der Wissenschaftstheorie, Philosophie, Literatur und Kunst suchte und fand er Gesprächspartner und inhaltliche Fundierung. Darüber hinaus war er ein gesellschaftskritischer Denker und ein eminent politisch denkender Mensch. Wirtschaftliche und politische Verhältnisse, die er als Ursachen für Ungerechtigkeit erkannte, waren sein ganzes Leben Gegenstand seiner Streitschriften. Zu analysieren und Kritik zu üben, Konzepte zur Reform öffentlicher Aufgabenerfüllung zu entwickeln, Partei zu ergreifen und politisch zu handeln und sogar eine politische Partei programmatisch mitzugestalten, waren Inhalt seines reichen Lebens. Die Ausnützung der Freiheit in der Marktwirtschaft durch wirtschaftliche Ausbeutung von Menschen oder deren soziale Marginalisierung prangerte er besonders an. Als Kämpfer für Frieden und Gerechtigkeit engagierte er sich immer ohne Eitelkeit und nicht einer Karriere wegen. Er hatte einen sechsten Sinn für schiefe Verhältnisse um ihn herum, für heimliches Tun aus inakzeptablem Eigeninteresse. Vieles schien er früher zu
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empfinden als andere. Im Mai 1989, nach knapp fünf Arbeitsjahren in Berlin, irritierte er den vormaligen Berliner Bürgermeister Diepgen mit der Frage, wie er reagieren würde, wenn unter dem damals regierenden Bürgermeister Momper die Mauer fiele – sechs Monate vor dem tatsächlichen Fall. Jahre davor äußerte er das Bonmot, dass Helmut Kohl sicher einmal Michail Gorbatschow die DDR abkaufen werde. Materiellen Reichtum für sich hatte dieser Ökonom mit dem ausgeprägten Sinn für die sozialen Verhältnisse der Menschen und für die institutionellen Rahmenbedingungen individuellen Handelns nie im Sinn. Solidarisches Geben und Eröffnen von Chancen für den wissenschaftlichen Nachwuchs waren ihm wichtiger. Sein Führungsstil war unkonventionell, geprägt durch Anreize setzende Vorgaben und Vertrauensfähigkeit in die Eigenverantwortlichkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Bereits Jahre vor Einführung der Mitbestimmung des Mittelbaus an Universitätsinstituten durch das UniversitätsOrganisationsgesetz 1975 praktizierte er diesen kooperativen Führungsstil. Kluge und erfolgreiche Frauen konnten sich seiner aufrichtigen Bewunderung sicher sein. Seiner Toleranz, Geduld und Aufmerksamkeit wegen schätzten ihn seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wenn er sich gelegentlich von einem Assistenten bei einer Vorlesung vertreten ließ, honorierte er dies oft mit einem größeren finanziellen Betrag als er selbst dafür bekam. Stets setzte er seine intellektuelle Kapazität auch populärwissenschaftlich ein. Ungezählt sind seine Zeitungsartikel und Kommentare in seiner Rolle als wachsamer Beobachter und kritischer Kommentator politischer und ökonomischer ebenso wie historisch-kultureller Ereignisse und Tendenzen. Sein Interesse galt österreichischen und weit darüber hinausreichenden Themen. Publiziert hat er in linken ebenso wie in bürgerlichen Zeitungen und Zeitschriften. Er hatte Freude an der Freude anderer. Für Spiel und Tanz war er leicht zu gewinnen. Auch Schalk, oft in feiner ironischer, aber auch selbstironischer und mitunter makabrer Ausprägung, führte er im Sinn. 1. Elternhaus, Studium und erste berufliche Bewährungen Geboren wurde Egon Matzner am 2. März 1938 in Klagenfurt. Aus einfachen Verhältnissen stammend, war er Zeit seines Lebens ein Sprecher der Entrechteten und Armen, der Außenseiter und Schwachen. Schon als kleiner Bub und dann Halbwüchsiger erstaunte und berührte er seine Eltern und seine beiden Schwestern durch seine ungewöhnliche Sensibilität gegenüber dem Schmerz des Nächsten, durch sein ungehemmtes Mitleid für Geschundene. Die Liebe zur Natur, die er im Elternhaus erwarb, zeichnete ihn als Umweltschützer der ersten Stunde aus. Ab 1956 studierte er Handelswissenschaften an der Hochschule für Welthandel in Wien. Durch Ferienarbeit als Bauarbeiter und Tellerwäscher erwei-
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terte er seinen Horizont auch in praktischer Hinsicht. 1961 promovierte er mit seiner Dissertation über den Zweiten Indischen Fünfjahresplan. Erste berufliche Meriten erwarb er als Lektor im Verlag des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (1962) und als Direktionssekretär in der Bank für Arbeit und Wirtschaft (1963). Im Jahr 1963 nahm er am Department of Government der Harvard University am Harvard International Seminar teil. Es war dies das Studienprogramm für zukünftige Führungskräfte aus dem Ausland, geleitet von Henry Kissinger. Noch Jahre danach pflegte er zu Personen aus diesem Kreis Kontakte, die ihm Tore zur Welt öffneten, was er begeistert zu nutzen wusste. Sein Aufbruch war kein himmelstürmender. In seinem späteren Arbeitszimmer hing ein Nachdruck des Gemäldes „Landschaft mit dem Sturz des Ikarus“ von Pieter Brueghel dem Älteren („Bauern-Breugel“). Es zeigt, als unscheinbares Detail weit unten in der Tiefe des Bildes, wie Ikarus auf dem Wasser aufschlägt, während groß im Vordergrund, auf einer Anhöhe über dem Meer, ein Bauer stoisch sein Feld pflügt, offenbar ohne das Ereignis zu bemerken. Ein Handelsschiff zieht mit geblähten Segeln an dem Opfer seiner eignen Visionen vorbei. Egon Matzner kannte das Risiko von Höhenflügen. Soliden Techniken des Vorankommens gab er den Vorzug. Dem Bauern stand er näher als dem Ikarus, doch auch diesem galt sein Respekt. 2. Erste Schaffensperiode Zunächst arbeitete Egon Matzner zwei Jahre als Assistent am Institut für Höhere Studien in Wien (1963–1965). Danach verbrachte er mit seiner jungen Familie zwei Jahre in Stockholm. Er arbeitete an dem von Gunnar Myrdal geleiteten Institute for International Studies der Universität Stockholm an einem Forschungsauftrag über Ost-West-Handel. Die beiden Buben gingen in eine schwedische Schule beziehungsweise in einen internationalen Kindergarten. Monika Matzner, Mittelpunkt des Familienlebens, sorgte für das Wohlergehen ihrer drei „Männer“ und pflegte umsichtig die Beziehungen zu schwedischen und anderen Freunden. Im Jahr 1967 holte ihn Kurt W. Rothschild an die ein Jahr zuvor gegründete Johannes-Kepler-Universität Linz (gemeinsam mit Ewald Nowotny, seinem Mitbewerber um die Habilitation). 1970 folgte die Habilitation als Dozent für Volkswirtschaftslehre, Volkswirtschaftspolitik und Finanzwissenschaft an der Universität Linz. Aus dem Forschungsauftrag in Schweden war seine Habilitationsschrift „Trade between East and West: The Case of Austria“ (Almqvist & Wiksell, Stockholm 1970) hervorgegangen. Gunnar Myrdal schrieb in seinem Vorwort: „I feel that he has approached his task with the right combination of courage to speculate and caution not to apply his conclusions to more than is warranted by his knowledge of the facts.”
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3. Persönlichkeiten mit “kreativem Eigensinn” Kurt W. Rothschild, der große österreichische Nationalökonom mit dem feinen Sinn für die Sorgen der kleinen Leute, war ihm Mentor und Freund bis zuletzt. Fachlich verbunden waren sie durch das gemeinsame Interesse für die Lage auf dem Arbeitsmarkt und die Chancen auf Vollbeschäftigung der Arbeitswilligen. Beide traten sie ein für die Beachtung der Lebenslage der Schwächeren in ökonomischen Analysen und vor allem bei der Erstellung wirtschaftspolitischer Konzepte. Gunnar Myrdal, der große Vordenker des Sozialismus in Schweden und Fürsprecher der Völker der Dritten Welt, erhielt im Jahr 1974 den in diesem Jahr geteilten Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft zugesprochen. Er verlangte Äquidistanz zu den USA und zur Sowjetunion, deren „Gewaltkultur“ er gleichermaßen anprangerte. Auch nach seinem Studienaufenthalt in Stockholm unterhielt Egon Matzner fachliche und freundschaftliche Beziehungen zu ihm ebenso wie zu dessen Frau, Alva Myrdal. Der zweite Preisträger war Friedrich August von Hayek, für den Freiheit und Sozialismus unvereinbar waren. Kaum ein anderer Wirtschafts- und Sozialwissenschafter weltweit stimulierte im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die Diskussion über die richtige Organisationsform des Wirtschaftens, und der Gesellschaft überhaupt, so stark wie er. Seine Werke waren richtungweisend für die neoliberalen Reformbewegungen in Kalifornien, den USA und Großbritannien und danach in einer ganzen Reihe von anderen Ländern. Allerdings war auch kaum einer skeptischer bezüglich der bewussten Gestaltbarkeit der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch diesbezüglich ambitionierte, insbesondere marxistisch oder auch nur sozialistisch orientierte Denker. Gegen diese richtete er seinen Kampfesruf gegen „Die Anmaßung des Wissens“, Titel seiner Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises an ihn. Die Herausbildung einer marktwirtschaftlichen Gesellschaft sah er in seinen Spätwerken als selektive Evolution einer spontanen Ordnung. Mit dem Werk dieses radikalen liberalen Antagonisten des Totalitarismus setzte sich Egon Matzner sein Leben lang auseinander. Trotz des unüberbrückbaren ideologischen Gegensatzes zwischen Myrdal und Hayek schätzte er das fundamentale Interesse beider, die Interdependenzen ökonomischer, sozialer und institutioneller Phänomene zu verstehen und zu erklären. Wollte man weitere Große der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften oder Persönlichkeiten mit „kreativem Eigensinn“ (wie er sie voller Respekt bezeichnete) benennen, deren Werke oder Handlungen ihn vor allem inspirierten, so zählt dazu Joseph A. Schumpeter. Sein sozialwissenschaftliches Verständnis von Ökonomie und sein Diktum, dass Krisen der Staatsfinanzen Ausdruck von Krisen der Methoden der staatlichen Aufgabenerfüllung seien, waren für Egon Matzner erkenntnisleitend. Michal Kaleckis Vorwegnahme großer Teile der Theorie von Keynes und deren grundlegende Verbindung
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mit den Theorien des Klassenkonflikts, der Einkommensverteilung und des unvollständigen Wettbewerbs waren für ihn ein verlässlicher Ausgangspunkt bei der Erforschung von Maßnahmen zur Sicherung der Vollbeschäftigung. Oskar Morgenstern inspirierte ihn zu seinem spieltheoretischen Verständnis ökonomischer Entscheidungsbedingungen. Auf dieser Grundlage schärfte Egon Matzner sein Problembewusstsein hinsichtlich der „Tragik der Allmende“ (übernutzte Weltmeere, überlastete Straßen usw.) als Folge des „Gefangenen-Dilemmas“, in dem sich die Urheber dieser Tragik befänden. Nicholas Georgescu-Roegen studierte als mathematischer Statistiker bei Joseph A. Schumpeter Ökonomie. Der verbreiteten „mechanistischen“ Betrachtungsweise der Wirtschaft durch die Neoklassik setzte er ein evolutorisches Verständnis von Ökonomie entgegen. Denken in dialektischen Begriffen könne korrekt sein, auch wenn es nicht so strikt und scharf umrissen sei wie eine rein arithmomorphe Verkettung. Die Einbeziehung auch der naturwissenschaftlichen Besonderheiten von Energie- und Materialströmen in die ökonomischen Betrachtungen machten ihn zu einem Mitbegründer der ökologischen Ökonomie – Bausteine auch für Egon Matzners Wissenschaftsverständnis. Torsten Hägerstrand vermittelte ihm die Bedeutung der Berücksichtigung der räumlichen und zeitlichen Koordinaten des Verhaltens der Individuen beim Studium von deren tagtäglichen Lebensbedingungen. Den möglichen Raum-Zeit-Pfad der Menschen im Alltag (Grenzen des durch Knappheit von Zeit und Mobilitätsressourcen beschränkten Möglichkeitsraums) hielt Egon Matzner für ein zentrales Instrument der Infrastrukturplanung. Fritz Kolb1 beeindruckte ihn durch seine Begründung von Leitlinien der Außenpolitik aus der Lage, Geschichte und den Interessen eines Landes am Beispiel Österreichs. Er teilte mit Egon Matzner das Interesse für internationale Politik, und bestärkte ihn wohl auch in seiner Sensibilität gegenüber einer „schlummernden Rechten“ in den USA. Adolf Kozlik faszinierte ihn durch seine Verknüpfung von austromarxistischem Widerstands- und ökonomischem Forschergeist, entfaltet zuerst im austrofaschistischen Österreich, bei Nähe zu O. Morgenstern und F. A. von Hayek, danach im US-amerikanischen Exil. Neben seiner außergewöhnlichen Karriere als Ökonom in Iowa und Princeton gründete er ein Büro zur Erforschung der wirtschaftlichen Situation Nazi-Deutschlands. Mit seinem Team aus europäischen Exilanten erarbeitete er wertvolle Erkenntnisse für den amerikanischen Geheimdienst. Von hier aus musste er, seiner antikapitalistischen Radikalität wegen, ein zweites Mal ins Exil flüchten, diesmal vor dem FBI. Trotz allem blieb er Humorist, was ihn Egon Matzner noch näher brachte. 1 Autor des Buches “Himalaya Venture. The Classic Wartime Mountain Adventure, Wilmslow 2001 (republication). Siehe http://www.sigmapress.co.uk/kolb784.html
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Auch von Literaten, Künstlern, Psychiatern, Philosophen und ihm geistig nahe stehenden Vertretern anderer Disziplinen und markanten Politikern bezog er vielfältige Anregungen und trug sie zusammen zur Fundierung eigener theoretischer Entwürfe und empirischer Belege. 4. Zweite Schaffensperiode: Ordinarius an der TU Wien Unmittelbar nach der Habilitation erwarteten Egon Matzner große berufliche Aufgaben. Von 1970 bis 1972 übertrug ihm der Österreichische Städtebund die Leitung des Kommunalwissenschaftlichen Dokumentationszentrums in Wien. Im Jahr 1972 wurde er zum ordentlichen Professor für Finanzwissenschaft und Infrastrukturpolitik und Vorstand des neu gegründeten, gleichnamigen Instituts („IFIP“) an der Technischen Universität Wien berufen. Dies kann als Beginn seiner zweiten Schaffensperiode angesehen werden. Gemeinsam mit anderen neu berufenen Professoren und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nahm er in den siebziger Jahren teil am Aufbau der von Rudolf Wurzer gegründeten Studienrichtung Raumplanung und Raumordnung an der Fakultät für Architektur und Raumplanung der TU Wien. Doch reichte der Kreis der an seinem Denken Interessierten weit darüber hinaus. Er bereicherte technisch-naturwissenschaftliche Ausbildungswege mit wirtschafts- und sozialwissenschaftlichem Gedankengut. Dieses wurde wertvolles berufliches Rüstzeug für Führungsaufgaben von Diplomingenieuren in Technik, Wirtschaft und Verwaltung. Am Institut, dem er vorstand, war Platz für ein breites Spektrum von politischen Meinungen: Marxisten-Leninisten, unpolitische Bürgerliche, individualistische Radikaldemokraten, Umweltschützer und Angehörige schlagender Verbindungen (allerdings ohne Nähe zum Chauvinismus) bildeten eine offene Gruppe mit viel Stoff für geistige Auseinandersetzungen. Egon Matzner wollte, dass man einander zuhört und voneinander lernt. Einer seiner wichtigsten Beiträge zu diesen Debatten war sein Hinweis darauf, dass der analytische Blick auf die Wirklichkeit je nach Standpunkt bzw. Sichtweise beim gleichen Betrachtungsobjekt gänzlich Unterschiedliches zu offenbaren vermag. Mit Vorliebe hat er dies unter Zuhilfenahme des berühmten HasenEnten-Kopfes von Ludwig Wittgenstein demonstriert. Ein weiterer Hinweis von Gewicht war jener auf die Unterscheidung zwischen Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn durch Robert Musil. Damit wandte er sich gegen eine nur erklärende oder gar nur beschreibende Rolle des Wissenschafters ohne Engagement für Verbesserungen der Lebensverhältnisse der Menschen. Dabei hatte er nicht nur den Markt- und Staatssektor als Basis für Wohlfahrtsteigerungen durch wachstums- und strukturpolitisch stimulierte, ressourcenökonomisch kontrollierte und konjunkturell stabilisierte Wertschöpfung und deren sozialstaatliche Umverteilung im Sinn. Auch der „dritte Sektor“, den er bevorzugt als „autonomen Sektor“ bezeichnete, trage substanziell
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zur Erbringung von Leistungen bei, denen hohe Wertschätzung entgegengebracht werde. Den sozioökonomischen Kontext von Problemen und die dahinter befindlichen Entscheidungsverhältnisse zu erkennen, war sein zentrales Erkenntnisinteresse. Die Entscheidungsverhältnisse im Sinne des Humanismus umzugestalten, war seine normative Zielsetzung. Ständig, und das bis zuletzt, entwickelte er Ideen und Konzepte zu humanen Reformen gesellschaftlicher Verhältnisse, in kommunalen und regionalen ebenso wie in gesamtstaatlichen und internationalen Zusammenhängen. Die Besserstellung aller Arten von Benachteiligten war die erste der beiden obersten Kategorien seiner Zielhierarchie. Ebenso wichtig war ihm der offene Wettbewerb zwecks Sicherung der Effizienz der Güterproduktion. Auf der Basis dieser Prämissen schuf Egon Matzner eine Fülle von weit reichenden wissenschaftlichen und politischen Schriften. Als akademischer Lehrer diese Sichtweise zu vermitteln, war ihm ein fundamentales Anliegen. Unvergessen bei seinen zahlreichen, zumeist in ausgewogenem Verhältnis weiblichen und männlichen, Studenten, Diplomanden und Dissertanten sind seine Seminare. Nicht selten hielt er sie in räumlich etwas abgelegenen Begegnungsstätten Niederösterreichs, der Steiermark oder des Burgenlandes ab. Überhaupt waren ihm Seminare, kleine Fachkonferenzen und andere Begegnungsformen mit viel Gelegenheit zu persönlichem Meinungsaustausch die liebsten akademischen Foren. Obwohl er Lehrer war, wollte er keine ihn tradierenden „Schüler“ haben. Durch seine besondere Art, Gespräche zu führen, schlug er seine Gesprächspartner zumeist rasch in seinen sanften Bann. 5. Kooperation und Nachwuchsförderung Eine der vielen gewinnenden Eigenschaften Egon Matzners bestand darin, dass er sowohl mit seinen jungen Mitarbeitern am Institut für Finanzwissenschaft als auch mit anderen Kollegen, mit denen er freundschaftlich verbunden war, Werke in engster Zusammenarbeit verfasste: gemeinsam mit Helfried Bauer, seinem Nachfolger als Leiter des Kommunalwissenschaftlichen Dokumentationszentrums (und Kamerad zahlreicher Bergtouren), das Buch „Kommunale Finanzen 1960 bis 1968: eine quantitative Analyse der Entwicklung und Struktur der kommunalen Finanzen in Österreich nach Gemeindegrößenklassen“ (Wien 1971); gemeinsam mit Manfred Novy „Zur Frage der Tarifgestaltung der öffentlichen Personennahverkehrsunternehmen“ (Wien 1973); gemeinsam mit Dieter Bökemann „Harmonisierung von Investitionsvorhaben der Gebietskörperschaften“ (Wien 1976); gemeinsam mit Wolfgang Blaas, Gerhard Rüsch und Wilfried Schönbäck „Krise der Finanzen oder Krise der Methoden?“ (Beitrag im Sammelband „Politikverflechtung im föderativen Staat“, 1978); gemeinsam mit Peter Henseler „Kosten-Nutzen-Analyse in der Gesetzgebung“ (Wien 1979).
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Ein Team von Finanzwissenschaftern und Juristen unterschiedlicher politischer Orientierung versammelte er zur Durchführung einer vom damaligen Finanzminister, Hannes Androsch, beauftragten Studie über „Öffentliche Aufgaben und Finanzausgleich. Eine Untersuchung der Probleme des österreichischen Finanzausgleichs“ (Buchfassung: Wien 1977). Zusammenarbeit mit gleich Gesinnten und auch mit anders Denkenden war ihm ein intellektuelles und ein Herzensanliegen. Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, bei Ausweitung der Perspektiven weit über Österreichs Grenzen hinaus, zählt zu seinen großen Verdiensten. Gernot Grabher promovierte bei Egon Matzner mit seiner Doktorarbeit über Innovationsprozesse und Innovationspolitik in traditionellen Industrieregionen (De-Industrialisierung oder Neo-Industrialisierung? Berlin 1988). Die Arbeit wurde mit dem August-Lösch-Preis 1988 ausgezeichnet. Seit 1998 ist er Professor für Sozioökonomie des Raumes am Institut für Geographie der Universität Bonn. Sylvia Pintarits trug mit ihrer Doktorarbeitarbeit (Macht, Demokratie und Regionen in Europa, Marburg 1996) wesentlich zur Klärung des Zusammenhangs zwischen Integration und Desintegration im neuen Europa bei. Heute ist sie Europabeauftragte des Referats für Stadtplanung und Bauordnung der bayerischen Landeshauptstadt München. Sabine Mayer, eine weitere seiner Doktorandinnen (Relationale Raumplanung: Ein institutioneller Ansatz für flexible Regulierung, Marburg 1999), wurde die erste Preisträgerin des im Jahr 2002 neu geschaffenen RudolfWurzer-Gedächtnis-Preises für Raumplanung der Stadt Wien und der TU Wien. Heute ist sie in der Technologie Impulse GesmbH in Wien für regionale Innovationspolitik durch Fachhochschulen verantwortlich. Zu ihrem Erfolg als Doktorandin trug die Betreuung auch durch Benjamin Davy wesentlich bei, als dieser noch an der TU Wien wirkte. Dieser raumordnungspolitische Feuergeist, als gelernter Jurist auf Eigentums- und Verfügungsrechte am Boden konzentriert, nahm nach Forschungsaufenthalten an mehreren ausländischen Universitäten schließlich einen Ruf nach Dortmund (Städteregion Ruhr), an die größte deutschsprachige Fakultät für Raumplanung, an. Als Professor für Bodenpolitik, Bodenmanagement und kommunales Vermessungswesen erforscht er vorzugsweise das, was diesseits und jenseits von Grenzen liegt – welch eine Thematik auch für Egon Matzner! Auch politische Karrieren nahmen ihren Anfang in Auseinandersetzungen mit Positionen Egon Matzners: Gerhard Rüsch, heute als Stadtrat in Graz für das gesamte Bauwesen und die Stadtentwicklung zuständig, war langjähriger Institutsmitarbeiter, Dissertant und Habilitand bei Egon Matzner. Rudolf Schicker, Planungsstadtrat in Wien, verfasste seine Diplomarbeit bei Egon Matzner und erhielt auch danach noch manche Anregung durch ihn.
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Ein begeisterter Teilnehmer der Seminare Egon Matzners war Herbert Paierl, später Wirtschafts- und Finanzlandesrat in der Steiermärkischen Landesregierung. Bei einem seiner Auftritte in einem Seminar als Vortragender über regionale Wirtschaftspolitik in der Steiermark (damals bereits als Sekretär des Landeshauptmanns Josef Krainer junior) brachte er seine Wirtschaftsförderungs-Philosophie auf den im Österreich der achtziger Jahren für viele überraschenden Punkt: „Der knappe Faktor ist nicht das Kapital, gefördert wird sehr viel von uns. Der knappe Faktor sind die Unternehmer.“ Die Raumplanung hält er mittlerweile für entbehrlich. Zu wenig an Ordnung der Raumnutzung habe sie zustande gebracht, wie jeder Flug über das Land zeige. Zu sehr scheint sie ihn einzuengen bei seinen eigenen Bestrebungen, den Freiheitsgrad bei Niederlassungen von Unternehmen deren Erwartungen anzupassen, um der nachteiligen wirtschaftsgeographischen Lage seines Bundeslandes entgegenzuwirken. Herbert Paierl war der erste, der die klein- und mittelbetriebliche Struktur der österreichischen Wirtschaft als für die Bildung von Clustern prädestiniert erkannte und dies auch wirtschaftspolitisch umsetzte. Die von ihm forcierte Bildung von kooperativen zwischenbetrieblichen Netzwerken wurde teilweise bereits in den späten 1970er Jahren von Egon Matzner durch die von ihm propagierte Netzwerkidee angeregt. Österreich gilt im Urteil der EU mittlerweile als führend bei Industrie-Clustern. Der Durchbruch zum „Cluster-Land Österreich“ gelang in der Steiermark mit dem Automobil-Cluster ACStyria. Oberösterreich hat das Cluster-Management in Richtung gegenseitige Befruchtung der Unternehmen durch gemeinsame Forschungs- und Entwicklungsprojekte weiterentwickelt2. 6. Der Wohlfahrtsstaat von morgen Das die zweite Schaffensperiode Egon Matzners krönende Werk hatte sich schon 1978 im Titel des bereits erwähnten Aufsatzes „Krise der Finanzen oder Krise der Methoden?“ angekündigt. Seine Antwort auf diese Frage gab er in seinem 1982 in Wien, Frankfurt und New York erschienenen ersten Hauptwerk an der TU Wien: „Der Wohlfahrtsstaat von morgen. Ein Entwurf eines zeitgemäßen Musters staatlicher Intervention“ (mit Beiträgen auch anderer Autoren, mit denen er damals eng zusammenarbeitete). Ausgangspunkt war seine sich schon in den siebziger Jahren anbahnende Erkenntnis einer „Sklerose der Institutionen“, die zu einer massenhaften Enttäuschung der Erwartungen in sozialstaatliche Institutionen und in den Markt geführt habe. Hauptanliegen Egon Matzners in diesem Werk war, die Ursachen von Staats- und Marktversagen herauszuarbeiten. Weiters zeigte er mögliche Triebkräfte für instrumentelle und konzeptionelle Innovationen in 2 Neue Zürcher Zeitung, 02. 10. 2002, Nr. 249, S. 25.
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den verschiedenen Aufgabenbereichen des Staates und dementsprechende Reformen auf. Analytisches und Planerisches, Pragmatisches und Visionäres führte er hier zu einer äußerst gewichtigen Mischung zusammen. Sie beinhaltet starke Denkanstöße für tief greifende Reformen des öffentlichen Sektors mit dem Ziel, mehr Effizienz und mehr Gerechtigkeit zu erreichen. Viele Anstöße seines „Entwurfs“ werden noch lange beachtet werden. 7. Frühe politische Schriften Bei seinen Arbeiten verweilte Egon Matzner nicht im akademischen Elfenbeinturm. Der Öffentlichkeit stellte er seine Werke zur Weiterentwicklung der politischen Kultur der Zweiten Republik zur Diskussion, insbesondere „Modell Österreich: Skizzen für ein Wirtschafts- und Gesellschaftskonzept“ (Wien 1967), weiters „Notizen zur Gesellschaftsreform: Aufruf zu einem zeitgemäßen Humanismus“ (Wien 1976). Und, nach dem Erleben des schweren Konjunktureinbruchs 1974/75 in der Folge des Erdölschocks: „Wohlfahrtsstaat und Wirtschaftskrise: Österreichs Sozialisten suchen einen Ausweg“ (Reinbek bei Hamburg 1978). Sie waren wichtige Orientierungsmarken für seine politischen Weggefährten, die zu dieser Zeit in Österreich die öffentliche Diskussion stark prägten. Andersdenkende, und in anderen Zusammenhängen Tätige, hatten begonnen, andere Problemlösungen zur Beseitigung von Wachstumsschwächen, auf der Angebotsseite der Wirtschaft und unter wirtschaftsliberalen Auspizien, zu erproben, vorerst begrenzt auf Kalifornien (ab 1966). Egon Matzners Denkansatz war ein umfassend sozialwissenschaftlicher mit ökonomischem Kern, verbunden mit politischem und sozialem Engagement und ausgeprägten kulturellen Interessen. Er bewies die Fähigkeit zum Tragen weitsichtiger Verantwortung für akademische Institutionen. Nicht zuletzt war er fest in der sozialistischen Bewegung verankert. Diese Eigenschaften waren es wohl, die Bruno Kreisky veranlassten, Egon Matzner in seinen engsten Beraterkreis zu berufen. Mehr noch: Im Jahr 1978 übertrug ihm Bruno Kreisky die Koordination bei der Erarbeitung des neuen Parteiprogramms der SPÖ. Es blieb zwanzig Jahre in Geltung. 8. Für militärische Verteidigungsfähigkeit Fragen der militärischen Verteidigung Österreichs waren ihm wichtiger als den meisten anderen sozialdemokratischen Intellektuellen. Er hielt das staatliche Gewaltmonopol und andauernde militärische Verteidigungsfähigkeit des Landes für unverzichtbar. Er pflegte enge Kontakte zu Offizieren der Landesverteidigungsakademie und war Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Verteidigungsministeriums.
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9. An Scheidewegen Um den Kern seiner beruflichen Existenz als ordentlicher Professor an der TU Wien herum entfaltete Egon Matzner von 1984, seinem 46. Lebensjahr, bis 1998, seinem 60. Lebensjahr, zwei weitere wissenschaftliche Tätigkeitsfelder mit großer Originalität, Internationalität und Produktivität: am Wissenschaftszentrum Berlin und an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Neben seinen herausragenden beruflichen Erfolgen lernte Egon Matzner in dieser Zeit aber auch dunkle Seiten des Lebens kennen: Seine familiären Bande rissen. Auch seine politischen Aktivitäten wurden erschwert: Sein geistiger Einfluss auf die Sozialistische Partei Österreichs begann mit dem Ende der Führungsrolle Bruno Kreiskys in der SPÖ und dem Ende von dessen Kanzlerschaft (1983) abzunehmen. 10. Dritte Schaffensperiode: die Jahre in Berlin Mit 1. Oktober 1984 wurde Egon Matzner für drei Jahre zum Direktor des Forschungsschwerpunkts Arbeitsmarktpolitik am Internationalen Institut für Management und Verwaltung am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), dem größten sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut Europas, berufen. Die Ausschreibung dafür hat er primo et unico loco für sich entschieden. Vorangegangen waren diesem Ruf Forschungsaufenthalte am Internationalen Institut für Management und Verwaltung des WZB in den Jahren 1979 und 1980 und, 1978, die erste Berufung auf diese Stelle (die er abgelehnt hatte, weil er seine Basisaufgaben an der TU Wien noch nicht für erledigt hielt). Nach der ersten Amtsperiode wurde seine Anstellung um zwei weitere Jahre verlängert. Danach nahm er die Lehr- und Forschungstätigkeit an der TU Wien wieder auf (für die fünf Jahre am WZB war er an der TU Wien karenziert). Dem WZB blieb er noch bis 1992 als Gastforscher verbunden. Diese fünf Jahre als Direktor zuzüglich der „Nachbearbeitungsjahre“ 1989 bis 1992 können als seine dritte Schaffensperiode angesehen werden. Mit der Annahme der Berufung nach Berlin übernahm er die Leitung eines vom Bundesministerium für Forschung und Technologie in Bonn finanzierten Forschungsverbundes, der die Auswirkungen der Verbreitung moderner Techniken auf den Arbeitsmarkt untersuchte. Erkenntnisleitende Fragestellung war: Welche institutionellen und ökonomischen Bedingungen müssen erfüllt sein, damit sich aus der Gesamtheit individueller, kollektiver und staatlicher Handlungen ein Maximum an gesellschaftlich akzeptablen Beschäftigungschancen ergibt? Unter dieser Herausforderung entstanden insbesondere drei Bücher (und vom ersten eine weiterentwickelte englischsprachige Fassung), die die wichtigsten Arbeitsergebnisse beinhalten. Allesamt zielen sie darauf ab, die Gefahren aus der Achillesferse des Kapitalismus – lang anhaltende Massenarbeitslosigkeit – zu verringern.
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11. Arbeit für alle ist möglich Erstes Ergebnis in Berlin war der von E. Matzner, J. Kregel und A. Roncaglia herausgegebene Konferenzband „Arbeit für alle ist möglich. Über ökonomische und institutionelle Bedingungen erfolgreicher Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik“ (Berlin 1987; die weiterentwickelte Version, mit einem Beitrag von Erich Streißler, erschien unter dem Titel „Barriers to Full Employment“, Macmillan, London 1988). Von verschiedenen Autoren werden wichtige Einflussfaktoren untersucht, die Egon Matzner zufolge einem Erfolg versprechenden Vollbeschäftigungskurs entgegenstehen. In seinem Resümee (in der deutschen Ausgabe) aus den verschiedenen Beiträgen der beteiligten Forscher sah Egon Matzner ein Erfolg versprechendes Politikmuster durch zumindest vier Merkmale geprägt: 1. Die etatistischzentralstaatlichen Formen der Problembewältigung müssten durch verstärkte Möglichkeiten dezentraler Gestaltung ergänzt werden. 2. Die Entscheidungsund Handlungsbedingungen auf Mikro-, Meso- und Makroebene der Wirtschaft müssten so gestaltet werden, dass sie durch Konsens getragene positive und negative Anreize zu maximalem Beschäftigungsvolumen zu begründen vermögen. Dabei seien fundamentale Unsicherheiten zu beachten. Dies verbiete eine simple Anwendung des Ziel-Mittel-Schemas der herkömmlichen Wirtschaftspolitik. 3. Erforderlich sei ein ausgewogener Gesamt-Mix von Maßnahmen und eine ausreichende gesamtwirtschaftliche Nachfrage, um die Vielzahl von individuellen, kollektiven und sozialpartnerschaftlichen Entscheidungen und Handlungen ausreichend zu fundieren. 4. Nicht zuletzt sei ein beharrlicher politischer Wille zur Vollbeschäftigung unverzichtbar, um die individuellen Erwartungsmuster vollbeschäftigungskonform zu stabilisieren. Dass dies zu erreichen kein Leichtes ist, war Egon Matzner immer klar. Doch trotz seiner Sensibilität für Markt- und Politikversagen war sein Denken geprägt von Optimismus, dass dies erreichbar sei. Als zweites Werk der Berliner Zeit entstand das Buch von E. Matzner, R. Schettkat, M. Wagner „Beschäftigungsrisiko Innovation? Arbeitsmarktwirkungen moderner Technologien. Befunde aus der Meta-Studie“ (Berlin 1988). Das Resümee aus den Beiträgen der von Egon Matzner zu dieser Studie zusammengerufenen Forscher war: Die Arbeitslosigkeitsrisiken seien dort geringer, wo höhere Innovationsanstrengungen unternommen werden. Für die Entwicklung der Beschäftigung sei allerdings der Technikeinsatz nicht allein ausschlaggebend, denn die Gesamtzahl der Arbeitsstunden werde auch durch andere Faktoren beeinflusst. Mit dieser Sicht sah sich Egon Matzer eng verbunden mit dem Werk Joseph A. Schumpeters, der den technischen Fortschritt als „schöpferische Zerstörung“ von Altem, aus der stets Neues hervor zu gehen pflegt, besonders würdigte und als Chance für den Arbeitsmarkt verstand.
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Bei der Entstehung dieses Buches war die Mitwirkung des Wiener Wirtschaftswissenschafters Michael Wagner-Pinter von großer persönlicher Bedeutung für Egon Matzner. Das kam nicht überraschend. Michael WagnerPinters wissenschaftliche und geschäftliche Kompetenz kam schon Jahre vorher zum Ausdruck: Es war ihm gelungen, eine erfolgreiche Kapitalgesellschaft mit Schwerpunkt der Geschäftstätigkeit in der angewandten Wirtschaftsforschung zu gründen und erfolgreich zu leiten, die Synthesis Forschung Gesellschaft mbH. Damit wurde er der möglicherweise einzige private Forschungsunternehmer des Landes im Bereich Volkswirtschaft. Eine bemerkenswerte Erkenntnis, die der Verfasser dieses Nachrufs von ihm vermittelt bekam, war: „So etwas geht nur, wenn man es tun muss.“ Damit meinte er nicht eine Besessenheit von dieser Arbeitskonzeption, sondern den Umstand, dass er vor der Firmengründung seine Anstellung an einer öffentlich finanzierten Bildungseinrichtung bewusst beendet hatte. Es ging ihm um die Glaubwürdigkeit als Unternehmer. 12. Für Wettbewerbsfähigkeit und Vollbeschäftigung Das dritte Werk ist der von E. Matzner und W. Streeck herausgegebene Band „Beyond Keynesianism. The Socio-Economics of Production and Full Employment” (Aldershot 1991). Es enthält die Essenz der von Egon Matzner zwischen 1984 und 1989 am WZB selbst geleisteten oder bei Forschungspartnern des WZB angeregten Forschungsarbeiten über neuartige und Erfolg versprechende Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik. Der Band besteht großteils aus einer Auswahl von Beiträgen zur Konferenz mit dem Titel „No Way to Full Employment?“, die er für Juli 1989 in das WZB einberufen hatte. Ausgangspunkt war seine Erkenntnis, dass die Keynesianische Nachfragesteuerung hinsichtlich der Anforderung versagt, Vollbeschäftigung mit hoher Wettbewerbsfähigkeit in Einklang zu bringen. Es wurden Vorschläge dargelegt, wie angebotsseitige Bedingungen in Ergänzung zu einer Keynesianischen Nachfragesteuerung gestaltet werden könnten. Die empfohlenen Maßnahmen beinhalten den Aufbau eines Systems von „industrial relations“, welches eine hohe Rate technischer und organisatorischer Veränderungen im Austausch gegen hohe Löhne und Arbeitsplatzsicherheit akzeptabel mache. Durch innerbetriebliche Ausbildungsprogramme werde eine ausreichende Qualifikationsentwicklung bewirkt und Kooperation zwischen verschiedenen Regionen stimuliert. Es werden die unterstützenden institutionellen Veränderungen aufgezeigt, die bei effektiver Nachfragesteuerung gleichzeitig hohe Beschäftigung und internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen erlaubten. Das Buch erzielte wegen des neuartigen interventionistischen Maßnahmenprogramms in der Jänner-Nummer des Economic Journal 1993 eine äußerst positive Rezension.
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Nicht zuletzt verhalf Egon Matzner seinem Heimatinstitut an der TU Wien zu einem substanziellen Ideenaustausch, indem er in den fünf Jahren seiner Direktorenschaft am WZB an der TU Wien durch seine Abwesenheit die temporäre Anwesenheit von renommierten Gastprofessoren ermöglichte: Manfried Gantner (Universität Innsbruck), Klaus-Dirk Henke (damals Universität Hannover, heute TU Berlin), Klaus Mackscheidt (Universität Köln) und zweimal Bert Rürup (TU Darmstadt). Deren Impulse in Lehre und Forschung wirkten noch Jahre nach. 13. Vierte Schaffensperiode – wieder in Wien: ein alternatives Reformkonzept für Osteuropa nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft Als vierte Schaffensperiode Egon Matzners kann die Zeit zwischen dem Abschluss der Veröffentlichungen der Forschungsergebnisse in Berlin (1991) und der Beendigung seiner Tätigkeit als Professor an der TU Wien (1998) angesehen werden. Am Beginn dieser Periode stand seine Auseinandersetzung mit den Folgen des Zusammenbruchs der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa. Das Ergebnis legte er dar in dem von E. Matzner, J. Kregel und G. Grabher herausgegebenen Werk „Der Marktschock. Eine Agenda für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wiederaufbau in Zentral- und Osteuropa“ (Wien/Berlin 1992). Die amerikanische Originalausgabe, „The Market Shock“ (J. Kregel, E. Matzner, G. Grabher) erschien 1992 in Ann Arbor (Russisch: 1993, Bulgarisch: 1994, Ungarisch und Rumänisch: 1995). Die Autoren der „Agenda-Gruppe“ wandten sich auf eigene Initiative gegen den von ihnen konstatierten Hauptirrtum aller vom Internationalen Währungsfonds inspirierten Programme: dem Glauben, dass es genüge, privates Eigentum an Unternehmen einzuführen, Preise freizugeben, die Währung zu stabilisieren und kompetitive Märkte zuzulassen, um eine kapitalistische Marktwirtschaft hervorzubringen. In diesem „Irrtum der Spontaneität“ sehen sie ein marktwirtschaftliches Spiegelbild der von Hayek entdeckten „Irrtümer des Konstruktivismus“, die dieser in seiner gesamten Schaffensperiode bei Vertretern etatistisch orientierter Planungen anprangerte. Die Autoren kritisieren die Vernachlässigung des sozioökonomischen Kontexts bei der Entstehung von Märkten und der notwendigen Rolle, die „Marktmachern“ zukomme. Sie sehen keinen Grund, der für eine rasche und umfassende Privatisierung der produktiven Anlagen, für die sofortige und volle Liberalisierung von Preisen und Einkommen, für die abrupte Einführung der vollen Konvertibilität der Währung und freier Aktien- und Devisenbörsen spreche. Sie prangern die Armut, die soziale Desintegration und die kriegerischen politischen Zerfallsprozesse an, die aus einer derartigen Politik resultierten. Ein alternatives Programm für den soziökonomischen Wieder-
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aufbau der vom Marktschock heimgesuchten Gesellschaften Zentral- und Osteuropas müsse u. a. enthalten: die Herbeiführung der Durchsetzbarkeit von vertraglichen Verpflichtungen, lediglich selektive Privatisierung, eine mäßig expansive Geld- und Fiskalpolitik und eine Einkommenspolitik, die Massenarmut vermeide. In den Jahren 1992 bis 1995 diente Egon Matzner seiner Fakultät an der TU Wien als Dekan und Vizedekan. Durch Diskussionsbeiträge über Ethik der Arbeitspflichten, Leistungsevaluierung und internationalen Wettbewerb an österreichischen Universitäten trug er wesentlich zur Diskussion über die Universitätsreform bei. 14. Konflikt um das Verständnis von Sozioökonomie Auch in dieser Phase blieb er offen für neue Herausforderungen und forderte selbst, bei ihm wichtigen Anlässen, andere heraus. Neben seiner Tätigkeit als Professor und Dekan an der TU Wien übernahm er 1992 nebenamtlich die ihm von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften angebotene Leitung von deren zerrütteter Forschungsstelle für Sozioökonomie. Wider Erwarten wurde dies die schwierigste Aufgabe seiner gesamten Berufslaufbahn. Er, der Sozioökonom mit hoher Kritikbereitschaft, steuerte auf den Konflikt seines Berufslebens mit einem Vertreter der vorherrschenden Ökonomie zu. Zunächst führte Egon Matzner einen ersten Konflikt herbei: Er veröffentlichte seine Auffassung, dass das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung und das Institut für Höhere Studien wider besseres Wissen schönfärberische Prognosen über die wirtschaftlichen Auswirkungen des Beitritts Österreichs zur Europäischen Union erstellten. Daraus folgte ein harter Schlagabtausch3. Eine öffentliche Beilegung des Streits blieb aus. Den Beitritt Österreichs zur EU hielt Egon Matzner aber für politisch notwendig, unter anderem deshalb, weil er eine Investition in den Frieden sei. Kurz darauf wurde eine (seit 1996 vorbereitete) Evaluierung von fünf Einrichtungen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften durchgeführt. Nur die Evaluierung der Forschungsstelle für Sozioökonomie durch eine Kommission von vier deutschen Professoren der Soziologie, Politikbzw. Verwaltungswissenschaft fiel negativ aus. Als Begründung führte die Kommission das Fehlen eines strukturierten, konzeptbasierten Forschungsprogramms und einer darauf aufbauenden Leitungskonzeption an. Die methodologischen Beiträge seien nicht zu einem hinreichend einheitsstiftenden Institutsprogramm integriert worden. Hauptproblem sei die Ablehnung eines solchen Programms durch den Leiter als unproduktiv. Überdies sei Sozioökonomie keine neue Disziplin bzw. als ei3 Der Standard, 25. 10, 28. 10. und 06. 11. 1996 sowie 07. 01., 25. 02. und 01. 03. 1997.
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genständige Disziplin nicht profiliert. Sozioökonomie sei keine ausreichende Klammer für die thematisch weit gestreuten zentralen Projekte der Forschungsstelle. Daher sei „Sozioökonomie“ als Bezeichnung für das Haupttätigkeitsfeld der Forschungsstelle unangebracht. Unter den Projekten befänden sich, auf Basis verschiedenartiger Methodologien, allerdings sehr erfolgreiche Projekte, was zu wissenschaftlichen Publikationserfolgen und akademischen Anerkennungen der Mitarbeiter geführt habe. Die Forschungsstelle solle umgewidmet werden (für institutionellen und technologischen Wandel in Europa). Die Leitungsfunktion solle neu ausgeschrieben werden. Innerhalb dieses neuen Rahmens könne die Forschung Egon Matzners zum Thema „neue Staatlichkeit“ weitergeführt werden. Ebenso massiv wie diese Kritik fiel die Antwort Egon Matzners aus. Die für sein Wissenschaftsverständnis zentrale Auseinandersetzung dokumentierte er in der von ihm 1998 herausgegebenen Schrift „Die /verhinderte/ Abwicklung“ (Forschungsstelle für Sozioökonomie, Österreichische Akademie der Wissenschaften; nachfolgend daraus zitiert). Der Leiter der Evaluierungskommission (Hansgert Peisert, Konstanz) habe bei der Auswahl der Mitglieder den bei solchen Anlässen unverzichtbaren Grundsatz der Pluralität krass verletzt. Denn weder sei methodologische noch disziplinäre Vielfalt, ebenso wenig Internationalität der Kommission gegeben. Denn alle vier Mitglieder seien Deutsche, von denen drei durch enge Bekanntschaft miteinander verbunden seien. Sozioökonomie sei weder dogmenhistorisch (Walras, Max Weber, Schumpeter) noch aktuell je als eine „Disziplin“, sondern im Gegenteil stets als bi- bis multidisziplinärer Forschungsansatz verstanden worden. Für sozioökonomische Forschung sei der Zugang von der Ökonomie plus mindestens einer zweiten Disziplin konstitutiv. Anstatt eines einheitsstiftenden Institutsprogramms halte er, Wittgenstein folgend, einen vielfältigen Zugang zur wissenschaftlichen Erforschung gesellschaftlicher Phänomene für unverzichtbar. Mit besonderer Kritik bedachte er die Vorgehensweise des Leiters des wissenschaftlichen Beirats der Forschungsstelle, Erich Streißler, Ordinarius für Volkswirtschaftslehre, Ökonometrie und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Wien, (unter anderem) wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Vizepräsident des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung: Dieser habe seine Funktion als Leiter des Beirats missbraucht, indem er in für Matzner geschlossenen Gremien der Akademie fortwährend Stimmung gegen die Arbeit der Forschungsstelle gemacht habe, anstatt diese kritisch und konstruktiv zu begleiten (S. 20). Erich Streißler begründete sein negatives Urteil gegenüber der Arbeit Egon Matzners damit, dass sich die Forschungsstelle ohne Beschluss der zuständigen Stelle der Akademie immer stärker von einer ökonomischen zu einer politologischen Forschungseinrichtung gewandelt habe. Veröffentlichungen in anerkannten Fachzeitschriften bzw. in wichtigen Sammelwerken
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seien ausgeblieben, ebenso eine nennenswerte Beachtung der Publikationen im Social Science Citation Index (S. 106 f.) Mit Ablauf seines Vertrages schied Egon Matzner Ende März 1998 aus der Akademie aus. Zu der von Erich Streißler angestrebten Schließung der Forschungsstelle („Abwicklung“) kam es nicht. Sie wurde vom zuständigen Gremium der Akademie in eine Forschungsstelle für institutionellen Wandel und europäische Integration umgewandelt. Die von Egon Matzner massiv unterstützte Kandidatin für seine Nachfolge, Sonja Puntscher-Riekmann, wurde zu seiner Nachfolgerin bestellt. Die Dokumentation dieser Auseinandersetzung in der zitierten Schrift zeugt nicht von einem geknickten Selbstbewusstsein ihres Herausgebers4. Der wichtigste methodologische Beitrag Egon Matzners darin, gemeinsam verfasst mit Amit Bhaduri, Professor of Economic Studies and Planning, Jawaharlal Nehru University, New Delhi, wurde letztlich unter dem Titel „Popper’s situational analysis and economics“ in der Zeitschrift „Philosophy of the Social Sciences“ publiziert (Vol. 28, No. 4, Dezember 1998). Egon Matzner erhielt in dieser Zeit mehrere wissenschaftliche Anerkennungen, unter anderem den Founder’s Prize 1997 der „Society for the Advancement of Socio-Economics“ in Montreal, Kanada. Seinem Abgang von der Akademie verlieh er eine ironische Note: Das am Beginn der Dokumentationsschrift abgebildete Foto zeigt ihn im dunklen Anzug mit Krawatte, vor einer halb fertigen Ziegelmauer stehend, spitzbübisch lächelnd. Neben ihm steht eine Leiter, die er aufrecht hält. Bezeichnet hat er das Foto mit „Egon Matzner, Leiter der Forschungsstelle (1992– 1998).“ Die Schrift widmete er seinen Kontrahenten, „Erich Streißler … und den FreundInnen der geschlossenen Gesellschaft.“ 15. Ruhestand – fünfte Schaffensperiode Im gleichen Jahr wurde Egon Matzner auf eigenes Ersuchen von seiner Stelle an der TU Wien in den Ruhestand versetzt. Ein für ihn prägendes berufliches Lebensmotto war, sich etwa alle 5 Jahre einer anderen beruflichen Herausforderung zu stellen. Diesem Motto auch nun folgend, verwandelte er die Zeit seines Ruhestandes in dessen Gegenteil. Bereits 1998 folgte er einem Ruf als Fellow für Ökonomie am MaxWeber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der wieder gegründeten Universität Erfurt. Überdies war er als Mitglied verschiedener 4 „Denn die FS für Sozioökonomie gehört nachweisbar zu den erfolgreichsten sozialwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Sie hat von 1992 bis 1997 unter meiner Leitung mehr Bücher und Zeitschriftenartikel publiziert, mehr Habilitationen, Promotionen und Sponsionen sowie Ehrungen zu verzeichnen als alle anderen sozialwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen zusammen, und sie liegt bei der Drittmittelfinanzierung über dem Durchschnitt“ (S. 5 f.).
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Berufungskommissionen maßgeblich am Wiederaufbau der Universität Erfurt beteiligt (bis 2001). Von 2001 bis 2002 war er mehrfach Visiting Fellow am Center for European Studies, University of British Columbia in Vancouver. Von 1996 bis 2003 war er wiederholt Visiting Fellow am Centre for European and Social Studies in Szombathely. Im Österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung in Stadtschlaining war er als Mitglied des Vorstandes und als Seminarleiter tätig. Seit 2001 sah er seine Rolle als die eines „Freien Forschers“, zuletzt ausgeübt in La Marsa/Tunis, dem letzten gemeinsamen Wohnsitz seiner zweiten Familie und Arbeitsort seiner Gattin und intellektuellen Weggefährtin, Gabriele Matzner-Holzer, als österreichische Botschafterin. Frühere Dienstorte der Diplomatin und gemeinsame Wohnorte der Familie seit 1984 waren Berlin und Bratislava. Zwischen all seinen Wirkungsstätten pendelte er mehr oder weniger regelmäßig. Der damit verbundene Wechsel der Perspektiven verhalf ihm zu neuen Einsichten und Aktivitäten. Zahlreiche Artikel und Vorträge Egon Matzners aus dieser Zeit zeugen von seiner ungebrochenen Schaffenskraft. Dank seiner starken Kommunikations- und Kooperationsneigung und seiner Fremdsprachenkenntnisse (Englisch, Schwedisch und Französisch) nützte er die Nähe zum diplomatischen Dienst für seine wissenschaftlichen und politischen Ambitionen. Sowohl in der Slowakei als auch in Tunesien hielt er Vorträge, nahm an Konferenzen teil und publizierte. Stellvertretend für diese Aktivitäten sei hier nur ein Vortrag erwähnt: „Mondialisation dans un monde unipolaire“ an der Académie tunisienne des sciences, des lettres et des arts „Beit al-Hikma“, gehalten im Februar seines letzten Lebensjahres (gedruckt: SOGIM, Tunis 2003). 16. Warnung vor einer monopolaren Weltordnung Das vorletzte Buch Egon Matzners ist „Monopolare Weltordnung. Zur Sozioökonomie der US-Dominanz“ (Marburg 2000; Englisch: 2000; erweitert und auf Serbisch: 2003). Es ist gleichsam sein Vermächtnis in Bezug auf eines der Kernthemata der heutigen internationalen Politik. Er spannt in diesem Werk einen kühnen Bogen vom Ende des Systemwettbewerbs und der Implosion der Sowjetunion bis hin zur monopolaren Weltordnung der USDominanz. Hier hat er sein wissenschaftliches Streben, politische und soziale Ereignisse durch den methodologischen Ansatz des sozioökonomischen Kontexts zu verstehen und zu erklären, ein letztes Mal gebündelt. Diese Denkform und deren analytische Fassung als Logik der sozialen Situation (Popper) bilden den erkenntnistheoretischen Faden, der sich durch die Kapitel dieses Werkes zieht. Auf dieser methodischen Basis wandte er sich gegen die Politik des Washington Consensus und den weltweiten, monopolaren Geltungsanspruch dieser Politik.
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Der Versuch zur Durchsetzung uniformer, weltweit geltender, marktwirtschaftlicher Standards im Sinne des „Washington Consensus“ sei nicht wünschenswert. Überdies sei er zum Scheitern verurteilt. Wissen, insbesondere neues Wissen, sei in hohem Maß an die Person gebunden. Der Hauptstrom der den Washington-Consensus stützenden Wirtschaftswissenschaft habe prinzipielle Schwierigkeiten, in sein Theoriegebäude die Erkenntnis einzubauen, dass Individuen durch Lernen ihre individuellen Ziele, Präferenzen und Fähigkeiten ändern. Marktwirtschaftliche Kontrolle von Wissen misslinge mit zunehmender Komplexität von Wissen und dessen wachsender Bedeutung in der Wissensgesellschaft. Die Gestaltung der Gesellschaft dürfe nicht uniform der konservativen Ideologie und Utopie überlassen werden. 17. Evolutionäre Utopie Mit Berufung vor allem auf G. M. Hodgson und F. A. von Hayek plädiert er für Utopien, die Wissen und Lernen sowie institutioneller Diversität ausreichend Raum gewähren. Gesellschaften, die nach Verwirklichung eines dominierenden Prinzips strebten – das der zentralen Planung oder das des alles regelnden Marktes gleichermaßen – würden den Möglichkeitssinn und -raum zu sehr einschränken und Ineffizienz generieren. Überdies sei alle Erkenntnis durch unvollkommenes Wissen und Unsicherheit beschränkt. Vollkommene rationale Wirtschaft- und Sozialpolitik sei daher unmöglich. Ihrer prinzipiellen Fehlbarkeit wegen müsse alle Politik explizit provisorischen Charakter haben. Ein Entwicklungspfad weg von der monopolaren Weltordnung, die „Rückkehr in die Zukunft“, bestünde in einer Politik, in der keine Institution oder Person den Status einer letzten Instanz beanspruche. Nötig sei eine Politik, in der mehr Raum für Experimente sowie für Unterschiedlichkeit der Verfahren und Institutionen bestehe. Es müsse Platz bleiben für demokratischen und partizipatorischen Dialog und für stetige Überprüfbarkeit der Prinzipien von Moral und Gerechtigkeit. Nötig sei ein Gesellschaftsentwurf, der, in Anlehnung an Hayek, Evolution ermögliche, und auch die Orientierung an einer „evolutionären Utopie“ (Hodgson) erlaube. 18. Vergeudete Republik Das letzte Buch Egon Matzners ist „Die vergeudete Republik. Wie sie wiederbegründet werden könnte“ (Wien – Klosterneuburg 2001). Es ist sein Vermächtnis in Bezug auf das von ihm mit Besorgnis konstatierte Kernthema der österreichischen Innenpolitik nach dem Regierungswechsel im Jahr 2000: “Im Inneren zerstritten, mit Nachbarn entfreundet, in der Welt nicht geschätzt.“5 Diese politische Situation sei das Resultat von Fehlern, die wäh5 Egon Matzner, zitiert in http://www.vabene.at/html/collect/analyse/116_3.htm (20. 11. 2003). Mit dieser Formulierung übernahm und modifizierte er einen Begriff aus dem Titel des von
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rend der Regierungszeit der SPÖ gemacht worden seien. Die Lage habe sich durch die ÖVP/FPÖ-Koalition weiter verschlechtert. Die Zweite Republik, Österreichs Erfolgsgeschichte im 20. Jahrhundert, gehe zu Ende. Er hält die Fehler der SPÖ für die entscheidenden Ursachen. Dazu komme die verhängnisvolle Rolle, die Medien und „Austrointellektuelle“ (jene mit Hang zu krass übertreibender, unproduktiver Österreich-Kritik) spielten. Nur durch Erstarkung des Willens zur Selbstbehauptung könne diese prekäre Situation überwunden werden. In der Widmung dieses Buches für seine an der Schwelle zum Erwachsenenalter stehende Tochter proklamierte er das Ziel: „ein weltoffenes Österreich, eine österreichoffene Welt.“ 19. Verhältnis zur politischen Macht, Entfremdung von der Partei Egon Matzner war ein gesellschaftskritischer Denker, immer bereit politisch zu handeln, wenn er dafür die Notwendigkeit sah. Sein Vertrauen hat er Jahrzehnte hindurch der Sozialistischen Partei Österreichs geschenkt – aber auch seine kritische Aufmerksamkeit. Mehrmals war er als möglicher Träger eines hohen politischen Amts im Gespräch. Dass ein solcher Ruf letztlich ausblieb, mag ihn beschäftigt haben. Dass er ihn abgelehnt hätte, ist nicht unwahrscheinlich. Erhellend für sein Verhältnis zur Sozialistischen Partei Österreichs und zu Bruno Kreisky ist eine Anekdote, die Egon Matzner in seinem Beitrag „Intellektuelle Autonomie“ zu dem Buch „Wer war Bruno Kreisky?“ (Wien 2000) zum Besten gab: In seinem politischen Bemühen um Vertreter kritischer Strömungen im katholischen Lager ließ Bruno Kreisky Egon Matzner bitten, für ihn, Kreisky, eine Stellungnahme zu der Broschüre „Wege aus der Krise“ zu verfassen. Diese Broschüre stammte von Erich Kitzmüller, freier Sozialwissenschafter und Wirtschaftsphilosoph, und anderen Autoren im Umkreis des Jesuitenpaters Herwig Büchele, Professor für christliche Gesellschaftslehre an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck (2001 emeritiert) und damaliger Leiter der Katholischen Sozialakademie. Egon Matzner, der sich geehrt fühlte, formulierte seine Kapitalismuskritik in ausreichend staatsmännischem Stil, wie er meinte. Bald darauf rief ihn Bruno Kreisky an und erklärte ihm, er habe noch nie einen Ghostwriter gehabt, ob nicht er selbst den Text unterschreiben könne. Die Stellungnahme erschien dann als eine der SPÖ, berichtet Egon Matzner lakonisch. Gleichermaßen aussagekräftig für das stets ambivalente Verhältnis Egon Matzners zur politischen Macht, selbst in der aufklärerisch moderierten Erscheinungsform Bruno Kreiskys, ist dessen Bonmot, dass, wenn man Matzner die Hand gebe, dieser hinein beiße. Sich nicht politisch vereinnahmen zu lassen, das war es, was ihn bewog, zur politischen Macht auf Distanz zu bleiGabriele Holzer (seiner Gattin) verfassten Buches „Verfreundete Nachbarn Österreich – Deutschland. Ein Verhältnis“ (Wien 1995).
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ben. Dem Verlangen gestandener Funktionäre der Partei nach mehr Loyalität hielt Egon Matzner entgegen: „Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom.“ Mit dem Abgang Bruno Kreiskys als Parteivorsitzender und Bundeskanzler (1983) und dem Aufstieg der neuen Führungspersönlichkeiten veränderte sich sein Verhältnis zur SPÖ. Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre wurde seine Kritik – an den Machtträgern, nicht an den Grundwerten der Partei – zunehmend schärfer. Ende 1994 erklärte er seine Mitgliedschaft bei der SPÖ für stillgelegt (das Parteistatut sieht diese Option nicht vor, sondern nur den Austritt). Nicht er habe die Partei verlassen, sondern sie ihn. Seither legte er Wert auf die Bezeichnung „autonomer Sozialist“. 20. Politisches Programm Egon Matzner führte Auseinandersetzungen nicht nur mit der SPÖ, sondern mit der Linken generell. Er sah sie international (Labour Party unter Tony Blair, SPD unter Gerhard Schröder) mehr und mehr nach rechts abdriften. Dadurch schwinde die für Demokratie notwendige Vielfalt bzw. Wahlmöglichkeit. Bei vielen ehemaligen Gesinnungsgenossen konstatierte er einen „Exodus ans rechte Ufer.“ Sein einziges Zugeständnis an diese Verschiebung des politischen Spektrums beschränkte sich darauf, dass er als Bezeichnung für seine eigene politische Position auch den weniger kämpferischen Begriff „parteiunabhängiger Sozialdemokrat“ zuließ. Inhaltlich machte er keine Abstriche. Entschieden nahm er gegen die Kriege der USA und die Schwächung der UNO und des Völkerrechts Stellung. Er sah auch die EU zumindest teilweise im Kielwasser des Washington Consensus. Zuletzt ging es ihm um Vorarbeiten zur (Re)konstruktion einer „globalen res publica.“ Drei Jahrzehnte früher war seine politische Haltung kaum anders: „Ich bin Sozialist, weil ich aktiv an der Beseitigung der Ungerechtigkeit – sei es durch Aufklärung, sei es durch Taten – mitwirke“, bekannte er 1971 in seinem Kommentar „Warum ich Sozialist bin“ in „Welt der Arbeit“, der Monatszeitschrift für den engagierten Gewerkschafter (23. Jg., Jänner 1971, Nr. 1, S. 2). „Ich unterstütze die sozialen und politischen Befreiungsbewegungen in den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas.“ Er wandte sich „gegen Armut inmitten eines wachsenden Wohlstands“, gegen „autoritäre Strukturen, wo an die Stelle von Subordination Partnerschaft und Mitbestimmung treten könnten“, gegen „Unduldsamkeit gegen Minderheiten, wo Brüderlichkeit und Menschlichkeit angebracht wären.“ Er trat ein „für Umverteilung der Einkommen und des Vermögens zugunsten der Ärmeren, auch wenn dies zu meinen Lasten gehen sollte“, für „die Demokratisierung des Erziehungswesens und die Emanzipation der Frauen, auch wenn meine eigene Bequemlichkeit darunter leiden sollte.“ Doch schon damals warnte er vor einem Problem, wenn Sozialisten zur Entscheidung berufen werden: „Zu oft machen wir Fehler, gegen die wir zuvor angekämpft haben. … Das Streben nach
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einer gerechten, demokratischen, egalitären Gesellschaft ist deshalb eine ständige, nie endende Aufgabe.“ Eine Seite davor, auf dem Titelblatt dieser Zeitschrift, wurden unter einem fast das Format füllenden Bild von Albert Einstein folgende Zeilen als dessen politisches Bekenntnis wiedergegeben: „Eine planvolle Verteilung der Arbeit wird immer mehr zur gebieterischen Notwendigkeit, und diese Verteilung wird zur materiellen Sicherung des Individuums führen, weg von der wirtschaftlichen Anarchie der kapitalistischen Gesellschaft. Ich bin überzeugt, dass es nur einen Weg gibt, dieses ernste Übel zu beseitigen, den Weg der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft.“ Obwohl Egon Matzner dieses Bild Einsteins in seinem Arbeitszimmer an der TU Wien hängen hatte, findet sich in seinem Werk eine derartige Apodiktik nicht. Zu groß war sein Respekt vor den schöpferischen Dimensionen unternehmerischen Handelns im Wettbewerb, zu groß seine Skepsis gegenüber den Verheißungen von endgültigem Wohlstand und Freiheit durch Inhaber politischer Macht, zu stark ausgeprägt sein Möglichkeitssinn für verschiedenartige Wege zu humanen gesellschaftlichen Verhältnissen. Mit Egon Matzners Tod ist eine für Österreich wichtige Stimme erloschen. Ihrer Bedeutung für Demokratie und Humanismus wegen wurde sie in allen politischen Lagern gehört. Seine Werke und Taten wirken über seinen Tod hinaus. Alle die ihn kannten, werden ihn als großartigen Menschen in Erinnerung behalten. Er hinterlässt aus erster Ehe, mit Monika Matzner, die Söhne Jörg und Robert. Aus zweiter Ehe, mit Gabriele Matzner-Holzer, hinterlässt er Tochter Sissela.
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1. „Wenn die Vernunft schläft, werden Ungeheuer geboren“ – Der politische Aktivist Egon Matzner In seinem Wiener Büro hatte Egon lange Zeit Pieter Breughel’s „Fall des Ikarus hängen“. Es zeigt, erst auf den zweiten oder dritten Blick erkennbar, den ins Meer stürzenden Ikarus, während im Vordergrund ein Bauer seinen Acker pflügt, offenbar völlig unberührt und unbeeindruckt vom Drama, das sich in seiner unmittelbaren Nähe abspielt. Dieses Bild war für Egon, glaube ich, eine Mahnung, eine Metapher für eine Wissenschaft, die über der zunehmenden Beschäftigung mit sich selbst jeden Bezug zur realen Welt verliert. Er wandte sich leidenschaftlich gegen eine wissenschaftsimmanente Definition von Forschungsfragen und forderte beharrlich sozialwissenschaftliche Beiträge zur Erklärung und besseren Bewältigung von sozialen und ökonomischen Problemen. In der Tat könnte Marx’s Diktum, wonach die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert haben, es aber darauf ankomme, sie zu verändern, als Leitmotiv von Egon’s Lebenswerk gesehen werden. Dieses Wissenschaftsverständnis wurde sicherlich auch geprägt durch seine Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftler und öffentlichen Intellektuellen Gunnar Myrdal in den frühen sechziger Jahren in Stockholm. Zurück in Österreich, entwickelte sich Egon zu einem zentralen wirtschaftspolitischen Vordenker und programmatischen Erneuerer der SPÖ in der Ära Bruno Kreisky. Als ein überzeugter Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Politik initiierte und koordinierte er in den neunziger Jahren die Agenda-Gruppe, die vor den sozial- und wirtschaftspolitischen Konsequenzen der „Schocktherapie für Transformationsländer“ warnte und für graduelle Transformation plädierte. Als ich den englischen Umschlagtext für unsere gemeinsame Publikation redigierte, las ich den Begriff „human“ zum ersten Mal in einem wirtschaftswissenschaftlichen Text. Ja, es ging Egon nicht um die Sache, es ging ihm um die Menschen. Er war nicht vom Ehrgeiz um eine wissenschaftliche Falsifikation der Schocktherapie getrieben, vielmehr suchte er die aktive Einmischung in Diskussionsprozesse in den Transformationsländern, um absehbares menschliches Leid zu mildern. In seinem Engagement kümmerte er sich nicht um die Standardkriterien wissenschaftlicher Erfolgsmetrik, wie etwa Publikationen in referierten Journalen. Erfolg bemaß sich für ihn vielmehr an der Nachhaltigkeit der Impulse, die von seinen Pressekonferenzen, 1 Erstabdruck in Gewerkschaftliche Monatshefte, Heft 12/2003, S. 739–741.
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Zeitungsartikeln und unzähligen persönlichen Gesprächen ausgingen. Er suchte den Dialog, nicht die Belehrung. Von den sozialen und wirtschaftlichen Problemen der Transformation wandte er sich in den letzten Jahren vermehrt den geopolitischen Konsequenzen der Implosion des Sowjet-Imperiums zu. In der sich schlagartig herausbildenden „monopolaren Weltordnung“ sah er nicht nur den Wegfall eines fortschrittsfördernden Systemwettbewerbs. Mit Verve schrieb Egon gegen die widerstandslose Akzeptanz der Dreifaltigkeit des „WashingtonKonsenses“ (monetäre Stabilisierung, Deregulierung und Privatisierung), der die sozialdemokratische, europäische Vorstellung der „res publica“ auszuhöhlen begann. Enttäuscht, vielleicht auch entsetzt, über den von Blair und Schröder eingeschlagenen Dritten Weg schien ihm die gegenwärtige Sozialdemokratie kein Gegenentwurf zum neoliberalen Wertekanon mehr bieten zu können und, schlimmer, bieten zu wollen. Wenngleich er von der Wirkungsmacht eines Marktliberalismus überzeugt war, so bedeutete dies für ihn keineswegs das Ende des Politischen oder gar der Geschichte. Er lehnte jede Art von politischer Sachzwanghaftigkeit und jede Resignation vor vermeintlicher Alternativlosigkeit ab. Mit seinen Plädoyers für eine Politik, die für eine multipolare Weltordnung offen bleibt, praktizierte Egon das, was ihm an Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ so einsichtig erschien: „Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, dann muss es auch Möglichkeitssinn geben“. Auch wenn der Begriff der Utopie nach 1989 geradezu geächtet schien, betrachtete er sie als politisch unverzichtbar. Diese Überzeugung spiegelte freilich mehr als einen fundamentalen Optimismus wider, ging es ihm doch um „theoretisch begründete und historisch geläuterte Utopien“. In der theoretischen Fundierung von Handlungsoptionen sah er auch die zivilisatorische Kraft von Aufklärung und Wissenschaft, denn, wie er es wiederholt mit einem Bildtitel Francisco Goyas formulierte „wenn die Vernunft schläft, werden Ungeheuer geboren.“ Er studierte die Gefahr der Entzivilisierung am Beispiel des Kriegs in Jugoslawien, zunehmend auch am Beispiel der US-Außenpolitik, mit wissenschaftlichem Scharfsinn, aber auch mit seiner Art Karl Kraus’schen Humors, der immer mehr war als bloße rhetorische Masche: „Schon Thomas Bernhard wusste, dass man die Welt nur verbessern kann, wenn man zuvor die Menschheit ausrottet“, schrieb er 2002 in einer persönlichen Reaktion auf eine Rede des amerikanischen Präsidenten. 2. „Die kaleidoskopische Weltsicht“ – Der Forscher Egon Matzner Ein zentraler Anker seiner wissenschaftlichen Arbeit war das Institut für Finanzwissenschaft an der TU Wien, dem er auch während seiner Tätigkeit als Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin, als Leiter der Forschungsstelle für Sozioökonomie an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, als Fellow am Max-Weber-Kolleg in Erfurt und als Fellow des Institute for
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European Studies in Vancouver eng verbunden blieb. Geradezu programmatisch bezeichnete sich Egon selbst als Sozioökonom. Er grenzte sich damit gegen die theoretische Sterilität und empirische Gehaltlosigkeit des neoklassischen Mainstreams ebenso ab wie gegen das mechanistische Weltverständnis des Marxismus-Leninismus. Diese Abgrenzung verhärtete sich freilich nie zu dogmatischer Unbeweglichkeit. Im Gegenteil, sein Interesse am besseren Verständnis und an der Bewältigung realer Probleme machte ihn zu einem Verfechter methodologischer und paradigmatischer Vielfalt. Sowohl in seinen Arbeiten zur Reform des Wohlfahrtsstaates, den Bedingungen für Vollbeschäftigung wie auch zu wirtschaftspolitischen Alternativen zum Washington-Konsens wandte er sich gegen das unreflektierte Primat positivistischer Analysis, die randscharfe Begriffe voraussetzt, und gab bewusst auch dialektischen und konstruktivistischen Ansätzen Raum. Inspiriert von Shackle hielt er der Produktion falscher Eindeutigkeiten seine „kaleidoskopische Sichtweise“ entgegen, in der die innere Logik einer sozialen Situation erst durch die Betrachtung aus unterschiedlichen Blickwinkeln verstehbar wird. Als Forschungsleiter sah er seine Funktion, ähnlich Hollingworth’s Konzept von „nurturing leadership“ zu allererst darin, einen institutionellen Kontext zu inszenieren, der problemorientierten Austausch befördert und enge sub-disziplinäre Spezialismen überwindet. Er wandte sich damit entschieden gegen die Obsession mit programmatischer Kohärenz und Konsistenz, die für ihn keine Werte an sich darstellten, sofern sie keinen heuristischen Gewinn versprachen. Der unverdrossene und blinde Ehrgeiz, Programme aus „Säulen“ und „Dächern“ zu zimmern, war für ihn eher Reminiszenz an die (antike) Architektur denn erfolgversprechende Grundlage einer reflexiven Wissenschaftspraxis jenseits der disziplinären Rigiditäten deutschsprachiger Universitäten. Der Vorrang der Kohärenz war in seinen Augen vielfach nur um den Preis der Eliminierung der Komplexität realer Probleme zu haben, während es in der Wissenschaft doch um eine Reduzierung von Komplexität geht. Damit stellte er sich gegen ein Wissenschaftsmodell, das in der gegenwärtigen Evaluierungspraxis kanonisiert wird. Unausweichlich brachte ihm seine Orientierung mitunter auch harsche Kritik ein, die in der Ausrichtung auf reale Probleme nichts als eine Kontaminierung der „reinen Lehre“ erkennen konnte und die sich durch die enge Fixierung auf formale Konsistenz den Blick auf das Innovationsgenerierende seines Ansatzes selbst verstellte. Einige der Kritikpunkte hätten zweifellos Ansatz für konstruktive erkenntnistheoretische Debatten bieten können, wenn sie denn substanziell über gelegentlich hohle „anything goes“-Polemik hinausgegangen wären. 3. „Der Hase-Enten-Kopf“ – Der Lehrer Egon Matzner Auch als Lehrer praktizierte Egon seine kaleidoskopische Weltsicht. Gleich zu Beginn seiner Lehrveranstaltungen verunsicherte er uns Studenten mit
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Wittgenstein’s „Hase-Enten-Kopf“ Parabel, in gewisser Weise Egons erkenntnistheoretisches Initiationsritual. Mit diesem klassischen Exempel illustrierte er die nicht-triviale Einsicht, dass „Tatsachen“ grundsätzlich mehrdeutig sind – und dass es auch für einen angehenden Ingenieur nicht nur spannend, sondern auch lohnend ist, sich auf Wittgenstein einzulassen, genau so wie auf Foucault, Elias oder Popper. Entgegen unserer diffusen Erwartungen an die Ökonomie, wurden auch Ungleichgewichte und Inkonsistenzen nicht vorschnell als Pathologien oder modelltheoretische Unfälle entsorgt, sondern als eine Voraussetzung für Evolution ernst genommen. Begriffen wie „Optimalität“ nahm Egon ihre politische Unschuld, da er sie nie als eine rein technische Kategorie, sondern vor dem Hintergrund konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse und Interessenslagen dachte. Unserem gelegentlichen, durch die ingenieurwissenschaftliche Sozialisation genährten Bedürfnis nach formaler Präzision hielt er, mit Verweis auf die formale Geschlossenheit der Neoklassik entgegen, dass es im Zweifelsfall immer noch besser wäre „etwas ungefähr richtig als präzise falsch zu wissen“. Ihn interessierte keine Minute, Epigonen und „Taschenträger“ heran zu ziehen, als vielmehr Neugier, Skepsis, Offenheit zu wecken. Es ging ihm, glaube ich, stets mehr um die relevanten Fragen als um die formal-korrekten Antworten. Traditionelles Überzeugungsrepertoire wie kategoriales Getöse oder der erhabene Gestus der akademischen Großkardinäle waren ihm absolut fremd. Seine Mittel waren analytische Gleichnisse, systematische Skepsis, die Ironie, im subtilen englischen wie im absurden österreichischen Sinne eines Ernst Jandl. Egon spielte in dem ihm eigenen Sprachspiel gleichsam stets über „die Bande“. In einem Kontext wie Berlin etwa, in dem das direkte Spiel geradezu zur lokalen Identität stilisiert wird, wurde sein Verzicht auf eine Apodiktik, die ohne „wenn und aber“ auskommt, gelegentlich auch missgedeutet. Auch wenn eine Anpassung an den lokalen Jargon für ihn zweifellos manches leichter gemacht hätte, er blieb sich treu. Wenn Georgescu-Roegens Diagnose zutrifft, wonach die Ökonomen die opportunistischste aller Wissenschaften betreiben, dann war Egon sicherlich einer ihrer untypischsten Vertreter. Dies gilt auch für sein Sprachspiel, seine Vorstellung und leidenschaftliche Praxis einer gesellschaftlich relevanten Wissenschaft wie auch für sein Verhältnis zur Sozialdemokratie, die er für ihre Resignation und ihren Opportunismus unbestechlich kritisierte, doch stets aus der Überzeugung heraus, dass sie reformierbar und nicht obsolet ist. „Man muss sich auch hier Sisyphos als Optimisten vorstellen“, schreibt er dazu in seinem Buch „Die monopolare Weltordnung“. Doch bei all der Enttäuschung, vielleicht auch Wut über die Preisgabe der „res publica“, war er in keinster Weise verbittert. Er blieb bis zu seinem jähen Abschied der warme, emphatische, gelegentlich schelmische, zutiefst humanistische und liebenswerte Mensch.
Weggegangen. Bericht über meine letzte Kontroverse mit Egon Matzner Werner W. Ernst
Vorbemerkung Wenn ich über meinen letzten wissenschaftlichen Disput mit Egon Matzner berichte, so sind zum besseren Verständnis einige Hinweise über mein Verhältnis zu den Wirtschaftswissenschaften angebracht. Ich studierte als Erststudium Wirtschaftswissenschaften und promovierte mit einer Arbeit über die Theorie von Karl Marx. Es waren die 68er Jahre, die mich schier an den bornierten Voraussetzungen bürgerlich-ökonomischer Theoriebildung verzweifeln ließen. Nicht zufällig also wendete ich mich noch während meines Ökonomiestudiums den Sozialwissenschaften und der Philosophie zu. Das Band zu den Wirtschaftswissenschaften wurde allerdings im Zuge meines wissenschaftlichen Werdegangs nie zur Gänze durchtrennt. Noch bis zum Jahre 2004, bis zur Aufsprengung meiner alten Fakultät in Kleinstfakultäten, blieb ich als Politologe im Verband der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Nicht nur die Lehre von Karl Marx, sondern auch die Frankfurter Schule und Theorien der Postmoderne, vorab aber die Lehren Platons, Augustins, Hobbes`, Hegels, Nietzsches, Freuds, Heideggers und Adornos haben mich zu den Theorie-Ansätzen meines Erststudiums in große Distanz gebracht. Als Psychoanalytiker bin ich dann meine Distanz zur Ökonomie, später auch zur Politikwissenschaft und schließlich selbst zur Philosophie eigentherapeutisch, d. h. durch bewusst gemachte subjektive Widerstände hindurch, abgeschritten und habe sie analysiert, um vielleicht wahrhafter sagen zu können, was mir am wirtschaftswissenschaftlichen Menschen- und Weltbild so sehr missfällt. Schon in der ersten Zeit meines „Abfalls“ habe ich zu den meisten Freunden unter meinen wirtschaftswissenschaftlichen KollegInnen den Kontakt verloren. Da dieser Kontakt ja von den 68ern her auch politisch geprägt war, schmerzte sein Verlust doppelt. In dieser Zeit meines Ausbruchs aus alten Bindungen und Eintritts in andere fachliche Gefilde lernte ich den Finanzwissenschaftler Egon Matzner kennen. Ihm schien es gerade recht, die ökonomische Perspektive durch Überlegungen aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen nicht nur zu ergänzen, sondern gar zu relativieren. Seine Fähigkeit, die durch die Wirtschaftswissenschaften gezogenen Grenzen gegenüber fachfremden Erkenntnissen zu öffnen, hat mich immer angezogen. Disputationen und Freundschaft bis zu seinem plötzlichen und für mich grausamen Tod hielten an. Ich hatte immer das Gefühl, mit Egon Matzner eine wissenschaftliche und politische Verbin-
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dung eingegangen zu sein, die mich über den Verlust der Kontakte mit meinen wirtschaftswissenschaftlichen KollegInnen von früher mehr als entschädigte. Egon Matzner ist freilich immer Wirtschaftswissenschaftler geblieben. Was ihn persönlich aber auch aus seiner Disziplin hinaustrieb, war seine humanistische Gesinnung als Sozialist. Matzner war bis zuletzt sozialdemokratisches Urgestein. Zu einem Zeitpunkt, wo sich PolitikerInnen der SPÖ von sozialdemokratischen Grundsätzen und Zielen verabschiedeten und sich anschickten, den Erfordernissen der Globalisierung und des Neoliberalismus nachzutrachten, blieb er der roten Fahne treu. Seine Kompromisslosigkeit in Grundsatzfragen habe ich immer geschätzt. Und um Grundsatzfragen ging auch stets unser Disput. Ich möchte im Folgenden meine letzte theoretische Auseinandersetzung mit Egon Matzner dokumentieren. Sie bildet den plötzlichen „End“-Punkt einer Vielzahl von Disputationen. Es handelt sich dabei um eine anlässlich meines zuletzt erschienenen Bandes „Aufspaltung und Zerstörung durch disziplinäre Wissenschaften“ – für den ich als Herausgeber zeichne – entfachte Kontroverse über den Begriff der „Grenze“. Egon Matzner hat erste kritische Überlegungen zu meinem Buch zusammengefasst, die er noch korrigieren und danach als Rezension veröffentlichen wollte. Die erste Gedankenskizze zu einer Rezension mit dem Titel „Mit Freud und Ernst die Welt erkennen“ zeichne ich aus einem mir von Egon Matzner zugesandten dreiseitigen Schriftstück nach. Ich antwortete über E-Mail. Matzner reagierte auch noch in einem zweiten Anlauf. Schließlich sandte auch ich noch eine zweite Mail nach Tunis, auf die Egon Matzner nicht mehr antwortete. Ich weiß nicht einmal, ob er sie noch las. Denn vier Tage später war Egon Matzner tot. 1. Subjektivität und Anthropozentrierung An diesem Punkt angelangt scheint es ratsam, einige Hinweise zu meiner „Theorie des vorlaufenden Zusammenhangs“ (in: „Aufspaltung und Zerstörung durch disziplinäre Wissenschaften“, Innsbruck 2003) vorzustellen. Ich verwende dabei auch den Kurztext, den ich Wilfried Schönbäck schickte, um ihm einen kurzen Eindruck davon zu geben, welcher Natur die Kontroverse zwischen Matzner und mir eigentlich war. Ich beginne: Das implizite oder auch explizit gemachte Menschenbild der meisten Wirtschaftswissenschaftler ist weder evolutionstheoretisch, freudianisch oder gar schöpfungstheologisch geprägt, vielmehr anthropozentrisch bzw. humanistisch. Ihr Credo – es ist das des euro-amerikanischen (westlichen Systems) – lautet: „Der Mensch steht im Mittelpunkt!“ Die Formel wird allgemein für gut befunden. Doch näheres Hinsehen lässt erkennen, dass sie einem narzisstischen Bedürfnis des als Monade verstandenen „Individuums“ entgegen-
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kommt. In einer Welt, die immer mehr von Trennungen geprägt ist, sei es praktisch durch die Arbeitsteilung, sei es theoretisch durch das Prinzip der methodischen Abstraktion (des „In-Absehung-von-etwas“, also der AbGrenzung), wird ein ins Zentrum gestellter Einzelmensch mit der exakt gegenteiligen Bestimmung, als es tatsächlich der Fall ist, gedacht. Denn nie hat es ein derart in sich aufgespaltenes Einzelwesen „Mensch“ gegeben, wie seit Beginn derjenigen Epoche, die uns die „Ungeteiltheit“ im Begriff „InDividuum“ versprach. Als könnten wir unser Dasein als arbeitsteilige Dividuen in einer technifizierten und immer weiter durchorganisierten Industriegesellschaft mit einer idealistischen Hoffnung auf das genaue Gegenteil vergessen machen! Doch diese Selbsttäuschung hat noch weitere Auswirkungen auf eine Theorie der Wirtschaftssubjekte samt ihren so genannten Bedürfnissen. Welche Wirtschaftstheorie würde nicht allein deshalb schon ideell die Souveränität und Autonomie aller im Kreislauf einer Wirtschaft Tätigen annehmen, weil sie von vornherein und ausschließlich dem Menschen Subjektivität unterstellt?! Diese anthropologische Doktrin tritt mit einer ungeheuerlichen Selbstverständlichkeit auf. Deshalb ist zu erwarten, dass meine Frage nach dem Subjektstatus eher absurd erscheinen wird. Ohne jemandem nahe treten zu wollen, ist doch empirisch anzumerken, dass Wirtschaftstheoretiker, wie übrigens auch Theoretiker anderer Disziplinen, heute nicht mehr allgemein gebildet sind – auch eine Konsequenz fortgesetzter Dividuierung. Theorien, wie sie der Weltliteratur zu entnehmen sind, oder auch philosophische Theoriebildungen werden von disziplinären Theoretikern nicht mehr berücksichtigt. So bleibt die „Ent-Subjektivierung“, wie sie etwa von der Philosophie der Postmoderne vorgenommen wurde, von einer Wirtschaftstheorie ignoriert, welche vielmehr die Gewohnheiten und Fraglosigkeiten der Herrschaft des (westlichen) Systems wiedergibt. Diese (systemische) Herrschaft hat sich ja selbst die subjektivierende Kraft schöpferischen, d. h. erfolgversprechenden, steuernden, kontrollierenden und planenden Strebens in der Geschichte zugeschrieben. Warum sollte dann nicht auch in der Theorie der Mensch samt seinen Absichten, Bedürfnissen, Wünschen, Interessen, Begehren, Nutzen – und wie auch sonst noch seine Verhaltensweisen sich ausdrücken mögen – zum Ausgang genommen werden? Es sei „realistisch“ so zu denken, wenn sich die Wirtschaftssubjekte doch empirisch evident in der Weise von Subjekthaftigkeit, d. h. als Schöpfer ihres Geschicks verhalten! In der Betrachtung von Weltgeschichte bildet der Mensch die Ausgangnahme – er setzt sich als immer schon gewesen. Selbst das Nachdenken über die prähumane Entwicklung wird einer hiefür eingerichteten „Disziplin“ überlassen. Dabei wird der „vorlaufende Zusammenhang“ und das Nachdenken über diesen außer acht gelassen. Disziplinen erhalten sich über den Grundsatz des „Teilens und Herrschens“. Das gilt für die positivistischen Wissenschaften genauso wie für die praktische (politische) Herrschaft.
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2. Zum Verhältnis von Entstehung und Entstandenem Ich halte einen humanistisch geprägten Zentrismus schon allein deshalb für unangemessen, weil der Mensch als in der Evolutionsgeschichte später Hinzukommender sich als solcher vorgängiger Entwicklung verdankt. Das Verhältnis von Entstehung zum Entstandenen ist als wesentlich wichtiger anzusehen, als willkürlich herausgenommene Ursache/Wirkungs-Komplexe, welche auf isolierende Setzungsakte zurückgehen. Entstehung bildet den Vorlauf bzw. Vorangang des Entstandenen. Alles Entstandene verdankt sich also der Entstehung – und nicht umgekehrt. Die Entstehung hat weit mehr und noch andere (vor allem für uns Menschen als Entstandene und deshalb nachkommend Hervorgebrachte unbekannte) Bezüge, als dass sie im Entstandenen enthalten wäre. Nur das Entstandene/Hervorgebrachte ist in der Entstehung/ Hervorbringung enthalten. An dieser Verhältnisbestimmung lässt sich ersehen, dass ein dergestaltes Denken gänzlich von kausalen Setzungen unterschieden werden muss, welche auch dadurch, dass sie wechselweise vorgenommen werden (Reziprozität), ihren Status als Setzungsakte nicht überwinden können. Der „Vorgängigkeit“ von Entstehung und Zusammenhang gegenüber dem „Nachlauf“ von Entstandenem und Unterscheidung hätte also alles Denken und Handeln des Menschen (als eben auch Entstandener/ Hervorgebrachter) zu entsprechen. Wissenschaft und Praxis müssen sich als nachträglich erfahren und haben sich deshalb an ihrer Entstehung im Sinne methodischer Ausgangnahme zu orientieren. Genau das ist bei Setzungsakten nicht der Fall. Setzungsakte erfolgen disziplinär willkürlich, wobei die Ausgangnahme bereits als Setzung gedacht ist. Erfolgt hingegen die Ausgangnahme bei vorlaufenden Gegebenheiten (=Vorgegebenheiten) gegenüber nachträglich Hervorgebrachtem, so ist nicht Willkür am Werk; vielmehr orientieren sich Denken wie Handeln am tatsächlich verlaufenden Entwicklungsgeschehen. Der Zusammenhang steht ebenfalls vor der Differenzbildung (nicht: Trennung). Diese Überlegung bildet die Basis meiner Theorie des vorlaufenden Zusammenhangs. Hier wird der Zusammenhang bereits als vorhergehend betrachtet – und stellt sich nicht erst hinterher als „Zusammen-Setzung“ von durch den Menschen zuvor in Einzelteile Getrenntem dar. 3. Setzungsakte/Aufspaltung –Positivismus/Symptombildung Setzungen sind das Hauptmerkmal positivistischer Wissenschaft. Die (Erkenntnis-)Gegenstände werden getrennt, gesetzt, vorgestellt, definiert, konstruiert, zurechtgerichtet. Eine Grund-Setzung dabei bildet die GleichSetzung (A=A). Dinge, die unterschiedlich sind bzw. sich verändern, werden, indem man von ihren Unterschieden oder Veränderungen absieht, gleichgesetzt (Identität). Im Fall, dass die Abweichungen nicht mehr ignoriert werden können, setzt unser (axiomatisches) Denken die Dinge einander entgegen
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(Entgegen-Setzung). Die Denkformel lautet also: Entweder sind Dinge gleich (A=A), oder aber sie haben nichts miteinander zu tun und stehen in Gegensatz zueinander (AA). Ein Drittes gibt es nicht (ein Drittes wird ausgegrenzt, Axiom des ausgeschlossenen Dritten). Dass die Denkgesetze von Gleich-Setzung und Entgegen-Setzung mithin als Setzungsakte durchschaubar sind, hat auch eine etymologische Pointe: „positivus“ kommt von ponere (lat.), d. h.: setzen, stellen. „Definieren“ wiederum heißt „abgrenzen“, wobei jener Bereich, von dem abgegrenzt wird, unerkannt bleiben darf. Da der verbleibende Teil, welcher erforscht werden soll, jedoch mit dem unerkannten Bereich in einem vorlaufenden Zusammenhang steht, wird notgedrungen der für die Erkenntnis abgetrennte Restteil der Disziplin eine Fehlgrundlage für Forschung liefern. Das somit erarbeitete „Wissen“ hat sich ja durch „trennendes Denken“ hergestellt – und ist nicht über „zusammenhängendes Denken“ entstanden. Beide Arten des Forschens – Denken über den Zusammenhang, Denken über Aufspaltung – verdanken sich unterschiedlicher Herkunft. Sie ziehen auch verschiedene Resultate nach sich. Ja, ich füge noch hinzu: Sie können nicht beide wahr sein. Nur zusammenhängendes Denken kann wahr sein. Trennendes Denken kann deshalb unter keinen Umständen wahr sein, weil es die Rechnung ohne den Wirt macht. Das Moment der Verbindung (des Zusammen) bleibt doch in der Realität auch für den bloß durch willkürliche Trennung hergestellten Restteil weiterhin bestehen. Wenn ich nur so tue, als gäbe es die Verbindung nicht, so gelange ich in der Erforschung des (definierten) Restteils zwar zu einem – womöglich „erfolgversprechenden“ – Resultat, um Wahrheit handelt es sich dabei aber nicht. Das erfolgversprechende Trennungs- und Setzungsdenken des Positivismus ist heute als universal herrschend anzusehen. Diese Tatsache wiederum hat als universaler Mangel zu gelten, den Adorno „universalen Verblendungszusammenhang“ nennt. Menschen also, die „zusammenhängend denken“ wollen, brauchen demnach auch eine Theorie der Negativität. Diese Theorie der Negativität erklärt, warum das Denken der Menschheit heute, in aller Regel, gerade Unwahrheit auszeichnet. Überdies deutet „Verblendung“ auch ein „Unbewusstes“ an, das durch eine metapsychologische Theoriebildung (etwa im Sinne Freuds) nach einer Erklärung verlangt. Dieses zusätzliche Problem, das wir bei einer methodisch gesicherten wissenschaftlichen Ausgangnahme auch als Universalität von Negativität zu berücksichtigen haben, fordert uns eine Theorie zweier Ebenen ab. Auf der Ebene des Bewusstseins bedarf es der Setzungsanalyse, auf der Ebene des Unbewussten gilt es, Negativität abzuarbeiten, d. h. sie nicht nur zu erkennen, sondern sie gleichzeitig zu therapieren. Über einen normalen Aufklärungsprozess ist der Negativität nicht – anders als bei der Setzungsanalyse – beizukommen. Vielmehr haftet der Negativität die Symptombildung von Be-
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Setzungsformen an, welche – um überwunden oder gelöst zu werden – einer seelischen Behandlung bedürfen. Auf der Ebene des Bewusstseins ginge es also um die Ausgangnahme von (Vor-)Gegebenheiten bzw. (Vor-)Bedingungen anstelle von Setzungen. Auf der Ebene des Unbewussten wiederum haben wir es in unserer Ausgangnahme mit Symptomen von Selbsttäuschung, Mangelerscheinungen und Destruktionsformen zu tun, welche selber wiederum als (Vor-)Gegebenheiten anzusehen sind. Von Vorgegebenheiten auszugehen heißt also – und dieser Gedanke sollte niemals vergessen werden – dass sie ihrerseits nicht vor Negativität, wie eben Setzungen auch, gefeit sind. Da menschliches Denken immer schon Hervorgebrachtes ist, kann dieses Hervorgebrachte selber nie hinter die Entstehungsbedingungen der Entstehung zurück, um vollends an Hand durchgängiger Orientierung auch von Entstellung und Gewalt gereinigt zu werden. Ein Rest an Negativität wird also in jedem Fall bleiben, wodurch sich Wahrheit stets auch als Forderung an einen selbst erweist, sich in der Wahrheitssuche zu verbessern – und nicht einer gesetzten „Wahrheit“ nachzutrachten, die vermeintlich in Gegensatz zur Unwahrheit steht. Es geht also um Wahrheit, die sich als „eine Bewegung aus der Unwahrheit heraus“ versteht, wobei Irrtümer und symptomatische Rückfälle jederzeit als möglich mitbedacht werden müssen. 4. Kritik des Kritikbegriffs So wie wir Wahrheit nicht als Gegensatz zu Unwahrheit denken sollten, so darf auch Kritik nicht zu unkritischem Denken und Handeln entgegengesetzt werden. Am Beispiel des Begriffs der Kritik können wir eine der uneingestandenen Voraus-Setzungen der Aufklärung skizzieren. „Kritik“ gehört gleichsam zum Selbstverständnis der Aufklärung. Wie aber sollten wir sie dann noch kritisieren können?! Man kann nicht etwas mit demselben Begriff erklären, wenn dieser im zu Erklärenden bereits enthalten ist. Wir brauchen demgegenüber Kenntnisse über den Vorlauf, also über die Zeit der NichtAufklärung bzw. einer Nicht-Moderne, Wissen über Sinnstränge von Mythen und Glauben, um Unterschiede am Zusammenhang (und nicht Gegensätze über Spaltung) verstehen zu können. Eine Analyse der gesellschaftlichen Mechanismen ist nur möglich, wenn auch die Denkform dieser Analyse mitbedacht wird. Wenn doch die Denkform aus eben den gesellschaftlichen Mechanismen folgt, wie kann sie dann tiefgreifend „kritisch“ sein? Kapitalistische Ökonomie, Wissenschaft/Technik und (formales) Organisationswesen sind die herausragenden strukturellen Merkmale einer im Gefolge „kritischer“ Aufklärung etablierten positivistischen (Post-)Moderne. Diese weitet sich inzwischen als Globalisierung über den gesamten Erdball aus. Entgegen allen Beteuerungen, doch für eine multikulturelle Gesellschaft
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zu sein, zerstört dieses monistische „System“ andere Kulturen. Wir (disziplinären) Wissenschaftler dieses „Systems“ tragen direkt oder indirekt, durch Tat oder Gedanken (Denkgewalt) – und sei es auch nur über Enthaltung – zu dieser Zerstörung bei. Konsequenz dieser Einsicht müsste dann auch sein, dass wir in der Bearbeitung von Schuld bei uns selber („Eigendelinquenz“) begännen. Dies steht im Unterschied zur Schuldsuche bei Dritten, den so genannten „Sündenböcken“. Wenn wir von „Gewalt“ sprechen, ist es also am wahrhaftesten, wenn wir gleich bei unserer eigenen Gewalt, der Denkgewalt als Wissenschaftler, Ausgang nähmen. Wie gesagt, das steht, wenn wir die Psychopathologie unserer Lebens- und Arbeitsweise hinzunehmen, immer noch im Rahmen des Diagnostischen. Wenn wir aber eine „Lösung“ suchen, so brauchen wir die Hilfe Dritter. Und als Dritte könnten wir ein Prinzip von „Andersheit“, „Fremdheit“ und damit zusammenhängend gerade solche Menschen, Gruppen, Ethnien oder Kulturen wählen, die durch unser „System“ zum Verschwinden gebracht werden. – Diese hier in aller Kürze und nur ansatzweise vorgetragene Theorie bildete also die Basis einer Kontroverse zwischen Egon Matzner und mir. In „Aufspaltung und Zerstörung durch disziplinäre Wissenschaften“ findet sich diese Theorie näher ausgeführt. In einer vorläufigen Rezension mit dem Titel „Mit Freud und Ernst die Welt erkennen“ geht nun Egon Matzner darauf ein. Ich zitiere aus seinem Schreiben vom 26. Juli 2003 (die wenigen Tipp- und Schreibfehler wurden von mir korrigiert). 5. Mit Freud und Ernst die Welt erkennen „Die Botschaft ist klar: Das Betrachten der Welt durch die Brillen der Disziplinen ist zerstörerisch. Es führt in die Irre und bietet eine schlechte Anleitung zum Handeln. Sowohl die Handelnden und Begünstigten der vorherrschenden Verhältnisse als auch deren Kritiker und selbsternannten Überwinder sind von disziplinären Erkenntnismängeln befallen. Die Botschaft stammt von dem Innsbrucker Philosophen und Politikwissenschaftler Werner W. Ernst... Die disziplinäre Aufspaltung ist, wie Werner W. Ernst zeigt, Ergebnis der „Setzungs-Macht“. Die Wissenschaft (wohl besser die „scientific community“) definiert durch Grenzziehung die Begriffe, welche auf die ebenso festgesetzten Probleme Anwendung finden. Ernst bedient sich des Terminus „Analyse“, um aus dessen ursprünglicher Bedeutung die Einsicht in ein „Auflösen“ zu gewinnen. Durch „Setzung“ geraten oft wichtige Teile der Wirklichkeit aus dem Blickfeld, sie werden systematisch nicht wahrgenommen. Danach wird auf unzureichender Grundlage weiter gehandelt... Im Bereich des sozialen Zusammenlebens im Kleinen und in der Politik im Großen wird durch die disziplinäre Aufspaltung oft übersehen, dass Phänomene, wie beispielsweise die Ausländerfeindlichkeit, ihren Ursprung im
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unreflektierten Innenleben des Hassenden haben, das sich dann ein Subjekt des Hasses als Sündenbock sucht. Eine Folge dieses disziplinären Herangehens ist die Entlastung des Wissenschaftlers von Verantwortung. Aus der disziplinären Aufspaltung ergibt sich ein von Werner W. Ernst als „schizogen“ bezeichnetes „Weltbild des Positivismus“. (Der Satiriker Tom Lehrer, der auch Mathematik an der Harvard University unterrichtete, hat dies in einem Song so ausgedrückt: „Once rockets are up, who cares where they fall down? That is not my department, says Wernher von Braun...“) Die Setzungsgewalt setzt nach Ernst bei der „Ein-Setzung“ des autonomen Subjekts „Mensch“ als dessen eigener Grund und Mittelpunkt von „Welt“ ein. Die Gleich-Setzung (von A=A) als Leugnung des Unterschieds und die Entgegen-Setzung (von AA) als Leugnung des Zusammenhangs bilden fortan die voraussetzungslose Gewissheit des Denkens, das so zerstörerisch wird. Werner W. Ernst schlägt daher vor, das „teuflische Procedere der Abgrenzung“ („der Teufel ist gewiss der erste Positivist...“), ergo den Identitätssatz (A=A) aufzugeben und „unreine“ Zwischentöne und Mehrfachbedeutungen zuzulassen, die es erlauben, die Welt besser zu erfassen. Soweit die Wiedergabe des Ernstschen Denkens, das sich von Freud herleitet. Man wird Werner W. Ernst in wichtigen seiner Beobachtungen und Aussagen Recht geben. Die disziplinäre Grenzziehung kann gewiss die Wahrnehmung von „Wirklichkeit“ behindern und verfälschen. Die Setzungsmacht ist real, insbesondere wenn sie mit materiellen Interessen einhergeht, was jeder akademische Bürger täglich erleben kann. Die Schädlichkeit dieser Tradition kann sich noch vergrößern, wenn sie blind und unbedacht wirkt. Dies muss jedoch keineswegs der Fall sein. Und Probleme, die durch schädliche Grenzziehung zustande kommen, erzeugen in der Regel auch jene Energie, die dann zur Korrektur Anlass geben wird. Denkwerkzeuge kann man eben mehr oder weniger gut hand- oder besser kopfhaben. Darüber hinaus muss man gegenüber Ernst das Konzept der „Grenze“ prinzipiell verteidigen. Ernst scheint zu verkennen, dass die „Grenze“ für die menschliche Existenz konstitutiv ist. Wenn das „Ich“ nicht durch eine Grenze definiert ist – das weiß der praktizierende Psychoanalytiker Ernst –, dann stellen sich Überlebensprobleme ein. Wenn es bezüglich Raum und Sachen keine Grenzen der Verfügung gibt, dann ist dies dem Fruchtgenus („Arbeitsproduktivität“) nicht zuträglich. Grenzenlosigkeit ist wirklichkeits- und lebensfremd. Sie ist eine Eigenschaft, die in Alicens Wunderwelt gehört. In der Welt des Denkens ist Grenzziehung in ihrer reinen Form für die Analyse konstitutiv. In dieser geht es um randscharfe Begriffe, die die Unterscheidung zwischen A und ¬A ermöglichen. Ihre reine Ausprägung bilden Zahlen, wo der Satz vom Widerspruch für 1 und alle Zahlen gilt. Analysis und die Anwendung anderer Mathematiken im Bereich der Lebenswissenschaften ist deshalb mit der Frage zu verbinden, ob sie dem zu untersuchen-
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den Problem angemessen sind. Überall dort, wo es um qualitative Veränderung geht, ist dies nicht der Fall. Denn qualitative Veränderung heißt, formal ausgedrückt, dass ein A zu einem ¬A wird. Der exzellente Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler Nicholas Georgescu-Roegen hat auf dieser erkenntnistheoretischen Grundlage (in seinem Hauptwerk „The Entropy Law and the Economic Process“, Harvard University Press 1972) die Bioökonomie begründet. Für ihn ist Analysis unverzichtbar, bedarf jedoch der notwendigen Ergänzung durch die Dialektik des ¬A=A. Alle Lebenserscheinungen unterliegen dem ewigen dialektischen Prozess des Wandels von A. Schon um diesen erkennen zu können, bedarf es der Analysis. Werner W. Ernst scheint zu verkennen, dass die „teuflische“ Grenzziehung die Voraussetzung von Spezialisierung und Arbeitsteilung ist... Eine Umkehr des Denkens liefe auf eine Rücknahme der Arbeitsteilung hinaus. Damit einher ginge der Verlust großer Teile der Lebensmittelgrundlage der Weltbevölkerung. Eine radikale Umkehr des Denkens und Handelns im Sinne der Ernst’schen Theorie ist deshalb weder möglich noch wünschenswert. Sie empfiehlt sich hingegen als homöopathische Medizin. Sie erinnert daran, dass in der Spezialisierung und Arbeitsteilung wissentlich oder unwissentlich Wichtiges übersehen wird.“ – Soweit Matzners Kritik an mir. Ich antwortete darauf in einer E-Mail wie folgt. 6. Verhältnis von Zusammenhang und Unterschied Ich wundere mich wirklich. Glaubst Du denn, ich würde einem Einheitsbrei (ohne Unterschied) Vorschub leisten wollen? Freilich findest Du bei mir nicht den Grenzbegriff. Grenze und Definition dürfen nicht die Ausgangnahme sein. – Ausgangnahme hat vielmehr der Zusammenhang zu sein. Das geht aber nur, wenn er begriffen ist. Und das kann wiederum nur über die Unterschiede (Scheiden!) sein. Es geht also um die Erkenntnis des Zusammenhangs von Zusammenhang und Unterschieden. Und das wiederum erfolgt selbstverständlich über randscharfe Begriffe. Ich bin doch – wie du weißt – ein Begriffsfetischist. Ich kann doch nicht ernsthaft von komplexen Zusammenhängen reden – ohne Unterscheidungen. Der Unterschied ist nur, dass ich das niemals ohne Wahrung des Zusammenhangs machen möchte, während die disziplinären Grenzzieher diesen Zusammenhang gar nicht kennen, sondern von vornherein mit einem Diesseits der Grenze beginnen. Methode dabei ist, von dem Jenseits der Grenze gar nichts wissen zu müssen. (Dazu gibt es einen berühmten Aufsatz von Luhmann.) Sie sagen auch, man kann nicht beide Seiten gleich gut kennen – während ich hingegen sage, es kommt auf die Gratwanderung an (dabei muss eben der Grat sehr wohl ganz genau gekannt werden), ich habe dann Bereiche von hüben wie drüben (aber das vorlaufend und in Sichtweite und gerade nicht alles).
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Ich meine, dass die Frage der Ausgangnahme, die nicht willkürlich über Disziplinen laufen sollte, die allerwichtigste ist. Natürlich gilt immer auch: Vive la différence! Doch der Unterschied ist am Zusammenhang. Lieber als vom Unterschied spreche ich noch von Ausnehmung. Wenn Du das unbedingt wolltest, könntest Du Ausnehmung auch Grenzbildung nennen. Dann bitte sie aber auch wie Ausnehmung zu verstehen! Die disziplinierende Grenz-Setzung hingegen ist beliebig und teilt nur herrschaftshalber ab. Der tiefere Grund für diesen Abweg ist, den Zusammenhang (besonders den des Forschers mit seinem Gegenstand) vergessen zu machen. Das aber bleibt freilich unbewusst. – Auf diese meine Bemerkungen hin antwortete Egon Matzner in einer neuerlichen E-Mail wie folgt. 7. Grenze „Ich glaube nicht, dass ich dich missverstehe. Ich sehe die Welt anders, habe mich auch immer mit den Erkenntnisbrillen für den Zweck des Selbstgebrauchs vergewissert. In vielem und wichtigem stimme ich Dir zu. So geht es auch mir „um den Zusammenhang von Zusammenhang und Unterschieden“. Auch das „Vorlaufende“ ist mir wichtig. (Deshalb schon vor 25 Jahren mein Interesse für die – Elias`sche – Soziogenese des Staates, mit der ich die unhistorische, Komplexität eliminierende Disziplin der Finanzwissenschaft kritisiere.) Ich sehe sehr wohl das Zerstörerische von Grenzziehung. (Auch das steht schon im Staatsbuch. Ich bin nach Berlin immer über Ostberlin angeflogen, um das Zerstörerische der Mauer- und Stacheldrahtgrenze anschaulich zu erfahren... Ich habe übrigens auch den Begriff „Identität“ zurückgewiesen und durch „Identitäten“ zu ersetzen vorgeschlagen.) Ich gebe Dir auch insofern Recht, als ich die fatalen Folgen von (doch) solcher Setzung ebenfalls sehe. Wir unterscheiden uns am solchen. Die Grenze ist dennoch auch produktiv. Ich halte schon lange eine Untersuchung des Begriffs der Grenze und seines weitgehend ungeklärten Gebrauchs für wünschenswert. Obwohl er im destruktiven wie im konstruktiven Sinn so wichtig ist, wird er zumeist unbedacht, gleichsam als Redensart, verwendet. Nur die Definition der Grenze in der Mathematik ist unmissverständlich. Sie ist, wie Du schreibst, ein metaphysisches Konstrukt, doch für Analysis wie Dialektik konstitutiv... Was Du in Deinem Buch im Kapitel über Wissenschaft (S. 28–36) schreibst, scheint mir weniger strittig als du meinst. Eigendelinquenz kommt immer vor (Erbsünde?). Ich frage deshalb in Berufungskommissionen regelmäßig: Was sind die drei wichtigsten Eigenfehler, die Sie korrigiert haben? – Erklärungen sind in der Wissenschaft immer nachträglich. – Die IchSetzung ist ein wichtiger evolutorischer Akt, ja Fortschritt. Denn Menschen oder soziale Gebilde, in denen das Ich-Bewusstsein nicht ausgeprägt ist, ge-
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hen unter und sind auch anderen nicht nützlich, meist schädlich. – Auch die Setzung von „Zukunft“ hat sich als produktiv erwiesen. Das Meer enthält als Begriff die Wellen und der Berg die Klüfte. In meiner Weltsicht werden durch A=A weder Wellen noch Klüfte geschluckt. Alles scheint auf die Antwort auf zwei entscheidende Fragen hinauszulaufen: 1. Ist die Grenzziehung nur zerstörerisch? 2. Oder ist die Grenzziehung auch die Grundlage von Werte schöpfender Arbeitsteilung und Verantwortung? – Zugespitzt ausgedrückt: Werner W. Ernst beantwortet 1. mit ja und 2. mit nein. Egon Matzner verneint 1. und bejaht 2.“ 8. Positivität und Negativität, Verlust von Eigenmacht In einer E-Mail vom 11. September 2003 antwortete ich nochmals auf die Einwände Egon Matzners. Es ist meine letzte Mail an ihn geworden. Sie steht vor mir wie ein kleines Denkvermächtnis an diesen teuren Freund. Und sie bildet nicht nur das Ende meiner Dokumentation unserer gedanklichen Kontroverse, sondern gleichzeitig den für mich tragischen Abschied von einem Geistesmenschen, der über allem noch ein guter Mensch war. Wenn ich gemäß Adorno auch in Sachen Erkenntnistheorie von einer Herrschaftskritik ausgehe, dann stellt sich für mich die gemeine Grenzziehung, wie sie in den Wissenschaften gang und gebe ist, negativ dar. D. h. ich halte nur diese für zerstörerisch! Und zwar deshalb, weil sie sich nur produktiv gibt. Dieses Nur-Produktive ist das Negative. – Wenn Du nun von „auch produktiv“ oder „auch die Grundlage von Werte schöpfender Arbeitsteilung und Verantwortung“ sprichst, so tust Du so, als hättest Du dabei die (herrschende) Negativität mitbedacht. Du gibst mir ja auch bei meinen Negativitätsanalysen Recht, freilich immer mit der Positivitätsklausel in petto („es gibt ja auch etwas Gutes daran!“). Bei Deinen eigenen positiven Feststellungen hingegen, wie Spezialisierung, Arbeitsteilung und Verantwortung, fehlt dann die Negativität, mit der doch solche Setzungen immer gegenzurechnen wären. Du müsstest nämlich im selben Atemzug und dieselbe Sache betreffend den Preis nennen. Das ist doch genau die Methode, die Horkheimer und Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ anwenden. Unser „Fortschritt“ ist erkauft durch Mängel oder Folgeprobleme, die nicht gleichzeitig in die Beurteilung aufgenommen werden, weil Fortschritt, Kritik, Aufklärung eben nur positiv gesehen werden. Und dieses „nur positiv“ nenne ich „nur zerstörerisch“. „Nicht nur zerstörerisch“ hieße es, wenn eben wie bei Adorno/Horkheimer (und mir) die Gegenrechnung gleichzeitig aufgemacht werden würde. Dann wäre Produktives und Zerstörerisches beisammen (ähnlich wie das mit Gut und Böse ist). Also, auch Du hast Dich der adornitischen Kritik ausgesetzt, als Du von Werte schöpfender Arbeitsteilung und Verantwortung sprachst, ohne die damit zusammenhängende Preisgabe zu nennen. Was wie Disziplin und
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Kompetenz aussieht (das Ergebnis der Arbeitsteilung), ist – wie kaum jemand eindrücklicher als Marianne Gronemeyer darlegte – erkauft durch die Preisgabe von Eigenständigkeit und Selbstvermögen. Wir können kaum mehr selbständig irgendetwas anbauen, wenn das plötzlich notwendig wäre, wir kennten nicht einmal Beeren und Pilze, wenn wir von der Hand in den Mund leben müssten, und kaum jemand von uns kann noch reparieren oder basteln. Und Du weißt, es könnten wirklich einmal länger die Lichter ausgehen, die Maschinen innehalten und keine Nahrungsmittel auf dem Markt zur Verfügung stehen. Und wir könnten uns kaum noch helfen, weil wir grundlegende Tätigkeiten für ein arbeitsteiliges Tun eingetauscht haben. Und wie sich das arbeitsteilige Konzept dann noch auf die Klassenspaltung im Staat und erst recht global ausgewirkt hat (Entwicklungsländerproblematik), das brauche ich Dir erst gar nicht zu sagen. – Ich war jetzt in China und ich weiß zu berichten, dass die letzte Revolution, welche die negative Seite der Arbeitsteilung noch gesehen hat, die maoistische Kulturrevolution, wie entschwunden ist – als hätte es sie nie gegeben! – Und dann noch die so genannte Verantwortung! Was daran auch Ideologie ist, hättest Du doch sagen müssen. Das hängt natürlich mit der Klassenproblematik zusammen... – Das waren meine letzten Worte an Egon Matzner. Der durch seinen Tod jäh unterbrochene Wortwechsel findet keinen Anknüpfungspunkt mehr. Viel habe ich auf Egon Matzners Antwort gegeben. Schmerzlich ist mir bewusst, dass eine solche für immer ausbleiben wird. Was mir zum Anknüpfen bleibt: Spuren für eine Erinnerung in die Zukunft.
Das Dilemma der Gefangenen – Ökonomen Wolfgang Blaas
Egon Matzner war ein Wissenschafter, den die Diskrepanz zwischen ökonomischer Lehre und ökonomischer Realität nicht kalt ließ. Viele seiner Arbeiten waren daher geprägt vom Bestreben, die enge Welt der vorherrschenden ökonomischen Theorie zu öffnen für Gedanken, die in der Lage wären, diese Diskrepanz zu verringern1. Als eminenter homo politicus ist ihm sicher auch jene zentrale Schlussfolgerung der Neoklassik ein Anstoß zum Weiterdenken gewesen, nach der die uneingeschränkte Verfolgung des individuellen Vorteils in Summe zum Besten der Gemeinschaft führt. So kann es eigentlich kein Zufall gewesen sein, dass Egon Matzner auf das sog. „Gefangenen-Dilemma“ (im Folgenden abgekürzt: GD) gestoßen ist, denn das Gefangenen-Dilemma ist „… the polar opposite of Adam Smith’s invisible hand, where unconstrained individual utility maximization leads to the social optimum“2. Die folgenden Ausführungen befassen sich mit diesem Paradigma, das heute aktueller den je erscheint, in einer Welt, die den Einzelnen und seine individuell-unabhängigen Lebensentscheidungen zunehmend in den Vordergrund stellt zulasten solidarischer Verhaltensweisen3. Es soll zunächst das GD vorgestellt werden (Kapitel 1); danach werden einige Beispiele der Anwendung des GD in der ökonomischen Literatur präsentiert (Kapitel 2); darauf folgt eine kurze Zusammenfassung jener Arbeiten Matzners, die diesem Paradigma verpflichtet sind (Kapitel 3), und schließlich wird eine wissenssoziologische Anwendung diskutiert, die möglicherweise Egon Matzners Geisteshaltung entsprochen hätte (Kapitel 4). 1. Das Gefangenen-Dilemma Das Gefangenen-Dilemma (GD) kann als Modell einer Entscheidungssituation unter Unsicherheit betrachtet werden. Zwei Akteure (Personen, Gruppen, Unternehmen, Gemeinden, Länder, Machtblöcke etc.) stehen vor der Entscheidung, eine von zwei möglichen Alternativen A1 oder A2 zu wählen. Diese ansonsten alltägliche Situation erhält durch drei spezifische Charakteristika eine besondere Konstellation. Erstens hängen die Folgen der Entscheidung für jeden einzelnen Akteur nicht nur von seiner eigenen, sondern auch 1 Bezeichnend dafür war etwa sein Interesse an interdisziplinärer Arbeit. Die Mannigfaltigkeit seiner Brückenschläge zur Geographie, Soziologie, Philosophie und Politikwissenschaft ist durch seine Publikationen dokumentiert. Siehe das Werksverzeichnis in diesem Band. 2 Maital/Benjamini, S. 465. 3 Diese Haltung fand eine extreme Ausprägung im bekannten Ausspruch Magret Thatchers, nach dem es so etwas wie „Gesellschaft“ gar nicht gäbe, sondern nur die Summe einzelner Menschen.
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von der Entscheidung des zweiten Akteurs ab, er kann also das letztliche Ergebnis (Erfolg, Misserfolg) nicht alleine bestimmen. Zweitens ist für jeden Akteur unsicher, welche Entscheidung der jeweils andere treffen wird. Und drittens weisen die vier möglichen Ergebniskonstellationen (beide wählen A1; beide wählen A2; der erste wählt A1 und der zweite A2; der erste wählt A2 und der zweite A1) eine charakteristische quantitative Struktur auf. Diese soll zunächst anhand des ursprünglichen GD erläutert werden4. Das GD hat seinen Namen von einem Dilemma, in dem sich zwei Untersuchungsgefangene (A und B) befinden können. Sie werden wegen eines vermuteten gemeinsamen Verbrechens getrennt gefangen gehalten und getrennt verhört, sie haben also keine Möglichkeit, miteinander in Kontakt zu treten. Jedem der Gefangenen wird angeboten, dass er im Falle eines Geständnisses im Prozess als Kronzeuge auftreten kann und dann straffrei bleiben wird. Der andere Gefangene würde in diesem Falle die Höchststrafe (12 Jahre Haft) bekommen (siehe Tabelle 1). Gestehen aber beide die Tat, so werden sie schwer bestraft, erhalten aber wegen des Geständnisses eine Strafmilderung (8 Jahre Strafe). Gesteht keiner der beiden die Tat, so können sie mangels an Beweisen nicht für diese Tat bestraft werden und erhalten eine geringfügige Strafe wegen unerlaubtem Waffenbesitz (1 Jahr). Die Strafausmaße sind so gewählt, dass die individuell rationale Strategie für beide Gefangenen „Gestehen“ ist, denn unabhängig davon, wie sich der andere entscheidet, ist das Strafausmaß bei dieser Strategie immer geringer als bei „Nicht-Gestehen“ (siehe Tabelle 1). Dies entspricht auch der Intention eines Rechtssystems, Strafanreize zu setzen, die die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges bei der Wahrheitsfindung maximieren5. Tabelle 1: Das Gefangenen-Dilemma: Folgen der Entscheidungen der Untersuchungsgefangenen A und B – „Auszahlungen“ (Haftstrafen in Jahren)
Verhalten des Gefangenen A
Gestehen Nicht Gestehen
Verhalten des Gefangenen B Gestehen Nicht Gestehen A 8 Jahre A Freilassung B 8 Jahre B 12 Jahre A 12 Jahre A 1 Jahr B Freilassung B 1 Jahr
4 Der Name „Gefangenen-Dilemma“ geht auf den Mathematiker A. W. Tucker zurück, der dieses spezielle spieltheoretische Modell in den Kontext des amerikanischen Rechtssystems stellte. 5 B. Davy hat darauf hingewiesen, dass man scharf zu unterscheiden hat zwischen den Vor- und Nachteilen der Kooperation (Nicht-Kooperation) zwischen den beiden „Spielern“ des GD für das Kollektiv der beiden Spieler einerseits und für die Gesellschaft als Ganzes andererseits. Gerade das ursprüngliche GD ist ein Beispiel dafür, dass diese beiden Kalküle auseinanderfallen können. Denn in diesem Fall ist eben die Gesellschaft als Ganzes nicht daran interessiert, dass die beiden Spieler kooperieren und damit den Kooperationsvorteil lukrieren. Kooperation ist daher in diesem Fall als gesellschaftlich negativ zu beurteilen (vgl. Davy, 1997).
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Das Verfolgen der individuell rationalen Strategie führt jedoch zu einem Ergebnis, das aus der Sicht der beiden Akteure (Gefangenen) zusammen das schlechteste ist, nämlich zu einem Strafausmaß in Summe von 16 Jahren, während alle anderen Ergebnisse in Summe deutlich besser sind, nämlich 12 Jahre im Falle des Geständnisses nur eines Gefangenen und sogar nur 2 Jahre im Falle, dass keiner gesteht. Betrachtet man daher die beiden Gefangenen zusammen als ein Kollektiv, so führt in dieser Entscheidungssituation individuelle Rationalität zu kollektiver Irrationalität. 2. Anwendungen des Gefangenen-Dilemma-Modells Diese Hauptaussage des GD wäre jedoch (außerhalb rechtspolitischer Überlegungen) nicht weiter von Bedeutung, gäbe es nicht soziale, wirtschaftliche und politische Entscheidungssituationen, die der Situation der Gefangenen im GD entsprechen oder zumindest nahe kommen. Wenn dem so ist und die Aussage des GD verallgemeinerbar ist in dem Sinne, dass die Verfolgung des individuell rationalen Vorteils vieler Einzelakteure zum Nachteil der Gemeinschaft dieser Akteure führt, dann muss diese Erkenntnis zu Konsequenzen in sozialwissenschaftlicher Theorie und politischer Praxis führen. In der Tat ist das Modell des GD in einer Reihe von sozialwissenschaftlichen Arbeiten als Paradigma zur Erklärung sozioökonomischer Phänomene herangezogen worden. Beispiele dafür sind etwa die Arbeiten von Kraft/Weise (1979), Maital/Benjamini (1980), Sutcliffe (1982) und Jöhr (1976). Kraft und Weise zeigen, wie das GD zur Erklärung konjunktureller Phänomene herangezogen werden kann. Sie gehen davon aus, dass sich die Unternehmer als handelnde Gruppe einerseits den Gewerkschaften als Akteuren andererseits gegenübersehen, wobei die Unternehmer über die beiden Handlungsmöglichkeiten „hohe Investitionen“ und „niedrige Investitionen“ verfügen, die Gewerkschaften über die Strategien „hohe Lohnforderungen durchsetzen“ und „niedrige Lohnforderungen durchsetzen“. Die vier möglichen Kombinationen dieser Handlungsalternativen führen zu makroökonomischen Situationen, die die Autoren (1) „Vollbeschäftigungswachstum“, (2) „Hochkonjunktur“, (3) „Depression“ und (4) „Stagflation“ nennen. Die Situation (3) ist durch Stagnation, Unterbeschäftigung und Preisniveaustabilität gekennzeichnet. Für die Arbeitnehmer ist sie daher wegen niedriger Löhne und einer geringen Lohnsumme sehr ungünstig. Aus der Sicht der Unternehmer weist sie aber ein sehr günstiges Erlös-Kosten-Verhältnis auf, wird von ihnen daher als sehr günstig eingeschätzt. Die Situation (1) repräsentiert ein Vollbeschäftigungswachstum mit einer günstigen ErlösKosten-Relation für die Unternehmen und einer hohen Lohnsumme, sie wird daher von beiden Seiten als günstig eingestuft. Ebenso wird die Situation (4) von beiden Parteien annähernd gleich eingeschätzt, und zwar ungünstig. Stagnation, Unterschäftigung und Inflation bedeuten eine ungünstige Erlös-
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Kosten-Relation für die Unternehmen und eine geringe Lohnsumme (trotz hoher Löhne) für die Arbeitnehmer. Ganz gegensätzlich wiederum wird die Situation (2) gesehen, die durch Wachstum, hohe Beschäftigung und Inflation (Hochkonjunktur) gekennzeichnet ist. Während hohe Löhne und eine hohe Lohnsumme zu einer sehr günstigen Einschätzung durch die Arbeitnehmer führen, wird sie wegen der sehr niedrigen Profite von Unternehmerseite als sehr ungünstig betrachtet. Diese Charakterisierung der vier verschiedenen Konjunktursituationen durch Kraft und Weise führen zu folgender ordinaler Präferenzordnung der beiden Spieler: Unternehmer: (3) > (1) > (4) > (2) Gewerkschaften: (2) > (1) > (4) > (3). Unter diesen Annahmen folgt, dass sich Stagflation (Situation 4) als Gleichgewicht einstellt. Dies ist zwar für beide Spieler unbefriedigend, eine Änderung der Strategie, um aus dieser Situation zu entkommen, birgt aber auch die Gefahr einer Verschlechterung, sodass diese ungünstige Konjunktursituation eine gewisse Persistenz aufweist. Die Autoren gehen dann ausführlicher auf die Frage ein, warum eine kooperative Strategiewahl zum Nutzen beider Parteien nicht selbstverständlich ist und dass daher Situationen der Depression und Stagflation relativ stabil sein können und Situationen der Hochkonjunktur in Depressions- und Stagflationssituationen zurückfallen können. Auch bei Maital und Benjamini (1980) spielen Unternehmer gegen Gewerkschaften im gesamtwirtschaftlichen Kontext, hier geht es aber um die Erklärung von Inflationsprozessen6. Die Handlungsoptionen der Unternehmer sind „geringe Preissteigerungen“ versus „hohe Preissteigerungen“, die der Gewerkschaften „geringe Lohnsteigerungen“ versus „hohe Lohnsteigerungen“. Unter den Annahmen dieser Arbeit7 resultiert wiederum das nicht-kooperative Gleichgewicht, das ist in diesem Falle die Kombination hoher Lohn- und Preissteigerungen, also Inflation. Die Autoren dehnen ihre Inflationserklärung auch auf die Variante eines durch Erwartung zukünftiger Preissteigerungen beschleunigten Preisauftriebes aus. In diesem Fall spielen die Konsumenten gegeneinander mit den Handlungsoptionen „jetzt kaufen“ und „warten und später kaufen“. In Erwartung einer sich beschleunigenden Inflation ist die Option „jetzt kaufen“ rational, ihre flächendeckende Umsetzung führt allerdings als self-fulfilling prophecy zum schnelleren Preisauftrieb. Den letzteren Gedanken führt Sutcliffe (1982) noch weiter und postuliert (unter entsprechenden institutionellen Voraussetzungen, insbesondere der Konkurrenz der Gewerkschaften untereinander um Gewerkschaftsmitglieder) 6 Bereits 1970 hatte M. Shubik (1970) postuliert, dass der Inflationsprozess spieltheoretisch gedeutet werden kann. 7 Insbesondere, dass Inflation nicht das Volkseinkommen, sondern nur seine funktionale Verteilung ändert.
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die Möglichkeit eines Inflationsprozesses aus dem Spiel von Gewerkschaften gegen Gewerkschaften. Die Handlungsoptionen sind „Durchsetzung geringer Lohnsteigerungen“ versus „Durchsetzung hoher Lohnsteigerungen“ und es erscheint realistischer, das Spiel so zu interpretieren, dass sich eine Einzelgewerkschaft der Gesamtheit der übrigen Gewerkschaften gegenübersieht. Obwohl Einigkeit darüber besteht, dass moderate Lohnerhöhungen gesamtwirtschaftlich optimal wären, ist es für jede einzelne Gewerkschaft rational, möglichst hohe Lohnsteigerungen durchzusetzen. Ein solcher Kontext kann daher zu lohnkosten-induzierter Inflation führen, die letztlich die Reallohnsituation unverbessert lässt. Einen Versuch, die theoretischen Überlegungen empirisch zu untermauern, stellt eine Studie der australischen Universität Canberra (Stoeckel et al. 1990) dar, in der das Modell des GD auf Handelspolitik zwischen Nordamerika und der EU angewandt wird. Die vereinfachende Annahme lautet, dass den beiden Wirtschaftsblöcken im Wesentlichen zwei Optionen der Außenhandelspolitik zur Verfügung stünden, nämlich Liberalisierung (= kooperative Option) und Protektionismus (= nicht-kooperative Option). Unter weiter präzisierenden Annahmen dieser Politikoptionen werden dann Schätzungen erarbeitet, wie sich die vier möglichen Politikkombinationen auf das Bruttoinlandsprodukt der beiden Wirtschaftsregionen, des AsienPazifik-Raumes sowie auf die globale Wirtschaftsleistung („Welt“) auswirkt (siehe Tabelle 2). Die Struktur der „Auszahlungen“ stimmt bei diesem „Spiel“ zwar nicht genau mit jener des GD-Spieles überein (der kooperative Spieler wird im Falle der Nichtkooperation des anderen nicht durch BIPRückgang schwer bestraft, sondern nur durch entgangenes Wachstum leicht bestraft), es bleibt jedoch die Kernaussage der kollektiven Schädigung bei Verfolgen der nicht-kooperativen, eigennützigen Handelspolitik bestehen. Jöhr (1976) stellt fest, dass Prozesse kollektiver Selbstschädigung nicht in jedem Falle das Gemeinwohl beeinträchtigen müssen (S. 151). Gerade das ursprüngliche GD ist ja ein Fall, in dem sich zwar das Kollektiv der beiden Untersuchungsgefangenen tendenziell selbst schädigt, die Gesellschaft als Ganzes jedoch von dieser Entscheidungssituation profitiert. Tabelle 2: GD in der Außenhandelspolitik: Simulation der Auswirkungen auf das Bruttoinlandsprodukt, in Mrd. US $, reale Werte 1988
EU ist protektionistisch
EU liberalisiert
Nordamerika ist protektionistisch EU –132 Asien-Pazifik –18 Welt: –214 Nordamerika –64 EU 37 Asien-Pazifik 7 Welt: 51
Nordamerika liberalisiert EU 42 Asien-Pazifik 38 Welt: 133 Nordamerika 53 EU 211 Asien-Pazifik 63 Welt: 398
Nordamerika
Nordamerika
7
Quelle: Stoeckel/Pearce/Banks (1990), zit. nach Siebert (1997).
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Weitere Beispiele sind denkbar, etwa die Preiskonkurrenz zwischen zwei Oligopolisten oder auch zwischen einer größeren Anzahl von Produzenten. Jöhr zeigt aber, dass es sich bei Entscheidungssituationen, die zu kollektiver Selbstschädigung führen, keineswegs um Sonderfälle handelt, sondern um weit verbreitete Rahmenbedingungen sozioökonomischer Handlungsweisen. 3. Das GD als Gleichnis in Egon Matzners Forschungs- und Lehrtätigkeit Es war bezeichnend für Egon Matzners vom Mainstream abweichendes Wissenschaftsverständnis, dass ihn weniger die exogen gegebenen und unveränderbaren Präferenzen der Wirtschaftssubjekte interessierten, sondern eher die erklärbaren und gestaltbaren Entscheidungsverhältnisse (der „Kontext“) auf der Mikroebene, die für bestimmte Ergebnisse auf der Makroebene verantwortlich sind. Besonderes Augenmerk widmete er dabei „individualisierten Entscheidungsverhältnissen“, wie sie typischerweise im GD abgebildet sind. Schon in seiner Antrittsvorlesung thematisierte Matzner Entscheidungssituationen, die zu Nicht-Kooperation und damit zum individuell zweitschlechtesten und sozial schlechtesten Ergebnis führen (Matzner 1973). In vielen seiner folgenden Arbeiten spielte dieses Thema eine wichtige Rolle und war die Grundlage nicht nur von forschungsprogrammatischen, sondern auch von gesellschaftsreformerischen Überlegungen. Als Beispiel seien die forschungsprogrammatischen Konsequenzen erwähnt, die Matzner forderte, um das Problem der Arbeitslosigkeit (Matzner 1990) besser verstehen und bekämpfen zu können: „… 1. Zu erforschen sind die sozialen Situationen (Entscheidungs- und Verhaltensverhältnisse) auf Mikro- und Mesoebene, die für Zahl und Art von Beschäftigung/Nichtbeschäftigung bedeutsam sind. […] 2. Zu erforschen ist das tatsächliche Verhalten im Hinblick auf Beschäftigung und Nichtbeschäftigung, hervorgebracht in sozialen Situationen […], wobei diese zu den verhaltensgenerierenden Entscheidungsverhältnissen […] in Beziehung zu setzen sind. 3. Zu erforschen sind die Makrofolgen von Mikro- und Mesoverhalten sowie die […] Bedingungen, unter denen aus der Summe von Mikroentscheidungen ein gesellschaftlich erwünschtes Ergebnis erzielbar ist.“ (Matzner 1988, S. 301) Die gesellschaftsreformerischen Überlegungen zu diesem Themenkreis, obwohl schon 30 Jahre zurückliegend, scheinen heute aktueller denn je: „Für jede Gesellschaftsreform, deren Ziel es ist, gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, die kooperative und solidarische Verhältnisse zwischen den Menschen ermöglichen, ist der Nachweis von größter Bedeutung, dass individualisierte Entscheidungsverhältnisse heute mehr denn je dazu neigen, Zustände hervorzurufen, die nur durch zentral verordnete Verhaltensregeln oder ausga-
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benintensive Sanierungsprogramme erträglich gemacht werden können. […] Diese [Gesellschaftsreform] erhält ein zusätzliches Momentum, wenn die ausgabenintensive staatliche Intervention, die bisher deshalb bevorzugt wird, weil sie der bürgerlichen Hegemonie individualisierter Entscheidungsverhältnisse entspricht, an die Grenzen der steuerlichen Belastbarkeit des Lohnund/oder des Profitanteils am Volkseinkommen stößt“ (Matzner 1976, S. 7). Die Krise des Wohlfahrtsstaates war dementsprechend ein zentrales Thema von Matzners Arbeiten, in denen aber nicht nur die Erklärung der Krise, sondern vor allem die Überlegungen zur Überwindung der Krise breiten Raum einnehmen. Diese Überlegungen haben nicht nur eine Reihe konkreter Vorschläge hervorgebracht (Matzner 1997, S. 447 ff.), sondern auch in zunehmendem Maße die über-nationale Dimension des Problems offen gelegt. So war es nur folgerichtig, dass sich Matzner zunehmend mit europaund weltpolitischen Themen auseinandersetzte. Auch in der Befassung mit diesen Themen (Beispiel: internationaler Standortwettbewerb) wählte Matzner immer wieder spieltheoretische Erklärungsansätze und folgerte aus den Ergebnissen der Analyse8, dass „die überragende Aufgabe der Humanwissenschaften wie der gesellschaftlichen Praxis darin [bestünde], sich mit den Problemen der Inszenierung von Positivsummen-Spielen zu beschäftigen, d. h. die Bedingungen zu analysieren, unter denen Null- und Negativsummen-Spiele in Positivsummen-Spiele transformiert werden“ (Matzner 1996, S. 17). Nicht nur in der Gewinnung von Erkenntnis, auch in der Vermittlung von Erkenntnissen kann das GD mit Nutzen eingesetzt werden. So wurde auch an dem von Egon Matzner geleiteten Institut der Technischen Universität Wien das GD ein fester Bestandteil der Ausbildung. Im Rahmen von Lehrveranstaltungen für Studierende der Raumplanung und Raumordnung, später auch für Studierende der Wirtschaftsinformatik, wurde das GD zur anschaulichen Vermittlung von Mechanismen der gesellschaftlichen Schädigung durch Verfolgen des Eigennutzes verwendet. Das folgende Beispiel stammt aus einer aktuellen Übung im Rahmen der Wirtschaftsinformatiker-Ausbildung. In diesem Spiel treffen Gemeindevertreter zweier Tourismus-Gemeinden (A und B) eine Entscheidung über die Sanierung einer Müllverbrennungsanlage. Im Einzugsgebiet der beiden Gemeinden liegt eine große Müllverbrennungsanlage, die regelmäßig (jährlich) gründlich gewartet werden muss. Ohne jährliche Wartung ist mit einer verschlechterten Lebensqualität und daher mit negativen Folgen (auch) für den Tourismus zu rechnen. Die beiden Gemeinden sehen sich folgender Situation gegenüber:
8 Dazu auch Matzner 1997a. Als ein Lösungsmodell (z. B. für die oben angesprochenen Konjunktur- und Inflationsprobleme) sah er etwa auch die österreichische Sozialpartnerschaft, die nach seiner Meinung eine Weiterentwicklung verdiente, weil sie eben das Element der langfristigen Kooperation über das kurzfristige Gewinnstreben stellt.
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− Die Bonität der beiden etwa gleich großen Gemeinden ist vergleichbar, beide Gemeinden haben ähnlich hohen finanziellen Handlungsspielraum. − Ohne Wartung der Müllverbrennungsanlage verschlechtert sich die Lebensqualität (schlechte Luft und daher verminderte Attraktivität). Bemühungen zum Ausbau des Tourismussektors sind daher nicht sehr erfolgreich, es ist eher mit Rückgängen der Übernachtungen zu rechnen. Die jährliche Wartung würde hingegen eine Verbesserung der Lebensqualität und somit eine Besserstellung der Einwohner sowie erhöhte Einnahmen aus dem Tourismus garantieren. − Wird die Müllverbrennungsanlage ein ganzes Jahr nicht gewartet, sinkt die Lebensqualität in einem Maße, dass beide Gemeinden mit Einnahmeneinbußen im Gemeindebudget von etwa 100 Mio. € zu rechnen haben (A: –100; B: –100). − Beschließen die beiden Gemeinden jedoch, die Müllverbrennungsanlage gemeinsam zu warten, ist mit gesteigerter Lebensqualität und damit mit Tourismuszuwächsen zu rechnen. Nach Abzug der (auf beide Gemeinden aufgeteilten) Kosten für die Wartung ist für beide Gemeinden mit einem Einnahmenzuwachs von je 100 Mio. € zu rechnen (A: +100; B: +100). − Wird die Wartung jedoch nur von Gemeinde A (B) finanziert (die andere Gemeinde B (A) kooperiert hierbei nicht), so kann diese Gemeinde die hohen Wartungskosten nicht durch die zusätzlichen Gemeindeeinnahmen aus dem Tourismusbereich decken. Wegen des Ausfalls von Investitionen in anderen Bereichen verliert die Gemeinde an Attraktivität und kann daher auch aus dem Tourismus nur geringe Mehreinnahmen lukrieren. Die Gemeinde B (A) hingegen profitiert durch die (von A (B)) verbesserte Lebensqualität, muss aber für keine Kosten aufkommen. Daraus ergibt sich die in Tabelle 3 dargestellte Auszahlungsmatrix. Das Spiel ist in drei Spielphasen mit je 10 Entscheidungen unterteilt. Die Teilnehmer bilden zwei etwa gleich große Gruppen. Jede Gruppe stellt eine der beiden Gemeinden dar und wählt einen Sprecher (Bürgermeister). − Spielphase 1: Beide Gruppen müssen ohne Diskussion in der Gruppe mittels geheimer Abstimmung ihre Entscheidung treffen. Die Mehrheit der Stimmen entscheidet. − Spielphase 2: Die zwei Gruppen werden räumlich getrennt. Jede Gruppe hat 4 Minuten Zeit zur Beratung (Gemeindeversammlung), dann gibt der Bürgermeister die jeweilige Entscheidung, die in offener Abstimmung (Handzeichen) fällt, bekannt. − Spielphase 3: Wie in Spielphase 2, nur finden nach den Entscheidungen 1, 4 und 8 fünfminütige Verhandlungen zwischen den beiden Bürgermeistern statt. Ziel der Verhandlungen ist es, die Vorgehensweisen der beiden Gemeinden abzustimmen. Es gibt allerdings keine Sanktionsmöglichkeiten gegen jene Gemeinde, der eine etwaige Vereinbarung bricht.
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Tabelle 3: Didaktisches GD-Spiel: Ausgabenentscheidungen zweier Gemeinden
Gemeinde A
Wartung 100 / 100 400 / –600
Wartung Keine Wartung
Gemeinde B Keine Wartung –600 / 400 –100 / –100
Die Auswertung der Budgetentwicklung der beiden Gemeinden nach Ende des Spieles im Rahmen einer abschließenden Diskussion zeigt den Teilnehmern auf sehr anschauliche Weise, wie sich Entscheidungsverhältnisse auf wirtschaftliche Ergebnisse auswirken können. 4. Die Gefangenen – Ökonomen Könnte es sein, dass Ökonomen selbst in einer GD-ähnlichen Entscheidungssituation stehen, wenn sie sich (am Anfang ihrer wissenschaftlichen Karriere) überlegen, sich voll dem Mainstream einzuordnen oder das Gegenteil zu tun?9. In der akademischen Karriere von Ökonomen könnte eine derartige Entscheidungssituation stark vereinfacht etwa so aussehen (siehe Tabelle 4). Vor die Wahl gestellt, sich dem neoklassischen Mainstream anzuschließen oder aber neue, andere (heterodoxe) Wege zu gehen, hat die erstere Alternative unbestreitbare (Karriere-)Vorteile für den einzelnen Ökonomen. Insbesondere für junge oder noch unbekannte Wissenschafter ist ein klares Bekenntnis zur vorherrschenden Theorie fast eine Bedingung für höhere Weihen der akademischen Laufbahn. Eine gegenteilige Entscheidung ist angesichts der hohen Wahrscheinlichkeit, dass sich andere Ökonomen genau so entscheiden, individuell nachteilig und karrierehinderlich. Die dominante Strategie ist daher, sich dem Mainstream anzuschließen, diese Strategiewahl führt somit auch zum Gleichgewicht. Nur wenn sich beide (d. h. verallgemeinert: alle) Ökonomen für eine pluralistisch-offene Haltung gegenüber der Theorieentwicklung entscheiden, können beide aufgrund der breiten Akzeptanz dieser Haltung auch mit einer akademischen Karriere rechnen. Diese Konstellation ist aber unter den vorherrschenden Gegebenheiten prekär und daher kein Gleichgewicht. Tabelle 4: Das Dilemma der Ökonomen
Strategie Ökonom A
Mainstream Kritik, Weiterentwicklung
Strategie Ökonom B Mainstream Kritik/Weiterentwicklung Karriere für beide und A Karriere theoriegeschichtliche B keine Karriere Stagnation A keine Karriere Karriere für beide und dynaB Karriere mische Theorieentwicklung
9 Im Zusammenhang mit Karriereentscheidungen ist generell eine GD-ähnliche Situation vorstellbar, nicht nur bei wissenschaftlichen Karrieren, sondern auch in anderen Bereichen wie z. B. der Politik. Um mit den Worten des Herrn Karl zu sprechen: „Man hat nie gewusst, welche Partei man wählen soll, weil man nicht gewusst hat, wer die Stärkeren sind“.
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Das Gleichgewicht in diesem wissenssoziologischen Spiel führt also dazu, dass die herrschende Theorie verfestigt und noch dominierender wird. Die „sozialen“ Folgen aber, d. h. die Folgen für die Wissenschaftsentwicklung in diesem Bereich, sind negativ. Statt kritischer Weiter- oder Fortentwicklung, auch durch Verlassen eines sterilen Theoriegebäudes, findet Stagnation statt. Für Egon Matzner war klar, dass ein Abweichen vom wissenschaftlichen Mainstream möglicherweise mit persönlichen Nachteilen verbunden sein könnte. Das hat ihn jedoch nicht davon abgehalten, sich für eine Öffnung und grundlegende Weiterentwicklung der ökonomischen Theorie einzusetzen. Wie im wirtschaftspolitischen so auch im wissenschaftspolitischen Bereich war es seine Art, Wege zu suchen, die Stagnation und Pessimismus überwinden würden. Quellenverzeichnis Davy, B. (1997), Kooperation als Laster. In: Der Öffentliche Sektor – Forschungsmemoranden, 23. Jg., Heft 2–3, S. 20–27. Jöhr, W. A. (1976), Die kollektive Selbstschädigung durch Verfolgung des eigenen Vorteils. Erörtert aufgrund der „Tragik der Allmende“, des „Schwarzfahrer-Problems“ und des „Dilemmas der Untersuchungsgefangenen“. In: F. Neumark (Hrsg.), Wettbewerb, Konzentration und wirtschaftliche Macht. Festschrift für Helmut Arndt. Duncker&Humblot, Berlin 1976, S. 127–159. Kraft, M., Weise, P. (1979), Das Spiel um Stabilität: Konjunktur und Prisoner’s Dilemma. In: Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik, Band 194, Heft 5, S. 441–461. Maital, S., Benjamini, Y. (1980), Inflation as prisoner’s dilemma. In: Journal of Post Keynesian Economic, Vol. 2, No. 4, S. 459–481. Matzner, E. (1973), Ansätze zu einer Theorie eines staatswirtschaftlichen Interventionismus. Antrittsvorlesung an der Technischen Universität Wien, gehalten am 23. November 1973. Veröffentlicht in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, H. 1, 1975, S. 59–78. Matzner, E. (1976), Bürgerliche Hegemonie und Gesellschaftsreform. In: Die Zukunft, Heft 15/16, S. 1–8. Matzner, E. (1988), Hohe und anhaltende Arbeitslosigkeit als Anlass, über das Ziel-Mittel-Modell der Politik und eine Ergänzung dazu nachzudenken. In: L. Reyer, J. Kühl (Hrsg.), Resonanzen: Arbeitsmarkt und Beruf – Forschung und Politik: Festschrift für Dieter Mertens. Nürnberg. Landesarbeitsamt Nordbayern, Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 1988, Nr. 111, S. 290– 305. Matzner, E. (1990), Vollbeschäftigung durch Ordnungspolitik. In: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, herausgegeben von der Ludwig-Erhard-Stiftung, H. 46, S. 54–60. Matzner, E. (1996), Kooperation oder Desintegration? Eine spieltheoretische Betrachtung der EU. Vortrag vor dem 29. Kongress der Association des Germanistes des L’Enseignement Supérieur, Dijon. Matzner, E. (1997a), Inszenierung von Positiv-Summen-Spielen als primäre Aufgabe der Politik. Gewerkschaftliche Monatshefte, Jg. 48, H. 4, S. 232–239. Matzner, E. (1997b), Die Krise des Wohlfahrtsstaates. Eine Neubetrachtung (frei) nach Schumpeter und Morgenstern. In: Homo oeconomicus, Band XIV, Heft 4, S. 421–456. Shubik, M. (1970), A Curmudgeon’s Guide to Microeconomics. In: Journal of Economic Literature, pp. 405–434. Siebert, H. (1997), Weltwirtschaft. Lucius&Lucius, Stuttgart. Stoeckel, A., Pearce, D., Banks, G. (1990), Western Trade Blocs: Game, Set or Match for Asia-Pacific and the World Economy. Centre for International Economics, Canberra. Sutcliffe, Ch. (1982), Inflation and prisoner’s dilemma. In: Journal of Post Keynesian Economics, Vol. 4, No. 4; pp. 574–585.
Auf(zu)brechende Arithmomorphien, Situationslogik, spontane Ordnung, soziale Gerechtigkeit und Konstruktivismus Peter Henseler
Vorbemerkungen Der vorliegende Beitrag ist eine überarbeitete Fassung eines methodologischen Einleitungskapitels (1.) und eines Resümees (3.) zu einem aus technischen Gründen hier nicht vollständig wiedergegebenen längeren Beitrag (Arbeitstitel: „Aufzubrechende Arithmomorphien – Phänomene im Reich der terminologischen Halbschatten von Recht und Ökonomie, aufgezeigt mit Hilfe der Popper’schen Situationslogik“1), der insgesamt aus folgenden Kapiteln besteht: 1. Methodologische Grundlegung; 2. Untersuchung an Hand aktueller Beispiele: 2.1 Das Beispiel der „Staatswerdung Europas“; 2.2 Das Beispiel der Währungsunion bei gleichzeitig nur rudimentär ausgebildeter Wirtschaftsunion; 2.3 Das Beispiel der Dienstleistungen von „allgemeinem Interesse“ in Europa; 2.4 Das Beispiel des Vertrauensschutzes in der Pensionsreform in Österreich; 3. Resümee. Hinsichtlich des Abschnitts 2.1 ist zu beachten, dass das Gesamtmanuskript Mitte Dezember 2003 fertiggestellt wurde (unmittelbar nach dem damaligen vorläufigen Scheitern der Regierungskonferenz über einen Verfassungsvertrag für Europa). Zum Zeitpunkt der Einreichung des mittlerweile leicht überarbeiteten Gesamtbeitrags zur Veröffentlichung – Ende März 2004 – zeichnete sich realistischerweise eine Einigung über den Verfassungsvertrag in der Regierungskonferenz Mitte Juni 2004 ab. Mit dem negativen Ausgang der Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden Ende Mai/Anfang Juni 2005 ist der Verfassungsgebungsprozess jedoch zumindest vorläufig zum Erliegen gekommen. Zur Thematik des Abschnitts 2.3 hat Egon Matzner in einer seiner letzten Arbeiten am 1. 8. 2003 für den „Workshop on Alternative Economic Policy 1 Das Institut für eine offene Gesellschaft in Wien, das sich nach offizieller Selbstdarstellung als parteiunabhängige Stiftung der Diskurspflege und intellektuellen Auseinandersetzung „zur Weiterentwicklung der Demokratie“ (www.ioge.at) sowie der Traditionspflege von Sir Karl Popper (Förderung der offenen Gesellschaft) und damit wohl auch der Rolle als Gralshüter liberaler Positionen – wenn auch ohne ausdrückliche parteipolitische Etikettierung – verschrieben hat (Vorsitzende des Stiftungsvorstands: Dr. Heide Schmidt, Stellvertreter: Prof. Anton Pelinka, Vorsitzender des 16köpfigen prominent besetzten Kuratoriums: Lord Ralf Dahrendorf) und dem der vorliegende Beitrag zur (Vor-)Veröffentlichung angeboten worden war, zeigte sich als geschlossene Gesellschaft und lehnte eine Publizierung ohne nähere Begründung ab.
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in Europe“ (Brüssel, 26.–28. 9. 2003) eine Einschätzung des am 21. 5. 2003 von der Europäischen Kommission vorgelegten Grünbuchs zu den Dienstleistungen von allgemeinem Interesse in Europa verfasst. Die Kommission hatte für Jedermann die Möglichkeit eingeräumt, bis 15. 9. 2003 zu dem Grünbuch Stellung zu nehmen. Davon hat auch Egon Matzner Gebrauch gemacht. Der 15. 9. 2003 war sein Todestag. Sein Beitrag ging in überarbeiteter Fassung in den Text des Jahresgutachtens 2003 der Europäischen Memorandum-Gruppe ein (2004, Kurzfassung Pkt. 4). Das Jahresgutachten war aus dem erwähnten Workshop hervorgegangen und seinem Gedenken gewidmet worden. Der plötzliche und unerwartete Tod von Egon Matzner erinnert schmerzlich an die Übergangssituation vom Leben zum Tod, mit der jeder nach seiner persönlichen weltanschaulichen, religiösen oder areligiösen Position anders umgehen mag, führt aber abseits von theologisierendem Herangehen alle jene zusammen, die sich einer – nach der Wortschöpfung von Otto Neurath (1929) – metaphysikfreien „wissenschaftlichen Weltauffassung“ verpflichtet fühlen, wie immer kontrovers die Ausgangsposition oder das Ergebnis der jeweiligen intellektuellen Anstrengung auch sein mag. Dies hat gerade Egon Matzner fasziniert, und er hat diese Faszination und die daraus erwachsenden Denkanstöße im Wege des sowohl theoretisch vertretenen als auch praktisch gehandhabten und von ihm geförderten kooperativen Teilhabens an Andere weitergegeben. Dabei hat er immer wieder Wege zu unkonventionellen Denkern gesucht und geebnet. In den 70er Jahren führte ihn dies zu Nicholas Georgescu-Roegen, den er zu einer Gastprofessur in Wien gewinnen konnte, und gegen Ende der 90er Jahre zur (Wieder)-Beschäftigung mit Karl Popper, allerdings mit einer wenig beachteten Facette des Popper’schen Denkens, nämlich der Situationslogik. Dies fügte sich in die Rezeption Hayek’scher methodologischer Gedankengänge, ferner – ausgehend von Torsten Hägerstrand – in die Betrachtung sozioökonomischer Kontexte alltäglicher Situationen, hervorgerufen durch räumlich-zeitliche Restriktionen (ebenfalls erkenntnisleitend für von Egon Matzner angeregte Forschungsanstrengungen), später in die Kontexte zu seiner Auseinandersetzung mit den Problemen der Beschäftigung und der Transformation von Plan- in Marktwirtschaften ein. 1. Matzner und Popper: Die Logik der Situation In Poppers Autobiographie „Ausgangspunkte – Meine intellektuelle Entwicklung“ (1974/1984) finden sich an mehreren Stellen (S. 63, 146, 166 ff., 244 ff., 258) ausdrückliche Hinweise zu seiner Auseinandersetzung mit der Terminologie „Logik der Situation“ bzw. „Situationslogik“. Der „Situationslogik in der Geschichte“ hatte er ja schon im „Elend des Historizismus“ (1957) einen eigenen Abschnitt gewidmet. Genau genommen ging es in diesem Buch um die Widerlegung des Historizismus (siehe dazu
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Näheres weiter unten). In einem Vortrag am Department of Economics der Harvard University (1963; auszugsweise veröffentlicht in französischer Sprache 1967; veröffentlicht in der vollständigen und bereits 1964 überarbeiteten Fassung in englischer Sprache erst 1994 unter „Models, instruments, and truth – the status of the rationality principle in the social sciences“ in dem Sammelband „The Myth of the Framework“) griff Popper diesen Gedankengang wieder auf, verfeinerte ihn u. a. an Hand einer beispielhaften Schilderung einer kontextorientierten Situation („situational analysis of a social situation“), um damit die „Logik einer sozialen Situation“, kurz: „situational logic“ zu erklären (1963/1994, S. 166). Gleich in der ersten Fußnote berief er sich dabei auf Hayeks Formulierung von Wirtschaft als „logic of choice“, die dieser in einem Vortrag in London („Economics and knowledge“) 1936 eingeführt hatte (F.A.v. Hayek 1936/1952). Popper sah sich daraus unmittelbar zu seiner Formulierung „logic of the situation“ veranlasst, die für ihn „the logic of choice and the logic of historical problem situations“ zu umfassen schien. Heutzutage könnte man vermutlich statt „Situation“ in der Sprache der Systemanalyse auch „Systemzustand“, in der Sprache der Institutionenökonomie auch „institutionelles Arrangement“ sagen. Egon Matzner hat 1998 gemeinsam mit A. Bhaduri – übrigens in einer kritischen Auseinandersetzung mit der „geschlossenen Gesellschaft“ einer österreichischen wissenschaftlichen Traditionsinstitution – erstmals im deutschsprachigen Bereich auf diese – bisher offenbar wenig beachtete – Ausprägung Popper’schen Denkens aufmerksam gemacht, nachdem er sich vorher schon – „noch in Unkenntnis“ von Poppers situationsanalytischem Aufsatz – mit dem Approach eines „context making“ auseinandergesetzt hatte (1991, 1994 und 1995). Diese Facette Popper’schen Denkens ist offenbar im Schatten von dessen allseits beachteten und demgemäß dominierenden Arbeiten gestanden, welche die strikte Ablehnung der Dialektik als wissenschaftlicher Methode zum Gegenstand hatten, mit der ja jeder wissenschaftstheoretisch Interessierte gewissermaßen „aufgewachsen“ ist, insbesondere am Beispiel des programmatischen Aufsatzes „Was ist Dialektik?“ (ursprünglich gehalten als Seminarvortrag in Neuseeland, 1937; mehrfach wiederabgedruckt in englischer und deutscher Sprache, etwa in dem Popper-Sammelband „Vermutungen und Widerlegungen“ (1963/2000) sowie – durchaus programmatisch gemeint – auch in dem von Helmut Schmidt mit Vorwort versehenen Sammelband „Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie“, 1975). 2. Popper und die dialektische Logik Popper (hier zitiert nach der deutschen Ausgabe des Sammelbands „Vermutungen und Widerlegungen“, Nachdruck 2000, S. 454–459) gesteht dem „dialektischen Dreischritt“ von These-Antithese-Synthese zunächst durchaus zu,
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„bestimmte Schritte in der Geistesgeschichte recht gut“ zu beschreiben, grenzt ihn dann aber von dem seiner Meinung nach „allgemeineren Schema der Methode von Versuch und Irrtum“ ab und wendet sich schließlich gegen die „unklare Weise, in der die Dialektiker von Widersprüchen sprechen“. Auch wenn diesen (wie der Kritik schlechthin) als „Triebkräfte jedweden Fortschritts des Denkens“ das Attribut „äußerster Fruchtbarkeit“ zuzuerkennen ist, besage nach Poppers bekanntem Diktum die „traditionelle Logik“, dass „zwei Aussagen, die sich widersprechen, niemals zugleich wahr sein können“. „Wenn sich die Dialektiker nun auf die Fruchtbarkeit der Widersprüche berufen, so fordern sie die Aufgabe dieses Gesetzes der traditionellen Logik“ und propagieren damit eine „neue Logik“, eine „dialektische Logik“, die den „gewaltigen Anspruch“ erhebe, „gleichzeitig eine logische Theorie und ... eine allgemeine Theorie der Welt“ zu sein. Genau dieses (und nur dieses) – und nicht schlechthin die Art dialektischdeskriptiven Vorgehens – lehnt Popper mit aller Schärfe ab, weil man letztlich „jedwede Art wissenschaftlicher Tätigkeit aufgeben müsste, wenn man bereit wäre, Widersprüche zu akzeptieren“: „falls zwei sich gegenseitig widersprechende Aussagen zugelassen werden, (muss) jede beliebige Aussage zugelassen werden“. Damit würden Widersprüche ihre Fruchtbarkeit verlieren, Kritik und damit jeder intellektuelle Fortschritt käme zum Stillstand (a.a.O., S. 458–459). Dialektik könne daher „nicht eine fundamentale, sondern lediglich eine deskriptive Theorie“ sein, worin sie auch „vernünftig und anwendbar“ sei. Es sei aber „unangemessen“, sie als Teil der Logik oder gar als Höherentwicklung der Logik anzusehen (a.a.O., S. 468). Es drängt sich natürlich die Frage auf, wie die Sichtweise des „AntiDialektikers“ und Proponenten der „traditionellen“ Logik des Jahres 1937 mit jener des „Situationslogikers“ Popper des Jahres 1963 zu vereinbaren ist. Dazu mag ein Blick auf den bekennenden „Schumpeterianer“ Nicholas Georgescu-Roegen hilfreich sein, den Egon Matzner eröffnet und geschärft hat. 3. Matzner und Georgescu-Roegen: Aufzubrechende Arithmomorphien und terminologische Halbschatten Georgescu-Roegen hat insbesondere das „mechanistische Dogma“ der gleichgewichtsfixierten, auf quantitative Methoden bauenden MainstreamÖkonomie kritisiert (1974/1976, aber auch schon in seinem Hauptwerk „The Entropy Law and the Economic Process“, 1971, insbesondere im Einführungskapitel) und dieser vorgeworfen, nicht in Rechnung zu stellen, dass die Vorgänge in der Natur irreversibel sind (1976, S. 7). Dadurch unterbleibe die Befassung mit qualitativem Wandel und historischen Prozessen schlechthin, an deren Stelle eine mit mathematischen Methoden (scheinbar) präzisierbare Beschreibung, Voraussage und Deutung determinierter, mechanisch ablau-
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fender Prozesse trete. Methodologisch-erkenntnistheoretisch erzwinge das Erfordernis (vermeintlich) maximaler Präzision die Verwendung „randscharfer“ („arithmomorpher“) Begriffe (1971, S. 14 und Kap. I), nicht zuletzt als Voraussetzung für eine Abbildbarkeit in mathematischen Modellen. Dem hält Georgescu-Roegen entgegen, dass sich gesellschaftliche Phänomene der vollkommenen Abbildung durch randscharfe Begriffe entziehen. In den Worten Egon Matzners: „Überall, wo Leben abzubilden ist“ (Über den Wert von Modellen in den Sozialwissenschaften, 1977, S. 131), ist mit GeorgescuRoegen von sich überlappenden Zonen, „terminologischen Halbschatten“ („penumbras“) auszugehen, „in denen A wie ¬A gilt“. Eine präzise Erfassung wie auch vollständige Voraussage sozialer Prozesse sei daher ausgeschlossen. Andererseits könne aber aber genau dadurch (und nur dadurch) qualitativer Wandel beschrieben werden. Inzwischen hat Georgescu-Roegen erkenntnisleitend Eingang in die Werke führender Institutionenökonomen gefunden, die unter Berufung auf ihn „a farewell to ‚economic man’“ sagen, den evolutionären Charakter der Institutionenökonomie betonen und die evolutionäre Perspektive gegenüber dem „mechanical equilibrium theorizing“ als fruchtbareres alternatives Paradigma vertreten (G.M. Hodgson 1988, S. 140), „bringing life back into economics“ (G.M. Hodgson 1993, S. 252). Dazu habe Georgescu-Roegen beigetragen, indem er darauf insistierte, dass operationale Konzepte kontradiktorische oder dialektische Qualität haben sollen. 4. Georgescu-Roegen und Popper: Dialektik, Modelle und Situationen Popper (1937) zufolge kann nun aber A nicht zugleich ¬A sein. Nach Georgescu-Roegen (1971) kann dies, wie Egon Matzner in einem seiner jüngsten Beiträge (2002) neuerlich hervorgehoben hat, sehr wohl – zumindest zeitweise – der Fall sein, andernfalls wären Übergangsphänome (von Leben zum Tod) und qualitativer Wandel (etwa von Demokratie zur Diktatur) nicht beschreibbar. In Georgescu-Roegens Erkenntnistheorie hat daher sowohl die Aristotelische Logik als auch die Dialektik Platz, und man sollte sich Matzner zufolge, abhängig vom zu untersuchenden Problem, beider bedienen. Dialektik als empirisch-deskriptive Theorie erschien Popper (1937) nach eigener Aussage jedenfalls akzeptabel. In Poppers Situationsanalyse (1963/1994) konstatiert Matzner (1998, S. 25) drei Elemente, nämlich (1) das Rationalitätsprinzip, (2) die soziale Situation, von Popper selbst (a.a.O., S. 166) als „Schlüsselbegriff“ bezeichnet, und (3) das Verständnis rationalen Verhaltens als „adäquat“ oder „angemessen“ („appropriately“), d. h. „in Übereinstimmung mit der sozialen Situation“ (a.a.O., S. 169). Nach Matzners Verständnis ist dabei Poppers Vorstellung von „adäquatem“ rationalen Verhalten (trotz des präzisen Konzepts der mikroökonomischen Rationalität) ebenso wenig wie der Begriff der „sozialen Situation“ randscharf, somit also
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offen gegenüber Mehrdeutigem. Popper selbst gesteht in der ersten Fußnote seiner Präsentation der Situationslogik (1963/1994) ein, dass der Ursprung seiner Idee, also ihre Rückführung auf Hayeks „logic of choice“, erklären möge, warum er die Situationslogik nicht als deterministische Theorie angesehen habe: „I had in mind the logic of situational choices.“ Ausführlich setzt sich Popper (1963/1994, S. 162–166) mit „Modellen und Situationen“ auseinander, wobei die Erklärung und Voraussage einer bestimmten Art oder eines Typus von Ereignissen im Gegensatz zu jener, die auf ein singuläres Ereignis bezogen ist, die Konstruktion eines Modells erforderlich mache. Dabei entspreche die Beschreibung einer konkreten sozialen Situation in den Sozialwissenschaften der Bestimmung der Ausgangsbedingungen in den Naturwissenschaften (hinzufügbar wäre vermutlich gewesen: unter Laborbedingungen). Nachdem es bei der Erklärung und Voraussage von Ereignistypen an Hand von Modellen um „typische“ Ausgangsbedingungen gehe, könne man das, was man in den Sozialwissenschaften „Modelle“ nenne, als Beschreibungen und Rekonstruktionen „typischer sozialer Situationen“ bezeichnen. Egon Matzner (1977, S. 131) verweist in diesem Kontext auf das Modellverständnis Georgescu-Roegens, wonach Modelle in den Gesellschaftswissenschaften ungleich jenen in den naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen keine „Prototypen“ („blueprints“) verkörpern, sondern sinnvollerweise als „analytische Gleichnisse“ anzusehen seien, die erneut als Ausgangspunkt und nicht als Endstation forscherischen Bemühens zu betrachten sind – sei es nach der (allgemeineren) Popper’schen Methode „Versuch und Irrtum“ fortschreitend, sei es nach der spezielleren dialektisch fortschreitenden Methode, der Popper (1937/2000, S. 454-455) ja trotz aller Kritik prinzipielle Anwendbarkeit bescheinigt, wenn sie nur mit einer einzigen Idee beginnt, wenn in der anfänglichen Situation also nur eine These verfügbar ist. Popper (1963/1994) erinnert in diesem Kontext in der vierten Fußnote an Hayeks „Degrees of Explanation“ (1967), nämlich den Umstand, dass es den Sozialwissenschaften anders als den Naturwissenschaften weniger um „explanation in detail“ als um „explanation in principle“ gehe. Er hätte sich auch auf Hayeks „Theorie komplexer Phänomene“ beziehen können, die wie die „Degrees of Explanation“ ebenfalls in dessen „Studies in Philosophy, Politics and Economics“ (1967) (wieder-)abgedruckt worden sind, die „Theorie komplexer Phänomene“ übrigens aus einer Edition von Essays zu Ehren von Karl Popper (1964) in einer bereits 1961 fertiggestellten Version, die somit Popper (1963) vermutlich schon bekannt und zugänglich gewesen sein dürfte. Darin setzt sich Hayek insbesondere mit den Bedingungen von „pattern recognition“ und „pattern prediction“ in den Sozialwissenschaften auseinander, die vom Auftreten eines individuellen Erscheinungsfalls des Musters zu unterscheiden ist. Eine unmittelbare Folge dieser Sichtweise ist bei
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Hayek „Komplexitätsreduktion“, ohne dass Komplexität, das tragende Merkmal sozialer Phänomene, „eliminiert“ wird (a.a.O. 1967/1972, S. 18). 5. Matzner und Hayek: Warnung vor den Irrtümern des Konstruktivismus und der Anmaßung von Wissen Unter Umständen noch mehr als Popper spielte übrigens Friedrich A. Hayek im Denken Egon Matzners eine bedeutende Rolle. Diese Faszination mag auf Hayeks konsequenter und radikaler liberalen Kritik an allen Tendenzen eines Totalitarismus beruht haben, die einerseits Bewunderung, andererseits konstruktiven und produktiven Widerspruch provoziert hat, weil sie bei Anerkennung der Hayek’schen Gedankenschärfe zur kritischen Überprüfung und Konturierung der eigenen Position angeregt hat. Dass trotz des unüberbrückbaren ideologischen Gegensatzes Hayek und Matzners Stockholmer Lehrer und Vorbild Gunnar Myrdal 1974 zugleich den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielten, ist eine denkwürdige Konstellation in der Ausprägung von Egon Matzners erkenntnisleitendem Interesse an diesen beiden Persönlichkeiten. Keiner besonderen Hervorhebung bedarf, dass sich Matzner nicht zuletzt Gunnar Myrdals „politischem Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung“ (1932/1963) verbunden erachtete, das insbesondere dann hervortrete, wenn die „res privata“ externe Effekte negativer, aber auch positiver Art hervorrufe, die sich zu „public bads“ bzw. „public goods“ akkumulieren und Regulierung erforderlich machen (E. Matzner 2003). In Matzners Auseinandersetzung mit Hayek ging es nicht um die Beschäftigung mit Hayek als Wirtschaftswissenschafter, genauer: als Geld- und Konjunkturtheoretiker. Dieser Seite Hayek’schen Denkens, die primär ausschlaggebend für die Nobel-Würdigung gewesen ist, stand Matzner eher ablehnend gegenüber. Es ging vielmehr um Hayek als Wissenschaftstheoretiker, dessen Sicht der Theorie komplexer Phänomene (1967/1972) sowie dessen Warnung vor den Irrtümern des Konstruktivismus (Titel seiner Salzburger Antrittsvorlesung 1970) und der Anmaßung von Wissen (Titel seiner Nobelpreisrede 1974) Egon Matzner – wenn auch nicht undifferenziert – akzeptiert, rezipiert, inspiriert und deren Zugang er anderen ans Herz gelegt hat. Dies gilt auch für die geistesgeschichtliche Herleitung des Konstruktivismus (oder wie Hayek präzisiert: des konstruktivistischen Rationalismus) in der Salzburger Antrittsvorlesung, ausgehend von der Unterscheidung zwischen konstruktivistischem und evolutionärem Rationalismus in den „Arten des Rationalismus“ (1964/1967/1969), nicht jedoch für die daraus von Hayek in anderen Schriften dargelegten gesellschaftstheoretischen und -politischen Implikationen seiner Staatskritik. Was den Konstruktivismusvorwurf Hayeks anging, war das Verständnis von „Konstruktivismus“ bei Matzner nach meiner persönlichen Erinnerung allerdings mit einer Theorie der Wissenssozio-
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logie und einem erkenntnistheoretischen Konstruktivismus verbunden, die sich an Peter Bergers und Thomas Luckmanns „gesellschaftlicher Konstruktion der Wirklichkeit“ (1966/1970) orientierten, ohne die gesellschaftstheoretische Kritik Hayeks an „konstruktivistischen Interpretationen sozialer Gebilde“ als „Zweckkonstruktion“ bedingungslos zu teilen. 6. Hayek und die Konstruktivisten: Die Vieldeutigkeit des Konstruktivismusbegriffs Wie bereits angedeutet, bedient sich Hayek des Begriffs „Konstruktivismus“ als „spezifischer Bezeichnung einer Einstellung ..., die bisher gelegentlich ungenau durch das vieldeutige und daher irreführende Wort Rationalismus bezeichnet worden ist“ (1970/1975, S. 4). Er führte damit – wenn auch in einer kritischen Dimension – einen Begriff ein, der bereits von den (radikalen) Konstruktivisten (insbesondere Heinz von Foerster und Ernst von Glasersfeld; vgl. unter zahlreichen Schriften die beiden Einleitungsartikel dieser Autoren zu P. Watzlawick 1981/1985, jener von H.v. Foerster bereits 1973 erschienen) besetzt gewesen ist,2 ohne dass eine definitorische Abgrenzung dieses Konstruktivismusbegriffs von jenem der Konstruktivisten, ja nicht einmal deren Erwähnung erfolgte. Dies ist umso erstaunlicher, als Hayek bereits 1960 an einer von Heinz von Foerster eingeladenen Konferenz „Prinzipien der Selbstorganisation“ an der Universität Illinois teilnahm3 und dort 2 Diesen Hinweis verdanke ich dem Psychologen und Finanzmarktökonomen Thomas Himmelfreundpointner im Rahmen einer therapeutischen Betreuung während eines mehrmonatigen Klinikaufenthalts in Wels. Stark vereinfacht gesagt, vertritt der radikale Konstruktivismus den Standpunkt, dass es keine vom Beobachter unabhängige Wirklichkeit gibt und dass wir unsere Wirklichkeit selbst „konstruieren“. Wissen ist demnach nicht Abbild einer vom Wissenden unabhängigen Welt, sondern erfahrungs- und interpretationsgebunden, also „konstruiert“. Im Übrigen verstehen sich führende Vertreter der Konstruktivisten nicht zuletzt als Wittgensteinianer, und zwar nicht nur in der Person H.v. Foersters, für den Wittgenstein ein Nennonkel war (H.v. Foerster/ B. Pörsken 1998, S. 129), sondern auch im Ansatz der kognitionspsychologischen Konstruktion der Wirklichkeit, wo mit ähnlichen Vexierbildern gearbeitet wird (z. B. G. Rusch 1983/1987, S. 379–380 und die dort zitierten Quellen) wie Wittgensteins berühmtem HaseEnten-Kopf (1958/ 1971, S. 308 ff), der diesen seinerseits allerdings von anderer Stelle entnommen hat (a.a.O., S. 307). Egon Matzner hat diese Parabel wiederholt herangezogen, um die Doppeldeutigkeit von Tatsachen und die Notwendigkeit einer kontextorientierten (situationslogischen) Betrachtungsweise zu demonstrieren (vgl. z. B. 1982, S. 39). 3 Das Erstaunen darüber mag sich aber vielleicht auflösen, wenn man sich die verschiedenen Wurzeln des Konstruktivismus vor Augen hält, wie sie in einer Bibliographie von führenden Vertretern dieser Denkrichtung selbst dargestellt wurden (P.M. Hejl/ S.J. Schmidt 1985/1992, S. 167 ff.), nämlich die Kybernetik (H.v. Foerster), die Entwicklungs- und Sprachpsychologie (E.v. Glasersfeld) einschließlich kommunikations- und psychotherapeutischer Aspekte (P. Watzlawick) sowie die Biologie (H.R. Maturana, F.J. Varela) und später auch die Literaturwissenschaft (S.J. Schmidt). Einigendes Band dieser unterschiedlichen Fachgebiete und Theorietraditionen ist „das gemeinsame philosophisch-erkenntnistheoretische Interesse“, dem sich Hayek offenbar aber nicht anschließen wollte. P. Watzlawick bedauert im Übrigen, dass sich für den Aspekt der „vermeintlichen Entdeckung der Wirklichkeit“ der Ausdruck „Konstruktivismus“ durchgesetzt
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sogar neben dem Biologen Ludwig Bertalanffy und dem Kybernetiker Ross Ashby als einer der „drei intellektuellen Riesen“ gefeiert worden ist (H.v. Foerster/B. Pörsken 1998, S. 149). H.v. Foersters Konferenzbeitrag (1960/1993) hatte sich mit „Selbst-organisierenden Systemen und ihren Umwelten“ befasst. Andererseits findet Hayek seinerseits sehr wohl bei den radikalen Konstruktivisten Erwähnung (H.v. Foerster/B. Pörsken 1998, S. 91), nämlich mit seiner Definition der Selbstorganisation als „spontane Entstehung von Ordnung“, verbunden allerdings mit H.v. Foersters Plädoyer, die Idee der Selbstorganisation nicht zwingend mit dem Begriff der Heterarchie zu vermengen.4 Hayek scheint somit in seiner Konstruktivismuskritik dem erkenntnistheoretischen Konstruktivismus der Schule des (radikalen) Konstruktivismus näher zu sein, als er vielleicht wahr haben dürfte, auch wenn seine Terminologie auf eine andere Art des Konstruktivismus (als Spielart des Rationalismus) gezielt haben mag. 7. Nochmals Matzner und Hayek: Spontane Ordnung, liberale Gesellschaftsordnung – Neoliberalismus oder Marktradikalismus? Was schließlich den „dritten Hayek“ (neben dem Makroökonomen und Wissenschaftstheoretiker) anbelangte, bei dem wir nunmehr angelangt sind, nämlich Hayek als Sozialphilosoph, politischer Theoretiker und Philosoph (insbesondere natürlich Liberalismus-Theoretiker) sowie als Theoretiker der Ordnungspolitik, Allokationstheoretiker und Marktökonom, dessen zentrale Aussagen in der prägnanten terminologischen Kennzeichnung des Marktes als spontane Ordnung (im Gegensatz zur staatlichen „Anordnung“), zugleich Basis seiner Idee einer liberalen Gesellschaftsordnung (1967/1969), und als „Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs“ (1967/1969) kulminierten, näher ausgeführt im Band 1 des dreibändigen hat, weil dieser bereits in der traditionellen Philosophie und und in der bildenden Kunst besetzt ist. „Wenn das Kind nicht schon diesen (hässlichen) Namen hätte, wäre die Bezeichnung Wirklichkeitsforschung vielleicht vorzuziehen“ (Vorwort zu „Die erfundene Wirklichkeit“ 1981/ 1985, S. 10). 4 Wie das Lehrbuchbeispiel der Schlacht an den Midway-Inseln zeigt, kann eine Selbstorganisation auf heterarchischer Ebene auch bei der Zerstörung der Hierarchie spontan entstehen (H.v. Foerster/ B. Pörsken 1998, S. 90–91). Teubner (1989, S. 17) ordnet Hayeks „Prozesse der Morphogenese und der Selbstorganisation sozialer Gruppen“ in eine Typologie der Selbstreferenz bzw. rekursiver oder zirkulärer Phänomene ein, wobei seiner Auffassung nach mitunter mehr gemeint sein kann als bloße spontane Ordnungsbildung im Sinne Hayeks, nämlich in der „Selbstproduktion“, wo „das emergente System ... nicht bloß bereits existierende Elemente in ihren Verknüpfungen“ neu ordnet, sondern „aus Bestehendem neue Einheiten ... herauszieht, die dann als Elementarbestandteile des Systems benutzt werden“; als „voraussetzungsreichste Form der Selbstbezüglichkeiten“ gilt schließlich die Autopoiese, die durch „Verknüpfung unterschiedlicher Mechanismen der Selbstreferenz“ zustandekommt (Teubner 1989, S. 32).
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Werks „Recht, Gesetzgebung und Freiheit“ („Regeln und Ordnung“ 1973/1980), so hat Matzner dies als allokationstheoretische Grundlage für eine Definition von „Markt“ und auch als Charakterisierung für einen „klassischen“ Liberalismus akzeptiert. Gleichzeitig trug dies aber zur Präzisierung und Schärfung seiner eigenen allokationstheoretischen Position und – im Gegensatz zu Hayek – auch zu seiner verteilungspolitischen Position bei der „funktionsanalytischen“ Beurteilung staatlicher Interventionen und der Eröffnung von Handlungsspielräumen in einem „Autonomen“ Sektor (neben Markt und Staat) im Wege der Selbstorganisation Betroffener bei,5 ausgeführt insbesondere im „Wohlfahrtsstaat von morgen“ (1982). Dass dies im scharfen Gegensatz zu dem zu sehen ist, was Hayeks Epigonen aus dessen Marktverständnis im „neoliberalen“ Anti-Etatismus6 gemacht haben bzw. 5 Man könnte den Markt in der Hayek’schen Definition gewissermaßen als „Spontane Ordnung I” bezeichnen und die Ermöglichung von Handlungsspielräumen im Autonomen Sektor als „Spontane Ordnung II“. Um Letzteres zu ermöglichen, ist allerdings die Lockerung räumlichzeitlicher Restriktionen in Jedermanns Alltagsleben vorauszusetzen (großteils wohl durch staatliche Interventionen – „Rahmenbedingungen“, welche die Ordoliberalen für den Marktsektor ausdrücklich anerkennen, siehe Fn. 6). Diese alltäglichen Restriktionen hat der schwedische Kultur- und Sozialgeograph Torsten Hägerstrand (beispielhaft und programmatisch z. B. 1970) in seinem „Raum-Zeit-Modell“ aufgezeigt. Egon Matzner hat zu dessen Rezeption in Österreich wesentlich beigetragen (P. Henseler/ G. Rüsch 1978; P. Henseler 1981, in der Dimension „Soziale Prozesse/ räumlich-physische Form“, erweitert um die Dimension „Soziale Prozesse/ Recht“). 6 Es bedarf keiner besonderen Betonung, dass in der Realität die „Spontane Ordnung I”, also der Markt in Hayeks Verständnis, eine höchst unvollkommene Angelegenheit ist, wo von Spontaneität keine Rede sein kann, wie ja in der Theorie die Lehrbuchdarstellung der unvollkommenen Märkte und in der Praxis die Einrichtung wettbewerbspolitischer staatlicher Instanzen hinreichend belegen. In der wirtschaftspolitischen Konzeption und Programmatik entspricht die Spontane Ordnung I am ehesten der Vorstellung des „Laissez faire“, also den Markt sich selbst zu überlassen und von allen Fesseln zu befreien. In seiner fundamentalistischen und dogmatisierenden anti-etatistischen Ausprägung dieser Vorstellungen spricht man heutzutage vom „Neoliberalismus“, ausgelöst nicht zuletzt vom Unbehagen gegenüber dem und der Krise des Wohlfahrtsstaats (H. Schui/ S. Blankenburg 2002), der allerdings nicht saniert, sondern weiter in Verruf gebracht, wenn nicht gar zerstört wird. Dieser „Neoliberalismus“ beruft sich – ob zu Recht oder nicht, sei hier dahingestellt – auf Hayek als einen der geistigen Väter. Übersehen wird dabei von dessen Proponenten, dass Hayek etwa in den „Grundsätzen einer liberalen Gesellschaftsordnung“ (1967/ 1969) und in dem Buch „Die Verfassung der Freiheit“ (1960/1971/ 1983, vgl. insb. die Kapitel „Wirtschaftspolitik im Rechtsstaat“ und „Wohnwesen und Stadtplanung“) Staatseingriffe wenn auch kritisch, so doch wesentlich differenzierter beurteilt, als seine Epigonen vielleicht wahr haben mögen. Wie beim Konstruktivismus wurde auch hier ein bereits seit langem (schon vor rd. 50 Jahren) eingeführter Begriff, den Hayek selbst im Übrigen nicht verwendet, von den Epigonen „usurpiert“, um ihn zugleich zu verändern und auf eine eindimensionale fundamentalistische Position zu reduzieren. Tatsächlich hat man unter „Neoliberalismus“ vor Anbruch der „neuen“ neoliberalen Hegemonie die Erneuerung klassischliberalen Gedankenguts der „klassischen“ Nationalökonomie des 18. und 19. Jahrhunderts verstanden, dessen deutsche Variante – zurückgehend auf Walter Eucken (1952/1990) und die Freiburger Schule sowie deren konzeptionelle Umsetzung in der „Sozialen Marktwirtschaft“ – im Hinblick auf die vorherrschende Wettbewerbsorientierung und die Schaffung entsprechender staatlicher „Rahmenbedingungen“ auch als ORDO-Liberalismus bezeichnet wird (zu den einzelnen Begriffen vgl. z. B. Vahlens Großes Wirtschaftslexikon 1987). Statt „Neoliberalismus“
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sich damals anschickten, daraus zu machen, nämlich die Fundamentalisierung und Dogmatisierung des Marktes, indem andere Allokationsmechanismen diskreditiert, diskriminiert oder gar zerstört werden, bedarf keiner besonderen Erwähnung. Eine besondere Aufmerksamkeit in diesem Kontext verdient ohne Zweifel Hayeks Auffassung von sozialer Gerechtigkeit, auf die in der Langfassung dieses Beitrags im Zusammenhang mit dem Spannungsfeld zwischen dem verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz und der intergenerationellen Gerechtigkeit in der Pensionsreform eingegangen wird (zusammenfassend dazu in diesem Beitrag weiter unten). Interpretiert man „soziale Gerechtigkeit“ nicht primär als politische Handlungsmaxime, sondern als Ergebnis eines verteilungspolitischen Verhandlungsprozesses, der einem Gesetzgebungsakt vorausgeht und einer nachträglichen verfassungsgerichtlichen Überprüfung unterliegt, lässt sich der Bogen zu Poppers Situationslogik, unter der das erwähnte Spannungsfeld zu sehen und einzuschätzen ist, schließen. Eine solche Sichtweise hätte vielleicht sogar Hayek akzeptieren können. 8. Poppers Situationslogik in der Geschichte: Die Irrlehre des Historizismus Ist Geschichte und Geschichtsbetrachtung also eine Betrachtung der Abfolge von sich wandelnden Situationslogiken und lässt sich damit gar – um das Reizwort „Synthese“ zu vermeiden – eine Integrierung Popper’schen Gedankenguts in jenes von Georgescu-Roegen oder umgekehrt begründen? Beide würden sich dies vermutlich verbeten haben. In Poppers (späteren) Schriften findet sich kein einziges Zitat von Georgescu-Roegen, und Letzterer zitiert Popper nur an fünf Stellen in „Entropy Law and the Economic Process“ (1971, S. 41, 74, 203, 209 und 330), und zwar fast ausschließlich nur Poppers „Elend des Historizismus“, allerdings in Kontexten, die nicht unmittelbar oder nur am Rande mit den hier diskutierten Problemen in Zusammenhang stehen. Fast die gleiche Wortwahl und die gleichen Kontexte sowohl der Zitate aus Poppers Buch wie auch in deren Verarbeitung durch GeorgescuRoegen gebrauchte dieser bereits schon in dem Vorgänger-Buch von „Entrosollte man daher den derzeit hegemonialen Anti-Etatismus treffender mit der vorwiegend in der gegenwärtigen deutschen politischen Debatte ohnedies bereits gängigen Terminologie „Marktradikalismus“ versehen, um nicht einen Begriff zu besetzen, der eine politisch-ökonomische Konzeption vortäuscht, die dogmenhistorisch für eine ganz andere Epoche steht, gegenwärtig aber unter den Etiketten „Sozialstaatsabbau“, „Rückzug des Staates“ und „Privatisierung“ dazu herhält, eine sozial- bzw. wohlfahrtsstaatliche Konzeption sowie technische Infrastrukturen in einem Ausmaß zu zerstören, das weit über den unbestreitbaren Reformbedarf auch dieser Politikfelder hinausreicht. Reformen können sich dabei durchaus auch auf die Überprüfung von Entstaatlichungsmöglichkeiten erstrecken, um dafür individuelle Handlungsspielräume etwa im Wege der Selbstorganisation zu eröffnen. Egon Matzner hat dazu mit der „Funktionsanalyse des Staates“ (in: „Der Wohlfahrtsstaat von morgen“ 1982, siehe insb. Erster und Zweiter Teil) einen Weg gewiesen.
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py Law“, nämlich in „Analytical Economics – Issues and Problems“ (1966, S. 19, 37, 88, 91 und 115). Trotz der von Matzner zu Recht konstatierten Mehrdeutigkeit wäre es vielleicht zu weit hergeholt, Popper seinerseits die Verwendung dialektischer Begriffe in seiner Anti-Dialektik zu unterstellen. Vielleicht hätte Popper den Begriffsteil „Logik“ in seiner Situationslogik unter „...“ setzen sollen, um sie – relativierend – von der „traditionellen Logik“ abzugrenzen, an Hand derer er ja in bestechender „Logik“ nachweist, dass eine „dialektische Logik“ strenggenommen „unlogisch“ sei. Er hat es nicht getan – vermutlich nicht ohne Absicht und in Wahrung der Konsistenz seiner an verschiedenen Stellen vertretenen Thesen. Der Schlüssel dazu findet sich wohl in den Schlusskapiteln von „Elend des Historizismus“. Die Grundthese des Buches ist bereits an die Spitze des Vorworts der deutschen Ausgabe gestellt, nämlich „dass die Lehre von der geschichtlichen Notwendigkeit der reinste Aberglaube ist und bleibt, wie sehr sie sich auch wissenschaftlich gebärden mag und dass man den Lauf der Geschichte nicht rational voraussagen kann“. Seine Grundgedanken waren schon unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges unter dessen Eindruck sowie jenes der kommunistischen Mythologie von der bevorstehenden Weltrevolution formuliert worden. Der enge Konnex zu der „Entlarvung“ der „Feinde der offenen Gesellschaft“ in dem weiteren bekannten Hauptwerk bedarf keiner besonderen Ausführung. Als „Historizismus“ versteht Popper – einleitend in die Thematik (1957/1971, S. 2) – jene Einstellung zu den Sozialwissenschaften, „die annimmt, dass historische Voraussage deren Hauptziel bildet und dass sich dieses Ziel dadurch erreichen lässt, dass man die ‚Rhythmen’ oder ‚patterns’, die ‚Gesetze’ oder ‚Trends’ entdeckt, die der geschichtlichen Entwicklung zugrunde liegen.“ Historische „Standpunkte“, „Einstellungen“ könnten als „selektive“ Standpunkte oder „Brennpunkte historischen Interesses“ formuliert werden (a.a.O., S. 118). Sie lassen sich aber – selbst wenn einzelne Ideen ausnahmsweise als prüfbare Hypothesen formulierbar sein sollten – nicht prüfen und nicht widerlegen. Scheinbare Bestätigungen seien daher wertlos. Popper gesteht in diesem Fall die Charakterisierung als „historische Interpretation“ zu. Der an die Historizisten zu adressierende Hauptvorwurf sei nun aber, dass sie diese Interpretationen und Standpunkte als Theorien ausgeben. An die Stelle der von den Historikern favorisierten (historischen) „Notwendigkeit“ setzt Popper die „Logik von Situationen“. Er tut dies, ohne es dogmatisierend zu verordnen, sondern im Versuch, im gedanklichen Ringen das zu verstehen, was die Historiker gemeint haben könnten. Die historizistische „Idee vom ‚Geist’ eines Zeitalters“ – in der Trivialversion unserer Tage würde man vielleicht den Allzweckbegriff des „Zeitgeistes“ gebrauchen – lehnt er verständlicherweise als „verführerisch“ ab, sowohl was die „idealistischen Urbilder“
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als auch die „dialektisch-materialistischen Inkarnationen“ dieser „Geister“ anbelangt (a.a.O., S. 116). Darauf aufbauend postuliert er eine „Analyse sozialer Bewegungen“ und „Studien jener sozialen Institutionen, durch die Ideen sich verbreiten und die Herrschaft über Individuen antreten“ (a.a.O., S. 117). Diese Sichtweise setzt sich fort in der 1963/1994 erfolgten Darstellung des Programms der Situationslogik, wo gerade auch für die Charakterisierung räumlich-zeitlicher Restriktionen in einem sozioökonomischen Kontext von Jedermanns Alltag ausdrücklich die Bezeichnung „social institution“ vorgeschlagen wird, und zwar „for all those things which set limits or create obstacles to our movements and actions almost as if they were physical bodies or obstacles. Social institutions are experienced by us as almost literally forming part of the furniture of our habitat” (a.a.O., S. 167). Dies könnte auch Torsten Hägerstrand (etwa in: What about People in Regional Science? 1970) so gesagt haben. Nur mit Hilfe eines solchen methodologischen Werkzeugs glaubt Popper, den von ihm in der Einleitung zu „Elend des Historizismus“ (S. 2) konstatierten unbefriedigenden Zustand der theoretischen Sozialwissenschaften (wovon er – nicht ganz verständlich – die Wirtschaftswissenschaft ausgenommen wissen will), der auf historizistische Methodenlehren, also Irrlehren, zurückzuführen sei, überwinden zu können. 9. Praktische Anwendungsmöglichkeiten der Situationsanalyse In der hier aus Platzgründen nicht wiedergegebenen Untersuchung an Hand von vier aktuellen Beipielen in der Langfassung dieses Beitrags sollte – ohne Anspruch paradigmatischer Synthetisierungen – versucht werden, Gedanken von Poppers „Situationsanalyse“ auf aktuelle europäische und heimatliche Entwicklungen und Problemstellungen anzuwenden, um aufzuzeigen, dass sich damit Phänomene – ohne Komplexitätseliminierung – problemgerechter und realitätsnäher untersuchen lassen, als es mit den vermeintlichen Präzisionswerkzeugen des „mechanical equilibrium theorizing“ an Hand mathematischer Modelle der Fall sein mag. Dazu gilt es die Arithmomorphien gedanklich aufzubrechen, um den Blick auf die terminologischen Halbschatten freizumachen. Besonders prädestiniert für eine derartige Sichtweise sind möglicherweise gerade Felder, die durch politische Kompromisse gekennzeichnet sind, die zum Teil dann auch Gegenstand einer rechtlichen Fixierung werden. Je mühsamer die Kompromissfindung gewesen ist, desto anfälliger wird im Allgemeinen das ganze Unterfangen für Mehrdeutigkeiten. Dies erschwert wiederum die Verrechtlichung, sodass diese angesichts der Eigengesetzlichkeit juristischer „Funktionslogik“ unter Umständen ungleich schwieriger als die Kompromissfindung selbst sein kann. Im EU-Speak nennt man die Ergebnisse solcherart oft mühsam zustande gekommener Formulierungen in
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quasi-mechanistischer Manier „ausgewogen“, was allerdings die damit verbundene Komplexität verdeckt. Bildlich gesprochen könnte man sich ein situationsanalytisches Unterfangen etwa folgermaßen vorstellen: Man könnte sich an einem Ende des Spektrums von Systemzuständen eines zu analysierenden, sich im Zeitablauf wandelnden Phänomens die Situation (den Systemzustand oder das institutionelle Arrangement) A angesiedelt denken, am anderen Ende ¬A, wobei die Extrempositionen unter Umständen gar keine reale Bedeutung haben (in der vollständigen Fassung dieses Textes wird für diese Art der Betrachtung die Kurzformel „Spektrensichtweise“ verwendet). In der Übergangsphase von A zu ¬A wären Elemente beider Extrempositionen in unterschiedlicher und sich im Zeitablauf wandelnder Intensität anzutreffen. Das aktuelle Beispiel des vom Europäischen Konvent im Sommer 2003 fertiggestellten und von der Regierungskonferenz ein Jahr später verabschiedeten Verfassungsentwurfs für die EU ist geradezu typisch für eine in der Übergangsphase dominante Denkweise: Die Bezeichnung „Verfassungsvertrag“ („Vertrag über eine Verfassung“) soll suggerieren, dass es um eine Verfassung für den Bürger geht, die zugleich ein Vertrag zwischen Staaten bleibt, wie die EUKorrespondenten der Wochenzeitung DIE ZEIT, P. Pinzler und J. FritzVannahme (Nr. 50, 4. 12. 2003, S. 3) zutreffend feststellen. Es gilt also zugleich A (Vertrag) und ¬A (Verfassung). Solche Beispiele sind zahlreich, wenngleich sie sich nicht immer so prägnant wie in diesem Beispiel mit einem (Doppel-)Begriff darstellen lassen. In aller Regel ist überdies davon auszugehen, dass die Prozesse der Wandlung von A zu ¬A im Sinne des Entropiegesetzes nicht reversibel sind, soweit es nicht zu völligen Systemzusammenbrüchen kommt. Man könnte sich dies sogar an Hand eines schlichten selbst gebastelten Mechanismus visualisiert vorstellen, indem man sich etwa nach dem Vorbild der alten Kinematographen bzw. deren Vorläufer Bilder aneinandergereiht vorstellt, die – zusammengebunden zu einem Buch – bei raschem Durchblättern zum Laufen gebracht werden und damit den (vordergründig) quantitativen, letztlich auch den qualitativen Wandel veranschaulichen. Solcherart würde sich kontinuierlicher, aber auch – was eher die Regel sein dürfte – diskontinuierlicher (sprunghafter) Wandel zeigen. Eine solche Sichtweise der europäischen Integration habe ich am Beispiel von „The Nation State after the Implementation of the Maastricht Treaty“ (1995) vorgestellt, das in der vollständigen Fassung dieses Beitrags aktualisiert worden ist. An Hand der dort ausgeführten vier praktischen Beispiele sollte der Versuch unternommen werden, den Prozess der „Staatswerdung“ Europas, insbesondere in seinen Folgewirkungen der unterschiedlichen Integrationsdynamik von Wirtschafts- und Währungsunion, ferner die Positionierung der EU zu den gemeinwirtschaftlichen Diensten und schließlich aus dem nationalen Bereich die Lösung des Konfliktfeldes zwischen intergenerationeller Gerech-
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tigkeit und Vertrauensschutz unter dem Gesichtspunkt der Popper’schen Situationslogik zu betrachten. Dies hatte eine gedankliche Disziplinierung zur Folge, weil es galt, spekulative Trendaussagen, die sich im alltäglichen Sprachgebrauch häufig aufdrängen, zu vermeiden, weil diese zu einer nur scheinbar exakten Begründung historischer Notwendigkeiten führen würden und missbraucht werden könnten. Derartige „Historizismen“ (historische Voraussagen) lehnt Popper schärfstens ab. Darin steckt nicht zuletzt ein Appell an eine intellektuelle Selbstbescheidung und Redlichkeit, weil nach Popper nichts gegen historische Interpretationen spricht, wofür er die Terminologie „situational analysis of a social situation“, „logic of a social situation“, kurz:: „situational logic“ vorschlägt, alles aber gegen historische Voraussagen, Theorien und scheinbar zwingende historische Notwendigkeiten. Nicht zuletzt entgehen jene, die diesen Rat befolgen, den von Hayek aufgezeigten „Irrtümern des Konstruktivismus“ (1970/1975) und verfallen nicht der „Anmaßung von Wissen“ (1974/1984). 10. Hayek, Rawls und die soziale Gerechtigkeit: Situationslogik als möglicher Zugang zu praktikablen Gerechtigkeitspostulaten ohne deren Desillusionierung? F.A.v. Hayek lehnt bekanntermaßen, wie oben bereits angedeutet, eine Vorstellung von „Gerechtigkeit“, die nicht von Richtern und Gelehrten „entdeckt“ wird, sondern vom unbeschränkten Willen einer (zu ergänzen wäre: rechtsetzenden und vollziehenden staatlichen) „Autorität“ bestimmt wird, ab, weil sie letztlich die „liberale Ordnung“, die als „spontane Ordnung“ gekennzeichnet ist, zu zerstören droht. Dies sei bereits in der zunehmenden Durchdringung des Privatrechts durch das öffentliche Recht angelegt, in dessen Gefolge die spontane Ordnung der (zweckunabhängigen) Privatrechtsgesellschaft durch zweckgerichtete Regeln mit Anordnungscharakter verdrängt wird, insbesondere wenn diese darauf ausgerichtet sind, „gerechte“ Verteilungen zu verwirklichen (1967/1969, insb. S. 117–119 aus den „Grundsätzen einer liberalen Gesellschaftsordnung“). Ausführlich setzt sich Hayek im Band 2 von „Recht, Gesetzgebung und Freiheit“ mit der „Illusion der sozialen Gerechtigkeit“ 1976/1981) auseinander. Er gesteht zwar ein (bereits in den Grundsätzen einer liberalen Gesellschaftsordnung), dass die Anwendung einheitlicher und gleicher Regeln auf das Verhalten von einzelnen Individuen zu unterschiedlichen Ergebnissen, hier also zu Unterschieden in der materiellen Position der einzelnen Menschen führt. Um diese abzubauen, habe man es (von Hayek explizit nicht so angesprochen: in wohlfahrtsstaatlicher Mission) für notwendig gehalten, die Menschen nicht nach gleichen, sondern nach unterschiedlichen Regeln zu behandeln, woraus sich die Vorstellung von „sozialer“, „ökonomischer“, „distributiver“ oder „ausgleichender“ Gerechtigkeit entwickelt habe. Diese
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begnüge sich nicht mehr damit, zweckunabhängige Verhaltensregeln innerhalb einer spontanen Ordnung festzulegen, sondern strebe für bestimmte Personen(gruppen) ganz bestimmte Ergebnisse an. Versuche, „gerechte“ Verteilungen quasi „anordnend“ sicherzustellen, laufen daher nach Hayeks Auffassung auf eine Zerstörung der Grundlagen einer spontanen Ordnung, letztlich also auf eine totalitäre Ordnung hinaus. Die zentrale gesellschaftstheoretische Schlussfolgerung Hayeks ist daher die Kritik sozialer Gerechtigkeitsvorstellungen, darüberhinaus deren „Desillusionierung“ und Entlarvung als konstruktivistische Illusion, letztlich als totalitarismusanfällig und daher „ungerecht“ (auch wenn Hayek diesen Begriff in Konsequenz seiner Ablehnung von Gerechtigkeitsaussagen nicht gebaucht). Es braucht nicht erwähnt zu werden, dass dies von Egon Matzner insbesondere in der totalitären Zuspitzung nicht mitgetragen wurde, wenngleich er die Einschränkung individueller Handlungsspielräume für selbstorganisierte „autonome“ Aktivitäten infolge zunehmender Sozialstaatsbürokratisierung und deren zunehmende Kosten beklagt hat. Die zentrale sozialphilosophische Schlussfolgerung in Hayeks „Desillusionierung“ der sozialen Gerichtigkeit lautet, „dass der Ausdruck ‚soziale Gerechtigkeit’ in einer Gesellschaft freier Menschen, deren Mitglieder ihr eigenes Wissen für ihre eigenen Zwecke gebrauchen dürfen, gänzlich ohne Bedeutung oder Inhalt ist, dass sie nicht bewiesen werden kann“ (a.a.O., S. 133). Nur an einer Stelle dieses Textes (S. 138) findet sich im Übrigen eine Erwähnung von John Rawls’ wenige Jahre vorher erschienenen Buchs „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ (1971/1975). Hayek stellt in diesem Zusammenhang klar, dass die Begriffsleere der von ihm angegriffenen Gerechtigkeitsvorstellungen nicht dazu veranlassen sollte, „das Kind mit dem Bade auszuschütten“, indem die „extreme Wichtigkeit“ der „Gerechtigkeit, für die die Gerichte sorgen,“ als „Grundlage der rechtlichen Regeln des gerechten Verhaltens“ verkannt wird (a.a.O., S. 137). Bei Rawls sei nicht zu bedauern, dass er sich mit „der Gerechtigkeit im Zusammenhang mit dem bewussten Entwurf politischer Institutionen“ befasst habe. Als „verwirrend“ sei lediglich anzusehen, „dass er in diesem Zusammenhang den Ausdruck ‚soziale Gerechtigkeit’ verwendet“, was sein Buch fälschlicherweise als Unterstützung sozialistischer Forderungen interpretierbar gemacht habe. In einer früheren Arbeit, zitiert von Hayek (a.a.O., S. 138, Fn. 44), gestehe nämlich Rawls (1963) selbst zu, dass primär die Institutionen zu bewerten seien. „Spezifische Systeme oder Verteilungen erwünschter Dinge als gerecht auszuwählen“ (Hayek), müsse laut Rawls (1963) „als prinzipiell verfehlt aufgegeben werden“, weil dies „eine definite Antwort ohnehin nicht“ zulasse. „Eher definieren die Prinzipien der Gerechtigkeit die entscheidenden Beschränkungen, denen Institutionen und koordinierte Aktivitäten genügen müssen“. „Wenn diesen Beschränkungen genügt wird, mag die resultierende Verteilung, wie auch immer sie ausfällt, als gerecht akzeptiert werden (oder zumindest nicht
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als ungerecht)“ (J. Rawls 1963, zitiert von Hayek 1976/1981, S. 138).7 Genau dies habe Hayek in seiner Gerechtigkeitskritik (1976/1981, Kap. IX) nach eigener Aussage darzulegen versucht (a.a.O., S. 138). 11. Richterliche Rechtsfindung am Beispiel der verfassungsrechtlichen Prüfung intergenerationeller Gerechtigkeit Vom Standpunkt der Popper’schen Situationslogik könnte möglicherweise auch Hayek, folgt man seinem Gedanken der „logic of choice“ (1936/1952) und seiner Interpretation von Rawls’ Gerechtigkeitsvorstellungen, akzeptieren, dass Gegenstand einer rationalen verfassungsrechtlichen Prüfung und Abwägung (also einer richterlichen Rechtsfindung) sein sollte, ob und inwieweit zum Schutz künftiger Generationen und im Interesse der „Nachhaltigkeit“ von Reformen eine „sachliche Rechtfertigung“ eines Eingriffs in „vertrauensrechtlich“ geschützte Rechtssphären der jetzigen Generation begründbar ist. „Soziale Gerechtigkeit“ wäre demnach nicht primär als politische Handlungsmaxime zu verstehen, sondern je nach Situationslogik als Outcome eines politischen Verhandlungsprozesses, dessen legislative Umsetzung einer nachträglichen verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegt. Endlose und damit vermutlich wenig fruchtbringende Diskussionen über die Aggregationsproblematik individueller Gerechtigkeitsvorstellungen, an der sich zahlreiche Autoren bereits die Zähne ausgebissen haben, ließen sich damit möglicherweise vermeiden – unabhängig davon, ob und inwieweit die jeweilige Gerechtigkeitsvorstellung staatlich, also durch konstitutionell legitimierte Organe, geprägt ist oder Verhandlungsprozessen organisierter Interessen von Sozialpartnern oder nicht organisierten Interessen des „Autonomen Sektors“ (Zivilgesellschaft) entspringt. Andererseits könnte die richterliche „Gerechtigkeitspflege“ aber dazu führen, die insbesondere im EU-Bereich an Hand des hohen Stellenwerts des Europäischen Gerichtshofs schon sehr stark ausgeprägten „richterstaatlichen Tendenzen“ (vgl. dazu programmatisch lange vor der vollen Entfaltung der europäischen Integration R. Marcic 1957) zu verstärken, indem zunehmend Bereiche, was ihre finale Ausgestaltung anbelangt, der demokratisch legitimierten (politischen) Entscheidungsfindung entzogen und der Justiziabilität zugeführt werden. Im Allgemeinen betrifft dies angesichts des politischen Charakters der zu entscheidenden Fälle gerade Phänomene, in denen sich randscharfe Positionierungen nur schwer vornehmen lassen. Dies schafft ein weites Feld für politische Verhandlungskompromisse, welche die konstituti7 Im Band 3 von „Recht, Gesetzgebung und Freiheit“ wendet sich Hayek schließlich der Frage zu, wie eine „Verfassung einer Gesellschaft freier Menschen“ (1979/1981) beschaffen sein sollte, um den in den beiden ersten Bänden dargestellten Erfordernissen gerecht zu werden. John Rawls hat jüngst kurz vor seinem Tod den Kritikern seiner Theorie der Gerechtigkeit geantwortet („Gerechtigkeit als Fairness“ 2001/2003). Hayek findet darin keine Erwähnung.
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onell legitimierten Organe präjudizieren, wenn nicht gar umgehen, denen letztlich nur die rechtstechnische legislative Erfassung der Kompromisse bleibt – ein im Allgemeinen umso komplizierteres Unterfangen, je schwieriger die Kompromissfindung war, was nicht zuletzt auch die nachträgliche justizielle Überprüfung des Ergebnisses erschwert. Ungeachtet dieser Tendenzen lässt sich am Beispiel der Pensionsreform sagen: Würde man dort ausschließlich das Ziel der intergenerationellen Gerechtigkeit (nach einem fiktiven „Generationenvertrag“) verfolgen, wäre angesichts der Enge der fiskalischen Spielräume der Vertrauensschutz (das Vertrauen auf bestehende Rechtspositionen) aufs Spiel zu setzen. Dies wäre ab einer (un)bestimmten, jeweils verfassungsgerichtlich zu bestimmenden Grenze „sachlich“ nicht zu rechtfertigen und daher verfassungswidrig. Würde man hingegen ausschließlich das Ziel des Vertrauensschutzes im Auge haben, ginge dies zu Lasten der intergenerationellen Gerechtigkeit. Zwischen diesen beiden Polen hätte sich daher eine verfassungsrechtliche Prüfung zu bewegen. Dass sich in bestehenden Grundrechtskatalogen für die intergenerationelle Gerechtigkeit explizit keine Deckung, allenfalls nur grobe Anhaltspunkte finden, erleichtert dieses Unterfangen nicht. 12. Abschließende Bemerkungen Der vorliegende Beitrag sollte demonstrieren, dass eine situationsanalytische Betrachtung etwa in einem Spektrum von Erscheinungsformen zwischen A und ¬A in der Regel keine randscharfen Positionierungen zulässt. Dies aufgezeigt zu haben, ist ein Verdienst von Georgescu-Roegen. Mit dem „traditionellen“ Logikverständnis des (antidialektischen) frühen Popper mag dies nicht kompatibel sein. Ob es der spätere Popper als „Situationsanalytiker“ unter dem Gesichtspunkt der Situationslogik für vereinbar halten würde, muss letztlich offen bleiben, weil dies auf einen Synthetisierungsversuch hinauslaufen würde, der Popper’schen Denkgesetzen ohne Zweifel widersprechen würde. Offen bleiben muss daher ferner, ob historische Betrachtungen eine Abfolge sich wandelnder Situationslogiken sind, wobei Popper allenfalls historische Interpretationen zulässt, sich aber strikt gegen historische Notwendigkeiten (historizistische Irrlehren) wendet. Hayek eröffnete den Blick auf die Illusionen von Konstruktivismus und sozialer Gerechtigkeit sowie die Anfälligkeiten spontaner Ordnungen. Egon Matzner, der Poppers Empfehlung, Dialektik als wissenschaftliche Methode zu vermeiden, für „zum Teil als falsifiziert“ hält und demgemäß von „unbeabsichtigter Dialektik“ spricht (2002), hat alle diese Denkwege nachvollzogen, deren Zugang geebnet und angeregt, kritisch begleitet, weitergegeben und weiterentwickelt und dabei zu jener gedanklichen Disziplinierung und intellektuellen Selbstbescheidung gemahnt, die ihn zeit seines Lebens auszeichnete.
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Auf(zu)brechende Arithmomorphien
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Abschnitt B
Wirtschaftspolitische Grundsatzfragen
Die langfristige Perspektive bei Keynes Klaus Mackscheidt
Obwohl es lange zurückliegt, habe ich noch in lebhafter Erinnerung ein Gespräch mit Egon Matzner, in dem wir uns beide versicherten, niemals die übertrieben harte Kritik bestimmter Monetaristen am Keynesianismus übernehmen zu können. Gleichwohl waren wir uns aber darüber im Klaren, dass man über den Hicks-Hansen-Keynesianismus hinausgelangen müsse. Egon Matzner (mit W. Streeck) hat das dann 1991 mit seinem vortrefflichen Buch „Beyond Keynesianism“ auch getan. Ich war eher auf der Strecke geblieben oder doch sehr zurück. Die folgende kürzere Version eines neuen Keynesbildes kommt zu spät, um sie – wie versprochen – Egon Matzner zur kritischen Lektüre vorzulegen. Für mich ist es trotzdem die Einlösung eines Versprechens an Egon Matzner. Diese Zeilen sind ihm nachträglich gewidmet. Das Anliegen seines Buches „Beyond Keynesianism“ war: „Essentialy, the book´s concern is with problems which Keynes outlined in his notes – The Long-term Problem of Full Employment“. Auch ich möchte den HicksHansen-Keynesianismus um die langfristige Perspektive erweitern, denn m. E. ist sie in der General Theory durchaus vorhanden. Die Ausführungen von Keynes zu den langfristigen Aspekten der gesamtwirtschaftlichen Dynamik beginnen bereits im fünften Kapitel der „General Theory“, wo er eine Unterscheidung zwischen langfristigen und kurzfristigen Erwartungen trifft. Speziell dem Zustand langfristiger Erwartungen ist der Schwerpunkt des zwölften Kapitels gewidmet. Diese Art Erwartungen sind dadurch gekennzeichnet, dass die Unternehmer die Änderung des Kapazitätsaufbaus ins Auge fassen, dass sie über den Einsatz ganz neuartiger Produktionstechnologien nachdenken und Visionen über den Einsatz und die Verwendung neuer Produktionsfunktionen entwickeln – kurzum: Es wird eine veränderte Grenzleistungsfähigkeit des zur Verfügung stehenden Kapitaleinsatzes erwartet. Das alles hat mit den kurzfristigen Kapazitätsauslastungsschwankungen innerhalb eines Konjunkturzyklus nichts zu tun und wird von Keynes zu Recht davon unterschieden. Dies führt nach Keynes auch zu andersartigen Politikempfehlungen. Im Kap. 16 greift Keynes sodann den Faden der langfristigen Erwartungen noch einmal auf, indem hier besonders die Chancen für den Aufbau oder Abbau des Kapitalstocks beleuchtet werden. Was können wir nun aus heutiger Sicht zu den Keynesschen Überlegungen über den Zustand langfristiger Erwartungen sagen? – Zunächst einmal ist ganz entscheidend, dass man definitiv zwischen langfristigen und kurzfristi-
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Klaus Mackscheidt
gen Erwartungen unterscheiden muss und das nicht nur aus intellektueller Neugier oder Differenzierungsfähigkeit, sondern als Voraussetzung, um die richtige Politikempfehlung aussprechen zu können. Sodann sollte man in der Lage sein, die Merkmale, die den Zustand langfristiger Erwartungen prägen, im Einzelnen etwas genauer beschreiben zu können. Denn wie man in der kurzfristigen Dynamik wirtschaftspolitisch adäquat handeln soll, das haben die Schüler von Keynes – also alle diejenigen, die in der Nachfolge von Hicks und Hansen standen – vorzüglich dargestellt. Es sind die Instrumente der antizyklischen Finanzpolitik. Was wir dagegen brauchen, sind ebenso ausgefeilte Instrumente für die Beherrschung guter Zustände bei der langfristigen Dynamik. Keynes benennt das Bild vom Gravitationszentrum, um verschiedene langfristige Zustände von Volkswirtschaften zu beschreiben. Wir nennen es hier „Gravitationspfad“. Zur Vereinfachung benutzen wir eine graphische Darstellung (die es freilich bei Keynes so nicht gibt) mit dem Zustand der langfristigen Dynamik auf der Abszisse und dem jeweiligen Stand des Bruttoinlandsproduktes auf der Ordinate (Abb. 1). Zur weiteren Vereinfachung nehmen wir nur drei verschiedene Gravitationspfade A, B und C an. Abbildung 1
Abbildung 2
BIP
BIP A
A
B
B
C
C
•R t (sehr langfristig)
kurze Frist
Gravitationspfade
Konjunkturschwankung
lange Frist
Zunächst ist einsichtig, dass eine Volkswirtschaft sich am liebsten auf einem Gravitationspfad wie A bewegen möchte, da sie sich dann stets in einer gegenüber B oder C überlegenen Wohlfahrtsposition befindet: Sie produziert gleichsam auf dem höchsten Niveau. Selbst wenn wir annehmen (wie in Abbildung 1), dass ein gewisses Wachstum des Bruttoinlandprodukts auch auf den beiden anderen Gravitationspfade B und C zu verzeichnen ist, befindet sich der Pfad A von Anfang auf der überlegeneren Spur und bleibt es auch. Angenommen, wir befänden uns auf dem schlechtesten Pfad C. Keynes würde sagen, dass hier die überwiegende Mehrzahl der Unternehmer erwartet, dass man als Unternehmer in Zukunft nicht viel verdienen kann, dass sich
Die langfristige Perspektive bei Keynes
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daher Investitionen kaum lohnen und dass man deshalb auch keine zusätzlichen Arbeitskräfte einstellt. Und diese Erwartung ist träge und langfristig verfestigt. Im Gegensatz dazu erwarten Unternehmer im Gravitationspfad A mehrheitlich, dass sie in Zukunft gute Gewinne erzielen und ihre Kapazitäten ausbauen werden. Natürlich darf das Ganze nicht nur eine Spekulation sein, sondern muss Hand und Fuß haben. Für die langfristigen Erwartungen brauchen wir Anhaltspunkte oder Erkennungsfaktoren, die dafür verantwortlich sind, ob mehrheitlich gute oder schlechte Gewinnerwartungen vorherrschen. Verstreute Argumente von Keynes aufgreifend, kann man vielleicht die folgende Systematik als plausibel aufstellen. Ausgangsbedingungen zur Erzielung eines hohen Gravitationspfads: 1. Produktionstechnik a) hohe technische Qualität der Produktionsfaktoren b) neuster Stand des technischen Wissens c) schnelle Erneuerungsfähigkeit und Substituierbarkeit 2. Arbeitnehmer a) hohe Mobilitätsbereitschaft (räumliche) b) hohe (Um-) Lernfähigkeit (sachliche Mobilität) c) intensives Reagieren auf Leistungsanreize und Lohndifferenzierung 3. Unternehmer a) hohe Investitionsbereitschaft b) Risikovorliebe statt Risikoscheu c) positive Wachstumserwartung 4. Umfeld Akzeptanz der Marktwirtschaft Man wird nicht umhin können, die meisten Merkmale in dieser Tabelle als solche anzuerkennen, die auch bei den angebotsorientierten Wirtschaftpolitikern in deren Wiederbelebungskalkülen eine große Rolle spielen. Wir dürfen daher ohne Übertreibung aussprechen, dass Keynes mit seinen Überlegungen über die Ursachen langfristig positiver Erwartungen in hoher Kongruenz mit heutigen Vertretern und Befürwortern einer angebotsorientierten Politik steht. Die Übereinstimmung kommt allerdings nicht unerwartet zustande, weil diejenigen Merkmale, die für das Entstehen einer positiven, marktwirtschaftlich geprägten Wirtschaftsmentalität verantwortlich sind, vermutlich eben doch zeitunabhängige Qualitätseigenschaften sind. Es ist daher eigentlich unerheblich, ob Keynes sie 1936 eher etwas verschwommen wahrgenommen hatte oder ob die Gruppe der angebotstheoretisch erfahrenen Wirtschaftspolitiker sie heute wesentlich präziser zum Ausdruck bringt. Aber es ist gut zu wissen, dass man Keynes von dem Vorwurf rein waschen kann, der Vater eines ein-
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seitigen demand management der Makroökonomik zu sein. Dies kann man sogar durch eine weitere Beobachtung noch verstärken. Zunächst ist festzustellen, dass trotz des Blickes auf die langfristigen Phänomene die kurzfristige Dynamik nicht aus den Augen verloren werden darf. Einfach ausgedrückt: Um jeden der gedachten Gravitationspfade mit ihrer langen Frist gibt es Konjunkturschwankungen mit ihren typischen kürzeren Fristen. Rezessionen beispielsweise, die durch eine mangelhafte private Nachfrage ausgelöst und verstärkt werden, kann man durch eine entsprechende kurzfristige Ausdehnung der Staatsnachfrage bekämpfen. Insgesamt kann eine gut (d. h. ohne Zeitverzögerung und dosierungsgerecht) eingesetzte monetary fiscal policy den Ausschlag von Konjunkturschwankungen dämpfen. Das gilt im Prinzip unabhängig davon, auf welchem Gravitationspfad sich eine Volkswirtschaft gerade befindet. Wichtig ist nur, dass man die beiden Formen der Wirtschaftspolitik – die kurzfristige, nachfrageorientierte Fiskalpolitik und die langfristige, angebotsorientierte Wirtschaftpolitik – strikt voneinander trennt. Wichtig ist dabei aber auch, dass man die Möglichkeiten und Grenzen der beiden Politiken erkennt und nicht versucht, die eine Politik anstelle der anderen Politik einzusetzen. Vielleicht ist deshalb auch die Unterscheidung hilfreich, dass die kurzfristige Politik zur Geld- und Finanzpolitik (als Prozesspolitik) gehört und die langfristige Politik vornehmlich zur Ordnungspolitik. Deshalb kann auch die erstere Politik relativ schnelle Hilfe versprechen, während die zweite Politik eine längere Ausreifezeit bis zur Ernte ihres Erfolges benötigt. An einem einfachen Beispiel soll der separierte Einsatz von Fiskalpolitik und angebotsorientierter Wirtschaftspolitik demonstriert werden. Zugrundegelegt wird die Idee der Gravitationspfade. Bewusst soll eine Volkswirtschaft auf dem untersten Pfad C als Ausgangspunkt ausgewählt werden. Wie in Abb. 2 dargestellt, wird angenommen, dass es Konjunkturschwankungen um den Pfad C gibt. Befindet sich nun diese Volkswirtschaft in einem Rezessionstal (dargestellt durch den Punkt R in Abb. 2), dann besteht die Möglichkeit, durch expansive fiscal policy (eher über die Fiskalpolitik als über Geldpolitik) sowohl das Bruttoinlandsprodukt als auch die Beschäftigung zu steigern. Das geschieht, weil die zusätzliche Nachfrage nicht ausgelastete Kapazitäten zur besseren Auslastung bringt; es wird also das vorhandene Potential besser genutzt als zuvor. Das kann alles ganz kurzfristig geschehen, weil ja dafür keine neue Kapazität aufgebaut werden muss und keine Investitionen erst ausreifen müssen. Kurzfristig kann die betrachtete Volkswirtschaft auf den Pfad C zurückgelangen und muss nicht unterhalb dieses Pfades verbleiben. Man darf in diesem Fall als Vertreter des demand management sogar sagen, dass eine Volkswirtschaft, in der nichts makroökonomisch unternommen wird, Gefahr läuft, dass R noch weiter vom Pfad C nach unten absinkt.
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Worüber sich allerdings die Wirtschaftpolitiker in dieser Volkswirtschaft auch keine Illusionen machen dürfen, ist die Tatsache, dass man nicht – von R aus startend – mit den Mitteln der expansiven fiscal policy zu einem Gravitationspfad wie B oder gar A aufsteigen kann. Man kann nämlich mit den Instrumenten der Geldschöpfung und zusätzlicher Staatsnachfrage keine besseren Fabriken, keinen moderneren technischen Fortschritt und auch keine gut ausgebildeten Arbeitskräfte mit hoher Mobilitätsbereitschaft hervorbringen. Vermutlich kann man auch nicht kurzfristig die Motivation und Risikobereitschaft der Unternehmerschaft erhöhen – einfach, indem man die Staatsnachfrage erhöht. Aber je weniger man zwischen den beiden Politiken zu unterscheiden weiß, desto eher und leichter wird man der Illusion unterliegen, den Weg der kurzfristigen Politik in Richtung auf ein Ziel einschlagen zu können, das man in Wirklichkeit nur mit der langfristigen Strategie der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik erreichen kann. Wir haben aber auch einen zweiten, von der bisher dargelegten Interpretation unabhängigen Beweis dafür, dass Keynes seiner eigenen nachfrageorientierten Beschäftigungspolitik deutliche Grenzen gezogen hat. Dabei können wir uns auf deutliche, unmissverständliche Worte von Keynes in der „General Theory“ stützen. Diesmal finden wir sie im 21. Kapitel, welches der Schlussstein1 der ganzen Makrotheorie ist. In einem abschließenden Kapitel dürfen wir eine abschließende Würdigung erwarten, und in Bezug auf die Leistungsfähigkeit des demand management wird sie mit schonungsloser Klarheit dargeboten. Keynes hat für seine Analyse als Ausgangsfall eine Rezession gewählt, die in zunehmendem Maße durch eine expansive fiscal policy überwunden werden soll. Das gelingt anfangs auch. Die zusätzliche staatsinduzierte Nachfrage trifft aber allmählich auch auf ausgelastete Unternehmen oder Branchen und löst dort Preissteigerungen aus. Keynes wählt das Bild der Flaschenhälse2 (bottle necks), die die allokativen Verengungen, die sich mehr und mehr durchsetzen werden, verdeutlichen sollen. Was Keynes beschrieben hat, kann man in einer graphischen Vereinfachung anschaulicher darstellen und damit zugleich auf den Punkt bringen. In Abbildung 3 seien auf der Ordinate das Preisniveau abgetragen und auf der Abszisse das Volkseinkommen Y und der dazu gehörige Beschäftigungstand. Vollbeschäftigung sei ganz rechts auf der Graphik im Bereich V erreicht. Wir starten beim Preisniveau P0 und einem YU0 – einer Rezession mit hoher konjunkturell verursachter Arbeitslosigkeit. In Phase 1 gibt es dann bei expansiver Politik keine Preissteigerungen und nur positive Beschäftigungseffekte. 1 Von den drei nachfolgenden Kapiteln über Konjunkturzyklen, Merkantilismus und Sozialphilosophie sagt Keynes selber, es handele sich hierbei um „von der General Theory angeregte, kurze Bemerkungen“. 2 In der deutschen Übersetzung der General Theory von Fritz Waeger von 1936 finden wir den Begriff „Flaschenhälse“ auf der Seite 254. Die Analyse ist auf den Seiten 249–257 nachzulesen.
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Abbildung 3 Preisniveau
Vollbeschäftigung P0
Y U0
YU1 Phase 1
YU2
V
Volkseinkommen / Beschäftigung
Phase 2
Die Keynessche Analyse beginnt beim Zustand YU1. Ab hier wirken sich die von Keynes genannten Faktoren aus. (1) Es gibt „Flaschenhälse“, d. h. in einigen Branchen sind die Kapazitäten schon voll ausgelastet. Die Unternehmen reagieren mit Produktpreiserhöhungen. Da diesen Einzelpreiserhöhungen keine Einzelpreissenkungen in anderen Branchen gegenüberstehen (in kurzfristiger Sicht kann trotz der allgemeinen Wirtschaftsbelebung natürlich realistischerweise so schnell kein kostensparender technischer Fortschritt erwartet werden), muss das Preisniveau steigen. Je mehr „bottle-necks“ entstehen, desto stärker ist der Preisniveauanstieg; siehe hierzu das Ende von Phase 2. (2) Realistisch ist weiterhin, dass entweder in Branchen mit besserer Kapazitätsauslastung oder infolge des Wirtschaftsaufschwungs ganz allgemein oder, weil die Gewerkschaften erwartete Preissteigerungen durch Lohnforderungen auszugleichen bemüht sind, die Löhne zu steigen beginnen. Damit steigen über die Produktionskosten letztlich auch die Güterpreise schneller an. Je schneller die Löhne steigen, desto weniger kann man hoffen, dass ein technischer Fortschritt das Durchschlagen erhöhter Faktorkosten auf die Güterpreise verhindert. – Keynes ist übrigens der Meinung, dass dieser Prozess, der zu immer höheren Preissteigerungen und immer weniger Beschäftigungszunahme führt, weitgehend nicht technisch-quantitativ determiniert ist, sondern auch von psychologischen Faktoren bestimmt ist, die mal stärker, mal weniger stark beteiligt sind. Das gilt insbesondere für das Verhalten der Gewerkschaften und der Unternehmer. (3) Weitere Faktoren wirken sich auf die Schnelligkeit der Preissteigerungen aus: Z. B. je mehr im Zuge der Produktionsausdehnung auf weniger effiziente Produktionsfaktoren zurückgegriffen werden muss, desto weniger steigt die Produktionsmenge. Auch die Kombination der Produktionsfaktoren ist nicht immer so problemlos möglich. Mehr und mehr macht sich das Ge-
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setz abnehmender Ertragszuwächse bemerkbar. Keynes meinte, dass alle Faktoren gleichzeitig aber mit jeweils wechselnder Stärke Einfluss nehmen können. So sind exakte quantitative Voraussagen schwierig, aber die Tendenz ist doch stets da und also bei konkreter Wirtschaftspolitik zu beachten. Was passiert nun, wenn der Zustand YU2 erreicht ist und die Preissteigerungen maßvoll geblieben sind? In Keynes’ Worten ist bisher nur eine Semi-Inflation entstanden. Wie weit man gehen sollte, ist schwer zu beurteilen3 (es ist im Prinzip eine Zielkonfliktentscheidung zu treffen). Wenn aber YU2 erreicht ist, kann es kein wirtschaftspolitisches Ermessen mehr geben, oder wie Keynes es ausdrückt: „Wenn eine weitere Zunahme in der wirksamen Nachfrage keine weitere Zunahme in der Produktion hervorruft, haben wir einen Zustand erreicht, der zutreffend als ein Zustand wahrer Inflation bezeichnet werden könnte.“4 Damit sind nicht nur die Grenzen einer vollbeschäftigungsorientierten fiscal policy aufgezeigt, sondern es wird auch deutlich, dass man die gewünschte Vollbeschäftigung so überhaupt nicht erreichen kann – und zwar um so weniger, je früher der vollkommen unelastische Bereich der Gesamtangebotsfunktion erreicht ist. Das könnte man eventuell empirisch ermitteln. Nimmt man nämlich die Funktion in Abbildung 3 seitenverkehrt (der Ursprung der Graphik wandert nach rechts und die Zeichnung wird umgedreht), dann erkennt man, dass wir eine Phillipskurve vor Augen haben und zwar in der späteren Version mit dem monetaristischen Ast über der NRU (natural rate of unemployment). YU2 ist NRU und die Phase 2 von YU1 bis YU2 entspricht der späteren NAIRU (non accelerating inflation rate of unemployment). Die Analyse der Flaschenhälse (bottle-necks) im 21. Kapitel ist also eine vorweggenommene Phillipskurvenanalyse. Wir greifen noch einmal die Idee von den Gravitationspfaden der Abb. 1 auf. Man muss berücksichtigen, dass die Prägung langfristiger Erwartungen eben nicht nur Produkte reiner Phantasie, sondern auch Ergebnisse empirisch verifizierbarer Qualitäten wie effiziente Produktionsbedingungen, Arbeitsund Produktqualitäten und Motivationsbereitschaften sind. Dann kann man sagen, dass in einem schlechten Zustand der langfristigen Erwartungen die NRU einer gedachten Phillipskurve weit vom Ursprung des Koordinatensystems entfernt sein muss, während sie im günstigsten Fall recht nahe an den Ursprung herangerückt ist. Wir können also die schematisierte Vorstellung 3 In Keynes’ Worten: „Bis zu diesem Punkt ist die Wirkung der geldlichen Ausdehnung völlig eine Frage des Grades, und es gibt keinen früheren Punkt, an dem wir eine bestimmte Linie ziehen und erklären können, dass Zustände der Inflation eingesetzt haben. Jede frühere Zunahme in der Geldmenge wird wahrscheinlich, insofern sie wirksame Nachfrage vermehrt, teilweise durch eine Vermehrung der Kosteneinheit und teilweise durch eine Vermehrung der Produktion wirken.“ (Allgemeine Theorie, 1936, S. 256) 4 Keynes, John Maynard, 1936, S. 256, Hervorhebung vom Verfasser. – Es ist einer Anmerkung wert, darauf hinzuweisen, dass die deutsche Übersetzung der „General Theory“ noch immer beim Verlag Duncker & Humblot zu beziehen ist. Der Preis von 16 RM für die gebundene Ausgabe wird sicher im Eurozeitalter auch nicht mehr annähernd stimmen.
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von der vermuteten Existenz von drei Gravitationspfaden wie A, B und C auf die Positionen von drei ebenso gelagerten Phillipskurven, wie in Abb. 4 gezeigt, übertragen. Abbildung 4 P
C
B
A
Vollbeschäftigung
Y0
Y1
Y2
Y3
V
Beschäftigungsstand und Y
Man erkennt dann beispielsweise sofort, dass eine Volkswirtschaft mit einem langfristigen Zustand, wie durch die Phillipskurve C gekennzeichnet, kurzfristig über ein demand management kein besseres Volkseinkommen als Y1 realisieren kann. Das mag, gemessen am wünschbaren Beschäftigungsziel, eine deutliche Unterbeschäftigung sein. Aber Resignation ist deshalb nicht angezeigt, sondern es wird nur überdeutlich das Signal ausgesendet, die Alternative der angebotsorientierten Beschäftigungspolitik nun endlich in Angriff zu nehmen. Das jedenfalls wäre die Botschaft von Keynes in den Teilen der „General Theory“, die zugunsten eines schönen und schlanken Ausbaus der demand management-Theorie überlesen worden sind. Wichtig ist auch die Botschaft, dass Beschäftigungspolitik möglich ist und sich nicht durch selbst angelegte Fesseln – z. B. mit Erreichen der NRU endet sie – verbannen muss. Dann wäre Keynes falsch verstanden. Quellenverzeichnis Evans, G. (1985), Bottle-necks and the Phillips Curve: A Disaggregated Keynesianism Model of Inflation, Output and Unemployment, in Economic Journal, Vol. 95, S. 345–357. Keynes, J. M. (1936), Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, deutsche Übersetzung der „General Theory of Empoyment, Interest and Money“ von Fritz Waeger, Berlin. Mackscheidt, K. (1980), Crowding-Out als Maßstab für die Effizienz der fiscal policy? in Duwendag, Dieter, und Siebert, Horst (Hrsg.): Politik und Markt, Wirtschaftspolitische Probleme der 80er Jahre, Stuttgart /New York, S. 53–63.
Die Lage – zwanzig Jahre später Fritz W. Scharpf
Erkenne die Lage! Rechne mit deinen Defekten, gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen. (Gottfried Benn)
Die deutschen Sozialdemokraten sind dabei, ihr im Dezember 1989 beschlossenes „Berliner Programm“ zu modernisieren.1 Es war von den Problemsichten, und noch mehr von den Hoffnungen, der achtziger Jahre geprägt, und es wurde durch weltpolitische und weltwirtschaftliche Umwälzungen und die Beschleunigung der europäischen Integration so schnell überholt, dass es kaum handlungsleitende Bedeutung gewann. Gegen solche Risiken ist kein Parteiprogramm gefeit. Aber selbst wenn Umwälzungen vergleichbarer Größenordnung ausbleiben, kann ein programmatischer „Orientierungsrahmen“ der politischen Praxis nur dann weiterhelfen, wenn der notwendige Streit um konkurrierende Zukunftsentwürfe auf der Grundlage einer zutreffenden Einschätzung der gegenwärtigen Lage und ihrer nicht kurzfristig zu beseitigenden Beschränkungen geführt wird. Niemand hat das besser gewusst und mit größerer intellektueller Redlichkeit praktiziert als Egon Matzner in seiner temporären Rolle als Koordinator der Arbeit am Parteiprogramm der SPÖ zu Ende der siebziger Jahre und in seiner lebenslangen Rolle als zugleich kritischer und einflussreicher policy intellectual. Gewiss kann und darf die Programmarbeit, die über den Tag hinaus sozialdemokratischer Politik die Richtung weisen soll, nicht die politischen Kompromisse und taktischen Manöver der aktuellen Regierungspolitik billigend nachvollziehen. Stattdessen soll sie in kontroverser Diskussion eine konkrete Utopie sozialdemokratischer Politik definieren, deren Reichweite durch eine einfache Testfrage bestimmt wird: „Was wollen, könnten und würden wir tun, wenn wir gestützt auf das Votum der Wähler und mit Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat für mehrere Legislaturperioden die deutsche Politik bestimmen könnten?“ Aber die Utopie verkäme zum bloßen Wunschdenken, wenn die Programmatik der Partei wieder einmal die realen und kurzfristig nicht veränderbaren Randbedingungen ignorierte, unter denen jede praktische Politik in Deutschland umgesetzt werden müsste. Schlimmer noch: Die für die Geschichte der Sozialdemokratie typische Spaltung zwi1 Bei diesem Beitrag ist besonders zu beachten, dass er Ende 2004 abgeschlossen wurde (Anmerkung der Herausgeber).
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schen perspektivloser Praxis und realitätsblinder Programmatik könnte unter den heutigen Belastungen die Partei vollends auseinandertreiben. Weil die SPD ihr Berliner Programm nicht ersetzen, sondern lediglich modernisieren will, ist sie in besonderem Maße der Versuchung ausgesetzt, aus Pietät die damaligen Einsichten (einschließlich derer, die damals schon als Illusionen hätten erkannt werden können) einfach stehen zu lassen. Was für Erhard Eppler und Hans-Jochen Vogel richtig war, kann doch für uns nicht falsch sein! Aber Eppler und Vogel wussten immer, dass die Randbedingungen politischen Handelns sich ändern können, und dass politische Gestaltung von den jeweils gegebenen Bedingungen ausgehen muss. Dies war noch nie so notwendig wie heute. Im Folgenden will ich deshalb für die deutsche Beschäftigungs- und Sozialpolitik die fünf aus meiner Sicht wichtigsten Bedingungen benennen, die im Programm von 1989 noch keine Rolle spielten, die aber heute die damals vorausgesetzten Handlungsspielräume rigoros einschränken. 1. Das anlagesuchende Kapital ist mit der Beseitigung aller Kapitalverkehrskontrollen weltweit mobil geworden. Die Mindestrendite nach (!) Steuern kann also nicht mehr durch die nationale Politik bestimmt werden, sondern richtet sich (selbstverständlich unter Berücksichtigung von Wechselkursrisiken) nach dem international gebotenen Niveau. Der Anteil der Gewinne am Unternehmensertrag musste also steigen, und als Margaret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA die Steuersätze radikal senkten, sahen sich fast alle OECD-Länder innerhalb weniger Jahre zur Nachahmung gezwungen. In den skandinavischen Sozialstaaten geschah dies durch den Übergang zu einer „dualen Einkommensteuer“, die einen einheitlichen und verhältnismäßig niedrigen Steuersatz auf die Erträge des mobilen Kapitals mit weiterhin hohen Spitzensteuersätzen für persönliche Einkommen verbindet. In Deutschland dagegen hielt man am Grundsatz der gleichen Besteuerung aller Einkommensarten fest, so dass die notwendige Entlastung der Unternehmensgewinne erst spät und in kleinen Schritten, aber dann als generelle Steuersenkung vollzogen wurde – mit der Folge, dass die Steuern auf Kapitalerträge international immer noch zu hoch erscheinen, während die Ertragskraft der Einkommen- und Körperschaftssteuer insgesamt weit unter dem internationalen Durchschnitt bleibt und die Verteilungsgerechtigkeit des deutschen Steuer- und Abgabensystems weiter abgenommen hat. Die Konsequenzen der Kapitalmobilität für die nationale Politik hätten die deutschen Sozialdemokraten auch 1989 schon erkennen können. Dass sie dies in ihrer Programmdiskussion ignorierten, lag gewiss auch daran, dass damals als Investitionsstandorte faktisch nur die hochentwickelten und politisch „sicheren“ OECD-Staaten in Frage kamen, unter denen die alte Bundesrepublik durchaus attraktiv erschien. Die hohen Löhne und hohen Steuern
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wurden kompensiert durch die hohe Qualifikation der Arbeitnehmer und kooperative Arbeitsbeziehungen, die hohe Arbeitsproduktivität und hohe Produktqualität gewährleisteten. Zumindest für die Herstellung international gefragter „diversifizierter Qualitätsprodukte“ blieb die Bundesrepublik ein international höchst wettbewerbsfähiger Produktionsstandort. Gerade den Sozialdemokraten, die noch in den siebziger Jahren die „Belastbarkeit der kapitalistischen Wirtschaft erproben“ wollten, erschien deshalb das „Modell Deutschland“ ganz ungefährdet. 2. Dieser prinzipielle Standortvorteil schwand erst mit dem Fall der Mauer. Er machte auch aus den Ländern des „sozialistischen Lagers“ politisch sichere Standorte für profitable Kapitalanlagen. Deren Attraktivität nahm durch die politisch irreversible Eröffnung von Beitrittsverhandlungen zwischen der Europäischen Union und den ehemals sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas noch erheblich zu, weil nun den dort investierenden Unternehmen auch der völlig ungehinderte Zugang zu den westeuropäischen Märkten sicher war. Angesichts der hohen Qualifikation der Arbeitskräfte, der um eine Größenordnung niedrigeren Arbeitskosten und der räumlichen Nähe werden Produktionsstandorte in den neuen Mitgliedsländern der EU nun nicht mehr nur von den ohnehin auf den weltweiten Transfer von Kapital, Technik und Managementkompetenz eingestellten multinationalen Großunternehmen genutzt, sondern auch von den mittelständischen Unternehmen, die den Erfolg des deutschen Modells begründet hatten. In dem Teil der deutschen Wirtschaft, der dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt ist, sinkt deshalb die Beschäftigung und es steigt der Kostendruck, auf den die Unternehmen, wo nicht durch weitere Verlagerung oder Automatisierung, derzeit durch Lohnsenkung und weitere Verdichtung der Arbeitsabläufe reagieren. Auch wenn es dem Staat, den Unternehmen und den Gewerkschaften gelingen sollte, durch höhere Investitionen in Forschung, Entwicklung und die Qualifikation der Arbeitskräfte die internationale Wettbewerbsfähigkeit der in Deutschland produzierenden Unternehmen zu verteidigen, wird deshalb der seit langem anhaltende Rückgang der Beschäftigung im Exportsektor insgesamt weitergehen. Zusätzliche Beschäftigungschancen wird es hier nur für hoch- und höchstqualifizierte Arbeitskräfte geben. 3. Während das Wachstum des Exportsektors durch steigenden internationalen Wettbewerbsdruck gedämpft wird, leidet das binnenwirtschaftliche Wachstum unter den negative Wirkungen der Europäischen Währungsunion. Wo zuvor die Bundesbank dafür gesorgt hatte, dass Deutschland nicht nur die niedrigste Inflationsrate, sondern auch die niedrigsten Zinsen in Europa hatte, brachte die Währungsunion einheitlichen Zinsen auf dem niedrigen deutschen Niveau für alle Mitgliedsländer – und damit einen Wachstumsschub für die Partner, während Deutschland im Vergleich dazu zurückfiel. Da aber
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die Europäische Zentralbank sich am Durchschnitt der Euro-Zone orientieren muss, kann sie das schwache deutsche Wachstum nicht durch niedrigere Euro-Zinsen stützen. Überdies blieb und bleibt die deutsche Inflationsrate auch weiterhin unter dem europäischen Durchschnitt, so dass der für das wirtschaftliche Kalkül maßgebliche Realzins (Nominalzins minus Inflationsrate) sogar noch höher liegt als im Durchschnitt der Euro-Länder. Die inzwischen chronische deutsche Wachstumsschwäche wird also durch die Währungsunion selbst (und nicht nur durch den unsinnigen Stabilitätspakt) aufrecht erhalten und weiter verschärft. Die Hoffnung, dass die Massenarbeitslosigkeit durch den nächsten gesamtwirtschaftlichen Aufschwung überwunden werden könnte, erscheint deshalb nicht plausibel. 4. Hinzu kommen die Kosten der deutschen Vereinigung. Anders als andere Nachfolgestaaten des sozialistischen Lagers hatten die ostdeutschen Länder nie die Chance, zum bevorzugten Investitionsstandort westlicher Unternehmen zu werden. Die Gründe dafür sind seit langem bekannt: Die Vereinigung begann mit der ökonomisch ganz unrealistischen Währungsumstellung¸ die einer dramatischen Aufwertung der DDR-Mark gleichkam. Hinzu kamen die unveränderte Übernahme des überregulierten westdeutschen Rechtssystems und eine auf schnelle Annäherung an die westdeutschen Tarife festgelegte Lohnpolitik der (westdeutschen) Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Damit vernichtete man nicht nur die vorhandene Industrie, sondern auch die Erwartung westlicher Unternehmen, dass Investitionen in Ostdeutschland überdurchschnittlich profitabel sein könnten. Statt dessen mussten Investitionen mit hohen Subventionen angeworben werden. Diese hatten zwar bei einer Anzahl industrieller Großprojekte durchaus Erfolg, aber zum großen Teil versickerten sie in ökonomisch zweifelhaften Immobilienprojekten, bei denen es weniger um die künftige Ertragskraft der Investitionen (die die ostdeutsche Wirtschaft dauerhaft vorangebracht hätte) als um kurzfristig wirksame Verlustzuweisungen für besserverdienende westdeutsche Steuerzahler ging. Im Übrigen flossen Hunderte und Aberhunderte westdeutscher TransferMilliarden in den sinnvollen Aufbau und Ausbau der öffentlichen Infrastruktur in Ostdeutschland (die aber wenig genutzt wird) und in die sozialpolitische Alimentierung der katastrophalen Massenarbeitslosigkeit, die dem Scheitern der ökonomischen Integration geschuldet ist. Dieses immense Transfervolumen hatte erhebliche Entzugseffekte für die westdeutsche Ökonomie – auch wenn die Sozialleistungen zumindest zum Teil als Nachfrage nach deutschen und ausländischen Konsumgütern in den Westen zurückflossen. Aber weil das in unveränderter Form übertragene westdeutsche Sozialsystem zum weit überwiegenden Teil durch lohnbezogene Sozialversicherungsbeiträge finanziert wird, war eine der wirtschaftlich schädlichsten Folgen der deutschen Vereinigung der steile Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge in den neunziger Jahren.
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5. Mit dem Anstieg der Lohnnebenkosten ist auch die fünfte und letzte der Randbedingungen angesprochen, die heute den Handlungsspielraum und die Erfolgschancen der deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik beschränken: Anders als die großzügigen skandinavischen und die kargen angelsächsischen Wohlfahrtsstaaten, die in erster Linie aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert werden, entspricht der deutsche Sozialstaat in seiner Grundstruktur nach wie vor dem ursprünglichen „Bismarck-Modell“ einer Arbeiterversicherung. Dem entspricht die Erwartung der Versicherten, mit den eigenen Beiträgen äquivalente und sichere Leistungsansprüche zu erwerben. Tatsächlich aber müssen alle Leistungen aus dem aktuellen Beitragsaufkommen finanziert werden, und das System gerät aus dem Gleichgewicht, wenn die Beiträge zurückgehen, oder wenn zusätzliche Leistungen gewährt werden, denen keine Beiträge gegenüber stehen. Dann muss der Staat mit Steuermitteln einspringen oder Leistungen müssen gekürzt oder die Beiträge erhöht werden. Seit Mitte der siebziger Jahre hat die deutsche Politik immer alle drei Optionen genutzt – wegen der politischen Plausibilität der Versicherungsrhetorik aber vor allem die dritte. So stiegen die Beiträge zu den Sozialversicherungen sowohl in den siebziger als auch in den neunziger Jahren steil an. Im ersten Fall musste die massenhafter Frühverrentung finanziert werden, mit deren Hilfe die Beschäftigungsverluste in der deutschen Industrie „sozialverträglich“ bewältigt wurden; im zweiten Fall ging es um die Finanzierung der Rentenansprüche und der Massenarbeitslosigkeit in den ostdeutschen Ländern. Deshalb hat sich, während das Aufkommen aus allen Steuern als Anteil am Bruttosozialprodukt heute niedriger liegt als 1965, das Aufkommen aus Sozialversicherungsbeiträgen seitdem fast verdoppelt. Die Summe der Sozialabgaben beläuft sich heute auf etwa 42 Prozent des Bruttolohns eines Arbeitnehmers. Anders als bei der Einkommensteuer werden diese Abgaben auch ohne einen die unteren Lohngruppen schonenden „Grundfreibetrag“ erhoben. In den oberen Tarifbereichen für qualifizierte Tätigkeiten konnte der Anstieg der „Lohnnebenkosten“ bisher durch steigende Produktivität einigermaßen kompensiert werden. Die weniger produktiven und ohnehin gering entlohnten „einfachen“ Dienstleistungen aber werden durch die hohe Zusatzbelastung – exemplifiziert durch die eklatante Diskrepanz zwischen dem vom Kunden geforderten Preis einer Handwerkerstunde und dem Nettolohn des Handwerksgehilfen ņ vom Markt verdrängt. Gerade hier lägen aber die Beschäftigungschancen für die nicht ganz hochqualifizierten Arbeitnehmer, die im Exportsektor nicht mehr gebraucht werden, und die auch in den künftigen Wachstumsbranchen des Bildungs- und Gesundheitswesens kaum eine Chance hätten. Insbesondere Jugendliche ohne Hauptschulabschluss, Frauen ohne fachlich qualifizierte Ausbildung und selbst Facharbeiter, deren Qualifikation ihren Marktwert verloren hat, werden dadurch dauerhaft aus der Arbeitsgesellschaft ausgeschlossen.
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Die deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik operiert also unter einer fünffachen Beschränkung: Die internationale Mobilität des Kapitals begrenzt die Besteuerung von Unternehmensgewinnen und Kapitalanlagen. Die exportorientierte Produktion ist einem verschärften internationalen Kostenwettbewerb ausgesetzt, während das binnenwirtschaftliche Wachstum durch die für Deutschland depressiv wirkende europäischen Geldpolitik und die Kosten der ökonomisch fehlgeschlagenen deutschen Vereinigung gedämpft wird. Zugleich vernichten die hohen Lohnnebenkosten vorhandene „einfache“ Arbeitsplätze und verhindern die Schaffung neuer (legaler) Arbeitsmöglichkeiten, während die Struktur unseres Steuersystems den Umstieg auf eine „skandinavische“ Finanzierung des Sozialstaats aus dem allgemeinen Steueraufkommen nicht erlaubt. Wenn das neue Programm der Orientierung sozialdemokratischer Politik – und nicht nur der innerparteilichen Beschwichtigung – nützen soll, dann muss es die genannten Beschränkungen ernst nehmen und ohne Beschönigung darstellen. Zugleich muss deutlich werden, welche dieser Bedingungen nach Überzeugung der Kommission von der deutschen Politik außer Kraft gesetzt werden könnten, und welche auf absehbare Zeit hingenommen werden müssen. Nur dann kann die programmatische Diskussion sich auf die Fragen konzentrieren, über die der politische Streit lohnt, weil die Antworten handlungsleitend werden könnten: Welche strategischen Ziele können wir uns unter den gegebenen Randbedingungen für das kommende Jahrzehnt vornehmen, und mit welchen Mitteln können und wollen wie sie verwirklichen? 2
2 Wäre ich Mitglied der Programmkommission, würde ich dafür plädieren, die internationale Kapitalmobilität, die internationale Steuerkonkurrenz, den verschärften Kostenwettbewerb im Exportsektor und die Europäische Währungsunion als vorerst unveränderliche Randbedingungen hinzunehmen. Im Zentrum der strategischen Diskussion müsste dann das Konzept einer sozialdemokratischen Reform unseres Steuer- und Abgabensystems stehen, und zwar mit dem Ziel, seine internationale Wettbewerbsfähigkeit, seine Beschäftigungswirkung, seine Ertragskraft und seine Verteilungsgerechtigkeit gleichzeitig zu verbessern.
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Three years after the collapse of the Berlin Wall, and one year after the break-up of the Soviet Union, Egon Matzner collaborated in the production of a book that was critical of the Western-inspired policy of market ‘shock therapy’ then being carried out in the countries of the former Soviet Bloc (Kregel et al., 1992).1 A key assumption behind this policy was that the market order would rapidly germinate and grow, once the old state bureaucracies were swept away. As the influential Western advisor Jeffrey Sachs (1993, p. xxi) contended: ‘markets spring up as soon as central planning bureaucrats vacate the field’. In fact, markets did not spring up spontaneously. The requisite commercial rules, norms and institutions were lacking (Kozul-Wright and Rayment, 1997; Grabher and Stark, 1997). As the Nobel Laureate Ronald Coase (1992, p. 718) rightly observed: ‘The ex-communist countries are advised to move to a market economy ... but without the appropriate institutions, no market of any significance is possible.’ Matzner and his co-writers argued that the policy of shock therapy had been damaging for the socio-economic fabric and had led to major economic downturn. They argued that this policy was likely to be counterproductive, because its dislocating effects would undermine the possibility of building the very institutions that are foundational to a developed market economy. These critical arguments and predictions proved to be prescient. Jan Svejnar (2002) published a survey that showed that only Poland and Slovenia had significantly exceeded their 1989 GDP by the end of that decade. Hungary, Slovakia and the Czech Republic just about matched their 1989 GDP after 11 years. Other former Eastern Bloc countries were still well below their 1989 GDP levels as late as 2001, with Russia about 40 per cent lower and the Ukraine about 60 per cent lower. Nauro Campos and Fabrizio Coricelli (2002) reported similar results. While, all these countries had experienced some growth from the depths of depression in the mid-1990s, at best the policies of transition that had been adopted showed only a limited and localised success.
1 The author is very grateful to Michael Ellman, Jane Hardy and Tony Lawson for very helpful comments on a previous draft of this paper.
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Table 1: Some Key Indicators of GDP Performance, 1989–2004
Poland Albania Slovenia Slovakia Hungary Turkmenistan Czech Republic Uzbekistan Estonia Belarus Kazakhstan Armenia Romania Croatia Lithuania Latvia Bulgaria Russian Federation Azerbaijan FYR Macedonia Kyrgyzstan Tajikistan Bosnia & Herzegovina Ukraine Serbia & Montenegro Moldova Georgia All the above countries
Projected 2004 GDP level: 1989=100 147 145 128 125 124 121 118 113 109 109 109 102 101 98 95 93 93 86 85 83 82 70 62 57 54 46 45 93
Average annual % GDP growth rate, 1989–2004 2.6 2.5 1.7 1.5 1.4 1.3 1.1 0.8 0.6 0.6 0.6 0.1 0.1 -0.2 -0.3 -0.5 -0.5 -1.0 -1.1 -1.3 -1.3 -2.3 -3.2 -3.6 -4.0 -5.1 -5.1 -0.5
Average annual % GDP growth rate, 2000–2004 3.0 6.3 2.8 4.5 3.8 10.0 3.3 3.1 6.1 5.5 10.5 11.4 5.4 4.5 7.7 7.3 4.9 5.9 10.8 0.7 4.8 9.3 4.6 7.8 3.6 6.7 6.0 4.4
Projected 2004 GDP in US$ per capita 5058 1571 10268 4357 5806 1646 6102 483 4846 1444 1880 959 2015 5229 4324 3932 1958 2551 925 1808 347 222 1343 939 1122 421 722 2393
Not all the former Communist countries applied shock therapy: Hungary and Uzbekistan avoided such policies. And where it was applied, it took different forms, and assumed differing degrees of severity. Nevertheless, all the former Communist countries experienced a significant downturn in the 1990s, and it is important to examine the strength of their subsequent recovery. Data are now available to update the picture to 2004, halfway into the first decade of this millennium. A purpose of this article is to provide some data for the 15 years since the collapse of the Berlin Wall, focusing on the growth in GDP and on absolute levels of GDP per capita. Of course, it should not be assumed that GDP is an accurate measure of welfare or wellbeing. But an examination of GDP figures is nevertheless of some importance and it should form part of a wider panorama of indicators.2 2 The data were obtained from the following sources: ERBD (2002, 2004), UNCTAD (2003). Data for 2003 and 2004 are estimates or projections given in ERBD (2004).
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The data cover twenty-seven former Communist countries, including nineteen in Europe and eight in Central Asia.3 Seven of these countries – Estonia, Hungary, Latvia, Lithuania, Poland, Slovakia, and Slovenia – joined the European Union in 2004. Some key indicators are shown in Table 1, with the countries in descending order of post–1989 performance. Table 1 shows a very mixed picture. Taken as a whole, the twenty-seven former Communist countries are expected in 2004 to be at seven percent below their 1989 GDP level. Fourteen of these countries have experienced negative overall growth in the fifteen-year period. However, seven of these countries have achieved an average 1989–2004 GDP growth rate of over one per cent, and in Poland and Albania growth has exceeded two per cent. But two of the more rapidly growing countries – Albania and Turkmenistan – are extremely poor compared with the more developed European countries. Their levels of GDP per capita are instead comparable to developing economies such as Algeria, Guatemala, Namibia and Thailand. This leaves five more developed countries – Poland, Slovenia, Slovakia, Hungary and the Czech Republic – that have exceeded a one per cent overall growth in the 1989–2004 period. Yet even these five countries have GDP per capita levels well below the 2001 figures of $ 34,946 per capita in the USA, and $ 20,860 per capita in the European Union. At best, taking the 1989–2004 period as a whole, only seven countries can claim a modestly successful overall growth rate. The remainder have experienced stagnation or decline. Russia is by far the most populous of these twenty-seven countries and accounts for 35 per cent of their total population. Its GDP is still fourteen per cent below its 1989 level. All these countries experienced a significant economic downturn in the 1990s. Subsequently, all these countries have experienced some growth, leading in all cases to positive average growth rates for the 2000–2004 period, as shown in Table 1. Only in the case of the Former Yugoslav Republic of Macedonia has the 2000–2004 growth rate been less than 1 per cent, and this particular country experienced civil war as late as 2001. All other transitional countries experienced growth between 2 and 12 per cent per annum. The 1990s recessions in transitional economies varied considerably in severity, as shown in Table 2. The least severe was in the Czech Republic, where the downturn of 1992 brought the economy to 88 per cent of its 1989 level.
3 In Europe: Albania, Belarus, Bosnia and Herzegovina, Bulgaria, Croatia, Czech Republic, Estonia, FYR Macedonia, Hungary, Latvia, Lithuania, Moldova, Poland, Romania, Russian Federation, Serbia and Montenegro, Slovakia, Slovenia, and Ukraine. In Central Asia: Armenia, Azerbaijan, Georgia, Kazakhstan, Kyrgyzstan, Tajikistan, Turkmenistan, and Uzbekistan. East Germany (DDR) is excluded from this study because of its subsequent unification with West Germany.
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Table 2: The 1990s Recessions and their Aftermaths Lowest 1990s GDP level as % of 1989 GDP
Czech Republic Uzbekistan Poland Hungary Slovenia Slovakia Romania FYR Macedonia Bulgaria Belarus Estonia Kazakhstan Albania Croatia Russian Federation Turkmenistan Lithuania Latvia Kyrgyzstan Armenia Serbia & Montenegro Tajikistan Ukraine Azerbaijan Moldova Georgia Bosnia & Herzegovina All the above countries
Year of lowest 1990s GDP level
Average annual % GDP growth rate in five years after lowest GDP
Average annual % GDP growth rate, 2000– 2004 GROWTH 3.3 3.1 3.0 3.8 2.8 4.5 5.4 0.7 7.3 6.1 5.5 10.5 6.3 4.5
Index of internal armed conflict, 1990– 2004 WAR 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0 1 2
RECESSION 88 84 83 83 82 76 76 71 67 64 63 63 61 60
1992 1995 1991 1993 1992 1993 1992 1993 1997 1995 1994 1995 1992 1993
60
1996
3.6
5.9
1
55 54 53 50 44
1997 1994 1995 1995 1993
12.2 4.5 5.7 6.4 6.3
10.0 7.7 4.9 4.8 11.4
0 0 0 0 0
41
1993
5.9
3.6
2
40 40 38 34 26
1996 1998 1995 1999 1994
6.3 6.2 8.1 5.8 6.3
9.3 7.8 10.8 6.7 6.0
0 0 2 1 2
12
1993
29.2
4.6
3
71
1996
2.7
4.4
2.6 3.5 5.2 3.3 4.1 5.8 2.3 0.8 4.5 6.7 4.8 3.1 6.9 5.8
In Russia the 1996 downturn brought the economy to 60 per cent of its 1989 level. The devastating effects of the emerging Russian economic catastrophe, including on public health and life expectancy, even before the economy had reached its nadir, are depicted in Ellman (1994). The extremely severe recessions in Armenia, Azerbaijan, Bosnia and Herzegovina, Georgia, Kyrgyzstan, Moldova, Serbia and Montenegro, Tajikistan, and the Ukraine meant the loss of at least half of their GDP levels in 1989. In some of these countries the recession was at least partly the result of civil war and the breakdown of internal order.
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One hypothesis is that the severity of the 1990s recession would be positively correlated with subsequent growth. In disruptive circumstances it is possible that the more resilient, productive and energetic firms and organisations would be more likely to survive than the others, leading later to more dynamic growth. With data now available, this hypothesis can be tested. An attempt was made to also take account of the fact that a number of these countries have experienced significant armed conflict on the home territory in recent years, thus undermining state and legal authority and impeding economic progress. It is important to note that the severity of the 1990s recession is not necessarily correlated with the degree of application of shock therapy. The 1990s recessions in Uzbekistan, Hungary and Poland were very similar in scale. But the first two of these countries claimed to avoid such a policy, whereas Poland is often considered a classic case of its application. The hypothesis to be tested here concerns the degree of recession, rather than the perceived degree of application of any particular economic policy. The rightmost column in Table 2 is an index of the degree of internal armed conflict in the 1990–2004 period, constructed as follows. Where significant armed conflict existed, the number of fatalities per thousand of the population was estimated using available data.4 The index of the degree of internal armed conflict (WAR) was based on these estimates, according to the following schedule: WAR Index 0 1 2 3
Fatalities Less than 1 death per 10,000 population Between 1 death per 10,000 population and 1 death per 1,000 population Between 1 death per 1,000 population and 1 death per 100 population Between 1 death per 100 population and 1 death per 10 population
As indicated in Table 2, RECESSION is the lowest 1990s GDP level as a percentage of 1989 GDP and GROWTH is the average annual growth rate in 2000–2004. A regression was performed with GROWTH as the independent variable and RECESSION and WAR as the dependent variables. The rate of growth after 2000 was chosen rather than the rate of growth immediately after the 1990s recession, because the aim was to examine the possible causes 4 A comprehensive listing of estimated war fatalities, with sources, is available on http://users.erols.com/mwhite28/warstats.htm. However, I have been unable to find reliable estimates of fatalities of the civil war in the Former Yugoslav Republic of Macedonia in 2000– 2001. Given that its population is just over two million, estimates of deaths of just over 200 would qualify of a WAR index of at least unity. In any case it should be taken into account that the ethnic Albanian insurgents gained control for a while of about 30 per cent of the territory of the FYR Macedonia, signifying a significant breakdown of national non-violent mechanisms of conflict resolution.
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of enduring growth, and the immediate rebound from a recession can often depend on consequent factors such as spare capacity, low prices and low wages, which are not necessarily long-lasting. The results of the regression are as follows: GROWTH = 13.723 – 0.11633*RECESSION – 1.8544*WAR standard error 1.8621 0.02742 0.5960 t statistic 7.3696 –4.2426 3.1112 R2 = 43.35 per cent, adjusted R2 = 38.63 per cent All variables are significant at the 1 per cent level.5 Other things being equal, the results suggest that the more severe the 1990s recession (i.e. the lower the value of RECESSION) the greater the post-2000 growth rate. In other words, the results provide some support for the notion that the actual severity of the 1990s shock to the economy is positively correlated with subsequent growth rates. Against this, however, some of the post-2000 growth may be the enduring momentum of the bounce back from the 1990s recession, and may not endure for many more years into the future. Accordingly, it is useful to consider another dependent variable to capture each country’s post-1989 growth record. GDP2004 is the projected GDP in 2000, compared with a 1989 baseline level of 100, as shown in Table 1. A regression with this dependent variable was performed with the same dependent variables as before. The results are as follows: GDP2004 = 33.604 + 1.0931*RECESSION – 1.4201*WAR standard error 15.8757 0.2338 5.0817 t statistic 2.1167 4.6760 –0.2794 R2 = 61.15 per cent, adjusted R2 = 58.32 per cent This regression indicates that 2004 GDP levels, as percentages of the levels for 1989, are positively and significantly correlated with the RECESSION variable. This means the deeper the recession, the lower the 2004 GDP is likely to be. Hence there is no evidence here that the shock value of the recession leads to a greater 2004 GDP outcome. In this second regression, the WAR variable is not statistically significant. This regression is also open to challenge. It is obvious that a deeper 1990s recession means subsequently a greater hill to climb for the economy to reach a level of GDP equal or in excess of its 1989 level. Generally, while we have 5 It should be noted that there is some degree of correlation (–62.1 %) between the two independent variables. However, partly because the correlation is negative yet their regression coefficients are both of the same sign, the overall results are still of some significance.
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data for 15 years after 1989, the time period is still not long enough to obtain a clear verdict on the role of recessions in stimulating subsequent growth in transitional economies. Even if evidence were forthcoming concerning the possible benefits of an economic policy of ‘shock therapy’, this does not mean that this or any other policy of promoting a recession is generally appropriate. The human costs of such economic disruptions have to be considered, particular when the subsequent benefits amount to no more than a few percentage points on the growth rate. Furthermore, as emphasised above, human welfare does not necessarily correlate with GDP, and other indicators should be taken into account. In sum, the sceptical conclusions of Matzner and his co-authors in their 1992 volume, concerning the value of economic ‘shock therapy’, are endorsed by the present analysis. Statistically, even 15 years are not enough to establish a firm verdict on whether the 1990s recessions hindered or stimulated enduring growth. References Campos, N. F., Coricelli, F. (2002), Growth in Transition: What We Know, What We Don’t, and What We Should, Journal of Economic Literature, 40(3), September, pp. 793–836. Coase, Ronald H. (1992), The Institutional Structure of Production, American Economic Review, 82(4), September, pp. 713–719. Ellman, Michael (1994), The Increase in Death and Disease Under “Katastroika”, Cambridge Journal of Economics, 18(4), August, pp. 329–377. ERBD (2002), Transition Report, European Bank for Reconstruction and Development, London. EBRD (2004), Transition Report Update, April, European Bank for Reconstruction and Development, London. Grabher, G., Stark, D., eds. (1997), Restructuring Networks in Post-Socialism: Legacies, Linkages and Localities, Oxford University Press, Oxford. Kozul-Wright, R., Rayment, P. (1997), The Institutional Hiatus in Economics in Transition and its Policy Consequences, Cambridge Journal of Economics, 21(5), September, pp. 641–661. Kregel, J., Matzner, E., Grabher, G., eds. (1992), The Market Shock: An Agenda for the Economic and Social Reconstruction of Central and Eastern Europe,Austrian Academy of Sciences, Vienna. Sachs, J. D. (1993), Poland’s Jump to a Market Economy, MA: Harvard University Press, Cambridge. Svejnar, J. (2002), Transition Economies: Performance and Challenges, Journal of Economic Perspectives, 16(1), Winter, pp. 3–28. UNCTAD (2003), UNCTAD Handbook of Statistics, United Nations Conference on Trade and Development, New York and Geneva.
Wirtschaftspolitik in der Steiermark: Cluster & Helle Köpfe Herbert Paierl
1. Teamgeist statt Einzelkämpfertum 1.1 Der Mittelstand, gefördert und gefordert Immer wieder versucht man sie gegen einander auszuspielen: Die Großen und die Kleinen, die Industrie und das Gewerbe, den Handel. Dabei leben wir heute eindeutig in einem arbeitsteiligen System, in dem der Große nicht ohne den Kleinen auskommt und umgekehrt. Mittelstand meint dabei nicht nur Klein- und Mittelunternehmen, sondern alle leistungswilligen, selbstständig agierenden, unternehmerisch denkenden Menschen. Sie zu unterstützen, also zu fördern, ist für Wirtschaftspolitiker nichts Ungewöhnliches. Sie aber auch zu fordern, ist eine spezielle Qualität der Politik. Diese Kombination war titelgebend für eine Kampagne des Wirtschaftsressorts in der steirischen Landesregierung. Dadurch wurde die Rolle des Wettbewerbs hervorgehoben, demonstriebar an dem von Friedrich August von Hayek erwähnten Beispiel von der Kuh. Die Ausgangssituation: Das eigene Rindvieh gibt weniger Milch als das Tier des Nachbarn. Was tun? Im anglo-amerikanischen Raum, sagte Hayek, würde man versuchen, die eigene Kuh zu stärken. In Österreich hingegen würde man danach trachten, die Leistung der Nachbarkuh abzusenken, wenn es sein muss mit Vorschriften und Gutachten. Die Bereitschaft, selbst aktiv zu werden, in Netzwerken zu denken und zu arbeiten, ist eine unbequeme, aber unerlössliche Forderung. Sie richtet sich grundsätzlich an alle, unabhäng von der Unternehmensgröße. Doch kommen den großen Unternehmungen eine besondere Aufgabe zu: Die „Großen“, die in Wahrheit im globalen Kontext eher Betriebe mittlerer Größe sind, haben die Kraft, die „Kleinen“ ökonomisch voran zu bringen. Diesen Ansatz verfolgen „Wirtschaftscluster“. Das Wort bedeutet im Deutschen nichts anderes als „Schwarm“. Die Leitbetriebe erzeugen einen Windschatten, der den kleineren Unternehmen hilft. Die größeren und damit oft auch stärkeren, widerstandsfähigeren Betriebe bringen zusätzliches Geld und Wertschöpfung in die Region. Im Rahmen dieses Prozesses können sich Zulieferer ansiedeln, die Palette reicht vom simplen Würstelstand bis zu hochqualifizierten Serviceunternehmen. Die lokalen und regionalen Strukturen profitieren davon, ohne selbst eine direkte Förderung erhalten zu haben. Aus Sicht des liberalen und international denkenden Menschen hat es keinen Sinn, sich politisch und ökonomisch gegen die Internationalisierung
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stellen zu wollen. Das Ausland, das Ferne zu verteufeln, wohl wissend, dass wir unsere Produkte ja auch in anderen Ländern absetzen wollen und müssen, richtet großen Schaden an. Die Verflechtungen zwischen größeren und kleineren Firmen auf internationaler Ebene sind zweifellos für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes wie der Steiermark äußerst hilfreich. Mit einer Abwehrhaltung gegen große Unternehmen wird das wirkliche Problem in der heutigen wohlfahrtsstaatlichen Struktur verfehlt. Es geht nicht um den alten klassenkämpferischen Gegensatz von selbstständigen Unternehmern und somit reichen Kapitalisten gegen die Klasse und Masse der Unselbstständigen und geschundenen Ausgebeuteten. Vielmehr geht es darum, den breiten Mittelstand, ob selbstständig oder unselbstständig, politisch zu vertreten, ihn bürokratisch und vor allem finanziell zu entlasten. Den Mittelstand unterstützen, kann nicht bedeuten, Umweltstandards zu verwässern oder berechtigte Auflagen über Bord zu werfen. Sinnvoll ist allerdings ein Bürokratieabbau dort, wo man lediglich Hindernisse produziert, ohne dass es sachlich zu rechtfertigen wäre. Vor allem muss man den kleinstrukturierten Mittelstand in Sachen Ausbildung unterstützen, über leichtere Zugänge zu Forschung und Entwicklung. Der „Cluster“ in der Version als lernende Organisation mit Vernetzung seiner Teilnehmer hilft kleinen und mittleren Betrieben besonders. Er gibt ihnen rechtzeitig Signale über Entwicklungen, die für sie bedeutsam sind. Marktbewegungen und technologische Veränderungen werden in einem regionalen Cluster früher erkannt als bei einzelgängerischem Vorgehen. Der Wirtschaftsforscher Michael Steiner, Begleiter und Kommentator der Wirtschaftspolitik in der Steiermark hat dies treffend auf den Punkt gebracht: „Die Clusterpolitik ist die steirische Antwort auf die Gefahren der Globalisierung für unsere Strukturen.“ Die politische Unterstützung für diese Form des Know-how-Transfers kam in der Steiermark – für Beobachter von außen durchaus überraschend – von allen Sozialpartnern, den Vertretern der Wirtschaft ebenso wie von Gewerkschaft und Arbeiterkammer. 1.2 Fair tax – die einfache Art, Steuern zu zahlen Die kleineren und mittleren Unternehmen und der gesamte Mittelstand stehen gerade in einer Zeit der Marktöffnung in einem besonderen Wettbewerb, vor allem auch in einem Steuerwettbewerb, mit anderen Wirtschaftsstandorten. Die in Österreich im Jahre 1999 auftauchende „flat tax“-Diskussion ist ein möglicher Ansatz zur Verbesserung der Situation für diese Betriebe. Über neue Schulden oder über Steuererhöhungen dem Mittelstand und den leistungsbereiten Unternehmen zuerst Geld wegzunehmen und dann in einen komplexen und teuren Verteilungsapparat einfließen zu lassen, dient nur dem Aufbau neuer Verwaltung und der Entstehung zusätzlicher öffentlicher Kosten. So kommt nur ein Bruchteil der dem Marktmechanimus entzo-
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genen Ressourcen den Betrieben wieder zugute. Indirekt zu fördern, Leistungsanreize zu geben, so etwa auch über Steuern und Abschreibemöglichkeiten, ist effektiver als direkte Förderungen über Staatsausgaben. Dabei käme einer „fairen Steuer“ oder „flat tax“ eine besondere Rolle zu. Nicht zufällig sind einige der jungen Staaten in der Europäischen Gemeinschaft, die Slowakei oder Estland etwa, mit einem vergleichbaren System bisher sehr gut unterwegs. Die Frage rund um die „flat tax“ ist immer dieselbe: Kann wirklich genügend Geld aufgebracht werden, um die notwendigen Staatsaufgaben zu bewältigen? Die nächste Frage wirft dann der polemische Stehsatz auf, mit einer „flat tax“ werde nur den ohnedies schon Reichen geholfen. In der Sache ist das falsifizierbar. Die einzigen, die sich durch ein transparenteres einfacheres System benachteiligt fühlen müssten, sind die Steuerberater, die im übrigen im österreichischen Kontext ebenso wie die Notare, Anwälte, Zivilingenieure und Ärzte fälschlicherweise als „Freie Berufe“ bezeichnet werden, obwohl sie – ob zu Recht oder nicht sei hier dahingestellt – die wohl striktesten Standesregeln und Zugangsbarrieren aufweisen. Die Österreicher arbeiten bis zum 19. Juni eines jeden Jahres, um ihre Sozialversicherungsabgaben und Steuern zu bezahlen. Höchste Zeit, daran etwas zu ändern, möchte man meinen. Keine neuen Schulden zu machen, so lautete das Ziel der ÖVP-FPÖ-Regierung ab dem Jahr 2000. Diese, mittlerweile leider wieder in Vergessenheit geratende Tugend war für viele ein finanzpolitischer Tabubruch. Gar keine neuen Schulden? Nulldefizit? Darf es so etwas bei uns geben? Es durfte (nahezu), allerdings wurde primär einnahmenseitig operiert, was den Österreichern die höchste Steuer- und Abgabenquote seit jeher eingebracht hat. Es gab immer wieder Ansätze daran zu rütteln, allerdings mit bescheidenem Erfolg. Anscheinend war der Leidensdruck bislang nicht groß genug. Dabei hat das bestehende System gleich mehrere gravierende Nachteile. Die Komplexität und die Höhe des Steuerdschungels führen fast zwangsläufig zu Steuerhinterziehungen und zu Schwarzarbeit. Niemand außer einem ausgewiesenen Steuerexperten ist noch in der Lage, seine Steuererklärung korrekt auszufüllen. So ernährt der Staat eine Berufsgruppe, die Steuerberater und Wirtschaftstreuhänder, aber das kann nicht Sinn der Sache sein. Die Ungerechtigkeiten und die Undurchschaubarkeit der Besteuerung durch das bestehende Modell sind so gravierend, dass nicht wenige Steuerzahler ständig mit einem schlechten Gewissen durch’s Leben gehen. Die Furcht, etwas übersehen zu haben, ist lähmend, leistungshemmend und fördert die Schattenwirtschaft, den Schwarzmarkt und die Steuerhinterziehung. Zu diesem Befund erhält ein Wirtschaftspolitiker in mittelständischen Kreisen die größte Zustimmung. 1996 bekamen die beiden britischen Wirtschaftswissenschafter James A. Mirrlees und William Vickrey den Nobelpreis für ihr ideales Steuermodell
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verliehen. Mirrlees und Vickrey hatten jede Menge Statistiken gewälzt und herausgefunden, dass ein Steuersatz zwischen 17 und 24 Prozent am effizientesten sei. Zum Vergleich: In Österreich liegt der Spitzensteuersatz bei theoretischen 50 Prozent, den wegen der vielen Abschreibemöglichkeiten wahrscheinlich kaum jemand tatsächlich zahlt. Die „Einfachsteuer“ oder „fair tax“ bietet einen einheitlichen Steuersatz. Jedes Einkommen wird gleich besteuert, jeder Steuerzahler wird nur einmal zur Kasse gebeten. Im Unterschied dazu gibt es im bestehenden System steuerfreie Einkommensteile (etwa Benefits wie Firmenwägen), andererseits aber auch mehrfache Besteuerung (etwa bei Kapitalerträgen und Dividenden). Der Steuerzahler ist beim Modell „fair tax“ im Rahmen seines Einkommens und eines Teils seiner Pensionseinzahlungen steuerpflichtig, als Freibetrag (abhängig von Familienstand und Anzahl der Kinder) abgezogen wird ein Teil seiner Wohnungskosten. Auch für Unternehmen wird die Steuererklärung leicht handhabbar: Der Jahresumsatz minus „erlaubter“ Kosten (für den Einkauf von Waren, für Personalkosten und für den Erwerb von Anlagevermögen) ist die Basis für die Steuerberechnung. Am Ende sollte jede Steuererklärung – bildlich gesprochen – auf einer A4-Seite Platz finden und ohne Hilfe eines Experten möglich sein. Dass es gegen diesen Vorschlag Widerstände gibt, ist verständlich. Steuerberater oder Finanzbeamte werden ihm wenig abgewinnen können. Ins Leere geht jedoch der Vorwurf, dieses Modell begünstige die Reichen. Das Gegenteil ist der Fall: Heute können sich vermögende Menschen und Firmen die besten Experten leisten, die ihnen alle wichtigen Empfehlungen verkaufen, wie man „steuerschonend“ agiert. Ein privater Haushalt oder ein durchschnittlicher Arbeiter hat diese Möglichkeit nicht. Steueroasen wie Monte Carlo oder die Bermudas sind den mittelständischen Leistungsträgern auch kaum zugänglich. Von einer niedrigeren Quote, die für alle in gleichem Umfang gilt, profitieren daher gerade Menschen mit geringeren Einkommen. Für manche ablehnende Haltung in Österreich dürfte mit verantwortlich sein, dass die „flat tax“, die in den USA von den Ökonomen Alvin Rabushka und Robert Hall entwickelt wurde, hierzulande von Jörg Haider propagiert wurde. Mit dem Vorschlag der „fair tax“ hat der Autor bewusst einen anderen Schwerpunkt in die Debatte eingebracht, nämlich die Ungerechtigkeit des bestehenden Systems und seine schädlichen Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort. Gleichgültig welchen Begriff man nun bevorzugt, ein einheitlicher Steuersatz zwischen 19 und 24 Prozent für alle Einkommen, mit einer klaren Abfederung für sozial Schwächere, würde das System wesentlich transparenter und effizienter machen.
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1.3 Going international Ein weiteres mittelständisches Dilemma ist die geringe internationale Verflechtung, nicht nur der Klein- und Mittelbetriebe sondern auch der heimischen Bevölkerung an sich. Die mangelhaften Fremdsprachenkenntnisse sind wohl auch das Resultat einer nach wie vor weit verbreiteten „mir san mir“Mentalität. Besuche in Ljubljana, Budapest und Krakau zeigen auf, woher die zukünftigen innereuropäischen Wettbewerber kommen. Die asiatischen Metropolen mit ihren Millionen jungen, gut und international ausgebildeten Menschen sollten mitteleuropäische Wohlstandsprivilegierte zu neuen Beweglichkeiten führen, anstatt dass diese protektionistische Maßnahmen verlangen wie die siebenjährige Übergangsfrist für Arbeitskräfte aus den neuen EUBeitrittsländern. Der leider zu früh verstorbene Universitätslehrer des Autors, Egon Matzner, hat den genialen Vorschlag unterbreitet, für jeden jungen Menschen in Österreich ein verpflichtendes Auslandsjahr in der Ausbildungszeit vorzuschreiben, da Österreich in seiner rohstoffarmen Lage auf nichts anderes setzen könne als auf die „kills“ seiner Menschen, die Bereitschaft zur Ermächtigung und Ertüchtigung, auf die „hellen Köpfe“ und ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit. Wirtschaftsförderprogramme wie das RIST (Regionale Internationalisierung Steiermark) sind notwendige, aber eben doch im Nachhinein eingeführte Reparaturversuche der Unterstützung für den Mittelstand beim Markteintritt in Nachbarregionen. IST (Internationalisierung Steiermark) ist das Pendant dazu außerhalb Europas, um mittels politischer Schwerpunktbildung eine Art Türöffner für Klein- und Mittelbetriebe zu schaffen. Die Going International Projekte führten steirische Unternehmer nach Brüssel, Paris, Stuttgart, Göteborg, Detroit, Chicago, Kalifornien, Mexiko, China, Japan und bis in die Vereinigten Arabischen Emirate. Wenn der Mittelstand sich bei der Stärkung der eigenen Positionen nicht von den Feinden der offenen Gesellschaft und den Widrigkeiten der bewahrend ausgerichteten Politik beirren lässt, wird die eingangs erwähnte Kritik von Hayek künftig gegenstandslos. Den Mittelstand zu fördern und gleichzeitig zu fordern, ist ein besserer Ansatz als unternehmerische Initiativen immer nur mit Misstrauen oder Missgunst zu begegnen und Risiko um jeden Preis durch staatliche Hilfen vermeiden zu wollen. 2. Mut zu Neuem: Von der Krisenregion zum Land der hellen Köpfe Die Oststeiermark, engere Heimat des Autors, war über viele Jahrhunderte ein Land an der Grenze, eine Gegend, die von der Landwirtschaft und dem Handwerk eher schlecht als recht lebte. Bis in die 1970er und 80er Jahre fehlte es nicht nur an Infrastruktur, sondern auch an Optimismus. Zwar gab
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es immer wieder Unternehmerpersönlichkeiten, die es doch „zu etwas brachten“, aber der ökonomische Status der Region an sich war rückständig. Dieser Landesteil galt als eines der Armenhäuser Österreichs. Es ist wirtschaftspolitisch und lebensgeschichtlich spannend zu sehen, wie sehr sich die Oststeiermark der frühen Fünfzigerjahre, mit Plumpsklo, ohne Bad, Waschmaschine oder Kühlschrank und ohne ausgebautes Straßennetz, verändert hat. Viele kleine Betriebsansiedlungen und Bildungsinvestitionen haben dazu beigetragen, dass sich diese Region heute wesentlich einladender präsentiert als früher. Die anderen Teile der Steiermark hatten keine wesentlich besseren Voraussetzungen. Die Obersteiermark wurde mit dem zunehmenden Bedeutungsverlust der grundstofflastigen Verstaatlichten Industrie wirtschaftlich kräftig massiv erschüttert. Die Verstaatliche Industrie trug sicherlich nicht die alleinige Schuld an den Schwierigkeiten, es gab auch internationale Ursachen der Stahlkrise. Doch die generelle Trägheit und die Tatsache, dass wichtige Entscheidungen oft in gewerkschafts- und parteigelenkten Unternehmenszentralen fielen, die zudem oft nicht in der Steiermark lagen, behinderten die wirtschaftliche Entwicklung und die Wettbewerbsfähigkeit. 1987 musste sich die Belegschaft von Böhler in Kapfenberg den Satz „Verstehen Sie doch, wir sind pleite!“ aus dem Mund des damaligen Verstaatlichten-Chefs Hugo Michael Sekyra anhören. Ökonomen wie Gunther Tichy und Michael Steiner wiesen in ihren damaligen Analysen darauf hin, dass die erzeugten Produkte oft veraltet, jedenfalls aber nicht mehr zu ausreichenden Konditionen herstellbar und verkäuflich waren. Die Beschäftigungssituation wurde immer bedrohlicher. Die Steiermark fand sich in den 80er und beginnenden 90er Jahren beim Wirtschaftswachstum der österreichischen Bundesländer regelmäßig an letzter beziehungsweise vorletzter Stelle. Fast die Hälfte der Arbeitnehmer in der Obersteiermark verlor zwischen 1980 und 1990 ihren Job. Die West- und Südsteiermark konnte weder im Tourismus noch im inlandsbezogenen Dienstleistungsbereich entscheidende Fortschritte erzielen. Allen Experten war klar, dass der Agrarbereich und die traditionelle Grundstoffindustrie allein die Steiermark nicht nach vorne bringen würden. Immer öfter las man in den Zeitungen von „Krisenregion“ und „Sanierungsfall“. Die Steiermark befand sich auch in Sachen Verkehrsinfrastruktur – überspitzt formuliert – am Abstellgleis. Das Hinterland von Graz war nicht nur wirtschaftlich schwach, sondern auch geografisch abgeschnitten. Eine Autofahrt nach Kärnten oder gar nach Slowenien und Kroatien hatte Abenteuercharakter. Die Landeshauptstadt Graz wurde als „Pensionopolis“ abgestempelt, junge Menschen gingen auffällig oft nach Wien oder gleich ins Ausland, um gute Jobs zu finden. Selbst der für das Selbstbewusstsein der Einwohner
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wichtige Status von Graz als zweitgrößte Stadt Österreichs schien durch das Aufholen von Linz gefährdet. Nach wie vor waren viele der größeren steirischen Industriebetriebe in Graz angesiedelt, doch die internationale wirtschaftliche Dynamik und die aufkommenden Firmenverlagerungen in Niedriglohn-Länder stellten für die Steiermark eine ernste Herausforderung dar. Wenn speziell Wiener Medien ein typisches Bild einer sterbenden Region und einer trostlosen Gegend benötigten, dann fanden sie dieses in der Steiermark. Die Steirer glaubten selbst – trotz des ihnen schon immer angedichteten Selbstbewusstseins – an ihre Rückständigkeit und Hoffnungslosigkeit. Sie beweinten ihre Krise selbst am meisten und machten sich dadurch nur noch schwächer, wie ein Sportler, der nie an seinen Sieg glaubt und deshalb auch noch nie gewonnen hat. Einige der Traditionsbetriebe bekamen neue Strukturen oder gleich neue Eigentümer. An solch gravierende Änderungen mussten sich die Menschen erst gewöhnen. Ein Beispiel waren nicht nur die verstaatlichten Industrieunternehmen, sondern auch so genannte „Versorger“ wie die Steweag, der Strom-Monopolbetrieb des Landes, bei dem der Autor ab 1993 im Vorstand tätig war. In der Entstehungsgeschichte des Unternehmens fällt vor allem auf, dass man es in der Steiermark von politischer Seite nach dem Krieg verabsäumt hatte, die Strukturen klar zu ordnen. Die Steweag hatte, im Vergleich zu anderen Landesversorgern in Österreich, eine wesentlich schwierigere Ausgangssituation. Jede Menge Auflagen und Vorschriften sollten die Versorgung sicherstellen, der Markt war aber zu klein und durch die Existenz einer zweiten großen Stromgesellschaft (in privater Hand und daher auch recht schlank organisiert) sowie zahlreicher regionaler Anbieter fragmentiert. Am Horizont konnte man freilich schon die Öffnung des Marktes erkennen, die von der Europäischen Union gefordert und gefördert wurde. Um in diesem kommenden Wettbewerb bestehen zu können, musste das Unternehmen als erstes schrittweise entpolitisiert werden. Die parteipolitische Kluft zwischen den Abteilungen schadete dem Betriebsklima und natürlich auch der Effizienz. Nach tiefgreifenden internen Reformschritten ging die steirische Landesregierung auf die Suche nach einem starken Partner, wenn möglich mit internationalem Hintergrund. Die Widerstände gegen die, durch ein Due-Diligence-Verfahren als ideale Partner identifizierte, Electricité de France waren enorm. Manche hätten sich eine österreichische Lösung gewünscht, es war aber klar, dass es dabei nicht vorrangig um wirtschaftliche Faktoren, sondern um politische ging. Andere waren einfach gegen jede Art der Kooperation mit einem Weltkonzern, der noch dazu in seinem Portfolio auch Kernkraft anzubieten hatte. Die mediale Aufregung ließ über Wochen, Monate und Jahre die Öffentlichkeit kaum zur Ruhe kommen. Und wie so oft kam für die Partnerschaft mit den Franzosen nach einer Übergangsphase auch das Lob, vor allem von Seite der Wirtschaftsexperten.
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Trotz aller Debatten, die im Verlauf des Jahres 2003 vielfach über die Medien und leider nicht unternehmensintern abgehalten wurden, stellt sich die Steweag samt ihrer Konzernmutter, Energie Steiermark, und der verbundenen Gas-Wärme-Gesellschaft, den Herausforderungen heute wesentlich schlanker, erfahrener und konkurrenzfähiger als zu Beginn der 90er Jahre. Und sie ist vor allem mit hoher Liquidität ausgestattet und nicht wie früher stets so knapp bei Kasse, dass sogar Kraftwerke und Stromzähler verleast werden mussten. Zurück zur Wirtschaft der Steiermark insgesamt. Es gibt mehrere Gründe für die Entwicklung zum Positiven, die sich ab Mitte der 90er Jahre abzeichnete. Einerseits wurden aus den „toten“ Grenzen im Osten und Süden wichtige Berührungslinien im gesamteuropäischen Kontext. Die Steirer lernten viel in mentaler Hinsicht, die Öffnung zu den Nachbarn fand auch in den Köpfen statt. Auch die oft mit großer Skepsis verfolgte Erweiterung der Europäischen Union wird gerade von der an der Grenze lebenden Bevölkerung mit großer Mehrheit gut geheißen. Die Tatsache, dass Graz von der Zahl der Kilometer gesehen näher an Zagreb liegt als an Wien, stellte sich für viele Geschäftsleute und Manager als positive Überraschung dar. Die Experten konstatieren einhellig große Fortschritte der steirischen Unternehmen in ihrer Fähigkeit zu internationalem Engagement. Mit der Erweiterung der Europäischen Union war klar, dass dieser Prozess an Intensität weiter zunehmen muss. Zum zweiten gelang die Umstellung auf moderne Industrieproduktion spät, aber doch. Die Stärken der Steiermark, die ausgezeichnete Qualifikation der Arbeitskräfte, das Know-how, die enge Verbindung zwischen Wirtschaft und Forschung und die regionale Konzentration von Leitbetrieben in den Cluster-Strukturen, machen die jüngste Wirtschaftsgeschichte zu einer Erfolgsstory, an der auch die früheren Skeptiker nicht mehr zweifeln. Die Kooperation zwischen großen und kleinen Firmen, zwischen internationalen Konzernen und spezialisierten Anbietern aus der Steiermark, beweist, dass Erwerbstätige Globalisierung nicht passiv erleiden müssen sondern zu einem aktiven Teil der Entwicklung werden können. „With its excellent infrastructure and its hard working people, Styria is a good business location for many companies – in particular for companies in the automotive industry“ (Frank Stronach). Die Entwicklung des Automobilstandorts hatte sich bereits in den 1970er Jahren angebahnt. Schon Anfang der 80er baute Steyr-Daimler-Puch in Kooperation mit Mercedes Geländeautos unter eigenem Namen. Ob Pinzgauer oder VW-Allrad-Transporter, die Steiermark machte sich auf diesem Spezialmarkt einen ausgezeichneten Namen. 1990 wurde gemeinsam mit dem legendären Chrysler-Boss Lee Iacocca der Grundstein für das Eurostar-Werk gelegt, immer mehr Fahrzeugtypen waren „made in Styria“. Die enge Kooperation zwischen Unternehmen, universitären Institutionen und Forschungseinrichtungen half der Steiermark beim technologischen
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Wandel in entscheidender Weise. Der Mix aus heimischer Unternehmenskultur, von AVL über Remus bis zu Pankl, und internationalem Know-how, verkörpert durch die großen Automobilkonzerne und vor allem durch das Engagement von Magna, sind für das Attribut „Detroit der Alpen“ (Originalzitat von Mercedes-Chef Jürgen Hubbert) verantwortlich. Die Cluster-Philosophie funktioniert allerdings in der Praxis nur dort, wo es echte wirtschaftliche Stärkefelder gibt. Gut entwickelte sich etwa das Netzwerk rund um den innovativen Holzbau. Seit einigen Jahren koordiniert eine eigene Trägergesellschaft – analog zum ACstyria – die Aktivitäten des Holz-Clusters. Auch die Bereiche Metall, IT und Öko-Technik haben große Fortschritte auf dem Weg zu einem Cluster gemacht. Das jüngste Netzwerk, das sich in der Steiermark konstituierte, umfasst die Medizin-, Bio- und Humantechnologie. Auch hier stehen heimische Klein- und Mittelunternehmen in engem Kontakt mit internationalen Partnern. Wirtschaftspolitik kann einen ökonomischen Aufschwung wie ihn die Steiermark seit ca. 1995 erlebt, nicht ursächlich hervorrufen, sie ist bestenfalls in der Lage, günstige Rahmenbedingungen zu schaffen und bürokratische Hindernisse zu beseitigen. Trotz der Fortschritte darf allerdings nicht übersehen werden, dass die Steiermark immer noch Aufholbedarf hat – und das nicht nur im Vergleich zu europäischen Top-Standorten sondern auch zu manch anderen Regionen in Österreich. Es wird noch einige Jahre des Wachstums und Fortschritts brauchen, um die Krisen der Vergangenheit restlos zu überwinden. Wie der aus heutiger Sicht gelungene Umbau des Standortes Lebring nach der Werkschließung von LG Philips zeigt, ist es politisch auch möglich, genau das Gegenteil von dem zu forcieren, was traditionelle Politiker zu tun pflegen. Den nicht zu stoppenden Wandel von Produkten und damit von Arbeit und Beschäftigungsarten nämlich proaktiv zu begleiten und nicht zu mauern oder mit populistischen Sprüchen und Angstparolen eine positive Zukunft zu torpedieren. Es ist ausgeschlossen, dass in unserer gesellschafts- und wirtschaftspolitisch dynamischen Zeit der Wandel jemals abgeschlossen sein wird. Daher wird weiter gelten: Mut zu Neuem statt Angst um Bestehendes. 3. Weitblick statt Trägheit: Die Konzepte 1996–2004 3.1 „Concept in progress“, Version 2.03, April 1996 Im Frühjahr 1996, wenige Monate nach dem Einstieg des Autors in die steirische Landespolitik als Wirtschaftslandesrat, wurden in der programmatischen Schrit „Concept in progress“ folgende Befunde und Zielsetzungen vorgelegt: „Wer von der Steiermark, ihrer Wirtschaft und ihren Menschen spricht, tut das meistens in einer Mischung aus Hochachtung und Nüchternheit. Lo-
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beshymnen hören wir selten. Wir sind tüchtig, aber wir erregen wenig Aufsehen. Das hat dazu geführt, dass von der Steiermark, obwohl ihre Wirtschaft leistungsfähig ist, gerade wirtschaftlich oft zuwenig Notiz genommen wird. Das ist für die Steirer kein Grund zu lamentieren. Die Wirtschaftspolitik war für uns nie Showbusiness; und die Eigenschaften, die man uns nachsagt – Beharrlichkeit, Kooperationsbereitschaft, Fleiß und eine Neigung, den Dingen auf den Grund zu gehen – sind vielleicht unspektakulär, aber nicht die schlechtesten. Das vielzitierte Schlagwort von der „Randlage“, in die man die Steiermark gern hinein beschwört, wollen wir allerdings nicht mehr länger gelten lassen. Denn mit der Veränderung der politischen Situation in den letzten Jahren ist die Steiermark buchstäblich in die Mitte Europas, in eine „Herzlage“ gerückt. (...) Wir werden von den Stärken unserer Wirtschaft ausgehen, nicht von lieb gewonnenen Gewohnheiten. Wir werden in neue Dimensionen des Denkens und des Umsetzens vorstoßen müssen, aber uns nicht Spekulationen hingeben dürfen. Versorgungsdenken wird keinen Platz mehr haben, der Kundennutzen und der Markt verlangen nach mehr Risikobereitschaft und Eigeninitiative. Wir in Verwaltung und Politik werden nicht Bittsteller fördern, sondern für Kunden Produkte entwickeln. (...)“ (CIP 2.03, 1996). Nach wie vor aktuell ist vor allem der letzte Absatz: „Die Chancen von Wirtschafts- und Strukturpolitik sind angesichts von ohnehin überlasteten Budgets nicht gerade rosig. Wenn wir aber unsere Kraft darüber hinaus auch noch verzetteln, sind sie chancenlos. Deshalb wird Zusammenarbeit über Grenzen hinweg – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn – neben den alten steirischen Qualitäten ein Wesenszug unserer Arbeit sein“ (CIP 2.03, 1996). Zwei Studien stellten die Grundlage der wirtschaftspolitischen Vorhaben dar. Zum einen hatte das Industriewissenschaftliche Institut (kurz IWI) 1995 für das Land Steiermark und die Wirtschaftskammer eine umfassende Arbeit durchgeführt, die erste geeignete Ansätze enthielt. Der Wiener Wissenschaftler Prof. Wolfgang Clement sollte in dieser Phase zu einem der wichtigsten Mitstreiter der steirischen Wirtschaftspolitik werden. Zum anderen erstellte das Institut für Technologie- und Regionalpolitik von Joanneum Research unter der Leitung von Michael Steiner ein „Technologiepolitisches Konzept“, das in seinen Grundzügen auch heute noch Gültigkeit hat. Als Stärkefelder konnten Papier-, Eisen- und Metall- sowie die Fahrzeugindustrie identifiziert werden, der Tourismus wurde als Hoffnungsmarkt identifiziert. Schlechter bestellt war es um die Arbeitsmarktsituation. Im Gefolge der industriellen Veränderungsprozesse hatten in den 80iger Jahren viele Menschen ihre Arbeit verloren oder fanden keinen Einstieg ins Berufsleben mehr. Explizit festgehalten wurde in dieser ersten veröffentlichten Fassung des „Concept in progress“ auch, dass die Bildung und Ausbildung, kurz unser
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„Humankapital“, forciert werden müsste. Von Beginn an vertrat der Autor bei jeder Gelegenheit die These, dass die wirkungsvollste, die beste und nachhaltigste Wirtschaftsförderung durch die richtigen Bildungsinvestitionen erfolge. Bei der ersten gründlichen Analyse von Stärken und Schwächen der Steiermark erkannten die Ökonomen die dominierende Stellung von „Holz & Papier“, „Verkehr & Transport“ sowie „Werkstoffe & Metalle“. Auffällig schwach hingegen waren „Freizeit & Privat“ sowie „Medizintechnik“ vertreten, beides Segmente, die heute wesentlich erfreulicher dastehen als noch vor 10 Jahren. „Telekom & EDV“ galt schon vor dem großen Durchbruch von Mobiltelefonie und Internet als Hoffnungsmarkt. Der Stellenwert von Humankapital sowie von Forschung und Entwicklung war ernüchternd, die Nachbarländer Ungarn und Slowenien lagen bereits 1996 fast gleichauf mit der Steiermark. Ebenfalls dringend verbesserungswürdig war die Kooperationsbereitschaft der steirischen Unternehmen. Nicht zuletzt deshalb war eine der wesentlichsten Forderungen des Autors in den 99 Monaten als ressortzuständiger Politiker die nach der Bildung eines starken Netzwerks made in Styria. So hieß es denn auch im „Concept in progress“: „Aus dem empirischen Befund ergibt sich für die Steiermark der Ansatz: Förderungsmaßnahmen vor allem Cluster-orientiert zu setzen, (...) unvernetzte Einzelunternehmen bei Bemühungen um eine interregionale Vernetzung zu unterstützen“ (CIP 2.03, 1996). Neben der Forderung nach Cluster- und Netzwerkbildung sowie nach der Pflege des Humankapitals wurde Marketing als wesentliches Instrument definiert. Die Widerstände gegen dieses Programm waren verdeckt, aber deswegen nicht weniger vehement. Vor allem die Einführung kundenorientierten Denkens und Handelns in der Verwaltung stieß auf wenig Gegenliebe. Dazu kam noch, dass exakte Fristen für die genannten Ziele der Organisationsentwicklung im Konzept festgehalten wurden, deren Einhaltung verbindlich war. Auch die Kommunikation sollte nicht dem Zufall überlassen werden: „Leistungen sind im gesellschaftlichen Sinn erst dann erbracht, wenn sie von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. (...) Viele Unternehmen sind es gewohnt, damit umzugehen und entsprechend zu reagieren – Politik und Verwaltung hingegen senden meist die verschiedenartigsten Signale aus. Die klare kommunikative Positionierung und die „Begreifbarkeit“ der Umsetzung, eine einheitliche Sprachregelung, die Absage an Show-PR, bedingungslose Authentizität und Transparenz sind die Grundsätze für unsere Kommunikation. Wir gehen davon aus, dass wir nicht die „Einbahnstraße“ Werbung, sondern dialogische Formen der Kommunikation anwenden wollen. Und dass Kommunikation mit den Öffentlichkeiten ohne ernsthafte ‚Kommunikation nach innen’ nicht funktioniert“ (CIP 2.03, 1996). Vor allem wurde auf die Messbarkeit der Programmeffekte großer Wert gelegt: „Wir als Dienstleistungsunternehmen wollen gemessen werden an der
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Zufriedenheit der Kunden, an der Dauer der Verfahren, am Verhältnis Kosten/Wirksamkeit, an der Vorbildwirkung/Benchmarking. Der Standort Steiermark soll gemessen werden an der Zunahme produktionsnaher Dienstleistungen, an der Effizienz der Cluster, an der Wertschöpfung des ÖkoBereichs, am internationalen Ranking“ (CIP 2.03, 1996). 3.2 „Concept in progress”, Version 3.09, Oktober 1996 Ein knappes halbes Jahr später war in einer erneuerten (und ein wenig handlicheren) Fassung des „Concept in progess“ das erste Mal von den „hellen Köpfen“ zu lesen. „Damit wir steirische Wirtschaftszukunft schaffen, wollen wir die Steiermark zu einer hellen Region Europas entwickeln. Eine helle Region Europas werden wir, wenn bei uns helle Köpfe helle Produkte entwickeln und verkaufen. (...) Wir selbst meinen, dass sich helle Köpfe dadurch auszeichnen, dass sie mit anderen zusammenarbeiten, dass sie Freude am MehrWissen haben, sich etwas trauen, stolz auf ihre Leistungen sind und über den Rand ihres Schreibtisches hinausschauen. In diesem Sinn haben wir fünf konkrete Qualitäten festgehalten, an denen sich die einzelnen Projekte dieses Konzepts ausrichten. Diese fünf Qualitäten wollen wir zu steirischen machen: Teamgeist statt Einzelkämpfertum, Wissensdurst statt Saturiertheit, Mut zu Neuem statt Angst um Bestehendes, Selbstvertrauen statt Selbstherrlichkeit, Weitblick statt Trägheit“ (CIP 3.09, 1996). Neben Vorhaben wie der Interregionalisierung und Internationalisierung, der Forcierung unternehmensbezogener Dienstleistungen und dem Aufbau eines Netzwerks fand sich auch ein Projekt, das aus internen wie externen Gründe wichtig war: „Unternehmen Steiermark – ein Haus der Wirtschaft“. Mit diesem gemeinsamen Dach für alle Bereiche des Wirtschaftsressorts, später Koloniale genannt, „soll kein neues Amt eingerichtet werden, sondern ein multifunktionales Haus, eine Servicestelle für Kunden, wo alles effizient, schnell, billig und ohne lange Amtswege an einem Platz zu finden ist.“ Was hier für den Unbeteiligten logisch und simpel klingt, entpuppte sich als große Herausforderung für die Mitarbeiter und die Politikerkollegen. Bis zur Übersiedlung an den Nikolaiplatz sollte noch einiges Wasser die Mur hinunterfließen, so manches administrative und politische Kleingeld wurde gewechselt. Nicht zuletzt war es auch ein kleines Signal zur Entwicklung von Graz, auf die „andere“ Seite des Flusses zu gehen und den neuen Standort im damals eher abfällig betrachteten Bezirk Gries zu beziehen. Für die Kunden des Wirtschaftsressorts, die Unternehmer, sollte noch weit mehr erreicht werden: Mit der Einrichtung von „Innovationsassistenten“, der Förderung des Technologietransfers und verschiedenen Projekten zur Verbesserung der Ausbildung junger Menschen sollte der vielfach zitierte „Mut zu Neuem“ gestärkt werden. Mit Programmen wie „Werde Lehrherr“
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und „Werde Unternehmer“ wurde die vielerorts spürbare Lethargie aufgebrochen. Viele Projekte wurden von der Steirischen Wirtschaftsförderungsgesellschaft (die aus unerfindlichen Gründen SFG abgekürzt wird) betrieben, aber auch die Landesbaudirektion konnte als Partner gewonnen werden. In der „Steinzeit“ des Internet und der mobilen Telefonie förderte diese mit der Telekommunikationsinitiative „Telekis“ die dringend benötigte Infrastruktur und das Know-how im Umgang mit den damals noch „neuen“ Medien. 3.3 „Concept in progress“; Version 4.0, Juni 1998 Die Marke „Cip“, wie das „Concept in progress“ intern genannt wurde, erhielt durch den „Markenbildner“ Franz Hirschmugl weitere Prägungen. Das Heft war nun noch kleiner und handlicher geworden. Zum ersten Mal wurde die Schaffung des „Network in Progress“ als Ziel genannt, dessen Realisierung den Autor bis zum Schluss seiner Amtszeit in Anspruch nahm. Die jeweiligen Einleitungstexte zu den Kapiteln handelten von einem Herrn namens Johann Steirer, was für eine in der Steiermark erscheinende kleinformatige Tageszeitung Anlass zu einem reichlich gehässigen Kommentar wurde. Für die Leser vermutlich interessanter war die Präsentation der ersten Medien von ACstyria, dem Automobilcluster, die expliziter gewordene Darstellung der einzelnen Fördermaßnahmen und die ersten Bilder aus der Koloniale. Ein Umdenken im Ressort erforderte die genaue Nennung von Ausgaben und Einnahmen. Zusammenfassend war im „Concept in progress“ 1998 zu lesen: „Die Steiermark hat mit einem Plus von 60 Prozent bundesweit den größten Zuwachs an neuen High-tech-Unternehmen. Jedes dritte High-techProdukt, das in Österreich hergestellt wird, kommt aus der Steiermark. In den letzten Jahren konnte unser Bundesland eine Zunahme von 8.500 Beschäftigten erreichen, während die Zahl in Österreich im selben Zeitraum ein Minus von 7.000 Arbeitsplätzen aufwies. Die Arbeitslosenzahlen der Steiermark liegen seit 1995 konstant unter dem Durchschnitt. Die Lehrlingszahlen steigen: 1997 gab es ein Plus von 5,6 Prozent bei Lehrlingen im ersten Lehrjahr. Im Jahr 1997 wurden im Automobilcluster sieben Großprojekte mit einer Investitionssumme von 2,8 Milliarden Schilling und 1000 neuen Arbeitsplätzen betreut, gefördert und realisiert. 14 Projekte, bei denen es um insgesamt 4 Milliarden Schilling und 2000 Jobs geht, sind in Planung. Im abgelaufenen Jahr wurden rund 300 Unternehmensgründungen mit einer Starthilfe von insgesamt 15 Millionen Schilling unterstützt. (...) Kurse und Seminare für Unternehmensgründer/innen besuchten 1997 rund 900 Personen. Dies wurde mit 3,8 Millionen Schilling gefördert. Sieben Technologieparks und Impulszentren konnten 1997 ausgebaut oder gestartet werden (Gesamtförderung 235,8 Millionen Schilling). (...) Die Qualifikationsoffensive im Bereich der Berufsschulen wurde mit 290 Millionen Schilling gefördert.“ (CIP 4.0, 1998)
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Politik kann diese positiven Entwicklungen, die im „Concept in progress“ dokumentiert wurden, natürlich nicht allein auslösen, sondern nur verstärken. So gesehen war es wichtig, den Unternehmern einen optimistischen und dynamischen Eindruck zu vermitteln, ihnen aber auch Unterstützung durch die Politik in durchaus turbulenten Zeiten zu signalisieren. Es wurde vermittelt, dass auch Politik und insbesondere Wirtschaftspolitik mittlerweile auf einem ernsthaften Prozess einer Strategieentwicklung aufbauten und Konzeptlosigkeit und schnelle Hüftschüsse der Vergangenheit angehörten. 3.4 Der Auto-Cluster ACstyria Die Steiermark als Automobilland hat eine lange Tradition. Der legendäre Pionier Johann Puch – eine Art europäischer Henry Ford – gründete 1899 in Graz ein Unternehmen, aus dem im Laufe der Zeit die Steyr-Daimler-Puch Fahrzeugtechnik wurde. 1948 festigte ein zweiter automobiler Vordenker den Standort: Professor Hans List, damals schon über 50jährig, gründete mit AVL eines der größten privaten Motorforschungszentren der Welt. Die Steiermark wurde schrittweise zu einer Entwicklungs- und Fertigungsstätte für internationale Konzerne der Automobilindustrie. Das Joint Venture zwischen Steyr-Daimler-Puch und Chrysler zur Fertigung des Chrysler Voyager in Graz Thondorf war bahnbrechend. Als dann die Wirtschaftspolitik begann, die Cluster-Bildung aktiv zu unterstützen, war v. a. in internationalen Medien von der Steiermark als einer aufstrebenden Technologieregion die Rede. Das Engagement von Frank Stronach und seinem Unternehmen Magna beschleunigte die Entwicklung. Magnas Kundenliste reicht von BMW über Daimler-Chrysler und General Motors bis hin zu Renault und dem VWKonzern. Nicht wenige internationale Unternehmen begannen die Steiermark als Wirtschaftsstandort ernst zu nehmen, als die Herren Stronach, Wolf, Gingl, Hödl und Rudas zu unbezahlten und letztlich auch unbezahlbaren Werbeträgern für den ACstyria wurden. Modelle wie der Voyager, der Jeep Grand Cherokee, die Geländewägen und Allradmodelle von Mercedes und dann das Saab 9-3 Cabrio und der BMW X3 sind sichtbare Aushängeschilder des Automobillands Steiermark. Neben der herausragenden Qualifikation der Mitarbeiter macht auch die enge Anbindung der Unternehmen an die heimischen Universitäten, Fachhochschulen und Forschungsinstitute den ACstyria zu etwas ganz Besonderem. Ein Ziel der Wirtschaftspolitik war, den Cluster möglichst rasch in die völlige Selbstständigkeit und Unabhängigkeit zu „entlassen“, der Aufbau einer entsprechenden Trägerorganisation hatte daher oberste Priorität. Heute hat die ACstyria GmbH rund 200 Mitgliedsfirmen, bei denen insgesamt 44.000 Mitarbeiter beschäftigt sind. Bei einem Gesamtumsatz von 6,8 Milliarden Euro kommt es zu einer regionalen Wertschöpfung von 1,2 Milliarden
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Euro pro Jahr. Der Cluster hängt also nicht am Gängelband der Politik, sondern ist ausschließlich am Markt orientiert. Eine besondere Stärke des ACstyria ist seine integrative Kraft, von Kleinstunternehmen bis multinationalen Konzernen reicht die Palette der vernetzten Firmen. Das Engagement der Wirtschaftspolitik für den Cluster hatte ihr in der Startphase viel Häme und Widerspruch eingebracht, „Zaster statt Cluster“ war einer der typischen Sprüche aus jener Zeit. Mit dem offensichtlichen Erfolg des Experiments verstummten die Kritiker für eine Weile, möglicherweise aber nur, um sich zu sammeln. Auf verschiedenen Roadshows von Brüssel über Paris, Detroit bis Göteborg wurde der Standort Steiermark und seine Qualitäten präsentiert. Internationale Zusammenarbeit speziell mit den Nachbarn in Südost- und Ost-Europa war von Beginn an ein Schwerpunkt des Cluster-Managements gemeinsam mit dem Ressort. Cluster, insbesondere einer von der at des ACstyria, sind für einen liberalen Wirtschaftspolitiker nie ein direktes Förderinstrument, das vorrangig darauf ausgelegt ist, finanzielle Unterstützung in die Betriebe zu bringen. Vielmehr sind sie ein Frühwarnsystem für technologische und marktmäßige Veränderungen und sie begründen eine Chance für die Clusterbetriebe und eine ganze Region, im Wettbewerb zu überleben. Den grundlegenden Wandel einer Region wie den der Steiermark kann man weder auf eine singuläre Maßnahme noch auf eine Person zurückführen, aber eines kann mit Fug und Recht behauptet werden: Keine andere wirtschaftspolitische Maßnahme hat den Wandel der Steiermark vom alten, sterbenden Industriegebiet an der Grenze zu einer modernen offenen High-techRegion so geprägt wie der auch international angesehene Automobilcluster, der oft nachgeahmt wurde, aber in keinem Fall so markenbildend war und ist wie für die Steiermark. 3.5 Die Designstiftung 1998 löste sich mit dem „Österreichischen Institut für Formgebung“ in Wien die einzig nennenswerte Organisation auf, die sich dem ökonomischen Hoffnungsthema Design verschrieben hatte. Diese Lücke zu schließen, wurde zu einem Anliegen im Rahmen der steirischen Wirtschaftspolitik, denn die Gestaltung entwickelte sich zu einem wichtigen Marketinginstrument und zu einer Möglichkeit Innovationen zu realisieren. An vorderster Front dabei waren die wohl unkonventionellsten Techniker, Design-Experten und Beamten, Wolf-Dieter Dreibholz, Gunther Hasewend und Stefan Pierer auf seiner KTM. „Seit wann soll die Steiermark ein Designland sein?“ fragten Skeptiker immer wieder. Die Antwort war: „Seit morgen. Machen Sie sich um unsere Tradition keine Sorge, schließlich sind mit Helmut Lang und Erwin Himmel zwei der besten Designer der Welt gebürtige Steirer.“
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Nach längeren Vorbereitungsarbeiten wurde im Frühling 2000 die „Österreichische Designstiftung“ in Graz gegründet. Das Wiener Büro Peschke & Skone hatte zuvor untersucht, welche Grundlagen für eine solche Initiative geschaffen werden mussten. Auch wenn fast vierzig etablierte Unternehmen von Beginn an am Projekt teilnahmen, war die Startphase schwieriger als erwartet. Ein Netzwerk mit klingenden Namen wie KTM, AVL-List, Siemens Österreich, Bene, Magna, Bank Austria oder Daimler-Chrysler hatte zwar viel Know-how zu bieten, aber dennoch wurde aus unterschiedlichsten Gründen die Sinnhaftigkeit einer Designstiftung bezweifelt. Ohne die Unterstützung des Wirtschaftsministeriums mit dem Steirer Martin Bartenstein an der Spitze sowie die Teilnahme der Kunstsektion des Bundeskanzleramts mit Staatssekretär Franz Morak wäre die Stiftung möglicherweise bereits in der Anfangszeit gescheitert. So wurde auch der Berufsverband Design Austria zu einem aktiven Unterstützer der Idee. Im Jahr 2002 waren es bereits 53 Firmen, die als DesignStifter firmierten. Die Förderung der Kreativität, die Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Design, die Netzwerkbildung und die Bewusstseinsarbeit in der Wirtschaft und der breiteren Öffentlichkeit gehören zu den Aufgaben der Stiftung. Bis 2003 unterstützte das Wirtschaftsressort der Steiermark die Designstiftung und ihre operative Tochter auch finanziell, dann entließ man das Projekt plangemäß in die Selbstständigkeit. Einer der positiven „Nebeneffekte“ der Designstiftung war die Begegnung mit vielen kreativen Köpfen. Erwin Himmel, der von Barcelona aus mit „fuore“ für Furore auf dem Automarkt sorgt, kam ebenso in die Steiermark wie Matteo Thun, der vom IllyHäferl über Einrichtungsgegenstände, Getränkeverpackungen und Uhren bis zum Fertigteilhaus viele verschiedene Dinge neu gestaltet hatte. Auch die enge Verbindung zum „Nachwuchs“, zu den Studierenden an der Fachhochschule Joanneum, war und ist eine wichtige Aufgabe der Stifter. In einem leidenschaftlichen Appell forderte der angesehene Kulturjournalist Frido Hütter anno 2002 explizit die Designstiftung und implizit wohl auch die Unternehmer und Politiker zum Handeln auf: „Fördert die Fachhochschulen, macht Ausstellungen, verführt die Wirtschaftsredakteure zum Weiterdenken...“ Ein Schritt zur Erfüllung dieser Forderungen ging 2003 über die Bühne eines magenta-farbenen Containers. Die „trigon-designbox“, initiiert und unterstützt vom Autor in seiner Rolle als Wirtschaftslandesrat und der Wirtschaftsförderungsgesellschaft SFG, wurde in verschiedenen steirischen Städten präsentiert. Die Box war multifunktional nutzbar. Sie war Transportmittel und Bühne und sie bot einen Automaten, der herausragendes österreichisches Design enthielt: von der preisgekrönten Gösser-Bierflasche über T-Shirts der gebürtigen Grazerin Ines Valentinitsch bis zu einem Rasierapparat designed in Styria. Die Veranstaltungen sollten nicht nur Wirtschaftstreibende für das
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Thema sensibilisieren, sondern auch die Kontakte innerhalb der Szene festigen. Für die Steigerung des Design-Bewusstseins wurde ein Wettbewerb abgehalten, der steirischen Klein- und Mittelbetrieben Designlösungen von Studierenden und – als Hauptpreis – ein gemeinsames Projekt mit Matteo Thun als Preise bot. 3.6 Network in Progress Die Erfolge auf anderen Gebieten konnten nicht darüber hinweg täuschen, dass die Netzwerkbildung in der steirischen Wirtschaft auch nach etlichen Jahren bestenfalls schleppend vor sich ging. Es wurde Zeit, vehementer zu werden. So erschien im Frühjahr 2002 ein 40-seitiges Heft mit dem Titel „Network in Progress 1.0“. In der Einleitung war zu lesen: „Der Erfolg des Network in Progress hängt also in erster Linie vom Engagement der beteiligten Unternehmen ab. Je stärker dieser Teamgeist in der Steiermark wird, desto eher wird es gelingen, den Aufstieg von der österreichischen Bundesliga in die Champions League der Standorte zu schaffen. Es wäre vermessen zu behaupten, dass Wirtschaftspolitik dabei mehr als ein Impulsgeber sein könnte.“ (NIP 1.0, 2002) Die nachfolgenden Seiten enthielten nicht nur eine genaue Auflistung aller Projekte, die das Wirtschaftsressort betrieb und unterstützte, sondern auch Daten, Zahlen und Fakten, die durchaus Anlass zu Optimismus gaben. Die Beschäftigtenzahlen in der Steiermark etwa waren innerhalb von 1997 bis 2001 um 20.000 gestiegen, die Arbeitslosigkeit von 8,1 Prozent auf 6,5 gesunken. Auch die Bruttowertschöpfung hatte sich deutlich über dem österreichischen Durchschnitt entwickelt. Die Ratingagentur Standard&Poors bewertete die Steiermark mit AA+. Als Ziele bis 2006 wurden im „Network in Progress 1.0“ die Verbesserung auf Triple-A, die Stärkung der Forschungs- und Bildungseinrichtungen, die Stärkung des Standorts durch Ökotechnik, Medizin-, Bio- und Humantechnologie und eben die Intensivierung des Netzwerks hervorgehoben. Im Nachhinein ist die Lektüre des Heftes insofern nach wie vor relevant als es in etlichen Bereichen nicht bei den Ankündigungen und den Appellen geblieben ist. Die formale Etablierung eines Clusters rund um Medizin- und Humantechnologie konnte der Autor noch knapp vor bzw. unmittelbar nach seinem Abschied aus der Politik miterleben. Auch die im Bereich Visionen erwähnte Show-Car-Show fand 2003 unter dem Titel „Auto Art“ in Graz statt. Viele Projekte, die im „Network in Progress“ aufgeführt wurden, laufen weiter. Einige Vorhaben konnten bis April 2004 nicht mehr realisiert werden, etwa die Verbesserung der Steiermark im europäischen Standort-Ranking unter die Top-25 oder das Triple-A.
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Für den Autor, der nach seinem Ausscheiden aus der Politik die Seite gewechselt hat und in die internationale Privatwirtschaft ging, ist der Ausbau des Netzwerks weiter von großer Bedeutung. ‚Helle’ Köpfe erkennt man unter anderem auch daran, dass sie Kontakte zu anderen knüpfen können und dabei nicht an geografischen oder parteipolitischen Begrenzungen Halt machen. Die Netzwerkfähigkeit wird zur gesellschaftspolitischen Schlüsselfrage. Ihre ständige Weiterentwicklung vorausgesetzt, wird sie die Steiermark im gnadenlosen Wettkampf der besseren Produkte, der rascheren Lösungen und der wertvolleren Ergebnisse sehr weit nach vorne bringen. Allen Projekten in den 99 Monaten der Amtszeit des Autors ist eines gemeinsam: Zu Beginn gab es lautstarke Gegner, manchmal befürchteten sie neue Konkurrenz und eine Bedrohung ihres jeweiligen Monopols, zuweilen war einfach nur Angst vor Veränderung das Motiv. Nach einer Anlaufphase wurden die Ideen im Großen und Ganzen gut geheißen und von den Journalisten positiv besprochen. Bei der kleinsten Schwierigkeit aber wagten sich die Feinde der offenen Gesellschaft, wie sie Sir Karl Popper genannt hat, die Liebhaber des Alten und Ewiggültigen wieder aus der Deckung und feuerten wild um sich. Von der Entwicklung des Automobilclusters, der am Anfang für ein ökonomisches Hirngespinst gehalten wurde, bis zur Designstiftung musste von den Initiatoren immer wieder herbe Kritik eingesteckt werden. Trotzdem ist eine positive Bilanz zu ziehen: Der Standort Steiermark hat sich merklich weiter entwickelt. Wie viel die Politik dabei für sich reklamieren kann, ist gleichgültig.
Abschnitt C
Der Wohlfahrtsstaat von morgen
Der Wohlfahrtsstaat von morgen – heute betrachtet Ewald Nowotny
Eines der aus meiner Sicht interessanten Bücher Egon Matzners, das es verdiente, wieder verstärkt beachtet zu werden, ist das Werk „Der Wohlfahrtsstaat von morgen“ (Österr. Bundesverlag, Wien 1982). Dieses Buch stellt, wie es im Untertitel heißt, den „Entwurf eines zeitgemäßen Musters staatlicher Interventionen“ dar, wobei Beiträge zahlreicher Mitarbeiter (u. a. H. Bauer, W. Blaas, W. Schönbäck) das Konzept Egon Matzners auf verschiedene Teilbereiche übertragen und damit „greifbar“ machen. In das Exemplar, das ich von Egon Matzner bekommen habe, hat er als Widmung geschrieben: „vom Selbsthilfler dem Staatshilfler...“ – und damit auf unterschiedliche Akzentsetzungen hingewiesen, die zu vielfachen Diskussionen zwischen uns geführt haben. Aus heutiger Sicht meine ich, dass der von uns beiden geteilte funktionsanalytische Ansatz nach wie vor (oder eher: mehr denn je) ein fruchtbares Instrumentarium zur Erfassung von Fragen des öffentlichen Sektors darstellt. Die Frage „Selbsthilfler“ oder „Staatshilfler“ wurde dagegen von uns beiden – wenn auch in unterschiedlichen Richtungen – zu optimistisch gesehen. Auf der einen Seite haben sich Ansätze eines „autonomen Sektors“, einer „kommuntaristischen Perspektive“, etc. gegenüber der brutalen Gewalt einer profitgesteuerten „Marktgesellschaft“ nicht durchsetzen können, so dass den – durchaus zahlreichen – Non-Profit-Organisationen immer mehr eine „Lückenbüßer-Funktion“ zukommt, die zwar wichtig ist, hinter dem ursprünglichen, eigenständigen Anspruch aber weit zurückbleibt. Zum anderen hat aber auch der öffentliche Sektor durch „Liberalisierung“, „Globalisierung“ und Steuerwettbewerb eine Reduktion erfahren, die seine Funktionsfähigkeit massiv reduziert. In dieser Konstellation hat sich ein neuer, wichtiger Akzent ergeben: Die Diskussion um den „Wohlfahrtsstaat von morgen“ ist nun zum zentralen Bestandteil einer Diskussion um ein „europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell“ in Abgrenzung zu einem Modell des „globalen Wettbewerbskapitalismus“ nach US-amerikanischer Prägung geworden. In dieser Diskussion ergibt sich eine Konfliktkonstellation, wo auf der einen Seite politische und intellektuelle Vertreter einer „reinen Marktwirtschaft“ bzw. des "Wettbewerbskapitalismus" stehen und auf der anderen Seite Sozialdemokraten, Christlich-Soziale, kirchliche Positionen, Grüne, die bei allen Einzelunterschieden eine gemeinsame Position insofern vertreten, als sie sich gegen eine
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Politik des "Neoliberalismus" und auch des "Kapitalismus amerikanischer Prägung" stellen. Natürlich ist es nicht leicht, in dieser vielfältigen Debatte klare Strukturen anzugeben. Dies auch deshalb, weil sich die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Position des Wettbewerbskapitalismus auf eine ziemlich klare theoretische Fundierung stützen kann, die Gegenposition dagegen auf einer Vielfalt von Strömungen beruht. Die heute nach wie vor einflussreichste theoretische Fundierung des Wettbewerbskapitalismus ist die Position von Friedrich August von Hayek und der "Austrian Economics". Die theoretische Gegenposition ist sicher nicht, wie in langen Phasen des vorigen Jahrhunderts, der Marxismus, sondern jene einer Vielzahl von Denkern, die auf vielfache Formen des Marktversagens und damit auf die Notwendigkeit staatlicher Intervention hinweisen. Als die wichtigsten wären hier für jeweils andere Bereiche Keynes und Myrdal zu nennen, sowie Denker, die auf der Notwendigkeit bestehen, Märkte in ein soziales System einzubinden, das über die bloße Bereitstellung von Rechtssicherheit und Grundversorgung auf tiefem Niveau hinausgeht. Hier wären Namen wie Habermas, Offe, Esping-Andersen, Giddens anzuführen. Es ist hier nicht der Platz, diese gesellschaftspolitische Diskussion genauer darzustellen. Geht man von der einfachen Unterscheidung zwischen einem europäischen, von sozialdemokratischem Denken geprägten Modell und dem Modell eines US-Wettbewerbs-Kapitalismus aus, so stellt sich die Frage, ob sich für diese Akzentsetzungen auch empirische Anhaltspunkte finden lassen. Es besteht hier selbstverständlich eine Vielfalt methodischer Probleme, aber als erste Annäherung möge ein internationaler Vergleich von Staatsquoten und Abgabenstrukturen dienen. Tabelle 1 zeigt, dass es in dieser Hinsicht sehr wohl einen empirischen Unterschied zwischen einem Europäischen und einem US-Modell gibt. Tabelle 1: Öffentlicher Sektor – Internationaler Vergleich 2003
OECD EU 15 Deutschland Dänemark Frankreich Niederlande UK Österreich
in % des BIP StaatsAbgaben quotea quote
– 48,4 49,2 55,4 54,7 48,5
36,9 40,5 36,2 (40,8) 49,4 44,2 39,3
42,8 51,2
35,9 44,1
Abgabenstruktur (% des Gesamtaufkommens) Steuern Beitr. zur Steuern Vermö- Steuern vom Ein- sozialen v. Lohn- genauf Güter kommen Sichersumme steuern u. Dienstheit leistungen 36,0 24,8 0,9 5,4 31,6 35,3 27,5 0,9 5,0 30,0 30,1 39,0 – 2,3 28,1 58,9 25,0 25,0
4,6 36,1 38,9
0,4 2,3 –
3,3 6,8 5,4
32,5 25,8 29,0
39,0 28,4
16,4 34,2
– 6,2
11,9 1,3
32,3 28,4
a) Anteil der Ausgaben des Staates am Bruttoinlandsprodukt.
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Das gilt für die Staatsquote insgesamt, wie speziell für die Abgabenstruktur und hier die Rolle der Beiträge zur sozialen Sicherheit. Selbstverständlich gibt es zwischen den hier als „Europa“ herangezogenen EU-Staaten wieder erhebliche Unterschiede. Aber in jedem einzelnen der wohlhabenden Staaten Europas, einschließlich Großbritannien nach der Ära Thatcher, liegen die Staatsquote und insbesondere die Sozialabgabenanteil dauerhaft über jenen der USA. Diese Fakten können freilich unterschiedlich interpretiert werde. Wirtschaftsliberale würden die US-Strukturen als Zielsetzung sehen und als Weg zu höherem Wachstum und niederen Arbeitslosenraten. Es ist zu argumentieren, dass das höhere Wachstum hier eine Folge einer anderen makroökonomischen Politik ist. Darüber hinaus sind niedrigere Arbeitslosenraten allein noch kein Hinweis für einen gesellschaftspolitisch besser zu bewertenden Zustand. Es ist zu prüfen ob die niedrigen Arbeitslosenraten Ausdruck einer günstigen makroökonomischen Konstellation sind oder ob sie durch einen Verlust an Menschenwürde durch Druck zu völliger Mobilität und Unsicherheit erkauft wurden. Das heißt, das Kriterium Wachstum und Arbeitslosenraten genügt nicht allein, sondern es ist der gesamte sozioökonomische Kontext zu berücksichtigen. So kann unter dem Aspekt der Menschenwürde die Stellung eines Arbeitslosen im Ruhrgebiet günstiger sein als die Situation von jemandem, der drei unterbezahlte Teilzeitjobs in Detroit ausübt – wobei es freilich problematisch ist, zwei in sich problematische Konstellationen miteinander zu vergleichen. Bezogen auf die Diskussion um die Zukunft und Funktion eines Wohlfahrtsstaates „europäischer Prägung“ sind zwei Bereiche von besonderer Bedeutung: Die Entwicklung des öffentlichen Sektors und die Finanzierung der Altersvorsorge. Im Gegensatz zu „staatssozialistischen“ Traditionen sollte für eine moderne Sicht des Wohlfahrtsstaates der Einsatz des öffentlichen Sektors nicht ein Wert für sich sein, sondern ein Instrument um bestimmte gesellschaftspolitische Ziele zu erreichen. Das Ziel ist dabei eine Form der Bereitstellung von Gütern und Leistungen, die in wichtigen Lebensbereichen Beziehern niederer und mittlerer Einkommen die volle und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilnahme ermöglicht. Das bedeutet zum einen, durch Geldtransfers die Sicherung eines gewissen Mindeststandards und die Sicherung von Einkommensersatz bei unverschuldeten Notlagen. Das wesentliche Element dieser Aspekte des Wohlfahrtsstaates besteht darin, dass hier Rechtsansprüche bestehen, was private Wohltätigkeit nicht ausschließt, wohl aber bedeutet, dass das Individuum davon nicht abhängig ist. Ein in noch höherem Maß spezifisch wohlfahrtsstaatliches Element besteht aber darin, dass für Bereiche von großer Relevanz für gesellschaftliche Solidarität auch eine direkte Bereitstellung öffentlicher Güter im Sinne „meritorischer Güter“ erfolgt.
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„Solidaritäts-relevant“ sind speziell konsumnahe öffentliche Dienstleistungen. Für öffentliche Dienste mit Vorleistungscharakter (wie Verkehrsinfrastruktur) sehe ich keine spezifische Begründung für öffentliches Eigentum, hier können wirtschaftspolitische Zielsetzungen durch Regulierungsmaßnahmen oder Lenkungstransfers erreicht werden. „Konsumnahe“ öffentliche Leistungen sind vor allem die Ausgaben (die auch als Investitionen gesehen werden können) für Bildung vom Kleinkindalter bis zur Universität. Ein Charakteristikum wohlfahrtsstaatlicher Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik sollte ein betonter Einsatz für ein leistungsfähiges öffentliches Bildungswesen sein, was sowohl unter dem Aspekt der verbesserten Chancengleichheit wie des Wachstums von Bedeutung ist. Unter Aspekten der Chancengleichheit geht es dabei darum, im Bildungswesen nach Möglichkeit soziale Selektion zu vermeiden, weshalb z. B. Bildungsschecks für private Einrichtungen skeptisch zu beurteilen sind, weil sie gruppenspezifisch sehr unterschiedlich in Anspruch genommen würden. Ein zweiter Bereich von massiver faktischer und politischer Bedeutung ist das Gesundheitssystem, wo der Aspekt der Grundversorgung soweit zu fassen ist, das tatsächlich keine sozial diskriminierenden Effekte auftreten. Das Abkoppeln der höheren Einkommensgruppen bei der Krankenversicherung, wie es in Deutschland geschehen ist, ist meines Erachtens eine Fehlentwicklung. Generell ist es wichtig, dass öffentliche Leistungen zumindest auch den Mittelstand umfassen, damit ein breites soziales Interesse an hochwertigen öffentlichen Leistungen gegeben ist. Sonst besteht die Gefahr einer Tendenz „services for the poor tend to become poor services”. Zu den öffentlichen Leistungen von Gemeinschaftsbedeutung zählen auch Ausmaß und Qualität der Erbringung von öffentlichen Konsumleistungen im engeren Sinn, wie Gartenanlagen, Kultur- und Sporteinrichtungen. Hier sehen wir eine zunehmende Tendenz von öffentlicher Armut bei privatem Reichtum, die zu einer Spaltung der Gesellschaft beiträgt und generell dem Prunk privater Selbstdarstellung bei Büro- und Geschäftshäusern eine abwertende Schäbigkeit von Gemeinschaftseinrichtungen gegenüberstellt. Die zentrale Frage ist natürlich: Wie ist das alles zu finanzieren? Dafür gibt es keine andere Antwort als Steuern, Abgaben und Gebühren. Die Wirtschaftspolitik sollte bereit sein, unter konjunkturellen Gesichtspunkten öffentliche Verschuldung zuzulassen. Zyklusübergreifend sollte aber auf ausgeglichene Budgets abgestellt werden. Ein hochverschuldeter Staat ist immer ein schwacher Staat, dessen Ausgabenstruktur zu einem erheblichen Teil durch Zahlungen für den Schuldendienst fixiert ist. Ein Staat, der als Instrument einer wohlfahrtsstaatlichen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik wirksam sein soll, wird daher notwendigerweise ein Staat mit einer hohen Abgabenquote sein. Es ist daher notwendig, dass öffentliche Leistungen so attraktiv und effizient sind, dass von der Mehrheit der Bevölkerung eine höhere Abgabenquote gesellschaftlich akzeptiert wird, wie dies z. B. in Skandina-
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vien der Fall ist. Man muss sich darüber klar sein, das eine der erfolgreichsten neoliberalen Strategien die ist, die schon Milton Friedmann propagiert hat: Unter welchen Begründungen immer für Steuersenkungen eintreten, dass dann entstehende höhere Defizit im Kauf nehmen und daraus dann den Zwang zur Senkung der Staatsquote, speziell im Sozialbereich, ableiten. Mit der Notwendigkeit einer hohen Abgabenquote ist die Frage nach der Abgabenstruktur verbunden. Hier ist meines Erachtens davon auszugehen, dass die wesentlichen gesellschaftsrelevanten Verteilungsaspekte über die Ausgabenseite erfolgen, nicht über die Steuerseite. Gerade auch unter Aspekten der internationalen Mobilität wird die Rolle der progressiven Einkommensteuer tendenziell zurückgehen, die Rolle von Verbrauch- und Konsumsteuern tendenziell steigen. Wichtig wäre eine adäquate Erfassung immobiler Vermögenswerte, wie etwa von Liegenschaften, aber auch eine höhere Rolle von Gebührenhaushalten, wo unter verteilungspolitischen Aspekten etwa eine Kombination von Studiengebühren und Stipendien durchaus sinnvoll wäre, wenn dies zu einer Sicherung und Verbesserung der Qualität der entsprechenden öffentlichen Leistungen beiträgt. Die ökonomische Frage, die sich stellt, ist, ob nicht gerade über die Finanzierungsseite ein trade-off zwischen Effizienz/Wachstum und Gerechtigkeit besteht. Im Verhältnis von Abgabenquote und Wachstum ist ein solcher trade-off, von extrem Fällen abgesehen, empirisch nicht nachweisbar. Möglich sind aber Zusammenhänge zwischen Steuerstruktur und Arbeitskräftenachfrage. Diese Aspekte sind ernst zu nehmen und sprechen ebenfalls für eine tendenziell größere Bedeutung der Konsumbesteuerung, die nach Möglichkeit nach Produktgruppen differenziert vorzunehmen ist, für eine stärkere Rolle der Gebührenhaushalte und eine stärkere Rolle der Erbschaft- und Vermögensbesteuerung. Unter Hinweis auf die demografische Entwicklung wird eine Abkehr vom Umlageprinzip zum Kapitaldeckungsverfahren propagiert. Als Ergänzung und speziell für hohe Einkommensniveaus ist eine solche Entwicklung unproblematisch. Als genereller Ansatz und speziell für kleine und mittlere Einkommen sprechen meines Erachtens für eine wohlfahrtsstaatliche Wirtschaftspolitik sowohl empirische, wie gesellschaftspolitische Aspekte dafür, das Umlageprinzip als Grundlage der Alterssicherung offensiv zu vertreten. Dabei wäre Umlageprinzip freilich in einem weiteren Sinn zu verstehen, d. h. mit einer stärkeren Bedeutung der Steuerfinanzierung gegenüber der Beitragsfinanzierung. Aus ökonomischer Sicht gilt nach wie vor der Mackenrodt’sche Satz, wonach jede Rentnergeneration nur aus dem laufenden Sozialprodukt alimentiert werden kann. Denn auch bei offenen Kapitalmärkten ist davon auszugehen, dass die meisten relevanten Kapitalmärkte vor ähnlichen demografischen Konstellationen stehen, ein Abstellen auf die internationalen Kapitalmärkte unter Risikoaspekten daher keine prinzipielle Modifikation bringt.
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Wirklich relevant sind Rentenantrittsalter und Erwerbsquote. Beide sind angesichts der erwartbaren demografischen Entwicklung zu erhöhen und auch erhöhbar. Sicherlich werden auch die Beitragssätze oder Steuerzuschüsse steigen bzw. die Ersatzraten sinken, was aber bei insgesamt höheren Einkommen verkraftbar ist und wo materiell auch kaum Unterschiede zur privaten Vorsorge bestehen. Gesellschaftspolitisch ist der Übergang zum Kapitaldeckungsverfahren eines der wichtigsten Instrumente zur gesellschaftlichen Machtverschiebung. Konkurrierende Pensionsfonds, die gar nicht anders können als eine möglichst brutale Shareholder-Value-Orientierung zu verfolgen, werden dann als „Stimmen der Märkte“ die wichtigsten gesellschaftspolitischen Akteure. Die Arbeitnehmer wären dieser Entwicklung im doppelten Sinn ausgeliefert: Einerseits haben sie keinen Einfluss auf die Pensionsfonds, die mit ihren Geldern arbeiten, anderseits sind sie in ihrer Produzentenrolle voll der von den Pensionsfonds verfolgten Shareholder-Value-Politik unterworfen. In der EU gibt es heftiges Lobbying, vor allem von Seiten Großbritanniens, die Rolle des Kapitaldeckungsverfahrens zu stärken und die Rentensysteme voll dem Binnenmarkt zu unterwerfen. Letzteres hat sicher eine gewisse Logik – politisch sollten aber keine Schritte in diese Richtung gesetzt werden, solange nicht gleichzeitig ein ausreichendes Maß der Steuerkoordinierung im Binnenmarkt erreicht ist. Ein wesentliches Element wohlfahrtsstaatlicher Resignation beruht auf dem, von einer Vielzahl von Kommentatoren bestärkten Gefühl, in einer globalen Wirtschaft ohnedies Marktgesetzen ausgeliefert zu sein, die keinen Platz für eine sozialdemokratische Perspektive oder Alternative lassen. Es wäre absurd, den Strukturwandel, den man mit Globalisierung bezeichnet, zu leugnen. Die politisch relevante Frage ist daher nicht, Globalisierungstendenzen zu bekämpfen, sondern viel mehr, wie und wo sich unter Bedingungen der Globalisierung Möglichkeiten und Nischen einer wohlfahrtsstaatlichen Politik schaffen lassen. Entscheidender Ansatzpunkt ist hierfür die Politik der EU und damit die Frage, wie auf diese Politik Einfluss genommen werden kann. Hinter dem Prozess der orientierten Globalisierung stehen zum Teil technologische Entwicklungen, etwa im Transport- und Kommunikationswesen. Dahinter stehen aber auch vielfältige institutionelle Entwicklungen („Liberalisierungen“), die sehr wohl Gegenstand politischer Einflussnahme waren und sind. Der EU-Binnenmarkt ist ökonomisch wie politisch ein wesentlicher Teil der europäischen Integration, die als Friedens- wie als Wachstumsprojekt eindeutig positiv zu beurteilen ist. Innerhalb dieses großen Projektes gibt es aber für die Wirtschaftspolitik eine Vielzahl von Differenzierungen. Die zentrale Differenzierung zwischen wohlfahrtsstaatlichen und neoliberalen Positionen betrifft gerade im Bereich des Binnenmarktes die Rolle des Staates und damit den Kern eines „europäischen Modells“. Grundlegend ist dabei die
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Diskussion zwischen Politikwettbewerb einerseits und Wirtschaftskoordinierung andererseits. Hier sehen wir eine eigenartige Entwicklung: In einer Vielzahl von Gebieten geht die EU-Politik davon aus, dass für das Funktionieren des Binnenmarktes einheitliche Mindeststandards nötig sind, um Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern. Das ist ja der Kern des Acquis communaitaire, der z. B. im Umweltbereich die neuen Mitglieder zwingt, aufwendige Umweltnormen zu erfüllen, die weit über das hinausgehen, was sich die bisherigen EU-Mitgliedstaaten geleistet haben, als ihre Einkommen denjenigen der neuen Mitglieder entsprachen. Ebenso gibt es Mindestsätze im Bereich Umsatz- und Verbrauchssteuern. Im Bereich der Einkommensbesteuerung und speziell der Unternehmensbesteuerung herrscht dagegen uneingeschränkter Steuerwettbewerb. Jahrelange Koordinierungs-, nicht HarmonisierungsBestrebungen haben kaum praktische Ergebnisse gebracht. Im Augenblick sehen wir eher eine Intensivierung des Steuerwettbewerbes. Es ist offensichtlich, dass dieser Steuerwettbewerb zu Gunsten des vergleichsweise mobileren Faktors Kapital und zu Lasten des Faktors Arbeit und speziell der kleineren und mittleren Einkommen geht. Mittel- und langfristig ist die Zukunft des Sozialstaates – und damit des europäischen Wirtschaftsmodells – mit der Erhaltung einer entsprechenden Steuerbasis und einer Begrenzung zumindest des EU-internen Steuerwettbewerbs verknüpft. Es war ein schwerer Fehler, die Weiterentwicklung des Binnenmarktes im Bereich des Kapitalverkehrs zuzulassen (was z. B. Interesse der Londoner City war), ohne dies unmittelbar mit einer wirkungsvollen Steuerkoordinierung im Sinn einer Vereinheitlichung der Bemessungsgrundlagen und von Mindeststeuersätzen zu verknüpfen. Für die EU gilt damit de facto ein wesentlich wirtschaftsliberaleres Modell als für die USA, wo Einkommensbesteuerung und Unternehmensbesteuerung überwiegend bundeseinheitlich geregelt ist. Sozialdemokraten, wo immer sie Einfluss haben, sollten daher klar machen, dass sie ohne Schließen dieser Lücke nicht bereit sind, an irgendeiner Erweiterung des Binnenmarktprogrammes mitzuwirken. Dazu kommt eine Tendenz der EU-Kommission, insbesondere der EUWettbewerbspolitik und unter dem Einfluss gut organisierter Lobbies, die Rolle des öffentlichen Sektors im Bereich der Wirtschaft systematisch zu reduzieren. Öffentlich Unternehmen brauchen Kontrolle und sind effizient zu führen. Unter gesellschaftspolitischen Aspekten können sie aber auch die Möglichkeit bieten, als Instrumente der Wirtschaftspolitik in sensiblen Bereichen zu wirken. Ein gutes Beispiel ist etwa das öffentliche Kreditwesen in Deutschland, wo aus sozialdemokratischer Sicht ein Zwei-Fronten-Krieg zu führen ist: Einerseits geht es um Systeme effizienter Kontrolle, um Auswüchse eigenmächtiger Manager zu verhindern. Anderseits geht es auch darum, eine leistungsfähige öffentliche Kreditwirtschaft zu erhalten, die nicht von
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den hypertrophen Gewinnstandards börsennotierter Gesellschaften bestimmt ist und daher strukturpolitische Aufgaben erfüllen kann, für die es sonst keine adäquaten Instrumente gibt, wie etwa im Bereich der KMUs. Durch ihre, dem europäischen Modell widersprechende, Markt-Fixierung hat sich inzwischen die EU-Kommission in einen Zustand der Selbstfesselung gebracht, die ihre wirtschaftspolitischen Möglichkeiten wesentlich stärker einschränkt, als dies etwa für die Wirtschaftspolitik der USA der Fall ist. So wäre etwa das erfolgreichste Beispiel europäischer Industriepolitik, der Airbus, unter den heutigen ideologischen Beschränkungen der EUKommission nicht mehr möglich. Analog wird das GPS-System in den USA staatlich, nämlich vom Militär, betrieben, während man für das europäische Gegenstück Galileo mühsam PPP-Lösungen suchte, die schließlich scheiterten, sodass das Projekt nun ohnedies aus dem EU-Budget finanziert wird. Auch bei TENs wird auf PPPs verwiesen, während die USA ein erfolgreiches System von Interstate-Highways haben. Auch in der Diskussion um den Stabilitätspakt hat die EU-Kommission gezeigt, dass sie aus falsch verstandener Prinzipientreue bereit gewesen wäre, eine massive Gefährdung nicht nur der deutschen, sondern der gesamteuropäischen Konjunkturentwicklung in Kauf zu nehmen. Versucht man eine Zusammenfassung der verschiedenen aufgezeigten Aspekte, so geht es insgesamt um die Sichtbarmachung und Berücksichtigung des „Sozio-ökonomischen Kontext“ als Grundlage für die wissenschaftliche Analyse und ebenso des wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Handelns. Egon Matzner hat in vielen eigenen Werken und im Rahmen des von ihm geleiteten Akademie-Institutes dieses Konzept entwickelt und vorangetrieben. Freilich war es für diesen differenzierten Ansatz nicht leicht, in den 80er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts gegenüber dem Triumphgeschrei des „übriggebliebenen“ Kapitalismus zu bestehen. Inzwischen hat freilich vielfach Ernüchterung eingesetzt. Dies gibt die Chance, dass auch die „leisen Stimmen der Vernunft“, zu denen Egon Matzner auch weiterhin gehören wird, wieder stärker zur Geltung kommen.
Aufruf zur Wiederentdeckung des „Wohlfahrtsstaats“ Michael Getzner
Vorbemerkung1 Egon Matzners „Der Wohlfahrtsstaat von morgen“ (Matzner, 1982) war insbesondere in den 1980er Jahren wohl jedem/r Studierenden der Wirtschaftspolitik und Finanzwissenschaft ein Begriff. Aufbauend auf den wissenschaftlichen Entwicklungen und Erkenntnissen bis in die späten 1970er und frühen 1980er Jahre schuf Matzner die Grundlagen für den, wie er und seine Mitautoren dachten, Wohlfahrtsstaat von morgen – aus heutiger Sicht könnte, mehr als 20 Jahre nach Erscheinen des Buchs, vom „Wohlfahrtsstaat von heute“ gesprochen werden. Im Zentrum des Werkes stehen die kritisch kommentierte Rolle des Staates und seiner Eingriffsmöglichkeiten, sowie die Entwicklungsperspektiven des Wohlfahrtsstaates. Mittlerweile kann allerdings der oftmals so genannte „neoliberale Zeitgeist“ mit dem Buch nicht viel anfangen, und es könnte auch argumentiert werden, dass in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften längst neue Erkenntnisse Einzug gehalten hätten, die dem Wohlfahrtsstaat (Matzners Buch als auch dem materiellen Konzept) allenfalls historische Bedeutung beimessen würden. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, Matzners Buch aus heutiger Sicht neu zu lesen, und in die aktuelle wirtschaftspolitische Diskussion einzuordnen und wohlwollend zu kommentieren. Dieser Kommentar ist notwendigerweise subjektiv. Dabei spielt insbesondere das aus der Umwelt- und Entwicklungspolitik stammende Konzept einer nachhaltigen Entwicklung eine wesentliche Rolle. 1. Der „Wohlfahrtsstaat“ aus aktueller wissenschaftlicher Sicht Neben den vielfältigen und von Matzner auch kritisch diskutierten Begründungen für Staatsinterventionen fällt auf, dass manche der in der aktuellen finanzwissenschaftlichen Diskussion angesprochenen Problemkreise auch bereits im „Wohlfahrtsstaat“ erörtert werden. Insbesondere erlebte in den vergangenen Jahrzehnten Adolph Wagners (1835–1917) „Gesetz der wachsenden Ausdehnung der öffentlichen und speciell der Staatsthätigkeiten“ eine Renaissance sowohl in theoretischer als auch empirischer Hinsicht. Während auf theoretischem Gebiet Konzepte der Neuen Politischen Ökonomie als auch 1 Ich danke W. Schönbäck für kritische Kommentare zur Erstfassung dieses Beitrags.
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der neoklassischen Mikro- sowie der neuklassischen Makroökonomik (z. B. rationale Erwartungen) zur Erklärung des Staatswachstums und der Steuereinhebung und Mittelverwendung in den öffentlichen Haushalten weiter entwickelt wurden, wurden durch neue Entwicklungen in der Ökonometrie (z. B. Kointegrationstest nach Johansen und Juselius, 1990) auch eine Reihe von Methoden angewandt, die die Entwicklung und den Verlauf von Staatsausgaben (und -einnahmen) umfassender untersuchten. Im Rückblick erscheinen manche der von Matzner getroffenen Aussagen jedoch nach wie vor relevant, da beispielsweise die neu entwickelten Untersuchungsmethoden nicht die gewünschte Treffsicherheit aufweisen und die Vielzahl der vorhandenen Studien (für einen Überblick siehe z. B. Peacock und Scott, 2000) in ihren Ergebnissen bezüglich der Gültigkeit von Wagners Gesetz ambivalent sind (für Österreich: Getzner und Neck, 2002). Die vorhandenen Studien deuten auf eine Vielzahl von Bestimmungsgründen für das Staatswachstum (gemessen als Staatsquote, d. h. der Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt) hin, die sowohl in ökonomischen (steigendes Einkommen, Baumol’sche Kostenkrankheit) als auch politischen Umständen (Ideologie der Regierung, Regierungsform) liegen. Darüber hinaus ist auch die Problematisierung der Messbarkeit und der Messmethoden des Einflusses von Staatsausgaben auf die Konjunktur durch Matzner nach wie vor gültig. Ein weiteres Konzept, das für die Erklärung des Staatswachstums oftmals herangezogen wird, ist der so genannte „Displacement Effect“ (Peacock und Wiseman, 1961). Bei diesem Erklärungsansatz werden Sprünge in der Staatsquote erklärt (z. B. bei Anheben der Staatsausgaben aufgrund eines Krieges oder einer lang andauernden Rezession), wobei die Staatsquote nicht wieder reduziert wird, auch wenn der ursprüngliche Grund für die Erhöhung der Staatsausgaben schon lange weggefallen ist. Zwar konnte die österreichische Entwicklung mit einer derartigen Niveauanhebung nicht aufwarten, jedoch könnte die kontinuierlich steigende Staatsverschuldung Österreichs seit der von Matzner festgestellten Krise der Staatsfinanzen und des Wohlfahrtsstaates seit Mitte der 1970er Jahre ähnlich zu interpretieren sein. Viele der angesprochenen Untersuchungen jedoch gehen nicht und nur am Rande darauf ein, welchen Sinn oder Unsinn Staatsausgaben insgesamt bzw. eine Ausdehnung des Staatssektors haben könnten. Hier wird Matzners Buch sehr viel konkreter als manche der neuen und quantitativ orientierten Werke. Auch wenn es umstritten ist, ob der Staat zuerst Steuern erhebt und dann entscheidet, welche Ausgaben damit getätigt werden sollen, oder umgekehrt (vgl. für Österreich Koren und Stiassny, 1995), so wird doch in vielen Untersuchungen von der konkreten Staatsaufgabe abstrahiert. Matzner stellt jedoch im Gegenteil klar, dass es Staatsaufgaben in vielen konkreten Bereichen gibt (z. B. in der Arbeitsmarkt-, Agrar-, Gesundheits- und Verkehrspolitik), die im Rahmen seines funktionsanalytischen Ansatzes materiell begründet werden – Analysen und Feststellungen des Marktversagens, die nicht
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durch Zeitablauf oder den oben zitierten „neoliberalen Zeitgeist“ einfach verschwinden. Außerdem legt Matzner mit seiner Analyse eine pragmatische Funktionsanalyse des öffentlichen Sektors (des Staates) vor, die sich von rein ideologischen Konzepten des Staatseingriffs ebenso wohltuend abhebt wie von jenen der ungezügelten, am „Shareholder-value“ orientierten Marktwirtschaft. Auch was die neuen Erkenntnisse in der politischen Ökonomie der öffentlichen Haushalte bzw. der Staatsinterventionen anlangt (vgl. Überblicke in: Roubini und Sachs, 1989; Alesina und Perotti, 1995), sind einige Aspekte in Matzners Buch in Grundzügen bereits ausgeführt, so beispielsweise das mögliche Eigeninteresse der politisch und administrativ Handelnden. Allerdings ist der Grundtenor hinsichtlich der Wünschbarkeit (Notwendigkeit) und Wirksamkeit von Staatsinterventionen in Matzners Werk ein positiver. Ausgangspunkt sind Begründungen für Staatstätigkeit, und hier wird insbesondere auf die komplementären Beziehungen zwischen der Entstehung des Staates und dem modernen Wirtschaften hingewiesen. Auch wenn man nicht den derzeit (noch?) vorherrschenden neoliberalen Ideen und Konzepten anhängt und diese komplementäre Beziehung, die ja oft auch missverstanden oder ignoriert wird, akzeptiert, ist doch eine kritische Bestandsaufnahme des Staates (der Regierung) notwendig. Die ökonomischen Begründungen für Staatsinterventionen mögen sich nicht geändert haben (z. B. externe Effekte, öffentliche Güter, Unsicherheiten und Informationsdefizite und –asymmetrien), so haben sich die Präferenzen der Gesellschaft bezüglich der Inkaufnahme allfälligen Marktversagens m.E. wesentlich (aber nicht unbedingt dauerhaft) geändert. Eine ökonomische Begründung für Staatsintervention in der Verteilungspolitik beispielsweise mag vorhanden sein, die gesellschaftlichen Präferenzen für die Umsetzung derartiger Zielsetzungen haben sich aber abgeschwächt. Auch wird eine hohe Staatsquote per se heutzutage nicht mehr ohne weiteres akzeptiert, wobei allerdings von den Verfechtern niedriger Staatsquoten meist übersehen wird, dass damit öffentliche Leistungen verbunden sind, die bei Reduzierung der Staatsquote notwendigerweise wegfallen würden. Diese Konsequenz wird auch nicht mit dem Hinweis auf die Ineffizienz des öffentlichen Sektors und die verzerrende Wirkung des Steuersystems mit entsprechenden Effizienzverlusten (vgl. Barro, 1974) abgemildert, da m.E. die Potenziale zur Effizienzsteigerung nicht ausreichen werden, die Quantität und Qualität öffentlicher Leistungen bei deutlich geringerer Staatsquote aufrecht zu erhalten. Überhaupt fällt mir beim Lesen nicht nur von Matzners Buch auf, dass die Befürworter/innen eines allokations-, stabilisierungs- und verteilungspolitisch agierenden Staates nicht damit rechnen bzw. gerechnet haben, dass es eine Politiker/innen/generation geben wird, die die Handlungsinstrumente des Staates aushöhlt und sich selbst die Handlungsspielräume bewusst beschneidet. Auch hier sind wiederum Ökonom/inn/en am Werk, die aufgrund ihrer
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Empfehlungen (z. B. vollständige, d. h. rechtliche und politische, Unabhängigkeit des Europäischen Systems der Zentralbanken) die Eingriffsmöglichkeiten des Staates bewusst zurückdrängen. Kritisch an Matzners Ausführungen anzumerken ist auf der anderen Seite das Fehlen auf Hinweise zu Konzepten neoklassischer Ökonomen, die die Notwendigkeit und Wirksamkeit von Staatseingriffen grundsätzlich in Frage stellen. So wird beispielsweise die so genannte „Ricardianische Äquivalenz“ nicht erwähnt. Dieses Konzept geht, insbesondere unter der Annahme rationaler Erwartungen und des Fehlens von inter- und intragenerationellem Altruismus, von einer Äquivalenz der Finanzierung von Staatsausgaben durch Erhöhung der Steuern und durch Defizite (Erhöhung der Staatsschulden) aus. Vereinfacht gesagt bedeutet dies, dass bei einer Erhöhung der Staatsausgaben, z. B. Transferzahlungen, die empfangenden privaten Haushalte ihr Konsumverhalten nicht ändern werden, da sie entweder damit rechnen, in Höhe der empfangenen Zahlungen Steuern zur Finanzierung leisten zu müssen, oder dieses Transfereinkommen zum Abtragen der durch die Staatsausgaben entstandenen Staatsschulden in Zukunft „ansparen“. Wesentlicher Vertreter dieser Theorierichtung ist Barro (1974; 1979), der daraus auch auf Basis der Zusatzlast der Besteuerung finanzpolitische Analysen (Hypothese des „Tax Smoothing“) und auch Empfehlungen ableitet. Für Österreich wurden diese Konzepte empirisch überprüft und konnten zum großen Teil nicht bestätigt werden (Neck und Getzner, 2001). Nichts desto weniger ergeben sich, auch wenn den neoklassischen Konzepten und Empfehlungen nicht gefolgt wird, eine Reihe von bedenkenswerten Argumenten. Der Autor der vorliegenden Zeilen kann nicht beurteilen, ob sich an den Matzner’schen Schlussfolgerungen und Empfehlungen wesentliches ändern würde, aber die Frage übermäßiger Staatsverschuldung bzw. die Last von Staatsschulden und Steuerfinanzierung (vgl. z. B. Tobin, 1965; Modigliani, 1961; Buchanan, 1964) hätten vielleicht Akzente verschieben können. Auch wenn der Autor der vorliegenden Zeilen aus heutiger Sicht kritische Anmerkungen an dem Werk Matzners anbringt, so ist es doch das große Verdienst des „Wohlfahrtsstaates“, die Genese des Staates sowie die Komplementarität der wirtschaftlichen, sozialen, gesellschaftlichen und auch institutionellen Entwicklungen herauszuarbeiten. In diesem Sinn ist dieses Buch nicht nur hinsichtlich seiner ökonomischen Ausführungen höchst aktuell, denn auch die Ansätze zu einem kontext- und handlungsorientierten „Forschungsprogramm“ sind im „Wohlfahrtsstaat“ enthalten und wurden in späteren Arbeiten von Matzner (z. B. Matzner et al., 1991) weiter ausgeführt. Matzner selbst hat 2003 einen Beitrag veröffentlicht, der das Thema des Wohlfahrtsstaates wieder aufgreift, nämlich im Rahmen einer Besprechung von Barrs (2001) Buch über den Wohlfahrtsstaat im 21. Jahrhundert (Matzner, 2003). Dabei wird ein Argument verstärkt, welches sowohl Matzner als auch Barr formulieren: Die Begründungen für Staatseingriffe und die Aus-
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gestaltung des Wohlfahrtsstaates stehen auf fundierten und auch in Zukunft fortdauernden theoretischen Fundamenten, welche nicht durch Ideologien aufgehoben werden. Barr zeigt in seinem Buch auf, dass insbesondere in den Bereichen der Produktion von individueller Sicherheit, z. B. Schutz vor Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alterssicherung, ein Staatseingriff unerlässlich ist, da andere Systeme ineffizient und verteilungspolitisch in hohem Maße zweifelhaft sind – wobei eine als „gerecht“ angesehene Einkommens- und Vermögensverteilung eine Voraussetzung für das Funktionieren der Demokratie und der Marktwirtschaft sind (siehe dazu auch weiter unten). 2. Der „Wohlfahrtsstaat“ und das Konzept der nachhaltigen Entwicklung Die oben angesprochene „Komplementarität“ zwischen der wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Entwicklung in Matzners Buch erlebt seit einigen Jahren eine Renaissance im Sinne der Verbindung von unterschiedlichen Zielen in einer gemeinsamen gesellschaftlichen Entwicklungsstrategie. Das Konzept der nachhaltigen Entwicklung, populär geworden seit der Veröffentlichung des so genannten „Brundtland-Berichts“ (WCED, 1987), fußt auf der Entwicklung der gleichberechtigten Systeme Ökologie, Ökonomie und Soziales. Auf Basis von Matzners Analyseansatz könnten aus den wissenschaftlichen und politischen Diskussionen, die seitdem über das Konzept der nachhaltigen Entwicklung geführt wurden, eine Reihe von kritischen Schlussfolgerungen gezogen werden. Insbesondere aber könnte das (inhaltliche) Konzept einer nachhaltigen Entwicklung, beispielsweise durch Matzners persönliches Gerechtigkeitsempfinden, welches auch im „Wohlfahrtsstaat“ seinen Ausdruck findet, auch methodisch in Matzners Sinn interpretiert werden. Dieses Konzept fußt demnach nicht nur (inhaltlich) auf intra- und intergenerationeller Gerechtigkeit mit dem Ziel einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung innerhalb der ökologischen Beschränkungen, sondern ermöglicht auch den Blick auf die Vernetzung dieser Systeme und vor allem auch auf die Komplexität dieser Beziehungen, die einfache neoklassische Modelle und Erklärungsansätze in der Ökonomie missachten. Hier ergeben sich starke Parallelen und Anknüpfungspunkte mit einem der „Gründerväter“ der ökologischen Ökonomik, Nicolas Georgescu-Roegen (1971), mit welchem Matzner enge Beziehungen pflegte und dessen Einfluss auch im „Wohlfahrtsstaat“ spürbar wird, beispielsweise hinsichtlich der evolutionären Ökonomik, und der Kritik an mechanistischen Weltbildern im Hinblick auf den entropischen Charakter des ökonomischen Prozesses und der darin fehlenden Historizität der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Georgescu-Roegen kritisiert in seinen Analysen zunächst das Verständnis ökonomischer Zusammenhänge in der ökonomischen Theorie. Noch immer wird in der ökonomischen Theorie von einem Newton’schen
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Physikmodell ausgegangen, d. h. dass ökonomische Zusammenhänge in der neoklassischen Ökonomik mittels mathematischer Modelle (mehr oder weniger) genau zu beschreiben sind und diese Modelle z. B. Gleichgewichtsmodellen in der Physik ähnlich sind. Ausgangspunkt vieler Modelle sind nach wie vor der repräsentative nutzenmaximierende private Haushalt oder der die gesellschaftliche Wohlfahrt maximierende „wohlwollende Diktator“ (der Staat). Abgesehen von vielen Widerlegungen dieses karikaturhaften und zur Tautologie neigenden Verhaltensmodells auf Basis psychologischer Forschungsergebnisse (z. B. Kahneman und Tversky, 1979) fehlt die „materielle“ Seite des Wirtschaftens in der neoklassichen Ökonomik: Wirtschaften bedeutet, aus Sicht von Stoffströmen, die Entnahme von Ressourcen aus der Umwelt und die Entlassung von unerwünschten Stoffen (Emissionen, Abfall) in die Umwelt. Georgescu-Roegen hat auf diese Grundsätzlichkeiten hingewiesen und auch die thermodynamischen Grundgesetze betont, z. B. das Gesetz vom Erhalt der Masse oder das Entropiegesetz. Matzner hat auf diese Grundlegungen im „Wohlfahrtsstaat“ Bezug genommen, und u. a. daraus auch seine Skepsis gegenüber den neoklassisch orientierten Rezepten abgeleitet. Im „Wohlfahrtsstaat“ wird neben ökologischen Parallelen durchaus auch im Sinne der sozialen Seite einer nachhaltigen Entwicklung argumentiert, bzw., um präziser zu formulieren, nimmt die Nachhaltigkeitsdebatte einige in den 1970er und 1980er Jahren entwickelten Konzepte wieder auf. Matzner diskutiert in einigen Abschnitten in seinem Buch die Möglichkeiten und die Bedeutung des „autonomen Sektors“, also von selbstorganisierten und -verwalteten Arrangements zur Produktion von Gütern, die der Staat nicht (mehr) bereitstellen kann oder will (bzw. für die kein Markt besteht oder eine marktliche Produktion Qualität und/oder Quantität der gewünschten Güter nicht garantieren kann). In einer Reihe von aktuellen Nachhaltigkeitskonzepten auf politischer Ebene, aber auch in der umweltökonomischen Diskussion über die Bedeutung nichtmarktlicher Produktion für den gesellschaftlichen Wohlstand, wird diese Diskussion wieder aufgegriffen. Abgesehen von der tatsächlichen Bedeutung dieses Bereichs des Wirtschaftens haben sich viele von Matzners Erwartungen, was die Ausdehnung der Produktion dieses Sektors angeht, kaum erfüllt – mit ihm hatten viele andere Autor/inn/en ebenfalls zu große Hoffnungen gehegt. In der Nachhaltigkeitsdebatte kommt nun diese Diskussion und ihre Hoffnungen wieder, leider in einer fast karikaturhaften Form: In einem populären deutschen Nachhaltigkeitskonzept (BundMisereor, 1997) wird beispielsweise, ohne auf die sozialen Bedingungen der Produktion im autonomen Sektor einzugehen, davon ausgegangen, dass die Befolgung von Nachhaltigkeitskriterien praktisch „automatisch“ zu einer Ausdehnung der Freiwilligenarbeit führt, dass die nachbarschaftlichen Beziehungen gestärkt werden und sozusagen „von selbst“ kommunitaristische Ideen wieder Fuß fassen. Matzner würde sich sicherlich gegen eine solche
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Vereinnahmung von Ideen wehren, insbesondere da im von Nachhaltigkeitskonzepten forcierten autonomen Sektor oftmals prekäre Arbeitsverhältnisse vorherrschen, soziale Standards fehlen, oder die Verteilung von Arbeit und Einkommen ungerecht ist. 3. Effizienz und Gerechtigkeit Wie bereits oben erwähnt, zeigen sowohl Matzners persönlicher Gerechtigkeitssinn als auch sein Buchtitel selbst eine starke Betonung von sozialer Gerechtigkeit. Ein eigenes Kapitel in seinem Buch befasst sich mit einer der wesentlichsten Staatsaufgaben, nämlich der Produktion von (sozialer) Sicherheit (siehe auch Matzner, 2003). Neoliberale Politiker/innen und neoklassische Ökonom/inn/en würden bei dieser Frage vielleicht folgendermaßen argumentieren: Für den Fall, dass die Produktion sozialer Sicherheit gesellschaftlich erwünscht ist, und vielleicht sogar eine Staatsaufgabe sein könnte, sollte trotzdem auf private Rezepte (z. B. private Altersvorsorge) gesetzt werden. Denn die staatliche Umverteilung, d. h. die Einhebung als auch die Verwendung der Abgaben und Steuern verursacht zu hohe Effizienzverluste, und private Lösungen seien hier um vieles effizienter. In Summe wäre daher beispielsweise die private Alterversorgung insgesamt wesentlich verbessert, da der ineffiziente Staatseingriff wegfalle und private Entscheidungen auf Basis der individuellen Präferenzen und Informationen Vorteile vor „zentralen“ Lösungen bieten würden. Zunächst ist zu betonen, dass die Produktion von Sicherheit eine zentrale Staatsaufgabe darstellt (Schönbäck, 1980). Dies nicht nur aufgrund ökonomischer und sozialer Argumente, sondern auch, wie die neuere „Happiness-Forschung“ zeigt, auf Basis der Einsicht, dass der überwiegende Teil der Menschen nicht auf Effizienz in einem ökonomischen Sinn (z. B. möglichst hohes absolutes Einkommen) Wert legt, sondern die (soziale) Gerechtigkeit, d. h. die eigene Stellung in Relation zu den anderen Gesellschaftsmitgliedern, sowie die individuelle Sicherheit, z. B. Fehlen von existenziellen Bedrohungen infolge von Arbeitslosigkeit oder Krankheit, zum persönlichen Glück wesentliche Beiträge leistet (Frey und Stutzer, 2002). Diese Betonung der Gerechtigkeit vor der ökonomischen Effizienz wurde in einigen wenigen ökonomischen Arbeiten in der experimentellen Ökonomik nachgewiesen. Abgesehen vom „Ultimatum-Game“2 und auch „ökono2 Hierbei macht ein Spieler einen Teilungsvorschlag für einen bestimmten Geldbetrag und der andere Spieler kann diesen Vorschlag akzeptieren oder nicht. Im letzteren Fall erhalten beide nichts, im ersten Fall wird der Betrag entsprechend dem Vorschlag geteilt. Ökonomisch rational ist die Akzeptierung jedes Teilungsverhältnisses (also auch, wenn der Spieler mit Vorschlagsrecht nur einen winzigen Betrag dem anderen Spieler überlässt). Im Experiment lässt sich nachweisen, dass Effizienz und ökonomische Rationalität nicht die dominierende Rolle spielen, also nicht jedes Teilungsverhältnis akzeptiert wird, sondern ein als „akzeptabel“ (d. h. als gerecht) angesehenes.
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misch rationalen“ Argumenten (z. B. „Veil of Ignorance“ und Gesellschaftsvertrag; Rawls, 1972) spielt in anderen Experimenten auch die Frage eine Rolle, wie ein (ökonomisches, politisches) Ergebnis zustande kommt. Die herrschende ökonomische Lehre geht davon aus, dass der Endzustand einer Entscheidung oder eines Entscheidungsprozesses betrachtet wird (also ob eine Entscheidung zu einem effizienten Ergebnis führt oder nicht). Maßgeblich für die Versuchspersonen in Experimenten ist aber nicht (allein) die Effizienz des Endzustandes, sondern die Qualität des Entscheidungsprozesses (prozedurale Rationalität und diskursive Ethik; vgl. z. B. Habermas, 1997; experimentelle Nachweise: Brandts und Charness, 2000; für eine neuere umweltökonomische Anwendung: O’Hara, 1996). Diese Produktion von Sicherheit, und dies ist wiederum ein Argument der Politischen Ökonomie, mag für die einflussreichen gesellschaftlichen Interessensgruppen und Lobbies von geringer Bedeutung sein. M.E. lässt sich die Produktion von (sozialer) Sicherheit mit einer Vielzahl von ökonomischen und gesellschaftspolitischen Argumenten jedoch als Staatsaufgabe untermauern. Abgesehen von der (zweifelsfrei noch steigerbaren) Sicherheit und der Effizienz des (staatlichen) Umlageverfahrens in der Alterversorgung oder des öffentlichen Gesundheitssystems stellt die Propagierung privater Vorsorge als Ersatz für die öffentlichen Systeme eine massive Umverteilung der Risiken und des Nutzens der Systeme dar. Grundsätzlich sind sowohl staatliche als auch private Systeme vom gesamtwirtschaftlichen Einkommen abhängig. Finanzierungslücken in Zeiten einer Rezession bei den staatlichen Systemen stehen niedrige Renditen oder gar der Verlust des angesparten Kapitals bei der privaten Vorsorge gegenüber. Als freiwillige zusätzliche Sicherung, beispielsweise zur Berücksichtigung unterschiedlicher Präferenzen bezüglich des Einkommensrisikos und –verlaufs im Alter, können private Systeme sicherlich dienen. Als (weitgehend) stabile Grundversorgung eignen sich derartige private Systeme aber sicherlich nicht. Ein weiteres Beispiel für den Vorzug von Gerechtigkeit gegenüber Effizienz lässt sich bei einer Reihe anderer Transferleistungen des Staates anschaulich darstellen: Oftmals erhalten auch sozial besser Gestellte Sozialleistungen, derer sie eigentlich nicht bedürften, z. B. im Bereich der Wohnbauförderungen oder auch in der Familienpolitik. Hier steht offensichtlich nicht die Effizienz im Mittelpunkt, sondern ein „Gießkannenprinzip“, welches aber den sozialen Zusammenhalt fördern und eine Ghettoisierung (z. B. wenn nur ärmere Menschen in den Genuss einer Wohnbauförderung kommen) verhindern kann. 4. Die Aktualität des „Wohlfahrtsstaates“ Für den Autor der vorliegenden Zeilen war die Lektüre von Matzners Buch, diesmal nicht aus Sicht eines Studierenden bzw. Forschungsanfängers, mit einer Reihe von wichtigen und neuen Erkenntnissen verbunden. Eine kurze
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Internet-Recherche zeigt bedauerlicherweise, dass nur noch sehr wenige Vortragende im Bereich der Sozialwissenschaften, kaum jedoch in der Ökonomik, auf den „Wohlfahrtsstaat“ verweisen. Dies ist aus meiner Sicht insofern bedauerlich, da der Matznersche Analyseansatz und die grundsätzlichen Schlussfolgerungen, die er und seine Mitautoren ziehen, auch heute noch Gültigkeit haben. Darauf hat auch Matzner selbst mit großer Berechtigung hingewiesen (Matzner, 2003). Insbesondere die aus meiner Sicht auch in manchen „modernen“ Diskussionen über das Konzept einer nachhaltigen Entwicklung auftauchende Komplementarität der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen sowie staatlichen Entwicklung verdient Respekt und Anerkennung, und müsste zumindest in Grundzügen auch jetzt noch auf den diversen Literaturlisten für Studierende und Interessierte der Finanzwissenschaft und der Wirtschaftspolitik stehen. Vielleicht trägt dieser kurze Kommentar dazu bei, dass die grundlegenden Konzepte von Matzners Buch wieder mehr in das Bewusstsein rücken. Quellenverzeichnis Alesina, A., Perotti, R. (1995), The Political Economy of Budget Deficits, IMF Staff Papers 42(1), pp. 1–31. Barr, N. (2001), The Welfare State as a Piggy Bank. Information, Risk, Uncertainty, and the Role of the State. Oxford University Press, Oxford. Barro, R. J. (1974), Are Government Bonds Net Wealth? Journal of Political Economy 82(6), pp. 1181–1206. Barro, R. J. (1979), On the Determination of the Public Debt, Journal of Political Economy 87(5), pp. 940–971. Brandts, J., Charness, G. (2000), Retribution in a Cheap Talk Experiment, Paper presented at the 49th International Atlantic Economic Conference, Ludwig Maximilians University, Munich. Buchanan, J. M. (1964), Public Debt, Cost Theory, and the Fiscal Illusion, in: Fergusan, J. M., ed., Public Debt and Future Generations. University of North Carolina Press, Chapel Hill, pp. 150–163. Bund-Misereor (1997), Zukunftsfähiges Deutschland, Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt und Energie, Wuppertal. Frey, B. S., Stutzer, A. (2002), What Can Economists Learn from Happiness Research? Journal of Economic Literature 40 (2), pp. 402–435. Georgescu-Roegen, N. (1971), The Entropy Law and the Economic Process, Harvard University Press, Cambridge (MA). Getzner, M., Neck, R. (2002), Die Entwicklung der Staatsausgaben in Österreich, in: Theurl, E., Winner, H., Sausgruber, R., Hrsg., Kompendium der Österreichischen Finanzpolitik. Springer Verlag, Wien, New York, S. 228–262. Habermas, J. (1997), Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände, Suhrkamp, Frankfurt/Main. Johansen, S., Juselius, K. (1990), Maximum Likelihood Estimation and Inferences on Cointegration – with Applications to the Demand for Money, Oxford Bulletin of Economics and Statistics 52, pp. 169–210. Kahneman, D., Tversky, A. (1979), Prospect Theory: An Analysis of Decisions under Risk, Econometrica 47 (2), pp. 263–291. Koren, St., Stiassny, A. (1995), Tax and Spend or Spend and Tax – An Empirical Investigation for Austria, Empirica 22 (2), pp. 127–149. Matzner, E. (1982), Der Wohlfahrtsstaat von morgen, Österreichischer Bundesverlag, Wien.
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Für einen reformierten Wohlfahrtsstaat! Bruno Rossmann
„... So ist der Staat auch niemals ein harmonischer Überbau, durch den alle Menschen am Gemeinwohl beteiligt werden, sondern eine heißumkämpfte Institution, die Chancen, Nutzen und Lasten gemäß den sich durchsetzenden gesellschaftlichen Kräften verteilt.“ Der Wohlfahrtsstaat von morgen, Egon Matzner (1982) 1. Der Wechsel zum Paradigma vom „mageren“ Staat Die Rolle des Staates in der Gesamtwirtschaft war bis Anfang der 70er Jahre vom Primat der Politik zur optimalen Gestaltung der privatwirtschaftlichen Wettbewerbskräfte, also von keynesianischen Vorstellungen geprägt. Der moderne Staat nahm sich bis dahin vor allem folgender Aufgaben an: − Angebot an öffentlichen Dienstleistungen, − Stabilisierung der Konjunktur und des Wirtschaftswachstums für einen hohen Grad an Beschäftigung, − soziale Korrekturen von Marktergebnissen und Sozialpolitik sowie − zumindest in Ansätzen die ökologische Gestaltung. Der Hauptzweck des Staates bestand in der Reduktion von Unsicherheit bzw. in der Produktion von Sicherheit für gesellschaftliche Situationen, in denen dies durch individuelles, gemeinschaftliches oder marktmäßiges Handeln nicht ausreichend zustande kommen konnte. Beginnend mit den 70er Jahren setzte in der vorherrschenden Finanz- und Wirtschaftswissenschaft („mainstream economics“) ein Paradigmenwechsel ein. Schrittweise wurde das Leitbild des modernen Wohlfahrtsstaates durch das Paradigma des „schlanken“ (neoklassischen) oder besser „mageren“ Staates verdrängt. Im Mittelpunkt steht der Rückzug des Staates aus seinen öffentlichen Aufgaben, aus der gesamtwirtschaftlichen Verantwortung für stabiles, ökologisch fundiertes Wirtschaftswachstum, für hohe Beschäftigung und für eine Absicherung gegen systembedingte soziale Risiken. Begründet wird dieses Zurückdrängen des Staates mit der These, dass der Markt dem Staat bei der Bereitstellung von öffentlichen Gütern und Dienstleistungen prinzipiell überlegen sei. Staatlicher Besitz gilt grundsätzlich als „illegitim, gemeinwohlschädlich und ineffektiv“ (Zeuner, 1999, S. 285), und die Vermarktwirtschaftlichung drängt „nicht nur in noch nicht erfasste geographische Räume, sondern auch nach innen, in die Refugien des gesellschaftlichen Lebens“1. Diese Entwicklung 1 Altvater/Mahnkopf (1996), S. 114.
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ging maßgeblich von den USA aus und ist dort unter dem Namen „Washington Consensus“ bekannt.2 Eine höhere Kosteneffizienz sei demnach nur dann möglich, wenn Budgetdefizite und Staatsverschuldung reduziert, bisher öffentliche Aufgaben privatisiert und politisch gewollte Regulierungen der Märkte abgebaut werden. Der Staat habe sich demzufolge auf die so genannten „Kernaufgaben“ zu beschränken. Der Vorrang für die monetäre Stabilisierung, die Privatisierung von staatlichem Eigentum sowie die Deregulierung staatlicher Normen ist mittlerweile Teil einer weltweiten neoliberalen Offensive geworden, die durch Auflagen des IWF und der WTO, aber auch durch die supranationale Ebene gegenüber den Nationalstaaten durchgesetzt wird. Diese Offensive hat als reine Ideologie erhebliche hegemoniale Wirkungen entfaltet. Österreich ist diesem ordnungspolitischen Paradigmenwechsel zur „mainstream economics“ zunächst eher zögerlich gefolgt. In den 70er und 80er Jahren setzte über außerbudgetäre Finanzierungen zunächst eine Flucht aus dem Budget ein. Die 90er Jahre lassen sich als das Jahrzehnt der Budgetausgliederungen charakterisieren, gleichzeitig wurden erste Privatisierungen von öffentlichem Eigentum vorgenommen. Mit dem Wechsel der Bundesregierung zu Jahresbeginn 2000 wurde der Paradigmenwechsel auch in Österreich vollzogen. Es setzte eine Phase der Finanzpolitik ein, die als Flucht aus der öffentlichen Verantwortung bezeichnet werden kann. Unter Berufung auf den Stabilitäts- und Wachstumspakt wurden in dieser Phase drastische Sparmaßnahmen zur Erreichung eines ausgeglichenen Haushalts ergriffen. Über diese Sparpolitik sowie ein großzügiges Steuersenkungsprogramm für Kapitalgesellschaften wurde der fiskalische Handlungsspielraum auf nationalstaatlicher Ebene stark eingeschränkt und die Finanzkrise des Staates auf dem Rücken der lohnabhängigen Bevölkerung sowie der sozialstaatlichen LeistungsbezieherInnen gelöst, zu deren Lasten die Leistungseinschränkungen bzw. Steuererhöhungen gingen. Die Lohnsteuersenkungen 2004/05 kompensieren diese Belastungen nur teilweise. In Zusammenhang mit dieser Phase ist auf eine „Politik der leeren Kassen“ zu verweisen, die darauf abzielt, dem Staat durch Steuersenkungen systematisch die finanziellen Ressourcen zu entziehen. Die von dieser Regierung angepeilte Senkung der Abgabenquote auf 40 % des BIP bis zum Jahr 2010 erzwingt bei ausgeglichenem Haushalt eine weitere – massive – Reduktion der Staatsausgaben. Diese systematische Unterfinanzierung und der damit verbundene Leistungsrückgang der öffentlichen Güter und Dienstleistungen hat in vielen Staaten der OECD die gesellschaftliche Akzeptanz für deren Privatisierung massiv erhöht3.
2 Vgl. dazu Matzner (2000). 3 Pelizzari (2002), S. 6.
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2. Neubegründung der öffentlicher Aufgaben Erstaunlich ist, dass dieser Wandlungsprozess national wie international weitgehend lautlos geschah, ohne Kritik von links, obwohl das Gemeineigentum zu den klassischen Forderungen der Arbeiterbewegung gehört und sich die Fragen, wer welche öffentlichen Güter und Dienstleistungen für wen produziert, einer demokratischen Debatte nicht entziehen dürften. Als Gegenreaktion hat sich erst in den letzten Jahren eine neue politische Bewegung – bestehend aus Gewerkschaften, Arbeitnehmervertretungen und zivilgesellschaftlichen Gruppen – herausgebildet, die die Liberalisierungs- und Privatisierungspolitik kritisiert hat. Der politische Einfluss dieses Gegendrucks ist insgesamt bisher eher bescheiden geblieben, wenngleich es einige Erfolge bei bestimmten Liberalisierungsprojekten (z. B. Wasser, GATS-Verhandlungen) gegeben hat. Matzner gehörte zu jenen, die den Diskurs über die öffentlichen Angelegenheiten und die res publica stets eingefordert haben.4 In einem Vortrag auf einer Tagung der Arbeiterkammer in Wien etwa hat er die Grundlagen des „Washington-Consenus“ scharf kritisiert, weil sie theoretisch unzureichend begründet sind, und er hat auf die bisherigen – überwiegend negativen – Ergebnisse der Deregulierungs- und Privatisierungsstrategie hingewiesen, die national und global zu großen Wohlstandseinbußen (Effizienzverluste) und wachsender Ungleichheit geführt haben (Matzner, 2002b). Wenn also staatliche Regelungen und öffentliche Einrichtungen für die Entwicklung der Marktwirtschaft notwendig sind und deren Abbau und Privatisierung zu negativen Folgen führen, dann ist dieser Entwicklung, so Matzner, auf fachlicher und politischer Ebene entgegenzutreten. Dabei geht es ihm um eine zeitgemäße Agenda öffentlicher Aufgaben und um zeitgemäße Formen der Aufgabenerfüllung. In seinem Buch „Der Wohlfahrtsstaat von morgen“ stützte sich Matzner (1982) beim Entwurf einer sozioökonomischen Theorie des Staates insbesondere auf die Theorie des Marktversagens sowie jene des rationalen Handelns bei Risiko und Unsicherheit. Knapp 20 Jahre später stützt sich N. Barr (2001) in seinem Buch über den Wohlfahrtsstaat ebenfalls auf die Erkenntnisse der mikroökonomischen Informations-, Risiko- und Unsicherheitstheorien. Im Unterschied zur „mainstream economics“ bezieht Barr in seine Argumentation auch makroökonomische Bedingungen ein und hält staatliche Regelungen auf den Finanzmärkten für unverzichtbar. Der Staat ist bei ihm endogener Teil von Marktwirtschaften. Bemerkenswert und ganz im Sinne Matzners5 ist die optimistische Schlussfolgerung Barr’s: „The welfare state is durable for a rather simple reason: the theoretical argument that underpins its existence 4 Vgl. Matzner (1982, 1997, 2001, 2003a und b). 5 Vgl. dazu Matzner in der Buchbesprechung (2002c) von Barr’s Buch: „Wollte man den „Wohlfahrtsstaat von morgen“ heute neu schreiben, dann wäre das Buch von Nicholas Barr aus 2001 die ideale Realisierung einer solchen Absicht.“
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will continue to apply. Twenty-first-century changes, though they will cause the welfare state to adapt, do not undermine the overall thrust of the theoretical argument” (Barr, 2001, S. 270). Was Befürworter des Staates in der politischen und fachlichen Debatte häufig vernachlässigen, ist jedoch die Tatsache, dass es neben dem Marktversagen auch Staatsversagen gibt – etwa als Folge von fehlendem Wettbewerb, beschränkter Information („Principal-Agent-Problem“) oder von Bürokratieund Überwachungsproblemen. In der finanzwissenschaftlichen Literatur ist es umstritten, ob das Staatsversagen so allgegenwärtig und so schwerwiegend ist, wie es von den Apologeten der Marktwirtschaft oft behauptet wird. Die Empirie zeigt, dass Märkte effizient oder ineffizient sein können, ebenso der Staat. Daher ist weder das Marktversagen automatisch ein Grund für eine staatliche Intervention, noch liefert Staatsversagen automatisch eine Begründung gegen die staatliche Aufgabenerfüllung. Wenn es daher um eine Neubegründung des Staates geht, dann sind beide Phänomene in der Debatte über die zukünftige Rolle des Staates aufzugreifen. 3. Globalisierte Rahmenbedingungen für die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen Wenn also eine zeitgemäße Agenda öffentlicher Aufgaben und zeitgemäße Formen ihrer Erfüllung angestrebt werden, dann müssen auch die geänderten Rahmenbedingungen für den Staat berücksichtigt werden. Neben technologischen, sozialen und ökonomischen Herausforderungen sowie systempolitischen Veränderungen ist der Wandel auf der internationalen und europäischen Ebene besonders bedeutsam geworden. Die Neubestimmung der Rolle des Staates kann sich heute nicht mehr allein an den Nationalstaat richten, weil staatliches Handeln heute zunehmend als System von mehreren territorialen Regulierungsebenen funktioniert. Seit der Uruguay-Runde des GATT hat die internationale Regulierungsebene für die öffentlichen Dienstleistungen eine neue Qualität erhalten. Die in der Uruguay-Runde beschlossenen Abkommen beinhalten auch eines über den Handel mit Dienstleistungen – das GATS (General Agreement on Trade in Services). Bedeutsam wurde das GATS Anfang des Jahres 2000, als eine neue Runde von Verhandlungen zur weiteren Liberalisierung des Handels mit öffentlichen Dienstleistungen begann. Das Ziel des GATS besteht darin, einen Rahmen zu schaffen, der die vielen nationalen Spezifika von Dienstleistungen transparent, d. h. international vergleichbar macht, um so das im Dienstleistungshandel liegende Wachstumspotenzial in Bereichen wie Post und Telekommunikation, Energie- und Wasserversorgung, medizinische und soziale Dienste sowie Bildung und Kultur nutzbar zu machen. Um einen entsprechenden Einfluss auf die Verhandlungen zu dieser „Investitionsfreiheit“ zu nehmen, haben sich große multinationale Unternehmen bereits zu mächtigen pressure groups zusammengeschlossen, um so einen permanenten
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Liberalisierungsdruck von Seiten der Staaten mit diesbezüglich international tätigen Unternehmen ausüben zu können. Es sind zwei Phänomene, die für die Dynamik des GATS verantwortlich sind, die Interessen multinationaler Unternehmen am Export von kapital- und technologieintensiven Dienstleistungen (Finanzdienstleistungen, Telekommunikation, Informationsdienste) und das Entstehen eines „Marktes“ für öffentliche Dienstleistungen durch die Liberalisierung und Privatisierung des öffentlichen Sektors. Da nationale und internationale Anbieter dieser Dienstleistungen auf diesen „Markt“ drängen, sind die GATS-2000-Verhandlungen gerade für die öffentlichen Dienstleistungen von zentraler Bedeutung. Die Erfüllung traditioneller Staatsaufgaben, die herkömmliche Ausübung von Staatseinfluss, wird somit durch die Existenz unternehmerischer Konkurrenz zumindest ergänzt oder zur Gänze substituiert. Eine Reorganisation der internationalen Wirtschaftskooperation betrifft die Nationalstaaten insofern, als sich die Art der Einbindung staatlicher Prozesse in den ökonomischen Verwertungsprozess verändert. Es wird daher von einer Internationalisierung des Staates gesprochen. Die Europäische Kommission reagiert in Bezug auf die öffentlichen Dienstleistungen – vermutlich aufgrund des Widerstands einiger Mitgliedstaaten (insbesondere Frankreich, Deutschland, Belgien), aber auch vieler europäischer Kommunen sowie der Zivilgesellschaft – derzeit eher verhalten. In ihrem Angebotsentwurf hat sie keine Angebote über den Liberalisierungsstand von 1995 hinaus für die Bereiche Wasserversorgung, audiovisuelle Dienstleistungen, Gesundheits- und soziale Dienste, Bildungsleistungen sowie Energie- und Verkehrsdienstleistungen gemacht. Wenngleich die GATSVerhandlungen nach dem Scheitern von Cancún einen schweren Rückschlag erlitten haben, so ist dennoch festzuhalten, dass das GATS-Abkommen zwar keinen formalen Mechanismus enthält, der die Staaten zur Liberalisierung zwingt, diese aber außerordentlich begünstigt.6 Auf der europäischen Ebene sind zwei Veränderungen bedeutsam geworden. Das sind die fiskalischen Konvergenzkriterien im Vertrag von Maastricht und der Stabilitäts- und Wachstumspakt (Vertrag von Amsterdam), die die Finanznöte der öffentlichen Haushalte zusammen mit dem steigenden internationalen Steuerwettbewerb verstärken und damit die nationalen Handlungsspielräume einengen. Durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt, der mit zunehmender Dauer der Konjunkturschwäche in Europa als zu wenig flexibel sowie aufgrund seiner prozyklischen Wirkung immer mehr in Frage gestellt wird, verpflichten sich die Mitgliedstaaten der EU zu ausgeglichenen Haushalten über den Konjunkturzyklus. Zweitens wurde die Liberalisierung immer mehr zum strategischen Mechanismus zur Vollendung des Binnenmarktes, und sie bezieht sich immer stärker auf öffentliche Bereiche. Der 6 Vgl. dazu ausführlich Raza/Wedl/Angelo (2004), S. 9 ff.
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Prozess der sukzessiven Liberalisierung vollzieht sich dabei auf zwei Ebenen, der vertikalen und der horizontalen (Raza, 2001). Auf der vertikalen Ebene erfolgt die Liberalisierung einzelner öffentlicher Dienstleistungen wie z. B. Telekommunikation, Strom/Gas, Verkehr. In diesem Zusammenhang hat die Europäische Kommission darauf hingewiesen, dass für sie der Markt der zentrale Mechanismus zur Bereitstellung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse ist: „Die in den frühen 90er Jahren getroffenen Entscheidungen zur schrittweisen Liberalisierung (der Telekommunikation) waren selbst das Ergebnis von Marktentwicklungen und technischen Fortschritten...“ (Europ. Kommission, 2000). Die horizontale Ebene umfasst maßgebliche Regulierungsbereiche, die den gesamten Sektor betreffen. Da sich das öffentliche Auftrags- sowie Beihilfenwesen als besonderes Hemmnis bei der Erschließung neuer Absatzbereiche erwies, kam es zunehmend in das Schussfeld der europäischen Wettbewerbspolitik. Das Ziel besteht offensichtlich darin, das Terrain für das Aufbrechen der Versorgungsmonopole öffentlicher Unternehmen, speziell auch der kommunalen Ebene aufzubereiten. Intensiviert wurde die Diskussion über die künftige Erbringung öffentlicher Dienstleistungen mit dem Grünbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (Europ. Kommission, 2003). Dominierendes Regulierungsmuster ist darin der Wettbewerb zwischen privaten Unternehmen. Matzner (2003b) kritisierte dieses Grünbuch u. a. sehr scharf, weil es auf einer Theorie fußt, die nicht der Realität entspricht, sondern diese eliminiert. Es wird zwar wiederholt Bezug genommen auf das „europäische Gesellschaftsmodell“, es wird aber nirgends definiert und nicht darauf hingewiesen, dass es untrennbar mit dem Wohlfahrtsstaat keynesianischer Prägung verknüpft ist. Es unterscheidet sich im Hinblick auf die Verankerung von Staatsaufgaben grundlegend vom „amerikanischen Gesellschaftsmodell“. Dies kommt in mehrfacher Weise zum Ausdruck, so in der grundlegenden Inpflichtnahme des Privateigentums für soziale Anliegen, weiters in der staatlichen Verantwortung, den gesellschaftlich erwirtschafteten Reichtum umzuverteilen und den Einzelnen vor sozialen Risken umfassend zu schützen. Damit einher geht eine unterschiedliche Auffassung darüber, was schließlich eine zentrale Aufgabe des Staates im Hinblick auf Dienstleistungen von allgemeinem Interesse ist. Nach dem europäischen Konzept ist es die Übernahme der Verantwortung dafür, dass hochwertige öffentliche („public“) Dienstleistungen allen Schichten der Bevölkerung auf hohem Niveau und unabhängig vom Einkommen bereit gestellt werden. In diesem Sinne ist der Begriff der „öffentlichen Dienstleistung“ auch weitgehend treffender für das europäische Gesellschaftsmodell als jener der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse. Dieser Terminus ist nach Matzner dazu angetan, die grundlegende Verantwortlichkeit des Staates für das Funktionieren öffentlicher Dienstleistungen auf hohem Niveau zu verwässern.
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Dieses Kernelement des europäischen Gesellschaftsmodells – die staatliche Verantwortung für das Funktionieren öffentlicher Dienstleistungen – wird jedoch durch den gegenwärtigen Trend zur Zurückdrängung des Staates gefährdet. Dazu, dass öffentliche Dienstleistungen mittlerweile zur „bedrohten Zone“ geworden sind, hat auch die europäische Politik beigetragen. Öffentliche Dienstleistungen dürfen nicht mehr länger unter den ausschließlichen Gesichtspunkten der (Binnen-)Marktöffnung, dem Wettbewerbsrecht und möglichen Einsparungspotentialen diskutiert werden, sondern primär unter dem Gesichtspunkt der oben angesprochenen zeitgemäßen Agenda öffentlicher Aufgaben und ihrer Erfüllung. Das vor allem auch deshalb, weil die Auswirkungen der Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen ungünstiger auf die Beschäftigung waren, als sie im Grünbuch zum Ausdruck gebracht werden. Eine Studie über die Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen in der EU und in Österreich von Atzmüller/Hermann (2004) zeichnet ein wesentlich differenzierteres Bild. Demnach hat es in den untersuchten Sektoren (Eisenbahnen, Postdienste, Wasser, Elektrizität, öffentlicher Personennahverkehr) einen umfangreichen Personalabbau gegeben. Weiters war die Reduktion der Arbeitskosten ein zentrales Ziel des Liberalisierungs/Privatisierungsprozesses, das über verschiedene Kanäle realisiert wurde (z. B. durch Änderungskündigungen, Kürzungen von Zulagen und Prämien, schlechtere Kollektivverträge, Lohndumping etc.). Darüber hinaus waren Flexibilisierungen und Individualisierungen der Beschäftigungsverhältnisse sowie Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen (steigende Arbeitsintensität, wachsender Stress, Zunahme von Überstunden etc.) zu beobachten. 4. Eine kleine Handlungsanleitung für eine zu führende Staatsdebatte Wenn das Ziel ein reformierter, auf die Bedürfnisse der BürgerInnen ausgerichteter und an flexiblen Lösungen orientierter Staat sein soll, der meines Erachtens auch im Zeitalter der Globalisierung möglich ist – dann sind vor dem Hintergrund der geänderten Rahmenbedingungen für eine Staatsdebatte drei Aspekte von zentraler Bedeutung (im Detail siehe Bauer et al., 2002): − die Neufestlegung der Funktionen des Staates, − die Reorganisation der Aufgabenerfüllung und − die Klärung der Art der Finanzierung. Ausgangspunkt für eine so verstandene Neubegründung des Staates ist eine umfassend angelegte Aufgabenreform mit den Zielen der Aufgabenfestlegung und der Klärung der Art der Aufgabenerfüllung (öffentlich, erwerbswirtschaftlich, gemischt, autonomer Sektor), ihrer konkreten Umsetzung sowie der Klärung der Finanzierung (auf die häufig vergessen wird). Dabei darf die Kontroverse um die politische Ausgestaltung des (Wohlfahrts-) Staates nicht verwechselt werden mit der Kontroverse um die Effizienz und Effektivität seiner Implementierungsstrukturen. Bei der ersten Fragestellung
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geht es um die Festlegung der Aufgaben des Staates, also um das „Was“ und „Für wen“. Im Gegensatz dazu geht es bei der Reorganisation des Staates in erster Linie um die Art und Weise der Bereitstellung, Gewährleistung oder Regulierung, also um das „Wie“. Welche Organisationsform heranzuziehen ist, ist jeweils von der Aufgabenstellung abhängig. Jedenfalls aber muss die Aufgabenerfüllung bei der Vielfalt der Formen durch den Staat als Garant sichergestellt werden (Gewährleistungsfunktion des Staates). Bei der Beantwortung der Fragen des „Was“ und des „Wie“ handelt es sich um eminent politische Aufgaben, zu denen die ökonomische Betrachtung über Markt- und Staatsversagen wichtige Anhaltspunkte liefert. Letztlich lassen sich öffentliche Aufgaben und die Form ihrer Erfüllung nur über politische Willensbildungsprozesse bestimmen. Matzner hat mit seiner Funktionsanalyse des Staates Bausteine für eine Aufgabenreform geliefert. Sie wurde nur leider bis heute in Österreich wenig aufgegriffen. Eine umfassende Aufgabenreform wurde zwar oft gefordert, sie steht aber nach wie vor aus.7 Wenn es um die Beantwortung der Frage geht, wie der Staat seine Leistungen erbringen kann, dann kommen die Ansätze des „Public Management“ und des „Good Governance“ ins Spiel (siehe im Detail Bauer, 2003). Ersterer sieht einen abgestimmten Einsatz verschiedener betriebwirtschaftlicher Instrumente im Rahmen eines ergebnisorientierten Ansatzes vor. Dabei bietet das Modell des Gewährleistungsstaates eine Option künftiger staatlicher Intervention. Trotz aufkeimender Kritik am Public Management ist dieser Ansatz nicht am Ende, wenn er durch den Good Governance-Ansatz demokratisch legitimiert wird. Die bloße technokratische Anwendung des Public Management Ansatzes läuft freilich Gefahr, den neoliberalen StaatsgegnerInnen in die Hände zu arbeiten. Der erweiterte Good Governance Ansatz versucht in zunehmendem Maß, durch partnerschaftliche Kooperation von öffentlichen und privaten AkteurInnen sowie von staatlicher Verwaltung und BürgerInnen zu besseren Lösungen gesellschaftlicher Probleme zu gelangen8. Die Strategien des Public Management und Good Governance können also den Staat stärken, indem sie den BürgerInnen mehr Möglichkeiten zur Mitsprache geben, die Politik einbinden und entsprechende Richtungs- und andere strategische Entscheidungen explizit treffen, Basis für eine mitarbeiterInnenfreundliche öffentliche Verwaltung sind und die Zivilgesellschaft fördern. Die beiden Ansätze sind bei richtiger Anwendung große Chancen für den öffentlichen Sektor, durch Modernisierung und neue Wege aus der perma7 Zuletzt etwa findet sich die Forderung nach einer umfassenden Analyse der Staatsaufgaben im Mandat des Ausschusses 1 des Österreich-Konvents über Staatsaufgaben und Staatsziele. Der Ausschuss hat sich dieser Herausforderung jedoch nicht gestellt. Siehe dazu den Ausschussbericht auf der Homepage des Konvents: www.konvent.gv.at. 8 Hinzuweisen ist hier auf das „partizipative Budget“ von Porto Alegre, das als zukunftsweisendes Modell für lokale Politik bei der Konferenz der Vereinten Nationen über Wohn- und Siedlungswesen (Habitat II) ausgezeichnet wurde. Vgl. dazu Becker (2001/2).
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nenten Diskussion zwischen neoliberalen Staatsgegnern und wohlfahrtsstaatlichen Staatsverfechtern zu entkommen und eigenständige Perspektiven zu entwickeln. 5. Berechtigter Optimismus für den Bestand des Wohlfahrtsstaates? Die Ausführungen haben gezeigt, dass der Staat in seiner keynesianischen Ausprägung in den letzten Jahren zum zentralen Angriffsziel eines neoliberalen Paradigmenwechsels geworden ist. Es hat sich weiters herausgestellt, dass die notwendige Neubegründung der öffentlichen Aufgaben zu einer globalen Aufgabe geworden ist. Matzner hat in diesem Zusammenhang vom „Mediationsstaat“ (2002a) gesprochen, mit dem er zum Ausdruck bringen wollte, dass die Staatsfunktionen heute zum Teil auf die „Mediation“, d. h. auf die Vermittlung und Durchsetzung sowie auf die Interpretation und Weitergabe von anderswo beschlossenen Regeln beschränkt sind. Jessop (1995) spricht von einer Internationalisierung des Nationalstaates. Er umreißt damit die systematisch gestiegene Bedeutung der internationalen bzw. der supranationalen Ebene für nachrangige staatliche Ebenen und verweist auf eine Wandlung des Staates vom auf sozialen Ausgleich orientierten nationalen Wohlfahrtsstaat zum auf internationalen Wettbewerb abzielenden Schumpeterianischen Leistungsstaat. Die Nationalstaaten sind damit zunehmend Regelnehmer der Globalisierung und nicht mehr Regelmacher. Die Neubegründung öffentlicher Aufgaben muss daher stärker als bisher auch die Frage nach der Entstehung der Regeln und den dahinter stehenden Kräften stellen, wenn eine weitere Aushöhlung des europäischen Wohlfahrtsstaatsmodells verhindert werden soll. Angesichts der Zurückdrängung des Wohlfahrtsstaates europäischen Zuschnitts sowie des Fortschreitens der europäischen Liberalisierungspolitik und des geringen Gegendrucks von links stellt sich die Frage, ob der optimistische Befund Barr’s über den Bestand des Wohlfahrtsstaates berechtigt ist, vor allem angesichts des Mankos der Barr’schen Analyse, dass weder politische Träger des Wohlfahrtsstaates noch die politischen Veränderungen zur monopolaren Weltordnung des „Washington-Consensus“ angesprochen werden (Matzner, 2002c). Politischer Optimismus ist – so Matzner (2002b) – nur dann angesagt, wenn sich zum einen die neue politische Bewegung bestehend aus Gewerkschaften und der so genannten Zivilgesellschaft die Argumentationen der Barr’schen Analyse für einen globalen Vorstoß zu einer Offensive zu Nutze machen würde. Mehr denn je bedarf es einer Staatsdebatte, die in groben Zügen skizziert wurde. Der Fortbestand des Wohlfahrtsstaates europäischen Zuschnitts bedarf zum anderen des Kampfs um die öffentlichen Güter und Dienstleistungen, der zu einem – weltweit vernetzten – Kernanliegen fortschrittlicher, kollektiver Organisationen – Gewerkschaften, Arbeiterkammern, Parteien – werden muss. In beidem stimme ich Egon Matzner völlig zu.
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Sozialkapital Sein Wert zeigt sich besonders, wenn es schwindet Ernst Gehmacher
Mir geht es darum, meine ganz persönliche Sicht von der Bedeutung des Wissenschafters und politischen Denkers Egon Matzner zu vermitteln – und dennoch alle meine persönlichen Beziehungen zu ihm dabei aus dem Spiel zu lassen. Um das fertig zu bringen, seien einleitend in gebotener Kürze meine emotionalen Bezüge zu Egon Matzner seziert, sozusagen aus dem Corpus meiner Interpretation des politisch-gesellschaftlichen Werks von Egon Matzner herausoperiert. Mir liegt an einer möglichst „wertfreien“ Betrachtung, weil ich seinem Gedankengebäude so großen Wert für die Evolution der modernen Gesellschaft beimesse. Mein spezifischer Arbeitsschwerpunkt in den letzten zwei Jahren, seit ich am OECD-Programm „Measuring Social Capital“ mitarbeite, hat diese Übereinstimmung noch verstärkt. Doch möchte ich klarstellen, dass diese Bewertung seiner „Philosophie“ nicht nur aus meiner persönlichen Beziehung zu ihm hervorgeht. Meine Beziehung zu Egon Matzner war über Jahrzehnte durch die Gefühlselemente Hochachtung und eigenes Minderwertigkeitserlebnis, Kameradschaft mit Distanz, allmähliche Verfremdung mit wachsender geistiger Übereinstimmung geprägt. In Kontakt kam ich mit Egon über Politik und Partei, in der Kreisky-Ära, als ich, schon nach meiner Tätigkeit als Gutsadjunkt auf dem Gutenhof in Himberg auf Fahrrad-Distanz von Wien und nach meiner Zeit als Redakteur der „Arbeiter-Zeitung“, als Meinungsforscher im Institut für Empirische Sozialforschung (IFES) des Karl Blecha Soziologie an der Univerität Wien studierte. In den Jahren nach 1970, als Karl Blecha immer mehr in die Politik geholt wurde, wandte sich mein Interesse stärker der methodischen und theoretischen Auseinandersetzung mit dem Funktionieren von Marktwirtschaft und Staat zu, im Kontext meiner zunehmenden Verantwortung für die angewandte Sozialforschung im Auftrag von Unternehmen, Verwaltung, Bildungssystem und Partei. Und da begegnete ich, noch immer Student, nun den um zwölf Jahre jüngeren Professor Egon Matzner. Sein ökonomisches Wissen, seine einflussreiche Beziehung zu Kreisky und seinem Team und seine persönliche lockere Sicherheit imponierten mir. Und als Kreisky ihn 1978 mit der Koordination bei der Erarbeitung des SPÖParteiprogramms betraute, sah ich in ihm fast so etwas wie die Verkörperung der sozialdemokratischen „Lehre“.
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Nicht, dass ich damit voll einverstanden gewesen wäre. Als biologisch ausgebildeter Agrar-Ingenieur habe ich seit jeher in Begriffen der Evolutionstheorie gedacht und Sympathien für die aufkommende Grünbewegung gehabt. Die etatistische „Linke“ in der SPÖ stand mir daher nie sehr nahe – obwohl ich auch die revolutionäre Dynamik und die Architektur eines perfekten Wohlfahrtsstaates durchaus als Faktoren im Kräftespiel der kulturellen Evolution verstehe. Und ich hielt damals Egon Matzner für einen „Linken“. Allerdings bewunderte ich zugleich seine komplexe Denkweise, die nie fundamentalistisch wurde. Mit meiner hausbackenen Umfrageforschung und den für den Gebrauch simplifizierten Theorien der Gesellschafts- und Meinungs-Steuerung kam ich mir in den politischen Diskussionen der Siebziger- und beginnenden Achtzigerjahre ziemlich „bloßfüßig“ vor. Ich war kein „Anhänger“ von Egon Matzner. Erst über die Begegnungen in der Arbeit für die Partei kamen wir einander auch menschlich näher. Auch ein Skitourenurlaub in der Silvretta, gemeinsam mit Parteifreunden aus Vorarlberg samt Familien, gehörte zu dieser politischen Atmosphäre der großen Ideen und Hoffnungen und der langen Diskussionen im Freundeskreis. Die Aufschwungphase der sich anbahnenden globalen Technologiegesellschaft beschwingte uns und ließ die Grenzen zwischen Parteigenosse, Bergkamerad und Freund verschwimmen. Doch ins Private ging diese Beziehung von mir zu Egon Matzner nie. Als er dann im Jahr 1984 an das Wissenschafts-Zentrum Berlin ging, wurde unser Kontakt dünn. Wir begegneten uns nur mehr gelegentlich, einmal in Berlin, nach 1991 nur mehr eher zufällig, an der TU Wien – wo ich damals auch noch Lektor war – und bei wissenschaftlichen und politischen Veranstaltungen. Aber in meiner „Weltanschauung“, in der wissenschaftlich theoretischen Interpretation der „großen Fragen“, kam ich ihm immer näher. Und ich begann in den letzten Jahren, mit den immer deutlicher werdenden großen Herausforderungen der gesellschaftlichen Evolution und mit meiner eigenen Wendung zu einer neuen Art von aktivierender experimenteller Sozialforschung, in dem Werk von Egon Matzner immer mehr richtungsweisende Antworten auf die Probleme der kulturellen Evolution zu finden. Meine rezente Beschäftigung mit der innovativen Sozialkapital-Theorie hat mir dabei auch noch neue Blickwinkel geöffnet. Und darauf möchte ich hier, kurz und deutlich, eingehen und aufmerksam machen. Vielleicht kann das dazu beitragen, den bitter notwendigen Erkenntnisprozess der Politik in der Modernisierung etwas zu erleichtern und zu beschleunigen.
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Kulturelle Evolution bedeutet, dass die wesentlichen Gesetzmäßigkeiten der biologischen Evolution auch für die Entwicklung von Kulturen, also der Lebens- und Funktionsformen von Sozietäten gelten: − existentieller Wettbewerb von ständig oder sporadisch auftretenden Innovationen (Mutationen) − mit lebensraumbedingter Selektion und Verstärkung besser angepasster Formen, − Koevolution in Symbiosen, − Expansion bis an die Grenzen − und natürliche, oft sehr „harte“ Regulation. Die Entwicklung geht zu immer komplexeren Lebenssystemen (Kulturmustern), die aber der weniger komplexen Formen vielfach bedürfen, sie aber auch bekämpfen (biologisch: Mensch-Nutztier-Darmbakterium, kulturell: Hochkultur-Alltagskultur-Triebventile). Nun hat das vergangene zwanzigste Jahrhundert sichtlich einen Evolutionsschub an technologischen und sozialen Neuerungen und Mutanten gebracht, den es erst zu bewältigen gilt. Wenn die system-eigenen Anpassungskräfte das nicht leisten, wird die Kultur von den Mechanismen der Natur gnadenlos zurückgestutzt – wie das die europäische Dominanzkultur in zwei Weltkriegen erlitten hat. Die entscheidende Innovation des Halbjahrhunderts danach war die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates in einem friedlich geeinten Europa. Ein erfolgreicher Evolutions-Schritt, zweifellos. Doch die globale technische Entwicklung überrollte zum Ende dieses Jahrhunderts die nationalen Wirtschaftsmuster und Ordnungsstaats-Systeme mit einer Weltmarktwirtschaft und der Lockung der Konsumenten-Demokratie, welche nicht nur den Kommunismus obsolet machte und den „asymmetrischen“ Terrorkrieg entzündet hat, sondern auch das „Sozialkapital“ der Wohlfahrtsstaaten aufzulösen droht. Diese Gefahr wird heute mehr und mehr erkannt, ihre Kausalitäten und Konnexe sucht man eher in jeweils aktuellen Einzelaspekten, Rezepte dagegen kommen aus dem politischen Hausmittel-Repertoire. Egon Matzner hat diese bedenklichen Zusammenhänge sehr früh durchschaut. Schon in seinem Buch „Modell Österreich“ (Wien 1967), wo er Schweden und Österreich vergleicht, plädiert er für eine „Rationalisierung der Wirtschaftsprozesse“ mit „Berechnung der wichtigsten Auswirkungen wirtschaftspolitischer Maßnahmen“ in allen Bereichen. Und er gibt auch schon der „Anpassung an den Weltmarkt“ (S. 95) großes Gewicht. Zu einer vollen Problemsicht kommt Egon Matzner dann „in einer Zeit, in der die Finanzkrise des Staates, insbesondere seiner Wohlfahrtseinrichtungen, voll entbrannt ist“, in der Publikation „Der Wohlfahrtsstaat von morgen – Entwurf eines zeitgemäßen Musters staatlicher Interventionen“ (Wien
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1982). Er analysiert die Zyklizität der gesellschaftspolitischen Konjunktur: der Wohlfahrtsstaat wird zum „Opfer seines Erfolges“ (S. 22) – seine „Methoden verlieren Wirksamkeit, werden Ursachen von Problemen“ (S. 26) und vor allem die „autonome Versorgung, der vergessene Sektor, (wird) sträflich vernachlässigt“ (S. 27). Gegen die „Sklerose der Institutionen“ schlägt er „fachübergreifendes Denken“ vor. Und die damals beginnende Konfrontation von Staat und Markt geißelt er als „Fetischierung“ dieser Begriffe (S. 25). Das Buch – ein Sammelband mit acht Ko-Autoren – behandelt ausführlich und in allen Aspekten die Rolle von öffentlichem und privatem Gut, samt den Mischformen, und führt über vielfache Analysen einzelner Fachbereiche zu der optimistischen Vision, „dass die Menschheit in den nächsten dreißig oder vierzig Jahren zu einer neuen Art von Zukunft vorstoßen“ wird , zu einem „Schritt nach oben auf der Leiter des evolutionären Fortschritts“ (S. 376). Von dieser Frist sind nun mehr als zwanzig Jahre verbraucht. Und die Evolution der Globalisierung und Technisierung läuft der Politik davon, die sich immer noch nicht auf die „Leiter“ wagt, die Egon Matzner gezeigt hat. Was sind nun die Sprossen jener Leiter, die vor der steigenden Sintflut der „Sklerose der Institutionen“ und der „Kostenkrankheit“ (S. 117), der Arbeitslosigkeit, des Werteverlustes, der Bürokratisierung des Staates und der Verwilderung der Marktwirtschaft – und damit der „Gefährdung der Basisinstitutionen“ – den rettenden Aufstieg bietet? Auf die wesentlichen Domänen konzentriert, lassen sie sich in einigen Schlagworten fassen, die heute noch aktueller sind als 1982: − Integration und Ausbau des „autonomen Sektors“ – des „dritten Sektors“ neben Staat und Markt (NGOs, Selbstorganisation, „Untergrundökonomie“); − Stärkung der „Do-it-yourself-Gesellschaft“ (Eigenarbeit, Subsistenzwirtschaft, Hauswirtschaft, Nachbarschaftshilfe); − Erkennen und Anerkennen von „ökologischen und gesellschaftlichen Grenzen“ in Politik und Wirtschaft; − „Lockerung des Investitions- und Wachstums-Zwanges“ (S. 364); − „Mehrproduktion für Mangelbereiche“ wie Entwicklungsgebiete und benachteiligte Gruppen – „friedliche Gesellschaftstransformation setzt voraus, dass die Verlierer des Prozesses nicht revoltieren“ (S. 365); − „mehr Optionen“, aber „weniger Bindungen und Bezüge“, flexibles Experimentieren und Ansteuern des „Nutzenoptimums“ (S. 216); − Konfliktkultur durch „neuen Basiskonsens“ – „nicht als Ausfluss einer wirklichkeitsfremden Harmonie-Illusion“ (S. 375). Diese Orientierungen weisen in die Richtung einer globalen Solidarität (über den Nationalstaat hinaus) und einer Wirtschaftsordnung nach den Grundsät-
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zen „rationaler Nachhaltigkeit“, in der Staat, Markt und autonomer Sektor in steter Anpassung kooperieren. Der heute modern werdende Begriff „Sozialkapital“, als Signal eines neuen „Basiskonsenses“ über die Notwendigkeit von Gemeinschaftsstrukturen auf allen Ebenen von den Primärgruppen bis zur Menschheit, wurde von Egon Matzner durch seine ständigen Hinweise auf „illusionsfreie“ Vertrauensbeziehungen (im Sinn der Kooperation und Nicht-Defektion im „Prisoners’ Dilemma“) schon damals vorweggenommen. Die Schlüsselbegriffe der nun von der OECD als notwendiges Heilmittel gegen das Zerbröseln des „Kitts der Gesellschaft“ propagierten Sozialkapitaltheorie decken sich weitgehend mit den Postulaten Egon Matzners aus dem Jahr 1982: − TNT („ties“, „norms“, „trust“) als „Basiskonsens“ − auf den drei MMM-Ebenen – im autonomen Sektor der Mikro-Ebene, im Marktsektor der Meso-Ebene und im Staats-Sektor der Makro-Ebene; − die Unerlässlichkeit der Harmonisierung dieser drei Ebenen − und die Gleichachtung des „Bonding“ in der eigenen Sozietät und des „Bridging“, der „brückenschlagenden Kooperation“ zwischen den kontakt-habenden Kontrahenten. All das hat immer zu den dringenden Botschaften Egon Matzners gehört. Doch er ist dort nicht stehen geblieben. In seinem Buch „Monopolare Weltordnung – Zur Sozioökonomie der US-Dominanz“ (Marburg 2000) – noch vor dem Alarmsignal des 9. September, aber doch schon ganz aktuell – geht er auf die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer neuen Weltordnung ein. Im Detail. Doch hier sei wieder nur auf seine große Schau verwiesen, die mich als Richtungsweisung für die Zukunft beeindruckt. Er fordert „Situationslogik“ (S. 37). Er betrachtet den evolutionären „Systemwettbewerb“ im historischen Verlauf und macht aufmerksam, dass mit der modernen Mobilitäts- und Kommunikationstechnologie dieser Wettbewerb global geworden ist, also eine neue und endgültige Dimension erreicht hat. Der Wettlauf der Kulturen hat sich im letzten Halbjahrhundert vom „Kampf gegen die Armut“ durch Wirtschaftswachstum, über den „Kalten Krieg“ um technologische Dominanz, zur „Standort- und Währungskonkurrenz“ um Produktions- und Kultur-Monopole entwickelt. Doch letztlich, schließt Egon Matzner, seien „Aufstieg und Niedergang vom Engagement der Bürger abhängig“ (S. 53) – also vom Sozialkapital. Die kulturelle Evolution ist ein Nicht-Nullsummen-Spiel: mit Kooperation gewinnen alle, ohne Kooperation gewinnen nur die „Trittbrettfahrer“ des Gemeinwohls und der Nachhaltigkeit– und das (ganz abgesehen vom Dauerschaden für die Gemeinschaft) auch für sich selbst nur kurzfristig, da mit dem Verlust des reziproken Vertrauens schließlich alle einander schaden und „draufzahlen“. Am Niedergang der Ideologien zeigt Egon Matzner das deutlich auf.
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Ernst Gehmacher
Doch wie wird Kooperation und Bürgermotivation geboren? Im Übergang zum dritten Jahrtausend warnt Egon Matzner vor jeder Millenniums-Stimmung, sowohl der Apokalypse wie des Wolkenkuckucksheims. Sein Rezept heißt „Sisyphus als Optimist“ (S. 69). Nur keine Endlösungen und keine Planwirtschaften. „Jeder zentrale Plan lässt vorhandenes Wissen in großem Stil ungenutzt“ (S. 77). Säuberliche Trennung der Politik-Ebenen als „mehrstufiges Programm“ – nur-binnenstaatliche Aufgaben, Nur-EUAgenden, nur-internationale Vorgangsweisen, aber aufeinander abgestimmt (S. 71). „Aufgabe der Politik ist es, die angemessene Entsprechung von Konkurrenz und Kooperation zu inszenieren“ (S. 160). Auf die Balance der Kräfte kommt es an, die jede für sich allein sich ins Chaos steigern. Sisyphus darf den Stein nicht rollen lassen, aber er darf sich auch keinen Bruch heben. Und das ist nicht banal. Dazu braucht man alles verfügbare Wissen – und oft reicht das nicht aus. Das gilt genau so für die „ausreichende Stabilität der wichtigen Wechselkurse“ wie für die „Verhandlungspflicht für Arbeitszeitmodelle“ (S. 161) oder für ein „globales Geld“ (S. 174), das nicht einfach nur der Dollar, der Euro oder der Yen sein kann. Harmonisierung in ständigem Balancieren von Risiko und Nutzen für alle Ebenen, stetes Erproben des Neuen und Bewahren des Alten, bis das Neue greift, und gleiche Mühe um mehr Wissen und mehr Wohl für alle Menschen, Leistungshierarchie und Gleichberechtigung – das ist die Sisyphus-Arbeit. Dazu „ist ein Wandel in den Köpfen erforderlich“ (S. 160). Hat Egon Matzner vor dieser Herausforderung an den Optimismus letztlich resigniert? In Österreich sicher, für die Menschheit aber wohl kaum. Er starb mitten in neuen Aufgaben und Plänen. Im Unterbewusstsein vielleicht, in der vorrationalen oder trans-rationalen Analyse der Menschheitssituation mag ihn Pessimismus überwältigt haben. Damit schließe ich meine Bemerkungen als Wissenschafter. Als Mensch rolle ich Deinen Stein weiter, lieber Egon. Solange ich noch kann.
„Staat“: was ist das? Und wenn man’s weiß: wie messen? Alfred Franz
Der Staat ist nicht einfach ein Naturgegenstand wie ein Berg oder ein Regenbogen (A. Quinton) 1. Einführung Die Beschäftigung mit dem Staat als Gegenstand der Statistik ist so alt wie der Name jener Disziplin selbst, zumindest von deren mitteleuropäischen Anfängen an (Horvath, Seifert, 1980). Historisch gesehen hat sie aber erst relativ spät jene Ausrichtung auf die numerisch-monetäre Seite der Staatstätigkeit selbst gezeigt, wie sie unter Auspizien der modernen, makroökonomisch orientierten Wirtschafts- und Sozialpolitik schließlich bestimmend geworden ist. Diese Ausrichtung hat im Zeichen Europäischer Einigungs-Fortschritte der jüngsten Vergangenheit einen weiteren Schub erfahren, indem makro-ökonomische, auf den „Staat“ bezügliche Größen nachgerade in den Rang erster Überwachungs-Parameter des ökonomischen Wohlverhaltens der Regierungen erhoben wurden (Maastricht-Kriterien; Art. 104 Abs. 2 EG-Vertrag). Als Reflex der nunmehrigen Rechtswirksamkeit der Ergebnisse hat die Richtigkeit der statistischen Erfassung des Staates eine ganz neue Qualität, ja Brisanz erlangt. Zur Standardisierung („Harmonisierung“) der Messung konnte man sich auf Regelwerke wie das schon länger angewendete Europäische System der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR: ESVG 1995) stützen, in der Folge ergänzt um Handbücher, insbesondere zu Defizit und Schuldenstand des Staates (Eurostat, 2002). Mit diesen Standards sind viele Fragen der Begriffsbestimmung, der Abgrenzungen im Einzelnen, der Untergliederung und der Präsentation verbindlich geregelt und gelöst, aber – wie bei ausgewachsenen Regelwerken dieser Art nicht anders zu erwarten – andere auch neu entstanden. Eine Diskussion der damit einhergehenden wissenschaftlichen wie der praktisch-operativen Fragestellungen kommt allmählich in Gang (CEIES, 2004; Stübler, 2004). Es kann nicht der Sinn dieses Aufsatzes sein, die ganze Breite des Themas auszuleuchten, das vom ontologischen Verständnis der „Natur“ oder des „Wesens“ des Staates, über alle die verschiedenen Äußerungen der Staatstätigkeit, ihre juristischen Kriterien bis hin zu rein numerischen Anknüpfungen reichen könnte. Vielmehr sollen einige mehr grundsätzliche Gesichtspunkte herausgegriffen werden, die sich wie ein gemeinsamer
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Alfred Franz
Nenner in allen statistischen Übungen dieser Art immer wieder finden, die immer wieder auch Zweifel an der Richtigkeit und Sinnhaftigkeit gegenwärtiger Regelungen und Praktiken hervorrufen und die daher nicht nur für den Statistiker selbst von Interesse sein sollten. Und wenn das Ergebnis ungefähr so herauskommen sollte: „Öffentliche Dienste – Staat – Öffentlicher Sektor: die neuen Identifikationsprobleme sind die alten!“ – einen Zeugen jener jahrzehntelangen Debatte wird's nicht wundern. In diesem Sinne werden nachstehend zunächst einige Vorfragen bzw. einiges Grundsätzliche rekapituliert, insbesondere die Lehre von den „Statistischen Einheiten“ (Kapitel 2). Auf dieser Grundlage wird sodann die Unterscheidung „Markt“ vs „Nicht-Markt“ als die Zentralfrage ausführlicher diskutiert, wofür vor allem verschiedene Seiten des sog. „50 %-Kriteriums“ näher beleuchtet werden müssen (Kapitel 3). Eine Analyse des ganzen Satzes dieser übergeordneten Zuordnungskriterien in Anwendung auf den Staat soll das Ergebnis durchschaubar machen (Kapitel 4). Im Hinblick auf Auswirkungen auf die statistischen Größen könnte von besonderem Interesse die Diagnose jener Spielräume für politisches Handeln sein, die sich in dem Gefüge von normativ verbindlichen Konzepten noch immer ergeben: einige z. T. eher unkonventionelle Schlussfolgerungen leiten sich ab (Kapitel 5). In größerem Umfange werden Diagramme verwendet, um die nicht immer ganz einfachen Zusammenhänge besser zu veranschaulichen. 2. Präliminarien und Grundsätzliches Hier gilt es zunächst, die begriffliche Ausgangsbasis und die Ansatzpunkte einer jeden Statistik des Staates zu rekapitulieren. Wie in allen anderen Zweigen der Wirtschafts- und Sozialstatistik ist beim Staate die Unterscheidung von Bestands- vs. Stromgrößen allgemein anwendbar (und von Belang für die Maastricht-Kriterien). Sie stehen untereinander oft in einem Interdependenz-Verhältnis (eins kann durchs andere definiert werden), aber mit einem Vorrang für erstere: sie allein können auch für sich alleine definiert (d. h. statistisch gesehen: erhoben) werden. Eine bestimmte Kategorie davon ist hier von dem größten Interesse, nämlich die sog. „Statistischen Einheiten“ (SE), das sind die nicht weiter auflösbaren Elemente, die als die über die Referenzzeit der Erhebung hinweg bestehenden Merkmalsträger zuallererst der Gegenstand der statistischen Erhebung sind. Wie üblich können die Merkmale (Variablen) qualitativer oder quantitativer Natur sein. Entscheidend ist ihr Verhältnis zur SE: wenn sie ohne „gewaltsame“ oder künstliche Eingriffe nicht weiter mehr zurückgeführt werden können, hat man es mit einer SE zu tun. Staat, Staatstätigkeit äußert sich in vielerlei Gestalt: normativ als die Rechtsträger und ihre Kompetenzen; faktisch als die Dienststellen und ihre Aktivitäten; dazu kommen rechtliche, budgetäre, betriebswirtschaftliche,
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soziologische Gesichtspunkte und alle möglichen Gegenstände statistischer Beobachtung (Erhebung) und Auswertung (Analyse). Man mag in diesem Sinne von verschiedenen statistischen „Dimensionen“ sprechen (siehe Franz, 2001, Punkt 2.1). Im Rahmen seiner Kompetenzen („was“) gibt es Spielräume der Instrumentierung („wie“) durch die verschiedenen technologischen Optionen bei Durchführung in „Eigenregie“ oder im Wege der Auslagerung und mit jeweils unterschiedlichen Graden von Wirtschaftlichkeit und Zielgenauigkeit. Diese Dimensionen eröffnen Zugangswege der statistischen Beobachtung, zeigen aber noch nicht per se den „harten Kern“: wer/was sind letzten Endes die Akteure, welchen diese Optionen offenstehen? Was unterscheidet sie von anderen in dem Konzert der ganzen Volkswirtschaft? Darauf muss Statistik des Staates eine Antwort geben, wobei von ihr natürlich auch nicht erwartet werden kann, dass sie die Wesensmerkmale selbst vorgibt. Letztere sind bloß begrifflich so aufzubereiten, dass sie statistisch anwendbar sind. Ein wesentlicher Begriff dieser Art ist der „Sektor“1, in der neueren VGR mit der besonderen Bedeutung einer Zusammenfassung aller SE, die jede für sich juristisch den Charakter eines rechtsfähigen, (m.o.w.) autonomen Entscheidungsträgers haben („institutionelle“ SE, ISE).2 Auf dem Gebiete der Unternehmen oder der privaten Haushalte ist die statistische Situation ziemlich klar: die Gesamtheit aller Kapitalgesellschaften im Lande; oder alle Haushalte, usw.; alle zunächst einzeln beobachteten SE verschmelzend zu einem großen Ganzen wird die statistische Gesamtheit eben wie ein Ganzes behandelt, das selbst als ein „Akteur“ fingiert wird: „Sektor“. Untergliederungen, z. B. nach Branche (bei den Firmen) oder sozialer Stellung (bei den Haushalten) werden auf dieser neuen Ebene analog behandelt. Die Situation ist etwas anders beim Staate, wo es von Haus aus schon immer (begriffsnotwendig) eine SE gibt, welche per se die oberste umfängliche Zusammenfassung und also einen „Sektor“ darstellt (z. B. Bund). Kraft dieses Ranges kommt für diese das Schwerpunktprinzip nicht in Frage, es muss durch und durch von dieser „Staatsqualität“ sein. Auf den unteren Ebenen eines Staatsgefüges kann die Situation ganz ähnlich herauskommen wie zuvor, weil es dort eine größere Anzahl von Rechtsträgern gibt (Länder; insb. aber Gemeinden) und viele periphere Einheiten zum Vorschein kommen. Die Gesamtheit der Länder (der Gemeinden, usw.) entspricht aber umfänglich genau dem Bund. Bildet man einen Sektor „Gesamtstaat“, so ergibt sich daraus für diesen eine innere Struktur von Staats-Ebenen. Die statistische Unterscheidung von Sektor vs. SE ist übrigens gleichbedeutend mit der Unterscheidung Makro- vs. Mikro1 Die betreffenden Abgrenzungen wurden in Österreich in den 80er-Jahren erarbeitet, damals auf Basis des UN-Systems (SNA 1968). Siehe ausführlicher Franz, 1986, und die dort zitierte Literatur (S. 186–197). Dort ist auch das Ebenen-Konzept näher ausgeführt. 2 Aktuell dazu: K. Dublin et al., 2004, p. 21.
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Ökonomie. Die Anzahl der in einem Sektor aufgegangenen SE kann selbst ein interessantes Merkmal sein; auf der obersten Ebene ist es leer. Oder anders herum: je mehr ISE unter einem Sektor auftauchen, umso kleiner muss jede einzelne sein. Die inneren Strukturen in einem Sektor sind auch deswegen interessant, weil es zwischen den im Sektor ganzheitlich zusammengefassten, sozusagen darin eingeschmolzenen (amalgamierten) SE zumindest ursprünglich Transaktionen (z. B. Umsätze) gegeben haben wird, die durch diese Zusammenfassung heraus-“konsolidiert“ wurden. Sektorbegriffe für solche statistische Merkmale sind also höchstens gleich groß, meist aber kleiner als vor Konsolidierung („netto“ vs. „brutto“). Die Welt der SE besteht nicht nur aus Rechtsträgern, sondern auch aus jenen SE, welche die Stätten der tatsächlich ablaufenden Prozesse der Erzeugung (also der Arbeit) und des Verbrauches sind („funktionelle“ SE) – im Falle des Staates unterhalb der Rechtsträger: ihre Dienststellen (Ämter, Kasernen, Gerichte, usw.), auch sie Bestandsgrößen und also unmittelbar geeignet für statistische Erhebung. In der Terminologie des ESVG handelt es sich um „örtliche Aktivitätseinheiten“ (local kind of activity units; LKAU). Daraus ergibt sich eine zusätzliche Möglichkeit der statistischen Beobachtung im Sektorverbande, zumindest für jene Merkmale, die nicht juristisch gänzlich in die Ebene der institutionellen Träger entrückt sind. Hier ist die Detailgenauigkeit regional und nach Aktivität (im Unternehmensbereich würde man sagen: „Branche“) automatisch größer, und es gibt daher spezielles analytisches Interesse. Was die Konsolidierungseffekte anbelangt, ist die Situation analog wie zuvor, aber entsprechend der größeren Anzahl der funktionellen SE automatisch umso größer. Zwischen den institutionellen SE und den funktionellen SE bestehen wohldefinierte Beziehungen, i. S. einer Über-/Unterordnung und immer nach dem Muster 1:n, n>1. Es ist daher zweckmäßig, zwischen den zwei unterschiedlichen Ebenen der Betrachtung nach funktionellen (I) und institutionellen Gesichtspunkten (II) zu unterscheiden, und zwar unabhängig von jenen Ebenen, wie sie in einem föderalen Staatsgefüge normalerweise sonst noch unterschieden werden: Ebenenbegriffe I und II lassen sich auf jeder verfassungsmäßigen Ebene, mikro- und makro-mäßig anwenden. Die SE I (LKAU) sind zu SE II (ISE) zusammenfassbar; analog die Summe der SE I zu Sektoren II, mit genau symmetrischer Korrespondenz I II. Diese dabei entstehenden Komplexe stellen Kontroll-Cluster dar, die erkennbar werden bei einem Bottom-up-Vorgang, aber verdeckt sind top down.3 3 Die einschlägige, nun gültige Europäische Legistik zum Komplex der staatlichen SE und Sektoren ist in den erwähnten Instrumenten zu finden: ESVG S. 19 ff. u. 28 ff. bzw. 33 ff.; ausführlicher im Manual, Kapitel I.1 (nur zu ISE und Sektoren). In weiterer Folge ist auch die Entwicklung des „50 %“-Kiteriums zu berücksichtigen, die in das Kapitel „Produktion und Output“ eingewoben ist (§§ 3.32 ff.).
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3. Markt – Nicht Markt: Die Zentralfrage 3.1 Das Ergebnis der Prämissen A. Mit dem obigen Begriffs-Inventar lässt sich die Gesamtsituation veranschaulichen (Abb. 1)4, hier zweckmäßigerweise top down (vgl. unten Punkt E). „Öffentlicher Sektor“ (ÖS) ist nur für die Ebene II definiert, nach dem Kontrollprinzip. Dazu gehören zunächst die ISE, welche unter der Marke „Staat“ schlechterdings erwartet werden: Gebietskörperschaften und andere Rechtsträger, Anstalten, Fonds, die von der Rechtsordnung mit Rechtspersönlichkeit ausgestattet worden sind und in einer Weise zumindest potentiell Anteil am staatlichen Gewaltmonopol haben (SNA 95, § 4.104; GFS § 2.20). Dazu zählen gegebenenfalls auch Organisationen ohne Erwerbszweck, die unter staatlicher Kontrolle und mit staatlichen Finanzierungsmitteln tätig sind (Non-profit Institutions: NPI). Ein weiterer Block von ISE im ÖS sind die „Öffentlichen Unternehmen“, entweder regelrechte Kapitalgesellschaften (AG, GmbH) oder aber betriebsmäßig abgegrenzte Organisationseinheiten, denen so viel Autonomie zugestanden ist, dass sie statistisch „quasi“ wie Kapitalgesellschaften behandelt werden können. Es ist intuitiv unmittelbar klar, dass gerade hier kritische Bruchlinien der Abgrenzung verlaufen. B. Unterhalb des Blocks II (ÖS) finden sich die SE der Ebene I (LKAU). Begriffsnotwendig muss es zu jeder ISE mindestens 1 LKAU geben (1:1). In diesem Fall sind die LKAU unterhalb staatlicher ISE automatisch „NichtMarkt“-Einheiten (NM), jene unterhalb Kapitalgesellschaften automatisch „Markt“-Einheiten (M) und Kriterien der Entscheidung über Marktmäßigkeit sind auf beiden Ebenen gleichermaßen anwendbar. Anders im 1:n-Fall (bei n > 1). Abermals gibt es gewisse Begriffsnotwendigkeiten: Es muss sich nämlich unter den mehreren LKAU eine als die hauptsächliche identifizieren lassen, und diese ist im Falle „Staat“ automatisch NM. Hingegen könnte eine andere (nicht hauptsächliche) LKAU durchaus M-Charakter haben.5 6 1:n im Fall der Kapitalgesellschaften ist einfacher: diese LKAU sind immer M.
4 Bei den Diagrammen ist für eine Mischung von englischen und deutschen Fachausdrücken um Nachsicht zu bitten – eine Folge eingefleischten Jargons der mit diesen Fragen befassten Statistiker; manchmal auch klarer, wenn die englischen Termini mit keinen einheimischen, oft irreführenden Konnotationen belastet sind. 5 Für diese Situation hatte die „Government Finance Statistics“ des IMF die Bezeichnung „departmental enterprises“ vorgeschlagen; nunmehr: „market establishments“ (GFS, 2001, § 2.37). 6 Wenn sich die prinzipielle LKAU als marktmäßig (M) herausstellen sollte, liegt anscheinend ein Irrtum bei der Einschätzung der Natur der korrespondierenden ISE vor (wäre vermutlich als Quasikapitalgesellschaft zu klassifizieren).
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Abbildung 1: Staat – Öffentlicher Sektor: Strukturen und Entsprechungen Sektor
II
ISE
Öffentlicher Sektor (Public Sector) Staat (General Government) NPI
Government bodies (by levels, etc) Quasi-Kap.G. Kap.Ges.
1:1 LKAU
I
Öff. Unternehmen
1(NM) : 1(NM)
analogous
1(principal;NM)
analogous
1(principal;NM)
1:1
1:1
1:n
1:n
n(second.;NM) m(second.;M) n(second.;NM)
Quelle: Eigene Darstellung.
C. Was die Reinheit des Sektor-Begriffes anbelangt, ergeben sich damit mehrere Abstufungen (NPI einmal vernachlässigt, vgl. ESA § 3.32b): Auf ÖS-Ebene sind staatliche SE i.e.S. gemeinsam mit Unternehmen versammelt, also ein relativ inhomogenes Ensemble. Scheidet man die regelrechten Kapitalgesellschaften aus, verbleibt ein Sektor-Begriff mit jenen SE, die üblicherweise im Budget abgedeckt sind. Man kann weiters die QuasiKapitalgesellschaften entfernen, um bei einem schon relativ „reinen“ Staatssektor anzukommen. Eine letzte Bereinigungsstufe wäre die Eliminierung der „departmental enterprises“; sie wirkt sich aber konzeptgemäß nur im Ebene-I-Kontext aus. Die Nachbildung der verschiedenen Sektorbegriffe auf Ebene I ist auch sonst nicht weiter schwierig. D. Damit gelangt man zur Entscheidung über die Einordnung von SE, die zunächst einmal als „Kandidaten“ dieses Vorganges identifiziert wurden (Abb. 2). Die Entscheidungskriterien sind Kontrolle (durch staatliche Organe?), Rechtsform (wegen entspr. begriffsnotwendiger Zuordnungen; siehe oben) und Marktmäßigkeit. Letztere ist gemäß dem notorischen 50 %Kriterium zu beurteilen, das noch näher zu diskutieren sein wird (siehe Kap. 3.2). Der Fall der SE als Kandidat für die Identifikation einer Quasi-Kapitalgesellschaft (mittlere Box) stellt sich analog Fußnote 6 dar; begriffsnotwendig kann es sich nur um einen von der betreffenden LKAU, also der Ebene I (!) ausgehenden, solche Klassifizierung nahelegenden Eindruck handeln. E. Die Einordnungen in diesem Prozess wären rein technisch gesehen top down vs. bottom up möglich. Kraft positiven Rechts, und mit gutem Grund, ist bottom up bei der Branchenklassifikation sowieso verbannt (vgl. ÖNACE, Statistik Austria, 1995, S. 30), nun auch unzulässig für die allgemeineren Qualifikationen der hier diskutierten Art (ESA § 3.16). Wie für den Fall der Quasi-Kapitalgesellschaften vorhin angedeutet, wird zu zeigen sein, dass damit jedoch eine nicht wirklich gelöste Problematik einhergeht, weil in diesem Falle der Identifikationsvorgang notwendig umgekehrt verläuft (siehe Kap. 4.1, Punkt D).
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Abbildung 2: Entscheidungskriterien Inst. Einheit Kontrolle ? Staatlich (Public Producer / Public Sector)
Privat
…
Rechtsform ? Staatlicher Rechtsträger (Budget) i.e.S. Quasi-Kapitalgesellschaft?
NPI Marktmäßigkeit? 50% (öff.) MProduzent
50% „Sonst.“ NM-Prod.
KapitalGesellschaft
…
…
Marktmäßigkeit? „Sonst.“ NMProduzent
50% „Sonst.“ NM-Produzent
50% (öff.) M-Produzent
(öff.) MProduzent
(per definitionem)
(per conventionem)
(p.conventionem)
(per definitionem)
…
|<…..……………..“Staat“ im Sinne der VGR………….….…….>| Privatisiert? |<……….….…..….Budget–Block…..………….…>| Unternehmungen in öff. Hand
Quelle: Eigene Darstellung.
Einen Unterschied kann man auch in der zeitlichen Hinsicht erkennen: ex ante vs. ex post. Ex ante stellt sich das Ensemble der zu klassifizierenden SE und damit auch das Profil der Sektoren als in einem gewissen Sinne offen dar, die Zuordnungen müssen anhand der Kriterien erst entschieden werden7. Nur ex post erscheint dieser Vorgang als ein exakter Algorithmus, gewissermaßen die Anwendung von Spielregeln ohne Entscheidungsspielraum (vgl. die Situation Fußnote 6). Abgebildet auf Abb. 2 könnten dafür die Entscheidungskriterien entfallen, die Anordnung ist nur noch eine rein definitorische – mit hierarchischen Untergliederungen in jenen Stufen, die zuvor als Entscheidungskriterien dienten. 3.2 „50 %-Kriterium“ A. Das 50 %-Kriterium ist der Angelpunkt der M-NM-Unterscheidung und muss daher hier etwas genauer angesehen werden, nicht zuletzt, wenn die Anwendung auch im heimischen Kontext nun voll zum Tragen kommt (Koller, 2004; Stübler, 2004). Im ESVG kommt seine Definition in zweifacher Anwendung vor: produkt-bezogen und institutions-bezogen. Von Bedeutung sind weiters einige Qualifikationen, die im Hinblick auf die praktische Seite gemacht wurden. Kurz resümiert:
7 Die „Kandidaten“ sind auch tatsächlich nicht immer unumstößlich fixiert, in Zweifelsfällen mag so oder anders abgegrenzt werden (sofern es die Daten erlauben).
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a) § 3.19 erklärt als „ökonomisch signifikant“ Verkaufs-Preise von anderen ISE als den Haushalten (also, positiv gesagt: (Quasi-)Kapitalgesellschaften, PNPISH8 und staatliche ISE9), wenn die betreffenden Verkäufe mehr als die Hälfte der Kosten decken; b) §§ 3.32 & 3.33 sehen das analoge Kriterium vor für die Einstufung der ISE als ganzes, auf Grundlage des Verhältnisses von deren Verkaufserlösen zu den Produktionskosten (mindestens 50 % Abdeckung);10 c) Das Kriterium findet Anwendung auf ISE (Ebene II; §§ 3.27 ff.) wie auf LKAU (Ebene I; §§ 3.38 ff.); d) Das Kriterium soll nicht pedantisch, von Jahr zu Jahr, angewendet werden, sondern nach dem Eindruck, der sich nach einer mehrjährigen Beobachtung ergibt (§ 3.33); e) Wenn auch eine streng produkt-(verkaufs-)bezogene Anwendung im Prinzip der richtige Vorgang wäre, so wird eine mehr summarische, auf dem gesamten Output als Ganzem bzw. den gesamten Kosten als Ganzem beruhende Einschätzung zugelassen (§§ 3.43–45). Es ist auch zu beachten, dass die Bemessung der Outputs zu Basispreisen (§ 3.33; traditionellerweise ungefähr „Faktorkosten“) durch die Einbeziehung der produktbezogenen Subventionen oft an die volle Kostendeckung heranführen wird. Die 50 %-Regel wird daher oft nicht unrealistisch sein; aber im vorliegenden Zusammenhang geht es ums Prinzip. B. Die bestehenden Regelungen können dahingehend zusammengefasst werden, dass es im Prinzip erforderlich wäre, von den Mikro-Vorgängen (Verkäufe; zugeordnete Kosten) auszugehen; dass aber eine Zusammenfassung auf die Ergebnisse der einzelnen SE als Ganze zulässig ist; dass damit ein Test im Prinzip für die einzelne SE vorzunehmen ist.11 Klar sind auch die Anwendbarkeit auf beiden SE-Ebenen (I, II) und eine gewisse Ausrichtung auf Nachhaltigkeit der darauf basierten Einstufung. Die praktischen Vorteile eines Satzes verständlicher Regeln dieser Art sind offenkundig, es besteht auf Europäischer Ebene erklärtermaßen auch keine Absicht, die Diskussion darüber wiederzueröffnen (vgl. CEIES, 2004, S. 66 und 207). Trotzdem wird man ein gewisses Unbehagen bei einer schematischen Zuordnungsweise wie dieser, die allein vom Vorwiegen der Verkaufserlöse bestimmt ist, nicht los: Mag doch der innere Charakter der SE auch über diesen Schwellenwert hinaus von Normen ganz anderer Art bestimmt sein, worauf die Gestion der SE durchaus Rücksicht zu nehmen hat. 8 Private Non-Profit Institutions Serving Households. 9 Produzierende Haushalte gelten per definitionem als marktmäßige SE (§ 3.30). 10 Eine Reihe von weiteren Spezifikationen zur Abgrenzung der Erlöse bzw. der Kosten wird dort ebenfalls gegeben, kann für die gegenständliche Diskussion aber außer Betracht bleiben (indirekte Steuern, Subventionen; Verlustabdeckung). 11 Nach Quellenlage mag gelegentlich der Test nur auf Aggrgate von SE zur Anwendung kommen können.
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Umso wichtiger ist es, die Folgen der bestehenden Regeln, die Einschränkung ihrer Anwendung und dabei schon heute notwendige Anpassungen – also das wirkliche Anwendungsgebiet des Kriteriums – zum Vorschein zu bringen. Hiefür können auch als Gedankenexperimente durchgespielte Modellvorstellungen und Alternativen hilfreich sein. 4. Anwendung 4.1 Tests A. Nach dieser kleinen Diskussion der Präliminarien und Kriterien der M- vs. NM-Unterscheidung überhaupt wenden wir uns der praktischeren Seite ihrer Anwendung auf den „Staat“ selbst zu, samt einigen Schlüssel-Problemen, die dabei zu entscheiden sind. Da die konkrete VGR-Entsprechung von „Staat“ nach alledem nicht einfach ein Reflex der vorfindlichen rechtlichen Abgrenzungen sein kann, ist es auch nicht schon von Haus aus klar bzw. nicht ohne weiteres zu erkennen, wo in einem gegebenen Umfeld staatlicher Einrichtungen, Aktivitäten, Quellen, Daten die Grenzlinien des Staates bzw. des öffentlichen Sektors verlaufen. Vielmehr ist immer eine ins einzelne gehende Überprüfung erforderlich, und zwar prinzipiell aller dieser Erscheinungsformen, zumindest aber jener, denen ein Grenzfall-Charakter eigentümlich ist (Sektor„Test“). Worauf es ankommt, ist das Zusammenspiel der verschiedenen Kriterien solcher Tests. Sie sollen daher hier mit besonderer Blickrichtung auf den Staat rekapituliert werden. Sie sind teils allgemeinerer Art und zuallererst SE-bezogen: Existenz einer solchen („Identifikation“), deren Wesen (Ebenen-“Natur“: Typ I oder Typ II) und ihre Rechtsform, die Wurzel ihrer ökonomischen Abhängigkeit („Kontrolle“). Dann gibt es transaktionsbezogene, und zwar aus dem Produktionskonten-Kontext, nämlich von der Outputseite („Verkäufe“, in englischer Terminologie „Sales“) und von der Inputseite (Produktionskosten bzw. deren Bestandteile) her. Da die M- vs. NMAbgrenzung wesentlich auf das Verhältnis der Verkäufe zu den Kosten abstellt, sollte dieses „staatsspezifisch“ nochmals näher hinterfragt werden (reine vs vermischte SE, mit möglicherweise unterschiedlicher „ZurechnungsTheorie“, marginale vs durchschnittliche Kosten). Hierarchische Strukturen sind gerade im Organisationsgefüge des „Staates“ allgegenwärtig, sie kommen der Anwendung der Tests in Form von „Entscheidungsbäumen“ entgegen. In diesem Rahmen können auch prozedurale Gesichtspunkte und Optionen mit zu überlegen sein, sofern damit die Möglichkeit unterschiedlicher Ergebnisse einhergeht (ex ante – ex post; a priori – a posteriori; de iure – de facto; top down – bottom up...). Im Prinzip sollten die prozeduralen Umstände für die anstehenden Zuordnungen ergebnisneutral sein; eine Beeinflussung allein dadurch, dass man „fündig“ geworden ist, mag aber ebenso wenig ausgeschlossen werde wie der bekannte Einfluss der Schwerpunkt-Zuordnung
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(vgl. ÖNACE, 1995, S. 30). Gegenüber einer bloß statischen Bestandsaufnahme können damit auch mehr dynamische Aspekte für die abgrenzungs“politische“ Intervention deutlicher werden (Gestaltungsspielräume). B. Zur Verkäufe/Kosten-Relation: Die Kosten in einem gegebenen Produktionskonto folgen einer recht klaren Konzeption, mit der Besonderheit der im NM-Sektor ex definitione ausgeschlossenen Betriebsüberschüsse12. Es gilt klarerweise: Kosten = Erlöse. Viel weniger klar ist die Beziehung zwischen der linken und der rechten Seite des Kontos, wenn es um einzelne Komponenten derselben geht (das im Budgetwesen bekannte NonAffektations-Prinzip): 1:1-Relationen werden sich im Allgemeinen nicht identifizieren lassen bzw. wo solches zutrifft, läge eigentlich ein ausgliederbarer Vorgang vor (Durchlauf-Posten). In gewissem Umfang können Relationen der Art „“ oder „“zutreffen, aber selbst dann bleibt jeweils ein ungeklärter Rest, also ein Problem bei der Feststellung des Verhältnisses der Erlöse zu den (zugehörigen) Kosten. Die Verweisung auf „durchschnittliche“ Kosten ist keine Lösung des Problems, weil sie entweder das Ergebnis m.o.w. willkürlicher, schematischer Zurechnungen ohne Erkenntniswert sind oder weil das gleiche Problem dort, von wo der betreffende „Durchschnitt“ herstammen soll, erst recht besteht. Analoges wird vom Verweis auf „analoge“ Situationen zu halten sein. Die Relation „ / “ kann allerdings hilfreich sein, wenn sie im Zusammenhang mit einem analogen Parameter zu verwenden ist, wie im Falle des 50 %-Kriteriums. Die Betriebswirtschaftslehre hat weitere hier nützliche Modellvorstellungen parat, nämlich die Unterscheidung „variable vs. fixe“ Kosten, „marginale vs. gesamte“ Kosten und die Deckungsbeitragsrechnung, als entscheidende Bestimmungsgrundlage der Preisbildung. Wenn sich eine klare Beziehung zwischen Erlösen und Kosten schon nicht (oder höchstens innerhalb breiterer Grenzen) zeigen lässt, so stellt sich die Frage, wie es um das Verhältnis zwischen zusätzlichen Erlösen und zusätzlichen (marginalen) Kosten steht? In diesem Falle könnte zumindest für eine bestimmte Erlöskomponente (z. B. eine Gebühr für eine bestimmte öffentliche Leistung) ein Kostendeckungsgrad von > 50 % behauptet werden, selbst ohne Zuflucht zu zweifelhaften Durchschnittsannahmen. Der Natur der Erfassbarkeit nach dürfte es bei den marginalen Kosten leichter sein, im individuellen Fall etwas derartiges auszuwerten, während vor allem die Fixkosten größere Komplexe repräsentieren, für Zuordnungen der Erlöse nicht weiter zerlegbar und daher am besten nur im größeren Zusammenhang („statistisch“ aggregiert) ausgewertet werden. 12 Gilt strenggenommen nur für die NM-LKAU, während für die sektoralen Zusammenfassungen auch (sekundäre) LKAUs mit Betriebsüberschuss auftauchen können (vgl. ESA-Table A.IV.5/II). Inputs werden hier mit (Produktions-)Kosten; Outputs mit (Produktions-)Erlösen bezeichnet.
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C. Anhand dieser Kriterien lässt sich ein Tableau aufstellen, woraus die verschiedenen, tatsächlich möglichen Situationen bei der Beurteilung der Erlös/Kosten-Relation ersichtlich werden, getrennt nach Transaktionen und nach SE (Abb. 3). Das 50 %-Kriterium kann nun nach diesen Kostenkonzepten durchexaminiert werden. Wenn für die Erlös/Kosten-Relation allein schon für „marginal“ bzw. „variabel“ 50 % herauskommt, ist jedenfalls Signifikanz gegeben. Die Formel wird relativiert, wenn im Marginal- bzw. im variablen Bereich Relationen unter 50 % herauskommen. In diesem Fall muss eine zusätzliche „Theorie“ angerufen werden, die eine Rechtfertigung für Durchschnitts- oder Analogie- oder sonstige Annahmen liefert. Während die Problematik der Zurechnung im Transaktionsfall immer besteht, ist das bei SE nur dann der Fall, wenn der „Kandidat“ der betreffenden Klassifikation von der „vermischten“ Art ist, d. h. wenn es neben den Verkäufen noch andere Outputs gibt (NMO; siehe auch unten Punkt D). Im „reinen“ Fall muss sowieso unmittelbar auf die Relation „Verkäufe:Gesamtkosten“ Bezug genommen werden, die auf dieser Ebene keine Zuordnungsprobleme aufwirft. Im „vermischten“ Fall (z. B. einer spezialisierten Krankenanstalt in der Nähe der 50 %-Kostendeckung) ist eine eindeutige Einordnung schon dann möglich, wenn die Verkäufe unter der 50 %-Marke alleine der entsprechenden variablen Kosten bleiben. Daraus folgt insgesamt, dass die Berücksichtigung der Unterscheidung von marginalen bzw. variablen Kosten in bestimmten Fällen (nämlich, wenn allein schon >50 %) eine Erleichterung bedeuten kann; ansonsten kann sie helfen, die schließliche Entscheidung besser zu fundieren, und mindestens sie transparenter zu machen, abgesehen von einem analytischen Interesse per se. Abbildung 3: M-NM-Analyse: Kosten Object of Observation (Subject of Test) 1 Sales
2 Statistical Unit (SU)
(=Transaction related)
(=Institution related)
With related costs identified 1.1 directly
4
marginal average variable total
Quelle: Eigene Darstellung.
Ind. Sale Aggr. Sale
3
Cost Test “ 50 %“
2
Cost Concepts
1
1.2 by means of analogy
2.1 directly
2.2 by means of analogy
NM?
M; NM
NM? M
M
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Zu diesem gehört auch die in diesem Zusammenhang naheliegende Frage, ob die aktuelle Erlös/Kosten-Relation einen Deckungsbeitrag erbringt. Dessen Fehlen würde auch bei einer Relation „> 50 %“ ein wichtiger Hinweis auf eine andere als wirtschaftliche („kommerzielle“) Gestion sein, also gegen die Anwendung des insofern nicht differenzierenden 50 %-Kriteriums sprechen. D. Am Erlös/Kosten-Test werden zwei weitere, miteinander zusammenhängende kritische Anknüpfungspunkte der SE-Tests offenbar, nämlich die Bezugnahme auf „Kandidaten/-innen“ und deren „Reinheit“ (Unvermischtheit). Obwohl nicht denkunmöglich, spielen derartige Anknüpfungen für die Transaktionen hingegen keine praktische Rolle. Im ersteren Fall stellt sich zunächst die Frage: Welche Konstellationen, die als SE-„Kandidat(inn)en“ in Frage kommen könnten, liegen vor? Im Budget-Kontext mit Sicherheit die obersten, diesen je zugeordneten Rechtsträger, juristische Personen des öffentlichen Rechts in aller Regel, und also institutionelle SE im Sinne der VGR. Ein weiteres Vorgehen auf diesem rein juristischen Wege („top down“) wäre weder ausreichend für die Aktivitätsklassifikation, noch für die feinere Abgrenzung der Sektoren, weil auf diesem Wege keine Kandidatinnen für die Quasi-Kapitalgesellschaften (QK) sichtbar werden; noch viel weniger natürlich die „Departmental Enterprises“ der Ebene I. Man kann allgemein postulieren, dass das Erkennen von QK in jedem Fall vom Vorhandensein mindestens eines ihm korrespondierenden LKAU abhängt. Letztere ist also zuallererst zu testen auf Vorhandensein einer Qualifikation als QK; sie hängt ihrerseits von der Gestion (selbständiges, mit Dispositionsspielraum ausgestattetes „Management“; zumindest begrenzte Verschuldungsfähigkeit; Verfügbarkeit entsprechender Daten nach Art einer handelsrechtlichen Gesellschaft) dieser „Kandidatin“ ab. Wenn diese Bedingungen nicht erfüllt erscheinen, fällt die Kandidatin trotz allenfalls vorhandener, per se qualifizierter LKAU zurück in den Schoß der übergeordneten institutionellen SE. Es erscheint daher hier jedenfalls einmal bemerkenswert, dass im Falle der Suche nach QK bottom up angesagt ist.13 Darüber hinaus ist der „Kandidaten“-Kreis nicht nur auf solche beschränkt, die vom Budget-Rahmen gedeckt erscheinen. Aufgrund der Regel, dass im M-Sektor NM-Aktivitäten ex definitione aus der Betrachtung verschwinden (ESA § 3.39; Table 3.2 und 3.3), gäbe es dann dort überhaupt keine „Kandidaten“ des Tests mehr (oder alle MSE überhaupt wären heranzuziehen). Es bedarf also einer besonderen Regel, um allfällige “Kandidaten“ außerhalb aufzuspüren, die bislang im M-Sektor beheimatet waren, aber möglicherweise inzwischen ihren Charakter gewechselt haben (Verschiebung der Kostenrelation unter 50 %). Sinnvollerweise wird man diese Test-Pflichtigkeit auf den Kreis der ISE unter staatlicher Kontrolle einschränken können, ev. weiter eingeengt auf bestimmte Wirtschaftsklassen, regelmäßige budgetäre Dotierung u. ä. Das prinzipielle Problem, dass es ge13 Vgl. demgegenüber ESA § 3.16, vorletzter Absatz.
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mäß ESA da eigentlich gar nichts mehr zu testen gäbe, also einmal verlorene SE nicht mehr in den Kreis der NMSE zurückkehren könnten, bleibt aber bestehen. E. Die Beurteilung der „Kandidaten“ ist zunächst für diese als solche vorzunehmen, vorbehaltlich ihrer Qualifikation gemäß M vs NM, und erfolgt in dieser Hinsicht anhand von Kriterien, die objektiv und operational erscheinen. Der Statistiker alleine ist oft in weniger einfacher Situation, wenn es eben um die letztere Qualifikation (M vs. NM) geht14. Die Methode per „Kandidat“ ist auch für die Anwendung der Erlös/Kosten-Relation selbst vorgesehen: das Test-Objekt ist ein „Kandidat“, der als SE schon qualifiziert sein mag, oder es kommen beide Kriterien gleichermaßen zur Anwendung. Im ESA werden dazu bestimmte Regeln zur Definition, Vereinfachung des Vorganges bzw. Klärung der Bewertungsbasis (brutto/netto) paragraphenweise abgehandelt, sie können hier übergangen werden (siehe Kap. 3.2, Punkt A). Von größerem Belang sind dabei die Regeln zur nicht weiter zu hinterfragenden Zusammenfassung der verschiedenen „Verkäufe“ (im Einzelnen nicht M-getestet; siehe Punkt e) und die Natur der Abgangsdeckung (nur wenn produktbezogen, als Subvention zu berücksichtigen). Wenn der Erlös/Kosten-Test für den „Kandidaten“ abgeführt und dieser auch sonst als SE qualifiziert ist, ist das Verfahren beendet, mit dem Ergebnis M- bzw. NMSE. F. NMSE haben ex definitione einen bestimmten Gehalt an NM-Output, gemäß 50 %-Kriterium anzunehmen in entsprechender Mindest-Höhe. Falls im Produktionskonto der betreffenden SE ein M-Output vorkommt, nimmt sich der NM-Output definitionsgemäß als „Residuum“ aus, auch wenn er ebenso definitionsgemäß überwiegend sein muss. Da für NM-Aktivitäten nicht immer ein anderer Transaktionspartner auszumachen ist, fingiert die VGR dieses Residuum als „Eigenkonsum“, dessen ebensolcher Charakter (NM) damit noch unterstrichen wird.15 Das Residuum ist zunächst am „Kandidaten“ festzumachen. Tritt keines zutage, dann handelt es sich jedenfalls um einen M-Produzenten; anderenfalls ist zu testen ( / 50 %), wobei eine Zurechnungs-Regel („Theorie“; siehe oben Punkt C) anzuwenden ist, so nicht gedeckte variablen Kosten alleine schon die 50 %-Marke übersteigen. Wenn der Test zugunsten der M-Natur des „Kandidaten“ ausgeht, verschwindet eo ipso der Residual-Output: MSE. Anderenfalls: NMSE. Ein weiteres Zurechnungsproblem bestünde sodann nur, wenn die Verkäufe (als Komponenten des M-Outputs) bei der NMSE einzeln 14 In größerem Umfang in Zusammenhang mit den „Maastricht-Kriterien“ aktuell geworden; vgl. W. Stübler, 2004. 15 In einer anderen Version dienen die physischen Konsum-Partner als Anknüpfungspunkt des Aggregates „Actual collective consumption“; für die hier interessierenden Fragen der SektorDefinition etc. ohne Belang.
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abgetestet werden sollen. Das Residuum selbst verändert sich dadurch nicht. Wenn es überhaupt keine Verkäufe gibt, wird möglicherweise auch die Kandidaten-Frage prekär: man könnte dann die Suche ungehindert bottom up ansteigen lassen, weil jeder weitere Test im NM- Zusammenhang immer das gleiche erbringt. Es ist also das „Residuum“ dasjenige, was die Ursache aller Zurechnungsprobleme ist, wie schon zuvor diskutiert (Punkt B-E). Diese Problematik wäre nur zu umgehen, wenn sich eine perfekte „funktionale“ Sichtweise anwenden ließe, eine Illusion, der mit der allgemeinen Akzeptanz der ganzheitlichen SE begegnet ist. G. Test-Regeln sind für Ebene I (LKAU) und II gleichermaßen vorgesehen. Abgesehen von hierarchischen Strukturen des Staates kraft seiner Verfassung ist die Ebenen-Struktur eine von der VGR zwingend anzuwendende Sicht- und Darstellungsweise. Die hier zentralen Fragen sind: bottom up vs. top down; und die „innere“ Komposition der Ebene II in Begriffen/Komponenten der Ebene I (was ist „im Bauche“ der SE II an SE I enthalten?). Es war schon oben erwähnt worden, dass eine im ESA festgeschriebene Tendenz zugunsten top down nicht ausnahmslos anwendbar erscheint (Quasi-Kapitalgesellschaften, Punkt D). Aber auch ganz allgemein muss jeder SE II mindestens 1 SE I entsprechen (Haupt-KAU, mit notwendigerweise NM-Charakter, im Falle des Staates). Das Bottom-up-Verfahren ist möglicherweise auch sonst von größerer praktischer Attraktivität, weil sich nur so die vielen SE als „Kandidaten“ überhaupt fassen lassen. Was die „inneren“ Strukturen (SE II > SE I) anbelangt, ist vor allem eine auf Ebene I mögliche Sektor-Inhomogenität festzuhalten, die so auf Ebene II gar nicht vorkommen kann: M- und NM-Produzenten können da nebeneinander auftauchen, so es sich um eine ISE des Staates handelt und Haupt-LKAU NMCharakter hat. Daraus ergeben sich verfeinerte Sektor-Begriffe bzw. nicht notwendigerweise falsche, aber dennoch inkongruente und gerade daher interessante Ebenen-Relationen I : II; aber u. U. auch Probleme wegen den zwischen SE I sich abspielenden (=SE II-internen) Transaktionen, was zu unterschiedlichen Test-Ergebnissen zwischen beiden Ebenen führen kann. 4.2 Entscheidungsbäume A. Anhand dieser Abbildungen kann nun der tatsächliche Befundungs-, Beurteilungs- und Entscheidungsvorgang nachvollzogen werden. Wegen der Aggregations-Option bei den Verkäufen (ESA §§ 3.44, 3.45) kommt das Schwergewicht dem SE-Baum zu (Abb. 4). Der Ausgangspunkt ist zweckmäßigerweise die i. d. R. tatsächlich vorhandene Datenlage. Wir beginnen mit einer SE-„Kandidatin“ (candidate unit), die zunächst auf tatsächliche Existenz einer entsprechenden SE zu testen ist. Im Negativ-Falle ist der Vorgang auf der nächsthöheren Ebene zu wiederholen.
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Abbildung 4: SE-Test Superior unit Candidate unit (CSU)
SU-Test („existence“)
positive (=SU)
negative Go to superior unit
General <50% Government Government NM SU (NM) Sector-Test unit Significance (Sales + („control“) Test* Other Output) Other >50% Sector (M) Can thus never Business Unit become (No output gov. unit other than M)
* Significance Test („Total Sales : Total Costs“)
Abbildung 5a: Transaktionen – individuell Sales Test (= Tax ? Compulsory fee ?)
No („Sale“)
yes
Sales : Cost Test – „marginal costs“
<50%
Possibly significant (depending on assumption)
>50% Surely significant
„NM“
Abbildung 5b: Transaktionen – aggregiert
„Sales“ after Test 5a
possibly significant Sales : Cost Test – <50% Sales : Cost Test – <50% „variable costs“ „Total costs“ >50% surely significant
insignificant
>50% significant
Quelle: Eigene Darstellung.
Diese Richtung (bottom up) ist eine Notwendigkeit: Top down fallen die potentiellen SE zwangsläufig immer kleiner aus, ihre Datenlage ist daher umso ungünstiger. Dazu ist sie logische Folge des Umstandes, dass SE auf einer gegebenen Ebene (I; II) existieren können, ohne dass es eine untergeordnete SE gibt; nicht aber umgekehrt. Beim Sektor-Test werden sodann die Beherrschungsverhältnisse untersucht: wenn keine öffentliche Kontrolle vorliegt, scheidet die SE als eine Kandidatin für den Staatssektor von vornherein aus (NM-Kriterien mag sie erfüllen). Es folgt der „Sales“-Test, sei es auf der Basis für individuellen (Abb. 5a) oder – und vor allem – für aggregierte Transaktionen (Abb. 5b). Er kann nur funktionieren, wenn eine SE schon bestimmt ist, weil dafür deren Kosten bekannt sein müssen, und zwar auf der
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LKAU-Ebene (siehe Kap. 4.1, Punkt D). Nur wenn Verkäufe („Sales“) überhaupt nicht vorkommen, ist die Dringlichkeit zur Bestimmung einer SE auf dieser Ebene möglicherweise geringer, weil sich an dem Sektorumfang so oder so nichts ändert. Man könnte noch eine Zwischenstufe des Tests mit den variablen Kosten einführen, wobei diejenigen SE vorweg ausscheiden würden, welche bei > 50 % Deckungsgrad liegen. Ein solcher Schritt kann analytisch interessant sein; am Ergebnis ändert er deswegen nichts, weil die Gesamtkosten in jedem Falle (kraft SE-Prämisse) vorhanden sind, und als solche daher die einwandfreie Basis des Signifikanz-Testes. Damit landen wir schließlich beim Ergebnis der kombinierten Anwendung aller Kriterien. Zu erinnern wäre noch an die Anomalie, dass die Qualifikation als SE des Staatssektors den nationalökonomischen Output erhöht, als SE des Unternehmenssektors analog senkt, ohne dass sich an den Umständen der betreffenden SE mehr ändert als eine Schwerpunktverschiebung über/unter die 50 %-Schwelle – eine Folge der Konvention, dass Nichtmarktaktivitäten dort eo ipso ausgeschlossen sind. B. Im Prinzip sollte Gleichheit der Ergebnisse erzielt werden, gleich ob bottom up oder top down bei der Suche nach der SE; oder ob in obiger oder anderer Reihenfolge bei den Test-Schritten. Es wurde schon mehrfach gezeigt, dass die SE de facto nicht völlig immun gegenüber der Suchrichtung sind, ja zwingende Ausnahmen bestehen (vgl. 4.1, Punkt D). Beim Test kann ein ähnlicher Schluss gezogen werden. Wenn a priori völlige Klarheit über die SE besteht (keine undurchsichtige Datenlage; keinerlei „politische“ Zuordnungs-Spielräume, Druck?), müssten die Ergebnisse identisch sein (in der Tat ehrgeizige Auflagen!). Diese Schlussfolgerungen gelten jedenfalls innerhalb ein und derselben Ebene (I; II), in den wechselseitigen Beziehungen dazwischen kann es hingegen zu Verzerrungen kommen, wegen der größeren Zahl von LKAUs, die ein und derselben ISE entsprechen. Insbesondere sind die Output-Input-(Verkäufe–Käufe)-Beziehungen zwischen den LKAUs unter Umständen von Einfluss auf das Ergebnis des Testes, weil sie nicht konsolidiert werden. Im Extremfall könnte der Test auf Ebene II zugunsten M, auf Ebene I für die Gesamtheit der betreffenden LKAUs aber zugunsten NM ausgehen. C. Von der größten praktischen Bedeutung ist die Umsetzung der Testergebnisse in Form der Etablierung von Quasi-Kapitalgesellschaften (QK), so der Test für eine entsprechende (Haupt-)LKAU deren M-Charakter ergeben hat. Existenz einer SE mit Signifikanz der Erlös/Kosten-Relation reicht dafür allerdings nicht aus, vielmehr müssen entsprechende Bedingungen der selbständigen kommerziellen Gestion gewährleistet sein; und diesem muss eine ausreichende, kommerziell vergleichbare Datenlage entsprechen. Auf Ebene II spielt sich die Sektor-Bereinigung praktisch nur (!) in der Form ab, dass über die Etablierung der QK zu entscheiden ist (ESA § 3.37).
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Einige Besonderheiten sollen kurz rekapituliert werden: Es besteht eine Rückverweisung auf Ebene I, weil die Identifikation einer qualifizierten LKAU die allererste Voraussetzung ist. Ein NM-Output der SE ist nach der Erklärung zur MSE („QK“) ex conventione nicht länger möglich. Die Frage, was in der Folge zu geschehen hat, wenn sich am Ergebnis des 50 %Kriteriums etwas ändert, die betreffende SE aber dem Test mangels NMOutput eigentlich gar nicht mehr unterliegt, ist zumindest interessant. 5. Ergebnis – Zusammenfassung A. Das bestehende Regime hat offenkundig einige Organisationsbedeutung, indem es „politische“ Ansatzpunkte zur Gestaltung – im Sinne einer Einflussnahme auf die Sektorengröße – in dreifacher Hinsicht bietet: Auf der Output-Seite („Erlöse“) kann eine entgeltliche Leistungsbereitstellung eingeführt werden (und vice versa). Auf der Input-Seite lassen sich eventuell die Kosten senken und damit die Erlös/Kosten-Relation im kritischen Bereich beeinflussen; und eine bisher nicht ausreichend selbständig aktionsfähige Dienststelle(ngruppe) kann mit entsprechender Autonomie ausgestattet werden. Ein neuer Test mag dann ergeben, dass die Kandidatin nun entsprechend qualifiziert ist für ein Umklassifikation in den Sektor der (nichtfinanziellen oder aber finanziellen) Kapitalgesellschaften; wegen einer allfälligen Rück-Klassifikation in den Staatssektor siehe Kap. 4.1, Punkt D bzw. unten Punkt C. B. Das heute bestehende Regelungsgefüge ist vorrangig auf leicht erklärbare und gleichmäßige Anwendung angelegt. Es gibt dennoch eine Reihe von weniger befriedigenden Konzepten und Konsequenzen, bis hin zu Ungereimtheiten und Widersprüchen (hier beginnend mit den Transaktionen): − Inhaltlich völlig Gleichartiges (Output) wird unterschiedlich klassifiziert, weil in einem Falle herrührend von einem marktmäßigen (M), im anderen Fall von einem nichtmarktmäßigen (NM)Produzenten. Für den Verwender dieser Güterangebote sind solche Unterschiede überhaupt nicht wahrnehmbar (einheitlicher commodity flow). − NM-Neben-Aktivitäten der (neuerdings) M-Produzenten fallen unter den Tisch, obwohl sie bis zur Entscheidung (Signifikanz-Test) über die Reklassifikation voll wirksam gewesen sein konnten. − Die Natur der individuellen Outputs, falls überhaupt als Erlöse einzeln identifizierbar, hat für die schließliche Entscheidung über das Schicksal der SE wegen der pauschalen Beurteilungsbasis nur sekundären Einfluss. − Eine komplette Evidenz nicht nur der tatsächlich schon bestimmten, sondern auch der potentiellen Einheiten („Kandidatinnen“) ist für eine sys-
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− −
−
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tematische Suche unabdingbar. Es muss auf die kleinstmöglichen SE abstellen, um richtungsneutral zu sein. NMSE mit lediglich kollektivem Output haben keine bestimmte Verankerung in der Einheiten-Hierarchie, könnten daher bottom up wie top down beliebig bestimmt werden. Nach Reklassifikation der SE zum M-Sektor erscheint dafür jeder weitere Sektor-Test schlechterdings ausgeschlossen, weil MSE von Haus aus eines NM-Outputs gar nicht fähig sind. Der Test ist vielmehr abzuführen an einer „Kandidatin“, die mit der fraglichen MSE nicht notwendig 1:1 korrespondiert. Asymmetrien zwischen den Ebenen I und II sind nicht ausgeschlossen. Der Output der ISE kann < 50 % Kostendeckung aufweisen, dagegen der Output der zugehörigen Haupt-LKAU 50 %. Die internen Lieferungen/Bezüge der LKAUs unter selber ISE mögen zu einem ähnlichen Effekt führen. Der Signifikanz-Test nimmt bei den Transaktionen auf mögliche Mehrdeutigkeiten nicht Rücksicht, und geht bei SE grobschlächtig über die Frage des „eigentlichen“ Charakters der SE hinweg. Insbesondere kommt jede differenziertere betriebswirtschaftliche Betrachtungsweise zu kurz (Stichwort „Deckungskostenbeitrag“).
Aus solchen Punkten können leicht Beiträge für eine Agenda von künftigen Verbesserungen auf diesem Gebiete herausdestilliert werden, auch über die nationale Ebene hinaus. Ob es für eine Revision des (Europäischen) 50 %Kriteriums reicht, ist zweifelhaft (vgl. Kap. 3.2, Punkt B). Es gibt aber andere, schon anerkannte Ansatzpunkte der Reform, z. B. zur Wünschbarkeit einer deutlicheren Darstellung der Unternehmen unter öffentlicher Kontrolle (QK u. a.) in der VGR (Keuning und van Tongeren, 2004, S. 169 und176 ff., sowie Moulton, 2004, S. 275). C. In diesem Zusammenhang wäre es naheliegend, die Frage nach dem ontologischen Primat bei den Entscheidungskriterien zu stellen. Ohne dieses hier theoretisch auszudiskutieren, lässt sich zumindest von der praktischen Seite manches zugunsten der SE ins Treffen führen: − Eine Definition der betreffenden Transaktionen (Output; Input) ohne Bezugnahme auf SE ist nicht möglich (wohl doch aber umgekehrt). − Die NMSE sind ihrem Wesen nach von den Outputs (Residualoutputs) nicht verschieden: Diese werden im Produktionskonto identifiziert, ohne dass es einer Gegenbuchung anderswo bedarf. − Weder die Kostenseite noch die Erlösseite kann für den Signifikanztest ohne Bezugnahme auf SE bestimmt werden. Ein Gegenargument ist allerdings gerade im Staats-Sektor das Verschwinden der NMSE, sobald sie in eine MSE übergegangen zu sein scheint. Aus die-
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sem „schwarzen Loch“ kann es kein Zurück geben. Und es ist dieses vielleicht viel größer als angenommen: Die Identität und damit die Existenz einer jeden SE ist beendet mit jenem Test, der ihr den Verlust der Sektor-Qualität bescheinigt. In dieser so verallgemeinerten Sicht stammt jede SE aus einer Welt der virtuellen „Kandidatinnen“, die allein die Identität behalten. Wird dort aliquid novi entdeckt, fragt sich’s, ob auf einem Platz einer schon einmal bestehenden SE oder sonstwo – neu ist es auf jeden Fall. Quellenverzeichnis CEIES (2004), The Size of the Government Sector – How to Measure?, Report on the 24th CEIES Seminar (Vienna, 23/24 October 2003), Eurostat, Luxemburg. Dublin, Keith et al. (2004), Measuring the Size of the Public Sector: What Does the IMF's Government Finance Statistics Manual 2001 Contribute?, in: CEIES (2004), S. 17 ff. Eurostat (1995), European System of Accounts, ESA 1995, Luxembourg. Eurostat (2002), Handbuch zum ESVG 1995: Defizit und Schuldenstand des Staates, Luxemburg. Franz, A. (2001), Die Größe des Öffentlichen Sektors – Ein Benchmarking-Projekt: Methodologischer Erfahrungsbericht, ÖZS, 30/2001, Nr. 1, S. 21–43. Franz, A., Der Öffentliche Sektor in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, in: W. Weigel (Hg.), Handbuch der österreichischen Finanzpolitik, Wien 1986, S. 187 ff. Glatzel, D. (2004), CEIES Seminar on „The size of the government sector – how to measure?“, Reaction from Eurostat, in: CEIES (2004). Horvath, R. (1980), Statistische Deskription und Nominalismus, und Seifert, A., Staatenkunde – Eine neue Disziplin, in: Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit, Schöningh, Paderborn etc., S. 42 ff. bzw. 222 ff. (beide zu G. Achenwall). IMF (2001), Government Finance Statistics (GFS) Manual, Washington. Keuning, S., van Tongeren, D. (2004), The relationship between Government Accounts and National Accounts, with Special Reference to the Netherlands, in: The Review of Income and Wealth, Series 50, No 2, June 2004, pp. 167 ff. Koller, T. (2004), Maastrichtkonform ausgliedern. Zur Auslagerung von Staatsschulden, Wien. Moulton, B. R. (2004), The System of National accounts for the New Economy: What should Change?, in: The Review of Income and Wealth, Series 50, No 2, June 2004, pp. 261 ff. Quinton, A. (1995), Politische Philosophie, in: Illustrierte Geschichte der westlichen Philoosophie, Frankfurt – New York, S. 295. Statistik Austria (1995), Systematik der Wirtschaftstätigkeiten (ÖNACE 1995), Wien. Stübler, W. (2004), Umgliederungen in den Landes- und Gemeindebudgets, in: Statistische Nachrichten, 3/2004, S. 255 ff. UN et al. (1993), Systemof National Accounts (SNA) 1993, Washington.
Wandel und Beständigkeit Eine Retrospektive des österreichischen Finanzausgleichs Johann Bröthaler Im Herbst 1991 waren wir am Institut für Finanzwissenschaft und Infrastrukturpolitik der TU Wien mit den Abschlussarbeiten zu einem Forschungsprojekt beschäftigt. Am Abend vor der Endabgabe überreichte mir Egon Matzner ein elf Seiten umfassendes Manuskript mit der kryptischen Anmerkung, dass er „es bereits vor zwanzig Jahren vorausgesehen hatte“. Seine schmunzelnd vorgebrachte „Prophezeiung“ aus dem Jahr 1971 unterlegte er mit dem Hinweis auf den Schlusssatz seines Manuskripts, „die Errichtung einer FAGDatenbank anzustreben, um die Auswirkungen auf die Finanzmasse berechnen zu können“. Seine prospektive Forderung erfüllte sich im Jahr 1991 mit dem Projekt „Simulationsmodell des österreichischen Finanzausgleichs“ (Schönbäck, Bröthaler, Schneider, Weiser, 1992). In dem Manuskript „Überlegungen zur Reform des Finanzausgleiches“ (E. Matzner, 19. 3. 1971, K.14) mit einer handschriftlichen Notiz „Für FM Androsch“ werden ausgehend von übergeordneten Zielen des Finanzausgleichs gesellschaftliche und wirtschaftliche Tendenzen und deren Auswirkungen auf Gebietskörperschaften sowie eine Analyse der finanziellen Situation der Gebietskörperschaften dargestellt und Vorschläge für Akzente eines neuen Finanzausgleichs gemacht. In den 70er Jahren bildete in der Folge der Finanzausgleich einen Schwerpunkt der Arbeiten Egon Matzners, die schließlich in der Herausgabe des Buches „Öffentliche Aufgaben und Finanzausgleich: Untersuchung der Probleme des österreichischen Finanzausgleichs“ mit mehreren eigenen Beiträgen Egon Matzners1 mündeten. Die einzelnen, mehr oder minder komplizierten Regelungen des Finanzausgleichs können kaum ökonomisch begründet, vielmehr nur historisch erklärt werden. Die vorliegende Gedenkschrift wurde zum Anlass genommen, die langfristige Entwicklung des österreichischen Finanzausgleichs zu untersuchen. Es werden die gesetzlichen Bestimmungen des Finanzausgleichsgesetzes (FAG) der letzten 60 Jahre (1948–2008) aufgearbeitet.2 Im Speziellen wird der Frage nach den Auswirkungen der vielfältigen Änderungen des FAG auf die empirischen Verteilungsergebnisse nachgegangen. Die empirischen Daten werden für die letzten 30 Jahre dargestellt (1976–2005). 1 Zum Begriff „öffentliche Aufgabe“; „Öffentliche Aufgaben“ im politisch-ökonomischen Kreislauf; Typologie der „öffentlichen Aufgaben“; Ausgabenintensität von „öffentlichen Aufgaben“; Theorien der Zentralisation und Dezentralisation; Politische Theorie des Föderalismus; Öffentliches Ausgabenwachstum bei föderativer Einnahmen- u. Ausgabenorganisation (Matzner, 1977). 2 Aufgearbeitet wurden die Finanzausgleichsgesetze 1948–2005 (siehe Quellenverzeichnis), Matzner (1977), Horny (1985), Smekal/Theurl (1990), Hüttner (2001) u. Hüttner/Griebler (2005)
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Johann Bröthaler
1. Struktur des österreichischen Finanzausgleichs 1948–2008 Der Finanzausgleich im weiteren Sinn umfasst die gesamte Aufgaben-, Ausgaben- und Einnahmenverteilung zwischen Bund, Länder und Gemeinden auf der Grundlage des B-VG (Kompetenzen der Gesetzgebung und Vollziehung) und des F-VG (Grundsätze und Prinzipien der finanziellen Beziehungen zwischen den Gebietskörperschaften, insbes. Grundsatz der eigenen Kostentragung, Sachlichkeitsgebot, fiskalische Äquivalenz, Lastenausgleichsprinzip, „Kompetenz-Kompetenz“ des Bundes). Der Finanzausgleich im engeren Sinn umfasst die im Finanzausgleichsgesetz geregelten Bestimmungen über − − − −
Abweichungen vom Grundsatz der eigenen Kostentragung, Verteilung von Besteuerungsrechten (Abgabenhoheit), Verteilung von Abgabenerträgen (Ertragshoheit) sowie Finanzzuweisungen und Zweckzuschüsse.
Im Zeitraum 1948–2008 wurden 14 Stammfassungen des Finanzausgleichsgesetzes (FAG, mit etwa 30 Novellierungen) und 7 Finanzausgleichsnovellen (FAN) in Geltung gesetzt. Die Geltungsdauer betrug 1948–1958 ein Jahr, in der Folge fünf Jahre, ab 1967 sechs Jahre. Seit 1985 ist eine zweckmäßige Periode von vier Jahren Usus, die – im Verhandlungswege – auch der regelmäßigen Evaluierung der Aufteilungsverhältnisse dient. Die grundsätzliche Struktur des österreichischen Finanzausgleichs hat sich seit 1948 (im Finanzausgleichsgesetz seit 1959) nicht verändert. Bei der Verteilung des Abgabenertrages und der ergänzenden Mittelaufteilung über Transfers ist grundsätzlich zwischen dem primären, sekundären und tertiären Finanzausgleich zu unterscheiden (Abbildung 1). Der primäre Finanzausgleich regelt die Abgabenhoheit und die Ertragshoheit. Bei der Verteilung der Abgabenerträge ist weiters zwischen dem vertikalen Finanzausgleich (Aufteilung der Finanzmittel zwischen den Ebenen der Gebietskörperschaften Bund, Länder und Gemeinden) und dem horizontalen Finanzausgleich (Aufteilung der Finanzmittel zwischen den verschiedenen Untereinheiten der jeweiligen Ebene, also zwischen den Bundesländern einerseits sowie länderweise zwischen den Gemeinden und im Anschluss daran gemeindeweise andererseits) zu unterscheiden. Der sekundäre Finanzausgleich umfasst die im FAG und damit weitgehend bundeseinheitlich geregelte ergänzende Mittelverteilung in Form von Kostentragungen und sonstigen Transferzahlungen zwischen den Gebietskörperschaften (Ersätzen, Umlagen, Finanzzuweisungen, Zuschüssen). Die finanziellen Beziehungen zwischen Länder und Gemeinden werden dabei, mit Ausnahme einer Obergrenze für die Landesumlage, nicht berücksichtigt. Alle nach sonstigen bundes- oder landesgesetzlich geregelten intragovernmentalen Transfers (zwischen öffentlichen Rechtsträgern) werden dem tertiären Finanzausgleich zugeordnet.
173
Retrospektive des österreichischen Finanzausgleichs
Abbildung 1: Überblick über den primären, sekundären und tertiären Finanzausgleich Primärer Finanzausgleich
Sekundärer Finanzausgleich
Tertiärer Finanzausgleich
Abgaben-/Ertragshoheit gem. FAG
Transfers (Kostenersätze, Zuweisungen, Zuschüsse, Umlagen) zwischen Gebietskörperschaften gemäß FAG
Alle übrigen intragovernmentalen Transfers nach sonstigen Bundesund Landesgesetzen1)
Ausschließliche Abgaben Vorwegabzüge1)
Gemeinschaftliche Bundesabgaben
Gemeinden
Länder
Bund
Vertikale Verteilung
GBA
Zuweisungen, Zuschüsse des Bundes an Länder u. Gemeinden
Ausschließliche BundesErtragsanteile des Bundes abgaben
Vergabe der Gemeinde-Bedarfszuweisungen
Horizontale Verteilung Ausschließliche Landesabgaben
B K
Bund
Länder
Landesfonds
Gemeinden
Gem.verbände
…W
Länderertragsanteile
Zweistufige horizontale Verteilung Ausschließliche Gemeindeabgaben
Bundesfonds
B K
…
…W
Landesumlage
Gemeindeertragsanteile
1) Ab dem FAG 1997 erfolgen Teile der Vorwegabzüge nach vertikaler Verteilung der Ertragsanteile auf Bund, Länder und Gemeinden. Die graphische Darstellung des tertiären Finanzausgleichs beschränkt sich auf ausgewählte Transaktoren. Quelle: Bröthaler, Bauer, Schönbäck, 2006, S. 63.
Die Abgrenzung der sekundären gegenüber den tertiären Transfers zielt auf jene Finanzströme zwischen den Gebietskörperschaften ab, die − auf Verhandlungen der Finanzausgleichspartner (Bund, Länder, Österreichischer Städtebund und Österreichischer Gemeindebund) beruhen, bei denen das Bemühen um Kompromisse im Vordergrund steht, − bundeseinheitlich und traditionsgemäß zeitlich befristet geregelt sind, − einheitliche institutionelle Rahmenbedingungen aufweisen und auch − länderübergreifende Verteilungs- bzw. Ausgleichsverfahren beinhalten. Die vorliegende Arbeit behandelt den primären und sekundären Finanzausgleich (im engeren Sinn) gemäß FAG. Diese Einschränkung trifft zwar den Kern des Finanzausgleichs, der auch das vorrangige Diskussionsthema der Finanzpolitik darstellt. Jedoch ist klar, dass damit nur ein Teilbild der gesamten Aufgabenfinanzierung erfasst wird. Und selbst die Abgabenverteilung ist durch verschiedene Abzüge und interdependente Verflechtungen innerhalb und außerhalb des FAG längst kein Nullsummenspiel mehr.
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Johann Bröthaler
2. Verhandeln im offenen System Die „Verhandlungspflicht im Sinne des kooperativen Bundesstaates“ ist ein wesentliches Element des österreichischen Finanzausgleichs. Nach der im FAG 1959 eingeführten „Schutzklausel“ hat der Bund bei steuerpolitischen Maßnahmen, die mit einem Ausfall an Steuern oder einer Mehrbelastung am Zweckaufwand der Gebietskörperschaften verknüpft sein können, Verhandlungen „einzuleiten“, seit FAG 1967 „zu führen“. Nach einem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes (VfSlg 12.505/1990) setzt ein sachgerechtes System des Finanzausgleichs schon im Vorfeld der Gesetzgebung eine Kooperation der Gebietskörperschaften voraus, „die durch politische Einsicht und gegenseitige Rücksichtnahme bestimmt ist“ und entsprechende Beratungen zwischen den Gebietskörperschaften unabdingbar macht (Hüttner, Griebler, 2005, S. 35). Die Schutzklausel steht rein rechtlich gesehen für Länder und Gemeinden auf schwachen Beinen, wurde jedoch im Wege der Finanzausgleichsverhandlungen in der Regel konsensorientiert praktiziert. Sie ist mittlerweile auch durch den Konsultationsmechanismus überlagert3. Das Finanzausgleichspaktum wird üblicherweise als Gesamtpaket verhandelt, das neben dem FAG auch Themenkomplexe wie den innerösterreichischen Stabilitätspakt4, Verwaltungsreform5, Gesundheitsreform (Krankenanstalten, Sozialversicherung), Wohnbauförderung und Landeslehrer6 inkludiert. Die Notwendigkeit einer erweiterten Verhandlungsagenda ergibt sich aus den vielfältigen Interdependenzen und unscharfen Grenzen des Finanzausgleichs (im weiteren Sinn):
3 Die seit dem Jahr 1998 bestehende Vereinbarung über einen Konsultationsmechanismus wurde zur besseren Koordination zwischen den Finanzausgleichspartnern bei der Vorbereitung von Gesetzen und Verordnungen abgeschlossen. Sie umfasst u. a. wechselseitige Informationspflichten mit der Gelegenheit zur Stellungnahme über alle rechtsetzenden Maßnahmen, das Recht, innerhalb der Begutachtungsfrist Verhandlungen im Konsultationsgremium zu verlangen, die Abgabe einvernehmlicher Empfehlungen an den Gesetzgeber über die Kostentragung und automatische Kostenersatzpflichten, wenn die Mindestbegutachtungspflichten nicht eingehalten werden oder den Entscheidungen des Konsultationsgremiums nicht Rechnung getragen wird. 4 Ertragsanteile (nur) der Länder, die die Vereinbarung zwischen Bund, Länder und Gemeinden über den Österreichischen Stabilitätspakt nicht ratifizieren, werden teilweise suspendiert (§ 27 (7) FAG 2001 bzw. § 25 (6) FAG 2005). 5 Im Jahr 2005 erfolgte die Einrichtung einer Arbeitsgruppe zur Verwaltungsreform II (2005–2010) mit dem Ziel, aufbauend auf Ergebnissen des Österreich-Konvents die notwendigen Aufgaben des öffentlichen Sektors zu definieren und nach Grundsätzen der Kostengünstigkeit, Effektivität und Effizienz bei einvernehmlicher Kostentragung aufzuteilen. Inwieweit diese Ziele ohne Einigung im ÖsterreichKonvent und entsprechend adaptierten verfassungsrechtlichen Grundlagen bewerkstelligt werden können, ist noch offen (im Implementierungsbericht zum nationalen Reformprogramm vom 20. 9. 2006 wird die bisherige Umsetzung mit „plangemäß“ bezeichnet). 6 Das Paktum beschränkt sich dabei nicht nur auf Finanzierungsvereinbarungen, sondern bezieht vielfach auch Vereinbarungen zu grundsätzlichen Struktur- oder Begleitmaßnahmen mit ein, bei Landeslehrer etwa Festlegungen betreffend Stellenpläne und Schüler-Lehrerverhältnisse (zum Paktum 2005 siehe Hüttner/Griebler, 2005, S. 52–60 und Matzinger, 2005, S. 174–178).
Retrospektive des österreichischen Finanzausgleichs
175
− Vorwegabzüge von ausschließlichen und gemeinschaftlichen Abgaben (im FAG und nach Sondergesetzen, siehe nachfolgend Punkt 4), − Ausgleich im primären FA zwischen ausschließlichen und gemeinschaftlichen Abgabenerträgen (z. B. bei Wegfall eigener Abgaben), − Transfers im sekundären FA zum Teil als Kompensation für Verluste bei der primären Verteilung der gemeinschaftlichen Abgaben, − Transfers im tertiären Finanzausgleich, die das primäre und sekundäre Verteilungsergebnis (länderweise unterschiedlich) erheblich verändern, − Interdependenzen bei Transfers durch abgabenaufkommensabhängige Dotation oder Aufteilung nach (unterschiedlich definierter) Finanzkraft, − Unklare Abgrenzung von Transfers gegenüber Kostenbeiträgen und Leistungsverrechnungen zwischen den Gebietskörperschaften sowie − weitere Formen der laufenden Finanzierung (Gebühren, Beiträge, Einnahmen aus Leistungen) als wesentlicher Teil der Finanzmittelausstattung. Selbst wenn die finanziellen Beziehungen zwischen den Gebietskörperschaften als integriertes, geschlossenes Gesamtsystem betrachtet werden könnten, verbleiben als letztlich ungelöste Probleme eine zu unpräzise definierte Aufgaben- und Kompetenzverteilung, vielfach gemischte Aufgabenverantwortung und –finanzierung oder unterschiedliche Arten und Niveaus der Leistungserbringung, die keine eindeutigen Schlüsse auf die konkreten Belastungen der öffentlichen Haushalte zulassen. Vor allem gibt es diesbezüglich auch unterschiedliche Auffassungen der Gebietskörperschaftsebenen. In den Finanzausgleichsverhandlungen konnte bisher kein Konsens gefunden werden in der Frage, welche Transfers bei der Beurteilung der bisherigen Aufteilungsverhältnisse zu berücksichtigen, wem sie zuzurechnen sind und wie die langfristige Entwicklung mangels gesicherter Datengrundlagen überhaupt aussieht. Dies galt 1973 (Matzner, 1977, S. 478 f.) ebenso wie 2005 (Hüttner/Griebler, 2005, S. 50). Im primären Finanzausgleich wird auf die normative Aufgabenverteilung zwischen den Gebietskörperschaften nicht explizit Bezug genommen, vielmehr wird sie seit 60 Jahren als unverändert gegeben angenommen. Die Beachtung des Postulats eines aufgabenorientierten finanziellen Gleichgewichts lässt sich nach den juristischen Befunden in Matzner (1977, S. 464) voraussichtlich auch nicht durch eine nähere inhaltliche Bestimmung und Präzisierung der Aufgaben, sondern vor allem Verstärkung der kooperativen Elemente (Anhörungs- und Zustimmungsrechte) bei den zentralen finanzausgleichsrechtlichen Entscheidungen lösen. Zusammenfassend wird als erster Befund zum österreichischen Finanzausgleich festgehalten: • • • •
Einfache, seit Jahrzehnten unveränderte Grundstruktur, Verhandlungsprinzip als wichtiges Grundelement bei unscharfer Abgrenzung des Finanzausgleichs ohne expliziten Bezug auf die normative Aufgabenverteilung.
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Johann Bröthaler
3. Abgabenhoheit Im primären Finanzausgleich wird unterschieden zwischen ausschließlichen Abgaben (des Bundes, der Länder und der Gemeinden) sowie zwischen Bund und Ländern (Gemeinden) geteilten Abgaben. Die ausschließlichen Abgabenerträge fließen der jeweils einhebenden Gebietskörperschaft zu. Die Aufteilung der gemeinschaftlichen Bundesabgaben auf die Gebietskörperschaften erfolgt in mehreren Stufen und bildet den Kern des Finanzausgleichs. Die Entwicklung hinsichtlich Abgabenhoheit ist gekennzeichnet durch eine • Ausweitung des Steuerverbundes und • verminderte Steuerautonomie nachgeordneter Gebietskörperschaften. Der Anteil der gemeinschaftlichen Bundesabgaben am gesamten Abgabenaufkommen ist 1976–2005 von knapp 60 % auf 80 % gestiegen (Abbildung 2). Die Ausweitung des Steuerverbundes geht vor allem auf die Umwandlung ausschließlicher in gemeinschaftliche Bundesabgaben zurück: Abbildung 2: Anteil der gemeinschaftlichen und ausschließlichen Abgaben1) am gesamten Abgabenaufkommen der Gebietskörperschaften 1976–2005 2) in % 90
Anteil an gesamten Abgaben in %
80
70
60
50
40
30
20
10
19 76 19 77 19 78 19 79 19 80 19 81 19 82 19 83 19 84 19 85 19 86 19 87 19 88 19 89 19 90 19 91 19 92 19 93 19 94 19 95 19 96 19 97 19 98 19 99 20 00 20 01 20 02 20 03 20 04 20 05
0
Gemeinschaftliche Bundesabgaben (netto) Eigene Abgaben der Gemeinden inkl. Wien
Gesamte ausschließliche Abgaben (inkl. Vorwegabzüge)
Anteil der ausschl. Abgaben der Gebietskörperschaften an ihren gesamten Abgabenerträgen in % Anteil in % Bund (inkl. Vorwegabzüge) Länder ohne Wien Wien als Land und Gemeinde Gemeinden ohne Wien Gesamt
1956 73 5 51 77 66
1959 78 5 42 60 67
1967 78 4 33 50 64
1973 53 4 31 45 45
1979 51 4 27 41 43
1985 43 4 27 39 37
1989 39 4 29 41 35
1993 38 4 27 39 33
1997 39 4 27 37 34
2001 28 3 22 31 26
2005 21 4 23 33 21
1) Gemeinschaftliche Bundesabgaben netto (ohne Vorwegabzüge), ausschließliche Abgaben (inkl. Vorwegabzüge) des Bundes, der Länder und der Gemeinden, ohne Gebühren für die Benützung von Gemeindeeinrichtungen und –anlagen. 2) Zwei Jahrzehnte davor waren die Verhältnisse noch umgekehrt: der Anteil der gemeinschaftlichen Bundesabgaben am gesamten Abgabenaufkommen der Gebietskörperschaften lag 1955–1972 im Bereich 34–38 % (Smekal/Theurl, 1990, S. 151). Quelle: Statistik Austria 1978–2006; Smekal/Theurl, 1990, S. 151–155; eigene Berechnungen, 2006.
Retrospektive des österreichischen Finanzausgleichs
177
− 1982 Bundesmineralölsteuer (1988 Erhöhung in Folge einer Änderung der Wohnbauförderungsfinanzierung), − 1998 Körperschaftsteuer, − 2001 Werbeabgabe (und Getränkesteuerausgleich) und − 2005 weitere ausschließliche Bundesabgaben (siehe Tabelle 6, Fußnote 2). Bei den Gemeinden ist der Anteil der eigenen Abgaben an ihrem gesamten Abgabenertrag 1976–2005 von 43 % auf 33 % gesunken. Der Rückgang ist vor allem auf den Wegfall der Getränkesteuer und der Anzeigen- und Ankündigungsabgabe sowie die geringe Aufkommenselastizität der Grundsteuern zurückzuführen. Bei den Ländern sind die eigenen Abgaben mit einem entsprechenden Anteil von durchgehend rund 4 % bedeutungslos. 4. Vorwegabzüge Vor Aufteilung der gemeinschaftlichen Bundesabgaben auf die Gebietskörperschaftsebenen werden ab dem FAG 1973 Anteile von gemeinschaftlichen Bundesabgaben zur Dotierung von Fonds und für sonstige Zwecke abgezogen (siehe Tabelle 5). Ab dem FAG 1997 erfolgen Teile dieser Abzüge nach der vertikalen Verteilung. Die Abzüge von gemeinschaftlichen und ausschließlichen Abgaben sind teils auch außerhalb des FAG geregelt. Als Gründe für Vorwegabzüge sind anzuführen: • „Flucht aus dem Finanzausgleich“, • gemeinschaftliche Aufgabenfinanzierung, • Anpassung an Änderungen des Steuersystems. Durch die von Smekal/Theurl (1990, S. 157) pointiert mit „Flucht aus dem Finanzausgleich“ bezeichnete Tatsache, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der „klassischen“ Finanzausgleichsmasse entzogen und nicht mehr direkt an die einzelnen Gebietskörperschaften rückverteilt wird (4 Mrd. € 2005), bestehen zentrale Regelungs- und Eingriffsmöglichkeiten für den Bund. Die gemeinschaftliche Aufgabenfinanzierung durch Zweckwidmung von Steuern (für Siedlungswasserwirtschaft, Familienlastenausgleich, Katastrophenfonds, Gesundheit) könnte als aufgabenorientierter Ansatz der Finanzmittelverteilung verstanden werden. Allerdings sind in vielen Fällen der Finanzierungsbeitrag der Gebietskörperschaftsebenen und die Mittelempfänger kaum mehr systematisch nachvollziehbar. Ebenso ist die Zurechenbarkeit der Mittel zu Gebietskörperschaften und sonstigen öffentlichen Rechtsträgern umstritten (z.B. bei Bundesfonds mit/ohne eigene Rechtspersönlichkeit, siehe Kratena et al., 1990, S. 10 f., Altman/Lödl 1992, S. 213–216). Zum Teil gehen die Vorwegabzüge auch auf eine ertragsneutrale Umstellung oder Abschöpfung von Mehrerträgen durch Bund bei geänderten Abgabenregelungen zurück.
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Johann Bröthaler
Tabelle 5: Vorwegabzüge von den gemeinschaftlichen Bundesabgaben 1948–2008 (Mio. €) Vorwegabzüge gemäß FAG Abzüge vor Teilung von: vESt und LSt f. Abgeltungsbeitrag f. Familienbeihilfen 1) 2) ErtSt ohne KESt II für Familienlastenausgleich 3) ErtSt ohne KESt II für Katastrophenfonds 3) ErtSt ohne KEST II f. (Umw.- u.) Wasserwirtschaftsfonds 4) USt für (Umwelt- und) Wasserwirtschaftsfonds 4) USt für KRAZAF 5) USt für Bund Gesundheits- u. Sozialbereichsbeihilfen 6) USt für Gesundheitsförderung 6) Kfz-Steuer für Bund 7) Mineralölsteuer für Fruchfolgeförderung Tabaksteuer für Ausgleichsfonds der Krankenvers. Abzüge vor Teilung gesamt Abzüge nach vertikaler Teilung von Ertragsanteilen des Bundes an ErtSt ohne KEST II für Familienlastenausgleich 3) ErtSt ohne KEST II für Katastrophenfonds 3) ErtSt ohne KEST II / USt f. Siedlungswasserwirtsch. 4) von Ertragsanteilen der Länder und Gemeinden: Konsolidierungsbeitrag für Bund 8) für teilweise EU-Beitragsfinanzierung 9) von ErtSt ohne KEST II / USt f. Siedlungswasserwirtsch. 4)
von USt für Krankenanstaltenfinanzierung 5) von USt für Spielbankländer/-gemeinden Abzüge nach vertikaler Teilung gesamt Sonstige Abzüge 10) Gesamte Vorwegabzüge in % des gesamten Abgabenaufkommens
19481967 1973 1979 1985 1989 1993 1997 2001 2005 -
- (526) (690) 690 690 690 690 690 66 130 204 190 259 66 130 204 190 259 85 54 53 83 79 11 26 40 48 82 745 1.199 1.480 7 7 7 15 15 15 70 2 133 865 1.221 1.282 1.425 1.457 1.911 2.194
1948 1973 1979 1985 1989 1993 1997 2001 2005 8) -
-
-
-
-
-
295 218 0
449 333 0
420 264 48
273 418 418 482 502 566 0 0 20 92 104 115 43 0 0 0 0 0 1.360 1.806 1.894 297 518 910 2 34 503 29 15 430 1.383 2.131 1.284 1.459 3.320 3.746 4.104 4,4 7,6 7,7 4,0 3,4 6,4 5,9 6,3
1) Ertragsteuern (ErtSt): Einkommensteuer (veranlagte Einkommensteuer einschließlich Abzugsteuer (vESt), Lohnsteuer (LSt), Kapitalertragsteuer (KESt) I / II) sowie Körperschaftsteuer (KöSt). 2) Abgeltungsbeitrag: Das durch Wegfall des Kinderabsetzbetrages ab 1977 entstehende Mehraufkommen an Lohn- und veranlagter Einkommensteuer wird über einen Vorwegabzug abgeschöpft und dem Familienlastenausgleichsfonds zugeführt (ab 1989 im FAG geregelt). (Mit dem Familienbesteuerungsgesetz 1992, BGBl. 1992/312 wurde wieder ein steuerlicher Kinderabsetz- bzw. Unterhaltsabsetzbetrag geschaffen. Obwohl das Aufkommen an Einkommensteuer dadurch wieder vermindert wird, wurde der Abgeltungsbeitrag beibehalten; siehe Hüttner, 2001, S. 66 f.). 3) Abzüge für Familienlastenausgleich und Katastrophenfonds (gemäß § 2 Bundesgesetz für Zuweisung von Anteilen an der Einkommensteuer und Körperschaftsteuer für Zwecke der Wohnbauförderung und des Familienlastenausgleiches BGBl. 443/1972 bzw. § 2 (1) Katastrophenfondsgesetz, BGBl. Nr. 207/1966) ab 1972 in Einkommen- und Körperschaftsteuertarif integriert und als Vorwegabzug (jeweils 2,29 %) ausgestaltet. Ab 1997 Abzug von Ertragsanteilen des Bundes: Durch die entsprechend höheren Abgabenanteile erfolgt Abschöpfung von Mehrerträgen durch Bund (darüberhinaus wurden die Anteile für FLAF von 1,934 auf 1,75 % und KatF von 1,428 auf 1,1 % 2005 reduziert). 4) Dotierung des Wasserwirtschaftsfonds (als Vorwegabzug 1979–1989 0,953 %, 1989–1992 0,762 % der USt, danach absolut festgelegt), ab 1997 Abzug nach vertikaler Verteilung, Beiträge von Bund, Länder und Gemeinden für die Förderung der Siedlungswasserwirtschaft 1997–2003 teilweise (1997, 2001 und 2002 zur Gänze) sistiert. 5) Krankenanstaltenfinanzierung: USt-Anteil der Gemeinden (1979–1992 0,459 %, ab 1993 0,642 %). Der Ust-Anteil des Bundes (1,416 %) und der Länder (0,949 %) ist im KAKuG geregelt (siehe Bröthaler et al., 2006, S. 170 f.). 6) Abzug von der Umsatzsteuer für Beihilfen des Bundes zur Egalisierung von Einnahmenausfällen durch Wegfall des Vorsteuerabzugs (unechte Steuerbefreiung) des Gesundheits- und Sozialbereiches gemäß GSBG, BGBl. Nr. 746/1996, sowie von 7,25 Mio. Euro für Zwecke der Gesundheitsförderung, -aufklärung und -information in Folge USt-Mehreinnahmen bei Einfuhr von Tabakwaren (siehe Hüttner, 2001, S. 67). 7) Abschöpfung eines (erwarteten) Mehrertrages der Anhebung der Kfz-Steuer durch Bund. 8) 1950–1966 Vorzugsanteil ("Notopfer") für Bund zur Budgetsanierung (Abzug von Ertragsanteilen der Länder und Gemeinden gemäß FAG 1950 14 Mio. €, 1952 42 Mio. €, 1956 50 Mio. €, Budgetsanierungsgesetz 1963 38 Mio. €); ab 1997 Konsolidierungsbeitrag der Länder und Gemeinden für den Bund auf Grund von Mehreinnahmen durch das Strukturanpassungsgesetz (2005 Länder 312 Mio. € und Gemeinden 106 Mio. €). 9) Teilweise Finanzierung der Beitragsleistungen Österreichs an die Europäische Union: bei Länder 16,835 % der Summe aus Mehrwertsteuer- und Bruttosozialprodukt-Eigenmittel und einem mit 3 % valorisierten Fixbetrag (781 Mio. Euro 2005). Bei Gemeinden 1997–2000 unterschiedlich geregelt, 2001 0,352 % von ErtSt ohne KESt II, 2005 0,166 % von den Ertragsanteilen an gemeinschaftlichen Abgaben mit einheitlichem Schlüssel (2005 Länder 478 Mio. €, Gemeinden 87 Mio. €). 10) Sonstige Abzüge von gemeinschaftlichen Bundesabgaben nach Sondergesetzen, u.a. für Wohnbau und Wohnbauforschung (ab 1988 mit Verländerung der Wohnbauförderung als Zweckzuschuss) sowie von ausschließlichen Abgaben. Quelle: FAG 1948–2005 (siehe Quellenverzeichnis); SimFag, 2006; eigene Zusammenstellung, 2006.
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Retrospektive des österreichischen Finanzausgleichs
5. Vertikaler Finanzausgleich Die der Teilung unterliegenden Beträge der einzelnen gemeinschaftlichen Bundesabgaben werden je Abgabe nach fixen Prozentsätzen zwischen den Gebietskörperschaftsebenen Bund, Länder und Gemeinden geteilt (Tabelle 6). Im Zeitraum 1948–2005 gab es erhebliche Änderungen der vertikalen Aufteilungsschlüssel, v. a. bei quantitativ bedeutenden Abgaben. Umso beeindruckender ist das Verteilungsergebnis, nämlich weitgehend konstante Anteile der Gebietskörperschaften am gesamten Abgabenertrag. Lediglich 1995–2001 stieg der Bundesanteil um 4 %-Punkte.7 Über 50 Jahre galt offensichtlich das Prinzip „Konsens durch Kontinuität“. Veränderungen der Aufgabenzuordnung8 haben dabei nicht zu einer Änderung der vertikalen Steueraufteilung geführt, sondern zu zusätzlichen Verflechtungen über Transfers. Die geänderten Schlüssel sind ausschließlich eine Reaktion auf Verschiebungen im „stillen Finanzausgleich“ (Einführung, Auflassung, unterschiedliche Dynamik von Steuern, Änderungen bei Vorwegabzügen). Zusammenfassend war der vertikale Finanzausgleich 1948–2005 geprägt durch • • • •
laufende Anpassungen an Steuerreformen, Konstanz der vertikalen Aufteilungsverhältnisse mit Zentralisierungstendenz 1995–2001, Vereinheitlichung der Aufteilungsschlüssel erst ab 20019.
Abbildung 3: %-Anteil der Gebietskörperschaften an gesamten Abgaben1 1976–2005 80 70 60
%-Anteil
50 40 30 20 10
Bund (inkl. Vorwegabzüge)
Länder ohne Wien
Wien als Land und Gemeinde
2005
2004
2003
2002
2001
2000
1999
1998
1997
1996
1995
1994
1993
1992
1991
1990
1989
1988
1987
1986
1985
1984
1983
1982
1981
1980
1979
1978
1977
1976
0
Gemeinden ohne Wien
1) Der Anteil des Bundes (hier inkl. aller Vorwegabzüge) am gesamten Abgabenertrag der Gebietskörperschaften stieg 1976– 2005 von 68,1 % auf 73,7 %, gerechnet ohne Vorwegabzüge bei analogem Verlauf von 66,8 % auf 71,9 %. Quelle: Statistik Austria 1978–2006; SimFag, 2006; eigene Berechnungen, 2006.
7 Zu beachten sind hier die Größenordnungen: 1 %-Punkt entsprach 1995–2001 400–600 Mio. €. 8 Z. B. Verländerung Wohnbauförderung, Krankenanstaltenfinanzierung und Bundesstraßen B. 9 Vereinheitlichung der vertikalen Schlüssel im FAG 2001 bei Ertragssteuern, im FAG 2005 schließlich für die meisten gemeinschaftlichen Bundesabgaben (nicht für Werbeabgabe, Grunderwerbsteuer und Bodenwertabgabe, deren Ertrag überwiegend an die Gemeinden fließt).
180
Johann Bröthaler
Tabelle 6: Vertikale Verteilung der Ertragsanteile des Bundes, der Länder und der Gemeinden – Aufteilungsschlüssel 1948–2008 gemäß Finanzausgleichsgesetz (FAG) 1) Abgaben gem. FAG (Gesamtbetrag 2005) Veranl. Einkommensteuer einschließlich Abzugsteuer (2.365 Mio. €) Lohnsteuer (16.414 Mio. €)
19481956 B 50,00 L 30,00 G 20,00 B 50,00 L 30,00 G 20,00 Kapitalertragsteuer B 50,00 (ab 1989 KESt I) L 30,00 (792 Mio. €) G 20,00 Kapitalertragsteuer II B (1.280 Mio. €) L G Körperschaftsteuer B (ab 1998) L (4.418 Mio. €) G Umsatzsteuer B 50,00 (17.954 Mio. €) L 33,00 G 17,00 Mineralölsteuer (ab 1982 B 50,00 inkl. Bundesmineralölst.) L 50,00 (3.565 Mio. €) G Kraftfahrzeugsteuer B 35,00 (128 Mio. €) L 65,00 G Motorbezogene B Versicherungssteuer L (1.325 Mio. €) G Grunderwerbsteuer und B 20,00 ab 1973 Bodenwertabg. L (553 Mio. €) G 80,00 Biersteuer B 35,00 (203 Mio. €) L 65,00 G Erbschafts- und B 70,00 Schenkungssteuer L 30,00 (140 Mio. €) G Werbeabgabe B (98 Mio. €) L G Sonst. gemeinschaftliche B 51,00 Bundesabgaben 2) L 30,00 (3.982 Mio. €) G 19,00 Empirische vertikale Verteilung Gesamte Ertragsanteile B 57 (inkl. Spielbankabgabe) L 29 (53.219 Mio. €) G 14 Gesamte Abgaben B 67 (inkl. Vorwegabzüge) L 14 (65.013 Mio. €) G 19
1959
1967
1973
1979
1985
1989
1993
1997
2001
2005
40,00 30,00 30,00 55,00 25,00 20,00 50,00 15,00 35,00 50,00 33,00 17,00 38,00 56,00 6,00 35,00 60,00 5,00 20,00 80,00 5,00 65,00 30,00 70,00 30,00 40,00 30,00 30,00
40,00 30,00 30,00 55,00 25,00 20,00 50,00 15,00 35,00 40,00 37,00 23,00 6,00 74,00 20,00 57,00 40,00 3,00 20,00 80,00 17,00 57,00 26,00 70,00 30,00 40,00 30,00 30,00
43,00 30,00 27,00 59,09 22,73 18,18 10,00 15,00 75,00 69,33 18,30 12,38 2,00 74,00 24,00 4,00 96,00 4,00 96,00 17,00 57,00 26,00 70,00 30,00 40,00 30,00 30,00
43,00 30,00 27,00 59,09 22,73 18,18 10,00 15,00 75,00 69,69 18,56 11,75 2,00 74,00 24,00 50,00 50,00 4,00 96,00 17,00 57,00 26,00 70,00 30,00 40,00 30,00 30,00
42,23 30,77 27,00 58,62 23,20 18,18 10,00 15,00 75,00 69,42 18,83 11,75 88,56 8,64 2,80 50,00 50,00 4,00 96,00 17,00 57,00 26,00 70,00 30,00 40,00 30,00 30,00
48,58 27,39 24,03 63,17 20,65 16,18 19,89 13,35 66,76 47,00 30,00 23,00 69,41 18,79 11,80 88,56 8,64 2,80 50,00 50,00 4,00 96,00 17,00 57,00 26,00 70,00 30,00 40,00 30,00 30,00
46,64 28,85 24,51 63,48 20,47 16,05 20,57 13,24 66,19 53,00 27,00 20,00 69,50 18,70 11,81 91,29 6,58 2,13 76,83 23,17 50,00 50,00 4,00 96,00 38,60 33,89 27,51 70,00 30,00 38,60 33,89 27,51
68,98 16,51 14,51 68,98 16,51 14,51 68,98 16,51 14,51 53,00 27,00 20,00 68,98 16,51 14,51 69,05 18,58 12,37 91,29 6,58 2,13 82,83 17,17 50,00 50,00 4,00 96,00 38,60 33,89 27,51 70,00 30,00 38,60 33,89 27,51
71,89 14,94 13,17 71,89 14,94 13,17 71,89 14,94 13,17 53,00 27,00 20,00 71,89 14,94 13,17 67,44 18,34 14,22 91,29 6,58 2,13 88,78 11,23 66,78 33,22 4,00 96,00 57,73 23,33 18,94 83,33 16,67 4,00 9,08 86,92 53,69 27,12 19,19
73,20 15,19 11,61 73,20 15,19 11,61 73,20 15,19 11,61 73,20 15,19 11,61 73,20 15,19 11,61 73,20 15,19 11,61 73,20 15,19 11,61 73,20 15,19 11,61 73,20 15,19 11,61 4,00 96,00 73,20 15,19 11,61 73,20 15,19 11,61 4,00 9,08 86,92 73,20 15,19 11,61
47
43
57,6
61,0
63,6
64,7
64,8
66,3
70,9
73,6
32
34
24,0
22,2
21,1
20,2
20,0
18,5
15,4
14,0
20
23
18,4
16,8
15,3
15,1
15,2
15,1
13,7
12,4
72
71
68,9
70,0
70,3
69,9
69,4
71,3
73,3
73,7
12
13
14,2
13,3
13,6
13,5
13,9
12,7
11,8
11,5
16
16
16,9
16,8
16,1
16,5
16,7
16,0
14,9
14,9
1) Anteile ab 1973 auf 3 Nachkommastellen, einheitlicher Schlüssel 2005: Bund 73,204, Länder 15,191, Gemeinden 11,605. 2) Sonstige gemeinschaftliche Bundesabgaben: bis 1972 Weinsteuer, ab 1973 Kunstförderungsbeitrag, 1973–1992 Abgabe von alkoholischen Getränken, ab 1993 Schaumweinsteuer (Weinsteuer, Branntweinaufschlag und Monopolausgleich), ab 1997 Zwischenerzeugnissteuer, Alkoholsteuer; ab 2005 Kapitalverkehrssteuern, Tabaksteuer, Elektrizitätsabgabe, Erdgasabgabe, Kohleabgabe, Versicherungssteuer, Normverbrauchsabgabe, Konzessionsabgabe; hier ohne Spielbankabgabe (bis 725 Tsd. € B/L/G 70/5/35, darüber 70/15/15 %; horizontale Teilung nach örtl. Aufkommen auf Länder und Gem. mit Spielbankbetrieb). Quelle: FAG 1948–2005 (siehe Quellenverzeichnis); eigene Zusammenstellung und Berechnungen, 2006.
181
Retrospektive des österreichischen Finanzausgleichs
6. Horizontaler Finanzausgleich Länderweise Aufteilung der Ertragsanteile der Länder und Gemeinden Im horizontalen Finanzausgleich werden die auf die Länder und die Gemeinden entfallenden Erträge nach spezifisch für jede gemeinschaftliche Bundesabgabe festgelegten Regelungen auf die Bundesländer verteilt. Die unterschiedlichen Aufteilungsschlüssel wurden ab 1997 sukzessive vereinheitlicht, vor allem das örtliche Aufkommen weitgehend durch Fixschlüssel ersetzt (Tabelle 7). Ab 2005 kommen bei dieser Zuteilung nur noch die Volkszahl, die gewichtete Volkszahl, das örtliche Steueraufkommen sowie Fixschlüssel zur Anwendung. Die länderweise Aufteilung ist dadurch zu 90 % vorab während einer FAG-Periode fixiert. Abbildung 4 zeigt, dass die Aufteilungsverhältnisse zwischen den Bundesländern bei den Länderertragsanteilen weitgehend konstant waren und Verschiebungen nur nach Volkszählungsjahren auftraten. Analoges gilt für die länderweisen Ertragsanteile der Gemeinden. Abbildung 4: Anteil der Länder (o. Wien) an Länderertragsanteilen 1976–2005 in % 25
Anteil in %
20
15
10
5
Burgenland
Kärnten
Niederösterreich
Oberösterreich
Salzburg
Steiermark
Tirol
Vorarlberg
2005
2004
2003
2002
2001
2000
1999
1998
1997
1996
1995
1994
1993
1992
1991
1990
1989
1988
1987
1986
1985
1984
1983
1982
1981
1980
1979
1978
1977
1976
0
Quelle: Statistik Austria 1978–2006; SimFag, 2006; eigene Berechnungen, 2006.
Gemeindeweise Aufteilung der Ertragsanteile der Gemeinden Die länderweise horizontale Verteilung der Gemeindeertragsanteile auf die einzelnen Gemeinden erfolgte 1948–2005 in 2 bis 5 Schritten (Tabelle 8): 1. (Gemeinde-)Bedarfszuweisungsmittel: Von den länderweise aufgeteilten Ertragsanteilen der Gemeinden ist ein Anteil (12,7 % gemäß FAG 2005) an die Länder (mit Ausnahme von Wien) für die Gewährung von Bedarfszuweisungen an Gemeinden und Gemeindeverbände zu überweisen.
182
Johann Bröthaler
Tabelle 7: Horizontale länderweise Verteilung der Ertragsanteile der Länder und der Gemeinden – Aufteilungsschlüssel 1948–2008 gemäß Finanzausgleichsgesetz FAG Veranl. Einkommensteuer L einschl. Abzugsteuer G Lohnsteuer L G Kapitalertragsteuer L (ab 1989 KESt I) G Kapitalertragsteuer II L (ab 1989) G Körperschaftsteuer L (ab 1998) G Umsatzsteuer L G Mineralölsteuer L G Kraftfahrzeugsteuer L G Motorbezogene L Versicherungssteuer G Grunderwerbsteuer und L ab 1973 Bodenwertabg. G Erbschafts- und L Schenkungssteuer G Biersteuer L G Werbeabgabe L (-steuernausgleich) G Sonstige Abgaben L G Ab 2005 sonst. Abgaben L einheitl. Schlüssel G
1948- 1959 1956 4 4 4 4/6 1 1 2 2 4 4 4 4 1 1 2 1/2 1/6-8 1/6-8 1 12/4 4 4 4 4 4 4 11 11 11 1/4 1/4 2 1 -
1967 1973 1979 1985 1989 1993
1997
2001
2005
4 4 4 4/10 4/10 4/10 1/3 1/3 1/3 4/6 4/6 4/6 4/6 4/6 4/6 2/3 2/3 1/2/3 1 1 1 1/10 1/10 1/10 1/3 1/3 1/3 2 2 2 2 2 2 2/3 2/3 1/2/3 4 4 4 4 4 4 1/3 1/3 1/3 4 4 4 4 4 4 2/3 2/3 1/2/3 1/5 1/5 1/5 1/5 1/3 2 2 2 2 1/2/3 1/3 1/3 1/3 2/3 2/3 1/2/3 1/8 1/8 1/8 1/8/10 1/8/10 1/8/10 1/9 1/9 1/3/9 1/2/6 1/2/6 1/2/6 1/2/6 1/2/6 1/2/6 1/2/3 1/2/3/9 1/2/3/9 1/6-8 1/6-8 1/6-8 1/6/7 1/6/7 1/6/7 1/3 1/3 1/3 1/6/7 1/6/7 1/6/7 1/6/7 1/6/7 1/6/7 1/3 1/3 1/2/3 4 4 4 4 4 3 3 3 1/3 4 - 1/2/3 3 3 3 1/3 - 1/2/3 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 11 11 11 11 11 1/11 1/3 1/3 1/3 11 11 11 11 11 1/11 1/3 1/3 1/2/3 8 8 1/3 1/3 1/4 1 1 1 1 1 1 1 1/3 1 1 1 1 1 1 1 1 1/2/3 1/3 - 1/2/3
Aufteilungsschlüssel für die länderweise horizontale Verteilung der Ertragsanteile der Länder (L) und der Gemeinden (G): 1 Volkszahl (Wohnbevölkerung gemäß Volkszählung) 2 Gewichtete Volkszahl gemäß abgestuftem Bevölkerungsschlüssel 3 Fixschlüssel: fixe Prozentanteile je Land (z. T. Anpassung an Verteilungsergebnis des Vorjahres oder länderweise Anteile nach dem Durchschnitt von Indikatoren früherer Jahren, z. B. des örtlichen Aufkommens) 4 Länderweises örtliches Aufkommen der betreffenden Steuer 5 Länderweises örtliches Aufkommen an veranlagter Einkommensteuer einschl. Abzugsteuer 6 Länderweises örtliches Aufkommen an Gewerbesteuer nach Ertrag und Kapital, bei Mineralölsteuer zusätzlich örtliches Aufkommen an Kfz-Steuer 7 Straßenlänge und Gebietsfläche 8 Spezielle Schlüssel für einzelne Bundesländer (z. B. bei USt spezieller Anteil für Wien, bei Mineralölsteuer Vorzugsanteil für B, NÖ, St; bei Werbeabgabe für K, St, V) 9 Bei USt-Anteil der Länder ab 1997 fixe Anteile für Krankenanstaltenfinanzierung; bei USt-Anteil der Gemeinden ab 2001 fixe Anteile als Getränkesteuerausgleich 10 Länderweise Anteile der Gemeinden an den gemeinschaftlichen Bundesabgaben (ohne Spielbankabgabe) 11 Bierverbrauch 12 Benzinverbrauch (bei Kfz-Steuer bis 1949) Quelle: FAG 1948–2005 (siehe Quellenverzeichnis); eigene Zusammenstellung, 2006.
183
Retrospektive des österreichischen Finanzausgleichs
2. Vorausanteile (ab FAG 1959): Gemeinden, deren Finanzkraft im Vorjahr den Finanzbedarf nicht erreicht hat, erhalten Vorausanteile in Höhe von 30 % der Differenz zwischen Finanzbedarf und Finanzkraft. 3. Sockelbetrag (FAG 1993 bis FAG 2001): Ab 1993 erhielt jede Gemeinde einen Sockelbetrag in Höhe von 7,43 € pro Einwohner. 2001–2004 wurde er von 43,77 € auf 72,66 € angehoben, ab dem FAG 2005 wieder entfernt. 4. Ausgleich Getränke-/Werbesteuern (ab FAG 2001): Der Getränkesteuerund der Werbesteuernausgleich werden im Verhältnis früherer Erträge an der Getränke- und Speiseeissteuer bzw. Anzeigen- und Ankündigungsabgabe, weitere Anteile an der Werbeabgabe nach der Volkszahl verteilt. 5. Aufteilung nach ABS: Der verbleibende Betrag wird nach der gewichteten Volkszahl gemäß abgestuftem Bevölkerungsschlüssel auf die Gemeinden verteilt. Der Vervielfacher von Gemeinden mit bis 10.000 EW wurde in mehreren Schritten erhöht, zuletzt im FAG 2005 von 1 1/3 auf 1 1/2. Ab FAG 1993 ist eine verstärkt egalitäre Umverteilungspolitik festzustellen. Die Anhebung der Gemeinden mit unter 10.000 EW (durch Sockelbetrag bzw. Erhöhung ihres Vervielfachers) ging v. a. zu Lasten der Gemeinden mit über 50.000 EW (Abbildung 5), wobei die Verluste z. T. durch sekundäre Finanzzuweisungen ausgeglichen wurden. Zusammenfassend ist die Entwicklung des horizontalen Finanzausgleichs gekennzeichnet durch • • • •
Vereinheitlichung der horizontalen Aufteilungsschlüssel, weitgehende Konstanz der länderweisen Aufteilungsverhältnisse, horizontale Verschiebungen nur nach Volkszählungsjahren, zunehmend egalitäre Umverteilungspolitik bei Gemeinden.
Abbildung 5: Anteil der Gemeinden nach Größenklassen an gesamten Ertragsanteilen der Gemeinden (ohne Bedarfszuweisungsmittel) 1976–2005 in % 70
60
50
bis 10 000 Einwohner
Anteil in %
_
10 001 bis 20 000 Einwohner 20 001 bis 50 000 Einwohner
40
über 50 000 Einwohner (o.W.) 30
20
10
Quelle: Statistik Austria 1978–2006; SimFag, 2006; eigene Berechnungen, 2006.
2005
2004
2003
2002
2001
2000
1999
1998
1997
1996
1995
1994
1993
1992
1991
1990
1989
1988
1987
1986
1985
1984
1983
1982
1981
1980
1979
1978
1977
1976
0
184
Johann Bröthaler
Tabelle 8: Länderweise horizontale Verteilung der Ertragsanteile der Gemeinden – Aufteilungsschlüssel 1948–2008 gemäß Finanzausgleichsgesetz Schlüssel der horizontalen Verteilung auf Gemeinden (Anteil in %) Abzug für (Gemeinde-) Bedarfszuweisungsmittel 1) Vorausanteil (FinanzbedarfFinanzkraft-Ausgleich) 2) Sockelbetrag 3) Getränke- und Werbesteuernausgleich 4) Abgest. Bevölkerungsschlüssel 5) Vervielfacher von Gemeinden mit höchstens 1.000 EW 1.001 bis 2.500 EW 2.501 bis 10.000 EW höchstens 10.000 EW 10.001 bis 20.000 EW 20.001 bis 50.000 EW und Statutarstädte mit bis 50.000 EW über 50.000 EW und Stadt Wien Randgemeinden Wien 6) Einschleifbereich 7)
1948- 1953 1956 1959 1967 1973- 1985 1989 1993 1997 2001 2005 1950 1979 25,0
25,0
25,0
15,0
13,5
13,5
13,5
13,5
13,5
13,5
12,7
12,7
-
-
-
4,0 -
4,0 -
4,0 -
4,0 -
4,0 -
3,9 1,6
2,9 1,4
3,1 5,8
4,0 -
75,0
75,0
75,0
81,0
82,5
82,5
82,5
82,5
81,0
82,2
5,8 72,6
6,7 76,6
3 1 1 1/6 1 1/6 1 1/6 1 1/6 3 1 1 1/3 1 1/3 1 1/3 1 1/3 4 1 1/3 1 1/3 1 1/3 1 1/3 1 1/3 1 1/3 1 1/3 1 1/3 1 1/3 1 1/3 1 1/2 5 1 2/3 1 2/3 1 2/3 1 2/3 1 2/3 1 2/3 1 2/3 1 2/3 1 2/3 1 2/3 1 2/3 6 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 7 2 1/3 2 1/3 2 1/3 2 1/3 2 1/3 2 1/3 2 1/3 2 1/3 2 1/3 2 1/3 2 1/3 - 2 1/3 2 1/3 2 1/3 2 1/3 2 1/3 2 1/3 ja ja ja ja
1) Verminderter Abzug für (Gemeinde-)Bedarfszuweisungsmittel 1959/1967 wegen Einführung der Vorausanteile und Abtausch der Gewerbesteuer gegen höhere Ertragsanteile, 2001 in Folge Getränkesteuer- und Werbesteuernausgleich. 2) Vorausanteil (ab 1959 anstelle des Gewerbesteuern-/-spitzenausgleichs): Gemeinden, deren Finanzkraft, bestimmt durch Grundsteuer, Kommunalsteuer und Finanzzuweisungen gemäß § 21 FAG (2005), im Vorjahr den Finanzbedarf (=gewichteter Durchschnitt der Finanzkraft im Vorjahr) nicht erreicht hat, erhalten Vorausanteile in Höhe von 30 % der Differenz zwischen Finanzbedarf und Finanzkraft (Anteil an Ertragsanteilen inkl. BZ 2005 im Schnitt 4 %, bei einzelnen Gemeinden 0-10 %) 3) Sockelbetrag: 1993–2000: 7,43 Euro/EW, 2001–2004 von 43,75 auf 72,66 Euro/EW steigend (Anteil 2004: 10,2 %) 4) Ab FAG 2001 werden die Anteile für den Getränkesteuerausgleich nach fixierten Anteilen am ehemaligen Getränke- und Speiseeissteuerertrag (durchschnittliche Erträge 1993–1997 mit einzelnen Ausnahmebestimmungen) verteilt. Die Anteile aus dem Werbesteuernausgleich werden im fixierten Verhältnis der früheren Erträge der Gemeinden an der Anzeigen- und Ankündigungsabgabe (Durchschnitt 1996–1998), weitere Anteile an der Werbeabgabe nach der Volkszahl verteilt. 5) Die Volkszahl gemäß letzter Volkszählung wird mit dem Vervielfacher der entspr. Gemeindegrößenklasse multipliziert. Die länderweise Zusammenzählung der so ermittelten Gemeindezahlen ergibt die abgestuften Bevölkerungszahlen der Länder. 6) Randgemeindenschlüssel 1954–1988: Für die Gemeinden, die auf Grund des Gebietsänderungsgesetzes, BGBl. Nr. 110/1954, an das Bundesland Niederösterreich rückgegliedert worden sind, ist der für die Stadt Wien geltende Vervielfältiger anzuwenden. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 27. Juni 1991, G 158 —162/91.–24 den Randgemeindenschlüssel gemäß § 8 (3) FAG 1989, BGBl. Nr. 687/1988, rückwirkend ab 1989 als verfassungswidrig aufgehoben (Kundmachung BGBl. 1991/428) – mit der Begründung, dass fast 35 Jahre für ein Übergangsprovisorium zu lang seien (Hüttner, 2001, S. 33). 7) Einschleifbereich bis 10 % unter den Stufengrenzen: Zur veredelten Volkszahl (EW mal Vervielfacher) wird bei Gemeinden, deren Einwohnerzahl im Bereich von 9 000 bis 10 000, von 18 000 bis 20 000 oder von 45 000 bis 50 000 liegt, bei Städten mit eigenem Statut jedoch nur bei solchen, deren Einwohnerzahl im Bereich von 45 000 bis 50 000 liegt, ein weiterer Betrag dazugezählt. Dieser beträgt bei Gemeinden bis 10 000 Einwohner 1 2/3, bei den anderen Gemeinden 3 1/3 vervielfacht mit der Zahl, mit der die Einwohnerzahl die untere Bereichsgrenze übersteigt. Quelle: FAG 1948–2005 (siehe Quellenverzeichnis); eigene Zusammenstellung, 2006.
7. Sekundärer Finanzausgleich Finanzzuweisungen und Zuschüsse Der sekundäre Finanzausgleich regelt Finanzzuweisungen, Bedarfszuweisungen und Zweckzuschüsse vom Bund an Länder, von Bund an Gemeinden sowie von Gemeinden an Länder. Letzteres betrifft nur die Obergrenze für die Landesumlage, weitere Transfers zwischen Länder und Gemeinden werden im FAG nicht berücksichtigt. Einen Grenzfall stellen die GemeindeBedarfszuweisungen (gemäß § 11 (1) FAG 2005) dar, die im primären FA
185
Retrospektive des österreichischen Finanzausgleichs
durch Abzug von den Gemeindeertragsanteilen dotiert werden, als Transfers von Länder an Gemeinden gemäß FAG insgesamt dem sekundären FA zuzurechnen wären, die Vergabe jedoch außerhalb des FAG geregelt ist und demgemäß als tertiäre Transfers zu betrachten wären. Die Transfers des sekundären Finanzausgleichs dienen zum Teil der Umverteilung zwischen Länder bzw. Gemeinden (Kopfquotenausgleich), zum Teil sind sie für bestimmte Zwecke vorgesehen (Personennahverkehr, Theater, Landwirtschaft, Umweltschutz), bei Gemeinden z. T. auch zur Abgeltung von Verlusten im primären Finanzausgleich. Die Entwicklung der sekundären Transfers kann grob in drei Phasen eingeteilt werden (Tabelle 9, Abbildung 6): • 1967–1984 „Wildwuchs“ an Zuweisungen und Zuschüssen mit real konstanten sekundären Netto-Transfers der Länder und Gemeinden, • 1985–1994 teilweise Neuordnung der sekundären Transfers mit in Summe konstant bleibenden Netto-Transfereinnahmen, • ab 1995 erhebliche Ausweitung der sekundären Transfers mit einem deutlichen Anstieg jener an Länder. Die sekundären Netto-Transfers der Gemeinden (ohne Gemeindebedarfszuweisungen) waren 1976–2005 durchwegs knapp negativ (durch korrespondierenden Anstieg der Landesumlage und z. T. nominell fixierte Transfers). Gestiegen ist ab 1995 vor allem die Belastung durch tertiäre Transfers. Abbildung 6: Sekundäre Transfers der Länder (inkl. Wien als Land und Gemeinde) und der Gemeinden (ohne Wien)1) 1976–2005 in Mio. € real (Preisbasis 2005) 4.000 3.500
Mio. Euro real (Preisbasis 2005)
3.000 2.500 2.000 1.500 1.000 500 0 -500 -1.000
2005
2004
2003
2002
2001
2000
1999
1998
1997
1996
1995
1994
1993
1992
1991
1990
1989
1988
1987
1986
1985
1984
1983
1982
1981
1980
1979
1978
1977
1976
-1.500
Sek. Netto-Transfers der Länder (inkl. Wien)
Sekundäre Netto-Transfers der Gemeinden (ohne Wien)
Ersätze Landeslehrer Bund an Länder (inkl. Wien)
Tertiäre Netto-Transfers der Gemeinden (ohne Wien)
Sonstige Transfers an Länder nach Sondergesetzen
Sek. Netto-Transfers der Gemeinden o.W. (inkl. BZ)
1) Bei Gemeinden mit und ohne Gemeinde-Bedarfszuweisungen, bei Länder zusätzlich Ersätze des Bundes für Landeslehrer und weitere quantitativ bedeutende Transfers vom Bund an Länder nach Sondergesetzen (bmf.gv.at, Zahlungen des Bundes an L/G). Quelle: Statistik Austria 1978–2006; BMF, 2006; SimFag, 2006; eigene Berechnungen, 2006.
186
Johann Bröthaler
Tabelle 9: Finanzzuweisungen (FZ), Bedarfszuweisungen (BZ) und Zweckzuschüsse (ZZ) im Rahmen des sekundären Finanzausgleichs 1948–2008 gemäß Finanzausgleichsgesetz FAG
1948- 1959 1967 1973 1979 1985- 1997 2001 1956 1993 2005
Bund an Länder FZ für Länder-Kopfquotenausgleich 1) FZ für Zwecke des ÖPNV FZ zur Finanzierung der Förderung der Landwirtschaft FZ für umweltschonende u. energiesparende Maßnahmen BZ für Haushaltsgleichgewicht 2) BZ für Ausgliederungen und Schuldenreduzierungen 2) ZZ für Theater 3) ZZ zur Förderung des Umweltschutzes 5) ZZ für Krankenanstaltenfinanzierung 6) Sonstige Zuweisungen und Zuschüsse 7) Bund an Gemeinden FZ zur Förderung von ÖPNV-Unternehmen, -Invest. 8) FZ für Polizeikostenersatz 9) FZ für Gemeinde-Kopfquotenausgleich 1) BZ für Haushaltsgleichgew., Ausglied. u. Schuldenred. 2) ZZ für Theater 3) ZZ für Förderung des Umweltschutzes (Zivilschutz) FZ für Gemeinden mit ÖBB-Betriebsstätten 10) ZZ für Förderung des Fremdenverkehrs ZZ für Schulerhaltung Gemeinden an Länder Landesumlage (Höchstsatz in %) 11) Länder an Gemeinden Gemeinde-Bedarfszuweisungen (siehe prim. FA)
ja -
ja 4) 7)
ja 4) 7)
ja ja ja 7)
ja ja ja 7)
ja ja ja -
ja ja ja ja ja ja ja ja 7)
ja ja ja ja ja ja ja ja ja -
9) -
9) 4) -
9) ja ja 4) ja
ja ja ja ja 4) ja
ja ja ja ja ja -
ja ja ja ja ja ja ja -
ja ja ja ja ja -
ja ja ja ja ja -
20,0 16,0 14,5 12,5 10,5
8,3
8,3
7,8
ja
ja
ja
ja
ja
ja
ja
ja
1) Länderkopfquotenausgleich (ab FAG 1956 inkl. Wien); Gemeindekopfquotenausgleich ab 1985 (gleichzeitig mit Wegfall der untersten ABS-Stufe (bis 1000 EW) und Reduktion des Höchstsatzes der Landesumlage). 2) Bedarfszuweisungen des Bundes an Länder und Gemeinden zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des Gleichgewichts im Haushalt und als Ausgleich für Ausgaben im Zusammenhang mit Ausgliederungen und Schuldenreduzierungen; 2001/2005 Bedarfszuweisung zur Milderung von Verlusten größerer Städte (über 20.000 EW, ohne Wien) durch Anhebung des Sockelbetrages bzw. des Vervielfachers der untersten ABS-Stufe. 3) Zweckzuschuss des Bundes an Länder und Gemeinden für Theater (teilweise Abgangsdeckung, Investitionsaufwand); im FAG 1967–1989 bei Gemeinden zusätzlich Finanzzuweisung. 4) Kann-Bestimmung (im Bundesfinanzgesetz festzusetzen). 5) Zweckzuschuss zur Förderung des Umweltschutzes, insbes. der Errichtung und Verbesserung von Müllbeseitigungsanlagen. 6) Weiterleitung des Vorwegabzugs vom USt-Anteil der Gemeinden zur Krankenanstaltenfinanzierung (seit 1997 in Folge der Verländerung der Krankanstaltenfinanzierung). 7) Ab 1959 und insbes. 1967–1984 "Wildwuchs" an Finanzzuweisungen (z.T. Kann-Bestimmungen), u.a. zur Förderung von wirtschaftlich unterentwickelten Gebieten, Behebung von Katastrophenschäden, Sport/Fremdenverkehrswirtschaft, Naturschutz, Flüchtlingshilfe, Schulerhaltung; 1997–2000 zur Errichtung und Förderung von Kinderbetreuungseinrichtungen. 8) Finanzzuweisungen des Bundes an Gemeinden zur Förderung von öffentlichen Personennahverkehrsunternehmen und von Personennahverkehrsinvestitionen (bis FAG 1989 als Zweckzuschuss). 9) Bis 1972 Polizeikostenbeitrag von Statutarstädten mit Bundespolizeibehörden an Bund; ab 1985 Finanzzuweisung des Bundes an Statutarstädte ohne Bundespolizeibehörde für den dadurch entstehenden Mehraufwand. 10) Finanzzuweisung für Gemeinden mit ÖBB-Betriebsstätten sowie bis 1973 für Gemeinden mit Salinenbetrieben. 11) Maximaler Prozentsatz der ungekürzten rechnungsmäßigen Ertragsanteile der Gemeinden an gemeinschaftlichen Bundesabgaben (ohne Werbeabgabe), in einzelnen Ländern nicht ausgeschöpft (NÖ aufgelassen, 2005 OÖ 7,1 %, T 7,6 %). Quelle: FAG 1948–2005 (siehe Quellenverzeichnis); eigene Zusammenstellung, 2006.
Kostentragungsbestimmungen gemäß FAG Die Kostentragungsbestimmungen regeln Abweichungen vom Grundsatz gemäß § 2 F-VG 1948, wonach „der Bund und die übrigen Gebietskörperschaften, sofern die zuständige Gesetzgebung nichts anderes bestimmt, den Aufwand tragen, der sich aus der Besorgung ihrer Aufgaben ergibt“.
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Retrospektive des österreichischen Finanzausgleichs Tabelle 10: Kostentragungsbestimmungen 1948–2008 gemäß Finanzausgleichsgesetz Kostentragung, -ersätze gemäß FAG Tragung der Kosten der mittelbaren Bundesverwaltung durch Länder 1) Ersatz der Kosten der Länder durch den Bund für die Verwaltung von Bundesvermögen 2) Tragung d. Aufwandes f. Ausgleichszulagen n. d. Sozialversicherungsgesetzen durch Bund 3) Ersatz von Besoldungskosten für Landes- und Religionslehrer durch Bund (in %): - Personalaufwand an berufsbildenden sowie land- und forstwirtschaftlichen Schulen - Personalaufwand an allgemeinbildenden Schulen 4) - Pensionsaufwand (abzügl. der von den Ländern vereinnahmten Pensionsbeiträge) Ersatz eines Teils der Kosten des Bundes für Sondernotstandshilfe durch Gemeinden. Ersatz der Kosten von Verfahren vor dem EuGH durch Länder/Gemeinden Ersatz von Kosten der Gemeinden für die Großzählung 2001 durch Bund. Netto-Zahlungen des Bundes (in Mrd. €)
durch
1948 1953 1956 1967 1973 1985 1993 1997 2001 2005 1950 1959 1979 1989
Länder
ja
ja
ja
ja
ja
ja
ja
ja
ja
ja
Bund
ja
ja
ja
ja
ja
ja
ja
ja
ja
ja
Bund
-
-
ja
ja
ja
ja
ja
ja
ja
ja
B./L.
50
50
50
50
50
50
50
50
50
50
Bund
-
4)
4)
90
100
100
100
100
100
100
Bund
-
-
-
-
100
100
100
100
100
100
Gem.
-
-
-
-
-
-
(ja)
ja
ja
-
L./G.
-
-
-
-
-
-
-
ja
ja
ja
Bund
-
-
-
-
1,7
2,9
3,7
3,9
ja 4,5
5,2
1) Kosten der mittelbaren Bundesverwaltung: Personalaufwand inkl. Ruhe- und Versorgungsgenüsse, Amtssachaufwand, nicht jedoch Zweckaufwand. 2) Auftragsverwaltung gemäß Art. 104 (2) B-VG (Ausnahme zur mittelbaren Bundesverwaltung) für Verwaltung von Bundesvermögen (bundeseigene Liegenschaften, Bundesstraßen und für Bundeshochbau). Die Finanzierung der Straßen ist ab 2003 in § 4a Zweckzuschussgesetz 2001 idgF geregelt. Durch die Ausgliederung der Privatwirtschaftsverwaltung des Bundes (etwa an die BIG und die ASFINAG) bzw. durch Übertragung der Bundesstraßen B an die Länder sind die Bestimmungen zu den Kosten der Auftragsverwaltung praktisch obsolet geworden. 3) Tragung des (den Ländern und Gemeinden auferlegten) Aufwandes für Ausgleichszulagen nach den Sozialversicherungsgesetzen (ASVG, GSVG, BSVG, FSVG) durch den Bund (1956 im Abtausch mit 40 % Anteil an Gewerbesteuer). 4) Personalaufwand an allgemeinbildenden Schulen: 1951–1966 Beitrag der Länder zum Aktivitätsaufwand bei (kompliziert zu berechnenden) Lehrerüberstand und zum Pensionsaufwand bei vorzeitigem Ruhestand; 1967–1972 10 % Länderbeitrag zum Personalaufwand (Gegenleistung erhöhter USt-Anteil der Länder); ab 1973 Tragung des Personalaufwandes durch Länder (als Dienstgeber der Landeslehrer) und vollständiger Ersatz durch Bund (ab FAG 1993: im Rahmen der von BMBWK/BMF genehmigten Stellenpläne). Als Absicherung, dass die Länder den Bund bei der Stabilisierung der Personalausgaben für Landeslehrer unterstützen, ergänzend Festlegung von Untergrenzen für Schüler-Lehrer-Verhältnisse. Ab 2005 erhalten Länder zusätzlich 12 Mio. € zur Lösung von Strukturproblemen durch sinkende Schülerzahlen und für Unterricht für Kinder mit besonderen Förderungsbedürfnissen (§ 4 (8) FAG 2005). Quelle: FAG 1948–2005 (siehe Quellenverzeichnis); eigene Zusammenstellung, 2006.
Nach Auslegung des Verfassungsgerichtshofs (ab 1982, VfSlg 9507/1982) sind die Kostentragungsbestimmungen nicht funktionell (nach Aufgabenhoheit), sondern organisatorisch (nach Vollziehungszuständigkeit) zu interpretieren.10 Während die Bestimmungen zur Kostentragung im Rahmen der Auftragsverwaltung durch Ausgliederungen und Aufgabenübertragung praktisch obsolet geworden sind, ist als umstrittenes Thema der letzten Jahrzehnte der Ersatz von Besoldungskosten und Pensionen für Landes- und Religionslehrer durch den Bund verblieben. Von den Kostentragungszahlungen des Bundes (2005 netto 5,2 Mrd. €) machten jene für Landeslehrer 3,7 Mrd. €, Ausgleichszulagen nach den Sozialversicherungsgesetzen 0,9 Mrd. € aus. 10
Das heißt, dass die Behörde, die im Vollzug tätig wird, den Aufwand (Personal- und Amtssachaufwand, nicht jedoch Zweckaufwand) zu tragen hat, unabhängig davon, ob sie im eigenen oder im übertragenen Wirkungsbereich tätig wird (Hüttner, Griebler, 2005, S. 32 f.).
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Johann Bröthaler
8. Resümee und Perspektiven In den letzten 60 Jahren war der Finanzausgleich in Österreich durch folgende Grundsätze und Entwicklungen geprägt: − Grundsatz der Kontinuität bei Verteilung der Abgabenerträge (als Konsens in Verhandlungen und als postulatorisches Gerechtigkeitsprinzip); − Vereinfachung und Vereinheitlichung im primären Finanzausgleich (ab 1997 bei vertikalen und horizontalen Aufteilungsschlüsseln); − Ausweitung des Steuerverbundes und Schwächung des Aufkommensprinzips gegenüber dem (einwohnerbezogenen) Bedarfsprinzip; − Verminderte Autonomie nachgeordneter Gebietskörperschaften (durch Erosion der eigenen Abgaben, zunehmende Abhängigkeit von Transfers); − Zunehmend egalitäre Umverteilung zwischen Gemeinden (v. a. durch Abflachung des abgestuften Bevölkerungsschlüssels); − Ausweitung des Transferkomplexes (im sekundären und vor allem im tertiären Finanzausgleich); − Unklare Abgrenzung des Finanzausgleichs (durch Komplexität der finanziellen Verflechtungen, Auffassungsunterschiede bei Zurechenbarkeit); − Verminderte Informationsdefizite (früher als Instrument von FAGVerhandlungen, zuletzt offenere Informationspolitik des BMF). Der primäre Finanzausgleich wurde im letzten Jahrzehnt vom Druck laufender Anpassungen an Änderungen des Steuersystems befreit. Reformbedarf besteht beim Finanzausgleich im weiteren Sinn. Die teilweise seit Jahrzehnten bestehenden Forderungen legen der inhärenten Beständigkeit folgend vor allem einen umsetzungsorientierten Diskussions- und Reformprozess nahe:11 − Politische Vereinbarung einer längerfristigen Reformstrategie, − Stärkung des Konnexitätsprinzips durch Reorganisation der Aufgaben, Kompetenzen, Trägerschaften und der föderalen Steuerstruktur, − Reduktion und Reorganisation der Transferverflechtungen, − Aufgabenorientierung des Finanzausgleichs im weiteren Sinn sowie verstärkte Zielorientierung und Offenlegung der Zielkonflikte, − Integrierte Systembetrachtung und Modularisierung des Finanzausgleichs mit transparenten, ökonomisch fundierten Verteilungsvorgängen, − Verbesserte Messung von „Finanzkraft“ und „Finanzbedarf“ unter Beachtung von Unterschieden in Art, Umfang und Qualität der Leistungserbringung sowie der Aufgabenorganisation und –finanzierung, − Verantwortlichkeit durch angemessene Steuerautonomie (d. Länder) und Abwägen des Aufkommensprinzips gegenüber dem Ausgleichsprinzip, 11 Siehe z. B. Matzner (1971, S. 9 f.), Matzner (1977, S. 463-483), Smekal/Theurl (1990, S. 287-291), Farny et al. (1992 S. 78 ff.), Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen (1992, S. 13-21), Lehner (2001, S. 511), Matzinger, (2005, S. 179 ff.), Bauer/Thöni (2005, S. 18–22), Pramböck (2005, S. 210-214), Bröthaler (2005, S. 37 ff.), Bröthaler, Bauer, Schönbäck (2006, S. 238-243).
Retrospektive des österreichischen Finanzausgleichs
189
− Anreize zur Erschließung neuer und Ausnutzung bestehender Einnahmenquellen sowie Anreize für effiziente Mittelverwendung, − Periodische Evaluierung der Allokations- und Verteilungswirkungen sowie der Effizienz- und Wachstumseffekte des Verteilungssystems, − Verstärkung der kooperativen Elemente und einer koordinierten, nachhaltigen Ausrichtung öffentlicher Aufgabenerfüllung. Quellenverzeichnis Altmann, A., Lödl, M. (1992), Krankenanstalten-Zusammenarbeitsfonds (KRAZAF) und Finanzausgleich, in: Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen, S. 197–217. Bauer, H., Thöni, E. (2005), Begriffe, Prinzipien und Spannungsfelder des Finanzausgleichs in Österreich, in: KDZ, Österreichischer Städtebund, S. 15–28. Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen (1992), Finanzverfassung und Finanzausgleich, Herausforderungen und Anpassungserfordernisse, Wien. BMF (2000-2006), Bundesministerium für Finanzen, Zwischenabrechnungen über die Teilung der gemeinschaftlichen Bundesabgaben zwischen Bund, Länder und Gemeinden für die Jahre 1999– 2005, Stand jeweils März des Folgejahres, Wien. BMF (2006), Bundesministerium für Finanzen, Budget – Finanzbeziehung zu Länder und Gemeinden, www.bmf.gv.at/budget/ (August 2006), Wien. BMF (2006), Bundesministerium für Finanzen, Nationales Reformprogramm – Implementierungsbericht, Teil II, Maßnahmentabelle, 20. Sept. 2006, Wien. Bröthaler, J. (2004), Finanzausgleich 2005 – Simulation ausgewählter Varianten zum Finanzausgleichsgesetz 2005 – Auswirkungen auf den primären und sekundären Finanzausgleich der Gemeinden, Studie im Auftrag des österreichischen Städtebundes, Wien. Bröthaler, J. (2005), Die Verwaltungsausgaben der österreichischen Gemeinden, in: Rossmann, B., Hrsg., Finanzausgleich – Wie geht es weiter?, Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft Nr. 94, Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, Wien, S. 19–40. Bröthaler, J., Bauer, H., Schönbäck, W. (2006), Österreichs Gemeinden im Netz der finanziellen Transfers: Steuerung, Förderung, Belastung, Springer, Wien – New York. B-VG, Bundes-Verfassungsgesetz, BGBl. Nr. 1/1930 (WV), idF BGBl. I Nr. 121/2005. Farny, O., Kratena, K., Roßmann, B. (1990), Der Finanzausgleich in Österreich – Ökonomische Analyse und Reformideen, Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft Nr. 94, Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, Wien. Finanzausgleichsgesetze (FAG) und Finanzausgleichsnovellen (FAN) 1948–1993: FAG 1948, BGBl. 46/1948; FAN 1949, BGBl. 46/1948, FAG 1950, BGBl. 36/1950; FAN 1951, BGBl. 29/1951, FAN 1952, BGBl. 18/1952 idF 156/1952; FAG 1953, BGBl. 225/1952; FAN 1954, BGBl. 7/1954 idF 150/1954; FAN 1955, BGBl. 9/1955; FAG 1956, BGBl. 153/1955; FAN 1958, 28/1958; FAG 1959, BGBl. 97/1959 (BGBl. 83/1963); FAN 1964, BGBl. 263/1963; FAG 1967, BGBl. 2/1967 idF BGBl. 260/1972; FAG 1973, BGBl. 445/1972 idF BGBl. 455/1978; FAG 1979, BGBl. 673/1978 idF BGBl. 644/1982; FAG 1985, BGBl. 544/1984 idF BGBl. 607/1987; FAG 1989, BGBl. 687/1988 idF BGBl. 450/1992 Art. V; FAG 1993, BGBl. 30/1993 idF BGBl. 201/1996 Art. 64. FAG 1997, Finanzausgleichsgesetz 1997, Bundesgesetz, mit dem der Finanzausgleich für die Jahre 1997–2000 geregelt wird und sonstige finanzausgleichsrechtl. Bestimmungen getroffen werden, BGBl. Nr. 201/1996 idF BGBl. Nr. 746/1996, BGBl. I Nr. 130/1997, BGBl. II Nr. 60/1997, BGBl. I Nr. 79/1998, BGBl. I Nr. 32/1999, BGBl. I Nr. 106/1999, BGBl. I Nr. 26/2000 Art. 9, BGBl. I Nr. 29/2000, BGBl. I Nr. 30/2000, BGBl. I Nr. 3/2001 Art. 2. FAG 2001, Finanzausgleichsgesetz 2001, Bundesgesetz, mit dem der Finanzausgleich für die Jahre 2001–2004 geregelt wird und sonstige finanzausgleichsrechtliche Bestimmungen getroffen werden und das FAG 1997 und das Wohnbauförderungs-Zweckzuschussgesetz 1989 geändert werden, BGBl. I 3/2001 idF BGBl. I Nr. 27/2002, BGBl. I Nr. 50/2002, BGBl. I Nr. 114/2002 (DFB), BGBl. I Nr. 115/2002, BGBl. I Nr. 71/2003.
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FAG 2005, Finanzausgleichsgesetz 2005, Bundesgesetz, mit dem der Finanzausgleich für die Jahre 2005 bis 2008 geregelt wird und sonstige finanzausgleichsrechtliche Bestimmungen getroffen werden, BGBl. I Nr. 156/2004, Art. 1 idF BGBl. I Nr. 34/2005, BGBl. I Nr. 105/2005; Prozentsätze für die Verteilung der Ertragsanteile und für die Höhe von Finanzzuweisungen im Finanzausgleichsgesetz 2005, BGBl. I Nr. 301/2005.
F-VG 1948, Finanz-Verfassungsgesetz 1948, Bundesverfassungsgesetz über die Regelung der finanziellen Beziehungen zwischen dem Bund und den übrigen Gebietskörperschaften, BGBl. Nr. 45/1948 idF BGBl. I Nr. 100/2003. Horny, H. (1985), Der Finanzausgleich für die Jahre 1985–1988, Handbuch für die kommunale Praxis, Institut für Kommunalwissenschaften und Umweltschutz, Linz. Hüttner, B. (2001), Der Finanzausgleich: Grundlagen, Entwicklung, Finanzausgleichsgesetz 2001, in: Österreichischer Gemeindebund u. Österreichischer Städtebund, S. 23–157. Hüttner, B., Griebler, D. (2005), Grundlagen und Entwicklung des Finanzausgleichs in Österreich sowie Kommentar zum Finanzausgleichsgesetz 2005, in: KDZ – Zentrum für Verwaltungsforschung, Österreichischer Städtebund, Teil 1, S. 29–166. KDZ – Zentrum für Verwaltungsforschung, Österreichischer Städtebund, Hrsg. (2005), Finanzausgleich 2005, ein Handbuch – mit Kommentar zum FAG 2005, Neuer Wissenschaftlicher Verlag, Wien/Graz. Lehner, G. (2001), Finanzausgleich als Instrument der Budgetpolitik, WIFO-Monatsberichte 8/2001. Lehner, G. (2005), Aufgabenorientierter Finanzausgleich, in: KDZ – Zentrum für Verwaltungsforschung, Österreichischer Städtebund, S. 274–287. Matzinger, A. (2005), Finanzausgleich 2005 – das Ergebnis und Perspektiven, in: KDZ – Zentrum für Verwaltungsforschung, Österreichischer Städtebund, S. 169–184. Matzner, E. (1971), Überlegungen zur Reform des Finanzausgleiches, Manuskript (19. 3. 1971, K.14), Wien. Matzner, E. (1977), Hrsg., Öffentliche Aufgaben und Finanzausgleich, Eine Untersuchung der Probleme des österreichischen Finanzausgleichs, durchgeführt im Auftrag des Bundesministeriums für Finanzen, Orac, Wien. Österreichischer Gemeindebund und Österreichischer Städtebund in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Sparkassenverband und dem KDZ (2001), Finanzausgleich 2001 – das Handbuch für die Praxis, KDZ, Wien. Pramböck, E. (2005), Anforderungen an einen neuen, aufgabenorientierten Finanzausgleich, in: KDZ – Zentrum für Verwaltungsforschung, Österreichischer Städtebund, S. 200–214. Ruppe, G. (1977), Transfers aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Matzner, S. 382–389. Schönbäck, W. (Projektleiter Ifip), Fröschl, L., Gutheil, G., Bröthaler, J.; Schratzenstaller, M. (Projektleiterin WIFO), Kletzan, D. (2005), Nachhaltigkeit des österreichischen Finanzausgleichs – Status quo und Optionen, Studie des Fachbereichs Finanzwissenschaft und Infrastrukturpolitik, E280/3, der Technischen Universität Wien und des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag des Bundesministeriums für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft, Wien. Schönbäck, W., Bröthaler, J., Schneider, M., Weiser, A. (1992), Simulationsmodell des österreichischen Finanzausgleichs, ÖROK, Schriftenreihe Nr. 98, Wien. SimFag (1991-2007), Simulationsmodell des österreichischen Finanzausgleichs, Software des Fachbereichs Finanzwissenschaft und Infrastrukturpolitik, E280, der Technischen Universität Wien, Version 3.4: J. Bröthaler, Wien. Smekal, Ch., Theurl, E., Hrsg. (1990), Finanzkraft und Finanzbedarf von Gebietskörperschaften, Analysen und Vorschläge zum Gemeindefinanzausgleich in Österreich, Böhlau, Wien. Statistik Austria (2006), Einnahmen der öffentlich-rechtlichen Körperschaften 1976–1999; Direkte und indirekte Steuern des Bundes 1964–1994, ISIS-Datenbank, Wien. Statistik Austria (1978.2006), Gebarungsübersichten 1976–2001, Gebarungen und Sektor Staat 2002– 2004, Öffentliche Finanzen gemäß www.statistik.at (Sept. 2006), Wien.
Abschnitt D
Neue Herausforderungen in ausgewählten öffentlichen Aufgabenbereichen
Die Relevanz des Kontexts beim Design von Instrumenten der Forschungs-, Technologie- und Innovationspolitik Sabine Mayer
1. Einleitung Dank Egon Matzner hatte ich Mitte der 1990er Jahre die Gelegenheit, im Rahmen einer von ihm initiierten und betreuten Forschungsarbeit an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) zu dissertieren. Ich verdanke ihm nicht nur diese Chance, sondern darüber hinaus vor allem auch das grundsätzliche Interesse an Begründung, Ausgestaltung und Legitimation von Staatsintervention. Dieses Interesse hat er bereits als Lehrender während meiner Studienzeit geweckt; es wurde vertieft und in Diskussionen nicht nur mit ihm, sondern während meiner Zeit als Assistentin am Institut für Finanzwissenschaft und Infrastrukturpolitik der TU Wien auch mit anderen MitarbeiterInnen des Instituts, allen voran mit Wilfried Schönbäck, geschärft. In meiner Arbeit mit Egon Matzner und in weiterführenden Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen an der von ihm geleiteten Forschungsstelle für Sozioökonomie der ÖAW konnte ich dieses Interesse anhand einer Fragestellung der Raumplanung weiter vertiefen. Große Unterstützung habe ich dabei auch von Benjamin Davy erfahren. Ich habe Egon Matzner kennen und schätzen gelernt als jemanden, der bereit war, großes Vertrauen in die Eigenverantwortlichkeit seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu setzen; wo Anleitung und Steuerung nötig war, ist sie erfolgt, ansonsten war sein kooperativer Führungsstil von Toleranz, Aufmerksamkeit und der Bereitschaft zu gegenseitigem Lernen geprägt. Von zentralem Interesse für ihn waren Handlungsbedingungen und Entscheidungsverhältnisse in ihrem jeweiligen Kontext und im Zusammenhang damit die diesen Bedingungen angemessene Form und Funktion staatlichen Handelns; Beleg sind auch seine zahlreichen diesbezüglichen Publikationen. Dank seiner Anleitung und Begleitung hat Egon Matzner es mir ermöglicht, mit der „Relationalen Raumplanung“ einen institutionellen Ansatz für flexible Regulierung für eine spezifische Frage der Raumplanung, die Steuerung von Flächennutzungen, zu entwickeln. Dabei habe ich Raumplanung verstanden als „Entscheiden über Entscheidungen anderer“, demnach assoziiert mit hierarchisch organisierten Entscheidungsverhältnissen. Etwa zeitgleich mit dem Abschluss dieses Forschungsprojekts und damit meines Dienstverhältnisses mit der ÖAW begann sich meine Arbeit in der TIG Technologie Impulse Gesellschaft zu verändern. Es hat sich gezeigt,
194
Sabine Mayer
dass auch hier, im Bereich der Technologie- und Innovationspolitik, ähnliche Fragen auftauchen wie diejenigen, mit denen ich mich zuvor mit Bezug auf die Raumplanung beschäftigt hatte. Aus diesem Grund werde ich im Folgenden einige Thesen und Anforderungen zur Forschungs-, Technologie- und Innovationspolitik darstellen. 2. Thesen und Anforderungen zur Forschungs-, Technologie- und Innovationspolitik Forschungs-, Technologie- und Innovationspolitik (FTI-Politik) umfasst „alle öffentlichen Initiativen zur Gestaltung von Forschungs- und Innovationssytemen – d. h. neben öffentlichen Programmen, Politiken, Strategien und Regulierungen auch die „Landschaft der forschenden und Technologie entwickelnden Institutionen.“ (Standards der Evaluierung in der Forschungs- und Technologiepolitik, 2004, S. 3) Auch in diesem „Kontext“ präsentieren verschiedene ökonomische Denkschulen verschiedene Begründungen für Notwendigkeit und Sinn von Staatsintervention als Forschungs- und Technologie- oder Innovationspolitik. Sie führen aber auch zu unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich der aus ihren Analysen ableitbaren Handlungsanleitungen (für den folgenden Überblick siehe Hofer/Polt, 1996; S. 9ff.): − Ausgangspunkt waren Fragen nach den Bestimmungsgründen für (langfristiges) Wachstum und nach den Möglichkeiten, dieses wirtschaftspolitisch zu beeinflussen. So stellte bereits Solow (1956) fest, dass die Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens in den USA 1909 bis 1949 nicht ausschließlich durch den steigenden Einsatz von Produktionsfaktoren erklärt werden konnte. Den „Rest“ (das sogenannte Solow-Residuum) schrieb er technologischem Fortschritt zu. In der Neoklassik wurde diesem Phänomen und seinen Determinanten lange wenig Bedeutung beigemessen – technologischer Wandel wurde als exogene Größe gesehen („MannaFortschritt“). − Neoklassische Innovationstheorien haben Ihren Ausgangspunkt bei Arrow (1962, zit. nach Hofer/Polt 1996, S. 10), der, „die Produktion von ‘Technologie’ im Wesentlichen mit ‘Wissenschaft’ gleichsetzend, Momente von Marktversagen (Externalitäten, mangelnde Aneigenbarkeit der Resultate, Unsicherheit, asymmetrische Information, Skalenerträge) in diesem Prozess findet und daraus die Notwendigkeit der öffentlichen Finanzierung oder Erbringung von Forschungsleistungen zur Korrektur dieses Marktversagens ableitet.“ − Zentrale Hypothesen und Erkenntnisse der Evolutionären Innovationstheorie gehen davon aus, dass − Gegenstand der Untersuchung nicht mehr primär optimale Allokation ist, sondern die Erklärung von Systemdynamik (z. B. technologischer
Forschungs-, Technologie- und Innovationspolitik
−
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−
−
195
oder organisatorischer Wandel), wobei in einem breiteren Verständnis diese Phänomene in ein Wissensgenerierungs- und –verbreitungssystem eingebettet gesehen werden. Von der in der Neoklassik vorherrschenden Vorstellung von rational, vollständig informiert unabhängig agierenden Individuen wird abgegangen; das Konzept der „bounded rationality“ (begrenzte Rationalität) wird eingeführt (vgl. auch Williamson, 1985), Information und ihre Beschaffung, Kommunikation und Interaktion werden als zentrale Aktivitäten von Unternehmen (als die wesentliche Quelle technologischen Wandels) angesehen. Die evolutionäre Ökonomie hat biologische Evolutionsvorstellungen (Mutation, Selektion) in die Innovationsforschung eingeführt. Die Resultate von „Selektionsprozessen“ sind nicht vorhersehbar, sie sind von verschiedenen Faktoren wie beispielsweise dem verfügbaren Wissen, den Aneignungsmöglichkeiten (Patente etc.), der Absorptionsfähigkeit (der Unternehmen), der Netzwerkfähigkeit (der Akteure) und schlussendlich der bisherigen Entwicklung dieser Phänomene abhängig. Durch Rückkoppelungseffekte gemeinsam mit Pfadabhängigkeit entlang historisch bereits eingeschlagener Entwicklungspfade (Trajektorien) kann es zu „Lock-in“-Effekten kommen, sodass sich „suboptimale“ Technologien durchsetzen (vgl. auch North, 1990, 1992, Rosenberg, 1976). D. h. technologischer Wandel ist wesentlich von seiner Vergangenheit, den dabei entstandenen Institutionen und Infrastrukturen abhängig, Die lineare Sichtweise von der Grundlagenforschung zur Anwendung und Innovation wurde aufgegeben zugunsten einer Sichtweise, die Rückkoppelungen und Wechselwirkungen, sogar die mögliche Umkehrung dieser zeitlichen Linearität berücksichtigt. Die für technologische Innovation nötigen Lernprozesse beziehen sich neben dem in der Grundlagenforschung gewonnenen Wissen auf eine Vielzahl anderer Arten von Wissen (Erfahrungswissen, „institutionelles“ Wissen), welches in unterschiedlicher Form vorliegt (codified vs. tacit knowledge). So kommt nicht nur der Fähigkeit, Wissen zu produzieren, sondern auch derjenigen, Wissen aufzunehmen und anzuwenden, entscheidende Bedeutung zu. Hintergrund für diese Vorgänge ist jeweils ein ganz bestimmtes institutionelles Umfeld, das meist als nationales/regionales Innovationssystem (vgl. Freeman, 1987) bezeichnet wird und erheblichen Einfluss auf Art, Entwicklungsrichtung und Geschwindigkeit der Verbreitung technologischen Wandels hat. Die Innovationsleistung einer Ökonomie hängt also nicht so sehr von der Leistungsfähigkeit einzelner Institutionen (Universitäten, außeruniversitäre Forschung, Unternehmen etc.) ab, sondern von deren Interaktionen und ihrem Zusammenspiel mit sozialen Institutionen (formale und informelle Normen, Werthaltungen etc.).
196
Sabine Mayer
Ganz allgemein können Transaktionen (Austausch von Gütern, Informationen, Wissen) in unterschiedlichen organisatorischen Regimes ablaufen. Die Transaktionskostenökonomie (vgl. z. B. Williamson 1985) unterscheidet hier im Wesentlichen zwischen marktvermittelten Transaktionen (nichthierarchisch, auf Basis freier Entscheidungen individuell (begrenzt) rational agierender Akteure) und hierarchievermittelten Transaktionen (fest gekoppelte Entscheidungen mit definierten Entscheidungskompetenzen und -abläufen). Im ersten Fall versagt das institutionelle Regime aufgrund von Risiko, Unsicherheit und Abhängigkeiten, im anderen Fall müsste ausreichende Planbarkeit gewährleistet und nur geringe Flexibilität und Anpassungsfähigkeit nötig sein. Ein Ergebnis der Analyse von Forschungs- und Innovationsprozessen aus Sicht der Transaktionskostenökonomie ist, dass das institutionelle Design „Netzwerk“ – als Hybrid zwischen Markt und Hierarchie – als oftmals geeigneter Koordinationsmechanismus für Innovationsprozesse angesehen wird. Unter Netzwerk sind dabei relativ dauerhafte, informelle und vertrauensvolle Interaktionsbeziehungen heterogener Akteure zu verstehen, die freiwillig kooperieren und ihre Handlungen koordinieren, um einen gemeinsamen Mehrwert zu erzielen (vgl. Bührer et al., 2002). Theorien regionaler Wirtschaftsentwicklung haben weiters darauf hingewiesen, dass neben technologischen Monopolen auch räumliche Monopole entstehen – damit ist das Entstehen und Nutzen räumlicher Externalitäten und Synergien gemeint. Diese werden durch die Summe der in einer definierten Region vorhandenen Institutionen (Forschungseinrichtungen, Unternehmen usw.) geschaffen; die Qualität und Aneigenbarkeit dieser positiven Effekte hängt wiederum wesentlich von den spezifischen „Spielregeln“ ab und kann so zu regionalen Wettbewerbsvorteilen beitragen. In der „Industrial-district“Literatur wird das so zusammengefasst, dass Konventionen, Institutionen, Transaktionskosten und nicht-kodifizierbares Wissen als distanzabhängig und daher standortspezifisch aufgefasst werden (vgl. Essletzbichler/Gassler, 1996). Im Zusammenhang mit dem Abgehen von der linearen Sichtweise von der Grundlagenforschung hin zur Anwendung und Innovation ist die Diskussion um eine neue Art der Wissensproduktion („Mode 2“ vs. traditionell „Mode 1“) entstanden. „Mode 2“ research unterscheidet sich damit wesentlich von „Mode 1“ auch hinsichtlich der daraus resultierenden Handlungsmöglichkeiten für die Technologie- und Innovationspolitik: Mode-2Research ist durch ein Problem getrieben, das es zu lösen gilt; die Lösung kann kaum in mono-disziplinärer Arbeit gefunden werden; Arbeit erfolgt daher in disziplinübergreifenden Teams, aber auch in Teams aus verschiedenen Organisationen, z. B. Universitäten, außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, Unternehmen; die Qualität der Ergebnisse wird neben wissenschaftlichem Verdienst auch an der Kosten-Effizienz und der gesellschaftlichen Relevanz gemessen und ist damit kontextabhängig.
Forschungs-, Technologie- und Innovationspolitik
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Tabelle 1: Charakteristika von „Mode 1“- und „Mode 2“-Wissensproduktion Context Discipline base flow
Social organisation Accountability
Mode 1 Research is undertaken in terms of the norms of academic practice and pure research. It is driven by the interests of the discipline community. Knowledge development is framed and authorised by disciplinary norms and communities. Theory and application are distinguished. Knowledge production is deeply institutionalised, with limited multi-agency collaboration.
Quality contol
Researchers are accountable to, and judged by their peers.
Context
The scientist is seen as the expert. Quality control is based on the notions of disciplinary norms and excellence. A key criteria is the contribution to the discipline.
Mode 2 Research is use-driven but constrained by resources (especially time). Knowledge is produced in diverse teams, and reflects both interests and intended outcomes. Knowledge is transdiciplinary integrative and consensual. There is a dynamic between theory, application and the context. The site of knowledge production tends to draw on both academic and ‘industrial’ resources and values. Teams are transitory and diverse, with composition changing as projects evolve. Social and economic accountability permeates the knowledge production process, and includes the interests of diverse stakeholders. Quality is judged on a broad range of criteria, including intellectual merit, cost-effectiveness and economic and social relevance. Quality control is context and use dependent, adapting to local contexts and emerging circumstances.
Quelle: Mc William et al., 2002, zit. nach: Houghton et al., 2003, S. 6.
Die Notwendigkeit, von der Betrachtung einzelner Disziplinen oder einzelner Institutionen abzugehen wird vermehrt unterstrichen durch die aktuelle Diskussion unter der Bezeichnung „Triple Helix“: „A new institutional configuration to promote innovation, a ‚triple helix’ of university, industry and government is emerging [...]. The dynamic of society has changed from one of strong boundaries between seperate institutional spheres and organizations to a more flexible overlapping system, with each taking the role of the other” (Etzkowitz, 2002, S. 2). Betont werden dabei neben der engen nicht hierarchischen Verwobenheit dieser drei Elemente auch die Auflösung sowie das Überschreiten der gewohnten institutionellen Grenzen. Dies führt zu (i) einer inneren Transformation in jeder der drei Sphären (z. B. „the entrepreneurial university“); (ii) einer neuen „Schicht“ von multilateralen Verbindungen, Netzwerken und zum Teil auch neuen Organisationen, die zwischen diesen drei Sphären entsteht. Dabei geht es auch um die Identifikation und Definition von Schnittstellen.
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3. Was lässt sich daraus für Staatsintervention im Bereich von Innovations- oder Technologiepolitik ableiten? Die neoklassische Sichtweise legt nahe, dass Staatsintervention dann (und nur dann) gerechtfertigt ist, wenn sie als Korrektiv bei Marktversagen geeignet ist: Dies ist vor allem bei Grundlagenforschung zu vermuten, da hier die Charakteristika öffentlicher Güter am deutlichsten ausgeprägt sind. Je marktnäher F&E-Aktivitäten jedoch angesiedelt sind, umso weniger werden diese Eigenschaften vorliegen, und umso mehr werden adäquate Preissignale für effiziente Allokation, d. h. auch für ein gesamtwirtschaftlich ausreichendes Maß an Einsatz von Ressourcen für F&E und Innovation sorgen. Die oben angeführten Denkansätze zeigen jedoch, dass dieses Argument allein zu kurz greift. − Innovations- und Technologiepolitik muss die institutionellen Rahmenbedingungen schaffen, die Innovation, also Veränderung, unterstützen. − Dabei sollte das jeweils relevante System (nationales/regionales Innovationssystem) bzw. Sub-System berücksichtigt werden, also nicht nur auf die Verbesserung der Beiträge zu innovativem Verhalten einzelner Organisationen, sondern vor allem auch auf das Zusammenwirken der verschiedenen relevanten „Spieler“ geachtet werden; das Bild der „Arena“ mit den verschiedenen Akteuren gibt eine recht klare Vorstellung davon, dass es nicht nur um die einzelnen Akteure geht, sondern auch um die „Spielregeln“ (vgl. z. B. North, 1990, 1992). − Dabei ist das Zusammenwirken der Elemente der „triple helix“ zu beachten, aber auch die Definition der jeweils geeigneten Schnittstellen. − Die Kontextabhängigkeit der Handlungsmöglichkeiten der verschiedenen Akteure in einem bestimmten (Sub-)System wurde betont mit Bezug auf die Standortbezogenheit von Normen, Erwartungen, Wissen etc.; dies ist bei Maßnahmen der Innovationspolitik zu berücksichtigen. Dezentrales Wissen und jeweils verschiedene Rahmenbedingungen lassen vermuten, dass technologiepolitische Instrumente ausreichend flexibel sein müssen, um diesen unterschiedlichen Rahmenbedingungen gerecht werden zu können. − Dazu kommt die zunehmende Bedeutung von sog. „Mode 2“ research, die ebenso auf diese nötige Flexibilität verweist, aber auch darauf, dass etwa Qualitätsbeurteilung auch gesellschaftliche Relevanz und Problemorientierung im jeweiligen spezifischen Kontext berücksichtigen können sollte, ja dass die Qualitätsbeurteilung selbst kontextabhängig ist. Darüber hinaus gewinnt bei dieser Sichtweise von Wissensproduktion Kompetenz in Bezug auf F&E-Management zunehmend Bedeutung. − Aus den obigen Ausführungen lässt sich auch ableiten, dass längerfristig prozessorientierte Politiken Erfolg versprechender sein dürften als Interventionen, die auf ganz konkrete Outputs (z. B. Etablierung einer be-
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stimmten Technologie) setzen. − Die Berücksichtigung der Tatsache, dass Wissensbeschaffung, -verbreitung und –aneignung mit nicht unerheblichen Kosten verbunden sein kann (in der neoklassischen Sichtweise werden diese Transaktionskosten vernachlässigt) und Wissen in unterschiedlicher Form vorliegt, führt zur Empfehlung, Instrumente zur Verbesserung der diesbezüglichen Fähigkeiten der Akteure im jeweiligen System einzusetzen. − Darüber hinaus sollte bedacht werden, dass auch Forschungs- und Technologie-/Innovationspolitik auf die „Umsetzung“ durch andere, nämlich durch die Akteure im jeweiligen Sub-System, welches Adressat ihrer Instrumente ist, angewiesen ist. Da es dabei um das Zusammenspiel mehrerer Institutionen mit jeweils unterschiedlichen Erwartungen und Anreizmechanismen geht, muss die Veränderung solcher Erwartungshaltungen und Anreizmechanismen auch Ziel sein. − Darüber hinaus legen die Erkenntnisse der Evolutionären Theorieansätze auch nahe, dass die Politikinstrumente anzupassen sind an die sich verändernden Bedingungen. Technologie- und Innovationspolitik muss sich demnach laufend über die sich ändernden „Systemzustände“ informieren, ihre Instrumente anpassen und aufeinander abstimmen. Das macht diesen Politikbereich selbst informationsintensiv und komplex (vgl. Hofer/Polt, 1996). Zusammenfassend: Auch in „marktnäheren“ Bereichen – soweit dies angesichts zunehmender Mode-2-Wissensproduktion überhaupt noch so klar abtrennbar ist (Stichwort: „technology shapes science“) – kann Markt- und vor allem Systemversagen auftreten; adäquate Unterstützungsformen berücksichtigen Kontexte, Systeme und AkteurInnen (nicht nur Förderung, sondern auch spezifische Moderations- und Managementunterstützung), Geschichte (Lock-ins und Pfadabhängigkeiten) und versuchen über die Unterstützung von Einzelakteuren hinaus ganze Innovationssysteme bzw. Sub-Systeme zu adressieren. Die jeweils eingesetzten Politikinstrumente sind laufend anzupassen und haben den jeweiligen Kontext zu berücksichtigen; im Sinne Egon Matzners haben sie notwendigerweise provisorischen Charakter und müssen Lernprozessen unterworfen sein. Quellenverzeichnis Arrow, K. (1962), Economic Welfare and the Allocation of Resources for Invention, in: National Bureau of Economic Research, Ed., The Rate and Direction of Inventive Activity, Princeton. Bührer, S. (2002), Die Kompetenzzentren der Nanotechnologie in der Frühphase der Bundesförderung; Ein Bericht der begleitenden Evaluation, durchgeführt vom Fraunhofer Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung und mundi consulting, Karlsruhe.
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Essletzbichler, J., Gassler, H. (1996), Regionalisierte Technologiepolitik in einer globalen Ökonomie, in: Polt, W., Weber, B., Hrsg., Industrie und Glück, Kurswechsel, Sonderzahl Verlag, Wien, S. 35–48. Etzkowitz, H. (2002), The Triple Helix of University – Industry – Government: Implications for Policy and Evaluation,’ Working paper 2002–11, www.sister.nu, 19. 1. 2004, Stockholm. Freeman, C. (1987): Technology Policy and Economic Performance: Lessons from Japan, Frances Pinter, London. Hofer, R., Polt, W. (1996), Evolutionäre Innovationstheorie und Innovationspolitik – Eine Übersicht, in: Polt, W., Weber, B., Hrsg., Industrie und Glück, Kurswechsel, Sonderzahl Verlag, Wien, S. 9–20. Houghton, J. W., et al. (2003), Changing Research Practices in the Digital Information and Communication Environment, Dept. of Education, www.dest.gov.au (8. 3. 2004), Science and Training, Canberra. Matzner, E. (1982), Der Wohlfahrtsstaat von morgen : Entwurf eines zeitgemäßen Musters staatlicher Interventionen, Österreichischer Bundesverlag, Wien. North, D.C. (1990), Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge University Press, Cambridge. North, D.C. (1992), Transaction Costs, Institutions, and Economic Performance, Occasional Papers Number 30, International Center for Economic Growth, ICS Press, San Francisco. Rosenberg, N. (1976), Perspectives on Technology, Cambridge University Press, Cambridge. Solow, R.M. (1996), A Contribution to the Theory of Economic Growth, in: Quarterly Journal of Economics, Nr. 70, 1956, S. 65–94 (zit. nach Hofer/Polt, 1996). Standards der Evaluierung in der Forschungs- und Technologiepolitik, Hrsg (2004), Plattform Forschungs- und Technologieevaluierung (www.fteval.at), Wien. Sturn, D., Ritt, W. (3/1999), Vorschläge für die Weiterführung der Impulsaktion: Kooperation Fachhochschulen – Wirtschaft, i. A. des Bundesministeriums für Wissenschaft und Verkehr, Wien-Graz. Williamson, O. E. (1985), The Economic Institutions of Capitalism, The free Press, Macmillan Inc., New York.
Morbiditätsbasierte Standort- und Kapazitätsplanung im Gesundheitswesen Gerhard Fülöp
Vorbemerkung Im vorliegenden Beitrag zur Gedenkschrift für Egon Matzner wird dargestellt, in welcher Weise die theoretischen und methodischen Ansätze, die dem Verfasser während seines Studiums der Raumplanung und Raumordnung an der TU Wien an den Instituten für Infrastruktur- und Finanzplanung (IFIP) bzw. für Stadt- und Regionalforschung (SRF) vermittelt wurden, zu einer Synthese verbunden werden konnten, die in der Gesundheitsplanung in Österreich und auch im Ausland mittlerweile Akzeptanz gefunden hat und die in weiten Teilen bereits erfolgreich angewandt und umgesetzt wurde. Diese Synthese nimmt ihren Ausgang in der Art und Weise, wie an den beiden genannten Instituten von Prof. Egon Matzner, Prof. Wilfried Schönbäck und Prof. Dieter Bökemann seit den 1970er Jahren theoretisches und methodisches Wissen vermittelt wurde. Nach meinen Informationen wurde und wird diese Art der Wissensvermittlung und der Förderung der studentischen Kreativität an diesen Instituten bis heute weitergeführt, was einerseits zweifelsfrei als Verdienst der genannten Personen zu werten ist und andererseits für jeden mit diesen Instituten konfrontierten Studenten eine hervorragende Vorbereitung auf die (oftmals auch von politischen Einflüssen geprägte) Praxis gewährleistet. In diesem Sinne bin ich meinen akademischen Lehrern zu großem Dank verpflichtet. 1. Legitimation von Planung im Gesundheitswesen Die Legitimation von Planung im Gesundheitswesen steht in Zusammenhang mit der grundsätzlichen Frage nach der Rechtfertigung staatlicher Interventionen in bestimmten Politikbereichen (unter anderem auch in der Verkehrsplanung, der Flächenwidmungs- und Bebauungsplanung wie auch in der Raumplanung insgesamt). Die Frage nach dieser Legitimation wird in erster Linie von den „Planungsbetroffenen“, also vor allem von Krankenhäusern, Ärzten und anderen Gesundheitsberufen, gestellt. Die Intensität der Fragestellung kann so weit gehen, dass Beschwerde vor dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) erhoben wird – dieser Fall ist im Zeitraum 2003/2004 tatsächlich eingetreten, wobei die betreffende Beschwerde vom Träger einer Krankenanstalt erhoben und vom VfGH abgewiesen bzw. an den Verwaltungsgerichtshof abgetreten wurde.
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Im Prinzip ließe sich diese Frage mit dem einfachen Hinweis darauf beantworten, dass der wirtschaftlich und medizinisch effiziente Einsatz von (para-) fiskalischen Mitteln im öffentlichen Interesse und im Interesse jedes Steuer-/Beitragszahlers sowie letztlich auch im Interesse des Patienten liegt. Die Wirtschaftswissenschaften haben dazu aber weit differenziertere Argumentationslinien entwickelt, die sich vor allem auf die Begriffe des „öffentlichen Guts“ und des „Marktversagens“ beziehen. 1.1 Marktversagen und staatliche Intervention In einem sozialstaatlichen System ist es Ziel staatlicher Gesundheitspolitik, den freien Zugang zu allen notwendigen Gütern und Dienstleistungen der Gesundheitsversorgung (medizinische Diagnostik und Therapie) zu gewähren, und zwar unabhängig vom Erwerbseinkommen und sonstiger Klassenzugehörigkeit des Patienten. Unnötige Leistungen sollen dabei ebenso vermieden werden wie Leistungsdefizite. Die Theorie zeigt, dass dieses Ziel bei freiem Wirken der allgemeinen marktwirtschaftlichen Gesetze nicht erreicht werden kann. Charakteristisch für den „Gesundheitsmarkt“ ist nämlich die Präsenz von Unsicherheit und von asymmetrischer Information: Ob jemand krank oder gesund ist und welche Behandlung geeignet ist, das weiß der Arzt in der Regel weit besser als der Patient. Der Patient kennt weder die künftigen Kosten der Erkrankung noch sein künftiges Einkommen und er hat zumeist auch nicht die Möglichkeit, sich Informationen über die kostengünstigste Behandlungsvariante zu beschaffen. Der Patient ist in der Regel medizinischer Laie und kaum in der Lage, das Behandlungsgeschehen wirksam zu kontrollieren, daher bestimmt in der Regel der Arzt die Menge der Nachfrage („Anbietermarkt“). Schließlich ist es auch weitgehend ungewiss, welche Gesundheitskosten dem Einzelnen in der Zukunft erwachsen werden. Neben diesen zentralen Faktoren (Informationsmängel der Patienten, Einkommensunsicherheit, „Anbietermarkt“) gibt es eine Reihe weiterer Phänomene (z. B. Gruppen mit extrem hohem Risiko, „moral hazard“, „adverse selection“), die den Gesundheitsbereich zu einem „ökonomischen Bilderbuchbeispiel für Markversagen“ machen (vgl. Streissler 2004, S. 2 ff.). Aus diesem „Marktversagen“ wird die Legitimation für staatliche Intervention und damit auch für die primäre Finanzierung des Gesundheitswesens über (para-) fiskalische Mittel sowie schließlich auch für die Gesundheitsplanung abgeleitet (vgl. Schönbäck 1980, S. 295 ff.). Nachdem im österreichischen Gesundheitswesen die Pflichtversicherung gegenüber der Versicherungspflicht als die sinnvollere Variante eingeschätzt wird, sind 99 % der Bevölkerung über die öffentliche Krankenversicherung versichert und auch die restlichen 1 % verfügen über einen bestimmten Schutz gegen Gesundheitsrisiken. Wenngleich die Theorie also zeigt, dass das Gesundheitswesen wegen des „Marktversagens“ nicht den allgemeinen wirtschaftlichen Gesetzen überlassen werden kann, wird dennoch immer öfter mehr marktwirtschaftliches
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Denken auch im Gesundheitsbereich gefordert. Mehr Markt im Gesundheitswesen macht aber nur dann Sinn, wenn damit Kosten gedämpft werden, ohne das Schutzniveau zu beeinträchtigen. Allerdings können die oben beschriebenen Phänomene des „Marktversagens“ bzw. der „Marktanomalien“ nur punktuell aufgelöst werden, weshalb staatliche Regulierungen notwendig sind. Andererseits könnte die heutige Situation des österreichischen Gesundheitswesens in vielen Bereichen wohl durch „deregulierende“ Maßnahmen verbessert werden, ein vollständiger Verzicht auf regulierende Instrumente ist aber kaum vorstellbar. 1.2 Gesundheitsplanung in Österreich Das österreichische Gesundheitssystem wurde von der WHO im „World Health Report 2000“ in Bezug auf die „Overall health system performance“ an neunter Stelle unter rund 200 in den Vergleich einbezogenen Nationen gereiht (vgl. http://www.who.int/whr/2000/en/). Dennoch gibt es in diversen Bewertungen von WHO, EU und OECD auch kritische Anmerkungen zum Gesundheitssystem in Österreich. Einer der ersten Kritikpunkte ist seine Unübersichtlichkeit und die enorme Zahl von Institutionen und einander überlagernden Kompetenzen. Aus den gesetzlichen Grundlagen ergeben sich jene Institutionen, die in Österreich als Träger der regionalen und überregionalen Gesundheitspolitik auftreten. Es sind dies jene fiskalischen und parafiskalischen Institutionen, die auch über Möglichkeiten zur Steuerung der regionalen Ressourcenallokation verfügen, nämlich: − Der Bund (insbes. das Bundesministerium für Gesundheit und Frauen), − die Bundesländer (Ressorts für Gesundheit, Soziales, Raumordnung und Verkehr), − die Gemeinden und Gemeindeverbände (insbesondere jene, die als Träger von Akutkrankenanstalten auftreten) sowie − die Sozialversicherungsträger (insbes. die Gebietskrankenkassen) einschl. des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger. Hinzu kommen die Österreichische Ärztekammer bzw. die Ärztekammern der neun Bundesländer, die durch den Abschluss von Gesamtverträgen mit den Sozialversicherungsträgern Einfluss auf die Festlegung von Kassenplanstellen für niedergelassene Ärzte haben (vgl. dazu Fülöp 1999, S. 98 ff). Zwischen den angeführten Finanzierungsträgern hat sich in den letzten Jahren hinsichtlich der Finanzierung immer stärker ein „negativer Kompetenzkonflikt“ bemerkbar gemacht: Aufgrund des im gesamten Gesundheitsund Sozialbereich ständig steigenden Kostendrucks wird von allen fiskalischen und parafiskalischen Trägern der Gesundheitspolitik versucht, die anfallenden Kostenbelastungen auf die jeweils anderen Kostenträger abzuschieben. Dadurch können – wie sich aus der gesundheitspolitischen Praxis zeigt –
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sinnvolle und notwendige Maßnahmen zur Reduktion von regionalen Versorgungsdisparitäten oft nicht oder erst verspätet realisiert werden. Umso wichtiger ist die Verfügbarkeit von Instrumenten der Gesundheitsplanung, die nach objektiven Kriterien die Möglichkeiten und Grenzen aufzeigen, die Ressourcen der Gesundheitsversorgung „effizient“ (im Sinne wirtschaftlich und medizinisch sinnvoll) und „gerecht“ (im Sinne von räumlich möglichst gleichmäßig und für die Bevölkerung gut erreichbar) zu verteilen. In den Anfängen staatlicher Gesundheitspolitik in den 1950er und 1960er Jahren war der Gleichheitsaspekt wesentlich wichtiger als der Effizienzaspekt. Erst die neoliberale Trendwende und das Sichtbarwerden der Kostendynamik von Vollversicherungssystemen haben der Effizienzfrage höhere Priorität zugewiesen, wobei zunächst mit Regulierung versucht wurde, die Kostensteigerungen einzubremsen, seit den 1990er Jahren auch mit sogenannten „marktnäheren“ Lösungen (vgl. Streissler 2004, S. 10 f.). Die am Österreichischen Institut für Gesundheitswesen (ÖBIG) entwickelten Instrumente der Gesundheitsplanung tragen beiden Aspekten („Gerechtigkeit“/“equality“ und „Effizienz“/“efficiency“) gleichermaßen Rechnung (vgl. dazu Kap. 3). 2. „Krankheitslast“ als Ausgangsbasis für die Gesundheitsplanung 2.1 Demographische Entwicklung Im Jahr 2001 lebten in Österreich rund 8.033.000 Menschen (48 % Männer, 52 % Frauen). Von 1991 bis 2001 ist die Einwohnerzahl in Österreich um 3 % gestiegen, was ausschließlich auf Zunahmen bei den Altersgruppen der über 45-Jährigen zurückzuführen ist. Bis zum Jahr 2031 wird die Einwohnerzahl in Österreich auf 8,4 Millionen anwachsen. Jeder vierte österreichische Einwohner wird dann älter als 64 Jahre alt sein und der Anteil der Kinder (unter 15 Jahren) wird auf rund 13 % zurückgehen („demographische Alterung“, vgl. Abb. 1). Die Lebenserwartung bei der Geburt stieg in Österreich seit 1981 für Männer um 6,3 Lebensjahre bzw. um 3,7 Monate pro Jahr und lag im Jahr 2001 bei 75,5 Jahren. Die Lebenserwartung der Frauen stieg im selben Zeitraum um fünf Jahre bzw. um drei Monate pro Jahr und lag im Jahr 2001 bei 81,2 Jahren. Analog dazu sank die Sterblichkeit kontinuierlich ab. Aufgrund dieser Trends, der sich vor allem aus der rückläufigen Geburtenziffer sowie aus der steigenden Lebenserwartung bzw. aus der sinkenden Sterblichkeit ergeben, werden sich die Anforderungen an die Akutkrankenanstalten, an die Alten- und Pflegeheime, an die geriatrische Versorgung in Akutkrankenanstalten und in Rehabilitationseinrichtungen sowie an die mobilen Dienste (Hauskrankenpflege, Heimhilfe, etc.) in den nächsten Jahren erheblich verändern.
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Abbildung. 1: Altersstruktur der österreichischen Bevölkerung 2001–2031
Quellen: ÖROK/ST.AT, ÖROK-Prognosen 2001–2031 (Bevölkerung/Arbeitskräfte nach Regionen/Bezirken)
Die „demographische Alterung“ wird die Gesellschaft auch vor völlig neue Herausforderungen in Bezug auf die Finanzierung der Gesundheits- und Sozialsysteme stellen und die Fragen nach der Effizienz dieser Systeme und nach der optimalen Ressourcenverteilung werden an Stellenwert gewinnen. Auch aus diesem Grund scheint es nur eine Frage der Zeit, bis die bereits verfügbaren Instrumente der Gesundheitsplanung auch zum Einsatz gelangen und bis deren Ergebnisse auch tatsächlich flächendeckend umgesetzt werden. 2.2 Sozioökonomie und Krankheit In den letzten Jahren erschienen international eine Reihe von Studien, die belegen, dass Arme bzw. Armutsgefährdete ein höheres Krankheitsrisiko haben. Ein „sozialer Gradient“ spaltet die Gesellschaft in eine relativ gesunde Oberschicht und in eine krankheitsanfälligere Mittel- bis Unterschicht. Das lässt sich zum einen durch eine tendenziell eingeschränkte Gesundheitsversorgung für ärmere Gruppen (Stichwort „Zweiklassenmedizin“) und zum anderen durch eine ungesündere Lebensweise der unteren Schichten erklären, die ihrerseits wiederum mit dem niedrigeren Bildungsniveau zu tun hat. Ein wichtiger Faktor ist jedenfalls die Tatsache, dass der Körper mit Krankheit auf soziale Not antwortet. Nicht die Armut an sich, sondern der Vergleich mit dem Anderen, dem Unerreichbarbaren macht krank. Wilkinsons Hauptthese etwa besagt, dass der Gesundheitszustand der Bevölkerung nicht von der Höhe des Bruttosozialproduktes bestimmt wird, sondern vom Ausmaß der Einkommensunterschiede zwischen den Bewohnern – die Ursachen dieses Zusammenhangs sind allerdings noch nicht ausreichend geklärt (vgl. Wilkinson 1996).
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Neben dem Alter als wohl bedeutendster Faktor dürfte der Bildungsstatus (und damit verbunden auch die Art der beruflichen Tätigkeit und das verfügbare Einkommen) einen wesentlichen Einfluss auf das gesundheitliche Befinden entfalten. Einerseits sinkt mit zunehmendem Alter der Anteil der Menschen mit subjektiv (sehr) guter Gesundheit deutlich ab, andererseits zeigen sich innerhalb der betrachteten Altersgruppen auch deutliche Unterschiede der Einschätzung des Gesundheitszustandes bei den verschiedenen Bildungsschichten. Je höher das Bildungsniveau, desto höher sind die Anteile der Menschen mit subjektiv (sehr) guter Gesundheit und desto geringer die Anteile der sich nur mittelmäßig oder (sehr) schlecht fühlenden Personen. Diese bildungsschichtspezifischen Unterschiede werden mit zunehmendem Alter (und damit zunehmender Zeitdauer unterschiedlicher beruflicher Tätigkeiten und durch unterschiedliche Einkommen mitverursachter unterschiedlicher Verhaltensweisen und Lebensstile) deutlich größer (vgl. Abb. 2). Gesundheit ist also in hohem Maße abhängig von den sozioökonomischen Rahmenbedingungen und daher – ebenso wie diese Rahmenbedingungen und deren Verteilung über die Bevölkerung – regional ungleich verteilt. In peripheren Abwanderungsregionen mit überalterter Bevölkerung und ungünstiger Wirtschaftslage ist der Gesundheitszustand (gemessen an der Lebenserwartung und an der altersstandardisierten Sterblichkeit) tendenziell ungünstiger als in Zuwanderungsregionen mit relativ junger Bevölkerung. Dies hat einen höheren Bedarf an Gesundheitsversorgung in ersteren zur Folge, den es auch in der Gesundheitsplanung zu berücksichtigen gilt, und vice versa („morbiditätsbasierte“ Gesundheitsplanung). 2.3 Messung der regionalen „Krankheitslast“ Der allgemeinste aller Indikatoren zum Gesundheitszustand einer Bevölkerung, der zumeist auch primär für einfache regionale und internationale Vergleiche herangezogen wird, ist die „Lebenserwartung bei der Geburt“ (gemessen in Lebensjahren). Da dieser Indikator jedoch nur wenig über die Lebensqualität (insbesondere in den letzten Lebensjahren) aussagt, wurden in den letzten Jahren von WHO und EU neue Indikatoren wie z. B. die „disability free life expectancy (DFLE)“ oder die „health life years (HLY)“ entwickelt. Nach den am ÖBIG verfügbaren Ergebnissen aus dem „Österreichischen Gesundheitsinformationssystem (ÖGIS)“ erlaubt die regionale Lebenserwartung allerdings durchaus eine grobe Abschätzung des regionalen Gesundheitszustands bzw. der regionalen „Krankheitslast“, die über das Gesundheitssystem abzudecken ist (vgl. dazu auch Fülöp 2002, S. 147 f.). Diese „Krankheitslast“ ist in Österreich (wie auch innerhalb der EU) regional sehr ungleich verteilt (vgl. Karte 1).
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Abbildung 2: Subjektiver Gesundheitszustand nach Altersgruppen und Bildungsschicht 1999
Quellen: ST.AT- Mikrozensus-Sonderprogramm „Fragen zur Gesundheit“ 1999; ÖBIG-eigene Berechnungen
Im Osten des Bundesgebiets – einschließlich der Bundeshauptstadt Wien – ist die Lebenserwartung vergleichsweise niedrig und die Sterblichkeit hoch (dort sind auch die gesundheitlichen Risikofaktoren wie z. B. Rauchen, Übergewicht und Bewegungsmangel überrepräsentiert), im Westen vice versa. In der nach Haupttodesursachen differenzierten Analyse stellt sich heraus, dass dieses regionale Verteilungsmuster in Bezug auf die Sterblichkeit primär auf
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die „Hauptkiller“, nämlich die Herz-/Kreislauferkrankungen (Herzinfarkt, Schlaganfall) zurückzuführen ist. Die Tatsache, dass die regionale Korrelation zwischen sozioökonomischen Rahmenbedingungen und Gesundheitszustand in Bezug auf einige Regionen durchbrochen wird (z. B. Osttirol), gibt Anlass für weiterführende Untersuchungen in Bezug auch auf „Faktoren der Gesunderhaltung“ (soziale Netzwerke, Sport und Bewegung, psychische Gesundheit, Umweltbedingungen, etc., vgl. Fülöp 2002). In jedem Fall müssen aber die regionalen Unterschiede im Gesundheitszustand bzw. in der „Krankheitslast“ in einer morbiditätsbasierten Gesundheitsplanung Berücksichtigung finden. 3. Standort- und Kapazitätsplanung 3.1 Optimierungskriterien Die Standort- und Kapazitätsplanung im Gesundheitswesen steht zunehmend vor der Herausforderung, den gesundheitspolitischen Entscheidungsträgern Orientierungen zu geben, wie die immer knapper werdenden Ressourcen in optimaler Weise regional zu verteilen sind. Solche Empfehlungen beinhalten bereits heute und in Zukunft noch mehr Empfehlungen zur Auflassung oder zum „Downgrading“ von zum Teil seit Jahrzehnten bestehenden Gesundheitseinrichtungen, die von ihren Standortbedingungen her aus medizinischen und ökonomischen Gründen nicht mehr vertretbar sind (in bestimmten Fällen wird aber auch die Neuerrichtung von Versorgungsstandorten zu befürworten sein, insbesondere wenn sie auf die geriatrische Versorgung betagter und hochbetagter Patienten abzielen). Die Einsicht in die Notwendigkeit solcher Maßnahmen ist in der Regel eine äußerst eingeschränkte, zumal die lokale Aufrechterhaltung von Gesundheitseinrichtungen in hohem Maße emotional besetzt ist. Die Reaktion auf Schließungsempfehlungen reichen in der Regel von Protesten der „Planungsbetroffenen“ (Krankenanstalten, Ärzte, Regionalpolitiker) über groß angelegte Unterschriftenaktionen bis hin zur Beschwerde vor dem VfGH (vgl. Kap. 1). Oftmals scheitern Empfehlungen zu solchen Maßnahmen an der nicht vorhandenen „regionalpolitischen Opportunität“. Dabei ist aber nicht zu übersehen, dass solche Maßnahmen in der Peripherie in ihren ökonomischen Auswirkungen (Einsparungen) oftmals nicht an jene Auswirkungen heranreichen, die durch Effizienzsteigerung in den Ballungszentren (z. B. durch Einrichtung von Krankenhausverbänden und Beseitigung von Doppelgleisigkeiten) erreichbar wäre. Nachdem also die Diskussion in hohem Maße von (standes-) politischen Kalkülen beeinflusst wird, gilt es umso mehr, objektive und nicht widerlegbar Argumente und Daten in Ansatz zu bringen. Aus dieser Überlegung ergeben sich auch die (weitgehend objektivierbaren) Optimierungskriterien, die
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bei der Standort- und Kapazitätsplanung im Gesundheitswesen zu berücksichtigen sind, nämlich: − Die Erreichbarkeit der Gesundheitseinrichtungen (im Straßenverkehr) soll für die Gesamtbevölkerung einer Region durch möglichst gleichmäßige und damit gerechte regionale Verteilung von Ressourcen („equality“) insgesamt optimiert werden, wobei die Analyse von bestehenden Erreichbarkeitsdefiziten (insbesondere in peripheren, dünn besiedelten Regionen) durch die Anwendung von Erreichbarkeitsmodellen erfolgt (vgl. Karte 3); in Regionen mit Erreichbarkeitsdefiziten wird die Tragfähigkeit neuer Einrichtungen durch Ermittlung der Einwohnerzahl im „natürlichen Einzugsbereich“ der neuen Einrichtung (abgegrenzt nach dem Prinzip der Nächstgelegenheit im Straßenverkehr) getestet. − Insoweit sich aus der Erreichbarkeitsanalyse sinnvolle neue Standorte ergeben, werden diese nur dann in die Planung aufgenommen, wenn sie 1) eine ausreichende Anzahl an Einwohnern in ihrem „natürlichen Einzugsbereich“ versorgen würden und dadurch das Kriterium der Mindestfallzahl (in der Krankenanstaltenplanung der „Mindestabteilungsgröße“) erreichen und wenn sie 2) die umliegenden Standorte nicht in ihrer Existenzfähigkeit (wiederum gemessen an der Mindestfallzahl) beeinträchtigen. Dadurch wird eine ausreichende Wirtschaftlichkeit (durch entsprechende Höhe der eingehenden Leistungsentgelte) und außerdem auch die Qualität der medizinischen Leistung (durch ausreichende ärztliche Erfahrung und Routine) sicher gestellt („efficiency“, „quality assurance“). Hinsichtlich des zweiten oben angeführten Kriteriums (Mindestfallzahl) ist darauf hinzuweisen, dass der Zusammenhang zwischen der Menge der jährlich pro Arzt erbrachten medizinischen Leistungen und deren Qualität in den letzten Monaten Gegenstand intensiver Diskussionen und auch zahlreicher Publikationen war, in denen nicht immer Einigkeit über die Sinnhaftigkeit der Definition von „Mindestfallzahlen“ herrschte (zum Konzept der Mindestfallzahlen vgl. Abb. 3). Abbildung 3: Zusammenhang zwischen Fallzahlen und ärztlicher Erfahrung/Routine
Erfahrung/Routine der Ärzte (Qualität)
Anzahl der Fälle / Jahr / Arzt Mindestfallzahl Quelle: Eigener Entwurf
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Der derzeitige Diskussionsstand dazu kann treffend mit einem Zitat von Harold Luft zusammengefasst werden: „Der zentrale Punkt besteht darin, dass einfach zu viele Belege existieren, um den Mengen-Qualitäts-Zusammenhang zu ignorieren“ (vgl. Narath 2004, S. 2). Die beiden angeführten Optimierungskriterien sind noch um das bereits erwähnte Prinzip zu ergänzen, dass an Standorten, wo Einrichtungen des selben Typs (z. B. Krankenhausabteilungen einer bestimmten Fachrichtung) parallel zueinander bestehen, die Möglichkeiten der Zusammenlegung bzw. zumindest einer weitgehenden Abstimmung der medizinischen Leistungsschwerpunkte zu überprüfen sind, damit das Effizienzprinzip nicht nur in der Fläche, sondern auch an einzelnen Standorten angewendet wird. An dieser Stelle sei angemerkt, dass solche Planungsentscheidungen aufgrund der Komplexität der Medizin und der Vielfalt an medizinischen Leistungen in der Diagnostik und Therapie tatsächlich eine differenziertere als die (hier vereinfachend dargestellte) Vorgangsweise erfordern. Aus dem Zusammenspiel der beiden Optimierungskriterien (Erreichbarkeit, Mindestfallzahl) ergibt sich ein methodischer Ansatz, der hinsichtlich der regionalen Ressourcenverteilung keineswegs grenzenlos nach „equality“ strebt, sondern vielmehr die Herstellung dieser „equality“ nur insoweit zulässt, als dadurch nicht die Erfordernisse der „efficiency“ (und auch der medizinischen Qualitätssicherung) ignoriert werden. Dies impliziert auch, dass z. B. bestehende Krankenhaus-Standorte, die aufgrund zu geringer Einwohnerzahlen im Hinterland diesem Prinzip nicht gerecht werden, zumindest mittelfristig in Bezug auf Auflassung oder Umwidmung für andere Zwecke (z. B. Alten-/Pflegeheime, sozialmedizinische Zentren) zur Diskussion zu stellen sind. 3.2 Natürliche und tatsächliche Einzugsbereiche Die Umsetzung der genannten Optimierungskriterien erfolgt in einem iterativen (schrittweisen) Analyse- und Planungsverfahren, das nachfolgend am Beispiel der Krankenhausabteilungen für Neurologie genauer beschrieben wird. Diese Fachrichtung ist in der Planung deswegen besonders zu beachten, weil sie sich unter anderem schwerpunktmäßig mit den ansteigenden cerebrovaskulären Erkrankungen, darunter vor allem mit dem gefürchteten cerebralen Insult (Schlaganfall), befasst und sich auch der möglichst raschen und vollständigen Wiederherstellung dieser Patienten widmet. Von den in Krankenanstalten tätigen Fachärzten für Neurologie wird immer wieder auf den eklatanten Mangel an Spitalsbetten und -abteilungen hingewiesen. Diese Hinweise sind deswegen sehr ernst zu nehmen, weil die Erreichbarkeit bzw. die rasche Akutversorgung bei Schlaganfällen eine möglicherweise lebensrettende, wenigstens aber für den weiteren Krankheitsverlauf eminent wichtige Rolle spielt.
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Je mehr Zeit zwischen Akutereignis und Erstversorgung verstreicht, umso geringer werden die Chancen auf eine vollständige Wiederherstellung des Patienten. Daraus ergibt sich die Frage, ob die Abteilungen und Betten für Neurologie in Österreich bedarfsadäquat dimensioniert und gerecht über das Bundesgebiet verteilt sind. Diese Fragen können mit den Konzepten der „tat-
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sächlichen Einzugsbereiche“ (zur Analyse des Ist-Zustands, vgl. Karte 2) und der „natürlichen Einzugsbereiche“ (iterative Optimierung zur Erstellung einer idealtypischen Planung, vgl. Karte 3) sehr genau beantwortet werden. Inanspruchnahme der Neurologie-Betten 1988–1995 In den österreichischen Akut-Krankenanstalten waren 1995 etwa 2.100 Betten für Neurologie verfügbar. In den Jahren von 1988 bis 1994 hatte sich ihre Zahl nur unwesentlich verändert, erst im Jahr 1995 wurde ihre Zahl von etwa 1.900 auf die genannten 2.100 Betten erhöht. Die Zahl der stationären Fälle in den Abteilungen für Neurologie hatte sich zwischen 1990 und 1995 um über 35 % erhöht, wobei die durchschnittliche Belagsdauer kontinuierlich gesunken war. Die Auslastung ist 1995 trotz der erheblichen Bettenaufstockung kaum gesunken und lag in vielen Spitälern über dem empfohlenen Wert von 85 %. Erreichbarkeit der Neurologie-Abteilungen 1995 Die rund 2.100 Betten waren 1995 auf insgesamt 29 Abteilungen für Neurologie bzw. auf insgesamt 16 Standorte in ganz Österreich verteilt. Bereits aus der einfachen Erreichbarkeitsanalyse zeigte sich, dass bei der damaligen Standortverteilung massive regionale Disparitäten hinsichtlich der Erreichbarkeit entstanden. Im Österreichischen Krankenanstalten- und Großgeräteplan (ÖKAP/GGP) wurde für neurologische Abteilungen eine MindestErreichbarkeitsnorm von 45 Minuten im Straßenverkehr definiert, die im Wald- und Weinviertel (Niederösterreich), im Inn- und Traunviertel (Oberösterreich), im Pinzgau und Pongau (Salzburg) sowie in weiten Teilen der Weststeiermark aufgrund der dort fehlenden Abteilungen in keiner Weise eingehalten werden konnten (vgl. Karte 2). Krankenhaushäufigkeit und tatsächliche Einzugsbereiche von NeurologieAbteilungen 1995 Die tatsächliche Inanspruchnahme der neurologischen Betten im Jahr 1995 zeigte deutlich die durch die ungleichmäßige Verteilung der Abteilungen entstehende Problematik. Alle jene Regionen, die sich schon in der Erreichbarkeitsanalyse als schlecht versorgt herausgestellt hatten, zeigten eine deutlich geringere Krankenhaushäufigkeit als die Standortbezirke der neurologischen Abteilungen und die diese umgebenden Bezirke – dies gilt in besonderem Maße für das Waldviertel, das in die „tatsächlichen Einzugsbereiche“ der KH Amstetten und St. Pölten, der LNKL Klosterneuburg-Gugging, sowie des Wiener KH Lainz fällt (vgl. Karte 2). Diese Feststellung entspricht der bekannten Gesetzmäßigkeit, dass die Inanspruchnahme von Gesundheitseinrichtungen mit zunehmender Entfernung der nächstgelegenen Versorgungsmöglichkeit deutlich abnimmt (vgl. Meise 1992). Möchte man daher Unter-
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versorgung mit medizinischen Leistungen (verdeckten Bedarf) vermeiden, so gewinnt die Forderung nach einer regional ausgewogenen und gut erreichbaren Versorgung weiter an Bedeutung. Da nun unwahrscheinlich ist, dass etwa die Menschen im Waldviertel der neurologischen Versorgung (etwa von Schlaganfällen) derart wenig bedürfen wie es die stark unterdurchschnittliche Krankenhaushäufigkeit vermuten ließe, stellt sich die Frage, wo die Patienten mit Hirngefäßerkrankungen aus dieser Region im Jahr 1995 nun stationär versorgt wurden. Tatsächlich wurden diese Patienten in den Krankenanstalten des Waldviertels selbst versorgt, und zwar hauptsächlich (quasi ersatzweise) in den Abteilungen für Innere Medizin bzw. durch Fachärzte für Innere Medizin. Dieser Zustand besteht in vielen Regionen und hat zu einem veritablen Kompetenzkonflikt zwischen Internisten und Neurologen geführt. Morbiditätsbasierte Bedarfsschätzung 2005 In der in der Krankenanstaltenplanung mittlerweile angewandten morbiditätsbasierten Angebotsplanung stellt sich die Frage, welchem der beiden Fachgebiete die Schlaganfallpatienten (deren Anzahl aus den vorhandenen Statistiken exakt ermittelt werden kann) wirklich zuzuordnen sind. Nach langen Diskussionen mit einschlägigen Experten wurde ein pragmatischer Konsens gefunden, nämlich diese Patienten im Verhältnis 75:25 zwischen Abteilungen für Neurologie und Innere Medizin aufzuteilen, da tatsächlich rund ein Viertel dieser Patienten zum überwiegenden Teil ihrer internistischen Grunderkrankung(en) wegen behandlungsbedürftig ist (das derzeitige Verhältnis beträgt etwa 40:60). Die rechnerische Umsetzung dieser Annahme führt zu einem deutlichen Mehrbedarf an neurologischen Akut-Betten – eine Tendenz, die durch die in einem Simulationsmodell ebenfalls abgebildete, vorausgeschätzte demographische Entwicklung noch verstärkt wird. Für den Zeithorizont 2005 ergibt sich unter dieser Annahme schließlich ein Bedarf von rund 3.200 neurologischen Betten. Bei der regionalen Verteilung dieser Betten im Planungsprozess ist zu beachten, dass die regional unterschiedliche Häufigkeit von cerebrovaskulären und anderen neurologischen Erkrankungen über das Simulationsmodell direkt in die Berechnungen des regionalen Bettenbedarfs eingeht, sodass hier der Ansatz der morbiditätsbasierten Standort- und Kapazitätsplanung erstmals vollständig umgesetzt werden kann. Standort- und Kapazitätsplanung in der Neurologie 2005 – methodische Vorgangsweise Die bisher dargestellten Analysen bilden – wie in allen Bereichen der regionalen Gesundheitsplanung – eine unverzichtbare Basis für die im weiteren zu entwickelnden Planungsempfehlungen. Sowohl diese Analysen als auch die
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nun zu erstellende Planungsempfehlung werden in einem EDV-gestützten Simulationsmodell erarbeitet. Ausgangspunkte für die Standort- und Bettenangebotsplanung in der Neurologie sind die Typisierung der Spitäler (Abteilungen für Neurologie sind laut § 2a KAKuG an Schwerpunktkrankenanstalten einzurichten), die erwähnte Mindest-Erreichbarkeitsnorm von 45 Minuten bis zur nächstgelegenen Abteilung für Neurologie sowie eine Mindestabteilungsgröße von 30 Betten (diese wird für jede Fachrichtung individuell definiert und soll den betriebswirtschaftlich günstigen Betrieb der Abteilung durch entsprechende Auslastung der personellen und apparativen Infrastruktur ebenso sicherstellen wie eine hohe medizinische Qualität, die vor allem durch entsprechende ärztliche Routine auf Basis ausreichend großer Fallzahlen entstehen wird, vgl. Kap. 3.1). In wiederholten Durchläufen des dazu erstellten Simulationsmodells können nun systematisch die Auswirkungen von Veränderungen in der Standortverteilung von neurologischen Abteilungen hinsichtlich − der Erreichbarkeit der Fachabteilungen von den Wohngemeinden aus, − der erwartbaren Frequentierung von bestehenden bzw. von hypothetisch neu errichteten Fachabteilungen (ausgedrückt durch das erwartbar erforderlich Bettenäquivalent) sowie − der regionalen Verteilungsgerechtigkeit (ausgedrückt durch Konzentrationsmaße wie z. B. dem Lorenz’schen Konzentrationsmaß in Bezug auf die Erreichbarkeiten) überprüft werden. Die wichtigsten Zielkriterien dabei sind wie bereits erwähnt, einerseits Erreichbarkeitsdefizite durch hypothetische Neuerrichtung von neurologischen Abteilungen soweit wie möglich zu beseitigen und andererseits Wirtschaftlichkeit und medizinische Qualitätssicherung vorhandener bzw. hypothetisch neu zu errichtender Abteilungen durch Orientierung an der Mindestabteilungsgröße (30 Betten) zu gewährleisten. Standort- und Bettenangebotsplanung 2005 – Ergebnisse Das Ergebnis dieses iterativen Planungsprozesses ist eine idealtypische und mittel- bis langfristig anzustrebende Standort- und Bettenverteilung, die die Grundlage für die gesundheitspolitische Diskussion zur Umsetzung dieser Empfehlung bildet. Als Standorte für neue Abteilungen wurden grundsätzlich nur solche empfohlen, die in der Bettenbedarfsrechnung die für die Neurologie geforderte Mindestabteilungsgröße von 30 Betten erreichen und zur Verbesserung der Erreichbarkeit im gesamten Bundesgebiet bzw. zum Ausgleich der räumlichen Versorgungsdisparitäten einen entscheidenden Beitrag liefern (eine Ausnahme bildet das KH Lienz in Osttirol, das aufgrund seiner extrem dislozierten Lage als Standort berücksichtigt wurde, obwohl die geforderte Mindestabteilungsgröße von 30 Betten dort knapp nicht erreicht wird, vgl. Karte 3).
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Als neue Standorte für neurologische Abteilungen wurden die KH Eisenstadt, Mistelbach, Zwettl, Ried, Steyr, Vöcklabruck, Feldbach, weiters der LKH-Verbund Knittelfeld-Judenburg sowie das KH Kufstein festgelegt (vgl. Karte 3). Die bereits bestehende LNKL Klosterneuburg-Gugging verfügt in diesem Planungsszenario über keinen ausreichenden natürlichen Einzugsbereich und wird nach ausführlicher Diskussion mit dem Land NÖ nunmehr in das LKH Tulln verlagert. Durch die empfohlene Standort- und Bettenverteilung wird – unter Wahrung der betriebswirtschaftlichen Mindestanforderungen und der medizinischen Versorgungsqualität durch ausreichende Frequentierung – die Erreichbarkeitssituation gegenüber der derzeitigen Situation entscheidend verbessert. Die meisten Versorgungslücken in dieser Hinsicht werden beseitigt, nur für Teile des Bezirks Liezen in der Steiermark und des Bezirks Reutte in Tirol bestehen weiterhin großflächige Erreichbarkeitsdefizite (vgl. Karte 3). Für diese Regionen, die ausgesprochen dünn besiedelt sind, lässt sich kein Krankenhaus-Standort finden, der die Anforderungen bezüglich Tragfähigkeit auch nur annähernd erfüllen könnte, sodass hier die schwierige Erreichbarkeit (die allerdings nur relativ wenige Einwohner betrifft) akzeptiert werden und auf die Versorgungsmöglichkeit in Abteilungen für Innere Medizin zurückgegriffen werden muss. 3.3 Entscheidungsfindung Die für die Neurologie exemplarisch dargestellte Vorgangsweise wurde bei der Erstellung des ÖKAP 1994 für 20 Fachrichtungen angewendet. Diese Planungsempfehlungen bildeten die Basis für die in den Jahren 1995 und 1996 zwischen Bund und Ländern geführten Verhandlungen. In deren Verlauf erwiesen sich mehrere idealtypische Planungsempfehlungen, insbesondere die Schließung von Abteilungen oder ganzen Krankenanstalten, als gesundheitspolitisch kaum durchsetzbar. Aufgrund der vielschichtigen und komplexen Prozesse zur politischen Entscheidungsfindung, in die teilweise Gebietskörperschaften auf allen Ebenen (Bund, Länder, Gemeinden, Sozialversicherungsträger, vgl. Kap. 1.2) involviert waren, konnte nur ein Teil der Empfehlungen in der Vereinbarung zum ÖKAP/GGP 1997 umgesetzt werden. Dadurch wurde etwa auch die Empfehlung zur Schließung von ganzen Krankenanstalten (nicht nur von Abteilungen) nur in wenigen Fällen umgesetzt. Der ÖKAP/GGP 1997 wurde in der Folge in zweijährlichen Abständen zwischen Bund und Ländern neu verhandelt und revidiert. Dabei stellte sich wiederholt heraus, dass die Ergebnisse der Modellrechnungen in der Tat die Wirtschaftlichkeit und medizinische Sinnhaftigkeit der Vorhaltung bestimmter Krankenanstalten bzw. Abteilungen korrekt abgebildet hatten. Mit der Einführung der leistungsorientierten Krankenanstaltenfinanzierung im Jahr
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1997 entstand ein erheblicher wirtschaftlicher Druck genau auf jene Krankenanstalten bzw. Abteilungen, deren Existenzfähigkeit bereits nach den Ergebnissen des ÖKAP 1994 in Frage gestellt worden war. Andererseits wurden von den Bundesländern verstärkt medizinische Expertise in die eigenen Planungsüberlegungen einbezogen, die letztlich auch die Notwendigkeit der Neueinrichtung von Abteilungen bestätigten, deren Notwendigkeit bereits im ÖKAP 1994 thematisiert worden war. In der Folge wurden die – auf den unter 3.2 dargestellten Methoden basierenden – Planungsempfehlungen des ÖKAP 1994 bei den diversen Revisionen des ÖKAP/GGP von den Bundesländern in immer höherem Maße akzeptiert und auch in die Landes-Krankenanstaltenpläne übernommen, sodass der derzeit gültige ÖKAP/GGP 2003 und auch die auf diesem basierenden Landes-Krankenanstaltenpläne die Empfehlungen des ÖKAP 1994 nahezu vollinhaltlich übernommen haben, wodurch für den Planungshorizont 2005 die Herstellung des gemäß Simulationsmodell idealtypischen Zustands in den meisten Regionen Österreichs erwartet werden kann. Insgesamt ist es bemerkenswert, dass nach jahrzehntelangen erfolglosen Bemühungen im Jahr 1997 erstmals ein rechtsverbindlicher bundesweiter ÖKAP/GGP festgelegt werden konnte. Die Vereinbarung dieses ÖKAP/GGP und der danach folgenden Revisionen konnte nicht zuletzt auch durch den Einsatz regionalwissenschaftlicher Planungsmethoden und durch die auf diesem Wege erzielte Objektivierung von gesundheitspolitischen Handlungserfordernissen sowie deren objektivierter Dringlichkeitsbewertung erreicht werden 3.4 Integrative regionale Versorgungsplanung – Ausblick Nach der Vereinbarung gemäß Art. 15a B-VG zwischen Bund und Ländern über die Neustrukturierung des Gesundheitswesens und der Krankenanstaltenfinanzierung (gültig für den Zeitraum 2001–2004) ist der ÖKAP/GGP in Richtung eines Leistungsangebotsplans weiterzuentwickeln. Daher wurde der ÖKAP/GGP im Zuge seiner Revisionen bereits teilweise von − einem Standort-, Fächerstruktur- und Bettenangebotsplan auf − einen Leistungsangebots bzw. „Integrierten Gesundheitsplan“ umgestellt. Die diskutierte Nachfolgeregelung zum ÖKAP/GGP 2003 soll nach dem Konzept der „integrativen regionalen Versorgungsplanung (IRVP)“ bereits als Leistungsangebotsplan mit Planungshorizont 2010 konzipiert sein, und zwar im Sinne eines Rahmenplans für die Landeskrankenanstaltenpläne auf Ebene von Versorgungsregionen, der auch Elemente eines „integrierten Gesundheitsplans“ beinhalten soll. Auf die Notwendigkeit einer „integrativen regionalen Versorgungsplanung“, die alle Anbieter von Gesundheitsleistungen in einer kleinräumig differenzierten Betrachtung mit einbezieht, wurde in der Literatur bereits vielfach hingewiesen.
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Abbildung 4: Elemente des Versorgungssystems nach dem Konzept der IVRP Rehabilitationseinrichtungen
Akut-Krankenanstalten
Alten- und Pflegeheime
Teilstationäre Einrichtungen für alle Menschen
Spitalsambulanzen
NSM Mobile Dienste
(Kassen-)Ambulatorien
Niedergelassene Fachärzte
Niedergelassene/mobile Therapeuten
Niedergelassene Allgemeinmediziner
Quelle: Eigener Entwurf
Besondere Bedeutung kommt dabei den Tatsachen zu, dass zwischen dem (teil-)stationären Bereich, den Spitalsambulanzen und den niedergelassenen (Kassen-)Ärzten wechselseitige Substitutionsbeziehungen bestehen und dass die Entlastungsmöglichkeiten der Akut-KA in hohem Maße von der regionalen Verfügbarkeit von Alten-/Pflegeheimen bzw. von Mobilen Diensten (Hauskrankenpflege, Heimhilfe, etc.) abhängen. Um diese Entlastungsmöglichkeiten in optimaler Weise auszuschöpfen, wird die Herstellung eines in allen Regionen klaglos funktionierenden „Nahtstellenmanagements (NSM)“ erforderlich sein (vgl. Abb. 4) Aus diesem Grund soll in der Nachfolgeregelung zum ÖKAP/GGP 2003, die derzeit in Form des „Österreichischen Strukturplans Gesundheit 2005 (ÖSG 2005)“ diskutiert wird, auch die regionale Versorgung im extramuralen Bereich, im Rehabilitationsbereich sowie in der Alten- und Langzeitversorgung (Alten-/Pflegeheime, mobile Dienste für pflegebedürftige Personen) Berücksichtigung finden, wodurch der ÖKAP/GGP nicht nur vollständig auf einen Leistungsangebotsplan umgestellt, sondern vielmehr grundlegend zu einem „integrierten Gesundheitsplan“ umgestaltet werden würde. Im Zuge einer solchen Umstellung würden die unter 3.2 dargestellten Methoden der morbiditätsbasierten Standort- und Kapazitätsplanung in modifizierter Form auch für die genannten komplementären Bereiche zur Anwendung gelangen, wobei aber nach dem derzeitigen Diskussionsstand nicht mehr der Bund, sondern primär die Bundesländer (im Wege der „Gesundheitsagenturen“ und auf Ebene der insgesamt 32 „Versorgungsregionen“) mit der Erstellung und Umsetzung dieser Planungen befasst wären.
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Quellenverzeichnis Fülöp, G. (1999), Raumplanung der Gesundheitsfürsorge in Österreich – Analyse und Steuerung regionaler Ungleichheiten in der gesundheitlichen Versorgung. Hrsg.: Institut für Stadt- und Regionalforschung der TU Wien, Österreichisches Bundesinstitut für Gesundheitswesen. Wien. Fülöp, G. (2002), „Environmental“ and other Determinants of Health – Conclusions from the Austrian Health Information System (ÖGIS), in: Environmental Communication in the Information Society, Proceedings of the 16th International Conference „Environmental Informatics“), Vienna, pp. 144 ff. Fülöp, G., et al. (2004), Gesundheit und Krankheit in Österreich – Gesundheitsbericht Österreich 2004 (Berichtszeitraum 1992–2001), Bundesministerium für Gesundheit und Frauen. Wien. Narath, M. (2004), Mengen-Qualitäts-Zusammenhang bei Krankenhausleistungen – Arbeitspapier für die OÖ Spitalsreformkommission, Graz. Meise, J. (1992), Psychiatrische Versorgung in Tirol, Amt der Tiroler Landesregierung, Eigendruck, Innsbruck. Schönbäck, W., Hrsg. (1980), Gesundheit im gesellschaftlichen Konflikt – vergleichende Analyse von Gesundheitssystemen, München, Wien, Baltimore. Streissler, A. (2004), Das österreichische Gesundheitswesen – eine ökonomische Analyse aus interessenpolitischer Sicht, in: Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft 89 (2004), Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien. Wien. Wilkinson, R. G. (1996), Unhealthy Societies: The Afflictions of Inequality, London.
Die Verkehrspolitik von morgen Wolfgang Hanko
1. Ausgangspunkt Als Student der Raumplanung an der Technischen Universität Wien habe ich vor rund 25 Jahren Egon Matzners Überlegungen zur Infrastrukturpolitik, die auch in seinem Buch „Der Wohlfahrtsstaat von morgen“ beschrieben sind, kennen gelernt. Ich möchte in meinem Beitrag ausgehend von einer kurzen Charakteristik der österreichischen Verkehrspolitik (als Teil der europäischen Verkehrspolitik) aufzeigen, dass zwei von Egon Matzner vorgeschlagene Konzepte – nämlich die Funktionsanalyse des Staates und der Raum-ZeitAnsatz – unveränderte Relevanz für die Verkehrspolitik haben und die Möglichkeiten zum praktischen Einsatz dieser Ansätze in den nächsten Jahren sogar zunehmen könnten. 2. Verkehrspolitik in Österreich 2.1. Die nationale Verkehrspolitik Als Hauptthemen der Verkehrspolitik in den achtziger und neunziger Jahren können neben der Verkehrssicherheit, die Verlagerung des Verkehrs auf umweltfreundliche Verkehrsträger und das Vermeiden von nicht notwendigem Verkehr genannt werden. Diese Umweltziele wurden, da die Emissionen des Verkehrs in den letzten Jahren jährlich um rund 5 angestiegen sind und damit bereits 2002 auf dem für das Jahr 2010 prognostizierten Niveau liegen, klar verfehlt. Darüber hinaus ist neben der Bewältigung des Lückenschlusses im Verkehrsnetz eine Konzentration auf Fragen des Transitverkehrs (obwohl dieser nur ca. ein Prozent der gesamten Verkehrsleistung ausmacht) festzustellen. Durch die starke Konzentration der österreichischen Verkehrspolitik auf Transitfragen werden zum Teil andere wichtige Aspekte der Verkehrspolitik vernachlässigt. Im Mittelpunkt der offiziellen verkehrspolitischen Diskussion stehen darüber hinaus die Weiterentwicklung der Maut, die geplante neue Wegekostenrichtlinie der EU, die Neuorganisation der Bahn und ein neues Finanzierungskonzept für die Vorhaben des Generalverkehrsplanes. In den letzten Jahren sind noch folgende Punkte als politische Absichtserklärung hinzugetreten: − Nachhaltige Mobilität − Anstreben der Kosten-Wahrheit − Ausrichtung auf intermodale Knoten und Hauptkorridore − Bedenken gegen neue Verschuldung
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− Neue Schwerpunkte durch die EU-Osterweiterung − Verstärkte Anstrengungen in der Verkehrs-Telematik. Seit einiger Zeit werden im Rahmen der Verkehrspolitik verstärkt Begriffe wie „integriert“, „nachhaltig“ oder „vernetzt“ verwendet, wobei der Eingang dieser Konzepte weniger in den politischen Entscheidungen, sondern mehr im PR-Bereich zu erkennen ist. Durch Erzeugen falscher Erwartungshaltungen (Bahn übernimmt den Güterverkehr), nicht Realisieren von Ankündigungen (PKW-Maut wird eingeführt), unrichtige Schuldzuweisungen (ausländische Spediteure verursachen die Umweltprobleme) und sorglosem Umgang mit Daten und Informationen wird der Glaubwürdigkeit der Verkehrspolitik geschadet. 2.2. Die europäische Verkehrspolitik Die Verkehrspolitik der EU basiert auf der Meinung, dass es zahlreicher Maßnahmen und politischer Instrumente bedarf, um den Prozess in Gang zu setzen, der zu einem dauerhaft umweltverträglichen Verkehrssystem führt. Es wird erhofft, dieses Ziel in dreißig Jahren zu erreichen. Die in dem Weißbuch der EU vorgesehenen Maßnahmen stellen dabei nur die erste Etappe einer längerfristigen Strategie dar. Folgende Punkte sind in der Zusammenfassung des Weißbuches zu lesen: a) Ausreichende Finanzmittel müssen für die Infrastruktur, die zum Ausbau der Engpässe und zur Anbindung der Randregionen an das Zentrum der Gemeinschaft notwendig sind, erschlossen werden. Der Ausbau des transeuropäischen Netzes bleibt weiterhin Vorbedingung für die Erreichung ausgewogener Verkehrsträgeranteile. Aus diesem Grund kommt der Internalisierung der externen Kosten (darunter vor allem der Umweltkosten) bei der Tarifgestaltung grundlegende Bedeutung zu. b) Die europäische Union kann die Verkehrsüberlastung nur vermeiden, wenn sie die Bedingungen eines regulierten Wettbewerbs im Auge behält, bei dem die Eisenbahn im Güterverkehr eine letzte Chance erhält. Ein neues Verkehrskonzept der örtlichen Behörden ist erforderlich, um die öffentlichen Dienstleistungen zu modernisieren und gleichzeitig die Nutzung des privaten PKW auf eine rationelle Grundlage zu stellen. c) Die Bedürfnisse der Benutzer, die (da sie auch immer höhere Preise bezahlen) ein Recht auf hochwertige Leistungen haben, sollen erfüllt werden und zwar ungeachtet dessen, ob die Leistung durch ein öffentliches oder privates Unternehmen erbracht wird. d) In jedem Fall kann die gemeinsame Verkehrspolitik alleine nicht alle Probleme lösen. Sie muss sich in eine Gesamtstrategie einfügen, die die Erfordernisse der nachhaltigen Entwicklung berücksichtigt und folgendes umfasst: − wirtschaftspolitische Maßnahmen, die sich auf die Verkehrsnachfrage auswirken
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− raum- und insbesondere stadtentwicklungspolitische Maßnahmen, um eine unnötige Steigerung des Mobilitätsbedarfs zu vermeiden − soziale und schulpolitische Maßnahmen zur Entzerrung der Arbeits- und Unterrichtszeiten − Nahverkehrspolitik auf lokaler Ebene, insbesondere in Ballungsgebieten − haushaltspolitische und fiskalische Maßnahmen, um die Internalisierung der externen Kosten und die Fertigstellung des transeuropäischen Netzes zu erreichen − eine Abstimmung in der Forschungspolitik im Bereich Verkehr auf gemeinschaftlicher, nationaler und privater Ebene. Gerade im Bereich der Verkehrspolitik wäre aber die Rolle der EU kritisch zu hinterfragen. Häufig zeigt sich die Vorliebe der EU für einheitliche, oft detaillierte Regelungen auch in Bereichen, wo regionale Unterschiede eine solche wenig zielführend erscheinen lassen. Durch eine Senkung der österreichischen Mauttarife, so wie sie die EU fordert, würde der Konkurrenzfähigkeit der Bahn und damit der Umwelt geschadet. Die Scheu der EU, Erneuerungen vehement in Angriff zu nehmen und durchzusetzen, ist wiederum an den teilweise konkurrenzierenden und allgemein gehaltenen, sehr langfristigen Zielen (als Ergebnis politischer Kompromissen) leicht zu erkennen. 3. Offene Fragen der Verkehrspolitik Ist die Verkehrspolitik ausreichend auf künftige Herausforderungen vorbereitet? Möchte Verkehrspolitik künftig erfolgreich und nachhaltig gestalten, benötigt sie Antworten auf folgende Fragen: − Wie lässt sich eine bedarfsgerechte Anpassung der Verkehrsinfrastruktur an die Verkehrsnachfrage bei gleichzeitiger Reduktion der Umweltbelastungen erreichen? − Wie lassen sich die Schnittstellen beim Verkehrsträger-Wechsel optimieren und Nachteile (Kompatibilität, Zeitverluste, höhere Kosten) vermeiden? − Wie können die freien Kapazitäten der Verkehrsträger optimal genutzt und Engpässe vermieden werden? − Wie hoch sind die externen Effekte (Kosten und Nutzen) und welche Berechnungsmethoden sind zielführend? − In welchem Umfang soll sich die Privatwirtschaft an der Finanzierung, Planung, Erstellung und am Betrieb der Infrastruktur beteiligen? − Spätestens seit Einführung der LKW-Maut in Österreich stellen sich noch folgende Fragen: − Wann folgt die Pkw-Maut, um die Vignette abzulösen? − Wann erfolgt eine Abstimmung der Mauteinhebung innerhalb der gesamten EU?
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− Inwieweit ist eine Quersubventionierung der Einnahmen aus der Straßenmaut für andere Verkehrsträger, insbesondere die Bahn, zulässig (neue Wegekosten-Richtlinie der EU) und zweckmäßig? Die Grenzen der Handlungsspielräume in der Verkehrspolitik sind meist kleiner, als von der Öffentlichkeit wahrgenommen, da budgetäre, aber auch rechtliche, organisatorische, technische, gesellschaftliche und andere Restriktionen bestehen. Durch die geringen Handlungsspielräume und die gestiegene Komplexität der Realität wäre ein planvolles Vorgehen in der Verkehrspolitik wichtiger denn je. Geeignete Strategien und Methoden müssen daher gefunden und gezielt eingesetzt werden. 4. Zwei Ansätze zur Lösung 4.1. Funktionsanalyse des Staates Zur Beurteilung der Verkehrspolitik möchte ich zwei methodische Ansätze, wie sie Egon Matzner vorgeschlagen hat, vorstellen. Dabei handelt es sich zuerst um die Funktionsanalyse des Staates als Instrument zur Beurteilung der Notwendigkeit konkreter staatlicher Interventionen im Rahmen eines zeitgemäßen Musters staatlicher Interventionen. Egon Matzner hat in seinem Buch der „Wohlfahrtsstaat von morgen“ mehrere Anforderungen an eine handlungsbezogene Theorie staatlicher Interventionen gestellt. Für die Infrastrukturpolitik relevant sind folgende Funktionen des Staates: − Der Staat ist Voraussetzung und Ergänzung der anderen Sektoren. − Der Staat ist eine komplexe Erscheinung, die in verschiedenen Formen auftritt. − Staat bedeutet unterschiedliche Formen und Stufen der Intervention. − Staatliches Handeln ist durch transnationale Einflüsse begrenzt. − Staatliches Handeln muss unterschiedliche Funktionalitätskriterien berücksichtigen. − Der Staat muss Theorien- und Methodenvielfalt sicherstellen. Erster Schritt der Funktionsanalyse ist die Analyse der Entstehungsursachen und Erscheinungsformen der Erfüllung gesellschaftlicher Aufgaben durch den Staat. Der zweite Schritt ist die Analyse der Stufen staatlichen Handelns, nämlich Bedürfnisfeststellung, Bedarfsfestlegung, Planung/Entscheidung der konkrete Form der Bedarfserfüllung, Art der Bedarfsdeckung, Inanspruchnahme, Finanzierung und Kontrolle. Als weiterer Schritt sind Vorschläge zur Reorganisation dysfunktionaler Formen staatlicher Tätigkeiten unter Ausschöpfung der Möglichkeit, private, öffentliche und autonome Tätigkeitsmuster zu kombinieren, zu entwickeln.
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Verkehrspolitik wird von der überwiegenden Mehrheit nach wie vor als öffentliche Aufgabe wahrgenommen. Die Begründungen für staatliches Handeln sollten auf Basis einer Funktionsanalyse (und nicht infolge von Katastrophen, Medienkampagnen oder aus Tradition) erfolgen. Dabei ist wichtig festzulegen, welche Aufgaben (Zielsetzung, Planung, Entscheidung, Finanzierung, Umsetzung, Controlling, etc.) der Staat in seiner vielfältigen Ausprägung hat und welche Aufgaben andere Akteure (private Betreiber, Kundengruppen, Interessensvertretungen, etc.) übernehmen können. 4.2. Raum-Zeit-Ansatz Bereits vor rund 25 Jahren hatte ich die Gelegenheit nach Überlegungen von Egon Matzner ein verkehrspolitisches Konzept, nämlich den raum-zeitorientierten Ansatz, ausgehend vom Sozialgeografen Torsten Hägerstrand, auf seine Relevanz hin zu überprüfen. Den möglichen Raum-Zeit-Pfad der Menschen im Alltag hielt Egon Matzner für ein zentrales Instrument der Infrastrukturplanung. Der Raum-Zeit-Ansatz ist in seinen Ursprüngen ein deskriptives Modell, das die Darstellung individueller Aktivitäten im Tagesablauf in einer vorgegebenen raum- zeitlichen Umwelt erlaubt. Die Individuen als Teil des Verkehrsgeschehens stehen im Mittelpunkt der Betrachtung. Im Rahmen eines Forschungsprojektes am Institut für Finanzwissenschaft und Infrastrukturpolitik der Technischen Universität Wien wurde in den Jahren 1980 bis 1985 ein Computer-Modell mit der Bezeichnung STTS (Spacing Time Timing Space) entwickelt, mit dem individuelle Aktivitätsprogramme (z. B.: Tagesprogramme) mit verschiedenen Verkehrsmittelkombinationen simuliert werden können. Das Modell unterstützt die Beschreibung möglichen oder tatsächlichen Verhaltens mit Einbeziehung der Interaktionen von Individuen und Gruppen. Der große Vorteil dieses Modells liegt darin, dass sowohl die Angebots- als auch die Nachfrageseite beliebig stark differenziert gleichzeitig in einem Modell behandelt werden, weshalb alle möglichen Maßnahmen zur Veränderung des Systems ganzheitlich bewertet werden können. In ausgesuchten Untersuchungsregionen wurden typische Aktivitätsprogramme auf Basis vorgegebener Entwicklungsparameter und MaßnahmenSzenarien simuliert und nach frei wählbaren Kriterien (z. B.: Zeitbedarf und Anzahl der Möglichkeiten zur Durchführung eines Tagesprogramms bei Park and Ride) analysiert und bewertet. Der Einsatz dieses Ansatzes war bis vor kurzem deutlich eingeschränkt. Erst die aktuellen Möglichkeiten, wie sie geografische Informationssysteme (GIS), verstärkte Erhebungen individueller Aktivitäts-Programme und neue Möglichkeiten leistungsstarker Computersysteme und Algorithmen für Simulationen bieten, machen einen zielführenden Einsatz nunmehr möglich.
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Abbildung 1: Raum-Zeit Computer Modell STTS
Quelle: eigene Darstellung.
5. Strategien einer Verkehrspolitik von morgen Damit die Mobilität erhalten und gesichert werden kann, benötigt Österreich, wie auch andere Staaten in Europa, ein leistungsfähiges, sicheres und umweltfreundliches Verkehrssystem. Eine Einschränkung der Mobilität mindert die Wettbewerbsfähigkeit und könnte zu Standortverlagerungen, Arbeitsplatzverlusten und einem Rückgang des Wirtschaftswachstums führen. Darüber besteht weitestgehend Konsens. Ein weiterer Ausbau der Verkehrsnetze (Straße und Schiene) allein ist jedoch für eine zukunftsorientierte Verkehrspolitik im 21. Jahrhundert zu wenig und würde dem hohen Anspruch Österreichs als zentraler Wirtschafts- und weltweit führender Fremdenverkehrsstandort nicht gerecht werden. Die in diesem Kapitel beschriebenen, von den verkehrspolitischen Zielen (Punkt 2) abgeleiteten Strategien folgen auch den Grundüberlegungen der Funktionsanalyse des Staates und des Raum-Zeit-Modells (Punkt 4): − Inter- und Multimodalität des Verkehrssystems Es gewinnen Lösungsansätze an Bedeutung, welche die Inter- und Multimodalität des Verkehrssystems stärker in den Mittelpunkt stellen. Unter Intermodalität versteht man die Nutzung unterschiedlicher Verkehrsmittel im Verlauf eines Weges, unter Multimodalität die wechselnde Verkehrsmittelnutzung bei unterschiedlichen Wegen einer Person in einem bestimmten Zeitraum. Die Inter- und Multimodalität der Transportketten im Güter- und Personenverkehr kann durch Entwicklung von intermodalen Trassen und anderen Intermodalprodukten, bessere Verkehrsträgervernet-
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zung, Harmonisierung der technischen Standards, sowie VerkehrsTelematik und innovative Logistik gefördert werden. − Soft-Policy/Informationspolitik Maßnahmen aus dem Bereich der Soft-Policy sind intelligente Lösungen im Sinne einer interdisziplinären Wahrnehmung der Aufgabenstellungen. Strategien dieser Art sind Projekte zur sanften Mobilität, Aufbau von Informationsnetzwerken, individualisiertes Marketing, betriebliches und schulisches Mobilitätsmanagement oder die Schaffung regionaler Mobilitätszentralen. Die Vorteile von Maßnahmen der Soft-Policy gegenüber der Hard-Policy bestehen meist darin, dass diese Maßnahmen weniger Finanzmittel erfordern, schneller wirksam sind, eine bessere Kosten-NutzenRelation aufweisen und Reserven des bereits bestehenden Systems nützen. Die genannten Konzepte setzen meist auf den direkten Kontakt mit den Bürgern, mit dem Ziel einer freiwilligen Änderung des Mobilitätsverhaltens. − Integration aller verkehrsrelevanten Politikbereiche Verkehrssparende Siedlungs-, Arbeits-, Schul- und Einkaufsstrukturen, die oft durch die interkommunale Standortkonkurrenz behindert werden, sollten angestrebt werden. Ziel ist die Weiterentwicklung einer integrierten Infrastrukturpolitik durch intelligente Zusammenführung der Verkehrspolitik mit der Raumordnungspolitik sowie der gesamten Infrastrukturpolitik. Die gleichzeitige Berücksichtigung aller verkehrspolitisch relevanten sozialen, technischen, wirtschaftlichen und ökologischen Handlungsfelder in Richtung eines vernetzten Gesamtsystems, sowie der Aufbau regionaler Kooperations-, Verhandlungs- und Ausgleichssysteme wären anzustreben. − Strategisches Controlling/Evaluation Hauptaufgabe eines strategischen (auch politik- und grenzüberschreitenden) öffentlichen Controllings ist es, den Grad der Zielerreichung von verkehrspolitischen Maßnahmen laufend zu ermitteln und notwendige Korrekturmaßnahmen rechtzeitig einzuleiten. Dabei muss die organisatorische Durchführung (Sollwerte, Zuständigkeiten, Termine) verbindlich festgelegt werden. Maßnahmen von besonderer Wichtigkeit sollten ebenso wie angewandte Methoden und Instrumente einer Erfolgskontrolle (Evaluation) unterzogen werden. Durch strategisches Controlling und Evaluation können Lerneffekte für zukünftiges Handeln erzielt werden. − Kostenwahrheit/Nutzerfinanzierung Damit künftig mögliche Potentiale besser erschlossen und freie Kapazitäten besser ausgelastet werden können, bedarf es einer fairen Kostenzuordnung für alle Verkehrsträger. Gleichzeitig soll dort – wo es Sinn macht – ein Übergang von der Steuer- zur Nutzerfinanzierung und eine Öffnung des Marktes zur Entwicklung von Wettbewerb, bei gleichzeitiger Einrichtung von staatlichen Regulierungsbehörden, vorgenommen werden. Eine
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verursachungsadäquate Ermittlung sämtlicher Verkehrskosten (Infrastrukturkosten, Fahrzeugkosten) mit Einbeziehung aller externen Kosten (Unfallkosten, Zeitkosten, Umweltkosten) für alle Verkehrsarten zur Förderung ressourcenschonenden Verkehrsverhaltens und Erhöhung der Effizienz ist anzustreben. − Förderung technisch/organisatorischer Innovationen Für die Realisierung energiesparender, sicherer, komfortabler und billiger Verkehrssysteme sollen neue Managementdienste, wie Informations- und Kooperationsmanagement und neue Technologien, wie die Wasserstofftechnologie weiterentwickelt und gefördert werden. Innovationen betreffen auch die Beschreitung neuer Wege bei der Organisation und Finanzierung der verkehrlichen Infrastruktur, wie z. B. die Anwendung von PublicPrivate-Partnership-Modellen. Dabei wäre in jedem Einzelfall eine genaue Überprüfung der Zweckmäßigkeit der eingesetzten Konstruktion vorzunehmen. Für alle Innovationen gilt, dass das Erfinden alleine nicht erfolgsversprechend ist. Viel wichtiger, aber auch schwieriger, ist die Durchsetzung von Innovationen innerhalb der bestehenden Organisation und Gesellschaft. − Kundenorientierung Um ein Funktionieren des Verkehrssystems zu gewährleisten, muss zukünftig in noch höherem Maße auf die Vorstellungen und Bedürfnisse der Kunden eingegangen werden. Als Kunden des Verkehrs sind unter anderem die Fahrgäste, die Besteller von Verkehrsleistungen, die Anrainer und sonstige von externen Effekten Betroffene zu verstehen. Bei auf Kunden orientierten, innovativen Maßnahmen müssen gleichzeitig alle relevanten organisatorischen, wirtschaftlichen und technischen Fragen berücksichtigt werden. Neben neuen Angeboten der Betreiber, können auch virtuelle Produkte geschaffen werden, wobei die Kunden selbst zu Produzenten werden und Angebote nach ihren eigenen Vorstellungen nachfragen. 6. Ausblick Die nationale Verkehrspolitik sollte, neben der gegebenen EU-Abhängigkeit, auch ein ausreichendes Maß an Souveränität bewahren. Vor allem die Überbewertung des Transitverkehrs müsste in Österreich reduziert werden. Ziel ist eine Verkehrspolitik, die einerseits die Integration in Europa fördert (u. a. Harmonisierung der Energiebesteuerung, Koordination der Maßnahmen mit den Nachbarländern) und andererseits eine Abstimmung zwischen regionalen und nationalen Interessen in Österreich vornimmt. Der Staat sollte sich auf die zentralen Fragen mit Auswirkungen auf die Zukunft (Grundsatzentscheidungen, optimaler Staatsanteil, Innovationen, strategisches Controlling) konzentrieren. Die Verkehrspolitik braucht eine vernetzte, langfristig orientierte Denkweise und funktionierende Umsetzungspolitik. Wer künftig
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Verkehrspolitik erfolgreich gestalten will, benötigt jedenfalls intelligente Strategien. Ich bin überzeugt, dass die Funktionsanalyse des Staates und der RaumZeit-Ansatz, sich in einem (für die Verkehrspolitik nützlichen) Gesamtkonzept wirkungsvoll ergänzen. Die Qualität bei der Erfüllung der öffentlichen Aufgaben, beziehungsweise die raum-zeitliche Bewältigung der Aufgaben durch Individuen (Aktivitätsprogramme) stehen dabei im Vordergrund. Funktionsanalyse und Raum-Zeit-Ansatz sind aktueller denn je, sowohl zur Entwicklung und Umsetzung zukunftsorientierter Strategien, als auch zur Beurteilung konkreter Maßnahmen der Verkehrspolitik. Quellenverzeichnis BMVIT (2002), Generalverkehrsplan Österreich – Verkehrspolitische Grundsätze und Infrastrukturprogramm, Wien. EU-Kommission (2002), Weißbuch – Die europäische Verkehrspolitik bis 2010, Luxemburg. Hägerstrand, T. (1970), What about People in Regional Science? In: Papers of The Regional Science Association XXIV/1970. Hanko, W., Rüsch, G. (1987), Das Raum-Zeit-Modell in der Planung, in: Der Öffentliche Sektor-Forchungsmemoranden,13.Jg., Heft 1/87. Hanko, W., Heinze, T., Matzner, E., Taudes, A. (1986), Determinanten des Bedarfs an Straßen, Forschungsprojekt im Auftrag des Bundesministeriums für Bauten und Technik, Wien. Matzner, E. (1982), Der Wohlfahrtstaat von morgen, Entwurf eines zeitgemäßen Musters staatlicher Interventionen, Frankfurt a. Main: Campus Verlag. Matzner, E. (1997), Die Krise des Wohlfahrtstaates, in: Der Öffentliche SektorForschungsmemoranden, 23. Jg., Heft 1/97.
Zur Einführung marktwirtschaftlicher Elemente bei natürlichen Monopolen – mehr Murks als Markt Jörn Kaniak
1. Die Entstehung und natürlicher Monopole In der Volkswirtschaftlehre ist ein Monopol dann gegeben, wenn die Durchschnittskosten monoton fallen, d. h. jede zusätzliche Einheit eines Gutes kann günstiger bereitgestellt werden als die vorherige Einheit. Damit kann ein einziger Anbieter den relevanten Markt immer kostengünstiger versorgen als mehrere (neu eintretende) Anbieter. Man bezeichnet diese Situation auch als Subadditivität der Kosten, d. h. die Kosten von zwei oder mehr Anbietern, die zusammen die gleiche Menge herstellen wie der Monopolist, sind größer. Dies ist überwiegend in Betrieben der Fall, in denen hohe Fixkosten, aber vergleichsweise geringe variable Kosten entstehen. Mit diesem Kostenvorteil kann der Monopolist seine Marktmacht gegen jede Konkurrenz durchsetzen. Diese nur aus der Kostenperspektive gesehene Definition ist jedoch durch den Faktor der „Nicht-Wiederholbarkeit“ der physischen Infrastruktur zu ergänzen, vor allem dann, wenn es sich so wie in den folgenden Überlegungen um Unternehmen aus dem Bereich der traditionellen technischen Infrastruktur handelt wie − schienengebundener Verkehr, − Strom- und Gasversorgung, Fernwärme, − Wasserver- und Abwasserentsorgung, − Postdienste, Telekommunikation. So stand am Beginn der (kommunalen) Versorgung mit Gas, elektrischer Energie und des Personennahverkehrs die Initiative privater Unternehmer, häufig in Konkurrenz zu einander. Die Versorgungsleistungen dieser Anbieter wiesen jedoch unakzeptable Mängel für die Kommunen auf wie − die technische Qualität der Produkte (Gas, Strom), − die Unregelmäßigkeit des Angebotes (Verkehr), − die unbefriedigenden Tarifkonditionen und − die mangelnde Kooperation mit anderen Anbietern (Verkehr). Die Übernahme der privaten Unternehmen durch den Staat in den verschiedenen Ebenen der Gebietskörperschaften war damit auch eine Folge des Marktversagens der privaten Anbieter. Die so ausgeschaltete Konkurrenz und das kapitalintensive Wachstum der Netze war die Ursache der Entstehung natürlicher Monopole. Dazu kamen standörtlich bedingte „Nicht-
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Wiederholbarkeiten“ der Infrastruktur. So können z. B. kalorische Kraftwerke tendenziell räumlich und zeitlich parallel und in Konkurrenz errichtet werden. Die Nutzung der Wasserkraft ist dagegen standörtlich gebunden und nicht wiederholbar – eine zweite Donau kann von keinen Konkurrenten mehr ausgebaut werden. Damit definiert jeder Wasserrechtsbescheid ein Monopol. Flughäfen in der Nähe europäischer Großstädte stehen zwar im internationalen Wettbewerb um die Transitfunktion der Fluggäste. Aus der Stadtregion gesehen sind derartige Flughäfen aber aus siedlungsstrukturellen Gründen fast immer unwiederholbar und daher in einer Monopolsituation. Die Errichtung eines zusätzlichen internationalen Flughafens in Wien kann ausgeschlossen werden. Die „Nicht-Wiederholbarkeit“ gilt auch für die meisten Versorgungsnetze im innerstädtischen Raum aus Platzgründen (Straßenquerschnitte) und im ländlichen Raum aus Umwelt- und Nachbarschaftskonflikten (Schienen, Autobahnen, Stromleitungen). Damit ist der Bau konkurrierender Netze in vielen Bereichen unmöglich. Ein weiteres Charakteristikum in der Entstehungsgeschichte natürlicher Monopole ist die Erbringung gemeinwirtschaftlicher Leistungen, insbesondere dann, wenn sie wie üblich im öffentlichen Eigentum stehen. Der Wunsch des öffentlichen Eigentümers nach Leistungsmerkmalen, die nicht über den Markt angeboten werden – meist im Sinne der Daseinsvorsorge – lässt sich dann, die öffentlichen Budgets schonend, über den Monopolisten verwirklichen. 2. Warum Wettbewerb? Die Subadditivität von Kostenfunktionen bedeutet die wünschenswerte optimale Allokation zur Bereitstellung eines Produktes oder einer Dienstleistung. Insofern ist das Fehlen eines Marktes nicht zwangsläufig mit einer suboptimalen Wohlfahrtsfunktion verbunden. Dennoch waren die Monopolisten zu Recht hoheitlicher Aufsicht und Regelung unterworfen. Monopole tendieren − zu Sattheitsaufschlägen im Wege von Erlösgarantien durch die hoheitliche Preisregelungsmechanismen, − zu Fehlleistungen wie Überkapazitäten aus den gleichen Gründen, − im Falle gemeinwirtschaftlicher Leistungen mit öffentlichen Zuschüssen zu einem zu geringen Mengenangebot bei überhöhten Preisen (Verkehr). Verschärft wird diese Situation durch die im öffentlichen Eigentum stehende Besitzstruktur. Öffentliche Unternehmen sind mit dem Vorwurf konfrontiert, sie seien Instrumente, die zu Machtmissbrauch durch die politischen Eigentümervertreter zum Nachteil gesamtwirtschaftlicher Interessen herausfordern wie z. B. − personalpolitischer Interventionismus, − politische Popularitätskalküle statt betriebswirtschaftlicher Rationalität, − das Wirtschaften mit fremdem Gut führt zu betriebswirtschaftlicher Ineffizienz (Kaniak 1999).
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Entsprechend vielfältig war das in der Vergangenheit geschaffene hoheitliche Instrumentarium zur Kontrolle und Regulierung der Monopole, die in Österreich unter den Begriff der „Preisbehörde“ fielen. Trotz dieser Kontrollmechanismen verblieb ein hohes Maß an Unbehagen über die Fehlallokation der Unternehmen und die geringe Effizienz der Kontrolle und damit verbunden die Suche nach neuen Funktions- und Regelungsmechanismen. Ausgelöst durch das „Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes 1985“ der Europäischen Kommission mit dem Ziel der Grundfreiheiten für den Verkehr von Gütern und Dienstleistungen wurde die neue Linie im Abbau der (Gebiets-) Monopole und in der Einführung von Wettbewerbsmärkten gesehen. So wurde z. B. in der BRD 1987 die Einrichtung einer „Deregulierungskommission“ zum Abbau marktwidriger Regulierungen beschlossen und im Zuge der EU-Erweiterung sektorspezifische Richtlinien zur Liberalisierung der Monopolmärkte, denen jeweils nationale Ausführungsgesetze folgten, von denen auch Österreich durch den EU-Beitritt betroffen war. Kernstück des Instrumentariums zur Einführung von Wettbewerbsmärkten bei natürlichen Monopolen ist das Prinzip des „Unbundling“. Darunter versteht man zunächst die abrechnungstechnische und später auch gesellschaftsrechtliche Trennung von Geschäftsbereichen der Monopolisten. Getrennt werden soll die Erzeugung von der Übertragung und dem Handel. Im Zentrum steht die technische Infrastruktur, die nun neuen Marktteilnehmern zu verursachungsgerechten Netznutzungsentgelten zur Verfügung gestellt werden kann. Damit dient das Unbundling durch Kostentransparenz für die einzelnen Funktionen der Vermeidung von Diskriminierung und Quersubventionierung, Davon betroffen sind die Sektoren Strom, Gas, schienengebundener Verkehr, Post und Telekom. Zur Umsetzung dieser Regelungen wurden neue hoheitliche Instrumente geschaffen, in Österreich z. B. die Energie-Control oder die TelekomRegulierungsbehörde RTR. Offen ist dabei die Frage, wem die neuen weisungsfreien Regulierungsbehörden in ihrem Handeln verpflichtet sind: − den Aktionären der Unternehmen, die nach dem Unbundling am Markgeschehen teilnehmen ? Wenn nicht, wozu wurden sie dann privatisiert? − den Endverbrauchern, die möglichst kostengünstig aber auch langfristig sicher versorgt werden wollen ? − dem hoheitlichen Auftraggeber im Sinne einer von niemandem definierten und kontrollierten „gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion“ ? Nach rund 10 Jahren Deregulierung und dem teilweisen Verkauf der öffentlichen Unternehmen unter dem Schlagwort der Privatisierung ist es angebracht, den Stand der Marktdurchdringung durch neue Akteure und die Effizienz der neuen Regelungen zu hinterfragen.
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3. Die Antwort der Monopolisten Die Sorge der Monopolisten, im Zuge der schrittweisen Freigabe der Monopole zu den Marktverlierern zu zählen, führte zur Realisierung massiver Einsparpotentiale, die weit über die vorher von den Preisbehörden verordneten Maßnahmen hinausgingen. So reduzierte die Österreichische Post AG die Zahl der Mitarbeiter von 1999 bis 2005 von 32.800 auf 25.200. Die ÖBB reduzierten ihren Personalstand zwischen 1996 und 2005 um 26 %, die Elektrizitätswirtschaft im gleichen Zeitraum um 18 %. Einen Sonderfall stellt der Telekom-Sektor dar. Zwischen 1998 und 2005 blieb die Zahl der Beschäftigten nahezu unverändert, sie fiel jedoch im Festnetzbereich der Telekom stark, dafür verdreifachte sich die Zahl der Mitarbeiter im Mobilfunk. Die Trennung der Netze und die verbleibende Kompetenz der Monopolisten für diesen Teil der Produktionsleistung bedeutet, dass der Wettbewerb nur über die verbleibenden − Erzeugungskosten (Strom, Gas) oder die − Dienstleistungskosten (Schiene, Post, Telekom) geführt werden kann. Die hohe Kapitalintensität und lange Lebensdauer der Netze bedeutet aber auch, dass der dem Wettbewerb unterliegende Kostenanteil des Endproduktes nur bescheiden sein kann. So entfallen mindestens 40 % der Stromkosten auf die Netzkosten und 30 % auf die Erzeugung. Eine Erzeugungskostendifferenz zwischen Wettbewerbsteilnehmern von 10 % bedeutet dann für das Endprodukt eine Differenz von unter 3 % und damit einen geringen Anreiz, den Versorger zu wechseln. Die Öffnung der Netze hatte für die Monopolisten den Charakter eines unerwünschten Störpotentials. Das Abwerben von Kunden konnte durch die Preisbildung im Bereich der Grenzkosten gegenüber den früheren Durchschnittskosten weitgehend unterbunden werden. Zusätzlich konnte durch mit Rabatten gekoppelte Bindungsverträge die Wechselbereitschaft der Kunden gering gehalten werden. Kleinverbraucher halten darüber hinaus die Wechselkosten für (bürokratisch) hoch und die Versorgungssicherheit für reduziert. Eine weitere Antwort der Monopole lag in der Konzentration und wechselseitigen Beteiligung der Unternehmen, die oligopolähnliche Strukturen schaffen. In der BRD haben sich allein seit Anfang des Jahres 2000 die beiden großen Verbundunternehmen RWE-Energie und E.ON an 40 Endverbrauchern beteiligt. Ähnliche Entwicklungen sind in Österreich zu beobachten. Die Gründung der Salzburg AG, die Holding der Tiroler Stromerzeuger, die Beteiligung der Verbundgesellschaft an den Klagenfurter Stadtwerken und möglicherweise die Verwirklichung der „Österreichischen Stromlösung“ mit dem Zusammenschluss des größten Erzeugers und der größten Endabgeber.
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4. Zum Stand des Wettbewerbs Entsprechend dem skizzierten Handlungsspielraum der natürlichen Monopole ist der Umfang der inzwischen eingetreten Wettbewerbsintensität nach Sektoren unterschiedlich, insgesamt jedoch bescheiden. Nur im Mobilfunk reduzierte sich der Marktanteil des österreichischen Monopolisten auf 40 %, der größte Teil entfällt auf die 4 Mitbewerber. Dieser – funktionierende – Markt stand jedoch vor seiner Öffnung erst am Beginn des Wachstums und unterschied sich auch von klassischen UnbundlingKonditionen durch den Aufbau paralleler Mobilfunknetze. Anders im Strombereich. In Österreich haben 2005, 5 Jahre nach Beginn der Liberalisierung, nicht mehr als 4 % der Strombezieher ihren Lieferanten gewechselt. Immerhin haben Großkunden mehr profitiert, da auf diese 4 % der Kunden 16 % des Stromverbrauchs entfielen und über die Strombörse werden weniger als 10 % der Aufbringung gehandelt. Ähnlich ist die Situation am Gassektor. Von 1,3 Mio. Gaskunden haben bisher nur 21.000 oder weniger als 2 % den Versorger gewechselt. Im Juni 2005 wurde von der EU-Kommission eine europaweite Wettbewerbsuntersuchung der Strom- und Gasmärkte begonnen. Im zweiten Zwischenbericht vom Februar 2006 wird beklagt „dass es auf den europäischen Energiemärkten nach wie vor eklatante Missstände gibt, wobei als Hauptkritikpunkte hohe Marktkonzentration, unzureichendes Unbundling, mangelnde Marktintegration, zu wenig Transparenz sowie im Gasbereich mangelnder Zugang zu Gasmengen identifiziert wurden“ (E-Control 2006). Für den deutschen Markt wird beklagt, dass − die anfangs hoch motivierten unabhängigen Erzeuger ihre Investitionsabsichten nicht verwirklicht haben − Versorgungs-Newcomer wie z. B. Yellow, der 1998 gestartet ist, immer noch tiefrote Zahlen schreibt und so wie viele Unternehmen, die den Markteintritt versucht haben, aufgegeben haben oder vor der Aufgabe stehen − Im Zuge des Konzentrationsprozesses nur noch 4 Verbundunternehmen existieren, die 80 % der Stromversorgung auf sich vereinen. Zusätzlich haben fast 300 Stadtwerke Beteiligungen mit Vorlieferanten abgeschlossen − Weniger als 4 % aller Haushalte, 6 % der Gewerbebetriebe und 15–20 % der industriellen Großkunden den Stromversorger gewechselt haben (U. Leprich 2006). In den teilweise oder vollständig liberalisierten Postmärkten der EU haben private Wettbewerber bisher nur gering Marktanteile erringen können. Selbst in Schweden, wo der Markt bereits seit 1993 vollständig geöffnet ist, beträgt der Marktanteil aller privaten Wettbewerber neben der PostenAB lediglich 7 % (MRU GmbH 2005).
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5. Mehr Wettbewerb durch mehr Regulierung? Die Frustration über die auch nach Jahren geringe Wettbewerbsintensität in Sektoren mit natürlichen Monopolen führt zum Ruf nach mehr Regulierung. − So titelte die deutsche Monopolkommission ihr 14. Hauptgutachten vom Juli 06 mit „Netzwettbewerb durch Regulierung“ − die Europäische Kommission überlegt aber bereits jetzt notwendige strukturelle, regulatorische und wettbewerbsfördernde Maßnahmen, die zu einer Wettbewerbsbelebung führen sollen (E-Control 2006). Dieser Trend zeigt sich auch in der Zunahme der Gesetze und Verordnungen für den Strom-, Gas-, Telekom- und Postsektor und in der Auseinandersetzung mit dem Regulator. Die Festlegung der Tarife für die Systemnutzung unter den Durchschnittskosten (Strom, Gas, Telekom) beinhaltet die Gefahr, dass die Erlöse von den Netzbetreibern als unattraktiv gesehen werden und künftige Investitionen unterbleiben. Die Stromzusammenbrüche in Kalifornien sind ein negatives Beispiel für solche Entwicklungen. Damit ist aber auch der Trend vorgegeben, dass künftig die Regulatoren direkt in die Investitionsentscheidungen eingreifen werden. Wenn z. B. im Gas- und E.Wirtschaftsgesetz der Regelzonenführer die Auflage zur Beseitigung von Kapazitätsengpässen nicht erfüllt, bleibt nur noch der direkte Eingriff in die Investitionstätigkeit des Unternehmens. Der Idee des Wirtschaftsliberalismus, die den wachsenden Wettbewerb mit gleichzeitiger Deregulierung begleiten wollte, ist damit nicht gedient, und Fehlsteuerungen durch den Regulator sind vorprogrammiert. Eine besondere Fehlleistung des öffentlichen Sektors stellt die Postgesetznovelle 2005 dar. Die Österr. Post AG erbringt gemeinwirtschaftliche Leistungen, die im Universaldienst des Postgesetzes festgelegt sind. Betroffen davon sind Postsendungen bis 2 kg, Postpakete bis 20 kg sowie Einschreibe- und Wertsendungen. Der Universaldienst verpflichtet die Post AG − flächendeckende Abhol- und Zugangspunkte − zu erschwinglichen Preisen − und einer bedürfnisorientierten Abhol- und Zustellfrequenz vorzuhalten, deren Konkretisierung durch Verordnungen des Bundesministers erfolgte. Dabei geht die Zahl der Briefkästen, Postämter, die Zustellfrequenz und Tarifgestaltung weit über jenes Maß hinaus, welches aus betriebswirtschaftlichen Gründen gewählt würde. Die Mehrkosten des Universaldienstes wurden mehrfach postintern und extern untersucht, mit unterschiedlichen Ergebnissen. Als Richtwert ohne Anspruch sei im folgenden von 110 Mill. Euro ausgegangen, das sind 6,5 % des Umsatzes des Post AG 2005. Die Finanzierung erfolgt bis auf weiteres über den reservierten Bereich, das sind Briefsendungen mit einem Gewicht bis 50 g. Somit finanziert das Monopol die gemeinwirtschaftlichen Leistungen. Bei Wegfall des Briefmonopols (nach EU-Vorstellungen 2009) müssten anderen Finanzierungs-
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formen gefunden werden. Die in der wissenschaftlichen Literatur häufig gefundene Vorstellung „wer bestellt der zahlt“, in diesem Fall der zuständige Minister, abstrahiert von der budgetären und politischen Realität. Auch der Vorschlag, alle konkurrierenden Postdienstleister zahlen gemeinsam den Universaldienst, ist angesichts der geringen Marktdurchdringung unrealistisch. Es ist vielmehr zu erwarten, dass der Universaldienst politisch unverzichtbar ist und die Finanzierung durch die Post AG im Querverbund bleibt. Damit ist aber eine schwere Wettbewerbsbenachteiligung der Post gegenüber den neuen konkurrierenden und rosinenpickenden Dienstleistern gegeben. Um nun der Post im liberalisierten Markt mehr Chancen durch Wettbewerbsgleichheit zu ermöglichen, sollte man erwarten, dass das Postgesetz so novelliert wird, dass ein behutsamer Rückzug von Teilleistungen des Universaldienstes ermöglicht wird. Stattdessen wurde es in der Postgesetznovelle 2005 dem Bundesminister zusätzlich ermöglicht, die Schließung von Postämtern zu untersagen. Im Klartext: Ausweitung des staatlichen Interventionismus zur Verhinderung betriebswirtschaftlich notwendiger Entscheidungen des Unternehmens ohne externe Finanzierung der gemeinwirtschaftlichen Leistung bei voller Liberalisierung des Postmarktes und Privatisierung des Unternehmens an der Börse mit entsprechender Dividenden und Kurserwartung – mehr Murks als Markt. 6. Second – statt First Best Auch wenn die derzeitige Wettbewerbsintensität durch die Regulatoren als unbefriedigend erachtet wird, so ist doch positiv anzumerken, dass die deutlichen Rationalisierungs- und Kostensenkungseffekte der ersten Phase einer durch potentielle Konkurrenz ausgelösten Disziplinierung der Monopole zu verdanken ist. Das Erzwingen von mehr Wettbewerbsintensität über nicht kostendeckende Netznutzungsentgelte und Investitionsvorschreibungen für Kapazitätsvorhaltungen stellt eine staatliche Übernahme von mikroökonomischen Entscheidungen durch den Regulator dar. Dafür benötigt der Regulator eine Unmenge von Informationen, die aber weitgehend von den Unternehmen selber stammen. Die Fülle an verpflichtenden Berichten der Unternehmen an der Regulator geht deutlich in die Richtung Überregulierung mit der Tendenz zur Verselbstständigung des Wettbewerbsziels und letztlich der Auflösung der Monopolunternehmen mit allen negativen Folgen der fehlenden Kontinuität. Eine vertikale Separierung mit dem Ausschluss des Netzbetreibers von der Dienstleistungserbringung ist das Ende der Effizienz der Netze wie das Beispiel der Bahn in Großbritannien gezeigt hat. Aufgrund der Erfahrungen dieser letzten 10 Jahre ist es auch für radikale wirtschaftsliberale Ideologen an der Zeit wahrzunehmen, dass die infrastrukturellen natürlichen Monopole anders funktionieren als sonstige Monopole
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und damit von unrealistischen Idealvorstellungen Abschied zu nehmen. Wettbewerb entsteht auch unter Voraussetzung der Nachfragesubstitution des Produktes oder der Dienstleistung. Diese ist jedoch teils gar nicht (Wasser, Abwasser, Strom, Gas), teils nur eingeschränkt möglich (Post, ÖPNV). Es ist an der Zeit, sich in Erinnerung zu rufen, dass Regulierung immer nur eine Second Best Option gegenüber sich selbst tragenden Wettbewerbsmärkten darstellt. Wir brauchen daher eine Rückbesinnung auf die Kernaufgaben des Regulators − die Sicherung des Netzzuganges und − die Festsetzung Investitions- und innovationsfördernder Netztarife. Dabei stellen die natürlichen Monopole ebenso eine Ausnahme im marktwirtschaftlichen Mechanismus dar wie die Regulierungsbehörden selbst, die sich in ihrer Effizienz und Existenzberechtigung ebenso zu legitimieren haben. „Aus diesem Grunde sollten sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene geeignete Mechanismen zur Überprüfung der Effektivität von Regulierungen und der zugrunde liegenden Gesetze eingefordert werden (KostenNutzen-Analyse, internationale Benchmarks etc.). Die Durchführung der Überprüfung kann dabei nicht mittelbar oder gar unmittelbar der mit der Aufgabe befassten Institution selber überlassen werden, sondern sollte durch unabhängige Institutionen erfolgen“. (BMWT 2006). Die einzelnen europäischen Länder haben unterschiedliche Intensitäten der Regulierung in den einzelnen Sektoren. „Ein Wettbewerb der Regulierungsmodelle in Verbindung mit entsprechenden Benchmarks-Verfahren-„ (BMWT 2006) könnte den ideologischen Ballast, der auf diesem Thema liegt, im Sinne der von allen gewollten Optimierung der Wohlfahrtsfunktion erleichtern. Quellenverzeichnis BMWT (2006), Stellungnahme des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie zum Call for Inputs/Review 2006 zum Rechtsrahmen für die Telekommunikation, Berlin. E – Control (2006), Presseinfo vom 16. 2. 2006, Wien. Kaniak, J. (1999), Liberalisierung und Wettbewerb – Dienstleistungsverpflichtung und Wahrung der Bürgerinteressen, in: Zeitschrift für Gemeinwirtschaft, 37. Jahrgang/5, Wien. MRV GmbH (2005), Die Liberalisierung des österreichischen Postmarktes – Alternativszenarien, Manner-Romberg Unternehmensberatung, Hamburg.
Abschnitt E
Stadt- und Regionalplanung
Graz West Impulse der Stadtentwicklungspolitik 1
Gerhard Rüsch
Was bedeutet Stadtentwicklung und warum Stadtteilinitiativen für Graz? Nur eine gesamtheitliche Betrachtung des Begriffes „Stadt“ ermöglicht die Beantwortung dieser Fragen. Wo fängt die Stadt an und wo hört sie auf? Gehe ich in die Stadt, wenn ich zum Hauptplatz oder zum Shopping Center am Stadtrand unterwegs bin? Gehört Eggenberg zur Stadt oder ist es schon eine eigene Welt? So unterschiedlich der Begriff Stadt von den verschiedenen Akteuren verstanden wird, so unterschiedlich sind auch die Ansätze, die Stadt zu entwickeln. Aus der Vogelperspektive betrachtet bildet die Stadt Graz einen kompakten Organismus. Aber in der Nahbetrachtung ihrer gesellschaftlichen, soziologischen und funktionalen Beziehungen zeigt sie sich als ein sehr differenziertes Gebilde eigenständiger Teile. Die Stadt als Ganzes betreffen die Vorgaben des Steiermärkischen Raumordnungsgesetzes mit seinen Planungsinstrumenten wie Stadtentwicklungskonzepte und Flächenwidmungspläne. Diese erfassen aber „nur jene Ziele und Maßnahmen, die von der Stadt Graz direkt oder mittelbar beeinflusst werden können und die raumordnungsrelevant sind, also räumlichfunktionelle Auswirkungen haben“, wie das „3.0 Grazer Stadtentwicklungskonzept“ beschreibt. Die angestrebten Ziele öffentlichen Handelns werden ohne Umsetzungsmaßnahmen, Prioritäten und Finanzbezug dargestellt, wodurch zwar ein Handlungsspielraum festgelegt ist, jedoch noch keine Aktivitäten gesetzt werden, diesen zu füllen. Generell sind die traditionellen Instrumente der Raumordnung nicht dazu angelegt, dynamische Entwicklungsprozesse begleitend zu steuern; sie beeinflussen den Markt, agieren aber kaum darin. Deshalb hat sich die Stadt Graz entschlossen, mittels Stadtteilinitiativen über die gesetzliche Ordnungsplanung hinaus aktiv zu werden und zu handeln. Ein wichtiges Instrument bieten die von der EU geförderten Initiativen zur Sanierung strukturschwacher Gebiete der Städte. Graz startete bereits 1996 mit „Urban Gries – Ein Bezirk lebt auf“, gefolgt vom urbanen Pilotprojekt „e.l.m.a.s. Jakomini – Ein Leben mit allen Sinnen“ und nun in der 2. Phase der URBAN-Initiative von „Urban_Link Graz-West“. 1 Das EU-Projekt „Urban_Link Graz-West“ wird vom Amt für Stadtentwicklung und Stadterhaltung koordiniert. Der vorliegende Beitrag wurde mit Unterstützung von Frau Sylvia TrattnerJakob verfasst.
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Das Ziel ist und war stets eine kommunikationsorientierte Stadtentwicklung, die sowohl öffentliche als auch private Interessen berücksichtigt und soziale, ökonomische und ökologische Faktoren integriert: Im Gegensatz zu einer statischen Planung steht eine aktive, prozessorientierte Bearbeitung, die gewünschte Entwicklungen initiieren und begleiten soll. Betroffene und Beteiligte sollen frühzeitig in den Prozess eingebunden werden, damit vor allem die Skepsis der BürgerInnen gegen geplante Veränderungen im Vorfeld abgebaut werden kann. Das rechtzeitige Erkennen und Entschärfen von Konflikten sowie das Stärken von Synergien, endogenen Potentialen und Gemeinsamkeiten sind integrale Bestandteile der strategischen Planung. Das Ziel der – dem Programm Urban_Link Graz-West vorgelagerten – Stadtentwicklungsinitiative Graz-West lautet demnach, bis zum Ende der Programmlaufzeit im Jahr 2006 auf Basis einer nachhaltigen Entwicklung, die gefundenen und in der Leitidee definierten, qualitativ wertvollen Standortfaktoren zu finden und zu fördern, die den Grazer Westen – das Gebiet zwischen der Bahntrasse der ÖBB und dem Höhenrücken des Plabutsch – zu einem zukunftsorientierten, attraktiven Wohn, Lebens- und Arbeitsbereich innerhalb der EU-Zukunftsregion zu machen: „Urban_Link Graz-West – Raum für Zukunft“. 1. Ein Blick zurück: Der Grazer Westen anno 1850 Ein Blick zurück ins 19. Jahrhundert zeigt eine sehr dynamische Entwicklung der Stadt Graz insbesondere ab ca. 1840. Diese massive Expansion betrifft nicht nur die Einwohnerzahl – diese verdreifachte sich von ca. 50 000 ab diesem Zeitpunkt bis zum Ende des Jahrhunderts, sondern auch die räumliche Ausdehnung und die wirtschaftliche Bedeutung. Im Osten von Graz, wo sich der historische Altstadtkern und alle drei Grazer Universitäten befinden, erfolgte diese Entwicklung in den geordneteren Bahnen der gründerzeitlichen Stadterweiterungspläne. Im Grazer Westen, und hier vor allem entlang der neu angelegten Eisenbahnlinie zwischen Graz und Wien, entstand im Gegensatz dazu ein großflächiger Industrie- und Gewerbegürtel. Die Ansiedlung der Betriebe im 19. Jahrhundert ergab sich aus dem weitläufigen Flächenpotenzial zwischen der damaligen unabhängigen Gemeinde Eggenberg und der Stadtgemeinde Graz sowie aus der besonderen Verkehrsgunst. Die Fabriken und Manufakturen benötigten große Mengen an Rohstoffen, sowohl für die Produktion als auch für die Energieversorgung. Die Primärenergieträger Holz, Kohle und andere Rohstoffe wurden von der ehemaligen K&K Südbahn und der Graz Köflacher Bahn zu- und abgeliefert. Neben den florierende Fabriken und Gewerbebetrieben eignete sich das Gebiet auch für den großflächigen Bedarf der Brauerei Reininghaus.
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Mit dem Ausbau der Industrielandschaft in Richtung Schwerindustrie im frühen 20.Jahrhundert und durch Zuzug von Arbeitern entstanden in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Industrie- und Gewerbeanlagen die traditionellen Wohnbereiche des Grazer Westens. Große noch freistehende Areale wurden letztlich in den 60er- und 70er-Jahren dieses Jahrhunderts intensiv für Wohnbauten genutzt, aber auch von Einfamilienhäusern und Schrebergärten besetzt. Aus dem ursprünglichen Siedlungskern um das Barockschloß der Eggenberger entwickelte sich der Grazer Westen zum Produktions- und Arbeiterviertel. Die Auswirkung der Arbeitsprozesse wurde zum prägenden Element des Stadtgefüges. Dies ist bis heute so geblieben. 2. Graz-West im Wandel. Prozesse und Strukturen Die Veränderung der Arbeitsprozesse in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, die Umstrukturierung der Industriezweige im Gefolge der einsetzenden Globalisierungstendenzen brachten für den Grazer Westen Stagnation und Umbruch: Große produzierende Betriebe sperrten in den letzten Jahren zu oder verlegten immer größere Teile ihrer Produktion in Länder mit niedrigerem Lohnniveau; zugleich benötigen modernisierte Produktionszyklen geringere Flächen. Steigende Arbeitslosigkeit, Industriebrachen, fehlende stadträumliche Attraktivität, Mangel an öffentlich zugänglichen Grünflächen, Umweltbelastungen durch schlechte Entflechtung des Verkehrs zwischen den Wohngebieten und den verbliebenen Industriebetrieben sind Folgen dieses Wandels. Insgesamt ist auch die Entwicklung der Wohnbevölkerung rückläufig. Es sind dies jene Faktoren, die heute die Problemindikatoren des nunmehrigen URBAN II-Gebietes darstellen. Die vorhandenen Vorteile des Gebietes gerieten dagegen aus dem Blickfeld: So zeichnet sich der Grazer Westen durch wertvolle Naturräume in einer charakteristischen Verbindung von Stadt und Land aus. Er besitzt den direkten Anschluss an ein beinahe unberührtes Naherholungsgebiet. Auch bieten historisch bedeutsame Bauten und Siedlungskerne gute Ansätze zur eigenständigen Identität. Dabei können die großen Flächenreserven noch neue Entwicklungen aufnehmen, ohne in Konflikt mit dem Vorhandenen zu geraten. Die zwei durch diesen Stadtteil führenden Eisenbahnstränge ermöglichen noch wenig genutzte Verkehrsanbindungen an die Region und schaffen somit außergewöhnliche Lagevorteile. Die latente Tendenz zur Umstrukturierung vermittelte in den letzten Jahren jedenfalls auch die Möglichkeit offener Chancen. So entwickelten Liegenschaftseigentümer, Unternehmer, Bürger und Politik – angeregt durch die freien Flächenpotentiale und das nicht mehr benötigte Raumangebot der Industrie – eine große Zahl von Projektideen der verschiedensten Dimensionen
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und von unterschiedlichstem Konkretisierungsgrad. Zum Teil standen diese in krassem Gegensatz, aber auch in Konkurrenz zueinander. Jedenfalls aber verfolgte die überwiegende Zahl von ihnen fast ausschließlich die partiellen Interessen ihrer Trägerschaft. Es fehlte eine Gesamtschau auf eine tragfähige Entwicklung des Gesamtgebietes, bezogen auf die vorhandenen Potentiale, die Bedürfnisse der Bewohner und die Möglichkeiten der Realisierung. Obwohl den Verantwortlichen der Stadt bewusst war, dass für den Grazer Westen neue Entwicklungsziele und entsprechende Entscheidungen anstanden, war es unter den gegebenen Voraussetzungen nicht möglich, alleine mit den Mitteln der örtlichen Raumordnung jene Festlegungen zu treffen, die eine zukunftsfähige Entwicklung einleiten können. Allerdings wurde mit der Entscheidung, die für Österreich neue Institution der Fachhochschule als Entwicklungsimpuls für den Grazer Westen zu nutzen, ein weitreichender Schritt gesetzt. 3. Kommunikationsorientierte Stadtentwicklung Graz-West (1999–2001) Der Gemeinderat der Stadt Graz fasste im Jahr 1999 den Beschluss über eine neuartige, über die Ordnungsplanung hinausgehende Initiative für Graz-West, um ein ganzheitliches, von möglichst breitem Konsens getragenes Konzept zu entwickeln. Er erteilte daher dem Amt für Stadtentwicklung und Stadterhaltung den auf zweieinhalb Jahre angelegten Projektauftrag für eine „Stadtentwicklungsinitiative Graz-West“. Ihr Ziel war es, eine umfassende und vernetzte Planung, welche die Faktoren Verkehr und allgemeine Infrastruktur, Grün- und Erholungsraum, Arbeit und Wirtschaft, Wohnbau, Kultur sowie Aus- und Weiterbildung sorgfältig aufeinander abstimmt und einbezieht, durchzuführen. Das Ergebnis sollte auch den abschätzbaren Finanzbezug enthalten und in der Lage sein, möglichen Investoren und Grundstückseigentümern verbindliche, mit den Interessen der Stadt akkordierte Antworten zu geben. Die Skepsis der BürgerInnen gegen geplante Veränderungen ist jedem, der an solchen Prozessen beteiligt ist, bekannt. Leider gründet sie sich meist auf negative Erfahrungen mit tatsächlichen oder vermeintlichen Ergebnissen von Planungsmaßnahmen und führt zur Einstellung, es sei deren Ziel, anderen Subjekten oder Gruppierungen Vorteile auf Kosten des eigenen Lebensumfeldes zu verschaffen: das „Die-da-oben Syndrom“! Um diesem Vorwurf zu entgehen, wurde daher von der Projektleitung ein kommunikationsorientierter Entwicklungsprozess zwischen institutionellen, kommerziellen und kommunalen Interessengruppierungen entworfen und in Gang gesetzt. Dazu wurden zunächst sämtliche bisher formulierte Vorhaben gesammelt, dokumentiert, hinsichtlich Stand und Realisierbarkeit bewertet und – vor allem – gegenseitig in über 200 Informationsgesprächen kommuni-
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ziert. Die daraus gewonnene Summe von Erkenntnissen lieferte nicht nur eine Fülle von Detailwissen, sondern deckte auch wichtige Zusammenhänge, Möglichkeiten und auch Unmöglichkeiten auf. Der gegenseitige Informationsaustausch förderte gleichermaßen bei „Akteuren“, „Betroffenen“ und „Entscheidungsträgern“ das fachliche Verständnis für vernetzte Zusammenhänge und wurde damit zur Grundlage der angestrebten konsensfähigen integrierten Nutzungszielsetzung für diesen Entwicklungsraum. Zum Abgleich zwischen den innerhalb dieses Vorlaufsprozesses aus fachlicher Sicht besonders schwieriger Entscheidungsfragen, aber auch zwischen extremen Interessenslagen, wurden mehrere, teilweise öffentliche Kolloquien unter Einbeziehung externer Experten abgehalten. Auf diese Weise gelang es, ein praktikables Instrument für öffentliche Planungen und transparente Entscheidungsprozesse zu entwickeln. Die Zukunftsvorstellungen für den Grazer Westen wurden in einer Leitidee, die in zehn Punkten die wesentlichsten Ziele enthält, zusammengefasst. Diese aus dem Kommunikationsvorhaben hervorgegangenen Leitvorhaben wurden soweit in das URBAN II-Programm eingearbeitet, wie es durch die entsprechenden Förderrichtlinien finanzierbar war. Das Kommunikationsprojekt „Graz-West“ bildete somit im Vorfeld des angestrebten URBAN II-Programms eine strategische Planung zur Entscheidungsvorbereitung, die ein möglichst breites Interessensspektrum umfasste. Ihre umsetzungsorientierte Wirksamkeit erhält sie nun durch das EUgeförderte Stadtentwicklungsprogramm Urban_Link Graz-West, dessen Betrachtungsbereich mit jenem von Graz West identisch ist. Aufbauend auf den Vorfeldentscheidungen im Rahmen von Graz West können mit den aus Urban_Link Graz-West verfügbaren Finanzmitteln jene Maßnahmenschwerpunkte und ergänzenden Projekte verwirklicht werden, die dem erarbeiteten Stadtentwicklungsleitbild entsprechen, aber auch jene, die den Zielvorgaben der EU folgen. 4. Urban_Link: Das URBAN II-Programm für den Grazer Westen (2000–2006) Als sich Ende des Jahres 1999 für die Stadt Graz die Möglichkeit eröffnete, sich an der für Graz zweiten Periode der URBAN-Programme zu beteiligen, war der Weg für die Auswahl des Projektgebietes bereits vorgezeichnet und das Entwicklungsgebiet im Grazer Westen als Programmgebiet für URBAN II festgelegt. Unter Berücksichtigung der inhaltlichen Vorgaben der Europäischen Union und aufbauend auf den Ergebnissen des vorbereitenden Kommunikationsprozesses konnte ein integriertes Gesamtprogramm vorgeschlagen werden, mit dessen Hilfe die wesentlichen Entwicklungsziele erreicht und die wichtigsten Leitprojekte realisiert werden können. Die Genehmigung
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des Grazer URBAN II-Programms durch die Europäische Kommission erfolgte im Oktober 2001. Das globale Ziel des Umsetzungsprogramms „Urban_Link Graz-West“ ist es, eine Entwicklung zu initiieren, die den Anforderungen einer vorausschauenden Stadtentwicklung entspricht: Mit dem Blickwinkel auf die Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts soll für den großflächigen, monofunktionalen Industriegürtel westlich des Grazer Hauptbahnhofes der Wandel zu einem Stadtteil von neuer, zeitgemäßer und zukunftsfähiger Urbanität eingeleitet werden. Die aktiv geförderte Einbindung der Bevölkerung in Planungs- und Entscheidungsprozesse soll den Interessensausgleich zwischen Ökonomie, Ökologie und sozialen Belangen sicherstellen und zu einem nachhaltigen Erfolg des Vorhabens führen. Das Programmgebiet umfasst rund 740 ha (das sind 5,8 % des Grazer Stadtgebietes), es ist Teil von vier Stadtbezirken und Lebensraum von rund 32.000 Einwohnern (das entspricht etwa 13,5 % der Grazer Stadtbevölkerung). Aufbauend auf den charakteristischen natürlichen Potenzialen, die Lagegunst und die besondere Entwicklungsgeschichte, soll das Angebot an Flächen, Betrieben und Einrichtungen zu einem Stadtteil mit spezifischen Qualitäten verdichtet werden. Zentrale Aspekte werden dabei der Ausbau des Fachhochschulbereiches zu einer öffentlichen Stadtteilzone, die Verbindung zwischen Ausbildung und Wirtschaft durch Gründungsinitiativen zu Gunsten innovationsorientierter Unternehmen und – als Voraussetzung dafür – der Abbau stadtstruktureller Barrieren bilden. Der Austausch von Wissen und Praxis zwischen den Firmen, der Fachhochschule, aber auch der Bevölkerung, soll zur Stärkung und Entwicklung der Humanressourcen beitragen. Angebote zur Weiterbildung in Richtung künftiger Alltagsanforderungen sollen den strukturellen Wandel erleichtern. Im Rahmen des Gesamtprogramms werden im Zeitraum bis 2006/7 zahlreiche, untereinander vernetzte Einzelprojekte ihren Beitrag zur Stadtentwicklung leisten. Diese Projekte orientieren sich an vier Programmschwerpunkten. 4.1 Schwerpunkt 1: Entwicklung der Potenziale der Informationsgesellschaft Im Rahmen dieses Schwerpunktes werden Projekte zur Verbesserung der strukturellen Rahmenbedingungen, zur Entwicklung und Stärkung der Humanressourcen und zur innovationsorientierten Wirtschaftsentwicklung realisiert. Ausgangspunkt für die geplanten Projekte ist der (weitere) Ausbau des Fachhochschulzentrums (FH Joanneum), der seit 1998 kontinuierlich erfolgt. Übergeordnetes Ziel von URBAN ist es, dieses Zentrums für die Bevölkerung zu öffnen und in den Stadtteil zu integrieren.
Graz West – Impulse der Stadtentwicklungspolitik
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In enger Verbindung mit den an der Fachhochschule etablierten Studiengängen und der ansässigen Wirtschaft wurde das Start-up Center für FirmengründerInnen sowie ein weiteres Gründungs- und Impulszentrum mit dem Schwerpunkt im Bereich der Humantechnologien (Wissensstadt) auf dem Areal der ehemaligen Brauerei Reininghaus errichtet. Zur Förderung von Firmengründungen stehen auch Fördermittel für betriebliche Investitionen und für gezielte Beratungen zur Verfügung. Weiters werden Projekte zur Qualifizierung von Arbeitskräften und zur generellen Entwicklung des erforderlichen Arbeitskräfte-Potenzials durchgeführt. 4.2 Schwerpunkt 2: Zukunftsfähige Stadtteilentwicklung In diesem Bereich werden Projekte zu den Themen Mobilität, Freiraumgestaltung und nachhaltiges Bauen, Wohnen und Arbeiten umgesetzt. Zur Verbesserung der Verkehrserschließung des Grazer Westens werden der Bau der Unterführung der Graz-Köflacher-Bahn in der Alten-Post-Straße sowie die Realisierung von, in einem Bürgerbeteiligungsverfahren erarbeiteten, Begleitmaßnahmen in der Waagner-Biro-Straße gefördert. Insbesondere die Unterführung der Eisenbahntrasse stellt einen wesentlichen Beitrag zur Mobilitätssteigerung innerhalb des Stadtteiles dar, da die Schrankenschlusszeiten die durchgängige Nord-Süd-Verbindung im Grazer Westen stark beeinträchtigen. Zudem werden die Erweiterung und der Ausbau des Fuß- und Radwegenetzes vorangetrieben. Ergänzung finden diese Maßnahmen in einer Mobilitätsberatung für Unternehmen und Institutionen im Programmgebiet. Mit der Anfang 2003 eröffneten Helmut-List-Halle findet man im Grazer Westen ein neues Veranstaltungszentrum, das von allen wichtigen Grazer Kulturträgern wie dem steirischen herbst, der Styriarte und Graz03 bespielt wurde und wird. Die in einer ehemaligen Produktionshalle nach baubiologischen Grundsätzen errichtete Halle ist darüber hinaus mit der größten fassadenintegrierten Photovoltaik-Anlage Österreichs ausgestattet. Zur Forcierung stadtökologisch ausgerichteter Maßnahmen der Freiraumgestaltung stehen weiter Fördermittel zur Verfügung. 4.3 Schwerpunkt 3: Prozessbegleitende Kommunikation Im Rahmen dieses wichtigen und programmumfassenden Schwerpunkts wird der 1999 begonnene Kommunikationsprozess Graz-West fortgeführt und die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an Entscheidungsprozessen weiterhin sichergestellt. Der Ausgleich zwischen Ökonomie, Ökologie und sozialen Belangen soll dabei das nachhaltige Wirken der Maßnahmen sicherstellen. Neben Bürgerbeteiligungsverfahren werden laufend Informationsveranstaltungen zum Programm „Urban_Link Graz-West“ und einzelnen URBANThemen angeboten. Den Auftakt bildete das URBAN-Startfest im November
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2002, das von rund 2000 BürgerInnen besucht wurde. Auch der Tag der offenen Tür in der Helmut-List-Halle im Jänner 2004 fand großen Anklang bei der Bevölkerung. Alle Informations- und Beratungsaktivitäten werden zudem in einem eigenen Informationszentrum (URBAN Box) gebündelt und allen Interessierten, insbesondere der Bevölkerung des Grazer Westens und den einzelnen URBAN-Projektträgern angeboten. Zur Beobachtung laufender Entwicklungen und zur Information über raumbezogene Daten über das URBAN-Programmgebiet wurde 2003 ein Online-Informationssystem eingerichtet, das unter dem Namen „URBAN Stadtteil-Info“ sowohl über die Terminals in der URBAN Box als auch über die Homepage (www.urban-link.at) abrufbar ist. Zur Förderung kleiner Vorhaben und Projekte von BürgerInnen startete 2004 der „Kleinprojekte-Fonds“, welcher gemeinsam mit den vier Bezirksvertreteungen von Lend, Gries, Eggenberg und Wetzelsdorf verwaltet wird. 4.4 Schwerpunkt 4: Technische Hilfe Unter dem Begriff „Technische Hilfe“ werden jene Maßnahmen zusammengefasst, die zur Durchführung, Begleitung und Kontrolle des Gesamtprogramms sowie zur Information der Öffentlichkeit gesetzt werden. Ein weiterer Bereich umfasst den laufenden Erfahrungsaustausch mit anderen europäischen URBAN-Städten. Die Stadt Graz ist seit 2001 Mitglied des „Deutsch-Österreichischen URBAN-Netzwerkes“, welches als deutschsprachige Kommunikations- und Informationsplattform für Fragen zum Thema „EU-Gemeinschaftsinitiative URBAN“ dient. Insgesamt besteht dieses Netzwerk zur Zeit aus 12 deutschen und 2 österreichischen Städten und trifft regelmäßig in einer dieser Städte zu speziellen Themen gewidmeten Tagungen zusammen. Auch Graz war bereits im Oktober 2002 Gastgeber einer solchen Netzwerktagung. Ebenso arbeitet die Stadt Graz bei drei URBACT-Netzwerken mit. Diese themenbezogenen europaweiten Netzwerke der URBAN-Städte ergänzen die URBAN-Programme und geben den beteiligten Partnerstädten die Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch über stadtentwicklungsrelevante Themen. Für Graz ergibt sich daher durch die Mitarbeit in den Netzwerken zum Bereich Altstadt und Weltkulturerbe, zur Bürgerbeteiligung und zu PPP-Projekten eine sinnvolle Informations- und Austauschmöglichkeit. Ein besonderer Akzent wurde mit der Installierung einer Gender Mainstreaming-Beauftragten gesetzt. Diese überwacht im Auftrag der URBAN-Programmleitung die Implementierung der Gleichstellungsstrategie bei allen Einzelprojekten und unterstützt die Projektträger dabei während des gesamten Projektverlaufes.
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5. Ausblick und Zusammenfassung Ähnlich wie bei den vorangegangenen Programmen wird die Durchführung des Programms Urban_Link Graz-West wichtige Entwicklungsimpulse für einen Grazer Stadtteil bringen (www.urban-link.at). Die besondere Ausrichtung der Programmziele lassen, wenn sie von Erfolg getragen sind, Erkenntnisse über die Chancen zukunftsorientierter, integrierter Entwicklungsmaßnahmen erwarten. Der über mehrere Jahre fortgeführte Arbeitsprozess wird jedenfalls wieder wichtige Akteure innerhalb der Stadt Graz zu gemeinsamem Handeln zusammenführen und ihr Zusammenwirken verstärken. Die finanziellen Anstrengungen aller Partner werden zielgerichtet kanalisiert und so in ihrer Kraft verstärkt. Die Einbindung aller Maßnahmen in das Bewusstsein der Öffentlichkeit lässt hoffen, dass ein hoher Grad von Akzeptanz und Einhelligkeit erzielt wird. Erfahrungsaustausch mit anderen europäischen Partnern, begleitende Erfolgskontrolle und Vergleichsmöglichkeiten im Rahmen der Evaluierung stellen einen Mehrwert in der Abwicklung dar, der im lokalen Handeln ansonsten nur schwer erzielbar ist. Und schließlich bestärkt die Förderung durch die Europäische Kommission die Partnerschaft zwischen der lokalen Ebene und der Europäischen Gemeinschaft.
Wien – Bratislava und Centrope: Twin Cities im neuen Mitteleuropa? Christof Schremmer
1. Die Region Wien – Bratislava: Ökonomische Herausforderung in „Centrope“ Dieser Beitrag diskutiert die zusammengefassten Ergebnisse des sogenannten Background-Reports für die Territorial Review der Region Wien – Bratislava, die von der OECD 2002/2003 durchgeführt wurde und setzt sich mit den seitens der OECD-Delegation in ihrem abschließenden Bericht abgegebenen Empfehlungen zur weiteren Entwicklung der Region auseinander. Sie befassen sich mit der für das neue Europa modellhaften Situation der abgestimmten Steuerung von zwei Hauptstadtregionen in 60 km Entfernung, diesund jenseits der alten Systemgrenze. Dabei geht es im Wesentlichen um die Frage, ob es gelingen kann, aus den erheblichen ökonomischen Unterschieden in der Region so etwas wie einen für beide Seiten fruchtbringenden Standortvorteil zu machen, und wenn ja, wie und wodurch dies erreicht werden kann. Die Region Wien – Bratislava entwickelte sich über weite Strecken ihrer Geschichte als gemeinsames, miteinander verbundenes Siedlungsgefüge und Sozialsystem. Dies gilt auch für jene Zeitperioden, in denen ihre beiden Teile – der heute österreichische und der heute slowakische – im Kompetenzbereich von verschiedenen Zentralregierungen (das Österreichische Kaiserreich und das Ungarische Königreich) lagen. Auch nach dem Zerfall der Donaumonarchie blieben die Beziehungen zwischen den beiden Teilen deutlich erkennbar. Zum Bruch kam es durch die Schaffung zweier ideologischer Welten in der Neuordnung Europas nach dem 2. Weltkrieg. Dieser dauerte bis zum Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts an. Dies gilt in ähnlicher Weise für den gesamten Kooperationsraum Centrope, der die ungarischen und tschechischen Grenzregionen um die Region Wien einschließt (siehe Karte 1). Der 2005 begonnene, gemeinsame Versuch der Institutionen-Vernetzung soll den Organisationsaufbau und damit die Voraussetzungen für konkrete Kooperationen über die Staatsgrenzen hinweg schaffen. Als Startrampe dient ein INTERREG III-Projekt (BAER – Building A European Region) unter der Federführung der Stadt Wien. Im Lichte des EU-Beitrittes der Nachbarstaaten und der damit verbundenen Transferleistungen sowie der nach Wettbewerbsrecht in den Zielgebieten zulässigen hohen Unternehmensförderungen stellt sich die Herausforderung für Wien und die gesamte Ostregion Österreichs völlig neu:
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Christof Schremmer
Karte 1: Region Wien – Bratislava, Centrope und Mitteleuropa
ÖIR-Informationsdienste GmbH
Wie kann eine – historisch durchaus als einzigartig zu bezeichnende – ökonomische Konkurrenzsituation auf engstem Raum zu einem Gewinn für beide Seiten genutzt werden? Die angemessene Nutzung von Synergieeffekten verlangt die optimale Kooperation der Teil-Regionen von Centrope, basierend auf der Annahme, dass die koordinierte Entwicklung aller Teilregionen einen gesamthaft günstigeren Entwicklungspfad ergibt als ein paralleles Nebeneinander. Die Situation von Wien-Bratislava kann geradezu als prototypischer Fall von Co-opetition bezeichnet werden, einer Situation, wo bei gegebenem, durchaus starkem Konkurrenzverhältnis eine enge Kooperation auf verschiedenen Teilgebieten von Vorteil für beide Seiten werden kann. Die hier relevanten Kooperationsfelder sind: − die Abstimmung des Ausbaues der Verkehrsinfrastruktur und der Siedlungsentwicklung − die Optimierung der Standortbewerbung über die Grenze hinweg, etwa bei gemeinsamen Auftritten im amerikanischen und asiatischen Raum − der Ausbau und die enge Verzahnung der Forschungs- und Entwicklungsinfrastruktur − die schrittweise Integration der Arbeitsmärkte und − der Aufbau einer wirkungsvollen Regionalen Entwicklungssteuerung („Regional Governance“) als Kooperation der Verwaltungen und nachgelagerter exekutiver Organisationen beiderseits der Grenzen.
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Wien – Bratislava und Centrope Abbildung 1
Fr o m Se p a r a t i o n t o U n i f i c a t i o n
Prag
CZ
Wien
Prag
CZ
SK
SK
Bratislava
Bratislava
A
Wien
Budapest
A
Budapest
H
H
SI
SI 2004 / 2009
Periphery
Transition
Enlargement
Features of border countries
Observations from the 90ies, preparing for enlargement
Projections and Expectations; From Assistance to Governance
Quelle: Schremmer, 2002.
2. Vergleich der Stadtregionen Wien und Bratislava 2.1 Demographie 2001 leben rund 2,9 Millionen Einwohner in der Kernregion Wien – Bratislava, mit der Region Trnava und den übrigen Teilen der Bundesländer Burgenland und Niederösterreich sind es 4,5 Millionen. Über ein Drittel der gesamten österreichischen Bevölkerung lebt in der Kernregion, die ein Zehntel des österreichischen Territoriums ausmacht. Auf die Region entfällt auch ein gutes Viertel (29 Prozent) der gesamten Bevölkerung der Slowakei. Die Hauptstadtregion umfasst 13 Prozent des slowakischen Staatsgebiets. Ein Hauptmerkmal ist das ausgeprägte Stadt-Land-Gefälle innerhalb der Region. Die Hauptstädte sind daher mit der Herausforderung konfrontiert, wirtschaftlich extrem schwache Gebiete – wie etwa das Weinviertel und die südlichen Teile der Bezirke Bratislava-Umgebung und Trnava – in ihrem Nahbereich zu haben. Diese Umlandregionen sind vor allem über die Pendlerbeziehungen sehr eng mit den städtischen Zentren verbunden. 2.2 Regionale Wirtschaft Die Regionen von Wien und Bratislava sind innerhalb der beiden Länder Österreich und Slowakei die dominierenden Wirtschafts- und Beschäftigungszentren. In Bezug auf Bevölkerungsanteile, Wirtschaftsniveau und wirtschaftliche Dynamik haben sie eindeutig eine zentrale Stellung inne.
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Das in den Städten Wien und Bratislava erzielte BIP-Niveau bestimmt aufgrund der Gewichte der Städte auch das Gesamtniveau der beiden analysierten Regionen. Wien erreicht mit einem BIP/Kopf, das 63 % über dem EU-Durchschnitt liegt, den höchsten Wert in der Region. Bratislava liegt – nach Kaufkraftparitäten – nur 5 % unter dem EU-Durchschnitt. Das Burgenland und Trnava bleiben hingegen weit unter dem Niveau der Städte zurück, die Gesamtregion (Bundesländer Wien, Niederösterreich, Burgenland und Bratislava plus Trnava) liegt nach Kaufkraftparitäten 6 % über dem EUNiveau. Der in den letzten Jahren wahrnehmbare Trend einer schrittweisen Integration in der Region Wien – Bratislava wurde durch günstige endogene Marktverhältnisse in der Slowakei unterstützt. Dabei sind insbesondere hervorzuheben: − eine diversifizierte industriell-gewerbliche Wirtschaft, mit einer sich beschleunigenden strukturellen Veränderung hin zum tertiären Sektor, insbesondere zu den Wirtschaftsdiensten − ein hohes Bildungsniveau der Bevölkerung und ein dichtes Netzwerk von Bildungseinrichtungen − die gut entwickelte Basis an wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen − das attraktive Standortpotenzial als Folge der guten Verkehrsanbindung (Korridore TINA und TEN). In Wien vollzieht sich vor allem in der verarbeitenden Industrie nun seit Jahren ein umfassender Strukturwandel – mit dem Ergebnis einer hohen Konzentration in den technologieorientierten Industrien (Elektrotechnische Industrie, Straßenfahrzeugbau, Maschinenbau, Chemische Industrie) sowie in der Lebensmittelindustrie. Diese Phänomene der Deindustrialisierung sind nicht spezifisch für Wien, sondern wurden in allen Großstadtgebieten beobachtet. Ein Großteil der Wachstumsbranchen der vergangenen Jahre zählt allerdings zum Dienstleistungssektor. In Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit wird Wien eine exzellente Ausgangssituation für eine günstige Weiterentwicklung attestiert, was auf seine modernisierte Wirtschaftsstruktur zurückzuführen ist. In Wien sind viele Industrien ansässig, denen in Folge des EUBeitritts der MOEL ein hoher Beschäftigungszuwachs prognostiziert wird. Im Gegensatz dazu sind Branchen, für die die EU-Erweiterung ein Risiko darstellt, nur in einem durchschnittlichen Ausmaß repräsentiert. In den 80er und frühen 90er Jahren orteten Analysen noch übereinstimmend Defizite im Internationalisierungsgrad der Wiener Wirtschaft. In den letzten Jahren ist jedoch eine deutliche Dynamisierung im Internationalisierungsprozess zu beobachten. Als Auslöser für diesen Wandel können zweifellos die Integration durch die Ostöffnung und der EU-Beitritt Österreichs ausgemacht werden. Ab dem Jahr 2000 nahm auch der Zustrom an ausländischen Direktinvestitionen (FDI) in die Slowakische Republik kräftig zu. Bis 2003 stiegen die österreichischen FDIs in den MOEL kumuliert auf EUR
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18,0 Mrd. an, wovon EUR 2,3 Mrd. (12,5 %) auf die Slowakei entfielen, mit einer hohen Konzentration in der Hauptstadtregion. Dies zeigt die sehr hohe Bedeutung der Slowakei für österreichische Investoren und lässt auch darauf schließen, dass die wirtschaftliche Verbindung der Großstadtregionen Wien und Bratislava in den letzten Jahren eine neue Qualität erreicht hat. So wird geschätzt, dass bis zu 70 Prozent der österreichischen FDIs in die MOEL aus der Region Wien kommen. 2.3 Lohnstruktur Trotz dieser erheblichen Dynamik werden auch in den kommenden Jahren die bestehenden nominellen Lohnunterschiede die wirtschaftlichen Aktivitäten und die Investorentätigkeit prägen. Die niedrigeren Kosten bei den Produktionsfaktoren werden sich auf die Wettbewerbsfähigkeit v.a. im slowakischen Teil der Region günstig auswirken. Der Durchschnittslohn im slowakischen Teil der Region Wien – Bratislava steigt zwar im Gleichklang mit dem Wachstum der regionalen Wertschöpfung kräftig und kontinuierlich an, er liegt aber dennoch immer noch weit unter dem österreichischen Niveau. Ein Blick auf die Differenz zwischen der Höhe der Einkommen in Österreich und der Slowakischen Republik zeigt, dass (zu aktuellen Wechselkursen) das durchschnittliche Monatseinkommen in der Slowakischen Republik weniger als ein Viertel der österreichischen Einkommen beträgt. Auch bei einem langfristigen Anhalten der weit überdurchschnittlichen Wachstumsphase in den Nachbarländern ist davon auszugehen, dass zumindest über die nächsten zehn Jahre eine erhebliche nominelle Lohnkostendifferenz bestehen bleiben wird. Ein besonderer Faktor stellt hier die nach wie vor existente Wechselkursdisparität dar. Für die Slowakische Republik ist im Vergleich zu Österreich der ERDI-Koeffizient1 mit etwa 2,5 immer noch sehr hoch. Dies bedeutet, dass die Löhne in der Slowakei, bemessen nach Kaufkraftverhältnissen 2,5 mal höher sein müssten als derzeit. Diese Disparität stellt für Investoren einen speziellen, zusätzlichen Anreiz zur Niederlassung in der Region Wien – Bratislava dar, allerdings zu einem Großteil in deren slowakischem Anteil. Bei einem weiteren Anheben des technologischen Niveaus der Produktion und der Dienstleistungen – dem strategischen Ziel der Ansiedlungspolitik der Stadt Bratislava und der umgebenden Gemeinden – sowie der zunehmenden Unterstützung durch EUTransfers im Rahmen der Ziel 1- und Ziel 2-Programme ergibt sich hier innerhalb der Region eine erhebliche Diskrepanz.
1 ERDI = Exchange Rate Deviation Index, Index der Kursabweichung; er misst das Verhältnis von Kaufkraftparität zum aktuellen Wechselkurs
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2.4 Beschäftigtenstruktur und Arbeitsmarkt Wirtschaftliche Entwicklungen und die Situation auf dem Arbeitsmarkt wurden in den 90er Jahren von vier Faktoren beeinflusst: Von der Suburbanisierung, von strukturellen Anpassungen in bestimmten Industrien, von den Auswirkungen der Grenzöffnung und vom ökonomischen und politischen Transformationsprozess in der Slowakischen Republik. Als Folge des dynamischen Wachstums des tertiären Sektors im slowakischen Teil der Region Wien – Bratislava kam es zur Annäherung der Wirtschaftsstrukturen in den beiden Regionsteilen, was der Region als Ganzes mittlerweile eine mit hoch entwickelten Regionen der EU vergleichbare Struktur verleiht. Wien als Wirtschafts- und Arbeitsplatzzentrum sowie als administratives Zentrum Österreichs dominiert die Ostregion Österreichs. Die herausragende Stellung Wiens unter Österreichs Regionen wird durch die Tatsache deutlich, dass circa 30 Prozent des gesamten österreichischen BIP in Wien erzielt werden. Trotz der Suburbanisierungstendenzen der letzten Jahre arbeiten rund 26 Prozent aller Beschäftigten Österreichs in Wien. Der Anteil von mehr als 70 Prozent der im Dienstleistungssektor Tätigen weist zunächst auf eine moderne Wirtschaftsstruktur hin, ist aber zu einem Großteil auf den in Wien extrem hohen Anteil an öffentlich Bediensteten zurückzuführen. Die Strukturreform in der städtischen Administration sowie die derzeit vorgenommenen tiefgreifenden Veränderungen auf der Bundesebene werden in Zukunft zu einem Rückgang der Beschäftigten im öffentlichen Dienst führen. Bereits jetzt sind auf dem Wiener Arbeitsmarkt erhebliche Spannungen aufgetreten – vor allem für gering Qualifizierte, Frauen sowie für Ausländer und deren Kinder ist die Situation als sehr ungünstig zu bezeichnen. Dies beeinträchtigt die Bereitschaft, den Arbeitsmarkt für die neuen Mitgliedsstaaten zu öffnen auf politischer Ebene ganz massiv. Im slowakischen Teil sind die wirtschaftlichen Kernaktivitäten ebenfalls stark auf die Stadt Bratislava konzentriert. Obwohl die Beschäftigtenstruktur im slowakischen Teil der Region zunehmend jener im österreichischen Teil ähnlicher wird, unterscheidet sich die Wertschöpfung pro Beschäftigtem im slowakischen Regionsteil aufgrund der niedrigeren Produktivität und des niedrigeren Lohnniveaus der meisten Branchen im sekundären und tertiären Sektor immer noch sehr deutlich von den Niveaus in Österreich oder in der EU. Charakteristika für die regionale Beschäftigungsstruktur sind: − Der hohe Anteil qualifizierter Einwohner in der Slowakischen Republik bildete die Grundlage für den raschen Wandel hin zur Marktwirtschaft. Dadurch wurde die Sektorstruktur der Wirtschaft besonders im Kreis Bratislava verändert. In Wien haben Strukturwandel und Abwanderung von Produktionen aus der Region oder Standortwechsel innerhalb der Region
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in die umliegenden Gebiete Niederösterreichs zu einer DeIndustrialisierung geführt. − Im slowakischen Teil der Region Wien – Bratislava sind 68 Prozent der Arbeitskräfte im tertiären Sektor beschäftigt gegenüber 72 Prozent im österreichischen Teil (Kreis Bratislava: 75 %, Wien: 74 %). Diese Sektorstruktur im slowakischen Teil der Region ist somit durchaus mit hochentwickelten Regionen innerhalb der EU vergleichbar. − Es ist bemerkenswert, dass auch in strategisch wichtigen Bereichen, wie Banken, Versicherungen, Wirtschaftsdiensten, Verkehr und Nachrichtenübermittlung bereits vergleichbare Beschäftigungsanteile verzeichnet werden. Aufgrund der Grenze und den damit verbundenen Restriktionen existiert für die Region Wien – Bratislava noch kein gemeinsamer Arbeitsmarkt; dieser wird aber nach dem Auslaufen der Übergangsbestimmungen rasch entstehen. Die derzeit bestehenden Arbeitsmärkte in der Region Wien – Bratislava haben im Gegensatz zu anderen Regionen der Slowakischen Republik und der angrenzenden Regionen Österreichs eigene, spezifische Merkmale: − In der Region Bratislava liegt die Arbeitslosenrate berechnet nach EUROSTAT Methode bei 10,1 Prozent, im österreichischen Teil der Wien – Bratislava Region liegt sie zwischen 2,8 und 5,8 Prozent (Österreichischer Durchschnittswert: 3,9 Prozent). Die Arbeitslosenraten variieren stark innerhalb der Regionen, z. B. liegt die Rate im Bezirk Bratislava bei nur 5,8 Prozent, während sie im Bezirk Trnava auf 15,5 Prozent kommt (Eurostat 2000 für Österreich, 2001 für die Slowakische Republik). Die Arbeitslosenrate von 5,8 Prozent in der Stadt Wien liegt deutlich über dem österreichischen Durchschnitt und zählt zu den höchsten des Landes. Generell sind vor allem Männer vom Anstieg der Arbeitslosigkeit stärker betroffen, insgesamt ist jedoch die Arbeitslosigkeit bei Frauen höher (Arbeitslosenrate bei Frauen in Wien: 7,2 Prozent). Die Hälfte aller Arbeitslosen sind Langzeitarbeitslose, ein Großteil davon ist den Problemgruppen am Arbeitsmarkt (soziale und räumliche Mobilitätseinschränkungen, niedriges Qualifikationsniveau) zuzuordnen. − Die Migration in den slowakischen Teil der Region (mit Wechsel des ständigen Wohnsitzes) hatte bisher keine bedeutenden Auswirkungen auf den regionalen Arbeitsmarkt. Im Gegensatz dazu ist jedoch das Tagespendeln äußerst typisch für die Region. Beschäftigungsmöglichkeiten sind vor allem in den Städten und besonders in Bratislava zu finden. Hier beträgt die Anzahl der Beschäftigten, die täglich zur Arbeit pendeln, rund 75.000; zählt man die Anzahl der Studenten dazu, so erreicht die Pendlerzahl nach Bratislava rund 110.000 Personen. − Wien ist innerhalb Österreichs das Zentrum der Immigration. Der Bevölkerungsanteil ausländischer Wohnbevölkerung beträgt rund 18 % (unter
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Berücksichtigung der laufenden Einbürgerungen ist der Anteil wesentlich höher). Mit der Öffnung der Ostgrenzen, dem starken Ansteigen der Zahl der Ausländer Anfang der 90er Jahre und der Zunahme der weltweiten Wanderungsbewegung wurde die Migration politisch neu thematisiert. − Als Folge der Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur und des öffentlichen Verkehrsangebotes haben sich die Einzugsgebiete Wiens in den vergangenen Jahrzehnten deutlich ins Umland ausgeweitet und die Einpendlerquote weiter erhöht. Rund ein Viertel aller am Arbeitsort Beschäftigten sind Einpendler und die Zahl derer, die aus den umliegenden Regionen in die Bundeshauptstadt zur Arbeit kommen, steigt kontinuierlich an. Im Gegenzug ist aber in den letzten 20 Jahren auch ein sehr starker Anstieg jener Pendler zu verzeichnen, die täglich aus der Stadt ins Umland zur Arbeit fahren. Für die künftige Situation in einem integrierten Arbeitsmarkt (nach dem Wegfall der Übergangsregeln) wird in besonderer Weise die tägliche Pendelwanderung innerhalb der Region Centrope – über die Grenzen hinweg – zu einem attraktiven Thema werden. Bereits jetzt sind die wichtigsten städtischen Zentren der Region Centrope untereinander im Individualverkehr innerhalb von 90 Minuten erreichbar. Bei entsprechender Verbesserung der Verbindungen, auch im ÖV, und dem Wegfall der Grenzkontrollen, werden sich die Erreichbarkeitsverhältnisse nochmals wesentlich verbessern, wobei allerdings durch Kapazitätsengpässe und Staus gegenläufige Tendenzen zu beobachten sein werden. Der Öffnungsprozess könnte daher im derzeitigen Stadium des wirtschaftlichen Ungleichgewichts besonders in Bratislava und anderen Agglomerationen mit guter Verkehrsanbindung zu größeren österreichischen Ballungszentren viele Arbeitskräfte dazu veranlassen, den Vorteil zu nützen, kostengünstiger auf der slowakischen Seite zu wohnen und auf der höher bezahlten österreichischen Seite zu arbeiten. Viele Slowaken zeigen bereits jetzt Interesse, in Grenzregionen im Ausland zu arbeiten. 2.5. Einschätzung der Entwicklungsperspektiven Die beiderseits der Grenze an sich guten strukturellen Ausgangsbedingungen stellen für eine Integration der beiden Stadtregionen und ihrer ökonomischen Potenziale eine wichtige Voraussetzung dar. Allerdings wird das ursprüngliche Muster der (österreichischen) Überlegungen, nämlich höher qualifizierte Funktionen in Österreich zu konzentrieren und lohnintensive Bereiche in den Nachbarstaaten anzusiedeln, so nicht mehr haltbar sein: Wie die in den letzten Jahren erfolgten Ansiedelungen und Produktionserfahrungen der westeuropäischen Automobilindustrie in den Nachbarländern gezeigt haben, ist auch dort Produktion auf höchstem technologischem Niveau erfolgreich möglich – die dazu gehörenden F&E-Kapazitäten werden umgehend folgen.
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Daraus kann geschlossen werden, dass sich bereits in den nächsten Jahren ein Muster der Integration herausbilden wird, das wesentlich stärker von vorhandenen Wissensbasen und Funktionen in internationalen Forschungs- und Produktionsnetzwerken abhängen wird, als von Produktionsfaktoren wie Lohnniveau, Mieten und Bodenpreisen. Es zeichnet sich daher eine in beide Richtungen integrierte regionale Wirtschaftsstruktur ab, in der keine Dominanz der österreichischen Seite mehr erkennbar sein wird. 2.6. Erreichbarkeit, Verkehrsinfrastruktur und Stadtentwicklung Ein wesentlicher Faktor – und bei den gegebenen Verhältnissen kann dies durchaus zu einem Engpassfaktor werden – für die künftige Integration der beiden Stadtregionen stellt die Qualität der Verkehrsinfrastruktur dar. Aufgrund der derzeitigen Verkehrsinfrastruktur konzentrieren sich die Grenzübergänge im Straßenverkehr auf Petrzalka – Berg in der Nähe von Bratislava, weil der Autobahn-Grenzübergang Jarovce-Kittsee noch nicht fertig gestellt ist und die Kapazitäten wegen der Überlastung des Verkehrsnetzwerks von Bratislava eingeschränkt sind. Um die Verkehrssituation in der Region auf der Straße entscheidend zu verbessern, ist die Fertigstellung der Autobahnspange Parndorf-Kittsee A6 vorrangig notwendig. Damit würde das internationale Routennetzwerk vervollständigt und erstmals eine direkte, hochrangige Straßenverbindung WienBratislava hergestellt. Eines der mittelfristigen Hauptausbauprojekte in der Region Wien ist auch die Erweiterung des Straßennetzes in Richtung Tschechische Republik (A5 Nordautobahn) und der Bau eines vollständigen Umfahrungsrings um Wien. Erst dieses Grundnetz entspricht dem Normalfall einer europäischen Großstadtregion. Bei der besonderen Nähe der Zentren Wien und Bratislava ist dies von herausragender Bedeutung. Nördlich der Donau ist die Ost-West-Durchlässigkeit noch problematischer: Die Grenzübergänge Moravsky Sväty Ján – Hohenau („schwimmende Brücke“ – zeitweise ist aufgrund hoher Wasserstandes kein Grenzübergang möglich) und Záhorská Ves – Angern (Floß) liegen abseits der Hauptverkehrsrouten und sind aufgrund von Kapazitäts- und Tonnagebeschränkungen nicht einmal für den lokalen Verkehr ausreichend. Die grenzüberschreitende Straßenverbindung im Nordwesten von Bratislava (Devínska Nová Ves – Marchegg) mit Anschluß an die in NÖ geplante B8 würde nördlich der Donau eine weitere, durchgehende Straßenverbindung schaffen. Die Fortsetzung im Stadtgebiet von Bratislava als Umfahrungsstraße (zero ring) würde auch die Verbindung zum östlichen Stadtteil und zum Flughafen nördlich der Donau herstellen. Allerdings ist die Trassierung dieser Route sowohl in Österreich (v.a. bezüglich der Marchquerung) als auch in der Slowakei höchst umstritten und deswegen mittelfristig kaum zu erwarten.
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Insgesamt ist zum Stand der grenzüberschreitenden Straßeninfrastruktur anzumerken, dass deren Ausbau aufgrund von finanziellen und möglicherweise auch politischen Restriktionen insbesondere auf österreichischer Seite jahrelang verzögert worden ist und daher heute für den Wirtschaftsverkehr aber auch für Pendler erhebliche Beeinträchtigungen bewirkt (z. B. 7,5 t– Beschränkungen auf den meisten Grenzübergängen, fehlende Autobahnverbindung Ö-SK, Kapazitätsprobleme an den Grenzübergängen, aber auch in den Bahnhöfen). Insgesamt besteht für die Region Wien-Bratislava in den nächsten Jahren ein erheblicher Bedarf an grundlegenden Infrastrukturmaßnahmen, wobei in besonderer Weise auf die Verknüpfung mit der regionalen Wirtschaft durch geeignete, multimodale Güterverteilung geachtet werden sollte. In diesem Kontext vorrangige Maßnahmen sind: − Eine HL-Schienenverbindung Wien – Wels (inkl. Lainzer Tunnel, Tunnel Wienerwald, HL-Strecke Tullnerfeld). − Die Schaffung eines Bahnhofs Wien, mit der Möglichkeit, von Westen kommend direkt nach Osten weiterzufahren und mit der Neugestaltung des Bahnhofs einen hochattraktiven, neuen Stadtteil zu schaffen. − Wien als Teil des Trans-European Network (TEN) zu einem hochrangigen TEN-Knoten ausbauen. Die Initiative TEN Knoten Wien wurde mit dem Ziel gestartet, eine Infrastruktur- und Kompetenzbasis zu entwickeln, die dazu beitragen soll, das in Zukunft weiter stark zunehmende Güterverkehrsvolumen zu bewältigen. Ziel ist die weitgehende Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene und auf Wasserwege. Zu diesem Zweck sollen in Wien Güterterminals errichtet werden (Wien Nord-Ost, Inzersdorf und Wien-Hafen-Freudenau/Albern). − Für die gesamte Region der Twin Cities von entscheidender Bedeutung werden die Qualität und die Kapazität der Flugverbindungen in die Wirtschaftsräume der EU und der südöstlich angrenzenden Staaten sein. Die Profilierung des Wiener Flughafens in diesem Sinne ist in den letzten Jahren gut vorangekommen und sollte intensiviert sowie durch eine strategische Partnerschaft mit dem Flughafen Bratislava abgesichert werden. Projekte zur Erweiterung des Flughafens Wien Schwechat und dessen Anbindung an Wien und Bratislava sind vor diesem Hintergrund zu beurteilen. Die Region Wien-Bratislava wird auch von den Planungsvorhaben für den Donau-Korridor (European Corridor VII) beeinflusst. Die Donau ist der zweitlängste Fluss in Europa und über knapp 2300 km befahrbar, was ihn zu einem potenziellen umweltfreundlichen Transportweg macht. Der Verkehr auf der Donau ist aus geographischer Sicht äußerst unausgewogen. Er konzentriert sich auf die westlichen und östlichen Enden, das Verkehrsaufkommen im Zentrum ist im Vergleich dazu relativ schwach (auch, aber nicht nur eine Folge des Konflikts in Jugoslawien).
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Karte 2: Ausbaumaßnahmen in der Straßeninfrastruktur
Informationsdienste GmbH
Quelle: Generalverkehrsplan Österreich 2002, NÖ Landesverkehrskonzept 2001, Masterplan Verkehr Wien 2003.
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Karte 3: Infrastrukturausbau – Schiene, Donau, Frachtterminals
Informationsdienste GmbH
Quelle: Generalverkehrsplan Österreich 2002, NÖ Landesverkehrskonzept 2001, Masterplan Verkehr Wien 2003; ÖIR Informationsdienste GmbH.
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Hier gibt es ein großes Entwicklungspotenzial und nach der Freilegung des Donau-Verkehrswegs wird die technische und organisatorische Restrukturierung der Donauschifffahrt eine wichtige Aufgabe für die transnationale Kooperation sein. Ein beträchtlicher Anteil der in den nächsten Jahren zu erwartenden Steigerungen beim Güterverkehrsaufkommen könnte aufgrund der hier vorhandenen Kapazitätsreserven auf die Donau verlagert werden. Entscheidend für den Erfolg dieser Strategie und für die Möglichkeit, daraus in Wien ökonomisches Kapital zu schlagen, wird auch sein, ob es gelingt, in Wien die Hafen- und Umschlagskapazitäten auszubauen, die Standorte im Nahbereich der Häfen für Logistik und Produktion zu nutzen und die regionale Wirtschaft von der Qualität dieses Verkehrsweges zu überzeugen. 2.7. Szenarien und Strategien für die Entwicklung der Region Centrope Ein Strategiediskurs für eine grenzüberschreitende Region Wien-Bratislava im Rahmen von Centrope existiert noch nicht, erste Diskussionen gibt es aber im Rahmen des Interreg-Vorläuferprojektes jordes+. Dabei stellt sich die Frage, welche Hauptszenarien und welche Formen der Integration sich in Zukunft ergeben können, und welche Vor- und Nachteile für jedes der beiden Großstadtgebiete daraus entstehen würden. Aus slowakischer Sicht wurden dabei noch vor dieser aktuellen Diskussion folgende generelle Entwicklungsszenarien eingebracht: Szenario „Wien-Agglomeration“ „Auf der Basis interner und externer Faktoren und der beobachtbaren wirtschaftlichen Anziehungskraft der Region um Wien wird eine Tendenz in Richtung Marginalisierung des slowakischen (aber auch des ungarischen und südmährischen) Teils der grenzüberschreitenden Region erwartet, mit einer einseitigen Orientierung auf das Zentrum Wien. Dieser Prozess, der derzeit beobachtet werden kann, wird den aktuellen Entwicklungen in und um Wien ähneln, bei der zwar Wien im Vordergrund steht, gleichzeitig aber wirtschaftliche Aktivitäten in das Umland und in ökonomisch schwächere Regionsteile verlagert werden. Dieser (Suburbanisierungs-)Prozess wird jedoch zukünftig aufgrund von Ansiedlungsgrenzen in der Umlandregion von Wien beschränkt werden. Die Regionen um Bratislava (aber auch um Györ und in Südmähren) hingegen, die einen beachtlichen Entwicklungsstand erreicht haben und deren wirtschaftliche Bedeutung bereits deutlich gestiegen ist, könnten unter solchen Bedingungen zu wettbewerbsfähigen Konkurrenten im Wettlauf um Ansiedlungen werden. Dieser Trend hat positive Aspekte, besonders wenn es darum geht, kurzfristig Erfolge zu erzielen. Unternehmen und autonome Gemeinden und Städte haben diesen Trend nicht nur akzeptiert, sondern unterstützen ihn im eigenen Interesse, um Finanzquellen zu erschließen. Ihm entspräche im Resultat ein Szenario mit Wien als starkem Agglomerations-
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zentrum, das auf eine stärker monozentristische Struktur der Region WienBratislava hinausläuft.“ Szenario „Region Wien – Bratislava“ „Auf Grundlage der Einschätzung der Potenziale für eine dynamische Entwicklung der grenzübergreifenden Region Wien – Bratislava spricht vieles für einen verstärkten Trend zur Entwicklung eines funktionell eher homogenen Großstadtgebiets, das soziale und wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten sowohl für Wien als auch für Bratislava bereithält. Die Förderung von koordinierten Aktivitäten der öffentlichen Verwaltung, von Unternehmen und NGOs könnte dazu beitragen, die notwendigen wirtschaftlichen Bedingungen zu schaffen, um ein funktionierendes, auf dezentralen Siedlungsformen basierendes Gleichgewicht zu erreichen. Solch ein Szenario würde zur Entwicklung einer eher bipolaren Region Wien–Bratislava führen.“ (Aurex sro, zitiert in Schremmer et al., 2003, S. 30) Während die Entwicklungstendenzen und Wirtschaftsindikatoren der letzten Jahre eine monozentrische Perspektive aus österreichischer Sicht als unrealistisch erscheinen lassen, hat die fachliche Diskussion in der Slowakei das bipolare Szenario schon lange präferiert: − Die Nutzung aller Stärken der Region und des gesamten Potenzials an hochqualifizierten Fachkräften schafft bessere Bedingungen für die Beteiligung von inländischem und ausländischem Kapital, sowohl im tertiären als auch im quartären Sektor. − Der forcierte Strukturwandel in der Industrie bietet die Möglichkeit, Umweltprobleme an der Wurzel zu bewältigen (Ökologisierung der technologischen Prozesse, Reduktion des Ressourcenverbrauches, der Abfallvolumen und der Lärmbelastung, etc.). Demgegenüber würde das alternative ökonomische Szenario – „Wien-Agglomeration“ – zu ökologischen und räumlichen Überlastungen und damit zu Zielkonflikten führen. − Das Qualifikationspotenzial der Einwohner der Region Wien – Bratislava würde besser genutzt, während das Szenario Wien-Agglomeration bestehende Ungleichgewichte verstärken würde. Das könnte einen Brain-DrainProzess, eine Abwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte, mit weitreichenden Folgen auslösen. − Es fördert eher die ausgleichenden Tendenzen in der sozialen Entwicklung, und trägt so zur Verbesserung der Lebensverhältnisse in der Region bei. Das Hauptziel ist somit die Entwicklung einer sowohl wirtschaftlich ausgewogenen als auch sozio-kulturell grenzüberschreitend integrierten Region. Aus den derzeitigen Stärken und Schwächen der Grenzregion sowie aus den Chancen und Herausforderungen, die die EU-Erweiterung mit sich bringen, ergeben sich folgende notwendigen Maßnahmen:
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− Die Fokussierung auf eine gemeinsame Vision eines integrierten regionalen Wirtschaftsraumes, mit sozialer Kohäsion und stabilen nachbarschaftlichen Verhältnissen; diese wirtschaftliche Integration schließt auch den Arbeitsmarkt ein − Die Unterstützung einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung beiderseits der Grenze − Auf- und Ausbau von Infrastruktur und von Netzwerken für die räumliche Integration der grenzüberschreitenden Region − Schutz der Umwelt, der natürlichen Ressourcen und der Wohnbevölkerung − Unterstützung der Schaffung von grenzüberschreitenden Institutionen und Kapazitäten für die regionale Entwicklung und kulturellen Austausch. Inwieweit die Zielsetzungen der im Jahr 2003 gestarteten Initiative, eine „Europaregion Wien, Brno, Bratislava, Trnava, Györ, Sopron, Eisenstadt, St. Pölten”2 zu schaffen, in der die Städte und Großstadtgebiete die Motoren der Integration sind, den oben dargestellten, ökonomisch wesentlich prononcierteren entsprechen, ist derzeit noch nicht einzuschätzen. Die Vorläuferprojekte im Rahmen von Interreg IIIA (v.a. jordes+) haben noch keinen Diskussionsstand erreicht, der eine konkrete Bearbeitung der dabei zwangsläufig auftretenden Zielkonflikte erlaubt. Der Aufbau eines gemeinsamen, grenzüberschreitenden Monitoring-Systems für den Arbeitsmarkt (Interreg-Projekt LaMo) gibt nun Anlaß zur Hoffnung, dass dieser (in Österreich) lange problematisierte Bereich durch den Vorgang, eine gemeinsame Datenbasis zu erstellen und über mögliche Steuerungsmaßnahmen zu beraten, generell für eine pragmatische Vorgangsweise geöffnet werden kann. Mit der EU-Erweiterung wird nun eine Situation geschaffen, die eine Konvergenz der Regionen grundsätzlich fördert und in der sich grenzüberschreitende Arbeitsmärkte entwickeln sollen. Dennoch sind ernst zu nehmende Ängste vorhanden, dass unter den vorherrschenden Bedingungen der freie Dienstleistungsverkehr und der freie Personenverkehr auf beiden Seiten der Grenze zu wirtschaftlichen und sozialen Problemen führen könnten: − Die zusätzlichen (ausländischen) Arbeitskräfte können zu Verdrängungen am Arbeitsmarkt führen, besonders bei niedrig qualifizierten Arbeitsplätzen, in instabilen Bereichen und in Bereichen, die von ausländischen Arbeitskräften, die bereits lange in Österreich leben und mehr oder weniger integriert sind, dominiert werden. − Segmentierungstendenzen können sich intensivieren, flexible und unsichere Dienstverhältnisse können weiter zunehmen. − Phänomene des Brain-Drain aus dem slowakischen in den österreichischen Teil der Region könnten spürbar werden. 2 Initiative BAER (“Building A European Region“), unter dem Regionsnamen Centrope.
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− Im Berufspendlerverkehr muss mit zusätzlichen Verkehrsproblemen in den Agglomerationen gerechnet werden, sowohl im privaten als auch im öffentlichen Verkehr. − Zu erwarten ist auch ein spontaner Tages-Pendlerverkehr, besonders von arbeitslosen Personen aus den an Österreich unmittelbar angrenzenden Gebieten. Andererseits ergeben sich Möglichkeiten, die genützt werden sollten: − Durch die Einbeziehung der Qualifikationen und Netzwerke der Zuwanderer kann spezifisches Know-how erarbeitet und verbreitet werden (Sprache, Wissen über die Strukturen im Heimatland, berufliche Qualifikationen). − Es bietet sich die Chance, Kooperationsnetzwerke zu entwickeln. Das Hauptziel auf dem Arbeitsmarkt im Hinblick auf die EU-Osterweiterung sollte die Schaffung von einheitlichen Bedingungen sein, um unter Zuhilfenahme verfügbarer Synergien ein Zusammenwachsen der Region zu ermöglichen. Die besondere Schwierigkeit scheint zu sein, dass das freie Spiel der Marktmechanismen (freier Personenverkehr) zu sozialen und gesellschaftlichen Spannungen und regionalwirtschaftlichen Problemen führen kann, Überregulierung hingegen die notwendigen Anpassungsprozesse hemmen würde. Auf dem Arbeitsmarkt hat z. B. die dynamische sozio-ökonomische Entwicklung im Raum Bratislava die bereits vorher bestehenden Unterschiede zum Rest der Slowakischen Republik verstärkt, was zu Zuwanderung und zu verstärkter Pendelwanderung führt. OECD-Empfehlungen und deren Einschätzung Die Grundaussage der Territorial Review der OECD-Mission 2003 lautet: Eine auf möglichst vollständige Integration des Gesamtraumes Centrope abzielende neue Siedlungs- und Wirtschaftsstruktur, eine moderne Verkehrinfrastruktur und die wechselseitige Ergänzung der Stärkefelder bei Forschung und Entwicklung könnte mittelfristig eine Agglomeration von gesamteuropäischer Bedeutung herausbilden. Um dies zu realisieren sind nach Ansicht der OECD-Experten allerdings signifikante Änderungen der gängigen Politikansätze erforderlich. Dazu zählen v.a.: − Gesamtregionale Visionen und Strategien sollten rasch und gemeinsam entwickelt werden − Die Integrationsmaßnahmen sollen deutlich und offensiv verstärkt werden, da sie Wachstumsimpulse auslösen (betrifft Infrastruktur, Arbeitsmarkt, Knowledge Base) − Im Besonderen soll die Öffnung des österreichischen Arbeitsmarktes schrittweise und kontrolliert, aber deutlich vor Ablauf der Übergangsfristen begonnen werden; dazu ist der Aufbau formeller, grenzüberschreitend agierender Institutionen zur Organisation der Arbeitsmärkte vordringlich;
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dies inkludiert auch die signifikante Verbesserung der innerstaatlichen Koordination der regionalen Arbeitsmarktservice-Einrichtungen Das slowakische Innovationssystem soll stärker am österreichischen Modell ausgerichtet werden und mit diesem eng verzahnt werden; dabei soll auf die Nutzung und Abstimmung mit den Impulsen geachtet werden, die durch die absehbaren Großinvestitionen im industriellen Bereich (v.a. in der Slowakei) ausgelöst werden Intensivierte Kooperationen der Industrie sowie der F&E-Einrichtungen der Region Wien-Bratislava können und sollen signifikante Agglomerationseffekte auslösen Gemeinsame Verkehrspolitik und die intensive Verflechtung der Verkehrsanbieter in der Region würden zu einer erheblichen Verbesserung der innerregionalen Erreichbarkeit und der außerregionalen Anbindung beitragen (betrifft Verkehrsverbünde, Flughäfen und bestehende oder geplante Güterverteilzentren und Häfen) Zur Bewältigung und Lenkung der absehbar intensiven Verkehrsentwicklung in der Region sollen frühzeitig Lenkungsmaßnahmen – wie z. B. intelligentes Road Pricing – vorbereitet und umgesetzt werden (auch für Pkw) Die Steuerung der Entwicklung der Region Wien-Bratislava (und analog: Centrope) soll im Rahmen einer stabilen und dauerhaften, grenzüberschreitend aufgebauten Organisationsform erfolgen; dazu ist als Voraussetzung ein entsprechender Aufbauprozess und die notwendige Übertragung der innerstaatlichen Kompetenzen erforderlich.
Die oben zusammengefassten Empfehlungen der OECD-Mission sind das Ergebnis eines sehr intensiven Konsultations-, Forschungs- und Diskussionsprozesses, der über eineinhalb Jahre lief und eine große Zahl von Experten der beiden Länder einschloss, und der auf Initiative der Stadt Wien zustandegekommen ist. Die Empfehlungen sind als ein Ausgangspunkt bei den Bemühungen zum Aufbau der regionalen Organisation von Centrope zu sehen. Es ist allerdings bemerkenswert, dass die Vorschläge bisher kaum in der österreichischen Fachdiskussion und auch nicht auf politischer Ebene rezipiert wurden. Es steht zu vermuten, dass die zum Teil unbequemen und der aktuellen politischen Debatte zuwiderlaufenden Vorschläge von niemandem gerne aufgegriffen werden (z. B. Öffnung der Arbeitsmärkte, Intensivierung des Infrastrukturausbaues, Road Pricing) und deshalb eher herunter gespielt werden. Tatsache ist jedenfalls, dass der österreichische Anteil von Centrope in den letzten zehn Jahren sehr viel Zeit verloren hat, die zur Entwicklung und Vorbereitung der österreichischen Regionsteile auf die EU-Erweiterung besser genutzt hätten werden können. Dies ist besonders augenscheinlich bei den Verzögerungen und Versäumnissen im Infrastrukturausbau, wo erst jetzt deutlich wird, dass die neuen
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Verbindungen Konsequenzen für die Standortentwicklung und Prioritätensetzung auch innerhalb der Städte haben werden. Dies ist weniger offensichtlich, wenn es um den Arbeitsmarkt geht, da hier die Vorstellung herrscht, dass eine möglichst lange Verzögerung der Integration positiv ist, und noch weniger offensichtlich, wenn es um die intensive Vernetzung der Forschungs- und Entwicklungskapazitäten geht, da hier von dem Modell einer Wien-zentrierten Entwicklung der Region ausgegangen wurde. Wie der Beitrag versucht hat zu zeigen, sind all diese defensiven Ansätze letztlich eher zum Schaden als zum Vorteil des österreichischen Regionsteiles und haben auch aus dem Blickwinkel der optimalen Entwicklung der Gesamtregion bremsende Wirkung. Es wird für den Erfolg der Bemühungen Wiens, ein mitteleuropäisch relevantes Zentrum zu werden, entscheidend sein, ob rasch erkannt werden kann, dass nur eine offensive und selbstgesteuerte Entwicklungsstrategie hierfür die Möglichkeiten schafft. Immerhin können vom Standort Wien aus die neuen Wachstumsmärkte, die mit Transfers aus der gesamten EU gefördert werden, in unmittelbarem Nahbereich genutzt werden – dies ist, bei aller gleichzeitig gegebenen Konkurrenzsituation, ein Standortvorteil, den innerhalb der EU wohl kaum eine andere Region aufweist. Eine aus heutiger Sicht offene Frage für die österreichischen Regionsteile wird allerdings sein, ob die mit der Integration verbundenen Wachstumsvorteile jene Nachteile abmildern und überwiegen werden, die in der Übergangsphase zu erwarten sein werden, nämlich Druck auf Löhne und Arbeitsleistung, teilweise Verdrängungseffekte auf dem Arbeitsmarkt und Verkehrsbelastungen bisher nicht gekannten Ausmaßes. Quellenverzeichnis Huber, P., et. al. (2002), Analyse der Wiener Wirtschaftsaktivitäten, Teil I: Analyse, Teil II: Branchenprofile, Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO), Wien. OECD (2003), Territorial Review Vienna-Bratislava, Paris. Schremmer, C. (2000), Vienna’s Location – A Regional Metropolis in the East of a New Europe, in: MA 18-Stadtentwicklung, Hrsg., Vienna Urban Planning – The State of the Art, Wien. Schremmer, C., et al. (2003), Vienna-Bratislava Region, Austrian Background Report for the OECD Territorial Review, in: Werkstattbericht Nr. 59, MA18-Stadtentwicklung, Wien. Schremmer, C. (2002), Departure from the Periphery: Reflections on Regional Labor Markets without Borders in Austria, p. 207–214, in: Funck, Bernard and Pizzati, Lodovico, eds., Labor, Employment, and Social Policies in the EU Enlargement Process. Changing Perspectives and Policy Options; The World Bank, Washington D.C. Troper, R. (2001), Zusammenfassung der PREPARITY-Hauptergebnisse für Wien; in: Statistische Mitteilungen der Stadt Wien, Heft 4/2001, Wien.
Abschnitt F
Veränderte Handlungsbedingungen durch verstärkte Globalisierung
Wer steuert die Globalisierung? Christian Smekal
„Ward Ihr für meine Worte taub? Tausch wollte ich, wollte keinen Raub“ (Goethe, Faust, II. Teil)
Vorwort Egon Matzner betrieb Wissenschaft nicht um der Wissenschaft willen, sondern weil er die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse verbessern und gestalten wollte. Ihm lag es am Herzen, gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Prozesse mit ihren wechselseitigen Beziehungen zu verstehen und von diesem breiten Verständnis her ökonomische Phänomene zu analysieren und wirtschaftspolitische Vorschläge zu formulieren. Mit theoretischem Scharfsinn einerseits und unbeugsamem Eintreten für Gerechtigkeit und Solidarität andererseits wurde er rasch bekannt als kritischer Geist und manchmal unbequemer Mahner. In wirtschaftspolitischen Debatten verblüffte er Freunde und Gegner mit unkonventionellen und originellen Thesen. In wissenschaftlichen Diskussionen konnte er gleichwohl gut zuhören, die Meinung des jeweils Anderen abwägen und nach konstruktiven Lösungen suchen. Meine Bekanntschaft mit Egon Matzner reicht in die Sechzigerjahre zurück. Als junge Wissenschaftler wurden wir von der Bundesregierung eingeladen, eine grundlegende Studie zur Reform des österreichischen Finanzausgleichs anzufertigen. Egon Matzner wurde mit der Leitung des Forscherteams beauftragt. Bald wurde deutlich, dass eine nachhaltige Reform des Finanzausgleichs in Österreich in erster Linie eine staatliche Aufgabenreform erforderte. Dazu war eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Vertretern der Finanzwissenschaft, der Rechtswissenschaft und der Politikwissenschaft Voraussetzung. Egon Matzner verstand es, mit dem ihm eigenen Geschick für Ausgleich und Vermittlung die unterschiedlichen Positionen, Einschätzungen, ja politische Einstellungen in einen großen gemeinsamen Forschungsbericht münden zu lassen. Leider ist die Vielzahl der damaligen Vorschläge bis heute in der Praxis kaum umgesetzt worden. Die Mitglieder des derzeit tagenden „Österreich-Konvents“ wären gut beraten, sich die vor 40 Jahren erarbeiteten Analysen und Vorschläge zu Gemüte zu führen. Ein wichtiges Interessensgebiet von Egon Matzner waren schon lange vor der modernen Globalisierungsdebatte theoretische, politische und ethische Fragen der sich zunehmend internationalisierenden Wirtschaft. Der enge
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Zusammenhang von Wirtschaft und Politik im weltweiten Maßstab, die zunehmende Komplexität und Ungleichverteilung des Wissens sowie die sich öffnende Einkommenskluft zur Dritten Welt ließen es nach seiner Meinung unmöglich erscheinen, eine einseitig auf marktwirtschaftlichen Wettbewerb ausgerichtete Weltwirtschaftsordnung zu etablieren. Egon Matzner setzte dagegen auf einen seiner Ansicht nach realistischeren evolutionstheoretischen Ansatz, nach dem Experimente und Visionen sowie gesellschaftliche Lernund Anpassungsprozesse jene institutionellen Rahmenbedingungen auslösen müssen, die eine Welt in Frieden und Wohlstand ermöglichen. Im Bestreben, einer ungezügelten ökonomischen Globalisierung mit wissenschaftlichen Argumenten entgegenzuwirken, konnte ich in den letzten Jahren immer wieder mit Egon Matzner in einen Gedankenaustausch treten. Wir waren uns einig in einer erweiterten sozialökonomischen Beurteilung der weltwirtschaftlichen Entwicklung, insbesondere in der Notwendigkeit, die positiven Anreize eines fairen Wettbewerbs durch internationale Rahmenbedingungen sicherzustellen und ein international solidarisches System der Entwicklungspolitik und Armutsbekämpfung aufzubauen. Meinen folgenden kurzen Beitrag zur ökonomischen Globalisierung möchte ich Egon Matzner widmen zur Erinnerung an einen Kollegen, der in hervorragender Weise analytische Begabung und Zukunftsvisionen sowie klare Standpunkte und persönliches Engagement zu verbinden wusste. 1. Zum Begriff der Globalisierung Der Begriff der Globalisierung ist heute überwiegend ideologisch besetzt. Den Befürwortern eröffnet die Erweiterung der Märkte zu einem weltweiten Binnenmarkt ungeahnte Chancen der Wachstums- und Wohlstandsvermehrung. Für die Gegner ist die Globalisierung mit der Etablierung eines neuen Ausbeutungs- und Unrechtssystems verbunden. Im folgenden soll versucht werden, diesen sich polarisierenden Einschätzungen einen realistischeren Begriff entgegenzusetzen, der Globalisierung nicht als inhaltlich geschlossenes System auffasst. Unter Globalisierung soll vielmehr ein Prozess verstanden werden, der eine fortschreitende gesellschaftliche, ökonomische und technologische Verdichtung der Beziehungen in der Welt zur Folge hat. Dieser Prozess ist nicht neu. Er lässt sich seit der Entdeckung Amerikas beobachten und bezieht seine Schubkraft jeweils aus einschneidenden technologischen Entwicklungssprüngen. Segelschifffahrt, Dampfschifffahrt, Flugverkehr, Kabeltelefonie, drahtlose Telefonie bis zur elektronischen Informationsübermittlung sind nur einige Stationen, die die Welt immer mehr zu einem „global village“ zusammenwachsen ließen. Im 20. Jahrhundert ist dieser Prozess allerdings zweimal durch Weltkriege, „kalte und heiße“, unterbrochen worden, eine Option, die sich die Weltgemeinschaft im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen nicht mehr leisten kann.
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2. Chancen und Risken der Globalisierung Es gilt daher, die Chancen und Risken der Globalisierung vorurteilsfrei zu analysieren, die ersteren zu nutzen und die letzteren zu vermeiden. Die Vorteile der Globalisierung liegen auf der Hand. Die weltweite Öffnung der Märkte ermöglicht Tauschvorteile, Produktionsvorteile und Absatzchancen. Menschen in allen Teilen der Welt werden angeregt, die Chancen zur Verbesserung ihrer Wirtschafts- und Lebenslage wahrzunehmen. Die Tauschvorteile aus dem Außenhandel haben aus vielen Entwicklungsländern Schwellenländer gemacht. Diese Länder haben die letzten 30 Jahre genützt, ihr Pro-Kopf-Einkommen deutlich zu erhöhen und die Quote der unter der Armutsgrenze liegenden Bevölkerung zu verringern. Dank der hohen Mobilität des Kapitals war es möglich, die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung auszunützen und arbeitslosen Menschen in bevölkerungsreichen Teilen der Welt Beschäftigung zu verschaffen. Trotz dieser ökonomischen Vorteile stehen wir heute vor einem Globalisierungsparadoxon. Die Welt ist in den letzten Jahrzehnten ökonomisch, wissenschaftlich und technologisch in einem nicht gekannten Ausmaß zusammengewachsen. Dennoch ist sie weder politisch noch ökonomisch stabiler geworden. Die Komplexität der Beziehungen macht sie anfälliger für Störungen, Konflikte und Missbrauch, da es keine geeigneten globalen bzw. internationalen Ordnungsregeln gibt. Fehlen entsprechende Rahmenbedingungen und Regulative für das Funktionieren von Politik und Wirtschaft, so trägt die Globalisierung die Gefahr einer „explosiven Zerstörung“ in sich, die von zunehmender internationaler Korruption bis zu kriegerischen Auseinandersetzungen führen kann. 3. Bedeutungsverlust der Nationalstaaten Die ökonomische und politische Regulierung der gesellschaftlichen Verhältnisse lag bisher im Wesentlichen in Händen der Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts. Der Schutz der Bürger- und Freiheitsrechte, die Sicherung eines funktionsfähigen Wettbewerbs sowie fairer Arbeitsbedingungen, die Institutionalisierung des sozialen Ausgleichs und der Umgang mit der Umwelt wurden kraft innerstaatlichen Rechts geregelt. Gerade diese Bereiche sind es aber, die sich im Zuge des Globalisierungsprozesses auf nationalstaatlicher Ebene nicht mehr hinreichend regeln lassen. Deren Regelung bedarf einer neuen Aufgabenverteilung zwischen den nationalen Staaten sowie zwischen diesen und international tätigen Institutionen. Was für Nationalstaaten gilt, gilt analog auch für inner- aber nicht-staatliche Organisationen. Auch Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, kulturelle, soziale und religiöse Gemeinschaften sind im Rahmen ihrer Aufgabenerfüllung immer mehr auf eine internationale Zusammenarbeit angewiesen.
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Der Bedeutungsverlust nationalstaatlicher Steuerungskapazität hat im globalen Kontext eine empfindliche Ordnungslücke entstehen lassen, deren Schließung sich erst in Ansätzen „recht und schlecht“ abzeichnet. Das Weltforum der UNO ist durch Veto-Vorschriften blockiert und politisch quasi entscheidungsunfähig. Internationale Organisationen sind auf die Zustimmung aller ihrer zahlreichen Mitglieder angewiesen, was langwierige Verhandlungen und nur sehr langsame Entscheidungsfortschritte nach sich zieht. So ist es nicht erstaunlich, dass mittlerweile die großen politischen „big players“, die USA, Europa und bald auch China und Indien, eine hegemoniale (Ordnungs-)Führungsrolle einnehmen, ja ihnen diese geradezu zuwächst. 4. Die großen drei Weltprobleme 4.1 Das Ressourcendilemma Aufgrund des ungebrochenen Wachstums der Bevölkerung in den Ländern der so genannten Dritten Welt bleibt die Frage der Tragfähigkeit des Raumschiffes Erde auf der Tagesordnung. Eine Ausweitung des Wohlstandes der Industrieländer auf alle Entwicklungsländer würde eine Vervielfachung des Energieeinsatzes voraussetzen. Abgesehen von den hohen Kosten der zusätzlichen Energiegewinnung würde dies an die ökologischen Grenzen des Naturhaushaltes führen (Klimawandel). Soll andererseits der Energieeinsatz in den Industrieländern zugunsten der Entwicklungsländer reduziert werden, wäre dies mit einem Wachstumsrückgang verbunden, der künftige Investitionen in den Entwicklungsländern verunmöglichen und deren Verharren im Zustande der Unterentwicklung nach sich ziehen würde. Wie schwierig es ist, zu einer Übereinkunft im Weltenergie-Einsatzplan zu kommen, zeigen die spärlichen Ergebnisse der TokioRunde. 4.2 Die Armutslücke Trotz ermutigender Erfolge in asiatischen und südamerikanischen Ländern ist der Anteil der Weltbevölkerung, der mit einem Einkommen von weniger als 1 US-$ pro Tag (in Kaufkraftparitäten gemessen) unter der Armutsgrenze lebt, mit 20 % noch immer viel zu hoch. Mehr als eine Milliarde Menschen sind davon betroffen. Armut erzeugt nicht nur Hunger, sondern auch Krankheiten, Seuchen, Migrationsdruck und Aggressionen. Wirksame Entwicklungshilfe scheiterte bisher einerseits an der (politischen) Instabilität der Empfängerländer und andererseits an einer an nationalegoistischen Interessen ausgerichteten Entwicklungshilfepolitik der Industrieländer, die oft kurzfristige politische Ziele statt längerfristige ökonomische Entwicklungen im Auge hatten.
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4.3 Die neue Völkerwanderung In der (neoklassischen) Theorie wird der Produktionsfaktor Arbeit im Vergleich zum Kapital als immobil angesehen. Jedem, der heute durch eine kleinere oder mittlere Stadt spaziert wird aber sofort klar, dass die Menschen weltweit sehr mobil geworden sind. Die Entscheidung, eine Arbeit in einem anderen Land zu suchen, kann nicht nur mit dem individualwirtschaftlichen Nutzenkalkül beurteilt werden. Sie hängt vielmehr sehr stark von den jeweiligen Lebensverhältnissen ab. Sind diese sehr schlecht, bzw. im Hinblick auf die Zukunft hoffnungslos, können Migrationsentscheidungen zu einem Massenphänomen werden. Die Menschen kommen dann zunächst als Bittsteller, die Arbeit, Brot und Aufenthalt suchen. Bevölkerungsdruck verbunden mit einer permanenten Verschlechterung der Lebensverhältnisse in den Ursprungsländern kann aber auch (aggressive) Massenmigrationen auslösen, die die Stabilität der Zielländer gefährden. Angesichts des allgemein zu beobachtenden Geburtenrückgangs in den wohlhabenden Industrieländern, scheint eine international koordinierte strategische Antwort auf diese Herausforderungen ein Gebot der Stunde. 5. Plädoyer für einen Zukunftsoptimismus Fortschritte im globalen Problemlösungsprozess bedürfen eines Systems abgestufter Verantwortlichkeiten. Konturen einer neuen Arbeitsteilung und Verantwortungsvernetzung sind ansatzweise bereits sichtbar. In der „civil society“ erfolgt heute eine Bewusstseinsbildung über die Grenzen hinweg. Durch das Auftreten von NGOs (Non Governmental Organisations) ist eine neue Dimension gesellschaftlicher Interessenwahrnehmung entstanden. NGOs organisieren sich nicht-staatlich und grenzüberschreitend, sie formulieren eigene Wertvorstellungen zu globalen Themen und globalisieren sich mit Hilfe elektronischer Kommunikationsmittel rasch und effizient. Dadurch gelingt es ihnen, Einfluss auf staatliche und internationale Institutionen auszuüben und ihre Interessen wirkungsvoll zu vertreten. Ihr gesellschaftliches Gewicht nimmt zu, sodass sie immer stärker auch ein Mitspracherecht bei der Gestaltung des Globalisierungsprozesses einfordern. Natürlich sind NGOs auch mit dem Nachteil fehlender demokratischer Legitimation, der Gefahr der Hierarchisierung, der Extremisierung und der Chaotisierung verbunden. Dennoch stoßen sie in ein politisches Vakuum vor und sind für die Gestaltung des Globalisierungsprozesses wichtig und notwendig. Die Nationalstaaten erhalten heute eine neue Dimension der Verantwortung. Sie werden immer mehr Basis und Partner internationaler (bi- oder multilateraler) Vereinbarungen, in deren Rahmen sie die eigenen Interessen mit denen anderer Staaten abstimmen und so am Aufbau eines internationalen Netzwerkes mitwirken. Durch die Rückkoppelung zu den nationalen Parlamenten entsteht eine indirekte demokratische Legitimation internationaler
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Abkommen und Organisationen. Indem die einzelnen Staaten die Interessen verschiedener Regionen, Kulturen und Wirtschaftssysteme einbringen, leisten sie einen Beitrag, die Vielfalt der Welt in einer solidarischen Einheit zum Ausdruck zu bringen. Internationale Organisation und Institutionen erlangen zunehmende Bedeutung. Ihre Mitglieder schließen vertragliche Vereinbarungen auf Gegenseitigkeit ab, mit denen sie Rahmenbedingungen und Regeln vorgeben, zu deren Einhaltung sie sich verpflichten. Gegebenenfalls unterwerfen sie sich den Regeln auch mit Sanktionen (WTO). Im Innenverhältnis stellen sie ein Forum für einen Interessenausgleich und notfalls für Konfliktaustragungen dar. Nach außen können sie gemeinsame wirtschaftspolitische Vorgangsweisen beschließen und Grundlagen für eine künftige Weltwirtschaftsordnung schaffen. In der gegenwärtigen Situation stößt ihre Tätigkeit allerdings auf starke Kritik. Ihre Mitglieder werden häufig von mächtigen Ländern dominiert, sie weisen daher ein erhebliches Demokratiedefizit auf. Die Vielzahl der Organisationen agiert oft unkoordiniert, sodass es zu konkurrierenden Doppelgleisigkeiten kommt. Entwicklungsländer haben zu geringe Chancen, ihre Interessen durchzusetzen. Die geographische, wirtschaftliche und kulturelle Heterogenität der Welt führt im Globalisierungsprozess zu regionalen Kooperationsnetzen und Blockbildungen. Länder mit vergleichbarem Entwicklungsstand und ähnlichen Interessen schließen sich zusammen, um ihre gleichgerichteten Interessen zu formulieren und durchzusetzen. Im weltweiten Kontext entstehen dadurch Gegengewichtsbildungen, die ihrerseits das Übergewicht einer bestimmten Ländergruppe relativieren können. In Europa (EU) und im asiatischen Raum sind die Bestrebungen unverkennbar, dem „imperium americanum“ ein Gegengewicht entgegenzusetzen. Die Nagelprobe für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung liegt in einer viel stärkeren Einbindung der Länder der Dritten Welt in die Gestaltung des Globalisierungsprozesses. Aus demokratischer Sicht kann das gegenwärtige System der Vernachlässigung der Interessen der Entwicklungsländer keine weltweite Akzeptanz beanspruchen. Es hätte bei fiktiven demokratischen Wahlen keine Chance einer Zustimmung. Zu sehr werden die Grundsätze der Fairness und Gerechtigkeit missachtet. Die faire Gestaltung des Verhältnisses von Industrieländern und Entwicklungsländer wird in Zukunft darüber entscheiden, ob die Globalisierung zu einem friedensstiftenden oder zu einem konflikt- bzw. kriegsstiftenden Prozess wird.
Europa in einer globalisierten Welt, oder: Mit Egon Matzner weiterdenken. Monika Mokre, Sonja Puntscher-Riekmann
Viele Jahre lang war Egon Matzner unser Gesprächspartner. Wir haben schriftlich und mündlich, öffentlich und privat über verschiedenste Themen diskutiert. Wir waren uns öfter einig als nicht – aber beides, das Einig- und das Uneinig-Sein – hat uns beflügelt und unser Denken vorangetrieben. Wir möchten diesen Artikel daher als einen "freien Austausch von Argumenten" (Matzner 2001, S. 133) mit Egon verstanden wissen, der "nicht durch persönliche Vorlieben und Abneigungen behindert" (Matzner 2001, S. 133) wird. In seinen letzten Lebensjahren hat Egon Matzner sich intensiv mit den Bedrohungen einer monopolaren, durch die USA bestimmten Weltordnung auseinandergesetzt und als Gegenszenario die Vorstellung einer globalen Res Publica entwickelt, in der die Europäische Union eine wichtige Rolle spielt (Matzner 2000; Matzner 2002; Matzner/Unterseher 2003; Matzner 2003). Europa sollte nach einer Weltordnung ausgeglichener Multipolarität streben, ohne eigene hegemoniale Interessen zu verfolgen. Die europäische Außenpolitik sollte sich weiterhin in erster Linie auf politische, kulturelle und ökonomische Maßnahmen stützen. Militärische Strategien sollten der Verhinderung kriegerischer Konflikte und der Erhöhung regionaler Stabilität dienen und generell nur nach Autorisierung durch die UNO stattfinden. Für das Verhältnis zwischen Europa und den USA empfiehlt Matzner ein Modell des Konsenses und der Differenz. Zweifellos ist dies ein positives Szenario für eine globalisierte menschenwürdige Welt – doch wie groß sind die Chancen seiner Realisierbarkeit? Mit dieser Frage beschäftigt sich dieser Beitrag – um damit an dem weiterzuarbeiten, was noch auf Egons Agenda gestanden wäre. 1. Wie organisiert sich eine globale Res Publica? Die Durchsetzung öffentlicher Interessen bedarf des politischen Eingriffs; dies unterscheidet sie von privaten Interessen, die individuell verfolgt werden. Die Schaffung und Erhaltung der Res Publica ist also der Zweck von Politik. Was Teil der Res Publica sein soll und was nicht, hängt von Traditionen und Kontexten ab und wird kontinuierlich neu verhandelt. Politischer Streit betrifft stets die Frage, wie die Res Publica zu organisieren ist. Doch beruht die Res Publica nicht auf spontanem und andauerndem Konsens aller Individuen, sondern muss auch gegen den Willen Einzelner aufrechterhalten
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werden können. Die Res Publica bedarf also der Macht. Soll die Res Publica indes tatsächlich eine öffentliche Sache sein, so muss diese Macht demokratisch organisiert werden. In der Demokratie ist das Volk, der Demos, der Souverän. Dieser Demos muss nicht notwendigerweise ethnisch bestimmt sein, doch er braucht ein gewisses Maß an Zusammenhalt. Wenn vorstellbar sein soll, dass ein Volk die Entscheidungen über seine öffentlichen Angelegenheiten fällt, dann muss das Versorgungsniveau in materieller Hinsicht wie auch in Bezug auf Informationen einigermaßen ausgeglichen sein, dann müssen Debatten möglich sein, die nicht oder nicht ausschließlich von hierarchischen Machtpositionen geprägt sind, dann muss es schließlich auch die Bereitschaft geben, sich Entscheidungen der Mehrheit zu unterwerfen, die den eigenen Interessen zuwiderlaufen. All diese Bedingungen sind idealtypisch und in keiner real existierenden Demokratie je vollständig erfüllt; Demokratie ist daher immer als unvollendeter Prozess zu verstehen. Trotzdem ist die Frage zu stellen, unter welchen Bedingungen Demokratie überhaupt möglich ist. Dazu bedarf es gleicher politischer Rechte und auch (einigermaßen) gleicher Chancen, diese auszuüben, aber auch der Existenz einer politischen Identität, aufgrund derer sich der Einzelne einer Gemeinschaft zugehörig fühlt. Beides scheint im globalen Rahmen kaum leistbar. Von vergleichbaren materiellen Lebensbedingungen auf dieser Welt sind wir weit entfernt und die Entwicklung politischer Identität braucht Außengrenzen – die Definition von Zugehörigkeit impliziert stets die Bestimmung derer, die nicht dazu gehören. Doch wie soll eine globale Res Publica entstehen, wenn sie nicht als Demokratie organisiert sein kann? Egon Matzner und Lutz Unterseher (2003) schlagen als institutionelle Bausteine einer neuen Weltordnung reformierte Formen der UNO, des Währungsfonds und der WTO vor. Eine reformierte Charta der Vereinten Nationen wird als eine globale Verfassung vorgeschlagen, die die folgenden Elemente umfasst: − politische Regelungsformen internationaler Konflikte; − gleiches Gewicht für die größten Weltregionen im Sicherheitsrat; − Respekt für kulturelle und institutionelle Diversität zusätzlich zu einem allgemein anerkannten Katalog der Menschenrechte; − Gewährleistung nachhaltiger ökonomischer Entwicklung und Schutz der biologischen Vielfalt. Eine neue monetäre Weltordnung sollte auf folgenden Prinzipien beruhen: − eine globale Währung statt der weltweiten Benutzung der nationalen USWährung; − ein symmetrischer Mechanismus zur Regelung von Schuldenkrisen, in der nicht – wie bisher – nur die Schuldnerländer für die Lösung dieser Probleme verantwortlich sind, sondern Schuldner- und Gläubigerländer.
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Schließlich soll die WTO kulturelle, institutionelle und biologische Diversität als Werte akzeptieren, die nicht dem freien Welthandel geopfert werden sollen. Egon Matzner war ein politischer Visionär und kein naiver Anhänger von Heilsversprechen. Seine Vorschläge sind als Grundlage der Verhandlungen um eine neue Weltordnung zu verstehen, nicht als Lösung aller ihrer Probleme. Dass viele der hier aufgezählten Werte in dieser Form kaum mehr als Desiderate darstellen, die mit konkreten Inhalten zu füllen ist, war ihm bewusst. Doch wie sollen diese Inhalte auf legitime Weise verhandelt werden, wenn eine globale Demokratie nicht vorstellbar ist? Ist es wirklich akzeptabel, dass über so grundlegende Fragen Regierungen verhandeln, die durch ihre jeweiligen Demoi für diese Aufgabe nicht legitimiert wurden? Denn niemals war die Wissenskluft zwischen Regierenden und Regierten so groß wie im Kontext internationaler Regime. Wenn ein wesentlicher Teil des Demokratiedefizits der Europäischen Union darin besteht, dass nationale Exekutiven (also Regierungen) auf supranationaler Ebene zur Legislative werden, wie ist dann eine ähnliche Verquickung von Aufgaben im globalen Rahmen zu beurteilen? Und wie ist zu gewährleisten, dass die dramatischen Unterschiede in der ökonomischen Ausstattung von Ländern nicht zu Hierarchisierungen zwischen ihren Regierungen in diesen Organisationen führen? Wenn diese Probleme nicht lösbar sind – und wir neigen zu dieser Auffassung – macht es dann Sinn, von einer globalen Res Publica zu sprechen? Oder ist es nicht vielleicht realistischer von mehreren, nationalen und regionalen Rei Publicae auszugehen und deren demokratische Verhandlung zu befördern? Sodass das, was uns alle auf dieser Welt angeht, im jeweiligen demokratischen Zusammenhang zu verhandeln ist und nicht ausschließlich durch die RepräsentantInnen der Nationalstaaten. Selbstverständlich sind dies keine gegensätzlichen Konzepte, denn das, was demokratisch verhandelt wird, muss irgendwann doch durch RepräsentantInnen abgestimmt werden, doch es ändert die Gewichtung und erhöht die Erwartungen, die an die demokratische Verfasstheit der Europäischen Union als wichtigsten regionalen Zusammenschluss von Nationalstaaten zu richten sind. 2. Europa und Hegemonie Die Europäische Union soll sich für eine multipolare Weltordnung einsetzen, in der sie nicht nach Hegemonie strebt, fordert Egon Matzner. Er nennt dafür zwei Gründe, einen normativen und einen pragmatischen. Normativ ist eine ausgeglichene Multipolarität anzustreben, die durch hegemoniale Ansprüche gefährdet wird. Und pragmatisch ist festzustellen, dass die EU aufgrund ihrer bloß gebündelten Souveränität ohnehin nicht in der Lage ist, mit den USA in eine Konkurrenz um hegemoniale Ansprüche zu treten.
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Dem zweiten Argument kann sicherlich beigepflichtet werden. Doch ist es nicht gerade diese schwache Souveränität, die die EU daran hindert, überhaupt eine bestimmende Rolle in der Welt einzunehmen? Und damit auch die Propagierung einer multipolaren Weltordnung verhindert? Ist es in diesem Sinne nicht wünschenswert, dass sich die Souveränität der EU (zu Lasten ihrer Mitgliedstaaten erhöht), etwa durch eine Verfassung und eine konsistente europäische Institutionenordnung? Wenn aber die Souveränität der EU sich erhöht, ist es dann wirklich realistisch anzunehmen, dass die EU nicht nach Hegemonie strebt? Ist es nicht das Wesen jeder großen politischen Gemeinschaft, nach Hegemonie zu streben? Nach der Möglichkeit, die eigenen Prinzipien und Wertvorstellungen zu universalisieren? Bedeutet nicht Politik stets den Anspruch, das Universale zu repräsentieren? Nicht nur die eigenen Interessen zu vertreten, sondern die aller? Braucht nicht jede politische Utopie zu ihrer Umsetzung in reale Politik den Hegemonieanspruch? Geht es nicht eher darum, Rahmenbedingungen für die Verhandlung unterschiedlicher Hegemonieansprüche zu schaffen als auf diese zu verzichten? Wenn dies so ist, dann sind nur zwei Szenarien möglich – eine schwache EU, die dem Hegemon USA nichts entgegenzusetzen hat, oder eine starke EU, die sich selbst um Hegemonie bemüht. Doch wäre dieses zweite Szenario wirklich so problematisch? Könnte eine starke und weitgehend einige EU nicht ihren Hegemonieanspruch durch eine Form der Außen- und Sicherheitspolitik vertreten, wie sie Egon Matzner (Matzner/Unterseher 2003) vorgeschlagen hat? In der sich die Sicherheitspolitik auf eng gefasste Aufgaben konzentriert, nämlich: − die militärische Unterstützung von Wirtschaftssanktionen (die sich nicht gegen die Zivilbevölkerung richten dürfen), von Waffenembargos etc.; − präventive, stabilisierende Entsendung von Truppen in ein akut bedrohtes Land oder Gebiet; − Evakuierung von AusländerInnen aus Bürgerkriegsgebieten; − Schaffung und Verteidigung einer entmilitarisierten Zone zwischen Kriegsparteien; − Schutz humanitärer Einsätze; − Verteidigung von international anerkannten Kulturgütern; − bewaffnete Überwachung von Territorien zur Kontrolle von Kriegsparteien. Zurecht betont Egon Matzner, dass Europa aus normativen und aus pragmatischen Gründen davon Abstand nehmen sollte, mit den USA in eine Konkurrenz um militärische Stärke zu treten – dieser Kampf wäre sowohl sinn- als auch chancenlos. Doch könnte die EU nicht ihr außenpolitisches Modell als Gegenoption zum US-amerikanischen anbieten und damit auf andere Art um Hegemonie kämpfen. Denn der Kampf um Hegemonie muss nicht unbedingt
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mit Waffengewalt ausgetragen werden, auch politische Argumente und Gesellschaftskonzepte sind mögliche Einsätze in einem solchen Konflikt. Als solcher Einsatz bietet sich auch das spezifisch europäische Entwicklungsmodell an, das – im Unterschied zum US-amerikanischen – laut Matzner die folgenden Merkmale aufweist: − Als Erbe aus feudalen Zeiten wird in Europa Privateigentum traditionell in Verbindung mit sozialer Verantwortlichkeit gebracht. − Die europäischen Völker gehen von der Idee eines Sozialvertrags aus, der alle BürgerInnen einschließt. − Der europäische Begriff von "Öffentlichkeit" ist weiter als der in den USA. Die Idee der Res Publica umfasst den öffentlichen Raum wie die öffentlichen Angelegenheiten. − Der Staat wird in Europa nach 1945 eher als Instrument der Unterstützung für die BürgerInnen und die Gesellschaft verstanden, während zumindest die neokonservative Ideologie in den USA den Staat als Gegner der BürgerInnen definiert. Für viele Länder außerhalb von Europa und den USA scheint das europäische Modell ein fruchtbarerer Ansatzpunkt zur Entwicklung ihrer Gesellschaftsordnungen als das US-amerikanische. Würde es sich daher nicht lohnen, dieses Modell offensiv zu vertreten? Dies ist kein Aufruf zu Imperialismus und Krieg. Antagonismen zwischen verschiedenen Konzepten von Politik können indes in Agonismen verwandelt und als solche verhandelbar gemacht werden. Dies führt zu politischem Widerstreit, aber nicht zu Krieg. Eine starke Europäische Union, die durchaus streitbar für ihre Modelle eintritt, könnte in einem solchen Widerstreit die Multipolarität der Welt erhöhen. Mögliche Orte für diesen Streit sind internationale Schiedsgerichte, wie die Welthandelsorganisation (WTO) oder die Internationale Handelskammer (ICC). Egon Matzners Entwurf einer Weltordnung beschreibt ein vernünftiges System, in dem in internationalen Verhandlungen die Res Publica von AkteurInnen ausgehandelt wird, die das allgemeine Wohl über ihre spezifischen Interessen stellen. Dies ist eine Vision, auf die es hinzuarbeiten gilt. Doch – so meinen wir – nicht, indem das ursächlich Politische, nämlich der Streit um Werte, ausgeschaltet wird, sondern im Gegenteil, indem politischer Streit möglich und produktiv gemacht wird. Sehr gerne würden wir mit Egon diskutieren, wie dies zu bewerkstelligen ist. Quellenverzeichnis Matzner, E. (2003), Über den Ewigen Krieg, Vortrag vor dem Seminar der Theologischen Fakultät und des Institutes für Politologie der Universität Innsbruck am 19. März 2003, Innsbruck. Matzner E., Unterseher, L. (2003), A European Model within a Global Res Publica, in: Der Öffentliche Sektor, 2–3/03, Wien.
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Matzner, E. (2002), Der Mediationsstaat – "unabdingbare", "aufgebbare" und "umgestaltbare" Staatsfunktionen, Impulsreferat vor dem Forum Steiermark 28. 9. 2002, Kurzentrum Loipersdorf. Matzner, E. (2001), Die vergeudete Republik. Wie sie wiederbegründet werden könnte. Eine Analyse, Edition Va Bene, Wien – Klosterneuburg.
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Out of discordant, often strident, conflicting voices that emanate from the East and the West, a new composition is slowly arising. The blended tune has a limited register, on many issues divergent voices will continue to be heard, and it is sure to be accorded divergent interpretations in various parts of the world and over time. Yet the new tune suffices to provide stronger support for global institution building than was available in recent decades. The metaphorical Avoices@ I refer to are expressions of basic normative positions, worldviews, and ideologies. They concern values that define what is considered legitimate,1 a major foundation of social order, and good government. My position articulated here greatly diverges from two major themes that underlie much recent foreign policy thinking in the West; both claim to predict the direction in which the world is moving, as well as to prescribe the ways it ought to progress. One theme holds that the world is proceeding (and needs to be encouraged) to embrace several core values, as well as the institutions that embody them, all of which the West possesses: individual rights, democratic government, and free markets. This position has been advanced by Francis Fukuyama, Michael Mandelbaum, and Fareed Zakaria, among others.2 It has been embraced by the Bush administration, whose 2002 strategic document states: “The great struggles of the twentieth century between liberty and totalitarianism ended with a decisive victory for the forces of freedom B and a single sustainable model for national success: freedom, democracy, and free enterprise. […] People everywhere want to be able to speak freely; choose * This paper draws directly on my book “From Empire to Community: A New Approach to International Relations” (New York: Palgrave Macmillan, 2004). 1 Legitimacy, as it is commonly treated in standard sources, is defined as the Afoundation of such governmental power as is exercised both with a consciousness on the government=s part that it has a right to govern and with some recognition by the governed of that right.@ International Encyclopedia of the Social Sciences, ed. David L. Sills (New York: Macmillan and Free Press, 1968), 244. Robert Jackson shows that there are recognized international norms that have implications for determining legitimate conduct by states. See Robert Jackson, The Global Covenant: Human Conduct in a World of States (Oxford: Oxford University Press, 2000). 2 See, for example, Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man (New York: Free Press, 1992); Michael Mandelbaum, The Ideas that Conquered the World: Peace, Democracy, and Free Markets in the Twenty-First Century (New York: Public Affairs, 2002); Fareed Zakaria, The Future of Freedom: Illiberal Democracy at Home and Abroad (New York: W. W. Norton, 2003).
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who will govern them; worship as they please; educate their children B male and female; own property; and enjoy the benefits of their labor. These values of freedom are right and true for every person, in every society ...”3 Tony Blair, who based his New Labour party on the themes of community and responsibility, departed from these communitarian values when he addressed the global society. He stated: AOurs are not Western values, they are universal values of the human spirit. And anywhere, anytime ordinary people are given the chance to choose, the choice is the same: freedom, not tyranny; democracy, not dictatorship; the rule of law, not the rule of the secret police.@4 The other theme holds that the world outside the West is largely governed by religious fundamentalism or other alien sets of values, which are incompatible with Western ones, and, hence, these antithetical civilizations are bound to clash. Samuel Huntington and Bernard Lewis are proponents of this view.5 To provide but one quote from Huntington: At a superficial level much of Western culture has indeed permeated the rest of the world. At a more basic level, however, Western concepts differ fundamentally from those prevalent in other civilizations. Western ideas of individualism, liberalism, constitutionalism, human rights, quality, liberty, the rule of law, democracy, free markets, the separation of church and state, often have little resonance in Islamic, Confucian, Japanese, Hindu, Buddhist or Orthodox cultures.6 Both viewpoints imply that non-Western nations have little to contribute to the global development of political and economic institutions or to the values that they embody.7 Rights, liberty, and capitalism are, after all, Western contributions to the world. (In Thomas Friedman=s succinct journalistic lingo, the West has the slick, modern Lexus; the East, old and dusty olive trees.)8 I beg to differ. There are significant lessons concerning both the development of domestic polities and economies, as well as international relations and the design of new global architectures, that the world can and should 3 George W. Bush, “Introduction”, The National Security Strategy of the United States of America, September 2002, Available at: http://www.whitehouse.gov/nsc/nss.pdf. Accessed 10/28/02. 4 Blair quoted in George F. Will, A.. Or Maybe Not at All,@ Washington Post, 17 August 2003, B7. 5 See Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order (New York: Simon & Schuster, 1996); and Bernard Lewis, AThe Roots of Muslim Rage,@ Atlantic Monthly, September 1990, pp. 47–60. 6 Samuel P. Huntington, AThe Clash of Civilizations,@ Foreign Affairs 72, no. 3 (Summer 1993), p. 40. 7 For a good comparison of Huntington and Fukuyama, see Stanley Kurtz, AThe Future of History,@ Policy Review, no. 113 (2002), pp. 43–58. 8. Thomas L. Friedman, The Lexus and the Olive Tree (New York: Farrar, Straus & Giroux 1999).
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learn from non-Western cultures. This is especially true in matters concerning respect for authority, obligations to the common good, and the nurturing of communal bonds, although only if these values and the relevant institutions are greatly moderated. Moreover, the world actually is moving toward a new synthesis between the West=s great respect for individual rights and choices and the East=s respect for social obligations (in rather different ways, of course); between the West=s preoccupation with autonomy and the East=s preoccupation with social order; between Western legal and political egalitarianism and Eastern authoritarianism; between the West=s rejection of grand ideologies, of utopianism, and the East=s extensive normative characterization of Ados@ and Adon=ts@; between Western secularism and moral relativism and visions of the afterlife and transcendental sets of meanings, found in several Eastern belief systems including Hinduism, Confucianism, and select African traditions. The synthesizing process entails modifying the elements that go into it; it is not a mechanical combination of Eastern and Western elements, but rather it is akin to a chemical fusion. One can, of course, compare various belief systems on many other scales and come out with different results and groupings. To give but one example: If we grouped belief systems according to their level of parsimony or belief in monotheism, several Eastern religions would line up with the Western ones against some other Eastern ones. However, it is not my purpose to provide rich typologies or add more intercultural comparisons. I merely argue that, for several key issues at hand, the grouping of cultures into East and West suffices as a first approximation. I shall show that on some points, there are two camps. A Western Exclusive? Francis Fukuyama advanced the thesis that the whole world is in the process of embracing liberal democratic regimes and capitalism, a process he famously called the Aend of history.@ He recognizes that many nations are still Ain history,@ but since the collapse of the communist bloc, he sees a trend toward an increasing and worldwide dominance of individualism. (Because the values and institutions involved are all centered around the respect for individual dignity and liberty of the person B protected from the state B to make his or her own political and economic choices, I refer to these concepts jointly and as a form of shorthand as individualism.) Fukuyama=s thesis (and those of others who developed related lines of argument, such as Mandelbaum and Zakaria) is that the whole world is in the process of embracing Western values. These scholars tend to see these individualistic values as Auniversal@ ones that non-Western societies were slow to
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recognize, but now are discovering as compelling.9 (AThe liberty we prize is not America=s gift to the world; it is God=s gift to humanity@ is the way President George W. Bush voiced this idea.10) We also should note that reference is to a global trend of intranational developments, not to the development of some global society and government. Thus, China and India are said to be gradually liberalizing and opening their markets; the United Nations, the World Health Organization, and international nongovernmental agencies are not held to undergo such changes. As I see it, the argument that individualism is gaining a growing worldwide following is valid, yet only half right. It is valid because, despite some setbacks (such as in Latin America), there is considerable and accumulating evidence that numerous nations gradually are inching B some even rushing B in this direction. It is only half true because the East, despite the fact that it is even more heterogeneous than the West, does bring several key values of its own to the global dialogue, and it lays moral claims on the West with even greater assurance of their universal validity than the West does with its claims on the rest of the world. Before I proceed, I should reiterate that to speak about two normative approaches as if that were all there is, as many do, is of course merely a first approximation. Huntington lists nine civilizations; others have still longer lists. Recently much has been made about differences between European and American belief systems. A whole library of books just on the differences among various AEastern@ beliefs could be found. Nevertheless, there are significant commonalities among the various Western beliefs and among all the others. The fact that the West shares a commitment to rights, democracy, and capitalism B despite differences as to how raw various countries are willing to stomach capitalism B is common knowledge. These beliefs are cardinal to the West=s view of itself and others. They are central to its public philosophy and what it seeks to bring to others. Similarly, although less clearly, all non-Western belief systems, often referred to as the East, share some important commonalities. These commonalities may not encompass every single culture, but they do include most, including those of which many millions of people are a part. (Because, like many others, I use the term AEast@ to mean all that is not AWest,@ I must find a place for Latin America. For the purposes of this analysis, it is where geographers put it, part of the Western Hemisphere.)
9. There are some who argue that one can find within Asian cultural traditions values that are comparable to Western human rights. See, for example, Human Rights in Asian Cultures: Continuity and Change, ed. Jefferson R. Plantilla and Sebasti L. Raj, S.J. (Osaka: Hurights Osaka, 1997). 10 . Bush quoted in William Kristol, AMorality in Foreign Policy,@ Weekly Standard, February 10, 2003, p. 7.
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The normative positions championed by the East might be called Aauthoritarian communitarianism.@ While the Western position is centered around the individual, the focus of the Eastern cultures tend to be a strongly ordered community. In its strongest form, the East=s core tenets are not individual rights, but social obligations (toward a very extensive set of shared common goods and various members of the community); not liberty, but submission to a higher purpose and authority, whether religious or secular; not maximization of consumer goods, but service to one or more gods or to common goods articulated by a secular state. In short, both West and East contribute to a new normative synthesis that moves their respective societies, their polities, and, as we shall see, their economies toward a better design than either individualism or authoritarian communitarianism provides. By bringing their Asurpluses@ to the table, elements will grow softer as they are blended with those of the other camp. To use the term Abetter@ immediately raises the question: What is considered good? The evolving vision of a good society ultimately has a role to play in narrowing the moral gap, a major step on the way to the establishment of human primacy. Progress on this front is best made with values that are shared rather than with those that clash or with one side claiming to have a monopoly on what is good.
Abschnitt G
Aufgaben der Entwicklungszusammenarbeit
Wiederaufbau der Stadt Bam Klaus Semsroth
Vorbemerkung Im Frühjahr 2003 besuchte Egon Matzner nach langer Zeit der Abwesenheit seine alte Fakultät für Architektur und Raumplanung an der TU Wien. Ziel seines spontanen Besuches war Neugierde, Neugierde zu erfahren, welche aktuellen Aufgabenfelder und Forschungsfragen die Lehrer mit ihren Studenten am Beginn des neuen Jahrtausends bewegen und wie sich die Universität auf die vielfältigen neuen Herausforderungen vorbereitet. Besonderes Interesse fand Egon Matzner dabei an der gerade in Vorbereitung befindlichen Publikation „10 Jahre Auslandsaktivitäten der Institute der Fakultät für Architektur und Raumplanung“. Aus der Fülle des vorliegenden Materials waren es nun Dokumentationen über Studienreisen in nahe und ferne Länder, Forschungsprojekte mit Universitäten auf vielen Kontinenten, oder konkrete Planungsaufgaben, die im Rahmen der Lehrgegenstände „Entwerfen“ und „Projekte“ in den letzten Jahren in Ländern wie Kolumbien, Ukraine, Marokko oder im Iran durchgeführt wurden. Egon Matzner kommentierte dies im Hinblick auf die weitreichenden Auswirkungen für die heranwachsenden jungen Architekten und Raumplaner und sah darin eine besondere Chance, Globalitätsfähigkeit zu erzielen. Am 31. 08. 2003, wenige Tage vor seinem Tod, schickte Egon Matzner der Fakultät aus La Marsa/Tunesien ein Vorwort für diese nun fertiggestellte Publikation, in der er einleitend feststellte: „Ein universitäres Ausbildungsprogramm, das auf der Höhe der Zeit sein will, muss auf drei Beinen stehen. Es muss erstens robuste Fähigkeiten vermitteln. Es muss zweitens dem State of the Art entsprechen. Mit diesen zwei grundlegenden Beinen konnte der Absolvent, die Absolventin bis vor kurzem noch den lokalen Leistungstest erbringen. Das reicht im 21. Jhdt. nicht mehr. In der Ära der Globalisierung, die ja konkret die globale Öffnung aller Märkte bedeutet, bedürfen die Absolventen drittens Globalitätsfähigkeit. Globalitätsfähigkeit setzt (aber) voraus, in der Welt der fremdsprachigen, vor allem Lebenserfahrung gewonnen zu haben“1. Aus der Fülle der unterschiedlichen Aktivitäten interessierten Egon Matzner vor allem jene Aufgabenstellungen am stärksten, die spezielle Chancen ermöglichen, Studenten mit fremden Kulturen zu konfrontieren und ihr Denken und Handeln entsprechen zu formen. 1 Egon Matzner, Marsa, 31. 08. 2003.
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1. Wiederaufbau von BAM Im Zusammenhang mit der Weiterführung solcher Forschungs- und Projektaktivitäten wurde im Rahmen der Entwurfsprojekte des Studienjahres 2003/2004 in den beiden Studienrichtungen Architektur und Raumplanung ein Planungsprojekt angeboten, das sich mit dem Wiederaufbau der zerstörten Stadt BAM beschäftigt. Ausgelöst durch das furchtbare Erdbeben, das am 26. 12. 2003 die Stadt BAM im Süden Irans bis auf die Grundmauern zerstörte, innerhalb von 12 Sekunden 30.000 Menschen unter sich begrub und 85 % der Häuser vernichtete, steht die iranische Regierung vor der dringenden Aufgabe, für ca. 20.000 obdachlose Familien ein neues zu Hause zu schaffen. BAM – vor und nach der Zerstörung
Viele iranische Institutionen sind in der Zwischenzeit mit den Vorarbeiten eines Wiederaufbauprogramms für BAM beschäftigt, wobei Ratlosigkeit besteht, nach welchen städtebaulichen Zielvorstellungen diese Aufgabe gelöst werden kann. Hinzu kommt, dass noch nicht endgültig geklärt ist, ob die Stadt nicht ev. an einem geologisch weniger erdbebengefährdeten Ort wieder aufgebaut werden sollte, denn an der tektonischen Nahtstelle zwischen der arabischen und eurasischen Platte ist eine neuerliche Katastrophe nicht auszuschließen (FAZ, 2004).
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In dieser Situation sind nun auch die iranischen Universitäten aufgefordert, hierfür Vorschläge zu entwickeln. So auch die Beheshti University in Teheran, mit der die Fakultät für Architektur und Raumplanung der TU-Wien schon seit längerer Zeit im Rahmen eines Kooperationsabkommens regen fachlichen Austausch durchführt. Die Beheshti University hat aufgrund der Tragweite der zu treffenden Entscheidungen mehrere befreundete Universitäten eingeladen, bei der Entwicklung von Wiederaufbaukonzepten zusammenzuarbeiten und hat u. a. auch die Fakultät für Architektur und Raumplanung mit ihren Studenten und Lehrern eingeladen, an einem Projekt „Reconstructing BAM“ im Studienjahr (2004/05) mitzuwirken. Es war beabsichtigt, dass dieses Projekt gleichzeitig in Teheran und Wien bearbeitet wird und in Seminaren und Workshops die Frage erhellt werden soll, nach welchen Grundzügen eine Stadt im Iran am Beginn des 21. Jhdts. gestaltet werden kann und in wie weit historische Vorbilder heute noch Gültigkeit haben können. Drei Themenbereiche stehen dabei im Mittelpunkt der inhaltlichen Vorbereitung: 1. Grundzüge der iranischen Stadt – welches sind die Kennzeichen der räumlichen Struktur und die Zielvorgaben für das Stadtbild? 2. Die Bedeutung des Wohnens als entscheidender Nukleus in der iranischen Stadt. 3. Die Rolle des Stadtzentrums mit Moschee und Basar als Mittelpunkt der Öffentlichkeit. Wenn man als Europäer mit der Gestaltung städtischer Lebensräume im Iran konfrontiert wird, dann muss man vorerst einmal gedanklich sehr offen sein, offen für die Andersartigkeit der kulturellen, religiösen, technischen und politischen Realität, denn der Iran ist ein Land mit einem bedeutenden weltgeschichtlichen Erbe, das eigenständige Lebensformen entwickelt hat. Der Iran ist ein Land, das aufgrund der zentralen Bedeutung des Islams grundlegend andere Formen des Zusammenlebens der Menschen sowohl im privaten, als auch in der Öffentlichkeit in den Städten entwickelt hat, wobei die Formen des Zusammenlebens auf Traditionen aufbauen, die bis in die Anfänge der ersten überlieferten Ansätze des Zusammenlebens von Menschen in Städten zurückreicht (Vitra Design Museum, 2003). Bei soviel Andersartigkeit ist es für die Vorbereitung von Planungsmaßnahmen wie der Wiederaufbau von BAM unumgänglich, vorher die Elemente der iranischen Stadt zu erhellen. Aus der Vielzahl der Elemente, die die islamische Stadt entscheidend bestimmen werden im Folgenden die Themenbereiche „Grundzüge der iranischen Stadt“, die „Bedeutung des Wohnens für die räumliche Strukturierung der Stadt“ und schließlich die „Rolle der Moschee und des Basars“ als wichtige Kristallisationspunkte näher betrachtet.
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2. Grundzüge der iranischen Stadt Im Vergleich zur europäischen Stadt, die sich gegen die Ansprüche von Kirche und Staat ständig zur Wehr setzen musste, ist die iranische Stadt nicht aufgrund solcher Auseinandersetzungen um die Freiheit entstanden, sondern mehr aus dem Streben, eine bestimmte Lebensführung zu verwirklichen, die in ihren religiösen Geboten bereits klar definierte, soziale Verhaltensregeln und gesellschaftliche Ordnungen enthält und damit auch dem städtischen Leben Impulse geben konnte. Die politische Organisation der Stadt, die für die europäische Stadt stets eine Rolle spielte, wird in der islamischen Stadt durch die unangefochtene Bedeutung der „koranischen“ Verfassung geregelt (Bianco, 2001, S. 124). An dieser uneingeschränkten Rolle von Allah lag es auch, dass die islamische Gesellschaft immer wieder in Versuchung kam, irdische Utopien anzustreben. Die Stadt brauchte nicht die Beste aller Welten zu sein. Sie konnte deshalb auf städtische Strukturen verzichten, die für die europäische Stadt, wesentliche Inhalte darstellte (Bianco, 2001, S. 125). Stefano Bianco sieht im islamischen Stadtwesen einen Versuch „Das Vorbild der Prophetischen Urgemeinschaft von Medina mindestens im Bereich der häuslichen Lebensführung und des sozialen Alltags so gut wie möglich weiterzuführen“ (Bianco, 2001, S. 126). Aus dieser grundsätzlichen Position der Stadt in der islamischen Gesellschaft haben sich immer wiederkehrende soziale Bezugssysteme ergeben: Erstes wichtigstes Kennzeichen ist die strenge Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Bereich, die nicht nur durch eine spezielle Organisation des Wegeerschließungsnetzes, sondern auch durch die Struktur der Gebäude verfolgt wird. Der private Mittelpunkt wird durch das Wohnhaus und das Quartier gekennzeichnet, das öffentliche Zentrum durch die Moschee mit den umliegenden Märkten und die zu den Stadttoren führenden Hauptverkehrsverbindungen (Ghaffar-Sedeh, 1990). Beide Bereiche stoßen zwar aneinander, doch vermischen sich nicht, was spezielle räumliche und bauliche Maßnahmen erforderlich macht. Ein zweites wichtiges Kennzeichen besteht darin, dass jede Einheit des sozialen Gefüges der Stadt einen in sich geschlossenen Raum besetzt, in dessen Grenzen die Menschen mehr oder weniger autark nach eigenen Gesetzen leben können. Dies gilt sowohl für die kleinste Zelle des Gefüges, das Wohnhaus, als auch für das Quartier, die Moschee, das Bad und der Friedhof. Das dritte wichtigste Kennzeichen der islamischen Stadtstruktur ist das Bedürfnis zur Integration der Einzelteile zu zusammengesetzten Gebilden, die stufenweise verschmelzen und zu einer gegliederten Ganzheit zur Stadt zusammenwachsen. Die Tendenz zur Abgrenzung und zur Differenzierung individueller Bereiche wird durch Gegenkräfte aufgewoben, die räumliche Verflechtung bewirkt. „Die Übergänge zwischen Wohnen und Gewerbe,
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Markt und Moschee, oder Moschee und Haus sind von Fall zu Fall gekennzeichnet durch Schwellen oder Pufferräume, sind aber dennoch ohne große Distanzen bewältigbar. Die iranische Stadt lebt vom Wechselspiel der Betriebsamkeit und der Ruhe und verlangt deshalb nach einem dichten, räumlichen Gefüge“ (Bianco, 2001, S. 151). Solche paradoxen Anforderungen bestimmen die architektonische und städtebauliche Struktur der islamischen Stadt, woraus eine besondere Logik der Raumanordnung entsteht, die sich stark von jenen der Antike und der neuzeitlichen europäischen Stadt unterscheidet. Im Gegensatz zur europäischen Stadt ist das islamische Stadtbild nicht von großen Straßeneinschnitten und perspektivisch bezogenen Bauten geprägt, sondern von der vielfachen inneren Unterteilung ganzheitlicher Raumkörper. Nicht freistehende Häuser mit entsprechenden Fassaden werden in der islamischen Stadt wahrgenommen, sondern Komplexe in sich gegliederter Räume, sodass nie das Ganze aufgenommen werden kann, man sich jedoch stets in der Mitte des Raumes befindet (Bianco, 2001, S. 126–152). Die Stadtmitte markiert in der Regel die Haupt- oder Freitagsmoschee und nur selten – wie zum Beispiel in Teheran – den Palast. Im näheren Umkreis befindet sich der zentrale Bazarkomplex. Vom Zentrum aus führen die großen Durchgangsachsen zu den Stadttoren; sie gliedern den Wohnbereich zwischen dem Zentrum und der Stadtmauer in Stadtviertel und bilden die Verbindung zum Umland. Dieses regelmäßige Grundschema wird von einer Reihe variierender, oft punktueller Funktionsstandorte überlagert: Die Burg oder Zitadelle liegt meist am Stadtrand, an den Mauerring gelehnt, wenn möglich an einer erhöhten Stelle. Eine zentrale Lage wäre bei Unruhen eher ungünstig, so aber ist der freie Zugang zum Umland außerhalb des Stadtgebiets gewährleistet. Ein weiterer Faktor ist die Wasserversorgung. Erfolgt sie durch ein fließendes Gewässer, befinden sich die bevorzugten Wohngebiete (der Oberschicht) stromaufwärts, wo das Wasser noch wenig verunreinigt ist. Gewerbegebiete mit stark verschmutzten Abwässern werden möglichst am Ende des Stadtareals weit stromabwärts angesiedelt. Bei Hanglage sind die begehrtesten Wohngebiete die am höchst gelegenen, da es dort kühler, windiger ist und das Wasser am besten ist (Ehrenberger, Grosskinsky, 2001). 3. Die Bedeutung des Wohnens für die räumliche Strukturierung der Stadt Wenn auch die Bauten im Iran durch Klima, Material, Konstruktion und durch die Gestaltungsfähigkeit der Bewohner bestimmt wird, so sehr ist die
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innere Organisation des Wohnhauses und der Städte durch das Ergebnis gesellschaftlicher Vorstellungen und Ordnungen geprägt, wobei die Herrschaft des Islams durch seine Gesellschaftsformen zu klaren Gesetzmäßigkeiten von den Hausformen bis zu den Stadtzentren geführt hat. Die mehrere Generationen umfassende Großfamilie, ihr besonderer Schutz durch die Art der Behausung, die fixierte Stellung der Frau, kommen in der Hausform deutlich zum Ausdruck. Sei es die Widmung verschiedener Hausabschnitte oder Geschosse in verschiedene Altersgruppen oder die Gemeinsamkeit des Hofes mit der Küche und nicht zuletzt der besondere Schutz des Bereiches der Frau. Alles kommt in den Hofhäusern ablesbar zum Ausdruck (Rainer, 1977, S. 151). Der Prototyp des iranischen Wohnhauses ist das Hofhaus mit seinen hohen Umfassungsmauern und der charakteristischen Eingangssituation, die einen Einblick ins Innere unmöglich macht und somit die Privatsphäre bewahrt. Die weitgehende Einheitlichkeit der Hausformen und die sich daraus ableitende Geschlossenheit der Baugebiete beruht auf der allgemein Gültigkeit des Hofhauses, das selbst mit all seinen Räumen um den eigenen Mittelpunkt orientiert ist. Wenn sich auch die Räume des Hofhauses einander um das gemeinsame Zentrum unter freiem Himmel zuwenden, wird trotz dieser ausgeprägten Privatheit durch das unmittelbare Aneinanderstoßen der Häuser, durch das Nebeneinander der Haustüren an schmalen Wegen doch auch Nachbarschaft fühlbar gemacht und die Straße als geschlossener, umbauter, windgeschützter, nach eigenen Gesetzen geschützter Raum zum Sinnbild der Öffentlichkeit. Das Hofhaus des Irans bevorzugt gegenüber solchen aus der Antike die Dominanz eines einzigen großen, streng gestalteten Hofes. Oft beherrschen diese Höfe – vor allem in den heißen Zonen – ein von Bäumen umgebenes Wasserbecken als wesentlicher Bestandteil eines natürlichen Kühlungssystems, ebenso wie die Lüftungstürme, die zu jedem Haus dazugehören, wobei die Verdunstungskälte die Temperaturen in den Innenräumen reduziert (Rainer, 1977, S. 154). Große Unterschiede zur abendländischen Stadt entstehen bei der räumlichen Organisation dieser Wohnviertel innerhalb einer orientalischen Stadt. In der mittelalterlichen Stadt Europas ist das Stadtzentrum die wirtschaftliche und soziale Mitte. Zum Stadtrand hin gibt es ein deutliches Gefälle. Dieses Gefälle ergibt sich in Bezug auf die Wirtschaftsstandorte auch in der orientalischen Stadt, der gesellschaftliche Bereich wird jedoch von einer sehr starken sektoralen Gliederung – in Form von Wohnvierteln – überlagert. Dabei können die beiden Kategorien reich und arm für eine Analyse dieser Gliederung nicht dienen. Diese Quartiere (mahalla) splittern die Bevölkerung einer Stadt in völkische, sprachliche oder religiöse Gruppen auf, die sich oft feind-
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lich gegenüberstehen. Man führt dies auf die Gründung von Städten durch arabische Eroberungsheere zurück, die die unterschiedlichen Stammesgruppen bei der Umsiedlung ein wenig isolieren wollten. Somit gliedert sich eine orientalische Stadt in eine Summe von relativ selbstständigen Einheiten, die in lebhafter Konkurrenz zu einander stehen, die man sogar gegeneinander durch Tore absperren kann und die jeweils eine eigene Moschee, Schule, Bad, Friedhof und einen kleinen Bazar beinhalten. Diese Wohnquartiere bildeten sich aus dem Verlangen der orientalischen Bevölkerung nach Schutz, Intimität und Geborgenheit. Dieses Verlangen ergibt sich aus dem grundlegendsten Unterschied zur abendländischen Stadt. Die Mauern und Tore einer abendländischen Stadt sind nach außen gerichtet, innerhalb jedoch waren in der Regel Frieden und Sicherheit gewährleistet. Frieden und Sicherheit waren in den orientalischen Städten vom frühen Mittelalter bis an die Schwelle der Gegenwart von außen gleich wie von innen heraus bedroht. Die orientalische Stadt wird von einer extremen Zweiteilung des Straßenmusters bestimmt: Auf der einen Seite stehen die Hauptverbindungsachsen und Verkehrsleitlinien, welche in einem verhältnismäßig weitmaschigen, durchgängigen Netz das Stadtzentrum mit den Toren verbinden und welche die einzelnen Quartiere der Stadt erschließen. Dem stehen die oft abwinkelnden Sackgassen gegenüber, welche die Wohnquartiere ausfüllen. Das islamische Recht sieht die Durchgangsstraßen als öffentlichen Besitz an, die Sackgassen hingegen als gemeinsamen Besitz der Anlieger. In den Sackgassen kann die öffentliche Hand überhaupt erst initiativ werden, sofern sie als Schiedsrichter herangezogen wird. In der orientalischen Stadt kommt also zu der üblichen Zweigliederung Öffentlichkeit – Privatheit noch ein dritter Bereich hinzu: Die Moscheen, Bazare, öffentlichen Plätze, Brunnen, Bäder sowie alle Durchgangsstraßen sind öffentlicher Bereich. Dessen Nutzung steht grundsätzlich jedermann offen, und die Polizeibefugnis unterliegt keinen Einschränkungen. Der Einblick in die Intimsphäre des privaten Hauses ist prinzipiell allen Außenstehenden untersagt. Der dritte ist der gemeinschaftlich-private Bereich der Sackgasse, in dem die öffentliche Verfügungsgewalt bereits weitgehend eingeschränkt ist. Er hat gewissermaßen die Rolle eines äußeren Schutzareals für die Intimsphäre des einzelnen Hauses. Die Sackgassen sind als ein von einem einzigen Strang ausgehendes, verzweigendes Geäst ausgebildet. Der Ursprung der Sackgassen liegt nicht, wie zuerst vermutet, in der These, nach welcher diese als ein zufälliges Ergebnis von ungeplanter Wohnbebauung als Negativräume zurückbleiben. Aus den Stadterweiterungen von Tunis und Teheran im 19. Jahrhundert lässt sich dieserart nachweisen, dass bei regelmäßigen, einheitlich geplanten Gebieten städtischer Bebauung Sackgassen von Anfang an vorgesehen waren.
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Um innerhalb der Sackgasse den privaten Bereich des Einfamilienhauses zu schützen, sind die Hauseingänge beiderseits der Gasse stets leicht versetzt und niemals vis a vis. Der Zugang zum Innerbereich wird so über ein Eck geführt, dass der Blick nur auf die Wand fallen kann. Weiters liegt die Eingangstüre von Eckhäusern niemals an der Durchgangsstrasse, sondern auf der Sackgasse (Ehrenberger, Grosskinsky, 2001). 4. Die Rolle des Stadtzentrums als öffentlicher Begegnungsraum mit Moschee und Basar als prägendem Kristallisationspunkt Dem Stadtzentrum wird in der Regel eine hohe Bedeutung beigemessen, wobei die räumliche Ordnung der einzelnen Funktionen ganz bewusste Planungen zugrunde liegen. Zu den wichtigsten Einrichtungen zählen neben dem Palast als Sitz der Herrschaft, die Moschee und das Minarett als Wahrzeichen religiöser Funktionen und der Marktplatz mit Geschäftshäusern und dem Basar als wirtschaftliches Zentrum der Stadt. Im Regelfall ist das Zentrum mit den Stadttoren über große Hauptverkehrsstrassen verbunden; diese gliedern die Wohnbereiche zwischen Stadtzentrum und Stadtgrenze in Sektoren oder Stadtviertel (Wirth, 2000, S. 167). Wichtigstes Bauwerk im Stadtzentrum ist die Moschee. Das arabische Wort „Mashid“ von dem der Begriff Moschee abgeleitet ist, bezeichnet den Ort des „Sichniederwerfens“, also den gemeinschaftlichen Gebetsplatz, der von Anfang an auch lokaler Versammlungsplatz der Gemeinschaft war. Als Bauwerk und als Institution ist die Moschee untrennbar mit jeder größeren Ansiedlung von Muslimen verbunden. Zum Bauwerk einer Moschee gehören ein überdachter Betsaal (haram) daran anschließend ein meist mit Arkaden und Galerien (riwaq) umgebener Hof (sahi) sowie Nebengebäude wie Bibliothek, Wohnräume und Latrinen. Unmittelbar dazu gehören die Minarette, von denen die Gebetsrufer (Muezine) zum Gebet aufrufen. Die zentrale Moschee der Stadt ist die Freitagsmoschee; diese hat deshalb eine hohe politische Bedeutung, weil sie von den Regierenden immer wieder für Freitagsansprachen benutzt wird (Bianco, 2001, S. 156). Die Freitagsmoschee war stets der wichtigste spirituelle Ort der Stadt und obendrein des politischen Lebens. Die Moscheen dienen neben dem mehrmals täglich stattfindenden gemeinsamen Gebet den einmal wöchentlich stattfindenden Reden, aber auch der Rechtssprechung durch den Kadi. In den Zwischenzeiten wird die Moschee oft auch als Schule genützt, wo Gelehrte für alle zugänglich Vorlesungen halten. Die Moschee ist vor allem ein der Gemeinschaft dienender Versammlungsraum, kein Sakralraum wie in der christlichen Kirche, wobei vom Minarett jeweilig der Muezin den Beginn der fünftägigen Gebete vornimmt.
Wiederaufbau der Stadt Bam
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In enger Verbindung mit der Moschee und dieser oft angegliederten Wohlfahrtseinrichtung spielt die Abwicklung des Handels und dies vornehmlich im Basar eine ganz wesentliche Rolle im Stadtzentrum. „Der Basar ist der meist im Zentrum gelegene traditionelle Geschäftsbezirk, er hat einen festen, in erster Linie wirtschaftlichen Bedürfnissen dienenden Baubestand und wird (abgesehen von Feiertagen) täglich betrieben“ (Wirth, 2000, S. 109). Der jeweilige Basar fasst in enger organisatorischer und finanzieller Verpflichtung den stationären Einzelhandel und ambulanten Handel, die privaten und öffentlichen Dienstleistungen, den Groß- und Zwischenhandel, das Finanz- und Kreditwesen, das Handwerk und Gewerbe zusammen. Der Basar ist somit ein komplexes, soziales Interaktionssystem mit regelhaftem Strukturgefüge, welches durch die Funktionszusammenhänge des Systems bedingt wird (Wirth, 2000, S. 107). Klarer als in den mittelalterlichen Städten Europas findet im Basar eine räumliche Sortierung der einzelnen Branchen statt. Oft liegen Fertigung, Großhandel und Einzelhandel, sowie Verkauf, Verpackung und Zubehör desselben Endproduktes in enger Nachbarschaft. 5. Zusammenfassende Darstellung wichtiger Elemente der iranischen Stadt − Stadtgrundriss Die meisten orientalischen Städte sind ursprünglich nach einem klaren, regelmäßigen Schema angelegt worden. Dieser ursprüngliche Grundriss verlor sich aber im Laufe der Zeit viel stärker, als das beispielsweise bei abendländischen Städten der Fall war. Die einstmals linearen Durchgangsachsen verlaufen heute kurvenreich mit häufig wechselnder Straßenbreite, die Wohngebiete sind stark verwinkelt. Ein Grund liegt darin, dass die Regelungen des städtischen Bauwesens durch die Vorschriften der islamischen hisba weniger streng sind und waren, als dies etwa in der Antike oder in Mitteleuropa der Fall war. Seit Mohammed oblag die Aufsicht über Straßen und Plätze dem muhtasib. Seine Aufgabe bestand in der Regel lediglich darin, Sorge zu tragen, dass der Durchgangsverkehr nicht behindert wird. Außerdem scheinen repräsentative oder stadtarchitektonisches Zwecke für die großen Durchgangsachsen der orientalischen Stadt weniger wichtig zu sein. − Sackgassenstruktur In den Städten Nordafrikas und Vorderasiens existieren zwei unterschiedliche Straßentypen: Die Hauptverbindungsachsen, die in einem relativ weitmaschigen Netz das Stadtzentrum mit den Toren verbinden und die einzelnen Stadtquartiere erschließen. Dem stehen die verwinkelten Sackgassen innerhalb der Quartiere gegenüber. Sie sind halböffentlich und schon fast dem Privatbereich der dort lebenden Familien zuzuordnen.
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− Innenhofhaus Ein typischer Baustein orientalischer Städte ist das Innenhofhaus: Sämtliche Räume oder Gebäudeteile sind um einen Innenhof herum gruppiert und öffnen sich zu ihm. Die Außenwand ist meist fast fensterlos. Der Zugang von der Gasse zum Hof erfolgt durch einen mehrfach abknickenden Korridor, sodass der Blick in den Privatbereich verwehrt bleibt. − Wohnviertel- Quartiere Die Städte Nordafrikas und Vorderasiens sind seit der Eroberung durch den Islam in streng voneinander getrennte Wohnviertel und Quartiere aufgeteilt: Nach verschiedenen Religionen, Konfessionen, Nationalitäten, Sprachgemeinschaften, Sippen, die sich gelegentlich auch feindlich gegenüberstehen. − Sicherheitsbedürfnis In den meisten orientalischen Städten sind absperrbare Türen und Tore am Eingang von Sackgassen und zwischen den Quartieren obligat. Zum einen grenzen sich die verschiedenen Quartiere dadurch voneinander ab, zum anderen erfüllt dies auch gewisse Wehr- und Schutzfunktion. − Zentrale Geschäftsviertel Geschäftszentren dieser Art existieren nur im islamischen Kulturbereich. Der große Bazar im Herzen der Stadt ist daher ein prägendes, charakterisierendes Element. − Vielgliedrige Großkomplexe In den zentralen Geschäftsbezirken sind Wirtschaftsbauten unterschiedlicher Funktion zu umfangreichen, architektonisch einheitlichen Baukomplexen zusammengefasst: Um eine große Bazarhalle herum fügen sich deshalb mehrere kleine Höfe, Hallen, Bazargassen und Gewölbe achsensymmetrisch zu einem multifunktionalen Bau (Ehrenberger, Grosskinsky, 2001). Quellenverzeichnis Bianco, S. (2001), Hofhaus und Paradiesgarten – Architektur und Lebensformen in der islamischen Welt, C. H. Beck, München. Ehrenberger, S., Grosskinsky, A. (2001), Die orientalische Stadt- Bericht zum städtebaulichen Entwurfs Jazd, unveröffentlichtes Manuskript, Wien. FAZ (2004), Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 176, 1. Juli 2004. Ghaffar-Sedeh, A. (1990), Grundlagen und Gestaltungsprinzipien der traditionellen Städte Zentralirans, Stuttgart. Rainer, R. (1977), Anonymes Bauen im Iran, Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz. Vitra Design Museum (2003), Leben unter dem Halbmond. Die Wohnkulturen der ararbischen Welt. Ausstellungskatalog, Weil am Rhein. Wirth, E. (2000), Die Orientalische Stadt im islamischen Vorderasien und Nordafrika, Mainz.
Zur Entstehung und Entwicklung informeller Siedlungen im Verstädterungsprozess der Agglomeration Mexico City Christina Narval 1. Marginalisierung und Wohnverhältnisse Schlagzeilen wie „Mexiko City, die größte Stadt der Welt“, „Mexiko City, internationale Konzerne investieren in den Aufbau der Stadt“, „Mexiko City, errichtet auf den Trümmern der Azteken“, „Mexiko City, die Slums klettern die umliegenden Hügel empor“ geistern immer wieder durch die Medien. Wenn wir von Mexiko City sprechen, wovon sprechen wir genau? Die Verwaltungsgrenzen des Distrito Federal (D.F.), die noch 1950 die besiedelte Fläche von Mexiko City widerspiegelten, geben heute kein umfassendes Bild der Metropole. Über die Hälfte der 20 Mio. Einwohner leben im Umland, in der Zona Metropolitana del Valle de México (ZMVM), deren städtische Bebauung nahtlos und unbemerkt die Verwaltungsgrenzen überschreitet und eines der größten und bekanntesten Viertel der Stadt, den Bezirk Nezahualcoyotl, mit einschließt. Wie beinahe jede lateinamerikanische Stadt herrscht auch unter den Bewohnern von Mexiko City ein starkes soziales Gefälle. Rund 45 % der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ist ohne Anstellung. Der Einstieg in das geordnete Berufsleben wird dadurch erschwert, dass in D.F. im Jahr 2000 4 % der über 15-Jährigen als Analphabeten registriert waren, weitere 17 % hatten keinen Volksschulabschluss (Programas de población del Distrito Federal 2001–2006). Aber auch eine reguläre Anstellung ist kein Garant für ein finanzielles Auskommen. Rund 20 % der Beschäftigten müssen mit einem Äquivalent von weniger als einem Mindestgehalt von USD 4,50/Tag (Ley Laboral Mexicana) ihre ganze Familie ernähren. Besonders von der Marginalisierung betroffen sind aus ländlichen Gebieten zugezogene Bevölkerungsgruppen, die oftmals auf Unverständnis ihrer Lebensweisen und soziale Diskriminierung stoßen und meist ein niedrigeres Bildungsniveau als die Stadtbevölkerung vorzuweisen haben. Indigene haben zusätzlich mit Kulturunterschieden und sprachlichen Barrieren zu kämpfen. Die Marginalisierung einzelner Bevölkerungsgruppen manifestiert sich besonders in den Wohnverhältnissen. Die hohen Mietpreise machen für viele Familien den größten Teil der monatlichen Fixkosten aus, obwohl bereits 1,8 % in Wohnungen ohne Kanalisation, 3,3 % ohne Fließwasser im Haus, 0,7 % ohne Elektrizität und 2,5 % in Unterkünften, die auf bloßem Erdboden errichtet sind, leben. Zudem kommt bei 46 % der Fälle der hohe Überbelag hinzu (Programa delegacional de desarrollo urbano de Iztapalapa, 2000).
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Diese Zahlen basieren auf offiziellen Statistiken als Durchschnitt der Stadt Mexiko D.F. Durch die starken Disparitäten finden sich Bezirke, deren Wohlstand weit über europäische Verhältnisse hinaus geht, in anderen ist der oben genannte Anteil der Bevölkerung in schlechten Wohnverhältnissen allerdings wesentlich höher. Die Stadtregierung hat das Problem wohl erkannt und ist teilweise auch bemüht, der unzureichenden Wohnsituation Herr zu werden. Das Institut für Wohnungswesen vergibt Kleinkredite für Wohnbau, die zu einem großen Prozentsatz auch in die Aufwertung bereits bestehender Substandardwohnungen vor allem im Zentrum der Stadt fließen. Die zur Verfügung gestellten Sozialbauten können allerdings die stetig steigende Nachfrage nicht decken. Das städtische Rechts- und Organisationssystem wird den Bedürfnissen der marginalisierten Bevölkerung nicht gerecht, wodurch diese schrittweise aus dem formalen System ausgeschlossen und in die Illegalität gedrängt werden. So entstehen informelle Siedlungen abseits des legalen Immobilienmarkts, in dem sich gleichzeitig ein reichhaltiger informeller Sektor parallel zum einkommenssteuerpflichtigen Arbeitsmarkt etabliert. Informelle Siedlungen entstehen über Nacht, doch es handelt sich hierbei keinesfalls um eine spontane Aktion, sondern bedarf einer langen Vorbereitungsphase. Die starke Landflucht zieht immer mehr Personen aus den verschiedenen Provinzen des Landes in die Stadt. Sie lassen sich zunächst in abgewerteten innerstädtischen Wohnvierteln nieder, die aufgrund ihrer alten Bausubstanz meist nicht den hygienischen Standards genügen. Hier mischt sich die städtische mit der einstigen Landbevölkerung zu einem Netzwerk von Gleichgesinnten, denen sich hier ungeachtet ihrer Herkunft ähnliche Probleme stellen. Denn die Mieten in den Substandardwohnungen sind verhältnismäßig hoch und übersteigen oftmals das Familieneinkommen. Daher müssen sich viele verschulden; eine negative Spirale, die unabwendbar scheint (Sassen 1996). So wächst der Wunsch nach Eigentum, um diesem belastenden Teil an monatlichen Fixkosten entgehen zu können. 2. Grundeigentum als Grundvoraussetzung für Wohlstand Die UN hat sich in ihrer United Nations Millennium Declaration (Target 11, Goal No. 7) das Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2020 die Wohnverhältnisse für mindestens 100 Mio. Slumbewohner (dies entspricht rund 10 % der derzeitigen Bevölkerung in Slums) zu verbessern. Zur Erreichung dieses ambitionierten Zieles wird der Fokus speziell auf die Verbesserung der bisher unausgewogenen Distribution von Land gelegt. Dieses Defizit, das eine gravierende Entwicklungsbarriere darstellt, wurde im Poverty Report der UNDP (2000) wieder hervorgehoben. Bereits Winston Churchill bezeichnete Land als Notwendigkeit jeglicher menschlicher Existenz, als Grundvoraussetzung für Wohlstand und nur beschränkt verfügbares Gut und meinte daher, dass
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Grundbesitz von allen anderen Formen von Besitztum aufgrund seiner fundamentalen Funktionen zu unterscheiden ist (Churchill, 17. Juli 1909). Dennoch sind bereits in den vergangenen drei Jahren weltweit weitere 75 Mio. Slumbewohner hinzugekommen, anstatt wie angestrebt eine Reduktion zu verzeichnen. Es stellt sich daher die Frage, ob das bestehende ökonomische und legistische System einen adäquaten Rahmen für die ausgewogene Verteilung dieses speziellen und einzigartigen Guts Land bildet. Slumbewohner befinden sich in einem steten Teufelskreislauf. Sie leben auf Grundstücken, die aufgrund ihrer schlechten Lage sowie unzureichender sanitärer Einrichtungen einen nur geringen monetären Wert besitzen. Ziel ist es nun, durch Investitionen diese schlechten Bedingungen zu verbessern. Die dadurch eintretende Wertsteigerung der Liegenschaft spiegelt sich aber gleichzeitig im Marktwert und damit in den Mietpreisen wieder. So werden die Slumbewohner gerade mit Erreichung ihrer angestrebten Ziele aus ihrem Wohnumfeld verdrängt. Sie müssen die aufgewerteten und somit nicht mehr erschwinglichen Wohnquartiere räumen und der Ring der Slums drängt weiter in die Außenbezirke der Stadt. Eine Möglichkeit, diesen negativen Zirkel zu durchbrechen und eine nachhaltige Entwicklung von Slums herbeizuführen, sieht der Ökonom Hernando de Soto (2000) in der Übertragung der Liegenschaften in das Eigentum ihrer Bewohner. Investitionen zur Verbesserungen der Lebensbedingungen werden dadurch angeregt, dass diese im Eigentum des Betreffenden bleiben. Auch von der damit hervorgerufenen Wertsteigerung der Liegenschaften profitieren die Bewohner nun direkt und können Hypotheken auf ihr Grundstück aufnehmen und den Kredit für den Aufbau ihrer Unternehmungen verwenden. Erstmals mit dem Erlangen von Eigentum kann in die Zukunft und den weiteren Aufbau von Wohlstand investiert werden, im Gegensatz zum bisherigen rückwirkenden Abzahlen von Mieten – Kapital, das für die Zahlenden verloren ist. Eben dieses Ausbrechen aus der finanziellen Spirale überhöhter Mietwohnungen durch Erlangung von Grundeigentum ist das Ziel der Initiativen der Landnahme. 3. Die Entwicklungsschritte informeller Siedlungen – von der Landnahme zum Eigentum Fällt die Entscheidung zur Landnahme, schließt sich eine Gruppe von Siedlern zusammen, die langsam Rücklagen von Grundkapital für den Kauf von ersten Baumaterialien bilden sowie Nachforschungen bei der Auswahl des zu besetzenden Gebiets anstellen. Die Übernahme wird sorgfältig geplant, sogar die künftige Aufteilung der Parzellen und des Baus von „öffentlichen Einrichtungen“ (z. B. kommunaler Versammlungsraum, Gemeinschaftsküchen) wird im Vorfeld festgelegt.
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Die eigentliche Landnahme erfolgt in einer einzigen Nacht, in der alle Siedler gemeinsam das ausgewählte Gebiet besetzen, die Parzellierung des Gebiets vornehmen und schnell, mit einfachsten Mitteln die ersten kleinen Baracken aufstellen. In wenigen Stunden hat sich das leere Feld in eine riesige Siedlung verwandelt. Um einer sofortigen Räumung des Gebiets durch polizeiliche Intervention vorzubeugen, wird die mexikanische Flagge gehisst und die Sieldung meist nach einem berühmten geschichtlichen bzw. derzeitigen mexikanischen Politiker oder dessen Gemahlin benannt, was Patriotismus und nicht Rebellion demonstrieren soll. Der Akt der Landnahme ist allerdings erst der erste Schritt im Zuge einer langwierigen Entwicklung der informellen Siedlungen hin zu einem neuen, rechtlich und baulich integrierten Stadtviertel. Im Zuge der einzelnen Entwicklungsphasen kann es jederzeit wieder zur Auflösung der Siedlung kommen, wenn sie entweder gewaltsam von den Behörden oder privaten Eigentümern geräumt oder aber auch von den Siedlern selbst aufgrund von widrigen ökologischen Umständen (Hangrutsch, Hochwasser etc.) verlassen wird. Denn meist handelt es sich um Gebiete, die deshalb bisher ungenutzt sind, weil sie aufgrund ihrer Bodenbeschaffenheit nicht für Bebauung geeignet sind. Wird die Siedlung einmal von den lokalen Behören akzeptiert und der gegenseitige Kontakt aufgenommen, tragen diese nicht selten sogar ihrerseits zur Etablierung der Siedlung bei. Gemeinsam werden Pläne für die Erschließung des Gebiets entworfen und Investitionen in Sanitäreinrichtungen getätigt. Im Gegensatz zur Entwicklung formeller Siedlungen, in der die Aufschließung mit städtischer Infrastruktur (Kanalisation etc.) vorausgesetzt wird und der Grunderwerb dem Wohnungsbau vorausgeht, vollzieht sich der Prozess in informellen Siedlungen in umgekehrter Reihenfolge (siehe Abbildung 1 und 2). Durch die Landnahme geht das ausgewählte Gebiet zwar zunächst in den illegalen Grundbesitz der Siedler über, und aufgrund des Aufbaus provisorischer Baracken könnte man bereits von Hausbesitz sprechen, der Grunderwerb und damit das Übergehen von der Illegalität in legales Eigentum ist erst der letzte Schritt, auf den schließlich die Aufschließung des Gebiets mit städtischer Infrastruktur erfolgt. Ziel der Siedler ist es nicht, Land zu stehlen, Ziel ist die Erreichung des rechtmäßigen Eigentums der Liegenschaft. Sie suchen den Dialog mit den Eigentümern (meist öffentliche Hand), um in kleinen, ihren Einkommensverhältnissen entsprechenden Raten, das Land abkaufen zu können. Die Aufnahme eines Kredits kann nicht als Lösung angeboten werden, da einerseits die Rückzahlung der hohen Zinslast zu einer lebenslänglichen Verschuldung führen würde, andererseits auch die fehlende Kreditwürdigkeit der Siedler meist den Zugang zu Krediten verwährt.
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Informelle Siedlungen in Mexiko City Abbildung 1: Entwicklung formeller und informeller Siedlungen Entwicklungsschritte formeller Siedlungen Grundeigentum
Aufschließung
Grunderwerb
Hauseigentum
Wohnungsbau
Wohnungsbau
Landnahme/Einzug
Einzug
Aufschließung
Illegaler Landbesitz
Grunderwerb
Hausbesitz
Eigentum
Entwicklungsschritte informeller Siedlungen
Quelle: eigene Darstellung. Abbildung 2: Von der Landnahme zum Eigentum Landnahme durch „paracaidistas“
Bau von Baracken
Gewaltsame Räumung / Verlassen des Gebietes
Illegaler Landbesitz
Ersetzung von Baracken durch einfache Ziegelhäuser mit Wellblechdach
Bau von fundamentierten Betonbauten
Einleitung des Konsolidierungsprozesses
Parzellierung
Erlangung von Eigentum
Infrastrukturaufschließung
Schrittweiser Ankauf der Parzellen durch die Siedler
Quelle: eigene Darstellung.
Im Vergleich informeller Siedlungen in verschiedenen Teilen der Erde lassen sich ähnliche Entwicklungsstadien der Infrastrukturversorgung erkennen (World Bank, LSMS Surveys). Mit steigendem Haushaltseinkommen kann eine Grundversorgung mit verschiedenen Infrastruktureinrichtungen graduell gedeckt werden. Die erste Errungenschaft jeder informellen Siedlung ist die Versorgung mit elektrischem Licht. Dies vor allem deshalb, weil Elektrizität problemlos von zentralen Masten abgezapft werden kann, also vorerst kein Entgelt geleistet wird. Dafür ist allerdings auch mit Unregelmäßigkeiten und
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gelegentlichen Ausfällen zu rechnen. Als nächste Stufe werden von den Siedlern in eigner Initiative Latrinen errichtet, im Weiteren ergänzt durch die Entsorgung der Abwasser über eine technisch einfache Form der Kanalisation. Offene Kanäle sind aus hygienischen Gründen problematisch, in der Trockenzeit legt sich der Gestank gleichmäßig über die Siedlung, in der Regenzeit treten die Abwasser über die Ufer und verseuchen den Boden und damit das Grundwasser. Die Bereitstellung von Fließwasser im Haus wird erst zu einem ziemlich späten Zeitpunkt im Aufwertungsprozess möglich. Zunächst werden gemeinschaftliche Wasserstellen in der Straße errichtet. Durch Unregelmäßigkeiten in der Energieversorgung kommt es allerdings auch hier zu häufigen Ausfällen der Pumpen, was zu schlechter Wasserqualität (oft vermischt mit Erde etc.) führt. Vor allem aufgrund der laufenden Gebühren ist der Telefonanschluss einer der letzten Investitionen, die eine Familie einer informellen Siedlung tätigt. 4. Der informelle Sektor in informellen Siedlungen Mit Fortschreiten des Konsolidierungsprozesses steigt die Rechtssicherheit der besetzten Grundstücke und damit die Bereitschaft zur Tätigung von Investitionen. Die ersten einfachen Baracken werden durch bessere Materialien und stabilere Konstruktionen ausgetauscht. Auch der Wert der Liegenschaft nimmt zu. Es entsteht ein Markt über ein Gut, das offiziell nicht im Eigentum des Verkäufers ist und offiziell nicht in das Eigentum des Käufers übergeht. Die Vermietung der eigenen Parzelle ist hingegen problematisch. Vor allem in den ersten Entwicklungsphasen ist die persönliche Anwesenheit wichtig, da es später schnell zu Streitigkeiten über Ansprüche an der Liegenschaft kommen kann. Nicht nur der informelle Immobilienmarkt, sondern auch informelle Wirtschaftssysteme etablieren sich in direkter Reaktion auf den neu geschaffenen Bedarf in der Zone. Sofort nach der Landnahme decken „fliegende Händler“ die Versorgung der neu hinzugekommenen Siedler. Es handelt sich hierbei um eine flexible Verkaufsform (kein fixer Standplatz). Kleine Quantitäten von meist selbst zubereiteter Waren zum direkten Konsum (Speisen, Delikatessen etc.) werden angeboten, die jeder Händler auf seinem Weg durch die Siedlung lautstark anpreist. Die Aufnahme eines derartigen Unternehmens erfordert keine großen Anfangsinvestitionen (keine Eintrittsbarrieren durch fehlendes Kapital oder Kreditwürdigkeit) und kann flexibel der Nachfrage angepasst werden. Dadurch, dass Straßenverkäufer über keinen fixen Standplatz verfügen, sind die Wachstums- und Entwicklungsmöglichkeiten limitiert. Märkte bilden eine komplexere Verflechtung im Wirtschaftsgefüge. Sie nehmen einen fixen Platz innerhalb des besetzten Gebiets ein. Dadurch wird der Aufbau einer Stammkundschaft erleichtert. Nicht mehr ausschließlich
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selbst zubereitete Speisen werden angeboten, sondern eine reiche Auswahl an Waren, die von Groß- oder Zwischenhändlern angekauft werden. Dies erfordert höhere Anfangsinvestitionen, zumal zusätzlich noch die Platzgebühr (für Infrastruktur sowie den Bau des Marktstandes) finanziert werden muss. Dies macht den Aufbau von Kontakten zu potenziellen Kreditgebern bei gleichzeitiger Demonstration von Vertrauenswürdigkeit notwendig. Zum Schutz des Marktes vor Behördeneingriffen schließen sich die Händler zu einer Kooperative zusammen, die die Organisation des Marktes übernimmt. 5. Armut, Demokratie und informelle Organisationsformen In der Literatur wurde das Thema der Armut und der damit zusammenhängenden Implikationen auf Lebensweisen sowie Beteiligung am politischen Diskurs untersucht. Fehlende wirtschaftliche und soziale Sicherheit führt zu eigenen Verhaltensformen und Interaktionsmustern (Kersting 1996). Zunächst wurde die „Kultur der Armut“ (Lewis 1966) ausschließlich mit der Charakteristik hoher Kriminalitätsraten sowie des Alkohol- und Drogenmissbrauchs besetzt. In Mexiko sowie in gesamt Lateinamerika würden sich die Bewohner informeller Siedlungen aufgrund von fehlender sozialer Integration weder sozial noch politisch organisieren. Das Bewusstsein ihrer wirtschaftliche Situation stürze sie in eine fatale Resignation, die auch an ihre Nachkommen weiter gegeben wird, weshalb eine positive Entwicklung, d. h. vertikale soziale Mobilität, auch über die Generationen nicht erwartet werden kann. Dem gegenüber heben sich heute bereits Stimmen, die eine differenziertere Sichtweise der Verhaltensweisen in informellen Siedlungen vertreten. Fehlende soziale Integration muss nicht zwangsläufig Apathie bedeuten, sondern kann in einigen Fällen im Gegenteil zur Etablierung interner Organisationen führen, die die gleichen Funktionen erfüllen wie jene, von deren Beteiligung sich die Siedler ausgeschlossen sehen (Wülker 1991). Diese Organisationen fokussieren sich zunächst auf die Lösung sozialer, ökonomischer und medizinischer Probleme im direkten näheren Umfeld, gehen aber oft auch über diese Nachbarschaftshilfe hinaus und bringen unterschiedlich ausgeprägte politische Partizipation der marginalisierten Bevölkerungsgruppen hervor, dies vor allem in radikalen linksgerichteten Parteien (Castells 1983). In diesem Sinne ist auch die Behauptung, dass Wohlstand eine Voraussetzung für Demokratie sei (Lipset 1994), differenziert zu hinterfragen. Demokratien in Entwicklungsländern basieren wohl auf einem eingeschränkten Fundament, da sie meist nur von einer kleinen Schicht Privilegierter geführt werden (Hippler 1995), tatsächlich hat ein demokratisch geführtes Land allerdings größeres Potenzial, eine langfristig positive wirtschaftliche Entwicklung aufzubauen als dies unter diktatorischen Regimen der Fall ist (Sen 1999). Und auch marginalisierte Bevölkerungsgruppen partizipieren zuneh-
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mend an der politischen Diskussion. Beginnend mit dem Aufbau interner Organisationsformen noch lange vor der Landnahme selbst, bilden sich aus den Siedlerinitiativen politische Gruppierungen heraus, die lange nach Abschluss des Konsolidierungsprozesses der informellen Siedlung fortbestehen und die weitere Integration deren Bewohner ins öffentliche gesellschaftliche Leben forcieren. Am Südrand von Mexiko City, in den Ausläufern des Bezirks Iztapalapa, entstand eine Reihe von informellen Siedlungen, die im Zuge des Aufwertungsprozesses beispielhaft in ihrer Organisation sind. Deshalb soll im Folgenden auf deren Grundsätze genauer eingegangen werden (die Beschreibungen beruhen auf einer eigenen siebenmonatigen Studie unter teilnehmender Beobachtung). Während der Wirtschaftskrise der 70er Jahre bildeten sich einige Siedlerinitiativen, deren Gründung auf die rasante Zunahme der Land-StadtMigration und die damit zusammenhängende Verarmung vieler Bewohner von D.F. zurück geht. Der soziale Wohnbau konnte die starke Zunahme von Einwohnern nicht auffangen. Die Organisation Frente Popular Francisco Villa (FPFV) wurde gegründet, als nach einer Vielzahl von Landnahmen die Stärke der Massen entdeckt wurde, und stellte ihre bereits erworbenen Erfahrungen in den Dienst anderer. Heute leben etwa 22 % der Familien in Iztapalapa in informellen Siedlungen. Die Mühlräder im Entwicklungsprozess laufen allgemein langsam. Einige Siedlungen bestehen bereits seit zehn Jahren, in denen ihre Einwohner in Ziegelhäusern unter Wellblechdächern auf gestampftem Erdboden leben und für die Errichtung fundamentierter Häuser sowie die Aufschließung des Gebiets mit Trinkwasser und Kanalisation kämpfen. Die Siedler bewegen sich außerhalb des staatlichen Organisationssystems. Es herrscht allerdings kein anarchisches, unorganisiertes Chaos, es entsteht eher eine Art „Staat im Staat“ mit einer demokratisch gewählten Führungsebene. Die Siedler bewegen sich außerhalb des staatlichen Sicherheitssystems, was nicht zwangsläufig zum „Recht des Stärkeren“ führt, sondern zur Entstehung extralegaler Normen, deren Einhaltung durch die starke soziale Kontrolle gesichert wird. Die Notwendigkeit, den neu errungenen Grundbesitz zu schützen und aufzuwerten in Kombination mit der Vision der Verbesserung der Lebensqualität (Schaffung einer „besseren“ Welt) leitet die Selbstorganisation der Siedler. Die Arbeit der Führungsebene, als Vertreter der Siedler nach außen sowie Sicherung des internen Ordnungssystems, wird von den Siedlern bezahlt. Deren Aufgaben beinhalten die Kontaktaufnahme mit den Behörden, um Verhandlungen über das weitere Prozedere zur Legalisierung der informellen Siedlung und zur Infrastrukturbereitstellung aufzunehmen. Gleichzeitig übernehmen sie die Verwaltung des Budgets der Siedler, das für den Kauf der Parzellen (regelmäßige Zahlungen) schrittweise beiseitegelegt wird, und die
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interne Organisation innerhalb der Siedlung. Hier gibt es eine klare Aufgabenverteilung (Verantwortliche für jede Aktivität), die von der Aufstellung von Wachposten (Umzäunung des Gebiets und Bewachung der Eingänge wie man es aus den Elitevierteln der Stadt kennt) über die Bereitstellung von sozialer Infrastruktur (Kultur, Kinderbetreuung etc.) bis hin zur Abhaltung von Kursen der Erwachsenenbildung und Veranstaltungen zur Bewusstseinsbildung (Hygiene, Familienplanung, Bildung, Gesundheit etc.) reicht. Die Legislative basiert auf einer hohen sozialen Moral (kein Alkoholismus; Achtung der Ehe; liberale, emanzipierte Kindererziehung etc.), die Gemeinschaftssinn und Nachbarschaftshilfe selbstverständlich mit einbezieht. Die Führungsebene wird respektvoll akzeptiert, doch ist die aktive Beteiligung an Gemeinschaftsaktivitäten und Plenarveranstaltungen jedes einzelnen Siedlers wesentlich, um einen gemeinschaftlichen Zusammenhalt erreichen zu können. Bei Konflikten, die zwischen einzelnen Parteien in der Sieldung auftreten, schreitet auch die Polizei als Exekutive nicht ein, die Siedler befinden sich im rechtsfreien Raum. Hier wird ebenfalls die Siedlervertretung zu Schlichtungsgesprächen einbezogen. Nach mehrmaliger Aussprache von Verwarnungen kann der Täter schließlich sogar aus der Siedlung ausgeschlossen werden. Der Schritt in den informellen Bereich vollzieht sich schnell und unbemerkt. Der Ausbruch aus dieser Spirale dagegen bedarf jahrelanger Anstrengung. Dennoch bilden sich bereits Beispiele der Selbstorganisation heraus, die alternative Wege zur nachhaltigen Entwicklung informeller Siedlungen beschreiten. Ziel internationaler Operationen sollte daher die Unterstützung dieser lokalen Ansätze beinhalten, bereits bestehende Institutionen stärken und vor allem gleichzeitig mit der Diskussion bereits die Implementierungsphase starten. Denn für die betroffene Bevölkerung ist jeder verstrichene Tag, der nicht zielgerichtet an der Verbesserung der Lebensbedingungen ansetzt, ein verlorener Tag, der die bestehenden Probleme noch potenziert und damit die Lösung komplexer und aufwendiger macht. Quellenverzeichnis Castells, M. (1983), The City and the Grassroots, London. De Soto, H. (2000), The Mistery of Capital, New York. Hippler, J., ed. (1995), The Democratization of Disempowerment, London. Kersting, N. (1996), Urbane Armut. Überlebensstrategien in der „Dritten Welt“, Verlag für Entwicklungspolitik, Saarbrücken. Lewis, O. (1966), The Culture of Poverty, in: Scientific American 215. Lipset, S. (1994), The Social Requisits of Democracy Revisted, in: American Sociological Review, 59 (1), pp. 1–22. Programas de población del Distrito Federal 2001–2006. Programa delegacional de desarrollo urbano de Iztapalapa, 2000. Sassen, S. (1996), Metropolen des Weltmarkts. Die neue Rolle der Global Cities, Frankfurt.
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Sen, A. (1999), Democracy as a Universal Value, in: Journal of Democracy, Vol. 10, No. 3, pp. 3–17. UNDP (2000), United Nations Development Programme, Poverty Report, Overcoming Human Poverty, New York. UN General Assembly (2000), United Nations Millennium Declaration, New York. Wülker, G. (1991), Verstädterungsprozeß in der Dritten Welt, in Oplitz, P.J., ed., Grundprobleme der Entwicklungsländer, München, S. 70–92. World Bank, LSMS (Living Standards Measurement Study) Surveys.
Entwicklungsstrategien und praktische Projektarbeit von HORIZONT3000 in Mosambik Ein Beitrag des autonomen Sektors zur österreichischen Entwicklungszusammenarbeit Friedbert Ottacher
Der autonome oder „Non Profit“ Sektor (oftmals auch als Dritter Sektor bezeichnet) stellt neben der direkten Kooperation auf zwischenstaatlicher Ebene das zentrale Standbein der Entwicklungszusammenarbeit (EZA) dar. Die Nichtregierungsorganisationen (NROen) aus dem Norden und dem Süden treten dabei als Partner auf und erbringen in den Entwicklungsländern die Leistungen, für die auf staatlicher und privatwirtschaftlicher Seite die Ressourcen bzw. das Investitionsinteresse fehlen. Der private Sektor ist in voller formeller Ausprägung – auch in Mosambik– wenig entwickelt, der Großteil der Transaktionen beschränkt sich auf den informellen Sektor. Auch der Staat hat aufgrund ineffizienter Verwaltungsstrukturen und bescheidenen Steueraufkommen nur einen eingeschränkten Aktionsradius und überlässt daher viele klassische Staatsaufgaben – wie Bildung und Gesundheitsversorgung – dem autonomen Sektor. Die zivilgesellschaftlichen Partnerschaften können diese Aufgaben jedoch nur kurz- bis mittelfristig erbringen, Projekte im Regelfall nicht länger als drei Jahre dauern. Folgephasen müssen mit den Fördergebern jedes Mal neu verhandelt werden, die Planungssicherheit ist daher relativ gering. NROen der Geberländer trachten deshalb danach, die staatlichen Akteure der Empfängerländer in die Pflicht zu nehmen. So muss bei jedem Infrastrukturprojekt, wie z. B. einem Schulbau, die Nachhaltigkeit – in dem Fall der fortlaufende Unterricht durch staatliches Lehrpersonal – im Vorfeld vertraglich vereinbart sein. Solange jedoch nicht auch die Zivilgesellschaft in den Empfängerländern aktiv die Versorgung von den staatlichen Stellen einfordert, bleibt jegliche Intervention der EZA Stückwerk. Die Kernbereiche des autonomen Sektors in der EZA sind Projekte im Sektor Demokratisierung und der Entwicklung der Zivilgesellschaft. Nur zivilgesellschaftliche Akteure können hier in Partnerschaft erfolgreich tätig werden. In diesem Bereich liegt auch der große Mehrwert der nördlichen NROen bei der Projektdurchführung. Ein technisches Büro oder ein Konsulent kann ein Projekt zwar technisch einwandfrei durchführen. Projekte im Sektor Demokratisierung erfordern jedoch Erfahrungen, die nur von NROen, die einen ähnlichen Aufbau und Hintergrund wie ihre südlichen Partner haben, eingebracht werden können.
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Als im Jahre 1992 in Rom der Friedensvertrag für Mosambik nach 16 Jahren Bürgerkrieg unterzeichnet wurde, stand die Demokratisierung des Landes ganz oben in der Agenda der Fördergeber. Folgerichtig wurde der Aufbau unabhängiger Medien – speziell von Kommunalradios – sowie von zivilgesellschaftlichen Initiativen unterstützt. Viele dieser „grass-root“ Bewegungen sind heute wieder verschwunden, einige jedoch entwickelten sich zu starken lokalen Institutionen oder sogar zu regionalen Netzwerken und befinden sich jetzt in der Konsolidierungsphase. Dabei werden sie unter anderen auch von HORIZONT3000 gezielt durch Bereitstellung von Fachkräften und durch Projektförderungen unterstützt. 1. Mosambik als Modell Mosambik hat als ehemals portugiesische Kolonie im Südosten Afrikas eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Um 1964 formte sich der erste militärische Widerstand gegen die portugiesischen Kolonialherren, nach Ausbruch der sogenannten Nelkenrevolution in Portugal wurde Mosambik gemeinsam mit anderen portugiesischen Kolonien wie Angola 1975 überstürzt und unvorbereitet in die Unabhängigkeit entlassen. Die Unabhängigkeitsbewegung FRELIMO (Frente Libertação de Moçambique) übernahm die Macht auf Basis einer marxistisch-leninistischen Einparteienregierung. Unterstützt von der weißen Apartheitsregierung in Südafrika etablierte sich 1976 in den Zentralprovinzen eine Widerstandsbewegung namens RENAMO (Resistência Nacional Mocambicana), die einen erbitterten Bürgerkrieg gegen die Zentralregierung in Maputo führte. Dieser Krieg kostete rund 600.000 Bürgern das Leben und führte zur Vertreibung von 2,5 Mio. Menschen, zum Einsatz von Kindersoldaten und zum Zusammenbruch der landwirtschaftlichen Produktion. Erst ein von der katholischen Kirche vermittelter Friedensvertrag zwischen FRELIMO und RENAMO beendete im Jahr 1992 den Bürgerkrieg und ebnete den Weg für demokratische Wahlen unter internationaler Beobachtung. In der Dekade danach gelang es der von der FRELIMO geführten Regierung, die Milizen zu demobilisieren, das Land zu öffnen, die Marktwirtschaft zu fördern und die Demokratie zu festigen. Mosambik erlebte einen moderaten Wirtschaftsaufschwung mit einem durchschnittlichen jährlichen Wirtschaftswachstum von 8,5 % (Worldbank, 2003) sowie einen regelrechten Ansturm von europäischen NROen und Regierungsvertretern, die ihren Beitrag zur Transformation Mosambiks leisten wollten.
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In den 90-iger Jahren galt Abbildung 1: Karte von Mosambik Mosambik nicht nur in Afrika als Musterbeispiel eines Landes, das sich nach einem erbitterten Bürgerkrieg rasch zu einer politisch stabilen Demokratie und einer ökonomisch aufstrebenden Nation entwickeln konnte. Zur Relativierung dieser Einschätzung muss man sich jedoch den auch im Jahr 2003 noch niedrigen Human Development Index (HDI) vor Augen führen: Im internationalen Vergleich liegt Mosambik unter 177 Ländern an 170. Stelle im globalen Ranking, das von Norwegen angeführt wird. Der HDI wird jedes Jahr neu erstellt und ist eine zusammengesetzte Maßzahl für den gegenwärtigen Stand der gesellschaftlichen Wohlfahrt. Er setzt sich aus drei Indikatoren zusammen: 1. Der durchschnittlichen Lebenserwartung bei der Geburt 2. Dem durchschnittlichen Bildungsniveau 3. Dem logarithmischen Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung (UNDP, 2003). Quelle: www.sepoangol.org/mozamb.htm. Die Verwundbarkeit der mosambikanischen Wirtschaft haben auch die Auswirkungen der verheerenden Flutkatastrophe im Jahr 2000 vor Augen geführt, als das jährliche Wirtschaftswachstum auf 2 % zurückfiel, was auf die starke Abhängigkeit von der Landwirtschaft schließen lässt (Worldbank, 2003). Mosambik erhält eine der höchsten Unterstützung durch andere Länder in Afrika und steht als Kooperationspartner bei einigen europäischen Partner-
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ländern an erster Stelle. So lagen die Pro-Kopf Zuwendung der Fördergeber im Jahr 1998 bei USD 61,5 bei einem durchschnittlichen Pro-Kopf- Einkommen von USD 200 (siehe ISSA, 2004). Auf Anforderung der internationalen Gebergemeinschaft, die im Jahr 2004 rund 790 Mio. USD für EZA-Projekte bereitgestellt hat (USAID, 2005), hat das mosambikanische Parlament schon 2001 eine Strategie zur Armutsreduktion (Poverty Reduction Strategy Plan (PRSP)) verabschiedet. Die Weltbank und der Internationale Währungsfonds sind in Mosambik an vorderster Front engagiert, so wurde Mosambik als sechstes Land in die HIPC (Heavily Indebted Poor Country) Entschuldungsinitiative aufgenommen und demzufolge Schulden in Höhe von 1,4 Milliarden USD erlassen (Worldbank, 2004). Der PRSP hat eine Geltungsdauer von 5 Jahren und definiert Rahmenbedingungen für ein schnelles und umfassendes jährliches Wirtschaftswachstum von 8 bis 9 %. Als Kernbereiche wurden dabei Bildung, Gesundheit, Landwirtschaft und Ländliche Entwicklung, Ausbau der Grundinfrastruktur, „Good Governance“ sowie verbessertes Finanzmanagement ausgewiesen. HIV/AIDS, von dem rund 13 % der erwachsenen Bevölkerung betroffen ist, wird als sektorübergreifendes Problem behandelt, d. h. alle Projektaktivitäten müssen auf ihre positiven und negativen Auswirkungen in der Ausbreitung von HIV/AIDS untersucht werden (UNAIDS, 2004). Die erfolgreiche Umsetzung des PRSP setzt eine funktionierende Verwaltung voraus, die in Mosambik nur sehr beschränkt gegeben ist. Die fortschreitende Dezentralisierung der Verwaltungsstrukturen hat jedoch erste Erfolge gebracht und soll bei der Umsetzung des PRSP weiter forciert werden. Der PRSP wurde mittlerweile für die meisten Entwicklungsländer erstellt und gilt als das wichtigste Referenzdokument sowohl für die jeweilige Regierungspolitik als auch für die Förderpolitik der nördlichen Geberstaaten. Die nördlichen NROen, die ihre Projekte neben Spenden zu einem großen Teil aus Förderungen ihrer nationalen Regierungen bzw. der Europäischen Kommission finanzieren, orientieren sich ebenfalls am PRSP. Das relativ junge Instrument PRSP konnte somit die Kohärenz der Programme steigern, eine Bemühung, die jahrelang nicht gefruchtet hatte, da die einzelnen Geberstaaten und NROen ihre Absichten weder sektoral noch regional abstimmten und daher oftmals in einer Region einander konkurrierende Projekte durchgeführt wurden. 2. Die österreichische Entwicklungszusammenarbeit in Mosambik Mosambik ist seit 1993 eines der acht Schwerpunktländer der staatlichen österreichischen Entwicklungszusammenarbeit (ÖEZA). Folglich unterhält das Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten eine eigene Vorortstruktur in Mosambik. Die Fördermittel sind mit rund 2,27 bis 5,52 Mio.
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EURO pro Jahr im österreichischen Vergleich hoch, im internationalen Vergleich jedoch relativ bescheiden. So leistete Großbritannien im Jahre 2001 USD 185 Mio. und die Vereinigten Staaten von Amerika USD 92 Mio. an Förderungen. Die mit Österreich vergleichbaren skandinavischen Länder gewährten Mosambik jeweils rund USD 50. Mio pro Jahr (ÖEZA, 2004). Somit beträgt der österreichische Anteil an den gesamten bilateralen Zuwendungen an Mosambik nur zwischen 0,5 bis 1 %, was im Anbetracht des Status von Mosambik als österreichisches Schwerpunktland beschämend ist. Im Vergleich zu den anderen 22 Ländern, die Projekte in Mosambik fördern, befindet sich Österreich nach Irland weit abgeschlagen am letzten Platz (USAID, 2004). Die ÖEZA hat auch – in Anlehnung an den mosambikanischen PRSP – ein Ländersektorprogramm für die österreichische Projektarbeit mit Mosambik erarbeitet. Darin wird eine Konzentration der Projekte auf die Zentrumsprovinz Sofala in den Sektoren Dezentralisierung und ländliche Entwicklung angestrebt. Die sektorale und regionale Fokusierung ist einerseits durch die geringen Ressourcen bedingt, soll aber auch die Expertise und das Profil der ÖEZA vor Ort erhöhen. Das Ländersektorprogramm der ÖEZA für Mosambik hat als Programmziel die „Reduktion der absoluten Armut und Verbesserung der Lebensbedingungen der Familien in ländlichen Gebieten der Provinz Sofala unter Einbeziehung aller Beteiligten in den Prozess einer nachhaltigen demokratiepolitischen, ökonomischen und sozio-kulturellen Entwicklung“ definiert (ÖEZA Landesprogramm Mosambik 2002–2004, S. 16). Projekte in den beiden Subsektoren Dezentralisierung und Ländliche Entwicklung sollen zu diesem Ziel beitragen. Im Subsektor Dezentralisierung ist als Ziel „die Absicherung der Grundrechte und des demokratischen Prozesses durch die Teilnahme der verschiedenen Akteure bei Planung und Umsetzung integrierter Entwicklungspläne in ausgewählten Distrikten und Munizipien“ ausgewiesen, während im Bereich der Ländlichen Entwicklung ein „Beitrag zur Armutsreduktion bei Familien in ländlichen Gebieten und seinen Zentren (Wachstumspolen) durch Ernährungssicherung, höhere Haushaltseinkommen sowie Verbesserungen bei Trinkwasserversorgung und adäquater Siedlungshygiene“ als Ziel definiert wurde (ÖEZA Landesektorprogramm Mosambik 2002–2004, S. 16). Das Ländersektorprogramm ist ein Standarddokument für alle acht Schwerpunktländer in der ÖEZA und wird – im Idealfall – alle drei Jahre evaluiert und überarbeitet. Die ÖEZA implementiert die Projekte nicht direkt, sondern schließt Förderverträge mit NROen oder Werkverträge mit technischen Konsulenten ab. Diese wurden in der Vergangenheit direkt vergeben, mittlerweile erfolgt die Vertragsvergabe über Ausschreibungen oder sogenannte „calls for proposal“. Bei letzteren werden NROen aufgefordert, für definierte Regionen bzw. Sektoren Projektvorschläge vorzulegen, die dann von einem Komitee geprüft und ausgewählt werden.
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3. Der Beitrag von HORIZONT3000 HORIZONT3000 ist als österreichische entwicklungspolitische NRO seit 1999 in Mosambik engagiert. Als Interventionsmethodik arbeitet HORIZONT3000 im klassischen Projektbereich, bietet darüber hinaus im Rahmen des Personalprogramms seit vier Jahren auch Fachexpertise an. Dabei werden auf Anfrage von lokalen Partnerorganisationen gezielt Fachkräfte in Europa rekrutiert und nach einem dreistufigen Auswahlprozess und einer mehrmonatigen Vorbereitung für zwei Jahre entsendet. Diese Projektmitarbeiter (früher: „Entwicklungshelfer“) arbeiten in unterschiedlichen Positionen direkt mit den Projektpartnern im Einsatzland zusammen. Die gesuchten Berufe richten sich dabei ausschließlich nach der Nachfrage im Einsatzland. Die Mitarbeiter von HORIZONT3000 in Mosambik stellen in Konsultation mit dem Partner sicher, dass für den Einsatz der Fachkraft genügend Ressourcen (Arbeitsplatz, Transport, Arbeitsmittel) zur Verfügung stehen, die Sicherheitssituation ausreichend und die Erwartungshaltung des Partners realistisch ist. Darüberhinaus wird darauf Wert gelegt, dass sich die zu schaffende Position für die ausländische Fachkraft in die bestehende Organisationsstruktur einfügt und nicht zu Konkurrenz oder Doppelgleisigkeiten mit lokalen Mitarbeitern führt. Der von HORIZONT3000 rekrutierte Projektmitarbeiter ist im Idealfall in beratender Position tätig. In der Praxis werden die Mitarbeiter aber oft in leitende Positionen gedrängt, auch in der Hoffnung, dass „weiße“ Mitarbeiter leichteren Zugang zu Fördermittel von nördlichen Regierungsstellen bzw. NROen finden. HORIZONT3000 konnte das Personalprogramm in den vergangenen vier Jahren rasch aufbauen, da die Nachfrage nach qualifiziertem Personal in Mosambik im Vergleich zu anderen Ländern der Region sehr hoch ist. Dies liegt vor allen im Erbe des Bürgerkriegs und dem damit einhergehenden Exodus der Elite begründet. So arbeiten in Mosambik nur wenige hundert heimische Akademiker, und diese wiederum zu einem Großteil in Projekten nördlicher NROen oder bei multilateralen Institutionen (wie UN-Teilorganisationen). Bis 1995 existierte in Mosambik, bei einer Einwohnerzahl von 16,5 Mio., nur eine Universität in der zentrumsfern gelegenen Hauptstadt Maputo. Erst seit 1996 gibt es eine zusätzliche Universität, die Universidade Catolica (Katholische Universität – UCM), die ein dezentrales Konzept verfolgt und ihre Fakultäten auf vier Standorte verteilt hat und einen dynamischen Expansionskurs verfolgt. Da es kaum heimisches Lehrpersonal gibt, werden verstärkt Mitarbeiter aus dem Ausland angefordert. Seit 2001 haben insgesamt sechs von HORIZONT3000 entsandte Mitarbeiter als Universitätsassistenten an der UCM sowohl in der Lehrplanentwicklung als auch in der Lehre gearbeitet. Bei der Auswahl der Projekteinsätze legt HORIZONT3000 Wert darauf, dass die bereitgestellten Fachkräfte nicht als reine „gap-filler“ – also Lückenfüller – fungieren, sondern auch
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Aktivitäten im Bereich Organisationsentwicklung, Qualitätssteigerung und Know-How Transfer zu lokalen Fachkräften durchführen. So wird im Vorfeld eine lokale Fachkraft („Counterpart“) bestimmt, die nach Rückkehr des österreichischen Projektmitarbeiters die Agenden vor Ort weiterführt. Neben der UCM arbeiten die meisten von HORIZONT3000 beschäftigten Fachkräfte als Organisationsentwickler für lokale NROen. Die meisten dieser NROen wurden nach dem Friedenschluss gegründet und sind in der Pionierphase stark gewachsen. Die nachfolgende Konsolidierungsphase stellt nun für viele lokale Organisationen ein Problem dar, weil ihnen die Qualifikation und Erfahrung in der Büroorganisation, Qualitätssicherung und Personalentwicklung fehlen. Bei solchen Einsätzen arbeiten die Fachkräfte meist als Berater des jeweiligen Geschäftsführers, der die Agenden nach Rückkehr des Projektmitarbeiters weiterführt. Während des zweijährigen Einsatzes wird der Arbeitsfortschritt regelmäßig von HORIZONT3000 beobachtet und evaluiert, nach Ablauf von 18 Monaten wird gemeinsam mit dem Projektpartner und dem Mitarbeiter über die Fortsetzung des Einsatzes, eine etwaige Nachbesetzung oder die Beendigung der Zusammenarbeit entschieden. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen und in Anlehnung an den Programmansatz der ÖEZA hat HORIZONT3000 im Jahre 2004 ein Ländersektorprogramm erstellt. Darin werden als zukünftige Sektoren Dezentralisierung, ländliche Entwicklung und Bildung definiert. Im Personaleinsatz wie auch bei Projektfinanzierungen wird darauf geachtet, dass jene Gebiete mit dem größten Bedarf bzw. mit der höchsten Armutsrate bevorzugt werden. Daher wurden im Ländersektorprogramm die drei Zentrumsprovinzen Manica, Tete und Sofala als Schwerpunktregionen festgeschrieben. Wie in anderen afrikanischen Ländern besteht auch in Mosambik der Trend zur Dezentralisierung von Staatsaufgaben auf lokaler bzw. regionaler Ebene. Diese Tendenz ist noch vergleichsweise jung und daher noch in der Aufbauphase. Sektorspezifische Erfahrungen von HORIZONT3000 in Tansania und Uganda haben folgende Erkenntnisse gebracht: Die öffentlichen Stellen auf lokaler und regionaler Ebene verfügen meist nicht über das Fachpersonal, um die an sie übertragenen Aufgaben durchführen zu können. Auch mangelt es oft an finanztechnischem Know-How, um nachvollziehbare Abrechnungen zu legen, Missmanagement ist oft die Folge. Darüberhinaus gibt es noch immer Widerstand auf nationaler Ebene, Geld und Verantwortung an die unteren Ebenen auszulagern. Daher steht der Einsatz von gut qualifizierten, erfahrenen Mitarbeitern im Zentrum der Überlegungen. Durch die Zusammenarbeit mit den Gemeinden werden sich Kontakte mit lokalen NROen und in Folge weitere Personaleinsatzmöglichkeiten ergeben. Der Ansatz, auf Distriktebene mittels technischer Zusammenarbeit die Kapazitäten der lokalen Regierungsinstitutionen zu stärken, soll helfen, den unbestritten notwendigen Dezentralisierungsprozess voranzutreiben und die Entscheidungen der Gemeinde- und Regionalentwicklung näher an die betroffenen Bürger heranzutragen.
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Tabelle 1: Überblick über die Personaleinsätze von HORIZONT3000 in Mosambik seit 2001 In Zusammenarbeit mit der Universidade Catolica (UCM) Wirtschaftspädagogin Lektorin am Institut für Ökonomie und Management Englischlektor Entwicklung von Lehrplänen für Englisch an der medizinischen Fakultät Englischlektor Entwicklung von Lehrplänen für Englisch an der Wirtschaftsfakultät Informatiker / Netzwerk- Errichtung eines Technologiezentrums Techniker Informatiker Entwicklung von Lehrplänen an der IT-Fakultät Tourismusfachkraft Lektorin für Tourismus, Lehrplanentwicklung In Zusammenarbeit mit mosambikanischen NROen Journalistin Organisationsberatung Kommunalradio Manica Politologin/Betriebwirt Organisationsberatung lokale NRO im Bereich Ländliche Entwicklung Sozialarbeiterin AIDS Waisenhaus Organisationsberaterin Organisationsberatung NRO für misshandelte Frauen, Frauenhaus Quelle: HORIZONT3000, 2004.
Dezentralisierung ist auch im Zusammenhang mit Demokratieförderung zu sehen. Im mosambikanischen Kontext bedeutet Demokratieförderung vor allem Unterstützung beim Aufbau eines politischen und administrativen System, das der Bevölkerung die Teilnahme und die Mitsprache an politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozessen ermöglicht. Somit wird die Entwicklung einer Gesellschaft begünstigt, die auf einer gleichen Gesetzgebung und Rechtsprechung für alle basiert, die sich ihrer Rechte bewusst ist und diese auch für sich – besonders auf lokaler und regionaler Ebene – einfordern kann. Im Sinne eines kohärenten Programms ist es für HORIZONT3000 wichtig, dass sich Projekte und Personaleinsätze auf Distrikt- und Lokalebene ergänzen bzw. gegenseitig verstärken. Daher sollen Aktivitäten – sowohl im Personalprogramm wie auch bei Projektfinanzierungen – immer beide Ebenen umfassen. Der Schwerpunkt im Personalprogramm von HORIZONT3000 liegt derzeit in der universitären Bildung (siehe Tabelle 1). Dieser Sektor entspricht nicht der staatlichen ÖEZA Schwerpunktsetzung, wird aber besonders bei Personaleinsätzen aufgrund seiner entwicklungspolitischen Relevanz und des lokalen Bedarfs weiter berücksichtigt werden. Im Sektor Landwirtschaft und ländliche Entwicklung gibt die österreichische Entwicklungszusammenarbeit grundsätzlich der Förderung der kleinbäuerlichen Produktion den Vorzug, wobei auf eine größtmögliche Zielgruppenorientierung und die technische und wirtschaftliche Nachhaltigkeit der Maßnahmen geachtet wird. Die Interessen von Frauen sind wegen ihrer ökonomischen und sozialen Benachteiligung und ihrer herausragenden Rolle für die kleinbäuerliche Landwirtschaft besonders zu berücksichtigen.
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In Mosambik bildet die kleinbäuerliche Landwirtschaft, noch mehr als in den meisten anderen schwarzafrikanischen Ländern, das Rückgrat der Wirtschaft und Gesellschaft. Mehr als 70 % der Bevölkerung lebt in ländlichen Gebieten und von der Subsistenzlandwirtschaft, wo die Armut auf Grund schwach entwickelter Anbaumethoden am größten ist. Nachdem sich bis zur Mitte der 80er-Jahre alle Hoffnungen (und Investitionen) auf die kommerzielle, verstaatlichte Landwirtschaft konzentriert haben, erfreut sich die kleinbäuerliche Landwirtschaft inzwischen wieder einer größeren Wertschätzung bei der Regierung. Ein 1998 verabschiedetes nationales landwirtschaftliches Reformprogramm nennt die kleinbäuerliche Familien als seine wichtigste Zielgruppe. Für sämtliche landwirtschaftliche Entwicklungsprojekte stellt dieses mit Unterstützung von Weltbank und FAO beschlossene nationale landwirtschaftliche Entwicklungsprogramm den politischen und strategischen Rahmen dar. Die Oberziele in der ländlichen Entwicklung sind dabei folgende: − Ernährungssicherheit und Überschussproduktion für den lokalen Markt durch Produktionssteigerung und Produktdiversifizierung − Einkommenssteigerung der Kleinbauern durch Vermarktung ihrer Produkte − Zugang zu sauberem Trinkwasser. Bevorzugte Zielgruppen von HORIZONT3000 sind die benachteiligten Bevölkerungsgruppen im ländlichen Raum. Die zur Durchführung vorgeschlagenen Projekte orientieren sich grundsätzlich an den Bedürfnissen der Zielgruppe. Sie werden daher in der Regel gemeinsam mit ihr und den lokalen Projektpartnern konzipiert und geplant. Der Aufbau einer tragfähigen Vertrauensbasis zu Projektpartnern und Zielgruppen und die Stärkung ihrer Fähigkeit zur Selbsthilfe sind dabei fast immer implizite Ziele von HORIZONT3000. Die frühzeitige Einbindung von staatlichen und traditionellen lokalen Autoritäten in die Projektvorbereitung ist für HORIZONT3000 unverzichtbar. In der Folge werden meist partizipative Diagnosemethoden angewendet, sofern nicht schon ausreichend gesicherte Daten vorliegen. Durch den Einsatz von bewährten Instrumenten und der Gruppenberatung werden vorhandene Selbsthilfepotenziale in der Bevölkerung mobilisiert und selbsttragende Veränderungsprozesse auf Basis von getroffenen Vereinbarungen eingeleitet. Ihre Ergebnisse werden regelmäßig evaluiert und dokumentiert. HORIZONT3000 steht der Zielgruppe und den ProjektpartnerInnen dabei unterstützend und beratend zur Seite. Während früher dabei vor allem europäische Fachkräfte zum Einsatz kamen, greift HORIZONT3000 nun auch vermehrt auf lokale Ressourcen zurück und unterstützt dadurch den lokalen Kapazitätsaufbau. Lange Zeit stand in vielen Projekten die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion zur Herbeiführung der Selbstversorgung der
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Kleinbauernfamilien im Vordergrund. In der letzten Zeit wird aber in vielen Ländern der Bereich der Verarbeitung, der Vermarktung und der damit verbundenen Dienstleistungen immer wichtiger. Dort wo der Eigenbedarf der Familien an Nahrungsmitteln grundsätzlich gesichert ist, kann durch die stärkere Übernahme von Aufgaben bei Veredelung, Konservierung und Absatz von landwirtschaftlichen Erzeugnissen für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern ein wesentlicher Mehrwert und ein zusätzliches Einkommen erzielt werden. Durch den Abbau von marktverzerrenden Mechanismen, beispielsweise fehlende Produkt- und Preisinformation und andere Barrieren, wird zudem für größere Verteilungsgerechtigkeit gesorgt. HORIZONT3000 achtet in allen seinen Projekten auf die technische, ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit der gesetzten Maßnahmen. Unverhältnismäßige, kapitalintensive Investitionen werden grundsätzlich nicht unterstützt. In der landwirtschaftlichen und gewerblichen Produktion wird standortgerechten, umweltschonenden Verfahren und Methoden der Vorzug gegeben, ohne jedoch dogmatisch zu sein, wenn es beispielsweise darum geht, die Gefahr von hohen Ernteverlusten durch den Einsatz von synthetischen Hilfsmitteln abzuwenden. Der großen Bedeutung der Frauen für den Sektor Rechnung tragend, achtet HORIZONT3000 bei allen Projekten darauf, dass sie gleichen Zugang zu den mobilisierten Ressourcen und Projektleistungen wie die Männer haben. Mit dem vorliegenden Ländersektorprogramm Mosambik versucht HORIZONT3000 erstmals die Projekte im Personaleinsatz und der Projektfinanzierung zu bündeln und ein Profil gegenüber seinen Projektpartnern und Fördergebern zu entwickeln. Durch die regelmäßige Überwachung des Projektfortschritts und wiederkehrenden Evaluierungen soll das Ländersektorprogramm regelmäßig überprüft und gegebenenfalls angepasst werden. HORIZONT3000 hat im Jahr 2003 für 284 Projekte und Personaleinsätze insgesamt 15,7 Mio. EURO aufgewendet, der Anteil für Mosambik lag bei 3,19 %. Folglich sind die von HORIZONT3000 in Mosambik eingesetzten Ressourcen im Bezug zu den Gesamtaktivitäten der Organisation noch gering. Da Mosambik nach wie vor zu den ärmsten afrikanischen Ländern zählt, ist eine Ausweitung des Engagements ebendort unter dem Aspekt der Armutsbekämpfung unabdingbar. Die in den Sektoren Bildung, Dezentralisierung und Ländliche Entwicklung ausgewiesenen Entwicklungsstrategien sollen dabei mit gezielten Einsätzen von Fachpersonal und durch Projektförderungen unterstützt werden. So wurden im Personalprogramm von HORIZONT3000 im Jahr 2003 bereits rund 10 % der Personaleinsätze (entspricht rund 80 Einsatzmonaten) in Mosambik durchgeführt. Für 2004 waren 111 Einsatzmonate vorgesehen, die im Folgejahr 2005 noch weiter gesteigert werden sollten.
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Quellenverzeichnis EZA (2004), Österreichische Entwicklungszusammenarbeit, www.eza.at. ISSA (2004), Informationsstelle südliches Afrika, Wirtschaftliche Indikatoren Mosambik, www.issa-bonn.org/laender/indikator_wirt.htm, Bonn UNAIDS, Joint United Nations Programme on HIV/AIDS, www.unaids.org. UNDP – United Nations Development Programme (2003), Human Development Report. USAID (2005), U.S. Agency for International Development, USAID Budget, www.usaid.gov/ policy/budget/cbj2005/afr/mz.html, USAID’s Strategy in Mozambique, www.usaid.gov/ locations/sub-saharan_africa/countries/mozambique, Washington. Worldbank (2003), devdata.worldbank.org/external. Worldbank (2004), Economic Policy and Debt – The Enhanced Heavily Indebted Poor Countries Initiative (HIPC), www.worldbank.org/hipc/countrycases/mozambique/mozambique.htm
Abschnitt H
Ein Nachwort
Suche nach Wittgensteins Grab Josef Kühne
Der Beitrag sei dem Gedenken des allzu früh verstorbenen Freundes Egon Matzner gewidmet, der in seiner Antrittsvorlesung an der TH Wien, mit Zitaten von Wittgenstein „Worüber man nicht reden kann, hat man zu schweigen“ und Musil „Wo es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben“, mich eingehender zu beider Werk verführt hat. Ein Symposium, an einer Herbsttagung der „Europäischen Fakultät für Bodenordnung Strassburg“ – nicht zu philosophischen Fragen – im Wolfson– College in Cambridge, gab Anlass und Wunsch, die letzte Ruhestätte des berühmten österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein zu besuchen. Wittgenstein–Biographie war keine dabei, keiner der Teilnehmer kannte sie und auch niemand von den englischen Gastgebern konnte Auskunft geben. Im Trinity waren Ferien und telefonisch niemand informierter zu erreichen. Der freundlichen Empfehlung der englischen Symposiumsleitung entsprechend, suchte ich das Verkehrsamt in Cambridge auf. Eine junge freundliche Dame – Studentin im Ferialjob – kannte den Namen Wittgenstein nicht, ich schrieb ihn ihr auf und eine Umfrage unter den anderen Angestellten erbrachte ebenso wenig wie eine Durchsicht eines Namenskataloges. Etliche telefonische Rückfragen bestätigten zwar Namen und Wirken, doch nicht seine letzte Ruhestätte in Cambridge. Ich wurde an die Stadtbibliothek, dort an der Auskunft an eine Literaturabteilung im dritten Stock und von dort zur wissenschaftlichen (philosophischen) Abteilung in einem Nebengebäude verwiesen. Meine Frage nach Wittgensteins Grabstätte wurde von zwei, drei Sekretärinnen und Bibliothekarinnen mit dem Ergebnis beratschlagt, wohl Namen und Wirken zu kennen, doch nicht zu wissen, dass er hier gestorben und begraben sei. Es wurde mir geraten, im Stadtarchiv wieder im obersten Stockwerk des Hauptgebäudes nachzuforschen. Ein sehr zuvorkommender Herr konnte meine Fragen nicht aus eigenem beantworten, doch erinnerte er sich an frühere vereinzelte Fragen nach dem Grab. Er suchte einen Karton wie eine Schuhschachtel heraus, dem er eine Mappe mit Zeitungsausschnitten über Wirken und Tod Wittgensteins entnahm. Ich fand in den nicht sehr umfangreichen Unterlagen einen Zeitungsbericht mit Photo der letzten Ruhestätte Wittgensteins in St. Giles Cemetery. Die Erforschung hatte zu lange gedauert, um noch am selben Abend das Grab zu besuchen.
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Auf dem Rückweg ins Wolfson–College ging ich durch das herrliche Trinity, wo ich im Arkadenhof auf einen einzigen sichtbaren Bewohner, einen Historiker des Colleges traf. Er kannte Wittgenstein nicht mehr persönlich, doch seine Namen und sein Wirken, wusste aber nicht dass er hier gestorben und in St, Gilles ruhe und war zu Dank für diese Information verbunden. Beim abendlichen Empfang mit unseren Gastgebern vom Wolfson-College und Vertretern vom Ministery for Reginal Planning, Agriculture, Food and Fish – allerdings meist Planer, Agronomen, und Biologen konnte ich kaum Kenntnisse weder vom lehrenden noch vom toten Wittgenstein finden. Auch auf einem nach meiner Entdeckung von einer sehr versierten Führerin geführten Rundgang durch Cambridge konnte sie mir im Trinity auf Befragen nur wenige biographische Daten zu Wittgensteins Zeit, doch weder seinen Tod noch seine letzte Ruhestätte in Cambridge sagen. Sie nahm meine Information dankend an und sicher auch in ihr Führungsprogramm auf. Im Kreise der Symposiumsteilnehmer aus mehreren europäischen Ländern fand meine Suche nach Wittgenstein etwas Verwunderung, nach dem Fund seines Grabes Be-Wunderung und ein stärkeres Interesse. Am nächsten Morgen – vor Tagungsbeginn – brachte uns, meine Frau, mich und einen Kollegen aus Karlsruhe ein Taxi zum kleinen, nicht leicht zugänglichen – offensichtlich nicht mehr benutzten St. Gilles – Cemetery , Storey`s Way nächst Huntington-Road. Die genaue Lage des Grabes war uns nicht bekannt. Auf dem kleinen ganz naturbelassenen Friedhof mit einer kleinen gotischen Kapelle fanden wir die Grabstätte mit einer eben im Boden liegenden Steinplatte mit Namen Geburts – und Todesjahr 1889–1951. Die schlichte Grabplatte im Gras eingewachsen, ohne jede Pflege und Schmuck, offenbar kaum je besucht, machte keinen bedrückenden, eher einen von der Erde gelöst – befreiten Eindruck. Es vermittelte sich das Gefühl einer selbstgewählten, einsamgewollten letzten Ruhe, nach bewegten Stationen des Erdenlebens, mehr noch des Geisteslebens. Es mochte sein, dass einem die Weite der sicher nie vollendeten Gedanken vom „Traktatus“ bis zum Spätwerk erahnbar, und das Nestroy-Motto der „Philosophischen Untersuchungen“ inne wurden. „Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, dass er viel größer ausschaut als er wirklich ist“. Der Ort der Geistigkeit und die Ruhe und Einsamkeit der Stätte haben etwas vom Denken und Mühen Wittgensteins fühlen lassen, es war mehr gefunden als nur ein einsames Grab. Kann Wittgenstein in seinem Nachwirken über die Einsamkeit seiner letzten Ruhestätte hinaus erreichen, was er in seinen letzten Aufzeichnungen „Über Gewissheit“ bezweifelt: „Weil ich doch nicht sagen kann, was ich eigentlich sagen will“.
Verzeichnis der Werke Egon Matzners Britta Haßelmeier1 Monographien, Sammelwerke und sonstige selbstständige Werke 1960 Matzner, E. (1960), Der zweite indische Fünfjahresplan – Darstellung und Erörterung der Grundlagen und Entwicklungsprobleme im Ausbau der Wirtschaft der Indischen Union, Dissertation, Hochschule für Welthandel, Wien. 1962 Matzner, E., Hrsg. (1962), Währungsstabilität und Wirtschaftswachstum – Eine Studie zur wirtschaftlichen Lage Österreichs (mit einem Vorwort von F. Olah), Europa Verlag, Wien. 1964 Matzner, E., Pepper, H., Wisshaupt, W. (1964), Handbuch des Gewerkschafters, Verlag des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, Wien. 1965 Matzner, E. (1965), Mehr Planung in der Wirtschaft, Verlag des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, Wien. 1966 Kalecki, M., Verf., Matzner, E., Übersetzung aus dem Englischen (1966), Theorie der wirtschaftlichen Dynamik – Eine Untersuchung der zyklischen Schwankungen und der langfristigen Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft, Europa Verlag, Wien, Frankfurt, Zürich. 1967 Frisch, H., Hrsg., Fürst, E., Matzner, E. et al. (1967), Beiträge zur Theorie der Einkommensverteilung (mit einem Vorwort von O. Morgenstern), Duncker und Humblot, Berlin. Matzner, E. (1967), Modell Österreich. Skizzen für ein Wirtschafts- und Gesellschaftskonzept, Europa Verlag, Wien, Frankfurt/Main, Zürich. 1969 Matzner, E. (1969), Öffentliche Investitionen 1950–1966. Das Investitionsverhalten des Bundes, der Länder und der Gemeinden, Informationszentrum für Kommunale Finanzierung (IKF), Wien. 1970 Matzner, E. (1970), Trade between east and west: The case of Austria, Almqvist & Wiksell, Stockholm.
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Unter Mitarbeit von Jolanta Gambus (Collegium Polonicum in Sáubice, Bibliothek).
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1971 Bauer, H., Matzner, E. (1971), Kommunale Finanzen 1960 bis 1968. Eine quantitative Analyse der Entwicklung und Struktur der kommunalen Finanzen in Österreich nach Gemeindegrößenklassen, Institut für Kommunalwissenschaften Linz, Linz. Bauer, H., Hrsg., Matzner, E., Mitarb. (1971), Die mittelfristige Finanzplanung – Zweck und Verfahren der Erstellung mittelfristiger Finanzpläne in den Gemeinden, Informationszentrum für kommunale Finanzierungen, Kommunale Forschung in Österreich Bd. 1, Wien. Bauer, H., Matzner, E. et al. (1971), Wirtschaft und Finanzen österreichischer Städte, Kommunale Forschung in Österreich Bd. 2, Publikationen des Instituts für Stadtforschung 3, Verlag Jugend und Volk, München. 1973 Matzner, E., Novy, M. (1973), Zur Frage der Tarifgestaltung der öffentlichen Personen- Nahverkehrsunternehmungen, Kommunale Forschung in Österreich 6, Verlag Jugend und Volk, München. 1975 Blaas, W., Hrsg., Matzner, E., Begr. (ab 1975), Der Öffentliche Sektor – Forschungsmemoranden, Technische Universität, Institut für Finanzwissenschaft und Infrastrukturpolitik, ab 2004 Fachbereich Finanzwissenschaft und Infrastrukturpolitik im Department für Raumentwicklung, Infrastruktur- und Umweltplanung, Wien. 1976 Bökemann, D., Matzner, E. (1976), Harmonisierung von Investitionsvorhaben der Gebietskörperschaften – Unter besonderer Berücksichtigung der regionalen Entwicklungs- und Konjunkturpolitik, Österreichische Raumordnungskonferenz, Schriftenreihe der Österreichischen Raumordnungskonferenz 9, Wien. Matzner, E. (1976), The involvement of organisations of employers and employees in the making und execution of social policy, OECD-Document SME/ISP/D/76.2, OECD, Paris. Matzner, E. (1976), Notizen zur Gesellschaftsreform. Aufruf zu einem zeitgemäßen Humanismus, Europaverlag, Wien. 1977 Ewringmann, D., Matzner E. (1977), Background to, and Problems of, Evaluation of National Experiences with Integrating Social Politicies, OECD-Document SME/ISP/D/77, OECD, Paris. Bauer, H., Matzner, E. (1977), Öffentliche Aufgaben und Finanzausgleich – Eine Untersuchung der Probleme des österreichischen Finanzausgleichs, im Auftrag des Bundesministeriums für Finanzen, Wirtschaftsverlag Orac, Wien. 1978 Matzner, E. (1978), Wohlfahrtsstaat und Wirtschaftskrise. Österreichs Sozialisten suchen einen Ausweg, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg.
Verzeichnis der Werke Egon Matzners
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1979 Matzner, E. (1979), Anforderungen an eine Theorie staatlicher Interventionen, Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) – Internationales Institut für Management und Verwaltung (IIMV), Discussion paper series IIM/dp 79–34, Berlin. Laski, K., Matzner, E., Nowotny, E., Hrsg. (1979), Beiträge zur Diskussion und Kritik der neoklassischen Ökonomie, Festschrift für Kurt W. Rothschild und Josef Steindl, Springer, Berlin. Henseler, P., Matzner, E., Einf. (1979), Kosten-Nutzen-Analyse in der Gesetzgebung. Funktionsanalyse, Effektivitäts- und Effizienzüberlegungen in der Rechtssetzung, Manz, Wien. Matzner, E. (1979), Die Soziogenese des Staates nach Elias und Schumpeter – Ihr Beitrag zu einer Theorie staatlicher Intervention, Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) – Internationales Institut für Management und Verwaltung (IIMV), Discussion paper series IIM/dp 79–57, Berlin. Matzner, E. (1979), Zur Entwicklung des Autonomen Sektors, Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) – Internationales Institut für Management und Verwaltung (IIMV), Discussion paper series IIM/dp 79–89, Berlin. Matzner, E. (1979), Zur ökonomischen Begründung des Staates, Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) – Internationales Institut für Management und Verwaltung (IIMV), Discussion paper series IIM/dp 79–63, Berlin. Matzner, E. (1979), Zur ökonomischen Begründung von Staatsaufgaben, Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) – Internationales Institut für Management und Verwaltung (IIMV), Discussion paper series IIM/dp 79–85, Berlin. Matzner, E. (1979), Zur Organisation staatlicher Interventionen, Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) – Internationales Institut für Management und Verwaltung (IIMV), Discussion paper series IIM/dp 79–87, Berlin. 1980 Matzner, E. (1980), The future of the welfare state – Towards a new pattern of state intervention, Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) – Internationales Institut für Management und Verwaltung (IIMV), Discussion paper series IIM/dp 80–74, Berlin. Koren, S., Matzner, E., Schmitz, W. (1979), Kosten-Nutzen-Analyse in der Gesetzgebung, Verhandlungen des Siebenten Österreichischen Juristentages Salzburg 1979, Abt. 2.1 Grundlagenforschung, Manz, Wien. 1981 Busek, E., Kohr, L., Matzner, E. (1981), Die kranken Riesen. Krise des Zentralismus – Franz Kreuzer im Gespräch mit Leopold Kohr, Egon Matzner und Erhard Busek, Deuticke, Wien. Matzner, E. (1981), Perspektiven des Staatsinterventionismus – Chancen des Wandels, Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) – Internationales Institut für Management und Verwaltung (IIMV) – Arbeitsmarktpolitik, Discussion papers IIM/LMP 81–7, Berlin.
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Matzner, E. (1997), Die Krise des Wohlfahrtsstaats – Eine Neubetrachtung (frei) nach Schumpeter und Morgenstern, Homo oeconomicus, Bd. 14, Heft 4, S. 421–456. Matzner, E. (1997), Die Krise des Wohlfahrtsstaats – Eine Neubetrachtung (frei) nach Schumpeter und Morgenstern, in: Matis, H., Hrsg., Krise des Steuerstaats, Steuerstaat in der Krise? Plädoyer für einen Funktionswandel des modernen Steuerstaats, Ueberreuter, Wien, S. 101–155. Matzner, E. (1997), Die Krise des Wohlfahrtsstaats – Eine Neubetrachtung (frei) nach Schumpeter und Morgenstern, Der Öffentliche Sektor, Bd. 23, Heft 1, S. 1–31. Matzner, E. (1997). Lernziele Kooperation plus internationale Erfahrung, in: Reiter, A., Hrsg., Wirtschaftsstandort Österreich, EU. Über das Notwendige, das Wünschbare und das Mögliche. Wien, Manz, 1997. S. 291–294. Matzner, E. (1997), Studien zum Wandel staatlicher und nichtstaatlicher Autorität, Der Öffentliche Sektor, Bd. 23, Heft 2/3, S. 66–75. Matzner, E. (1997), Vom Kalten Krieg zur Dominanz von Nullsummenspielen, in: Eberwein, W.-D., Hrsg., Europa im Umbruch, Agenda Verlag, Münster, S. 67–91. Matzner, E. (1997), Zur Sozioökonomie der Globalisierung und der noch ausstehenden Antwort der EU, in: Fricke, W., Hrsg., Globalisierung und institutionelle Reform, Dietz, Köln, S. 42–58. 1998 Matzner, E. (1998), Die Arbeitsgesellschaft ist nicht am Ende, Gewerkschaftliche Monatshefte, Bd. 49, Heft 6/7, S. 403–409. Matzner, E. (1998), The crisis of the welfare state – A game-theoretic interpretation, in: Capanna, H., Hrsg., Challenges to the welfare state, Edward Elgar, Cheltenham, pp. 154–187. Matzner, E. (1998), The fall of the wall – A socio-economic interpretation of the end of systems competition, Sociologia, Vol. 30, No. 2, pp. 165–189. Jarvie, I. C., Matzner, E. (1998), Introduction to the special issues on situational analysis, Philosophy of the social sciences, Vol. 28, No. 3, pp. 333–338. Matzner, E. (1998), Logik der Situation – Status und Perspektive einer fundamentalen Kategorie der Methodologie der Sozialwissenschaften am Beispiel der Wirtschaftswissenschaften, Der Öffentliche Sektor, Bd. 24, Heft 2/3, S. 28–41. Matzner, E. (1998), Österreich und die europäische Integration, in: Brandstaller, T., Hrsg., Österreich 2 ½ (Zweieinhalb) – Anstöße zur Strukturreform, Deuticke, Wien. Matzner, E. (1998), A plea for kooperative strategies for Europe, in: Blaas, W., Hrsg., A new perspective for European spatial development policies, Ashgate, Aldershot, pp. 119–129. Bhaduri, A., Matzner, E. (1998), The socioeconomic context – An alternative approach to Popper's situational analysis, Philosophy of the social sciences, Vol. 28, No. 4, pp. 484–497. Matzner, E. (1998), Studien zum Wandel staatlicher und nichtstaatlicher Autorität, in: Aiginger, K., Hrsg., Wie viel Staat, wie viel privat? Die zukünftige Rolle des Staates
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Matzner, E. (2001), Sozioökonomische Voraussetzungen in den MOEL für einen wirtschaftlichen Aufholprozess, Der Öffentliche Sektor, Bd. 27, Heft 2, S. 7–9. Matzner, Egon (2001), Zur Sozioökonomie der Globalisierung und der noch ausstehenden Antwort der EU, in: Schluchter, W., Hrsg., Kolloquien des Max WeberKollegs XV-XXIII (2001), Max Weber-Kolleg, Erfurt, S. 117–141. 2002 Matzner, E. (2002), Amerikas destruktiver Konservatismus und die Idee Europa, Neue Gesellschaft – Frankfurter Hefte, Bd. 49, Heft 10, S. 630–633. Matzner, E. (2002), Arguments for a re-regulation of global finance, International review of applied economics (2002), Vol. 16, No. 4, pp. 483–492. Matzner, E. (2002), Destructive capitalism – Review of ‚The world we’re in’ by Will Hutton, Concepts and transformation, Vol. 7, No. 3, pp. 323–326. Matzner, E. (2002), Destruktiver Konservativismus, Zukunft, Bd. 57, Heft 10, S. 22– 26. Matzner, E. (2002), Enron, Andersen and virtual capitalism, Homo oeconomicus, Bd. 19, Heft 2, S. 251–255. Matzner, E. (2002), Finanzierungsalternativen von öffentlichen Aufgaben und Einrichtungen, in: Theurl, E., Hrsg., Zukunftsperspektiven der Finanzierung öffentlicher Aufgaben, Böhlau, Wien, S. 1–5. Matzner, E. (2002), Globalisierung und Nationalstaat – Folgen für Österreich, in: Wissenschaftskommission beim Bundesministerium für Landesverteidigung, Hrsg., Bericht über die Jahrestagung 2001, Bundesministerium für Landesverteidigung, Wien. Matzner, E. (2002), Der Mediationsstaat, Neue Gesellschaft – Frankfurter Hefte, Bd. 49, Heft 11, S. 662–664. Matzner, E. (2002), On the socioeconomics of the nation state under globalization, Cavanna, H., Hrsg., Governance, globalization and the European Union, Four Courts Press, Portland. Matzner, E. (2002), Pas de retraite pour l’etat-providence, Alternatives economiques, No. 207, October. Matzner, E. (2002), Der Staat im Globalisierungsprozess, Perspektiven des demokratischen Sozialismus, Bd. 19, Heft 1, S. 8–24. Matzner, E. (2002), Trying to catch up: the transformation countries and the treacherous playing fields of the global market, Der Öffentliche Sektor, Bd. 28, Heft 3/4, S. 98–100. Matzner, E. (2002), Über den Wohlfahrtsstaat des 21. Jahrhunderts, Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 28, Heft 3, S. 433–440. 2003 Matzner, E. (2003), Der berechtigte Rückgriff auf Adam Smith – Eine Replik auf Thomas Meyer NG/FH, 5/2003, Neue Gesellschaft – Frankfurter Hefte, Bd. 50, Heft 12, S. 29–30.
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Periodical Contents Index PCI online. Schönbäck, Wilfried (Vorstand des Instituts für Finanzwissenschaft und Infrastrukturpolitik der TU Wien): Matzner, E. 1938-2003 – ein Nachruf den sozioökonomischen Forscher, akademischen Lehrer und gesellschaftskritischen Denker, URL: http://www.ifip.tuwien,ac.at/ (Dokument Schoenbaeck_Nachruf_Egon_Matzner.pdf, Zugriff: 28. 01. 2004). Wien, Dezember 2003. Veröffentlichungsliste, In: Matzner, E. (Verf.). Bericht über die Arbeiten am Schwerpunkt I. Arbeitsmarkt und Beschäftigung (vormals: Internationales Institut für Management und Verwaltung, Schwerpunkt Arbeitsmarktpolitik IIM/LMP) in der Forschungsperiode 1. 10. 1984 bis 30. 9. 1989. Berlin. WZB, 1989. S. 26–27. Web of Science (Social Sciences Citation Index, Arts & Humanities Citation Index). WISO II und IIb – Datenbanken der deutschsprachigen volkswirtschaftlichen Literatur. Der institutionelle Bezug von Matzner, E. – ausgewertete Literaturlisten Literaturliste des Instituts für Höhere Studien in Wien, erstellt von Wolfgang Nessler. Literaturliste der Johannes-Kepler-Universität Linz, erstellt von Monika Mayer-Exner. Literaturliste des Österreichischen Studienzentrums für Friedens- und Konfliktlösung in Stadtschlaining, erstellt von Lisa Fandl. Literaturliste der Technischen Universität Wien, Institut für Finanzwissenschaft und Infrastruktur, erstellt von Gernot Maierbrugger, der Bibliothek und wissenschaftlichen Information des WZB freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Herrn Prof. Dr. Wilfried Schönbäck (Vorstand des Instituts für Finanzwissenschaft und Infrastrukturpolitik der TU Wien). Literaturliste der Universität Erfurt, Max-Weber-Kolleg, erstellt von Doreen Hochberg. Literaturhinweis der University of British Columbia / Vancouver, Center for European Studies von Rob P. Stoddard.
Autorenverzeichnis
A.o. Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Wolfgang Blaas Stv. Leiter des Fachbereichs Finanzwissenschaft und Infrastrukturpolitik Department für Raumentwicklung, Infrastruktur- und Umweltplanung Technische Universität Wien Ass.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Johann Bröthaler Fachbereich Finanzwissenschaft und Infrastrukturpolitik Department für Raumentwicklung, Infrastruktur- und Umweltplanung Technische Universität Wien Univ.-Prof. DDr. Werner W. Ernst Institut für Politikwissenschaft Universität Innsbruck Prof. Dr. Amitai Etzioni Director of the Institute for Communitarian Policy Studies The Elliott School of International Affairs, George Washington University Washington DC Dr. Alfred Franz Vormals Leiter der Abteilung Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung Statistik Austria Wien Dipl.-Ing. Dr. Gerhard Fülöp Österreichisches Bundesinstitut für Gesundheitswesen Wien Prof. Dipl.-Ing. Ernst Gehmacher Wissenschaftlicher Leiter des BOaS - Büro für die Organisation angewandter Sozialforschung Wien A.o. Univ.-Prof. Mag. Dr. Michael Getzner Institut für Volkswirtschaftslehre Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
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Univ.-Prof. Dr. Gernot Grabher Leiter des Bereichs Sozioökonomie des Raumes Geographisches Institut Universität Bonn MR Dipl.-Ing. Wolfgang Hanko Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie Sektion IV – Schiene, Wasser und Verkehrsinspektorat Wien Britta Haßelmeier Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) Bibliothek und wissenschaftliche Information Berlin Prof. Dr. Peter Henseler Vormals Rechnungshof, Bundesministerium für Finanzen Wien und Budgetdirektion der Europäischen Union Brüssel Prof. Geoffrey M. Hodgson Research Professor in Business Studies University of Hertfordshire (UK) Dipl.-Ing. Dr. Jörn Kaniak Vormals Vorstandsdirektor der Österreichischen Post AG Wien Em. O. Univ.-Prof. Dr. Josef Kühne Fachbereich Rechtswissenschaften Department für Raumentwicklung, Infrastruktur- und Umweltplanung Technische Universität Wien Em. Univ.-Prof. Dr. Klaus Mackscheidt Geschäftsführer des Instituts für Wohnungsrecht und Wohnungswirtschaft Universität Köln Köln Dipl.-Ing. Dr. Sabine Mayer Österreichische Forschungsförderungsgesellschaft mbH Wien
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Dr. Monika Mokre Forschungsstelle für Sozioökonomie Österreichische Akademie der Wissenschaften Wien Dipl.-Ing. Christina Narval ILF Beratende Ingenieure ZT Gmbh Rum bei Innsbruck O. Univ.-Prof. Dr. Ewald Nowotny Institut für Volkswirtschaftstheorie und –politik Abteilung für Öffentliche Wirtschaft, Geld- und Finanzpolitik Wirtschaftsuniversität Wien Dipl.-Ing. Friedbert Ottacher Projektreferent Ägypten, Albanien, Äthiopien, Sudan. Kenia: Projekte, Personalprogramm bei HORIZONT3000 Wien Dipl.-Ing. Herbert Paierl Vormals Wirtschaftslandesrat der Steiermark Vorstand der UIAG – Unternehmens Invest AG Wien Univ.-Prof. Dr. Sonja Puntscher-Riekmann Fachbereich Politikwissenschaft und Soziologie, Universität Salzburg Direktorin des Instituts für Europäische Integrationsforschung (EIF) an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien Mag. Bruno Rossmann Abteilung Wirtschaftswissenschaften der Kammer für Arbeiter und Angestellte Wien, derzeit Abgeordneter zum Nationalrat Wien Univ.-Doz. Dipl.-Ing. Dr. Gerhard Rüsch Stadtrat für Stadt-, Verkehrs- und Grünraumplanung Stadt Graz Em. Univ.-Prof. Dr. Fritz W. Scharpf Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Berlin .
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Univ.-Prof. Mag. Dr. Wilfried Schönbäck Leiter des Fachbereichs Finanzwissenschaft und Infrastrukturpolitik Department für Raumentwicklung, Infrastruktur- und Umweltplanung Technische Universität Wien Dipl.-Ing. Christof Schremmer Österreichisches Institut für Raumplanung (ÖIR) Wien Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Klaus Semsroth Dekan der Fakultät für Architektur und Raumplanung Institut für Städtebau, Landschaftsarchitektur und Entwerfen Technische Universität Wien Em. O. Univ.-Prof. Dr. Christian Smekal Institut für Finanzwissenschaft Leopold-Franzens-Universität Innsbruck