Rudolf Egger · Bernd Hackl (Hrsg.) Sinnliche Bildung?
Lernweltforschung Band 4 Herausgegeben von Heide von Felden Rud...
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Rudolf Egger · Bernd Hackl (Hrsg.) Sinnliche Bildung?
Lernweltforschung Band 4 Herausgegeben von Heide von Felden Rudolf Egger
Rudolf Egger Bernd Hackl (Hrsg.)
Sinnliche Bildung? Pädagogische Prozesse zwischen vorprädikativer Situierung und reflexivem Anspruch
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16418-2
Inhaltsverzeichnis
Bernd Hackl / Rudolf Egger Zur Einführung in dieses Buch
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Sinnliche Erfahrung Christian Rittelmeyer Über ethische und epistemische Botschaften in der gegenständlichen Umwelt Heranwachsender
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Jürgen Hasse Ästhetische Bildung. „Lernen mit allen Sinnen“ und vollem Verstand Mit einem Exkurs zur geographischen Exkursionsdidaktik
37
Wiltrud Gieseke Atmosphäre in Bildungskontexten – Beziehungstheoretische Überlegungen
57
Joris Vlieghe Demokratie und die Erziehung des Leibes – Zur pädagogischen Relevanz von Gymnastik
71
Schulische Unterweisung Andreas Gruschka Aufbrechende Machtlosigkeit in Aneignung und Vermittlung – Die Sinnkrise des Unterrichts
87
Marion Pollmanns Zur Aneignungsseite des Unterrichts Pädagogische Fallstudie unterrichtlicher Lern- und Bildungsprozesse
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Peter Buck / Markus Rehm Wenn das Phänomen nicht erscheint – oder: Wie viel gesellschaftlich formatierte „andere Intentionalität“ notwendig ist, wenn man adäquat über die Atome unterrichten soll
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Prozessuale Formung Sonja Hnilica Schulbank und Klassenzimmer – Disziplinierung durch Architektur
141
Bernd Hackl True Lies – Über die Dilemmata einer reformpädagogischen Aneignung tayloristisch entworfener Lernräume
163
Jörg Dinkelaker / Matthias Herrle Einfinden in Rhythmen – Rhythmen des Einfindens Zum kursförmigen Erlernen von Bewegungsabläufen
195
Sieglinde Jornitz Die Präsentation des Blickes in der Foto-Serie „Kinder der Ruhr“ von Marie-Jo Lafontaine
217
Biographische Bewegung Rudolf Egger Blick und Gegenblick Drei Generationen Goethe auf dem Weg nach Italien
233
Monika Fischer / Jochen Kade / Sascha Benedetti Chronographien – Bildungsbiographische Bewegungen im Raum
253
Heide von Felden Biographische Statuspassagen: Lernerfahrungen in Übergängen
269
AutorInnenverzeichnis
285
Bernd Hackl / Rudolf Egger
Sinnliche Bildung? Zur Einführung in dieses Buch
I Sich im Vollsinne als Subjekt ernst zu nehmen, bedeutet nicht, sich als egomanisches Individuum in einem Szenario verfügbarer Mitspieler und passiver Gegenstände zu verstehen, sondern sich auf einen Prozess einzulassen, an dem auch die Intentionalität anderer, tendenziell aller Mitglieder der Gattung zur Geltung kommt. Diese andere Intentionalität mag uns in der offensichtlichen Form artikulierter Ansprüche entgegentreten, wie etwa im Appell, in der Bitte, in der Aufforderung, im Befehl, oder in jener hintergründigen impliziten Form, wie sie sich etwa durch Erwartungen, Konventionen, Gewohnheiten, Rituale, raum-zeitliche und/oder symbolische Anordnungen, durch die „normative Kraft des Faktischen“ oder andere Aspekte der sinnhaften Designation der Welt ausdrückt. Die Welt ist kein bloßes Material unserer Aktivitäten, sie spricht uns vielmehr ihrerseits in den vielfältigsten Formen an, sie bewegt uns, sie ergreift uns, sie schreckt uns ab, sie fordert uns auf. Aus einer individualistischen Sicht (und unter gesellschaftlichen Lebensbedingungen, die durch eine solche reproduziert werden) bedeutet andere Intentionalität tendenziell immer fremde Intentionalität und die sie erhebenden Ansprüche eine Bedrohung unseres Selbst: Was nicht unserer eigenen Absicht entspringt, kommt uns allzu leicht in die Quere, konkurriert mit unseren Bemühungen, muss bekämpft, verdrängt oder in einen Kompromiss gezwängt werden. Der Erfolg des anderen zeigt unser eigenes Nachsehen an. Dabei tritt aus dem Blick, dass andere Intentionalität zunächst in einem ganz fundamentalen Sinne für uns Ressource ist: Die Welt, in die wir hineingeboren werden, ist nicht einfach rohe Natur, die wir uns in einsamer Anstrengung gefügig machen, sondern vorgedachte, vorgestaltete menschliche Kultur, in der sich das Spektrum der bislang entfalteten Gattungsintentionen vergegenständlicht hat: Der Stuhl, auf dem wir sitzen, das Buch, das wir darauf lesen, und die Idee, die wir diesem entnehmen, sind ja keine zufällig verwendbaren Fundstücke, sondern Resultate einer absichtsvollen Anstrengung, welche ihnen ihre nützliche Gestalt gegeben hat und ihnen gleichsam als ihr „roter Faden“ innewohnt. Eine solche – kulturell-gesellschaftlich formatierte – „andere Intentionalität“ ist nun keineswegs eine störende Konkurrenz eigener Absichten, sondern vielmehr eine unumgängliche Grundlage ihrer Verwirklichung: Zu verstehen, dass und wie man zum einen auf dem Stuhl sitzen, zum anderen das Buch lesen und zum dritten den Gedanken, den es enthält, weiterspinnen kann, bedeutet, an die andere Intentionalität, die sie repräsentieren, anzuschließen, also sie zu teilen oder
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sich von ihr zu distanzieren. Wir entwickeln solche Bezugnahmen in biographischen Prozessen, indem wir in normativ gehaltvollen Lebenszusammenhängen aufwachsen und uns deren Grundsätze im Rahmen gemeinschaftlicher Praxis zunächst wie selbstverständlich und später reflexiv bewusst aneignen. Damit bildet andere Intentionalität nicht nur in materiell vergegenständlichter, sondern auch in lebendig interaktiver Form eine unumgängliche Ressource unserer je eigenen Absichten. Aber selbstverständlich ist andere Intentionalität nicht nur Ressource, sondern auch Hindernis, Einschränkung, Bedrohung. Zunächst ist jede Ermöglichung eines bestimmten Handelns eben diesem gewidmet und daher gegenüber einem anderen Handeln im gleichen Maße indifferent, möglicherweise nicht förderlich oder sogar hinderlich. Konkrete Ressourcen sind keine universelle Währung, die jeden beliebigen Zweck gleichermaßen befördern könnten. Zudem erweisen sich die den anderen Intentionen innewohnenden Potenziale der Entfaltung in dem Maße, in dem sie – wie etwa zu Beginn des 21. Jahrhunderts – privilegierten Weltzugang, herrschaftliche Lebensform und taktische Übervorteilung in der Casinogesellschaft repräsentieren, als widersprüchlich: Sie ermächtigen und lähmen uns in einem, sie stecken Korridore ab, die an unseren Zielen vorbeiführen, sie weisen Wege, die nicht die unseren sind: Fremde Bitten, Erwartungen und Befehle können uns schaden und instrumentalisieren, das Buch kann Mythen und Ideologien vermitteln, die uns unserem wirklichen Dasein entfremden und der Stuhl, auf dem wir sitzen wollen, kann sich als gesundheitsschädliches Junk-Möbel, als kommunikationsbehindernde Vorrichtung oder als unerreichbares und (vielleicht gerade deswegen) illusionär orientierendes Statussymbol erweisen. II Im Umgang mit anderer Intentionalität agieren wir von allem Anfang an als Subjekte, zunächst in einem rohen, ursprünglichen Sinne, indem wir selbst das Zentrum bilden, von dem aus alle Aktivität bewertet und gesteuert wird. Dagegen sind die elaborierten menschlichen Instrumente unseres Wollens erst durch Erfahrungen mit der objektiven und sozialen Welt zu entwickeln. Dies geschieht, indem Existenz und Bedeutung jener uns entgegen tretenden Absichten, wie sie sich zum einen in der leiblichen Erscheinung der eigenen Artgenossen und zum anderen in deren objektweltlicher Ausrüstung manifestieren, entschlüsselt und handhabbar gemacht werden: Wir lernen im Umgang mit anderen Individuen, dass auch sie intentional handeln, dass die Verfolgung von Absichten daher ein sozialer Vorgang ist und dass die kulturelle Welt eine vom Menschen geschaffene Welt darstellt, deren Sinn für uns in genau den Potenzialen liegt, die andere Intentionalität in ihr niedergelegt hat. Den Ansprüchen, die sie verkörpert, die sich an uns wenden und die uns zu ihrer Befolgung auffordern, können wir zum einen aus rationaler Überlegung und bewusstem Entschluss nachkommen: Wir entsprechen einer Bitte aus guten Gründen und lassen uns von einer Stimmung mitreißen, die uns gelegen kommt, wie wir als ungerechtfer-
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tigt betrachtete Befehle verweigern und stumme Impulse zurückweisen, deren manipulative Tendenz wir durchschauen. Doch lange bevor wir dazu in der Lage sind, haben wir die Imperative der Welt schon in spontaner, unmittelbarer Weise beantwortet: Ganz ohne jedes Kalkül, vielleicht ohne es überhaupt zu bemerken, übernehmen wir den Gesichtsausdruck unseres Gegenübers, lassen uns vom Lachen der heiteren Gruppe anstecken, reagieren auf die spannende Erzählung mit atemloser Spannung, greifen nach der roten Frucht, die sich uns entgegenreckt, experimentieren neugierig mit dem unbekannten Gegenstand und scheuen davor zurück, die andächtige Stimmung durch einen lauten Schrei zu durchbrechen. Ohne darüber nachgedacht zu haben, versuchen wir, die umfallende Flasche aufzufangen, weichen wir dem entgegenkommenden Fußgänger aus und verwenden wir die Säge nicht zum Umrühren im Farbkübel. Solche prärational und intuitiv sich vollziehenden und daher vielfach „natürlich“ erscheinenden Kommunikationen zwischen uns und unserer Welt sind – wissenschaftlich wie lebenspraktisch – in besonderem Maße klärungs- und aufklärungsbedürftig. In ihnen verbergen sich nicht bloß harmlose operative Informationen zur schnellen und effektiven Bewältigung alltäglicher Lebenspraxis, es durchzieht sie vielmehr die ganze Prägemacht der gesellschaftlichen Verhältnisse. So repräsentieren die zeitlich relativ stabilen vergegenständlichten Lebensbedingungen als reifizierter sozialer Raum die Strukturen der gesellschaftlichen Verhältnisse und damit auch die Strukturen der ihnen inhärenten Ausschließungs-, Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnisse. Sie locken die aus ihrer Bedürftigkeit heraus agierenden Subjekte in Verhaltensweisen, die wiederum in deren gesamter leiblicher Existenz analoge Verfestigungen induzieren, indem sich „die körperliche Einschreibung der Strukturen der sozialen Ordnung … zu einem Großteil vermittels der Verlagerungen und Bewegungen des Körpers vermittels körperlicher Stellungen und Körperhaltungen“ vollzieht, „die durch jene in Raumstrukturen umgewandelten sozialen Strukturen organisiert und qualifiziert werden ...“ (Bourdieu 1991, 27). Das vermeintlich „unschuldige“ physische Dasein der Menschen und Dinge, der Körper und Bewegungen, der Werkzeuge, der Kleidungen, der Gebäude etc., erweist sich so als durch und durch beseelt vom Geist (oder Ungeist) jener gesellschaftlichen Verkehrsformen, sozialen Verhältnisse und privaten und politischen Machtstrukturen, die es organisieren. III Wenn wir diese Sicht der Dinge pädagogisch wenden, so springt zunächst die formative Macht ins Auge, die von antizipatorischer Intentionalität ausgehen kann. Sie realisiert sich als rationale Macht des Arguments, welches uns die Gründe vor Augen führt, aus denen wir einer gebotenen Norm folgen (oder ihr widersprechen) und sie realisiert sich als funktionale Macht des undurchschauten Arrangements, das uns keine Alternativen erkennen lässt, unseren Entscheidungsraum einschränkt, ohne dies kenntlich
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werden zu lassen und uns auf diese Weise in Routinen einführt, deren Berechtigung für uns bereits von anderen vorentschieden wurde. Unter bildungstheoretischen Gesichtspunkten ist letztere notwendig zu spezifizieren, denn wenn es einerseits zum Grundbestand des menschlichen Verhaltensrepertoires zählt, auf die Gegebenheiten der Welt zunächst spontan und ohne reflexive Brechung einzugehen und andererseits durch Pädagogik Aufklärung verwirklicht werden soll, muss ein Kriterium bestimmt werden, an welchem sich die sozialisatorische Unterstützung von Bildung von jener der Verhängung von Ausgeliefertheit unterscheiden lässt. Dieses Kriterium muss u.a. mit Blick auf die Beziehung zwischen augenblicklichen Ansprüchen und künftigen Aufgaben entworfen werden: Jede Erziehung ist dem Vorgriff auf Künftiges verpflichtet und kann doch nur vom überkommenen Gegenwärtigen ausgehen. Die Welt, an die die Erzogenen herangeführt werden sollen, ist den Heranführenden nicht bekannt. Die einzige mögliche Gewissheit besteht darin, dass die Erzogenen einst selbst ihre Geschicke werden meistern müssen. Dessen eingedenk besteht ihre beste Vorbereitung auf die Zukunft in der Fähigkeit, die Grundlagen ihrer Existenz in möglichst umfassender und vielgestaltiger Weise zu erkennen, zu reflektieren und zu gestalten. Dies verpflichtet Pädagogik auf die Anleitung zu unbestechlicher kritischer Bestandsaufnahme, skeptischer Prüfung und kreativem Wagnis. Jede opake materiale Bindung an den vorfindlichen Zustand der Welt zu durchdringen, ist die erste Aufgabe des Bildungsprozesses – wenngleich die Einsicht in die Unmöglichkeit, sie umfassend zu erfüllen, ihn beständig begleiten sollte. Nun bildet eine unmittelbar wirkende und sich selbst intransparente Ausbildung von Handlungsmustern die notwendige Grundlage aller biographischen Enkulturation, doch ist es nicht gleichgültig, ob dieser Vorgang auf kritische Beweglichkeit oder bornierte Naivität des Denkens und Handelns orientiert. Auf das unbekannte Neue vorbereitet zu sein, impliziert, das Gegebene nicht als zeitlosen Bestand, sondern als Augenblick im Werden und Vergehen zu verstehen, die menschlichen Errungenschaften nicht als Dogmen, sondern als Hypothesen zu behandeln, die Zumutungen der Welt nicht zu befolgen, sondern mit ihnen in ein dialogisches Verhältnis einzutreten. Durch die (für den Erzogenen zunächst auf intransparenten Zusammenhängen beruhende) Hinführung auf die Fähigkeit zu einer reflexiven Haltung, welche sich ihrer eigenen Grundlagen und Implikationen beständig zu vergewissern versucht, realisiert Pädagogik – nach einer Formulierung von Dietrich Benner – ein „sich negierendes Gewaltverhältnis“ (Benner 1966, 187ff). Den konkreten aktuellen Erscheinungsformen dieses Gewaltverhältnisses, welches – wie zu zeigen sein wird – auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts viel mehr als sich perpetuierendes denn sich negierendes gedeiht, gehen die nachfolgenden Überlegungen und Untersuchungen konkret und sorgfältig nach. Dabei fördern sie unseres Erachtens schlüssige und stichhaltige Hinweise auf eine Annahme zutage, die dem Projekt zunächst als bloße Arbeitshypothese zugrunde lag: In dem Maße, in dem die ü-
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berkommenen Formen arrogierter Autorität, offener Bildungsverweigerung und gewaltsamer erzieherischer Unterdrückung ihre Legitimierungsfähigkeit einbüßen, zieht sich die Macht in jene gut getarnten und verborgenen Reviere zurück, in denen sie das unwirtliche Klima von Humanismus und Aufklärung unbeschadet zu überstehen hofft: in das weglose Dickicht des menschlichen Körpers, in die unübersichtlichen Landschaften unserer Gerätschaften und Behausungen, in die glitzernden Zauberwelten der neuen (und erneuerten alten) Medien und in die abgeschatteten Schlupfwinkel unserer sprachlichen Kommunikation. Wer die Mechanismen von Status und Übervorteilung verstehen möchte, muss heute mehr denn je auf akribische Spurensuche gehen, und wer ihnen Paroli bieten möchte, kann sich weniger denn je auf eine Bildung verlassen, die den Horizont bloß kognitiver Weltbegegnung nicht überschreitet. Bildung im Medium des Sinnlichen – eine Perspektive, die dem technokratisch geeichten Rationalisten unserer Tage eher als Syndrom der Verirrung denn als Instrument der Aufklärung erscheinen wird – könnte sich als eine, vielleicht die zeitgemäße Antwort erweisen. Wenn dieses Buch dazu beitragen kann, wenigstens einige der relevanten Fragen zu konkretisieren, auf welche diese Antwort dann gut begründet gegeben werden könnte, hat sich das ihm zugrunde liegende Bedürfnis seiner Autorinnen und Autoren angemessen erfüllt. IV Die Texte des vorliegenden Sammelbandes wurden aus Anlass einer thematisch weitgehend offenen Anfrage an einschlägig engagierte und interessierte KollegInnen verfasst und nähern sich dem skizzierten Thema in theoretisch und methodisch unterschiedlich akzentuierten Zugängen. Was sie eint, ist der Anspruch, in einer dezidierten Gegenbewegung zu technokratischen, aktivistischen oder postulatorischen Ansätzen jene Spannungsverhältnisse aufzugreifen, zu untersuchen und begrifflich wie empirisch gehaltvoll auszuleuchten, die sich zwischen den Ansprüchen der Welt und den Bedürfnissen der Subjekte, der Beharrlichkeit der Körper und Gegenstände und der Beweglichkeit der Gefühle und Willensakte, dem intuitiven Reagieren im Fluss des Lebens und dem bewussten Räsonnieren, das ihn zu kanalisieren trachtet, dem strategisch geschickten Verhängen von und dem widerständigen Sich-Abarbeiten an Sachzwängen oder einfach zwischen der begreifenden Ermächtigung und der blinden Behinderung ergeben, die wir uns selbst erlauben oder zufügen. Die thematischen Schwerpunkte der uns zur Verfügung gestellten Beiträge legen eine Gliederung in vier große Kapitel nahe. Die Sektion Sinnliche Erfahrung wird zunächst von Christian Rittelmeyer eröffnet, der in einem großen Überblick grundlegende Ideen über ethische und epistemische Botschaften in der gegenständlichen Umwelt Heranwachsender vorstellt. Er spannt dabei den Bogen von eigenen Forschungen zur Gebäudegestalt moderner Schulbauten über Erkenntnisse zu körperlichen Ausdrucksgestalten bis hin zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles und versucht die grundlegende Bedeutung ästhetischer Gegebenheiten und sinnlich-leiblicher Eindrücke für den Erziehungspro-
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zess nachvollziehbar zu machen. Als nächstes entwirft Jürgen Hasse ein Denkmodell ästhetischer Bildung, die er als ein Lernen mit allen Sinnen und vollem Verstand charakterisiert. Er diagnostiziert zunächst platten Romantizismus und Unverständigkeit gegenüber dem Wesen des Ästhetischen, wo versucht wir, die „abstrakter“ werdende gesellschaftliche Welt durch Goldhamster und selbstgezogene Bohnen zu heilen. Dann entwirft er das Konzept eines „sinnlichen“ Lernens, das der notwendigen Verknüpfung von Bildung und Anschauung Rechnung trägt, anstatt sich in einem falschen Gegensatz zwischen Reflexion und Gefühlen zu verlaufen: Letztere bilden bewertende Antworten auf Eindrücke und damit die Grundlage der reflexiven Weltbeziehung der Lernenden, Anschauung bedeutet ganzheitliches Erfassen und damit Ausgangspunkt von Einsicht und Erkenntnis. Am Beispiel der geografischen Exkursionsdidaktik lässt der Autor zuletzt die Kollateralschäden einer theoretisch unzureichend fundierten praktisch-didaktischen Handlungskonzeption Revue passieren. Wiltrud Gieseke beschäftigt sich in weiter Folge mit dem Phänomen der Atmosphäre in Bildungskontexten. Sie analysiert Bildung als Ergebnis einer Beziehungskonstellation und untersucht die Bedeutung, welche der leiblichen Erfahrung des Raumes für das Zustandekommen von Lernen in der Erwachsenenbildung zuzuschreiben ist. Das Involviertsein in Handlungen, Kommunikationen, Räumlichkeiten, Situationen, Kontexte bildet die Grundlage für Gefühle, welche die Bewältigung von Leistungsanforderungen ermöglichen. Abgeschlossen wird dieser Teil des Buches mit einem Beitrag von Joris Vlieghe, der Demokratie und die Erziehung des Leibes in einen spannungsvollen Zusammenhang stellt. Er untersucht die widerspruchsvolle historische Entwicklung der Leibeserziehung – vulgo Turnunterricht/Sport –, in welcher sowohl die Entkörperlichung der Erziehung als auch die Instrumentalisierung des Körpers durch Erziehung ein sehr spezifisches Gepräge gewonnen hat. Auf der Grundlage einer allgemeineren Bestimmung des Verhältnisses von Pädagogik und Leiblichkeit lotet Vlieghe die Potenziale einer „Demokratie des Fleisches“ aus, welche in der (Wieder-)Gewinnung einer schieren, zweckfreien und gemeinsamen körperlichen Bewegung bewahrt sein könnten. In der Abteilung Institutionelle Unterweisung wird – wieder einmal – die Institution Schule einer kritischen Inspektion unterzogen, doch in anderer Weise, als wir dies von den emsigen Konstrukteuren unserer PISA-konformen schönen neuen Schulwelt gewohnt sind. Zunächst führt Andreas Gruschka die anhaltende Sinnkrise des Unterrichts vor Augen, die sich an den nicht enden wollenden Variationen aufbrechender Machtlosigkeit in Aneignung und Vermittlung entzündet. Er gibt Einblick in die Tiefenstruktur dieses Verhältnisses, indem er anhand eines detailliert rekonstruierten Beispiels zeigt, dass und wie die Akteure in Verfolgung ihrer Absichten aneinander und an ihren ureigensten Interessen vorbei agieren. Dabei wird jugendliche Bildungsmöglichkeit ebenso verschenkt wie Zufriedenheit mit gelungener beruflicher Tätigkeit. Marion Pollmanns schließt an diese Studie nahtlos an, modifiziert jedoch die Blickrichtung, sie schiebt die Aneignungsseite des Unterrichts in den Vordergrund ihrer Investigation und demonstriert
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an einen Beispiel aus dem Geschichts- und Sozialkunde-Unterricht, wie sich uneindeutige Arbeitsaufträge aus der Sicht einer Schülerin zu Wegweisern in das Abseits eines zunächst durchaus aufklärerisch gedachten Unterrichtsgeschehens entwickeln. Schließlich untersuchen Peter Buck und Markus Rehm, was passiert, Wenn das Phänomen nicht erscheint und problematisieren zunächst, ob eine sinnlich-unmittelbar nicht erfassbare Gegebenheit wie ein „Atom“ überhaupt einer phänomenologischen Betrachtung zugänglich ist. Gegen theoretische Indoktrination und konstruktivistische Verbeliebigung verteidigen die Autoren den Standpunkt, dass auch die Erschließung der „submikroskopischen“ Welt bei der phänomenalen Erfahrung ansetzen muss, wenn sie Dogmatismus und Relativismus gleichermaßen vermeiden will. Der dritte Teil des Buches legt unter dem Titel Prozessuale Formung den Schwerpunkt auf die detaillierte Untersuchung von Artefakten und Praktiken, welche die Ausbildung von Verhaltensmustern anleiten. Zunächst begibt sich Sonja Hnilica auf die Suche nach den Leitfossilien einer technokratisch-modernen Gestaltung von Schulunterricht. In Schulbank und Klassenzimmer findet sie zwei erziehungshistorische Artefakte, die beispielhaft Disziplinierung durch Architektur dokumentieren: Die kontrollierte Beschulung einer gesamten Bevölkerung, wie sie im Laufe des 19. Jahrhunderts in vielen Staaten Europas eingeführt wurde, bedient sich u.a. der Ausstattung der pädagogischen Praxis mit relativ stabilen räumlichen Gegebenheiten, die die juvenilen Handlungen kanalisieren und deviantes Verhalten technisch verunmöglichen. Diese allgemeinere Annäherung konkretisiert Bernd Hackl anhand eines weiteren empirischen Beispiels, indem er die Dilemmata einer reformpädagogischen Aneignung tayloristisch entworfener Lernräume aufspürt. Die liebevollen und präzise gestalteten Accessoires, die einem Lernraum aus dem zu Ende gehenden 19. Jahrhundert ein spezifisch emanzipatorisches Gepräge verleihen sollen, entpuppen sich als True Lies: Sie kaschieren den misanthropischen Funktionalismus der technokratischen Schularchitektur und machen so genussfähig, was entweder entdeckt und kritisiert oder überhaupt verworfen werden müsste. Jörg Dinkelaker und Matthias Herrle richten ihr Augenmerk schließlich auf das Einfinden in Rhythmen und die Rhythmen des Einfindens. Ihr Beispielfall ist das kursförmige Erlernen von orientalischem Tanz im Rahmen der Erwachsenenbildung. An diesem arbeiten sie zunächst die allgemeine didaktische Ablaufstruktur des Einübens, Übens und Ausübens heraus. Die eingangs rekonstruierte Differenz zwischen originärer und simulierter Aufführungspraxis wird zuletzt wieder relativiert, da sich erstere selbst bereits als durch soziale Verwendungskontexte und kulturindustrielle Mechanismen „simulatorisch“ gebrochen erweist und zweitere wiederum relevante Momente einer originären Praxis der Kursteilnehmer ausbildet. Im letzten Abschnitt wird Biographische Bewegung dokumentiert. Hier beschäftigt sich Rudolf Egger unter dem Titel Blick und Gegenblick zunächst mit Drei Generationen Goethe auf der Reise in den Süden und erkundet die Bildungsreisen des 18. Jahrhunderts und deren universale sinnlich-ästhetische Bildungsabsicht. Anhand dreier Reisebeschrei-
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bungen der Familie Goethe werden unterschiedliche Modi der Aneignung sichtbar, die Bildung als jenen Sprung im Alltag kennzeichnen, der uns immer wieder zu einer kognitiven, sozialen und sinnlichen Standortbestimmung nötigt. Die hier vorgestellten Lebens- und Bildungsreisen machen nachvollziehbar, wie die dabei gewonnenen und reflexiv gebundenen Erfahrungen räumlich und zeitlich, ästhetisch und sozial vergegenwärtigt werden können. Monika Fischer, Jochen Kade und Sascha Benedetti gehen in ihren Chronographien dem Phänomen Bildungsbiographischer Bewegungen im Raum nach. Dabei untersuchen sie, welche Formen Bildung in selbst- und fremdgesteuerten sowie zeit- und raumbezogenen Aneignungsprozessen innerhalb der Biographien der Subjekte annimmt. In den beiden analysierten Fällen lassen sich dabei geschlossene Bildungsgestalten erkennen, die sowohl in der Prozess- als auch in der Raumdimension eine Überbrückung von Dissonanzerfahrungen ermöglichen. Last not least analysiert Heide von Felden in ihrem Beitrag Biographische Statuspassagen und charakterisiert sie als Lernerfahrungen in Übergängen. Sie gibt anhand eines Interviews Einblicke in das Forschungsprojekt „Übergänge im Studium“ und rekonstruiert dabei ein Bedingungsgefüge von studentischen biographischen Transitionsvorgängen innerhalb gesellschaftlich normierter Strukturen und formaler Lernprozesse einerseits und subjektiver Konstruktionen und individueller Anpassungsleistungen andererseits. Last not least sei an dieser Stelle erwähnt, dass das vorliegende Buch seine letztendliche Gestalt der fachkundigen Formatierung und Lektorierung der einzelnen Beiträge sowie der umsichtigen Betreuung des Gesamtprojekts durch Edith Kohl verdankt, der wir dafür zu herzlichem Dank verpflichtet sind.
Literatur Benner, Dietrich (1966): Allgemeine Pädagogik. Weinheim, München. Bourdieu, Pierre (1991): Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum. In: Martin Wentz (Hg.): Stadt-Räume. Frankfurt/Main, New York.
Sinnliche Erfahrung
Christian Rittelmeyer
Über ethische und epistemische Botschaften in der gegenständlichen Umwelt Heranwachsender
1 Verborgene Botschaften: Über die Rhetorik von Schulbauten
Abb. 1: Architektenentwurf eines Oberstufenzentrums in Berlin (Senatsverwaltung 1993)
Abbildung 1 zeigt einen preisgekrönten Schulbau-Entwurf für die Stadt Berlin (Senatsverwaltung 1993, 83). Ein umfangreiches Forschungsprojekt zur Wahrnehmung von Schulbauten durch Schülerinnen und Schüler hat gezeigt, dass serielle Bauformen dieser Art deutliche Antipathien hervorrufen (Rittelmeyer 1994, 2009b). Die häufigsten Assoziationen von Schülern, Eltern und Lehrern waren die des „Kasernenbaus“, der „Fabrik“ und der „Massenlehranstalt“. Die Bauform scheint eine Schule anzuzeigen, in der es keine Individualität mehr gibt – alle werden dem gleichen Schema unterworfen („Ausbildungszentrum für Klontruppen“ lautete eine charakteristische Bezeichnung). „Ordnung“, Disziplin“, „lustloses Lernen“ sind weitere Attribute, die häufiger genannt wurden. Lässt man die Fassadenansicht auf Semantischen Differentialen bewerten (vgl. Abbildung 2, Schule „Berlin“), dominiert der Eindruck einer erdrückend, hart, monoton, unbelebt, starr, kalt, bedrängend, langweilig und abstoßend anmutenden Schulanlage (die hier exemplarisch gezeigte Bewertung wurde 2009 von insgesamt 40 Schülerinnen und Schülern des 11. und 12. Jahrgangs eines Kasseler Gymnasiums vorgenommen. Die Bildvorlagen waren farbig).
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Abb. 2: Polaritätenprofile der Schulansichten auf Abbildung 1 und 3
Christian Rittelmeyer
Ethische und epistemische Botschaften
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Manche Architekten äußern indessen die Meinung, die Bauform folge dem modernen Grundsatz der Gleichbehandlung aller Schüler, der Bau zeige insofern eine genuin „demokratische“ Signatur. Setzt man sich etwas genauer mit solchen unterschiedlichen „Lesarten“ der Schularchitektur auseinander, muss man zunächst anerkennen, dass ein Gebäude wie das gezeigte sehr verschiedenartig interpretiert werden kann: Als Artikulation einer klaren und vernunftgemäßen Formensprache, die symbolisch den rationalen, ordnungsstiftenden und überschauenden Geist zum Ausdruck bringt, der in Schulen heute entwickelt werden sollte. Auch als architektonische Repräsentation der Chancengleichheit, als Ort der sicheren Orientierung anstelle von Verwirrung könnte man die Bauform interpretieren. Aber man kann in der Wiederholung gleicher Elemente, in der seriellen Fassadengestaltung auch eine Demonstration antimoderner Elemente entdecken – es fehlt solchen Bauten, so der Vorwurf, gerade an wesentlichen Ausdrucksformen der Moderne: An der symbolischen Artikulation der Entwicklung bzw. Veränderung wie auch der Individualisierung. Eine solche in sich eher heterogene Baugestalt, in der verschiedenartige („individualisierte“) Einzelelemente gleichwohl zu einem stimmigen Ganzen verbunden werden und die beim Betrachter den Eindruck einer Dynamik z.B. der Fassadengestalt hervorruft, ist auf Abbildung 3 dargestellt. Wie das Polaritätenprofil (Abbildung 2, Schule „Köln“) für diese Schulansicht zeigt, wirkt sie z. B. abwechslungsreich, freundlich, heiter, schön, anziehend, belebt, ausgeglichen, freilassend, anregend und einladend. Es verwundert daher nicht, dass dieses Kölner Schulgebäude, architekturpsychologischen Untersuchungen zufolge, den Bedürfnissen und Wünschen ihrer Nutzer weitgehend gerecht wird und daher als „Schulbau der Zukunft“ bezeichnet werden kann (Walden/Borrelbach 2002; Walden 2008). Es dürfte offensichtlich sein, dass solche kontroversen „Lesarten“ der Architektur nicht theoretisch entschieden werden können. Sie stellen jedoch ein Kardinalproblem der Schulbaudiskussion dar und legen daher die Frage nahe, wie darüber argumentativ verhandelt werden kann. Wie kann man solche Kontroversen begründet entscheiden? – In der neueren Architekturpsychologie ist die Antwort eindeutig: Man sollte die Kriterien erforschen, nach denen die Nutzer ihre Schulgebäude beurteilen und bewerten (Rittelmeyer 1994; Flade 2008; Walden 2008). Da sie einen erheblichen Teil ihres Lebens in den Gebäuden verbringen, ist ihre „Lesart“ bedeutsam. In welchem SchulbauAmbiente fühlen sie sich wohl, unter welchen Bedingungen tritt das Gefühl von Unwohlsein auf? Die Antworten fallen ziemlich eindeutig aus: Heranwachsende wie auch das Lehrpersonal wünschen sich Schulen, die abwechslungsreich und anregend statt monoton und langweilig anmuten, die freilassend statt bedrängend wirken und die eine gewisse Wärme ausstrahlen – um hier nur einige bedeutsame Attribute sympathisch wirkender Schulbauten zu nennen (vgl. Rittelmeyer 2009a).
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Christian Rittelmeyer
Abb. 3: Schulgebäude in Köln (Foto: Peter Hübner)
Wie die internationale Schulbau-Forschung gezeigt hat, üben antipathisch bewertete Gebäude negative Wirkungen mindestens auf einen Teil der Schülerinnen und Schüler (und auch des Lehrpersonals) aus: Vandalismus, schlechtere Schulleistungen, erhöhte Krankheitsanfälligkeit und insgesamt ein ungünstigeres atmosphärisches Grundgefühl sind gehäuft in negativ erlebten Schulbauformen zu beobachten (zur Übersicht vgl. Rittelmeyer 2008, 2009a). Von Schülern genannte Attribute unsympathisch wirkender Schulbauten sind unseren Untersuchungen zufolge z.B. „Charakterlosigkeit“, „Monotonie“, „Brutalität“, „Kälte“ und „Menschenfeindlichkeit“. Daher bleibt hier zunächst festzuhalten: Jeder Schulbau, jedes Schulbau-Detail konfiguriert bestimmte Botschaften. Diese haben mehr oder minder manifeste Wirkungen auf Körper, Geist und Gefühl der Nutzer dieser Gebäude. Ein trostlos, brutal oder unmenschlich anmutendes, aber auch ein einladend, freundlich und interessant wirkendes Gebäude zeigt ersichtlich unsoziale oder soziale, d.h. ethische Botschaften. Das gilt auch, wenn Schüler z.B. wahrnehmen, dass ihre Schule allein nach technischen Gesichtspunkten „funktional“ geplant ist, aber keinerlei ästhetische Anregung bietet, oder umgekehrt: wenn sie den Eindruck haben: „Hier hat man sich Mühe gegeben, unseren Aufenthalts- und Lernort so schön und angenehm wie möglich zu gestalten.“ – Das Einleitungsbeispiel
Ethische und epistemische Botschaften
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macht aber darüber hinaus deutlich, dass Schulbauten immer auch epistemische Botschaften vermitteln können: Dann sind Fragen der Wahrheit und Falschheit berührt. Artikuliert die Baurhetorik beispielsweise Dynamik, Entwicklung, Veränderung? Zeigt sie eine sinnvolle Verbindung heterogener Elemente („Individualitäten“) zu einem sinnvollen sozialen Ganzen, so dass sie in einem tieferen Sinn dem „Projekt Moderne“ wie auch den erwähnten elementaren Freiheits- und Anregungsbedürfnissen von Schülern entspricht? Das sind Fragen, deren Beantwortung eine bei vielen Architekten und Behördenvertretern zu schulende Lektürefähigkeit für die Baurhetorik voraussetzen, ebenso aber auch Untersuchungen zum Bau-Erleben der Gebäude-Nutzer. Es gilt Gebäude in diesem tieferen Sinn als Darstellung „intellektueller Verhältnisse“ (Volkelt 1876) zu entziffern, Schulbauten also im Hinblick auf derartige ethische und epistemische Botschaften „wie Bücher zu lesen“ (Lackney 1999). Es sollte Aufgabe einer differenzierten Architektursemiotik auf empirischer Grundlage sein, solche Sinnstrukturen in Schulbauten genauer zu erforschen, um den Anspruch Heranwachsender auf eine menschenwürdige Lernumgebung zur Geltung zu bringen (ausführlicher dazu: Rittelmeyer 2009c). Aber betrifft die Frage, welche Botschaften unsere gestalteten „Lernlandschaften“ zum Ausdruck bringen, nur die Architektur? Oder ist dies nicht eine Eigenschaft z.B. auch der didaktischen Arrangements und Materialien in Schulen (und anderen Bildungsinstitutionen), der Festkultur, der Zeitgliederung mit ihren immanenten Restriktionen, der Gebärden und Gesten von Lehrern, der Unterrichtsdramaturgie, der Gebote und Verbote, der sozialen Konstellationen in den Pädagogen-Kollegien? Müsste man also, ähnlich wie die erlebte Rhetorik der Schularchitektur, nicht das gesamte Milieu einer Schule daraufhin untersuchen, welche Botschaften es transportiert – und ob es sich dabei im Sinne der Bildungsideale (wie Freiheit, Selbständigkeit, Solidarität, Kreativität, Flexibilität, Aufgeschlossenheit für Neues) um funktionale oder dysfunktionale Botschaften handelt? Das ist zwar keine unvertraute Frage, sie taucht immer wieder in der pädagogischen Praxis auf (etwa wenn über die „Schulkultur“ gesprochen wird), sie wurde nach meiner Kenntnis jedoch bisher nicht Anlass systematischer empirischer Untersuchungen. Allerdings hat es dazu wichtige Anregungen aus zwei Forschungsbereichen gegeben, die vor einigen Jahrzehnten Konjunktur hatten: aus der psychologischen Erforschung der nichtverbalen Kommunikation und aus der ursprünglich linguistisch orientierten Semiotik. Ein kurzer historischer Rückblick vor allem auf den ersten Bereich, in dessen Zusammenhang auch zahlreiche pädagogisch bedeutsame Studien durchgeführt wurden, soll zunächst die denkbaren Akzente der eben angesprochenen Milieuforschung genauer herausstellen, aber auch auf ein Kardinalproblem solcher Untersuchungen hinweisen, die gegenwärtig wieder vermehrt beobachtbar sind.
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2 Forschungen zur nichtverbalen Kommunikation – ein kurzer historischer Problemaufriss In den 1960er Jahren bis in die 1980er hat es eine breite Forschung zur Frage gegeben, welche Botschaften z.B. von bestimmten Gesten und Gebärden unterrichtender Lehrer ausgehen, welche „Mitteilungen“ bestimmte Klassenzimmer- oder Bibliothekseinrichtungen für das Unterbewusstsein von Heranwachsenden enthalten oder wie sich kaum wahrnehmbare mimische Bewegungen des Lehrpersonals auf die Leistungen und Stimmungen der Schülerinnen und Schüler auswirken. Es ist wohl kein Zufall, dass diese Studien einhergingen mit einem Bedeutungszuwachs der Semiotik, also der Lehre von den Zeichen und ihren Bedeutungen (dazu Eco 1972, ausführlich auch historisch Posner u.a. 2003, Bd. 2). Gliedert man diese verschiedenartigen Forschungsarbeiten systematisch, dann kann man die folgenden Hauptgebiete und Fragestellungen unterscheiden: 1.
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Territoriales Verhalten: Als territoriales Verhalten wird der exklusive Gebrauch von Territorien durch Individuen bezeichnet. Welche Sitzkonstellationen lassen sich z.B. in Universitäts- und Schulbibliotheken beobachten, welche Lernstrategien lassen sich an solchen Sitzordnungen erkennen, wie markieren Studierende ihre „persönlichen Räume“ z.B. an den Arbeitstischen, wo in der Schulcafeteria sitzen sie bevorzugt aus welchen Gründen? Wo halten sich Jugendliche auf Schulhöfen bevorzugt auf, welche Wege nehmen sie aus der und in die Schule, welche Territorien meiden sie, welche Sitzmöglichkeiten bevorzugen sie, welche meiden sie eher? (Z.B. Ardray 1966; Graumann 1988; Hall 1976: Sommer 1969). Zum territorialen Verhalten kann man ferner den „persönlichen Raum“ (personal space) rechnen, der jeden Menschen als eine Art private Sphäre umgibt – überschreiten Fremde diese Grenze, wird das z.B. als zudringlich erlebt. Diese „Pufferzonen“ sind häufig unregelmäßig geformt (z.B. im Rücken weiter als vor der jeweiligen Person), auch unterscheiden sich verschiedene Menschen in dieser Hinsicht und auch im Hinblick auf andere – z.B. befreundete oder fremde – Personen: Entsprechend können die Grenzen und Formen von Begegnung zu Begegnung wechseln, sie sind wie eine plastische Aura beschaffen (Beispiele in Argyle 2005; eine gute und kritisch kommentierte Übersicht bietet Salewski 1993). Proxemik: Unter diesem Titel wurden personale metrische Distanzen und ihre kommunikativen Bedeutungen untersucht. Welche Botschaften werden z.B. zwischen Schülern auf dem Schulhof durch die Abstandspositionen ausgetauscht, die sie im Gespräch von Körper zu Körper einnehmen? Wie sind die Körperkonstellationen von Kindern verschiedener Ethnien beschaffen, wie die von Mädchen untereinander oder im Gespräch mit Jungen, wie die von Lehrerinnen und Lehrern im Hinblick auf bestimmte Schüler oder Kollegen – und
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was wird durch solche metrischen Konstellationen einander mitgeteilt? (Z.B. Hall 1974, 2003; Watson 1970; Salewski 1993; Poggendorf 2006). 3.
Kinesik: Diese Forschungsrichtung ist auf die Botschaften (oder „Körpersprachen“) bezogen, die von Gesten, Gebärden oder allgemeiner von Körperbewegungen ausgehen. So hat z.B. Albert Scheflen interessante Studien zur Frage durchgeführt, wie Psychotherapeuten – ohne dies zu bemerken – durch ihre Körpergesten (Beine überkreuzen, sich zurück- oder vorlehnen, Hände falten oder den Kopf neigen) bestimmte Mitteilungen an ihre Klienten senden, die von diesen häufig in einer fast choreographischen Manier beantwortet werden – dabei ebenfalls Botschaften generierend. Dieses „Spiel“ ereignet sich, von beiden Parteien unbemerkt, gleichsam parallel zur eigentlichen Unterhaltung, bestimmt aber die wahrgenommene Persönlichkeit des jeweils anderen Menschen und das gesamte soziale Geschehen entscheidend mit (Scheflen 1974, 1976; ferner dazu auch Argyle 2005; Birdwhistell 1970; Davies/Skupien 1982). – David McNeill hat Unterschiede typischer Gesten von Kindern und Erwachsenen studiert (1986). Dabei konzentrierte er sich auf ikonische Gesten, die in einer kulturell teilweise kodifizierten, häufig aber auch idiosynkratischen Manier das kommentieren und qualifizieren, was gleichzeitig verbal ausgedrückt wird. Dabei kann durchaus der Eindruck entstehen, dass verbale und nichtverbale Botschaft konfligieren, so dass die Glaubwürdigkeit der erstgenannten Aktivität in Frage steht. Der gesamte verbale und nonverbale Sprechakt gibt aber häufig auch die Images, die mentalen und sensomotorischen Bilder umfassender wieder, die das kognitive und seelische Geschehen eines Individuums leiten. So spielen z.B. – was man vielleicht eher nicht erwarten würde – bestimmte Handgesten und Körperhaltungen auch bei der Erläuterung abstrakter mathematischer Ideen eine konstitutive Rolle. Für wissenschaftliche Beobachter entstehen daher häufig umfassendere Eindrücke der mentalen Repräsentationen, als sie die Analyse nur der verbalen Botschaften ergeben – ein methodologisches Problem, das für die bei Pädagogen so beliebten Textanalysen von erheblicher Bedeutung ist (siehe Abbildung 4 als Beispiel einer Notation ikonischer Gesten und Körperhaltungen, die jeweils einen Sprechakt begleiten). Auch die Gebärdensprache von Lehrern ist in diesem Zusammenhang ausführlich studiert worden, einschließlich ihrer häufig relativ übereinstimmenden „Lektüre“ durch Kinder (z. B. Neill 1991; dazu auch Heinemann 1976; Rosenbusch/Schober 1986; Pilarczyk/Mietzner 2005). Besonders bekannt wurden die Studien Robert Rosenthals und anderer zum so genannten PygmalionEffekt, d.h. zur unbewussten Steuerung des Selbstbildes von Schülern durch unter Umständen unrichtige Erwartungshaltungen der Lehrer:
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Abb. 4: Notationsbeispiele für Handgesten (McNeill 1986)
Wenn Lehrer bestimmte Meinungen über Schüler haben, teilen sie diese häufig unbewusst durch ihre Gesten, physiognomischen Signale und Intonationsmodi mit (Rosenthal/Jacobsen 1971; zusammenfassend Ludwig 1991). Diese nichtverbalen bzw. paraverbalen Mitteilungen können sich manifest auf das Schülerverhalten (z.B. auf ihre Leistungsmotivation) auswirken. Ich werde gleich darauf zurückkommen. Da solche Botschaften häufig nicht nur gestisch, son-
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dern auch paraverbal und physiognomisch (Intonation, Heben der Augenbrauen, Senkung der Lider, „Kräuseln“ der Stirn usw.) vermittelt werden, berühren diese Studien bereits die folgenden beiden Untersuchungsgebiete. Physiognomie: Dass verbale Äußerungen häufig durch die sie begleitenden mimischen Ausdrucksformen akzentuiert und kommentiert werden, ist sicher jedem bekannt. Ebenso, dass Gemütsverfassungen wie z.B. Trauer, Freude, Erschrecken oder Nachdenklichkeit sehr wesentlich durch physiognomische Äußerungen kommuniziert werden. Dabei spielen allerdings auch Gebärden und Gesten eine wichtige Rolle – wie überhaupt die hier aus systematischen Gründen getrennten Aspekte des menschlichen Verhaltens immer im Zusammenhang betrachtet werden müssen. Christiane Doermer-Tramitz (1990) hat beispielsweise mit versteckter Kamera die komplexe mimisch-gestische Kommunikation untersucht, die sich bei der ersten Kontaktaufnahme zwischen Studierenden ereignet: Dabei sind Aktivitäten beobachtbar, die wie eine geheime Grammatik der Verhaltenssequenzen fungieren. – Angesichts der besonderen Ausdruckskraft der menschlichen Physiognomie verwundert es nicht, dass mimische Phänomene zu den besonders häufig untersuchten Verhaltensweisen der Ausdruckspsychologie gehören (z. B. Dittmann 1973, Feldman/Rime 1991; Ekman 2004; Schüle 1976; Hess 1977; Espenschied 1984; im Hinblick auf Lehrer auch Neill 1991). Zahlreiche Forscher haben in dieser Hinsicht kulturvergleichende Studien vorgelegt und festgestellt, dass es einige mimische Muster gibt, die in allen bisher untersuchten Kulturen eine bestimmte Bedeutung haben (z.B. als Ausdruck von Angst oder Zorn gelten), andere Formen der Mimik sind erkennbar kulturell bedingt und keine anthropologischen Universalien (z.B. Ekman 2004; Ekman u.a. 2002; Armstrong 1995). Interessant sind in diesem Zusammenhang die neueren Studien von David Matsumoto und Bob Willingham (2009) an blinden und sehenden Athleten, die weitgehend identische mimische Reaktionen z. B. während sportlicher Misserfolge zeigten. Nach Meinung der Autoren beweist dies, dass bestimmte mimische Ausdrucksformen angeboren sind. Paralinguistik: Diese Forschungsrichtung befasst sich mit der Frage, welche Botschaften Menschen durch die Intonation ihrer Rede, durch ihren Sprachrhythmus, durch Phrasierung und Interjektionen zum Ausdruck bringen. Komplexe Notationssysteme wurden für diese Forschungen entwickelt, die auch mimische Ausdrucksformen erfassen (z.B. Pittenger u.a. 1960; Sebeok 1972). Die ausführlich auch im Rahmen der Bindungsforschung und Psycholinguistik untersuchte prosodische Sprechweise von Müttern mit ihren Kindern gehört ebenfalls in dieses Forschungsgebiet (Heimlich/Mark 1990; Rittelmeyer 2005, 61ff.), ebenso die Ausdrucksgestalt von Stimmen z.B. des Lehrpersonals in Schulen (Heinemann 1976). In methodischer Hinsicht ist die Interaktions-
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analyse einer psychiatrischen Unterhaltung von Pittenger und anderen interessant: In solchen anamnestischen und therapeutischen Gesprächen werden die Klienten-Probleme häufig weniger verbal beschrieben als durch bestimmte Phrasierungen, Stimmlagen oder Stimmvariationen demonstriert (Pittenger u. a. 1960). Das „Phänomen Stimme“ ist aber dennoch bisher insbesondere in pädagogischer Hinsicht erst wenig untersucht worden (vgl. dazu auch Gundermann 1994; Eckert/Laver 1994). Semiotik der materiellen Gegenstände: Methodisch überzeugende empirische Studien sind auf diesem Gebiet bisher eher selten zu finden. Dennoch haben sich zahlreiche Autoren auch schon in den 1970er bis 1980er Jahren mit dem Thema beschäftigt (z.B. Eco 1972; Hall 1976; Knapp/Hall 1992). Wie wichtig dieses Forschungsgebiet nicht zuletzt auch für Jugendpsychologie und Pädagogik sein kann, zeigt die Bedeutung der Kleidermoden für die soziale Interaktion von Jugendlichen. Sie differenzieren und betonen Geschlechtsmerkmale, demonstrieren die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen und Subgruppen innerhalb einer Kultur (Stände, Berufsgruppen, Altersgruppen, Jugendcliquen, politische Interessengruppen etc.), sind insbesondere historisch betrachtet Ausdruck der Zugehörigkeit zu bestimmten existierenden oder vergangenen sowie regionalen Kulturen, dienen der Darstellung von Individualität und Identität oder auch der ästhetischen Selbst-Inszenierung (z.B. Baacke 1988; Zinnecker 1983; Deutscher Werkbund 1986; Barthes 1984; Bovenschen 1986; Cordwell/Schwarz 1979). Wie weitgreifend dieser Bereich gegenwärtig wieder untersucht wird, zeigt das monumentale dreibändige Überblickswerk zur Semiotik von Roland Posner und anderen (1997-2003), das allerdings auch die weiteren hier genannten Forschungs-Bereiche zur Semiotik zählt (vgl. den Überblick von Luccio 1997). Sozialpsychologie des Raumes/Architektursemiotik: Man könne, so der amerikanische Schulbauforscher Jeffery A. Lackney, einen Schulbau wie ein Buch lesen – eine entsprechende Alphabetisierung für die Lektüre architektonischer Gebilde vorausgesetzt (Lackney 1999). Wie sehr diese Behauptung auch empirisch zu fundieren ist, wurde einleitend gezeigt. Es gibt und gab zwar eine Fülle von Literatur zu diesem Thema – der Korpus entsprechender empirischer Forschungen ist jedoch immer noch schmal (Eco 1972, 293ff.; Graumann 1988; Rittelmeyer 2009c). Denkt man jedoch beispielsweise an die Attribute, mit denen Jugendliche ihre Zimmer (auch für andere) dekorieren, wird die Bedeutung des räumlichen Milieus nicht nur für das Lernen, für die körperliche Befindlichkeit und für seelisches Wohlbefinden, sondern auch für die Selbstdefinition und Außendarstellung deutlich (z.B. Fuhrer/Laser 1997; Csikszentmihalyi/RochbergHalton 1988).
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Es fällt auf, dass in diesem Katalog sichtbare und hörbare Phänomene der interpersonalen Kommunikation vorherrschen. Jeder, der als Erwachsener eine Schule betritt und den typischen Geruch aus Kleidung, Schülerschweiß, Putzmitteln und Schulranzen wahrnimmt, wird indessen die Aktivierung mehr oder minder angenehmer Erinnerungen an die eigene Schulzeit schon erlebt haben. Botschaften, die von Gerüchen ausgehen, sind aber bisher kaum untersucht worden, obgleich es diesen Typus von Kommunikation zweifellos gibt (z.B. Maiworm 1993; Stern/McClintock 1998). Bei der wissenschaftlichen Erforschung nichtverbaler Kommunikationsmöglichkeiten müsste man daher alle „Sinnesmodalitäten“ in Betracht ziehen, über die wir Botschaften wahrnehmen. Dennoch reichen die gegebenen Hinweise aus, unser soziales und gegenständliches Bildungsmilieu als eine „semiotische Szenerie“ zu erkennen – als eine permanent Botschaften generierende „Lernlandschaft“, die unsere Wahrnehmungen der Welt, wenngleich in der Regel unerkannt, wesentlich mitprägt. Dieser pädagogisch-praktische Aspekt macht sie zu einem wichtigen, bisher kaum erforschten Gegenstand der Erziehungswissenschaft. Aber warum haben die zahlreichen empirischen Untersuchungen, die zuvor mit einigen Beispielen angedeutet wurden, so wenig Resonanz in der Pädagogik gefunden? Warum ist es in den 1990er Jahren um die Forschungen zur nichtverbalen Kommunikation derart still geworden, dass sie vielen Psychologen und Pädagogen überhaupt nicht oder kaum noch bekannt sind? Nach meinem Eindruck sind dafür mindestens zwei Umstände maßgebend: Die relativ wildwüchsige Anhäufung von Forschungsarbeiten, die zu einer ausgeprägten Orientierungslosigkeit und damit zu einer fehlenden praktischen Perspektive in diesem Forschungssektor führte, und die Unverbundenheit von empirischen Arbeiten zum Thema auf der einen und philosophischen, anthropologischen, phänomenologischen sowie historischen Arbeiten auf der anderen Seite (letztere wurden z.B. von Flusser 1991; Engel 1957 oder Straus 1960 vorgelegt). So sind beispielsweise zum Thema der Gebärde interessante historische Exkurse (etwa in Goethes „pädagogische Provinz“ mit ihren drei Grundgebärden der Ehrfurcht oder in die Geschichte der Gebärden in reformpädagogischen Zusammenhängen) publiziert worden, auch in der didaktischen Diskussion zur Gehörlosenpädagogik spielen mimisch-gestische Ausdrucksformen eine große Rolle, man denke aber auch an die Rolle von Ausdruckstanz oder Eurythmie in Schulen der 1920er Jahre und in Waldorfschulen (vgl. dazu Bleckwenn 1986). Wenn man von Gesten und Gebärden spricht, entstehen natürlich auch definitorische Fragen – sie sind ausgiebig in der Fachliteratur diskutiert worden und haben ihrer Vielfalt wegen zu weiteren Orientierungsproblemen geführt. So gibt es beispielsweise Kontroversen zur Frage, ob nichtverbale Botschaften eine eigenständige „Sprache“ konstituieren oder ob sie eher Begleiterscheinungen der verbalen Sprache sind (Feyereisen/Lannoy 1991; McNeill 1987). Die Analyse von Gesten und Gebärden hat darüber hinaus zu einem sehr differenzierten Ordnungssystem ihrer Artikulationsformen geführt: Bewegungen, die Worte akzentuieren (batons), werden von Körperbewegungen unterschieden, die
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begleitende Sprechakte nicht kommentieren (beats). Illustratoren und ikonische Gesten verbildlichen den verbalen Sprechakt (iconix, metaphorix), Embleme (emblems) sind stark konventionalisierte bedeutungstragende Gesten (z.B. an die Schläfe pochen für „plemplem“), was wiederum für die erstgenannten Artikulationsformen nicht notwendig gilt. Ideographische oder pantomimische Gebärden und Gesten sind weitere Differenzierungsmöglichkeiten, auch eine Skala von ubiquitären bzw. interkulturell verbreiteten Gesten (z.B. Armausbreiten von Kleinkindern, die auf den Arm genommen werden möchten) können von idiosynkratischen, also individuell typischen oder subkulturellen, historisch und regional stark variierenden „Körpersprachen“ unterschieden werden, während eine Zwischenzone durch Gestenrepertoires in größeren Kulturen und über weitere Zeiträume gekennzeichnet ist – so etwa die viel untersuchte „American Sign Language“ (ASL), also eine in Nordamerika verbreitete Gebärdensprache (Armstrong u.a. 1995). – Wenn man sich diese verwirrende Vielfalt von beachtenswerten Einzelaspekten ansieht und dann überlegt, in wie vielen sozialen Konstellationen und mit wie vielen pädagogisch-praktischen Fragestellungen man sie untersuchen könnte, kommt man rasch zur Frage: Wie kommt man aus der Anhäufung vielleicht nur regional und temporär gültiger Erkenntnisse heraus und in eine erziehungswissenschaftlich sinnvolle Untersuchungsstrategie hinein? Nach meiner Kenntnis wurden bisher keine Forschungsarbeiten zu den nichtverbalen Botschaften des gegenständlichen und sozialen Erziehungsmilieus mit dieser reflexiv begründeten Fragestellung und Zielsetzung publiziert. Eine solche phänomenologisch und bildungstheoretisch orientierte Auswertung, aber auch Planung von Forschungsarbeiten zur nichtverbalen Kommunikation erscheint nicht zuletzt auch deshalb notwendig, weil gegenwärtig eine Renaissance entsprechender Untersuchungsprojekte mit einer Flut von neuen Publikationen zu beobachten ist. Das betrifft insbesondere die Erforschung menschlicher Körperbewegungen, speziell der Gesten. Ein durch Roland Posner und andere Mitte der 1990er Jahre an der Technischen Universität Berlin (Arbeitsstelle für Semiotik) initiiertes, interdisziplinäres Forschungsprojekt zur Sprache der Gesten und Körperbewegungen ist hier zu nennen, das unter anderem zu einem „Berliner Lexikon der Alltagsgesten“ führte und neue Analyse-, Transkriptions- und Kodierungssysteme (unter anderem einen Sensorhandschuh zur elektronischen Registrierung der Gesten) sowie zahlreiche Forschungsarbeiten hervorbrachte (vgl. z.B. Schmauser/Noll 1999). Ein Verbundprojekt verschiedener Universitäten und Disziplinen stellt auch das Berlin Gesture Center / Berliner Zentrum für Gestenforschung dar. (www.berlingesturecenter.de). Es ist mit entsprechenden Einrichtungen in den USA und in Holland vernetzt und sieht eine praktische Perspektive ausdrücklich auch in der Anwendung auf Lernprozesse und interkulturelle Bildung/Verständigung. Da unter anderem auch kommunikative bzw. semiotische Aspekte ästhetischer Darbietungen (Bildkunst, Musik, Literatur) sowie der Comics und Bildschirm-Medien behandelt werden, hat der Begriff des Gestischen
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allerdings einen sehr weiten Bedeutungshorizont und überschreitet die klassische Disziplin der Kinesik (vgl. z.B. Müller 1998; Cienki/Müller 2008; Müller/Posner 2004). Ähnlich ambitioniert ist auch das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Kulturen des Performativen“ an der Freien Universität Berlin, das Gesten in der Malerei, hinduistische Grußgebärden, Berührungsgesten, Tanzbewegungen oder Körperzeichen untersucht – um hier nur wenige Beispiele zu nennen. An der Humboldt-Universität in Berlin ist eine interessante Arbeit von Ulrike Pilarczyk und Ulrike Mietzner (2005) über das gestische Repertoire von Lehrerinnen und Lehrern erschienen, das unter anderem über Fotografien der deutschen Nachkriegszeit erschlossen wurde. Dies alles sind aber nur Beispiele dessen, was man eine Renaissance der Semiotik und Kinesik nennen kann. Schließlich sind in diesem Zusammenhang auch historische Arbeiten zur Geschichte der Gesten interessant – etwa Paul Zankers ikonographische Analysen der in der Antike entstehenden Gelehrtengeste (gebeugt sitzen, Finger an die Stirn gelegt für „Nachdenken“, vgl. Zanker 1995; Bremmer/Roodenburg 1991). Wie also kann man diese Erkenntnisse nutzbar für die Pädagogik machen, ohne sich auf Irrwege im Forschungsdschungel zu begeben? 3 Die Identifikation epistemischer und ethischer Botschaften im nichtverbalen Bildungsmilieu Heranwachsender: Forschungsperspektiven Zunächst: Es gibt durchaus Hinweise in einzelnen Forschungsarbeiten, die man mit Gewinn für eine phänomenologisch begründete Erziehungstheorie „nichtverbaler Lernlandschaften“ oder „semiotischer Szenerien“ heranziehen könnte. So sind z.B. Armstrong u.a. (1994) der Frage nachgegangen, wie es im Verlauf der Menschheitsentwicklung zur Entwicklung grammatischer Kompetenzen (im Sinne der „angeborenen Sprachmechanismen“ nach N. Chomsky) kommen konnte. In ihrem Buch „Gesture and the Nature of Language“ versuchen sie zu zeigen, wie eine Präformation grammatischer Kompetenzen bereits in bestimmten Gesten entdeckt werden kann. Um dies an einem sehr einfachen Beispiel zu illustrieren: Wenn man sich die linke Hand stößt und instinktiv mit der rechten Hand die linke schützend umgreift, ist hier bereits die Struktur von Objekt (linke Hand) und Subjekt (rechte Hand), von Nominal- und Verbalphrase präformiert. So lassen sich bereits in der Extremitätenbewegung gewisse präkognitive geistige Strukturen identifizieren. In heutigen Sprechhandlungen sind Gesten und grammatisch wohlgeformtes Sprechen freilich so sehr verbunden, dass diese evolutive leibliche Komponente erst durch sorgfältige Analysen identifiziert werden kann (z.B. Feyereisen/Lannoy 1991; McNeill 1986). Das wirft die Frage auf, ob in der kindlichen Entwicklung Körpergesten und Gebärden etwa beim Sprechenund Sprachenlernen gerade wegen dieser präkognitiven Strukturen hilfreicher sein könnten als ein sensomotorisch stillgestellter Unterricht. Neuere Untersuchungen legen in der Tat nahe, dass die Armut oder Reichhaltigkeit des frühkindlichen Gestenrepertoires mit der späteren niedrigeren oder höheren Sprachkompetenz korreliert
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(Rowe/Goldin-Meadow 2009). Solche Fragen zu stellen, setzt jedoch nicht nur eine Kenntnis der einschlägigen Gebärdenforschung voraus, sondern auch bildungstheoretische Analysen dessen, was genau an elementaren Strukturen eine motorische Lernsituation der erwähnten Art enthält, welche „Botschaft“ ihr also inhärent ist. Ein anderes Beispiel: Dass die zahlreichen Studien zum so genannten Pygmalionoder Rosenthal-Effekt zu sehr verschiedenartigen Ergebnissen geführt, dass die behaupteten Effekte selber zwischenzeitlich sogar als trojanisches Pferd der Schulpsychologie bezeichnet wurden (Weidemann/Krapp 1986, 333), liegt nach meinem Eindruck daran, dass man auf alle möglichen sekundären Effekte des Lehrerverhaltens, nicht aber auf die grundsätzliche Frage der immer von der mentalen Kultur gesteuerten körperlichen/mimischen und paraverbalen Gesten geachtet hat, vor allem aber auch nicht auf die grundlegende Frage nach dem eigentlichen „Ethos“ der Lehrenden Schülern gegenüber. Die identifizierbaren elementaren Botschaften des nichtverbalen Lehrverhaltens sind Ausdruck einer mentalen Kultur derer, die sie in Szene setzen. Die in den 1970er Jahren vielfach diskutierten und untersuchten Phänomene des PygmalionEffektes, d.h. der unbewussten Steuerung des Selbstbildes von Schülern durch unter Umständen unrichtige Erwartungshaltungen der Lehrer, haben immerhin diese Einsicht erbracht: Wenn Lehrer bestimmte Hypothesen oder Vorurteile über Schüler haben, teilen sie diese häufig unbewusst durch Gesten, Mimik und Intonation mit, ob sie es wollen oder nicht. Zwar scheinen bestimmte Schüler sensibler für solche Botschaften als andere zu sein, auch teilen verschiedene Lehrer ihre Erwartungen und Vorurteile auf unterschiedlichen „Kommunikationskanälen“ mit. Aber die Signifikanz dieser Botschaften ist heute kaum noch umstritten: Man kann auf Dauer nicht verbergen, mit welchen Einstellungen man anderen Menschen begegnet (zusammenfassend dazu: Ludwig 1991). Das aber zeigt die Wichtigkeit der mentalen pädagogischen Haltung, der grundsätzlichen Einstellung Heranwachsenden gegenüber. Anders ausgedrückt: Lehrerinnen und Lehrer müssten sich überlegen, welche innere Haltung auch „schwierigen“ Schülern gegenüber pädagogisch angemessen ist – eine Frage der „Seelenkultur“ und damit der Lehrerbildung. Es ist aber auch eine Frage mit grundlegenden ethischen und epistemischen Implikationen. Der Zusammenhang von bestimmten mentalen Einstellungen, nichtverbalen Botschaften an Schüler und deren Effekte auf die Selbsteinschätzung der einzelnen Klassenmitglieder könnte von einem solchen Ansatz her gut erforscht werden, wenn auch mit einem erheblichen methodischen Aufwand. Ein weiteres verfolgenswertes Beispiel sind Gesten und Gebärden, die uns im Sport, in der (therapeutischen) Gymnastik, im Tanz und Schultheater begegnen. Um sich für die denkbaren epistemischen und ethischen Botschaften derartiger Handlungsformen zu sensibilisieren, scheint mir ein historischer Exkurs in eine Kultur hilfreich zu sein, die wie keine andere ihre pädagogischen Ideale auch immer im gegenständlichen Bildungsmilieu inszenierte: Die Kultur der klassischen griechischen Antike.
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Gemeinsam mit Heike Klünker habe ich im Jahr 2005 ein Buch veröffentlicht, das diesem Bildungssinn des gegenständlichen Milieus am Beispiel der Feste, Feiern, Mythen, Kunstwerke, Kleidermode, gymnastischen und musischen Übungen nachging (Rittelmeyer/Klünker 2005). Die Griechen jener „klassischen“ Zeit des 5. und 4. vorchristlichen Jahrhunderts artikulierten und manifestierten ihre Bildungsvorstellungen vorrangig nicht in der Gestalt theoretischer Erörterungen, sondern als sinnliche Inszenierungen, die eine spezifische „Lernlandschaft“ konfigurierten. Es war beispielsweise überraschend für uns, dass in den modernen Standardwerken zum Fünfkampf (Pentathlon), der im Rahmen der Gymnastiké einen zentralen Stellenwert für das griechische Bildungswesen hatte, eine Konzentration auf die athletischen Merkmale erfolgte, während die sehr häufig im Kontext historischer Dokumente genannten ästhetischen, epistemischen und ethischen Attribute ausgeblendet wurden. Das führt dazu, die Übungen der Gymnastiké in Analogie zu modernen Sportübungen zu sehen – was jedoch den Kern jener antiken Bildungsmittel nicht mehr sichtbar werden lässt. Studiert man beispielsweise Textdokumente und Abbildungen der FünfkampfDisziplin des Wettlaufs (drómos) genauer, wird rasch deutlich, dass nicht allein die Schnelligkeit des einzelnen Läufers im Blick stand, sondern auch der Eindruck des leichten Dahinfliegens, der (scheinbaren) Emanzipation von den Gravitationswirkungen, der zum Ausdruck gebrachten Beherrschung des gesamten Körpers – erst damit entstand der für jene Zeit so wichtige Eindruck eines „schönguten Menschen“ (kalóskagathós), also die sinnliche Inszenierung eines ästhetischen und ethischen Ideals. Es ist auffällig, dass dieses Austarieren von Schwere und Leichtigkeit, von „Dahinfliegen“ ohne flüchtig zu werden und „Bodenhaftung“ ohne schwer zu wirken, ein Bildungstopos ist, der weit über die Gymnastiké hinaus bedeutsam war. Stellt man sich beispielsweise eine Tempelfassade wie die auf Abbildung 5 gezeigte in die Breite gezogen vor, so wirkt sie schwer, würde man sie bei gleicher Breite in die Höhe verlängern, wäre die Konstruktion nicht mehr standfest, sie würde labil oder flüchtig wirken. Diese „Mitte“ zwischen zwei entgegengesetzten Prinzipien ist aber ein Bildungsideal der klassischen Antike überhaupt, das hier, gleichsam objektiviert, als Vor-Bild für das sympathetische oder mimetische Lernen Heranwachsender fungiert (wir haben diesen Gedanken ausführlich und mit zahlreichen Beispielen in dem genannten Buch erläutert). Auch die typischen Vasenformen jener Zeit demonstrieren diese „Mitte“ (mesotés) zwischen erlebter Schwere und Leichtigkeit, zwischen Gravitationszwang und der scheinbaren Emanzipation von Schwerkraftwirkungen.
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Abb. 5: Rekonstruktion einer dorischen Tempelfassade (Rittelmeyer/Klünker 2005)
Aristoteles (1967, 145) schilderte in seiner „Nikomachischen Ethik“ die Maxime einer „rechten Mitte“, eines „rechten Maßes“ auch mit Blick auf die Umgangsformen zwischen Menschen. Ein gutes Gespräch kann nach Meinung des Philosophen erst dann entstehen, wenn die Partner wechselseitig weder zu Schmeichlern noch zu Grobianen werden, sondern sowohl die eigene Person zur Geltung bringen als auch wirkliches Interesse und echten Verständniswillen für das entwickeln, was der andere mitteilen möchte. Man muss also die „rechte Mitte“ zwischen diesen Extremen finden, wenn humane Grundsätze den Diskurs bestimmen sollen. Die „rechte Mitte“ ist jedoch nicht aus Grobian und Schmeichler gemischt oder deren neutraler Zwischenzustand, sondern ein Neues, das in jeweiliger Abgrenzung von den genannten Verhaltensextremen entsteht und deren Kenntnis daher voraussetzt. Die Inszenierung auch solcher Extreme – etwa in Gestalt der Tragödie und Komödie oder des Dionysischen und Apollinischen – gehörte allerdings zu den wichtigen Bildungsmomenten der klassischen griechischen Antike: Erst an ihrem Erleben wird die Idee der „Mitte“ fassbar. Festzuhalten bleibt jedoch, dass in den austarierten Formen der Tempel, Vasen und Skulpturen nicht nur funktionale oder ästhetische, sondern auch ethische Botschaften (wie die der „ rechten Mitte“) zum Ausdruck kommen. Die im Hinblick auf die Disziplin des Wettlaufs schon erwähnte szenisch zur Anschauung gebrachte Körperbeherrschung weist auf ein zweites antikes Bildungsideal neben der „Mitte“ hin: auf die Besonnenheit und Selbstbeherrschung (sophrosyne). Wenn wir nochmals das Beispiel des Péntathlon aufgreifen und nunmehr den Weitsprung ins Auge fassen, können auch in dieser Disziplin die erwähnten Bildungsideale als konkrete sinnliche
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Inszenierungen identifiziert werden (vgl. Abbildung 6). Der offenbar häufig von anfeuerndem Flötenspiel begleitete Weitsprung hatte nämlich, wie man antiken Bild- und Textdokumenten entnehmen kann, nicht nur einen möglichst weiten Sprung zum Ziel, sondern auch den Anblick eines schönen „Ab- und Anflugs“ sowie einer eleganten Sprungspur. Das wiederum war nicht, wie man heute vermuten könnte, ein primär ästhetisch motivierter Wunsch; „schön“ (kalós) war ein Weitsprung vielmehr erst dadurch, dass sich in ihm beispielsweise durch die harmonía der gesamten Körpergeste, durch das Vermeiden gespreizter Beine (wie sie heutige Zeitlupenaufnahmen des Springens zeigen), durch Beherrschung des Körpers ohne den Ausdruck von Zwang oder Gewalt „Besonnenheit“, „Selbstbeherrschung“ usw. zeigten (sophrosyne). Die Sprunggewichte wurden offenbar beim Aufsetzen zurückgerissen, um auch hier ein – für das griechische Empfinden unschönes – Hinfallen der Athleten zu verhindern. Man kann an solchen Beispielen bemerken, dass der Ausdruck ethischer Ideale in den gymnastischen Übungen und Wettkämpfen auch den ästhetischen Eindruck konfiguriert – ein kalóskagathós, ein „schönguter“ Mensch wirkt schön gerade durch den Ausdruck des Bildungsideals in seiner Gestalt und Bewegungseigenart.
Abb. 6: Weitsprung. Malerei auf einer Trinkschale. 5.Jh.v.Chr. (Rittelmeyer/Klünker 2005)
Je weitgreifender man nun die Tänze, theatralischen Darbietungen, Mythen, Orakelgebungen – kurzum: das gegenständliche kultische und soziale Milieu studiert, in dem Kinder und Jugendliche jener Zeit aufwuchsen, umso deutlicher wird, dass hier – wie vermutlich in keiner anderen dokumentierten historischen Kultur – eine „Lernlandschaft“ existierte, in der sich Bildungsideale auch gegenständlich artikulierten –, ohne
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dass dies, wie wir das heute ausdrücken würden, didaktisch arrangiert worden wäre. Es war tatsächlich eine intuitiv und vielleicht aus einem ausgeprägten künstlerischen Empfinden hervorgebrachte „Bilderschrift der Empfindungen“ (nicht der Reflexionen). Diese vermittelte kontinuierlich bestimmte Botschaften an Heranwachsende. Das setzte natürlich eine relativ geschlossene mentale Verfassung mit normativen Lebensformen voraus, die man heute in den meisten Kulturen nicht mehr vorfindet. Aber das einleitend beschriebene Forschungsbeispiel zur „Sprache“ der Schulbau-Architektur macht deutlich, wie man sich solchen Aspekten unserer „Bildungslandschaften“ auch in einer modernen und empirisch aufgeklärten Weise nähern kann – mit erheblichen praktischen Konsequenzen für die menschenwürdige Gestaltung des materiellen Bildungsmilieus.
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Ästhetische Bildung. „Lernen mit allen Sinnen“ und vollem Verstand Mit einem Exkurs zur geographischen Exkursionsdidaktik Wenn Kinder die dunkle Höhle eines toten Baumstamms in unsicherer Erwartung vorsichtig tastend erkunden, tun sie das im Spiel und aus eigenem Antrieb. Wenn sie dazu aber als Moment pädagogisch arrangierter Bemühungen angehalten werden, tun sie etwas anderes. Die Situation ist schon im Vorhinein gegen jede Plötzlichkeit gefeit; zum einen weil sie nicht als Kinder, sondern als „Lerner“ (so funktionalistisch heißen sie im Sprachgebrauch einer szientistisch überhöhten Expertensprache) an ein „situiertes“ Medium organisierten Lernens platziert werden. Zum anderen, weil sie sich in ihrer gemeinsamen Situation in einer Abhängigkeit von der Machtposition des Lehrenden befinden, der zu wissen glaubt, was er seinen „Lernern“ aufgibt. Der Ausgang der Begegnung ist so auch nicht tatsächlich offen. Das pädagogische Arrangement scheut schon aufgrund formalrechtlicher Absicherungszwänge jedes Risiko eines authentisch Plötzlichen. Die Begegnung folgt einem konstruierten Plan, der Ausdruck eines pädagogischen Programms ist. An die Stelle der zufälligen Baumhöhle tritt schließlich der arrangierte „Fühlkasten“, dessen sinnliche Erkundung vom Zufall ebenso gereinigt ist wie von individuellen Bedürfnissen. Die gemeinsame Situation der Kinder hängt am intentionalen Tropf des pädagogischen Kalküls. Alle erlebbaren Eindrücke sind gleichsam programmiert, weil die Dinge im synthetischen Hohlraum für bestimmte Eindruckseffekte drapiert sind. Da schulerfahrene Kinder wissen, dass kein pädagogisches Arrangement wirklich Plötzliches erwarten lässt, mangelt es der Situation von vornherein an der Erwartung einer Authentizität des offenen Ausgangs. Schon der Anlass des „Abenteuers“ hat aseptischen Charakter, weil er nicht aus der Lebendigkeit einer Lebenssituation erwachsen ist. Was schließlich (zwangsläufig) gefunden wird, ist nichts authentisch Überraschendes, sondern ein Marionetten-Effekt, nicht Fundsache des Spiels auf der Grenze zwischen Selbst und Welt, sondern Produkt einer medial inszenierten Vermittlung. Die „Fühlkiste“ steht exemplarisch für eine Fülle strukturähnlicher Methoden „Ästhetischer Bildung“, deren Inszenierungen sich meist mehr in erkenntnisfernen Sphären vollziehen, als dass sie in der Lage wären, lebensbedeutsame Erfahrungen anzubahnen. Das Programm „Ästhetischer Bildung“ ist nur scheinbar neu, auch wenn es vom Zentrum des Zeitgeistes mit Sinn neu aufgeladen wird. Der Diskurs über die sinnliche Wahrnehmung, dem letztlich auch alle Methoden zum so genannten „Ler-
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nen mit allen Sinnen“ gewidmet sind, ist so alt wie die Philosophie an sich und geht kultur- und wissenschaftshistorisch daher auch in wechselnde Richtungen. Drei Beispiele mögen exemplarisch für strukturell unterschiedliche Positionen stehen: (1) Platons Höhlengleichnis exponiert die Frage der Täuschung durch die Sinne. Damit degradiert er die erkenntnisvermittelnde Funktion sinnlicher Eindrücke in Relation zum intelligiblen Bereich der Ideen. (2) Friedrich Schiller will den „Zögling von einem sinnenbezogenen Wesen durch die Kultivierung der Sinne und der Sinnlichkeit zu einem verantwortlich Handelnden“ führen (Schiller, 148). (3) Klaus Holzkamp begreift die sinnliche Erkenntnis aus dem Zusammenhang einer handelnden Aneignung der Wirklichkeit (vgl. Holzkamp 1973). Die Sinne stehen in diesen wie in vielen weiteren Konzeptualisierungen in einem dichten Beziehungsgeflecht zu den Vermögen des Verstandes, der Vernunft, körperlichen und physiologischen Vorgängen, ethischen Orientierungen, Menschenbildern und schließlich zu kosmologischen Weltbildern. 1 Zur Aktualität ästhetischer Bildung der Sinne In der pädagogischen Begründung ästhetischen Lernens spielt die Diagnose eine herausgehobene Rolle, dass in der modernen Gesellschaft Erfahrungen vermehrt aus „zweiter Hand“ gemacht werden. Das Hörensagen habe den aktiven eigenleiblichen Erwerb von Erfahrungen überlagert. Gründe werden in der technisierungs- und modernisierungsbedingten Abstraktionssteigerung gesellschaftlicher Systeme und Prozesse, aber auch in der Komplexität alltäglich zuhandener Dinge gesehen. Arnold Gehlen merkte in seinen sozialpsychologischen Überlegungen zur industriellen Gesellschaft an, dass „die Begriffe nicht mehr mit Anschauungen, die Wertgefühle nicht mehr mit greifbaren Erfüllungen besetzt, die Situation nicht mehr vom Instinktiven her ,verdichtet‘ werden können“ (Gehlen 1957, 60) und im Gegenzug ein System der Orientierung am „Imaginären, Phantastischen, ja Unreellen“ entstanden sei. Was Gehlen schon zu seiner Zeit mit dem Diktum der „Erfahrung zweiter Hand“ (ebd., 53) charakterisierte, fungiert vor allem in praxisnahen pädagogischen Publikationsorganen als Hinweis auf eine Welt, die heute erst recht der Möglichkeit der Erfahrung „aus erster Hand“ entwunden ist. „Lernen mit allen Sinnen“ wird auf dem Hintergrund dieser Kulturkritik als pädagogisches Gegengift gedacht. Damit wird eine Lernform mit einer Erwartung beladen, die in einer hochkomplexen Beziehung zu abstrakten technischen, kulturellen, institutionellen, sprachlichen und anderen medialen Bezeichnungssystemen der Gesellschaft steht. Die Diskussion der bildungstheoretischen Funktion sinnlichen Lernens setzt daher eine zumindest pointierte Skizzierung abstrakter und sinnlicher Konstituenten der Vergesellschaftung des Menschen voraus, wenn sich diese Differenzierung auch als höchst problematisch erweisen wird und deshalb darauf aufmerksam macht, dass eine bildungstheoretische Legitimation sinnlichen Lernens allein aus der (vermeintlichen) Polarität zu einer Welt „abstrakter“ Gegebenheiten zu kurz greifen muss. Als
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„abstrakt“ sollen zunächst jene lebensweltlich relevanten Erlebnisbereiche angesehen werden, die allein auf dem Wege der sinnlichen Erkenntnis nicht erschlossen werden können. Dass schon dieses Verständnis immense ontologische Probleme aufwirft, sei an dieser Stelle ohne detaillierende Vertiefung angemerkt, denn (zumindest) für Kinder sind nicht erst Atomkraftwerk und Einwohnermeldeamt abstrakt. Schon das Feuer, der Wind und die Liebe sind als sinnliche Phänomene nur mittelbar im Medium des Erscheinens bzw. Empfindens nachvollziehbar. Als „sinnlich“ sollen – ebenso vorläufig und zur Illustration diffiziler und nicht nur dichotomischer Relationen – jene Erlebnisbereiche aufgefasst werden, die unmittelbar erlebt werden und dabei Empfindungen wachrufen und das Bewusstsein prägen. Im altgriechischen Sinne können solche Eindrücke als „ästhetisch“ aufgefasst werden (zur Lippe 1987, 17). Es wäre romantizistisch, als „sinnlich“ nur Blumen, den Goldhamster oder die selbst gezogene Bohne durchgehen zu lassen. Auch Atomkraftwerke und Einwohnermeldeämter, das Feuer, der Wind und die Liebe sind sinnlich erlebbar. All diese Wahrnehmungsgegenstände lassen sich allein im Modus der Sinnlichkeit nicht erschließen. 1.1 Die gesellschaftliche Funktion des Ästhetischen Das Ästhetische spielt nicht erst auf einem allgemeinen gesellschaftlichen Niveau, sondern – schon in einem anthropologischen Sinne – innerhalb der zwischenmenschlichen Kommunikation eine elementare Rolle (z.B. in der emotionalisierenden Umfriedung der Wohnung mit persönlich bedeutsamen Dingen oder in der „Züchtung“ von Atmosphären, um einen neutralen Raum in einen persönlichen Raum zu verwandeln). Der Umstand, dass die Wohnung ein für Ästhetisierungen besonders prädestinierter Raum ist, macht auf einen Unterschied zur unpersönlichen Welt des „Draußen“ aufmerksam. Wenn seit etwa Ende der 1980er Jahre öffentliche (städtische) Räume zunehmend massiven Ästhetisierungen unterzogen werden, so drückt diese Entwicklung eine Tendenz zur allgemeinen Aufhübschung und Ausstellung von Dingen und Räumen aus, die den Menschen nicht persönlich bedeutsam sind. Im Effekt führen Hyperästhetisierungen aber dazu, dass Dinge, räumliche Inseln, Zonen, Bühnen und Szenen emotionalisierend (und verbiedernd) in die persönliche Welt der Stadtbewohner hineingedrängt werden. Für Odo Marquard ist deshalb auch „nicht die Ästhetisierung der Kunst, sondern die Ästhetisierung der Wirklichkeit“ (Marquard 1989, 15) problematisch. Die emotional zudringliche Ästhetisierung der Welt laufe in einem sozialpsychologischen Gegenzug zur Abstraktionssteigerung der Weltgegebenheiten und Systemverflechtungen auf eine „Ermächtigung der Illusion“ hinaus (ebd., 17), um so die lebensweltlich spürbar werdenden Folgen von Prozessen der Rationalisierung und Maschinisierung zu kompensieren. Im Metier der Sinnlichkeit entstehen schließlich symbolische Ordnungen, die den Mangel an Beheimatungsfähigkeit in einer von vielen Menschen als abstrakt, anonym, maschinistisch und apparativ empfunden Welt emotional erträglich machen. Der ästhetische Genuss schöner Bilder
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einer (hinter diesen Bildern) ganz anderen Realität ersetzt die tätige Auseinandersetzung mit den realen gesellschaftlichen Gegebenheiten (vgl. Müller/Dröge 2005, 107). Im Medium des Ästhetischen lassen sich vor allem Grenzen zu ökonomischen Systemen entdifferenzieren (vgl. ebd., 108). Aber auch Technologiebereiche lassen sich ästhetisch als Facetten einer neuen kulturellen Verfassung gesellschaftlicher Wirklichkeit präsentieren. Diese Verbilderung repräsentativer Elemente der Ökonomie (z.B. an der Fassade des Verwaltungsgebäudes eines Global Players, der sich in seiner Unternehmens-„Kultur“ durch nachhaltig betriebene Profitmaximierung auszeichnet und nicht durch emotionale Gütekriterien) greift das Prinzip der Warenästhetik auf und setzt nach Haug über die ästhetizistische Oberflächengestaltung der Waren „ ,Wirklichkeit‘ zu einer Art Konnotation des Imaginären“ (Haug 1997, 343) herab. Nicht zuletzt durch die neuen individualisierbaren Massenmedien der High-TechUnterhaltungsindustrie diffundiert ein Paradigma des Imaginären in die Lebenswelt der Menschen und forciert einen Prozess der „Enteignung der Sinne“ (Negt 1987), der von namhaften Diagnostikern oft einseitig auf die Zeit der Gegenwart projiziert wird, aber zivilisationshistorisch schon seit dem Mittelalter voranschreitet. In den 1950er Jahren beklagte Arnold Gehlen zivilisationsbedingte Entfremdungs- und Sinnlichkeitsverluste, und 50 Jahre später aktualisiert Oskar Negt ähnliche Kritik. In der Jetztzeit sind es besonders die unsichtbaren Programmstrukturen digitalisierender Maschinen, die anästhetische Realitäten konstituieren und damit die Rede von der Erfahrung aus „zweiter Hand“ wieder populär machen. Es ist kein Merkmal der Gegenwart, dass die Sinne im Verstehen des Gegebenen und gewachsen Komplexen „überfordert“ sind und erst kulturell erworbenes „Erweiterungs“-Wissen mögliches Situationsverstehen zu vermitteln vermag. Im ausgehenden Mittelalter waren es die „feinen“ Esskulturen, die in der Zurückdrängung der Ekelschwelle sinnlich immer weiter veredelt wurden und symbolisch abstrakte Tischsitten hervorbrachten, die ihrerseits nur von Insidern (kultureller Teilhabe an habituellen Szenen) verstanden wurden. Von Aufsteigern konnten sie deshalb nur formal kopiert und nicht mimetisch nachvollzogen werden (vgl. Elias 1969), so dass auch diese sinnlichen Praktiken in den adaptierenden Milieus im Prinzip abstrakt blieben. Das schnelle Voranschreiten der Abstraktionsprozesse bedeutet auch eine Transformation sinnlicher Vermögen. „Vergangene“ Kompetenzen situativen Verstehens sind damit auf Stufen rudimentären Könnens zurückgefallen und begünstigen vor allem eine Kompensation empfundener (oder kulturkritisch „festgestellter“) Sinnlichkeitsverluste durch eine Hyperversinnlichung, die heute den Charakter einer Eutrophie des Sinnlichen angenommen hat. Die „Enteignung der Sinne“ (Negt) wird damit aber weniger aufgehoben als intensiviert. Oskar Negts Plädoyer für eine Aufhebung der Enteignung der gesellschaftlichen Vermögen der Sinne kann sich so auch in keinem gesellschaftlichen Bereich einlösen. An diesem Punkt setzt das Projekt der „ästhetische Bildung“ an.
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1.2 Umriss einer didaktischen Struktur ästhetischen Lernens „mit allen Sinnen“ Es gibt kein theoretisch konsistentes pädagogisches Programm ästhetischen Lernens. Das einzige charakteristische Merkmal im heterogenen didaktischen Profil ästhetischen Lernens liegt in einer disparaten Struktur zwischen einer (in sich vielstimmigen) bildungstheoretisch-anthropologisch profunden Reflexion ästhetischen Lernens auf der einen Seite und einem methodisch orientierten Praxisdiskurs auf der anderen Seite. In dessen Zentrum werden eher alltagsweltliche als erkenntnistheoretisch fundierte Empfehlungen für ein Lernen „mit Kopf, Herz und Hand“ (Pestalozzi) kommuniziert. Die vornehmlich in Zeitschriften für die Unterrichtspraxis publizierten Vorschläge sind zu einem hohen Anteil theoretisch reduktionistisch, metaphysisch überhöht, esoterisch verklärt, aktionistisch und konzeptionell von der Möglichkeit der Anbahnung intellektueller Lernzuwächse abgekoppelt. Ihr Beitrag zu einer allgemeinen Bildung (z.B. i.S. von Wolfgang Klafki 1985) ist nicht nur nicht erkennbar; sie lassen sich sogar als praktizierte Gegenaufklärung verstehen, wenn das Lernen im Metier der Sinnlichkeit nicht zum Anlass einer kritischen Reflexion der Sinne und der Sinnlichkeit in der je aktuellen Gesellschaft wird und gleichsam auf der Stelle tritt. Das weite Feld oberflächlicher und a-theoretischer Bemühungen soll hier nicht aufgefächert werden. Ich verweise aber auf einen Exkurs zur geographischen Exkursionsdidaktik, der die naive bis prototheoretische „Fundierung“ sinnlichen Lernens vom Schlage der kritisierten Ansätze beispielhaft illustrieren kann (siehe Kapitel 3). Im Folgenden sollen anhand zweier erziehungswissenschaftlicher Kritiken zum Lernen mit allen Sinnen von Margarete Götz (vgl. 2000) [MG] und Christian Rittelmeyer (vgl. 2001) [CR] bildungstheoretisch dargelegte Ansprüche an ästhetische Bildung stichwortartig skizziert werden, die auch als Antwort auf den o.g. Anspruch Friedrich Schillers an eine „Kultivierung der Sinne und der Sinnlichkeit“ zum Zwecke der Bildung von Individuen zu „verantwortlich Handelnden“ gelesen werden können. Die genannten acht Punkte schöpfen die bildungstheoretische Begründbarkeit sinnlichen Lernens zwar nicht aus, können aber einen Horizont umreißen, auf dem vordergründig methodische und lernpsychologisch instrumentalisierte Bezweckungen sinnlichen Lernens fragwürdig werden. a.
Die anthropologische Besinnung der Sinne auf dem Hintergrund bildungstheoretischer Sinnzuschreibungen sinnlichen Lernens sind auf ihre Implikationen hin zu reflektieren (CR, 194).
b.
Die Arbeit der Sinne dient nicht zuletzt einer Sensibilisierung der Aufmerksamkeit (MG, 210) und damit der Findung lebensweltlicher wie erkenntnistheoretischer Bezugspunkte erweiterten Denken-könnens von selbst- wie weltbezogenen Verstrickungen des Individuums in persönliche und gemeinsame Situationen.
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c.
Sinnliche Erlebnisqualitäten sind nicht in eine Schon- und Sonderwelt des Quasipersönlichen und allein Individualistischen zu separieren (i.S. einer Kompensation „verkopften“ Lernens und Denkens), sondern der rationalen Rekonstruktion ihrer Bedingungen zuzuführen und in kognitive Lernkulturen zu integrieren (MG, 209/CR, 194).
d.
Das Vermögen der Sinne ist vor allem Produkt kultureller Zuschreibungen von spezifischem Werte (MG, 214f), so dass die fünf Sinne ihre Selbstverständlichkeit verlieren und in ihrer erkenntnistheoretischen und kulturellen Werdung wie erkenntnistheoretischen Bezweckung zu begreifen sind.
e.
Die Vermitteltheit sinnlicher Wahrnehmung durch die Reflexion ihrer Gebrauchskultur erfahrbar machen und naive Originalitätsansprüche sinnliche Wahrnehmungen revidieren (MG, 216).
f.
Reflexion synästhetischer Brücken zwischen sinnlichen Eindrücken und ihnen korrespondierenden kulturellen Bedeutungen (CR, 195), wodurch sinnliche Eindrücke an ihre bedeutungsgenerierende Funktion rückgebunden werden.
g.
Die leibliche Dimension sinnlicher Wahrnehmung für die Erweiterung des Denkens und Verstehens der Sinne bewusstmachen (CR.,196).
h.
Die Verwobenheit sinnlichen Lernens in komplexe Sinn-Strukturen ist offenzulegen (CR, 202), z.B. durch die Nutzbarmachung des situationstheoretischen Ansatzes für die Konzeptionalisierung schulischen Lernens.1
Die genannten Aspekte machen darauf aufmerksam, dass die sinnliche Wahrnehmung in einer vitalen Beziehung zu den menschlichen Gefühlen steht, welche aus der Perspektive eines tauschwertorientierten Ausbildungsverständnisses (i.S. einer „PostBildung“) implizit als Störfaktoren gelten. Die Thematisierung von Gefühlen, die in einem Zusammenhang mit sinnlichen Eindrücken stehen, gelten in der Akkumulation propositionaler Wissensbestände so lange als effizienzmindernde Blockaden, wie sie nicht für biochemische und neuronale Kettenbildungen zur Verbesserung eines humanbiologischen Outputs genutzt werden können. Werden Gefühle in intellektualistischen „Reinigungsakten“ aus dem schulisch institutionalisierten Lernen herausgeklärt, geht auch dem reflexiven Bildungsgeschehen der Erlebnisbereich der Gefühle verloren und damit jene emotionalen Evaluationen, die bewertend auf sinnliche, moralische, intellektuelle, physische u.a. Eindrücke „antworten“. Damit wird auch eine reflexivevaluative Beziehung Lernender zum Prozess ihres (kognitiven) Lernens ausgeschaltet. So werden die in jedem individuellen menschlichen Leben bedeutsamen Gefühle aus den Relevanzsystemen der Schule letztlich strukturell herausgeschnitten. Diese autopoietische „Ignoranz“ schützt die Machtposition der Bildungsinstitution im Allgemeinen wie die der Lehrenden im Besonderen vor der Kritik heimlicher pädagogi-
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scher Menschenbilder. Auf einem weit allgemeineren Niveau wird i.S. eines antikulturkritischen Effekts die Bedingtheit rationalen Denkens durch „irrationale“ Impulse dem Nachdenken entzogen (vgl. auch Müller-Freienfels 1922). Ein Nebeneffekt solcher Reflexionsverzichte bewirkt auch eine Abschirmung des bildungspolitischen Mythos der Beherrschbarkeit kognitivistischer Arrangements schulischen Lernens gegenüber einer Kritik der Ideologie des öffentlichen Schulwesens. Indem (programmatisch konsequent forcierte) Nicht-Thematisierungen infolge ihrer diskursiven Einbettung in Lernprozesse darin nicht weniger wirksam sind als Thematisierungen, bekommt die praktische Diffusion eines propositionalen Wissenskonzepts Rückenwind. Propositionales Wissen hatte Max Scheler als Arbeitswissen explizit vom bildungsphilosophisch höherrangigen Bildungswissen unterschieden. Arbeitswissen, das in den ausbildungsorientierten Bildungssystemen der Schule und der Hochschule gegenwärtig tendenziell restlos an die Stelle von Bildungswissen tritt, ist nach Max Scheler aber nie durch sich selbst oder profane Nützlichkeitserwägungen legitimierbar, sondern allein durch seine dienende Funktion für persönlichkeitsprägendes Bildungswissen. Bildungswissen ist im Unterschied zum Arbeitswissen als „vollverdautes und vollassimiliertes Leben und Funktion gewordenes Wissen“ einverleibt (Scheler 1925, 27). Es entfaltet sich in einem Verwundern, „dass irgendeine Sache dieses konstanten Wesens, überhaupt‘ da ist“ (ebd., 35), folgt einem Interesse am Wissen und vermittelt „eine persönliche Struktur […] für die Anschauung, das Denken, die Auffassung, die Bewertung und Behandlung der Welt […].“ (ebd., 37). Bezeichnend für Schelers Begriff des Bildungswissens ist dessen Verknüpfung mit der erkenntnisvermittelnden Funktion der Anschauung, die weit über das Visuelle des Sehens (das im Wort des Schauens schon überschritten ist) ins ganzheitliche (gnostische wie pathische) Erfassen von Eindrücken hinaus schießt2 und noch heute für die didaktische Begründung sinnlichen Lernens in Anspruch genommen wird. Sinnliches Lernen vermittelt pathisches Wissen über „Herumwirklichkeiten“ (Dürckheim), die sich situativ aktualisieren (z.B. über das Erleben von Atmosphären und Seinsweisen der Dinge). Pathisches Wissen schließt stets Wissen um die Verwicklung wie das Verwickeltwerden der eigenen Person in ganzheitliche Situationen ein. Auf einer erkenntnistheoretischen Ebene ist es Moment lebensbedeutsamen Bildungswissens. Die sinnliche Erforschung eines Strandes durch Kinder bringt z.B. zu Tage, dass es nicht nur Wind und Wetter und die Bewegung der See gibt, sondern auch Empfindungen, in denen Wind, Wetter und die bewegte See als „Vitalqualitäten“ (Dürckheim) am eigenen Leib als Erscheinungsweise eines Naturmilieus erlebt werden können. Die Thematisierung solcher Vitalqualitäten setzt eine im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung differenzierte Aufmerksamkeit voraus, die ganz und gar keine esoterisch verklärte Gegenaufklärung vermittelt, sondern eine strukturelle und thematische Erweiterung sachbezogener Reflexionsvermögen. Der Verzicht auf die Reflexion solcher Erlebnisweisen folgt dem Ziel eines heimlichen Lehrplans, wonach
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der affektive Erlebnisbereich i.d.R. da aus dem schulischen Lernen herausgehalten wird, wo er nicht für Zwecke der Disziplin und Erfolgssteigerung effizienzorientierten kognitivistischen Lernens instrumentalisiert werden kann (z.B. in der so genannten „Motivation“ vom Charakter der Reklame, im stressentlastenden und kompensatorischen Spiel u.a.). Reflexiv angelegtes sinnliches Lernen macht nicht zuletzt darauf aufmerksam, dass es – entgegen der konstruktivistischen Ideologie – nicht nur die Möglichkeit der Erkenntnis thematisch zugespitzter Wahrnehmung von Teilen i.S. von Entitäten gibt, sondern auch eine Wahrnehmung „mit einem Schlage“ (vgl. Schmitz 1967, 22f)3, die anstelle von Segmenten einer physischen oder sozialen Realität die (chaotisch mannigfaltige) Ganzheit einer Situation erfasst, in der alles in einer komplexen Weise zusammenhängt. So nimmt kein Mensch eine Gewitterstimmung oder die angespannte Atmosphäre einer Gruppe in der Synthese meteorologischer bzw. soziologischer Einzelheiten (diese gleichsam verrechnend) wahr. Vielmehr wird die jeweilige Situation „mit einem Schlage“ als chaotisch mannigfaltige Ganzheit erfasst. Was lebensweltlich nicht zu bestreiten ist, wird im Namen eines neuronalen Determinismus in seiner Umkehrung zum Paradigma einer kognitivistisch verblendeten Lehr- und Lernplanung – wie zahllose Beispiele illustrieren könnten. Dass es in diesem Denken keine Eindrücke, sondern nur sensorische Reize geben kann, ist paradigmatisch zwar konsequent; in der Sache führt das Dogma aber zur Abstraktionssteigerung und so zu einer erkenntnistheoretischen Ent-fernung des Lernens von vitalen Eindrücken. Ganz in diesem Sinne merkte Jürg Zutt an, dass sich wissenschaftliche Erkenntnis zwar durch eine Zuspitzung der Aufmerksamkeit auf Teile eines Zusammenhanges auszeichne, die lebensweltliche Wahrnehmung dazu aber im krassen Unterschied aufs Ganze gehe und die Aussage solcher Eindrücke nicht erst auf die kognitive Synthese von Teilen zurückgreifen müsse (vgl. Zutt 1963, 304). Dass auch Wissenschaft davon profitieren kann, wenn sie ihren routinisierten Blick auf die Teile konstellationistisch gedachter Zusammenhänge durch die Reflexion affektiver Erlebnisbereiche ergänzt, hatte im 19. Jahrhundert Jules Michelet gezeigt, als er seine Aufmerksamkeit zwischen Wissenschaft und poetisch-ästhetischer Einlassung auf die Erlebniswelt des Meeres oszillieren ließ – wenn er dieses „undisziplinierte“ Denken auch mit der Exkommunikation aus der „Disziplin“ seiner Wissenschaft bezahlen musste (vgl. Michelet 1861, dazu auch Hasse 2002). Jede sinnliche Erfahrung, die sich vom sinnlichen Erleben (und noch einmal vom sinnlichen Erleb-nis) dadurch unterscheidet, dass sie Eindrücke in einem reflektierenden Sinne durcharbeitet und damit der Erkenntnis zuführt, steht auf dem Fundament der „Anschauung“. In ihr vollzieht sich eine pathische und zugleich gnostische Durchdringung von Eindrücken auf der Grundlage sinnlicher Begegnung. Nicht im Mindesten ist Anschauung aufs visuelle „Sehen“ zu beschränken. Wäre dies so, gäbe es in der Theologie nicht die „Anschauung Gottes“, die ohne die Inanspruchnahme der fünf Sinne auskommt.
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Das geisteswissenschaftliche Konzept der Anschauung, das sich fundamental von fachdidaktischen Trivialisierungen (i.S. der Analogie Anschauung = Sehen) unterscheidet, stürzt die visualistische Rede über das Vermögen des Auges in die Aporie, denn es will die mehrperspektivische Erfassung zur Erscheinung kommender Ganzheiten in jenen Facetten erschließen, die sich einer kognitivistisch-rationalistischen Erkenntnis nicht fügen. Der u.a. bei Leibniz verwendete Begriff der „intuitiven“ Aneignung weist auf die Überschreitung der Vermögen der organischen Sinne wie der Begrenztheit ihres allein rationalistischen Vermittlungsverständnisses hin: Alle „Ingredienzien“ werden „auf einmal, also im ganzen“ überblickt (Kaulbach 1971, 341). Diesen „Überblick“ können die fünf Sinne, sofern man sie als (einzelne) neuronale Reizlieferanten ansieht, nicht geben. Der erkenntnisvermittelnde Gebrauch der Sinne bewährt sich in einem übergreifenden Vermögen, das die modernen Naturwissenschaften in biochemischen Prozessen des Neocortex, die Geisteswissenschaften (insbesondere die Phänomenologie) aber in einem kulturell geprägten situativen Wahrnehmen-können suchen. Mit Margarete Götz und Christian Rittelmeyer wäre an dieser Stelle zu fragen, wie die fünf Sinne geworden sind, für was wir sie heute als „die“ Sinne des Menschen halten. Die zu erwartenden Antworten werfen die Frage nach der kulturellen Bewertung der Sinne ebenso auf wie die nach den ihnen historisch je zugeschriebenen Gebrauchswerten. Da die Sinne für die menschliche Erkenntnisgewinnung von grundlegender anthropologischer Bedeutung sind, vermag ihr Neudenken einen fruchtbaren Prozess der Selbstgewahrwerdung im Prozess der Vergesellschaftung anzustoßen. 2 Die „fünf Sinne“ – nur fünf? Dass der Mensch fünf Sinne hat, ist nur in lebensweltlicher Perspektive selbstverständlich. Im Blick auf die (interkulturelle) Geschichte der Philosophie ergibt sich weder die Art der Sinne noch ihre Anzahl aus der Natur des Menschen bzw. seiner körperlich-organischen Ausstattung. Die fünf Sinne – wie wir sie kennen – sind vielmehr Resultat philosophischer Deutungen menschlicher Vermögen der Orientierung in der Welt. Diese Bewertungen sind in den verschiedenen Kulturkreisen und Epochen auf höchst unterschiedliche Weise erfolgt. Bei den Vorsokratikern wurde der Mensch zunächst als psychophysische Einheit gedacht. Die Frage nach den Sinnen stellte sich somit erst nach der Konzeptualisierung des Menschen als ein Wesen, das sowohl in einer Innen- als auch in einer Außenwelt lebt (vgl. Scherer 1995). Diese europäische Dichotomisierung impliziert eine Reihe von Trennungen, die bis heute im Großen und Ganzen das Denken des Menschen bestimmen. In Luhmanns Systemtheorie gipfelt das Bild des Menschen in einer Fällung in ein psychisches und ein organisches System (vgl. Luhmann 1984, 286). Es ist evident, dass diese Dichotomisierung die menschliche Wahrnehmung nicht in einer ganzheitlichen, d.h. Eindrücke mit einem Schlage erfassenden Form voraussetzt, sondern als sensorischen Prozess, in dem über die Sinnesorgane Reize empfangen werden, die
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dann in einem (imaginären) intellektualistisch verstandenen „Innen“ verarbeitet werden. Diese Vorstellung ist über die modernen Wissenschaften hinaus so populär, dass sie ins lebensweltliche Selbstverständnis der Menschen vorgedrungen ist. Damit wird aber nicht nur eine funktionale, sondern auch eine hierarchisierende Trennung von Funktionen vollzogen. Die Sinne gelten als Werkzeuge, die „Daten“ beschaffen, welche dann in einer imaginären Innenwelt (die als „Seele“ ohne jede empirische Gewissheit blind vorausgesetzt wird) ausgewertet und zu einer mentalen Repräsentation zusammengesetzt werden. Die Wechselwirkung zwischen Reizaufnahme und „innerer Bewegung“ wird in einer linearen Chronologie dargestellt (zuerst werden die Daten aus Reizen aufgenommen, in den Neocortex transportiert, dort interpretiert und schließlich in eine Handlung umgesetzt). Dieser mechanistische Reduktionismus menschlicher Wahrnehmung wird ergänzt durch eine kulturelle Hierarchisierung der Sinne in „höhere“ (hören und sehen) und „niedrige“ (riechen, tasten, schmecken) Sinne. Diese Zweiteilung ist Resultat philosophischer Bewertungen, die nicht unerheblich vom christlichen Menschenbild beeinflusst worden sind. Die „höheren“ Sinne stehen, christlicher Mythologie folgend, in einer viel direkteren Verbindung zum Wort Gottes bzw. dem Gott symbolisierenden Licht als die „niederen“ Sinne. Der intelligibel gedachte Mensch (der Augen- und Ohren-Mensch) taugt – ist dieses dichotomische Denken lebensweltlich erst durchgesetzt – schließlich zur Abstraktion vom eigenen Selbst und damit für seine Ideologisierbarkeit durch Religion, Ökonomie, Politik oder anderer manipulative gesellschaftlich vernetzte Systeme. Die kulturalistische Konzeptionalisierung der Sinne wird im interkulturellen Blick auf die Philosophiegeschichte noch deutlicher (vgl. im Folgenden Scherer 1995). In der alten indischen Philosophie stellte man die Sinne zunächst durch sieben Öffnungen dar (je zwei Augen, Ohren und Nasenlöcher sowie einen Mund); daneben symbolisierte der Kopf das menschliche Vermögen der Wahrnehmung. Der Verstand ist der Wagenlenker und der Körper (mit den Sinnesorganen) der Wagen. Alle Intentionen des Menschen gehen aber auf den „Lebenshauch“ zurück, der als ein Metasinn gedacht war und oberhalb des Verstandes steht. Später setzte sich eine abstraktere Sichtweise durch und die Sinne wurden paarig dargestellt, so dass auch hier eine Fünferliste entstand, in der spezifisch kulturelle Akzentsetzungen zur Geltung kamen („Rede, Geruch, Auge, Ohr und Verstand“). Wenn die Sinne dagegen nach Gegenständen und Funktionen beschrieben werden, gibt es acht Sinne: „Nase, Rede, Zunge, Auge, Ohr, Verstand, Hände und Haut“. Der Mund ist nun zweifach von Bedeutung: als schmeckender und als aussprechender Sinn. Die Sinne werden so nicht allein als Aufnehmende gedacht. Dazu passt auch das Verständnis der Sinne als Greifer. Die Sprache „greift“ die Gegenstände in der intellektuellen Erfassung, so dass sie durch den Verstand differenzierend, bewertend, relationierend etc. abermals „begriffen“ werden können. Dieses Greifen lebt in der Alltagssprache im Wort des Erfassens oder Begreifens fort, das keinem bestimmten Sinn zugewiesen ist.
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Auch die Vorsokratiker verstanden die Sinne als Greifer (z.B. Empedokles), deren Tätigkeit einem „Starren“ auf etwas gleichkam. In den historischen Wurzeln (besonders bei Homer) gibt es keine fixe Grenze zwischen sinnlicher und intellektueller Erkenntnis. Und noch die Mahnung des Empedokles, in der Erkenntnis keinen Greifer zu bevorzugen, macht auf das Nachwirken eines starken Zusammenhangsdenkens aufmerksam. Wenn die Sinne bei Platon Werkzeuge sind, so kündigt sich hierin eine Hierarchisierung an, wonach die Seele (vergleichbar dem Lebenshauch in der altindischen Philosophie) mithilfe des Verstandes über die fünf Sinne verfügt. Naturwissenschaftliche Forschungserfolge führten ab 1800 zu einer Reihe von „Neuentdeckungen“ im Bereich der Sinne und der sinnlichen Wahrnehmung, die oft aber schnell wieder an Bedeutung verloren. So kam die Idee eines „Widerstandssinns“ auf, der bald dem Tastsinn zugerechnet wurde. Darwin schlug einen „Wärmesinn“ vor, Oken einen „Identitätssinn“ und einen „Schwerkraftsinn“, Hegel ordnete die fünf Sinne komplementären Elementen der Natur zu und Schelling sah im Selbstgefühl einen „inneren Sinn“. Erst im modernen Physiologismus (Helmholtz) richtete sich die theoretische Aufmerksamkeit auf die Nerven, die – den Erregungen gegenüber indifferent – Impulse auf die sensorischen Felder der Großhirnrinde projizieren. Die aktuellen neurowissenschaftlichen Forschungen können als Folge verfeinerter technischer Methoden diese Prozesse vergrößernd und in der Sache differenzierter darstellen, als dies bis weit ins 20. Jahrhundert möglich war. Im Prinzip geht das strukturelle Denken des Physiologismus auf eine Spaltung im Menschenbild zurück, wie sie z.B. bei Luhmann überaus deutlich wird (s.o.). An der kulturellen Tradierung des Gegensatzpaares Körper – Geist dürfte es auch liegen, dass selbst in den Sozialwissenschaften (und noch in weiten Bereichen der Pädagogik) der Begriff des Leibes nur höchst selten theoretisch integriert wird, fügt er sich doch weder in die Kategorie des Geistes, noch in die des Körpers. Das Durchsickern kultureller Vorstellungen vom Menschen (die im westlichen Kulturkreis auf christlich-religiösen Vorstellungen ruhen) ist für die wissenschaftssprachliche Identifizierung und Kategorisierung der Sinne folgenreich. Heute suggeriert ein simplifiziertes Menschenbild, das durch abstrakte wissenschaftliche Modelle verklärt wird, einen Maschinismus, mit dessen Hilfe die rationalistische Beherrschbarkeit des Menschen illusioniert wird: Die Sinne „lesen“ neuronal prozessierte Daten, die dann vom Großhirn sozial konstruierten Interpretationsschablonen zugeordnet werden, die sich wiederum durch gesellschaftliche Systeme formatieren lassen (u.a. durch das Bildungssystem). Diese konzeptionelle Fiktionalisierung des Menschen setzt seine konstruierende Zerlegung nach Maßgabe zweier Ontologien voraus – einer körperlichen (Sinne, Nerven, Biochemie, Großhirn etc.) und einer geistigen (Verstandesleistungen des Großhirns). Gegen dieses reduktionistische Menschenbild trat Edmund Husserl mit seiner Phänomenologie an, in der er die leibliche Wahrnehmung als eine Form ganzheitlichen Erlebens dem zergliedernden naturwissenschaftlichen Denken entgegenstellte. Wenn
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auch in einer wissenschaftspolitischen Randlage, so stellt doch auch heute die Phänomenologie gegen einen rationalistischen Überwältigungsdruck naturwissenschaftlicher Paradigmen die menschliche Wahrnehmung als einen Prozess dar, der nicht auf neuronale und biochemische Ketten reduziert werden kann, sondern durch ein leiblichpathisches Mitsein in komplexen Situationen gekennzeichnet ist (besonders bei Schmitz und Waldenfels). Dieses Denken der Wahrnehmung ist selbst in der Erziehungswissenschaft, deren „Gegenstand“ (jeder Lernende) durch emotionale Situationsverwurzelung geprägt ist, nur in einem fachpolitisch eher marginalisierten Seitenstrang der phänomenologischen Pädagogik lebendig geblieben (vgl. Loch 1999, Schultheis 2004, Meier-Drawe 1982, Lippitz 1993 u.a.). Darin spiegelt sich die Durchsetzungskraft diskursiv herrschender Denkweisen im Gesamtsystem Wissenschaft wider, das in hohem Maße von außerwissenschaftlich gesetzten Normen abhängig ist (so hängt die bildungspolitische Definitionsmacht heute zunehmend am Faden ökonomischer Ansprüche an tauschwerte Kompetenzen und Qualifikationen). Wie die Sinne letztlich verstanden und als was sie kommuniziert werden, ist nicht Ausdruck körperlich-organischer Sachverhalte oder situativer Erlebnisweisen, sondern kultureller Interessen an bestimmten Wahrnehmungsvermögen. Anschaulich wird das in der sinnlichen Qualität der Hände und der Füße in der alten indischen Philosophie. Diese Sonderstellung hatten sie deshalb, weil sie sich in Vielem vom taktilen Sinn im Allgemeinen unterscheiden (Greifen und Spüren der Hände auf einer eher passiven Seite, Verändern von Dingen wie habituellem Ausdruck auf einer eher aktiven Seite bzw. Spüren eines Untergrundes, aber auch des sich in ihm ankündigenden Weges mit den Füßen). 3 Exkurs zur geographischen Exkursionsdidaktik Exkursionen unterscheiden sich dadurch vom schulischen Lernen im Klassenraum, dass sie die „unmittelbare“ Beziehung zur „Realität“ suchen und damit die sinnliche Wahrnehmung in einer Weise über die Beanspruchung des visuellen (Lese-)Sinns bzw. des akustischen (sprachverstehenden Hör-)Sinns erweitern. Das Sehen gilt „im Gelände“ bzw. „vor Ort“ weniger dem Erschließen textlicher bzw. dem Hören gesprochener Informationen, als dem so genannten „Lesen“4 von Landschaften innerhalb und außerhalb der Stadt. „Die Exkursion ist eine methodische Großform des Unterrichts mit dem Ziel der realen Begegnung mit der räumlichen Wirklichkeit außerhalb des Klassenzimmers.“ (Rinschede 2003, 235). Damit kann die Exkursion als eine Lernform des Geographieunterrichts verstanden werden, die in einer großen Nähe zum „Lernen mit allen Sinnen“ steht. Exkursionen werden heute in der Geographiedidaktik konstruktivistisch konzipiert. Dabei wird ein handelndes Individuum unterstellt, das sich gesellschaftlich konfigurierte Wissensstrukturen individuell und selbständig aneignet. Dieses Konzept rückt konsequent von der Vorstellung ab, dass es irgendetwas Existierendes geben könnte,
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das „an sich“ – gleichsam ohne konstruierenden und deutenden Autor – der Wahrnehmung zugänglich ist. Mirka Dickel merkt i.d.S. an, „dass der Mensch nicht auf die Wirklichkeit, wie sie ist, reagiert, sondern auf Wirklichkeit, wie sie ihm zu sein scheint und wie er sie bewertet.“ (http://www.staff.uni-mainz.de/dickel/Lehrveranstaltungen/07/Exkursionsdidaktik.htm; Abruf: 25.02.2009). Dieses „neue“ Denken verdient weniger in der Sache, als wegen seiner geisteswissenschaftlichen Theorieferne und der damit verbundenen Trivialisierungen Aufmerksamkeit. Die Einsicht in die Abhängigkeit vieler (aber lange nicht aller) menschlicher Wahrnehmungen und Vorstellungen von Vorwissen, Perspektiven, bewertenden Kontexten etc. ist im Übrigen keine „neue“ Erkenntnis. Sie wurde schon vor rund 40 Jahre u.a. von Berger und Luckmann in die soziologische Debatte (Wissenssoziologie) eingebracht (vgl. Berger/Luckmann 1970). Schließlich lief ein Resümee des philosophischen Postmodernismus schon Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre in seiner Essenz darauf hinaus, dass die Utopie der Moderne als eine Einheit zerfallen sei und eine Restitution nur mit illegitimer Gewalt durchgesetzt werden könne, so dass allein der Weg der Bewegung im Meer des Vielen als praktische Vision eines Lebens zwischen Mikrologien und Großen Erzählungen bleibe. Nicht zuletzt setzt die methodologische Kritik der Kulturkritik („nach“ der Postmodernismus-Debatte) an diesem Punkt wieder an – wenn auch mit anderen Akzenten. Was von diesen großen Debatten nun in der Fachdidaktik angekommen ist, stellt sich als grobe Vereinfachung dar, die als Grundlage für eine konzeptionelle Neuausrichtung unzureichend ist. Der Grundfundus der so genannten „konstruktivistischen“ Programmatik bewegt sich in der fachdidaktischen Adaption im Rahmen vielfältiger erkenntnistheoretischer Reduktionismen auf einem banalen Niveau (zur Kritik an konstruktivistischen Lernmodellen siehe auch Hackl 2007). So weist z.B. Sibylle Reinfried darauf hin, dass Lernen „auf vorhandenen Kenntnissen, Fähigkeiten und Einstellungen“ aufbaut (Reinfried 2007, 19). Mit Aussagen dieser Art dürfte sich kaum ernsthaft ein essentielles konstruktivistisches Merkmal fachdidaktischer Programmatik ausmachen lassen, spiegelt die Feststellung doch nur wider, was alltagsweltlich ohnehin evident ist. Selbst die dem epistemologischen Konstruktivismus konfliktfrei gegenüberstehende Phänomenologie müsste dem zustimmen, da grundsätzlich gilt, dass man nur wissen kann, was man schon einmal gelernt hat. Indes steht dahin, ob dieses biographisch vorgeschichtete Wissen restlos durch die Filter gesellschaftlich formatierter Konstruktionsschablonen gelaufen ist. Keimzellen dessen, was im fachdidaktischen Diskurs als „konstruktivistisch“ und darin als theoretisch innovativ diskutiert wird, sind auch schon in der griechischen Philosophie angelegt. Wenn zur Charakterisierung konstruktivistischen Lernens aber sogar angemerkt wird, Lernen sei „ein selbstgesteuerter Prozess, für dessen Steuerung und Kontrolle der Lernende selbst verantwortlich“ (ebd.) sei, hat das mit Philosophie nichts mehr zu tun. Hier werden die berufsethischen Folgen semitheoretischer Phrasen zur Ausbildung künftiger LehrerInnen übersehen und das gesamte didaktische
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Modell in einer radikal postkritischen Attitüde in den Rahmen eines entfesselten Neoliberalismus gestellt. Der radikal vereinfachte Grundgedanke der Vermitteltheit von Wissen und Formen der Wissensaneignung befreit in dieser Wendung Lehrende auf beinahe zynische Weise von der pädagogischen Verantwortung für schulisch programmatisch planvoll dargebotene Themen und Inhalte wie deren Vermittlung. Die geographiedidaktische Exkursionsdidaktik erliegt über die Begründung ihrer konstruktivistisch-kognitivistischen Ausrichtung hinaus einer Reihe weiterer theoretischer Missverständnisse und Verkürzungen, die dazu führen, dass das erkenntnistheoretische Potenzial sinnlichen Lernens nicht annähernd ausgeschöpft werden kann. Sinnliches Lernen wird so in einen Rahmen gestellt, der nicht mehr viel mit ästhetischer Bildung im oben skizzierten Sinne gemein hat (vgl. auch die Kritik bei Götz und Rittelmeyer). Die folgenden Punkte verdienen jeweils eine weit ausführlichere Behandlung als dies im gegebenen Rahmen möglich ist. Aus Umfangsgründen ist aber eine Beschränkung auf stichwortartige Skizzierungen geboten. a.
Exkursionen sollen den zivilisationshistorisch entstandenen Überhang an (materiellen wie institutionellen) Abstraktionen durch ein Lernen „mit allen Sinnen“ überwinden. Dabei werden die zur Legitimation herangezogenen Topio „Erfahrung aus zweiter Hand“ und Lernen mit „Kopf, Herz und Hand“ (i.S. von Pestalozzi) aber weder fachspezifisch vertiefend konkretisiert noch in ihrer Bedeutung für das Lernen reflektiert. Auch wird der für jede Fachdidaktik grundlegende Begriff der „Erfahrung“ mehr als pädagogischer Slogan vorausgesetzt, denn zu theoretisch benachbarten Konzepten wie „Erleben“ in eine fruchtbare Beziehung gesetzt (vgl. dazu Hasse 2005, bes. Kap. 2.3 u. 3.). Damit kommen vor allem die in kognitivistischen Ansätzen zur Exkursionsdidaktik wie in den Strukturen von Bildungssystem und -politik liegenden Faktoren der Forcierung einer „Erfahrung aus zweiter Hand“ nicht in den Blick (z.B. bei Hemmer 1996, 9).
b.
Das für die Planung und Realisierung von Exkursionen bedeutsame phänomenlogische Lernen wird bei Michael Hemmer als „belehrendes“ Lernen von Grund auf fehlinterpretiert (ebd.). Dass es sich dabei um ein kategoriales Missverständnis von Phänomenologie handelt, kommt auch darin zum Ausdruck, dass Phänomene gezählt und gemessen werden sollen (vgl. ebd., 12)! Wenn Mirka Dickel in ihrem konstruktiven (nicht konstruktivistischen aber am Konstruktivismus orientierten) Denken der „phänomenologischen Erkenntnis“ auf dem Wege der „unreflektierten Anschauung über die Sinneskanäle“ einen exkursionsdidaktisch positiven Wert zuschreibt (Dickel 2006), drückt sich darin der vergebliche Versuch einer „Vereinnahmung“ der Phänomenologie durch den Konstruktivismus aus, geht es doch in der „phänomenologischen Erkenntnis“ tatsächlich ganz und gar nicht um Verzicht auf Reflexion, sondern um einen Er-
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fahrungsprozess der Reflexion gewonnener Eindrücke, die mit Ausdrücken betrieben wird, welche „ihren Sitz im Leben“ haben (Schmitz 1980, 16) und nicht in abstraktionistisch-terminologischen Sondersprachen. Auch spielen in diesem Prozess Sinnesreize keine Rolle, sondern Eindrücke. Verstehensprozesse laufen auch nicht, wie Dickel behauptet, stets kognitiv ab! Martin Heidegger, Max Scheler, Otto Friedrich Bollnow, Helmut Plessner u.v.a. wussten das besser. Dass die Wahrnehmung von Ganzheiten in dieses deterministische Lernmodell nicht passt und als „unhaltbares“ Konstrukt abgetan wird, ist ein zwangsläufiges Standardargument, weil Wahrnehmung „mit einem Schlage“ (Schmitz) dem physiologistisch-kognitivistischen Wahrnehmungsverständnis inkommensurabel, wenn alltagsweltlich auch nicht zu bestreiten ist. c.
Lernen „mit allen Sinnen“ im Vermittlungsraum einer durch Exkursionen erschlossenen Umgebung wird intellektualistisch instrumentalisiert (ebd., 10). Gefühle spielen in diesem Rahmen nur auf zwei Ebenen eine Rolle: der der Motivation und der der Effizienzsteigerung des Lernens (vgl. Reinfried 2005,19, Hemmer 1996, 10 sowie Staatliches Seminar). Damit werden Gefühle in einem doppelten Sinne allein instrumentalisierend in den Lernprozess integriert, nicht aber als Erlebnisbereich erschlossen, der nicht zuletzt auch eine spezifische Sicht der Sache (des Lerngegenstandes) offenzulegen vermag. Aber auch auf dem Niveau der Begegnungsqualität vermittelt die Brücke der Gefühle nicht nur Motivation und die schnellere wie nachhaltigere Bildung von Aminosäureketten im Großhirn, sondern eine spezifisch fragende Haltung gegenüber einem Erscheinenden (i.d.S. vgl. Heidegger 1951/52). Josef Birkenhauer stärkte (am Ende der 1960er Jahre noch unter einem geisteswissenschaftlichen und bildungsphilosophischen Einfluss) die emotionale Komponente der Exkursionsdidaktik, als er mit Heinrich Roth anmerkte, dass die Begegnung des Kindes fesseln soll, weil ihm der Gegenstand Fragen aufgebe (vgl. Birkenhauer 1974, 131). Diese „alte“ Position macht die kategoriale Grenze zum Konstruktivismus deutlich, nach dessen Lehre ein Gegenstand weder „aus sich heraus“ Fragen evozieren kann, noch in einer Weise eine Begegnung ermöglichen könne, die nicht ohnehin schon durch mentale Hinterlassenschaften kognitiver Konstruktionselemente disponiert wäre. Im szientistischen Blick auf die Funktionen von Vermittlungsräumen „vor Ort“ stören Emotionen eher. Theißen unterstreicht auf diesem Hintergrund, „daß die, bloße‘ originale Begegnung an sich noch nichts für den Lernprozeß erbringt.“ (Theissen 1986, 210). Deutlicher können pseudointellektualistische Distanz und zugleich a-pathische Hilflosigkeit gegenüber Gefühlen, die in einer Lern-Situation zu Tage treten, wohl kaum zum Ausdruck kommen. Ein weiterer Begründungshorizont emotionalen Lernens, der gegenwärtiger konstruktivistischer Fachdidaktik gänzlich fremd sein muss, wurde 1980 von Karl Emil Fick angesprochen. Exkursionen
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fördern danach neben dem Erwerb fachlicher Qualifikationen auch wichtige Verhaltensdispositionen, „die als affektive Ziele gefühlsbildende und kreative Kräfte wecken.“ (Fick 1980, 186). Aus der aktuellen Theorieperspektive wird gerade in diesem Vergleich die Abkehr der Fachdidaktik von einem bildungsorientierten Selbstverständnis zugunsten einer (tendenziell fachorientierten) Ausbildungsveranstaltung deutlich. d.
Der begründungsbedürftige Topos „ganzheitlichen Lernens mit allen Sinnen“ wird aus einem erkenntnistheoretisch ungeklärten Hintergrund nicht herausgehoben. Weder wird der Begriff des „Ganzheitlichen“ geisteswissenschaftlich aufgearbeitet (z.B. bezogen auf Situationen, Konstellationen, Teile eines Größeren etc., siehe auch b) noch die Bedeutung sinnlicher Eindrücke für einen Lernprozess theoretisch erschlossen. „Lernen mit allen Sinnen“ fungiert als Wert an sich (ebd.). Damit bleibt auch im Dunkeln, welchen Erkenntnisfortschritt eine Reflexion sinnlicher Eindrücke selbst innerhalb der Logik eines konstruktivistisch-kognitivistisch verengten Lernens zu leisten vermöchte (dazu vgl. z.B. zur Lippe 1987, Selle 1988 und Hasse 2005). Der Hinweis, das „Walderlebnis“ sei ebenso wichtig, wie die Erlangung von Kenntnissen über das Ökosystem Wald, klärt nicht nur nichts, er verschenkt auch die Erschließbarkeit von Einsichten in die Wechselwirkungen zwischen strukturverschiedenen Wissensfeldern. Worin der Bildungsertrag der sinnlichen Erkundung eines Waldstückes liegen könnte, bleibt so bei Hemmer auch ungeklärt.
e.
Der Begriff der „Anschauung“ wird auf ein alltagsweltlich sinnliches (meistens aber visualistisches) Verständnis verkürzt (s. oben) (vgl. Schmidt 1976, 249, Theissen 1986, 211 sowie Meyer 2009, 164). Stonjek argumentiert zwar über die Enge der visuellen Wahrnehmung hinaus, bindet den Begriff der Anschauung letztlich aber doch an die sensorische Leistung der organischen Sinne (vgl. Stonjek 2005, 27).
f.
Die in ontologischer Hinsicht kategorial verschiedenen Begriffe „Realität“ und „Wirklichkeit“ werden synonym bzw. theoretisch ungeklärt verwendet (vgl. Knirsch 1979, 13, Theissen 1986, 210f, Rinschede 2003, 174, Meyer 2009, 164 sowie Stonjek 2005, 90f). Wirklichkeit geht so in einem alltagssprachlichen Realitätsverständnis auf. „Wirklichkeit“ lässt sich als das Wirkende und flüchtige Erscheinen aber nicht auf Substanzen reduzieren und kann deshalb theoretisch auch nicht in die ontologischen Interpretationsschablonen konstruktivistischer Vorstellungen menschlichen Lernens integriert werden.
g.
Pädagogisch erkenntnisleitende Konzepte werden weniger aus einem bildungstheoretischen Rahmen, denn aus einem fach-wissenschaftlichen Vermittlungsinteresse erschlossen. Sie werden nicht darauf hin geprüft, welchen Erkennt-
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nisbeitrag eine etymologische Auslegung und geisteswissenschaftliche Interpretation für Erkenntniszugewinne fachlichen Lernens bedeuten könnte; so wird „Beobachten“ z.B. bei Rinschede als „Verfahren der Datensammlung verstanden“ und von einer „naiven“ Beobachtung – fern ihrer Bedeutsamkeit für die wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung – unterschieden (Rinschede 2003, 102). h.
Die (vermeintliche) „Originalität“ eines (geographischen) Objekts wird in einem naiven Sinne vorausgesetzt und mit einer „Unmittelbarkeit“ begründet, die es schon als Folge des geplanten Charakters von Lernprozessen („didaktische Rekonstruktion“) nicht geben kann (vgl. Haubrich 1988, 190, Rinschede 2003, 235, Stonjek 2005, 90f). Im Unterschied dazu sah Josef Birkenhauer den Charakter der Originalität einer Begegnung vor Ort nicht im (authentischen) Gegenstand, sondern in der pädagogischen Subjekt-Objekt-Situation (vgl. Birkenhauer 1974, 132). Konsequenterweise wandte er sich deshalb auch gegen jede Schematisierung „originaler Begegnung“ (vgl. ebd., 131).
i.
Die Aufmerksamkeit der Wahrnehmung wird (besonders deutlich im naturwissenschaftlichen Unterricht) thematisch fokussiert und damit von möglichen Themen und Fragen weggeführt, die Kinder abseits der Planung des Unterrichts ent-decken könnten. So eigne sich die „Exkursion […] hervorragend, um das genaue (Hervorh. J.H.) Beobachten, Messen, Beschreiben und Erklären naturwissenschaftlicher Zusammenhänge im Gelände zu erlernen.“5 Auch der konstruktivistische Ansatz des so genannten „conceptual change“ lässt Wahrnehmungen von Kindern nur als Rohstoffe der „didaktischen Strukturierung“ des Unterrichts zu (vgl. Reinfried 2005, 26), denn letztlich sollen Kinder und Jugendliche ihre subjektiven Theorien in Richtung „wissenschaftlicherer Vorstellungen“ verändern (Reinfried 2007, 25).
j.
In der Exkursionsdidaktik spielt das Konzept der „Situiertheit“ des Lernens eine wichtige Rolle. Dies bedeutet aber in einem lebensweltlichen Sinne nicht mehr, als dass Lernen in einer Umgebung stattfindet und ein Lernen ermöglicht, in dem Wissenskonstruktionsprozesse in einem Kontext realisiert werden (vgl. Kürschner/Horz/Schnotz 2007, 16). Eine Lernumgebung sei dann „authentisch“, wenn diese „einen realistischen sozialen Kontext des Gelernten beinhaltet“ (ebd.) … was immer das heißen mag. Ein systematisch differenzierter Situations-Begriff (siehe oben) wird in den einschlägigen Ansätzen nicht entwickelt. Das „Konzept“ der Situiertheit des Lernens läuft deshalb auf eine Leerformel hinaus, denn jedes Lernen (emanzipatorisches wie faschistisches oder das der verdeckten Suggestion „schwarzer Pädagogik“) hat gleichsam zwangsläufig Situationscharakter. Jedoch kollidiert schon die höchst unscharfe Verwendung des „Situations“-Begriffes mit den Grundsätzen der konstruktivisti-
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schen Lehr- und Lernplanung, wonach es im Prinzip gar keinen Begriff der „Situation“ geben dürfte, weil dieser doch eine Perspektive auf Ganzheiten eröffnet. Die Differenz zu geisteswissenschaftlich begründeten Ansätzen ästhetischen Lernens mit allen Sinnen könnte kaum größer sein! Lernen „mit allen Sinnen“, das das volle Potential der Reflexion von Selbst- und Weltbedeutsamkeiten nicht erschließt, verfehlt schon verstandesorientierte (kognitivistische) Ansprüche an gelingendes Lernen, denn auch die Beziehungsebene, auf der Kinder und Jugendliche die Dinge und Sachverhalte um sie herum erleben, bildet eine Sachebene, die der wissenschaftlichen Reflexion zugänglich ist. In der Ausklammerung subjektiver Erlebnisweisen von Wirklichkeit und Realität lässt sich Aufklärung nachhaltig nicht erreichen. Lernen mit allen Sinnen verkommt zu unbesinntem Lernen, wenn die pädagogischen Arrangements die Sinne und Gefühle gleichsam „bei sich“ lassen. Erst wenn Eindrücke und die von ihnen ausgehenden Empfindungen auch im Hinblick auf ihre subjektive wie gesellschaftliche (incl. ökonomische) Bedeutsamkeit und Erlebnisweise zu einem Sach-Thema des Lernens werden, sind Voraussetzungen für ein Lernen mit allen Sinnen geschaffen, das zugleich ein Lernen mit vollem Verstand wäre. Bildungswissen wird (i.S. von Max Scheler) erst da geschaffen, wo Wissen über das eigene Selbst in seiner Relation zur Welt zu einem Zuwachs persönlichkeitsgestaltenden Wissens führt.
Endnoten 1
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Hierzu bietet sich in besonderer Weise das an Homer orientierte Schmitz’sche SituationsKonzept der Neuen Phänomenologie an (vgl. Schmitz 2005 sowie Großheim 2005); in der Pädagogik hat sich vor allem Klaudia Schultheis grundlegend mit der Bedeutung des SituationsKonzepts unter der Perspektive phänomenologischer Pädagogik auseinander gesetzt (vgl. Schultheis 1999). Wie das prinzipiell erreichbare Wissen begrenzt ist, so auch die methodischen Wege zu dessen Erreichbarkeit: „Wir Menschen können nicht ein einziges wirkliches zufälliges Ding vollständig erfassen, es sei denn in einem unendlichen Prozeß von Erfahrungen und Bestimmungen.“ (ebd., 11). Dieses Verständnis findet sich auch bei Husserl, wonach nicht nur das ins Auge gefasste Ding angeschaut werde, „sondern ein ganzer Hof von ,Hintergrunds-Anschauungen‘, in welche die Anschauungen des Dinges eingebettet sind.“ (Kaulbach 1971, 346). Der Topos „den Raum lesen“ (vgl. auch Rhode-Jüchtern 1996) spiegelt eine (von vielen) kognitivistischen Verengungen fachdidaktischer Vorstellungen menschlichen Lernens wider. Das „Lesen“ ist in fachwissenschaftlichen wie in fachdidaktischen Konnotationsfeldern in einem ausschließlich semiotischen Sinne gemeint und fokussiert die intellektuell verstehende Interpretation von „Spuren“ in Gestalt von Gegenständen, Gegenstandskonstellationen und Symbolen. Stichwort „Exkursionsdidaktik“ auf der Internetseite der Uni Köln über Drittmittel und Forschungstransfer ( http://verwaltung.uni-koeln.de/abteilung62/content/for-schungstransfer/ messe/bildungsmesse_didacta_2007/exkursionsdidaktik/ (25.02.2009)
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Wiltrud Gieseke
Atmosphäre in Bildungskontexten – Beziehungstheoretische Überlegungen
1 Aktuelle Forschungsorientierungen / Emotionen – Flucht ins Informelle Am Lernen von Erwachsenen interessiert in der Regel, in welcher Weise er/sie es tut und ob er/sie dazu eine ausreichende Bereitschaft entwickelt. Vorab ist die Frage nach der Lernfähigkeit positiv beantwortet. Inzwischen geht, belegt durch quantitative empirische Befunde, ein Riss durch die Gesellschaft. Weiterbildung verschärft danach das differente Weiterbildungsverhalten in der Bevölkerung. Je höher der Bildungsabschluss, desto höher ist die Weiterbildungsbeteiligung (Tippelt 2003). Die Weiterbildungspartizipation spezialisiert sich bis ins mittlere Alter auf berufliche Anforderungen (Friebel 2000). Auf milieuspezifisches Weiterbildungsverhalten und professionelle Anforderungen an Kursleiter/innen weisen die Arbeiten von Tippelt (2009) hin. Im mittleren/älteren Erwachsenenalter wirken der Alters- und Bildungsfaktor verstärkend, wobei das Alter generell zu nachlassender Weiterbildungspartizipation führt (Schiersmann 2006). Wir wissen darüber hinaus Weiteres über den Zusammenhang von Sozialdaten und Weiterbildungspartizipation. Aber wir wissen nicht, wie und wodurch diese Zusammenhänge speziell für einen bestimmten Gegenwartskorridor gelten. Dabei gehen wir auch für 2010 davon aus, dass die politischen und ökonomischen Gestaltungsbedingungen entscheidenden Einfluss auf das Partizipationsverhalten haben. D.h. nichts kann außerhalb eines historischen Kontextes betrachtet werden. Die Enthistorisierung von Querschnittsuntersuchungen ist nur dann ein Problem, wenn unter der Hand das Wissen um die Gestaltbarkeit und Gestaltabhängigkeit von Bildung, im Speziellen von Erwachsenenbildung, verloren geht. Gestaltungsinteressen fließen jetzt eher in die Forschungsfragen ein, so am Beispiel vieler Befragungen zum informellen Lernen, in denen neue Bildungswirklichkeiten initiiert werden. Ganze Bildungslandschaften an allen Orten erfinden sich unter hybriden Kontexten neu und fassen Sozialisationseffekte, Habitualisierungen, eingeschliffene soziale Praktiken in den Lebenswelten mit unter Bildungs- und Lernprozesse. Diese mögen zwar bildungsrelevant sein und Übergänge zwischen Arbeitshandeln, täglichem Tun und ‚Sich-adaptieren‘ an Veränderungen ermöglichen, sie beschreiben und erklären uns aber nicht den gegenwärtigen Diskurs, wie sich realistische, wirksame und subjektoffene Entwürfe für Bildung entwickeln können. In der verdeckt kritischen Studie von Schiersmann (2006) wird aber deutlich, für welche gesellschaftlichen Gruppen und Milieus praktisch informelle Konstellationen anstatt und nicht gleichzei-
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tig mit anderen Settings von Bildung im Zusammenhang stehen. Weiterführend für den Diskurs ist ebenso ein Text von Kuper und Kaufmann (2009), die in ihren Auswirkungen, genau wie Schiersmann, eine hohe formale Weiterbildungspartizipation und ein kontinuierliches informelles Lernverhalten verbunden sehen. Konkrete Fallanalysen, z.B. in Betrieben ohne Auflagen und normative Bindung an Unternehmen, würden hier auch für Unternehmen bessere Informationen für das Lebenslange Lernen (LLL) zur Verfügung stellen. Eine andere Perspektive ist ebenso hilfreich. Wenn es eine Forschungsperspektive ist, Bildungspartizipation nach Alter, Schicht und Geschlecht zu unterscheiden, dann ist eine andere, die Weiterbildungsorganisation und Institution nach ihrer faktisch gestalteten Bildungswirklichkeit, ihrer Initiierung (Marketing, Öffentlichkeit) realisiert über Programme, über Einzelangebote und Projekte (Gieseke 2000, Kade 1992, Käpplinger 2007, Heuer/Robak 2000, Dollhausen 2008, Nolda/Pehl/Tiet-gens 1998, Körber 1995, Schrader 2000, Tietgens 1994 und 1991), zu analysieren und Veränderungen zu beschreiben. Auch darin drückt sich das Partizipationsverhalten, aber verschränkt mit Gestaltungskontexten, aus. Man kann nachvollziehen, auf ‚was‘ Lernen in der Erwachsenenbildung verweist, wenn es nachgefragt und initiiert wird. Die erste und diese zweite Forschungsrichtung ergänzen sich, was institutionelle und Lernkontext gestaltende Erwachsenenbildung betrifft. Die Übergänge, auch zum informellen Lernen, sind dabei ein noch offenes Feld. Wir wollen uns nun diesem Feld im Folgenden von noch einer anderen Seite nähern. Sie verweist auf eine Dimension, die sowohl für eine erwachsenenpädagogische Reflexion der Übergänge zwischen informeller/nonformeller und formeller Weiterbildung eine Perspektive eröffnet, also auch für das individuelle Partizipationsverhalten, wenn man die Bildung und das Lernen Erwachsener aus der LLL-Perspektive betrachtet. Es geht um die Aktivierungs- und Handlungspotenziale der Individuen als emotionale Impulsgeber und -nehmer, die sie in Sozialisationsprozessen über Erfahrungen in institutionellen, professionell konzipierten Settings in Bildungsinstitutionen, aber ebenso in anderen Bildungskontexten und in der Familie erfahren konnten und erfahren haben (siehe Gieseke 2009, Holzapfel 2002, Arnold 2005). Wie die Individuen vor diesem Hintergrund Bildung und Lernen bewerten, sagt etwas über Zeit, Ort/Raum, Nutzungs- und Wirkungszusammenhängen aus. Meyer-Drawe (2008) operiert für die Schule mit einem weiten Lernbegriff und definiert Lernen als Erfahrung. Man kann ihr zustimmen, wenn sie ausführt: „Im Lernen zeigt sich wie beim menschlichen Existieren überhaupt das, was Plessner die vermittelte Unmittelbarkeit und die natürliche Künstlichkeit nannte (vgl. Kubitza 2005, 196ff). Menschen leben nicht einfach. Sie müssen ihr Leben führen. Sie treten ins Verhältnis zu ihrer eigenen Verhältnishaftigkeit. Lernen meint daher stets, dass jemand Bestimmtes
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etwas als etwas lernt. Jemand tritt in eine gestalterische Beziehung, die ihn selbst nicht unberührt lässt. Jede Aussicht, dem Lernen gleichsam authentisch auf die Schliche zu kommen, ist verstellt“ (Meyer-Drawe 2008, 32). Dabei schließt sie an Bourdieu an und zitiert ihn: „ ‚Die Welt erfaßt mich, schließt mich als Ding unter Dingen ein, aber als Ding, für das es Dinge gibt, ja eine Welt, erfasse ich diese Welt; und dies, wie man hinzufügen muß, gerade weil sie mich umfängt und erfaßt: Denn durch dieses – oft übersehene und verdrängte – materielle Eingeschlossensein und das, was daraus folgt, die Einverleibung sozialer Strukturen in Form von Dispositionsstrukturen, objektiver Möglichkeiten in Form von Erwartungen und Vorwegnahmen, erwerbe ich eine praktische Erkenntnis und Beherrschung des mich umschließenden Raumes […]‘ (Bourdieu 2001, 167)“ (ebd., 33). Ihre phänomenologische Position aufnehmend, aber sie nicht, wie sie es tut, emotionstheoretischen und neurobiologischen Befunden entgegenstellend, ist gerade beim Halten eines lebenslangen Lernfadens von Bedeutung, „dass ich beim Lernen auf das Was und nicht auf das Wie gerichtet bin. Zwar gibt es zahlreiche, auch bewährte Definitionen, aber was genau beim Lernen geschieht, ist nach wie vor ungeklärt“ (ebd., 33). Als wenig überzeugend erweisen sich aber ihre Ausführungen gegen die Neurobiologie oder gegen das Lebenslange Lernen, wenn man Lernen – wie sie es tut – als Erfahrung auslegt. Eher interessant ist es, den Blick phänomenologisch genauer zu richten, sich nicht von Aversionen treiben zu lassen. Eine Perspektivenverschränkung führt weiter. Es reicht nicht nur aus, festzustellen, dass man Erfahrungen hat und auch noch macht. Damit verweist man auf die ständigen selbstverständlichen Transformationen, die eben in letzter Konsequenz im Lebenslangen Lernen sichtbar werden. Eine phänomenologische Anschauung verbietet eine abwertende Positionierung. Meyer-Drawe hat das Verhalten von Subjekt-Objekt und Subjekt-Subjekt bei ihren Betrachtungen der Beziehungskonstellierung von Bildung nicht im Blick. 2 Orte, Räume der Bildung Bildung als Ergebnis einer Beziehungskonstellation zu sehen, verlangt danach zu fragen, unter welchen Konstellationen sich diese am ehesten entfaltet. Eine neue ‚Freiheitsfolklore‘ sieht überall Bildungsprozesse, in jedem Moment zu allen Zeiten, wenn das Subjekt nur offen ist. Viele Interpretationen wirken quasi wie eine Bildungsoffenbarung. Man argumentiert mit Prozessverläufen der entwickelten Zivilgesellschaft, die nach dem technischen Zeitrhythmus funktioniert. Passender ist die Frage, gerade auch für die Bildung im Erwachsenenalter, wie viel Zeit und welche Räume zur Verfügung stehen, wie die Erwachsenenbildung/Weiterbildung eingetaktet ist, welche Spielräume, örtlichen/zeitlichen Räume für diese Zwecke freigehalten sind (siehe dazu besonders Schmidt-Lauff 2008; Faulstich z.B. 2001, 2003). D.h. welche konkret räumliche Kultur es sichtbar für Erwachsenenbildung/Weiterbildung gibt. Denn dort, wo gesell-
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schaftlich faktisch Räume und Orte ausgewiesen, freigehalten, implementiert und strukturiert sind, können sie ausgefüllt werden mit Bildung, mit Menschen, die sich zu diesem Zwecke hier treffen, sich vereinbaren. Becker/Bilstein/Liebau geben Räumen eine universelle Bedeutung für unser Wahrnehmen, für unsere menschliche Existenz und theoretische Reflexion. „Wir denken in Räumen – davor aber und vor allem anderen leben wir selber als leibliche, also (wenigstens) dreidimensionale Wesen in Räumen“ (Becker/Bilstein/Liebau 1997, 9). Räumlichkeit hat eine subjektive und objektive Seite, beides bereitet die Atmosphäre, die von der Beziehung getragen wird.1 Räumlichkeit wird dabei nicht abstrakt und neutral erlebt, sondern ist „unlösbar mit der Erfahrung des eigenen Leibes verbunden und mit der ganzen Vielfalt aller nur denkbaren affektiven Tönungen verknüpft“ (ebd., 10).2 Räumlichkeiten, die man in bestimmten Lebensetappen nutzt, durchläuft, Erinnerungen, die sich daran heften, wirken nach. Die Räume selbst und die dort erlebten Beziehungen aktivieren sich beim erneuten Betreten. Man ruft einen Stimmungsraum selbst leiblich zurück, wenn man diese Räume, so z.B. Schulen, Universitäten, Ausbildungsstätten, nach Jahren wieder betritt. Diese Erinnerungen aktivieren das Erleben von Lehr-/Lernbeziehungen und bringen die Vorstellungen/Stereotypen, die als Lernkulturen wahrgenommen werden, wieder hervor. Bollnow (2000) geht besonders auf den Raum als Ausdruck des Wohnens, des Beheimatens, ein. Bildungsräume als Ausdruck der gestalteten Beziehung zum Zwecke des Dialogs, des Lernens, werden nicht bearbeitet. Für den Einstieg in seine weiteren Ausführungen nennt er zehn Punkte, die u.a. die Auseinandersetzung und den Erfahrungsraum, den Spielraum, deutlich machen (siehe Anhang, Abb. 1, Bollnow 2000, 37). Orte für Bildung sind Handlungsräume, in denen sich Stimmungsräume entfalten, die die spezifischen Bildungseindrücke tragen. Uns interessiert hier, wie Becker u.a. es in ihrer pädagogischen Topologie nennen, „die leiblich-sinnlich gebundene Raumerfahrung“ (Becker/Bilstein/Liebau 1997, 13). Denn Menschen gestalten die Räume, insbesondere auch Räume der Bildung. Dabei ist es nicht unbedeutend, ob für Erwachsene nur die gleichen Bildungsräume zur Verfügung gestellt werden, wie sie für Schüler/innen vorgesehen sind, ob sie in Hotels zum Zwecke der Bildung gehen oder ob es eigene Häuser mit eigenem Gestaltungsspielraum gibt. Welche Atmosphären werden jeweils transportiert? Gernot Böhme (1995) unterscheidet zwischen Räumen für bestimmte Zwecke und ihren besonderen Atmosphären, so die Atmosphäre des Heiligen in der Kirche, der Schönheit in den Kunstmuseen, die der Spannung in den Stadien und das Heilende und Erhabene in den Naturlandschaften. Bildungsräume sind dabei nicht mitbenannt. Bildungsräume für Erwachsene symbolisieren Verstehen, Vermitteln, Differenzieren und Verändern. Es sind noch zu viele Begriffe für eine Klassifizierung im Diskurs. Sie fließen noch nicht ein in einen tragenden Begriff; wenn – dann wäre er individuelle Zentrierung und Entwicklung durch Aneignung und Auslegung also Aufklärung? Die pädagogischen landschaftlichen Topologien sind noch nicht vermessen.
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Haben sie deshalb nicht eine Raumgestalt, die in verschiedenen Varianten wiedererkannt werden kann? Das kann unterstellt werden. Aber der Wissenstransfer, die Beschäftigungsform mit der Aneignung von Wissen und Können als Ausdruck einer bestimmten Beziehungsfähigkeit unterliegt großen Umwälzungen, so dass damit die Frage der Räumlichkeiten nach neuen Antworten auch in der Raumgestaltung sucht: Vorlesung (geordnete, zentrierte Orientierung auf Pult), Dialog (Kreis), Diskurs/Arbeitsgruppe (Viereck), Einzellernen (Labor, CD), Beratung (Einzelgespräch), Lesen (Bibliothek), Werkstatt (Üben). Die Orte des Lernens dehnen sich aus, es geht um sehr kleine Gruppen, eine Topologie der Lernorte. Eine solche Topologie hätte den Erfahrungsbegriff aber nicht als zentralen Begriff des Lernens, wohl aber Leben mit seinen spezifischen Zeitfenstern und -orten für Lernen. Die systematischen Wissens-/Kompetenzeinschübe in dem sich ausdifferenzierenden Erfahrungsstrom des Lernens lassen sich dann durch jeweils lernförderliche Kontexte, gestaltet durch Beziehungen, herstellen. 3 Atmosphären und Stimmungen In seiner neuen Phänomenologie, die er nur im Zusammenhang mit kritisch-historischer Einstellung für sinnvoll hält, geht es Schmitz (1998) um die, wie er sagt, klaffende Spanne zwischen Begreifen und Betroffensein. „,Affektives Betroffensein‘ besagt, dass jemanden Sachverhalte, Probleme und Lebensaussichten etwas angehen, ihm nahe gehen, ihn in spezifischer Weise gefühlsmäßig und leiblich ergreifen, ihn z.B. freudig oder traurig stimmen, ihn ängstigen oder enttäuschen. Um in dieser Weise betroffen zu sein, genügt es nicht, ein Gefühl bloß zu haben und es zu ‚fühlen‘, d.h. wahrzunehmen, aber nicht von ihm berührt oder ergriffen zu sein oder sich nicht von ihm berühren und ergreifen zu lassen. Zu diesem Ergriffen- und Betroffensein gehören entsprechende leibliche Regungen, wie sie Sappho und Catull schildern, bspw. bei der Freude das leiblich spürbare Gehoben-, bei der Trauer das leiblich spürbare Gedrücktsein“ (Wimmer 2004, 101). Im affektiven Betroffensein drückt sich nach Schmitz das Subjekt aus. Ihm geht es um die Durchleuchtung, wie er es nennt, der unwillkürlichen Lernerfahrungen im Alltag, in den Lebenserfahrungen (Schmitz 1998, 8). Diese Erfahrungen durchlaufen in der gegenwärtigen Forschung einen Reduktionismus, „weil sich unter der Oberfläche der Rationalisierung die ungerichtete Dynamik des affektiven Betroffenseins staut“ (ebd., 8). Eine Introjektion über psychologische Steuerungen, an denen die Individuen nicht mehr mit Selbstauslegungen beteiligt sind, bestimmt die Situationen und die darin untergründig transportierten Atmosphären werden zerschlagen. „Ihre Bedeutsamkeit, die in einer nach außen ganzheitlich abgehobenen, im Innern aber diffusen und nicht durchgängig vereinzelten Mannigfaltigkeit von Sachverhalten, Programmen und Problemen besteht, wird subjektiviert und zu Aggregaten von Gedanken, Urteilen, Entschlüssen usw. in der Seele umgedeu-
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tet; Atmosphären, die den Menschen leiblich spürbar ergreifen oder beschleichen, werden in private Gefühle umgedeutet“ (ebd., 11). Ausgangspunkt seiner Betrachtungen ist der Leib. Er versteht darunter, was ein Mensch in der Gegend, wie er es nennt, von sich spüren kann. Ihn interessiert das perzeptive Körperschema, die leiblichen Regungen. Er beschreibt sie in neuer Weise, d.h. er findet eine Sprache für das bisher sprachlich nicht mehr Gefasste, wobei aber gleichwohl im Prozess des genauen Beobachtens das eigene Erfahren eine Sprache erhält. So unterscheidet er zwischen Frische, Mattigkeit, Behagen, Unbehagen, Müdigkeit und Gebärdensprachen wie ‚Geknicktsein‘. Atmosphären unterscheidet er von reinen Stimmungen als unbestimmte Weite und Richtungen mit den Polen Zufriedenheit und Verzweiflung. Ähnlich sieht auch Bollnow die Stimmung als „Untergrund des gesamten Seelenlebens“ (Bollnow 1995, 148). Atmosphären werden nach Schmitz von Richtungen und Vektoren durchzogen. Sie zielen auf etwas, breiten sich um etwas aus. Hier spricht er von zentrierten Gefühlen, die für ihn eine dritte Schicht im Gefühlsraum sind. Er bezieht sich dabei auf die Gestaltpsychologie, die von zentriertem Gestalten spricht. Für ihn bilden Gefühle einen Raum von eigentümlicher Struktur, die der Struktur des leiblichen Raumes darin parallel ist, dass sie in der Unterschicht gleichfalls ungegliederte Weite besitzt, die dann in einer zweiten Schicht von Richtungen überformt wird und sich zu Gestalten herausbildet, die Atmosphären sind und einen Raum mit eigener Struktur markieren. Besonders prägend ist dabei seine Einstiegsdefinition, wo er Gefühle als „ortlos ergossene, leiblich ergreifende Atmosphären“ (Schmitz 1998, 63) beschreibt. „Gefühle sind anspruchsvolle Atmosphären, die dank ihrer ortlosen Ergossenheit in der jeweils aktuellen Umgebung einen totalen Anspruch stellen und zum Konflikt führen, wenn konträre Atmosphären zusammenprallen“ (ebd., 25).Von Atmosphären, die sich um eine Situation, aus einer Konstellation oder/und aus einem Raum her ergeben, können bestimmte InteraktionsBeziehungsstrukturen der anwesenden Menschen entstehen. Atmosphären, die aus bestimmten Beziehungen mit thematischem Bezug erwachsen, binden sich in der Regel auch an bestimmte Räumlichkeiten, die eine Atmosphäre mitgestalten. Themen und Aufgaben in ihren institutionalisierten Formen binden bestimmte Verkehrsformen, schaffen eine Community mit bestimmten räumlichen Bedarfen, die Atmosphären mitgestalten und das Klientel schon räumlich auf die Kultur der Begegnung einstimmen. Obwohl von Atmosphären in öffentlichen Diskursen und in Alltagsgesprächen wie selbstverständlich gesprochen wird und jede/jeder ohne weiteres versteht, was gemeint ist, sind Atmosphären noch nicht einer Untersuchung unterzogen worden. Allenfalls finden sich Beschreibungen von bestimmten Landschaften und Räumen, weniger von Interaktions- und Beziehungskonstellationen in Bildungsprozessen. Hier lösen sich die Betrachtungen auf in Einzelbeobachtungen, die nicht zusammengeführt
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werden. Die Atmosphäre als Zusammenwirken kognitiver, emotionaler, leiblich räumlicher Gestaltung, Beziehungen und Prozessentwicklung erfährt man, aber sie ist noch nicht durch eine Theorie beschreibbar. 4 Lernatmosphären (und Kommunikation) Uns interessieren Lernatmosphären unter Erwachsenen in ihrer Spezifik oder Verallgemeinerung, auch was die Gemeinsamkeit, die Übergänge und die Differenz zum schulischen Lernen betrifft. Das Besondere der Beziehung, aber auch der Räumlichkeit, spielt dabei eine Rolle. In der Erwachsenenbildung kann entsprechend reaktivierte Angst aber auch schon generell beim Betreten eines klassenähnlichen Raumes beginnen. Es kann sich an Tischformationen im Lehr-/Lernraum oder lehrertypischen Kommunikationsstilen festmachen, aber auch an bestimmte Lehr-/Lernformen gekoppelt sein oder an bestimmte Gruppenkonstellationen, die an alte Klassenverbände erinnern. So gibt es in der beruflichen Weiterbildung in einigen Vereinen noch die Führung eines Klassenbuchs, die übliche Prüfungs- und Abfragesituation oder demütigende Kommunikationsstile. Allerdings fehlt eine Untersuchung, die danach fragt, welche situationsspezifischen Bedingungen bei welchen Gruppen und Milieus besondere Ängste freisetzen. Hier mag es auch noch generationsspezifische Differenzen geben (vgl. Gieseke 2009, 69). Räumlichkeiten setzen Emotionen frei oder, in diesem Fall, aktivieren und rufen mit Räumlichkeiten verbundene Emotionen wach. Das Gleiche gilt nicht nur für Räume, sondern auch für schulische Gebäude. Der Hinweis auf räumlich situative Bedingungen als angstauslösend kommt aber nicht von ungefähr. So kommt nach einer Befragung in einem Modellversuch, wo u.a. nach ärgerlichen und nach freudigen, positiven Erfahrungen gefragt wurde, dem räumlichen Klima, den situativen Bedingungen eine besondere Bedeutung zu. Ängste und Wohlbefinden in der Weiterbildung haben in nicht unerheblichem Maße eine räumliche Dimension (Gieseke 1997). Erlebtes Lernen, atmosphärisch leiblich Aufgenommenes hinterlässt einen Emotionsmix, den die Selbststeuerung in späteren Lebensphasen, was Lernen betrifft, nicht unbeachtet lässt. In einer Studie, die sich mit Hoch- und Niedrigängstlichen in Stress- und Leistungssituationen beschäftigt, wird deutlich, dass besonders konkurrenzschürende Konstellationen negative Folgen haben. Angsterzeugende Bedingungen unterstützen den Nichtängstlichen. Das robuste Mittelmaß hat also immer gute Chancen komplexer denkende, sozial aufmerksame Personen durch angstmachende Konstellationen außer Gefecht zu setzen. Zwar wirkt sich Angst insgesamt gesehen negativ auf Leistung aus, aber bereits neutral fordernde und fördernde Bedingungen minimieren die lähmenden oder aggressiven Bedingungen auch für die Hochängstlichen. Konkurrenz ist danach an sich kein leistungsförderndes Mittel, allenfalls für die, die nur unter der Maxime Kampf und Macht operieren. Das gilt generell, aber ganz besonders noch einmal aus der Genderperspektive (vgl. Gieseke 2009, 71).
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Neben den räumlich transferierenden Erinnerungen bestimmen Situationen/Kontexte/Kommunikationssituationen und darin eingebundene Formen der informellen und formellen Beziehungen die Lehr-/Lernatmosphären. Förderliche Lernatmosphären für das einzelne Individuum und für die Gruppe haben offensichtlich mehr Chancen zur Entfaltung, wenn sich Freude mit Interesse verbindet. Freude ist ein Gefühl, verstanden zu werden, selbstvertraut zu sein, geliebt zu werden, vertrauensvolle Beziehungen zu haben, gebraucht zu werden, etwas zu können, mitten dabei zu sein. Dabei sind Freude und Interesse eng verbunden. Freude unterstützt die Offenheit gegenüber allem Neuen und geht mit einer individuellen Dynamik einher. Nach Heller (1989) ist Freude nicht auf die eigene Person fokussiert. Für sie ist die ganze Person erfasst, aber immer in Beziehung zu etwas und zu jemandem. Dieses wird für Heller am deutlichsten durch das Involviertsein der ganzen Person in eine Sache. Bildungsinteresse erdet emotionstheoretisch in der Freude. Aber es gibt auch eine dunkle Verbindung zur Freude, die sich verkoppeln kann mit der Geringschätzung, dem Neid und zum Sadismus führt. In der Regel, so Kast (1991), ruft Freude Begeisterungsfähigkeit, Aktivität auf den Plan, aber häufig durchziehen feine Sadismen, heftiger Neid, Schadenfreude und auf Zerstörung zielende Konkurrenz den Alltag. Wo in Arbeitsprozessen Demütigungen die Arbeitsformen bestimmen, wo es um autoritäre Muster geht, wo Leistung keine Anerkennung findet, wo man nicht entsprechend seinen Fähigkeiten eingesetzt wird, da kann sich keine aktivierende, schon gar keine auf Begeisterung fußende Freude entwickeln. Für das individuelle Handeln betont Russell daher die Wichtigkeit an seinen Zielen festzuhalten (Russell 1978, 161). Wenn Arbeit interessant ist, gibt sie Befriedigung – und interessant ist sie, wenn Können erprobt wird und Werke entstehen, man also gestalterisch tätig sein kann. Schädlich findet Russell alle Haltungen, bei denen man sich aus opportunistischen Gründen einem Mehrheitstrend anbiedert, der letztlich nur zur Selbstverachtung und zum Zynismus führen kann. Freude, Begeisterung und kreative Gestaltungsfähigkeit bleiben dann (alternativ) aus. Alternativen zur nicht selbstständigen Arbeit sind zusätzliche Interessen. Sie schaffen Raum und Kräfte, um Distanz zur täglichen Arbeit zu gewinnen und doch Aktivitäten zu entwickeln (vgl. Gieseke 2009, 63f). Nicht ohne Grund findet die Gesundheitsbildung, Teile der kulturellen Bildung und/oder Sport eine solche entsprechend intensive Nachfrage. Lernatmosphäre und lernförderliche Interessensentwicklungen gehen also eine Allianz ein und sind durch die verschiedensten Facetten bestimmt. Dabei ist grundlagentheoretisch einflussgebend, welche Wirkungen von Kontexten und den dadurch bereitgestellten Beziehungen ausgehen. Die gesellschaftlichen und kulturellen Prozesse mögen noch so sehr unter einem ganzheitlichen Sog im Prozess der Entscheidungsgewinnung stehen und sich als Angleichungshandeln3 (Gieseke 2000) in verschiedenen Kontexten herausstellen, das
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jeweilige Individuum darf jedoch in seiner Selbstverantwortung und in seiner Wirksamkeit in der Gruppe nicht unterschätzt und kleingeredet werden. Auch Gruppenemotionen, Stimmungen, entstehen dadurch, dass sie beim Einzelnen einen Widerhall finden oder aber nur oberflächlich aus Opportunismus mitgetragen werden. Für den Prozess und das Ergebnis von Verläufen und Interaktionen ist dieses von hoher Bedeutung. Wo der/die Einzelne sich mit seinen/ihren Fähigkeiten entfalten kann und sich gefördert und gefordert sieht, gibt es einen Progress für das Individuum und für Sozialität. Aber diese Möglichkeit ist eben sozial bis in die Familie zurückgebunden, und darin liegt auch die Wirksamkeit der Sozialisation. Unsere Biologie gibt dem Individuum eine Offenheit, die der sozialen Entwicklung, der Interessensbildung und der Intelligenzentwicklung einen breiten Spielraum lässt. Wir können alles für uns tun: uns entwickeln, uns bilden, unsere Sozialität leben, aber auch uns selber schaden, uns selber im Wege stehen oder anderen gegenüber destruktiv handeln. Dieser mühsame Erkenntnisprozess lässt sich in der Philosophiegeschichte, in der Geschichte gesellschaftlicher Systeme und ihrer Kriege und auch im Geschlechterverhältnis nachlesen. Bildung und Wissen sind zwar nicht neutrale Größen, sie können die eine oder andere Richtung unterstützen, doch sie eröffnen die Möglichkeit der größeren Erkenntnisfähigkeit über uns selber. Die Biologie ist dabei nicht der Gegner, sondern unser Ausgangspunkt, unsere Chance, nicht unser Feind. Zu viele Systeme, Auffassungen, Denkschulen, Menschenbilder haben unser beschränktes Wissen über unsere Biologie immer wieder missbraucht und unsere menschliche Natur, die gerade auch durch offene Entwicklungschancen bestimmt ist, dadurch denaturiert. Die Emotionen in ihren komplexen Wirkungen und Bedeutungen sind dabei der am stärksten verleugnete Aspekt menschlicher Natur. An ihnen kann die biologische Absicherung zur Lebenserhaltung betrachtet werden, und ihre sozialisatorische Ausdifferenzierung legt die mögliche Vielfalt der Entwicklungschancen, wie auch die Ambivalenzen im Gestaltungsprozess offen (vgl. Gieseke 2009, 91f). Unsere emotionalen Schemata, die lernförderliche Emotionen gliedern und unsere Kommunikationsfähigkeit vorstrukturieren, bleiben abhängig von Beziehungen. Die interindividuelle Dimension gerade von Bildung und Lernen wird unterbewertet. Dieses ist für die Erwachsenen- und Weiterbildung im Sinne Lebenslangen Lernens besonders nachteilig, da sich im zunehmenden Erwachsenenalter die emotionalen Schemata verfestigen und infolge dessen daraus für Veränderungen eine besondere Notwendigkeit erwächst (vgl. ebd., 99). Bindungen und Beziehungen als Voraussetzungen für die Lernentwicklungen der einzelnen Individuen, und nicht dominant Selbstreferentialität und Autopoiese, sind emotionstheoretisch die Bedingungen und Voraussetzungen von Lernen und Lernentwicklung, welche für theoretische pädagogische Betrachtungen in den Vordergrund zu treten haben. Der Mensch lernt nicht allein für sich, sondern ist auf ein Gegenüber angewiesen. Er/sie sucht relationale
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Verhältnisse, um über sich und seine/ihre erlebten Situationen hinauszuwachsen. Gleichzeitig werden von den Individuen relationale Bedingungen hergestellt, um passgenau in einer Umwelt zu reagieren. Dieses gilt auch für pädagogische Fragen. Dazu liegen aus der erwachsenenpädagogischen Institutionen- und Programmforschung Belege vor, wie über „Angleichungshandeln“ in pädagogischen Institutionen, also über Prozesse des Austausches mit der Umwelt, sukzessive Abstimmungen in der Programmplanung, im Bildungsmanagement, im institutionellen Handeln insgesamt zustande kommen (Weick 1985, Gieseke 2000). Prozesse des Angleichungshandelns sind allerdings noch für die gesamte pädagogische Praxis, für mikrodidaktisches Handeln und für Lernkulturen zu untersuchen. Mit Begriffen wie „strukturelle Koppelung“ werden diese Zusammenhänge und Abläufe in der pädagogischen Praxis zu undeutlich beschrieben (vgl. Gieseke 2009, 107f). Für die Verbindung zur Außenwelt und zur Aufnahme einer Aneignungsperspektive spielen für das Individuum Emotionen eine maßgebliche Rolle. Sie sind die Öffner, sie bauen Brücken, sie stiften Beziehungen und werden kommunikativ eingelöst (vgl. ebd., 113). Der Erhalt der Beziehungsfähigkeit ist eine Voraussetzung für Lernen, aber ebenso zur Gestaltung von lernförderlichen Lernatmosphären. Davon sind die Individuen abhängig (vgl. ebd., 114). Individuen benötigen Interpersonalität, um neues Interesse an Lernen zu gewinnen. Von der Pädagogik ist als Schlüsselkompetenz miterlebendes Nachvollziehen einer Aussage, einer Situation eine Voraussetzung, um bei Individuen Interesse zu wecken oder zu unterstützen: Konstellationen zu schaffen, die es ermöglichen, sich gerade im Erwachsenenalter zu öffnen, sich also einzulassen. Unabhängig von den Arbeiten von Chodorow (2001) bleibt Heller am weiterführendsten, wenn sie ausführt, dass das Involviertsein der Schlüssel ist, um Gefühle zu erklären, wobei sie zwischen einem reaktiven und einem aktiven Involviertsein unterscheidet. Involviertsein treibt einen Prozess der Wahrnehmung voran. Es beeinflusst das Gedächtnis und kann Problemlösungen herbeiführen. Die emotionalen Muster einer Kultur steuern damit auch die Lernhaltungen: ob sie eher reaktiv oder eher aktiv sind, ob sie selbst- oder gruppenbezogen sind und auf welche Bandbreite der Ausdrucksformen sie zurückgreifen können. Auch, ob behindernde Emotionen selbstreflexiv oder konstruktiv bearbeitbar sind oder frei zur Wirkung kommen, hängt von den individuellen Möglichkeiten zur Selbstregulierung unter bestimmten Interessensorientierungen ab, die sich über individuelle, aber kulturell vorgeprägte Emotionsmuster ausdrücken. Die Fähigkeit zum Involviertsein hat also eine individuelle, eine kulturelle, aber auch eine gesellschaftliche, d.h. eine von aktuellen Konstellationen abhängige Seite. Durch die Veränderbarkeit emotionaler Haltungen durch Einflüsse von außen und durch eigene Steuerungen bleibt die Fähigkeit zum Lebenslangen Lernen erhalten (vgl. Gieseke 2009, 121).
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Aber dabei gilt, erst durch den Erhalt der Beziehungsfähigkeit setzen sich Entwicklungen durch. Man könnte den Einfluss von Beziehung und Lernen für das Erwachsenenalter theoretisch so zusammenfassen:
Jede Emotionsregulierung durch soziale Beziehungen/Lernen in der Situation steuert die Aktivitäts- und Motivationsbereitschaft für Lebenslanges Lernen. Erwachsene verfügen über Selbstregulationen, in denen sie ihre habituellen Emotionsschemata einbringen und sich einzufügen lernen in die alltäglichen Anforderungen. Die Selbstregulation sichert nicht erweiterte Handlungspotenziale, sondern garantiert nur die Einfügung des Erwachsenen in vorfindliche Kontexte. Neue Entwicklungen im Erwachsenenalter setzen soziale Situationen mit Aufmerksamkeit auf den Lernverlauf voraus. Spielräume für Interaktionen, in denen Beziehungen hergestellt werden, sind zu konstruieren. Ermutigungen und inhaltliche Diskurse, in denen unterschiedliche Positionen und differente Herangehensweisen an ein Thema eingebracht werden, tragen zur optimalen Entfaltung in Vielfalt bei. Einen Rückhalt offen zu halten und Divergenzen zuzulassen, sind Strategien um offene, neue Konstellationen im Denken und Interpretieren von Erwachsenen zu schaffen. Bewertungen verändern sich vor dem Hintergrund komplexeren Wissens und positiver emotionaler Beziehungen (vgl. ebd., 124).
Wir benötigen also in der Erwachsenenpädagogik eine erweiterte Handlungskompetenz, die soziale Beziehungen in Bildungskontexten schafft, um Entwicklungspotenziale zu unterstützen. Es ist also erforderlich, Orte des Lernens bereit zu halten, in denen soziale Beziehungen sich entwickeln können, die einen entsprechenden Aufforderungscharakter haben, die nicht negative Selbstkreisläufe verstärken, denn der Emotionshaushalt (Pekrun/Hofmann 1999) ist die entscheidende Bedingung zur Bewältigung oder Nichtbewältigung von Leistungsanforderungen. Wenn mehr Aufmerksamkeit auf Lebenslanges Lernen gelegt werden soll, sind beziehungsstiftende Auseinandersetzungen über Inhalte und die Beachtung eingebrachter emotionaler Lernschemata von hoher Bedeutung (vgl. Gieseke 2009, 134). Eine relationale Didaktik beachtet Beziehungen als Einfluss nehmenden didaktischen Faktor. Der Austausch, die Kommunikation, der Dialog, so unsere These, ist eine notwendige Begleitung und tragende Bedingung des Lernens im Erwachsenenalter. Beziehungen im sozialen Diskurs zum Zwecke von lernender Auseinandersetzung mit einem Gegenstand zielen auf handelndes Erarbeiten von Kompetenzen. Sie schaffen dabei Atmosphären, in denen sich verschiedene Kommunikationenstrategien wirksam entfalten können und in ihrer Begleitung Lernatmosphären hervorbringen
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und als Lernkulturen beschreibbar werden. Im Spannungsfeld von Beziehungsfähigkeit, Lernatmosphären und subjektiver Entfaltung sowie Förderung liegt nach den bisherigen Befunden der Reichtum oder die Begrenzung der Lernkulturen (siehe dazu genauer die Ausführung in Gieseke 2009, 216ff). Gerade in einer sich zunehmend individualisierenden Gesellschaft, die auf Vernetzung setzt, kann sich der/die Einzelne nur über Beziehungen verlässlich entwickeln und seine Individualität entfalten.
Endnoten 1
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Schmitz definiert Raum: „Denkt man an den Raum, so stellt man sich etwas vor, worin sich feste, von Randflächen begrenzte Körper lang, breit und dick an Orten ausdehnen können, die miteinander durch Lagen und Abstände in einem den ganzen Raum überspannenden Netz verbunden sind, einem beliebig zentrierbaren Koordinatensystem“ (Schmitz 1998, 50). Weitreichende Ausführungen zur Leiblichkeit des Raumerlebens siehe Merleau-Ponty (1966/1974), Bollnow (1998/2000). Dieser Begriff beschreibt den Prozess des abgestimmten Planens von Weiterbildungsvorhaben in der Region mit verschiedenen Akteuren.
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Anhang Als Leitfaden für die späteren Untersuchungen lassen sich die aus der Sprache gewonnenen Hinweise nach folgenden Richtungen zusammenfassen:
Abb. 1: Bollnow 2000, 37
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Demokratie und die Erziehung des Leibes – Zur pädagogischen Relevanz von Gymnastik
Einleitung Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet die Beobachtung, dass der menschliche Körper in der Welt der Erziehung und der Erziehungswissenschaften kaum thematisiert wird. Als interessante Möglichkeit, dieses geringe Interesse an der Körperlichkeit und die Gründe für die Vernachlässigung des Körpers oder vielleicht sogar die Angst vor ihm genauer zu untersuchen, bietet sich die Praxis des Faches Leibeserziehung an. Es handelt sich dabei um ein Fach, das in vielen Europäischen Staaten an abnehmendem pädagogischen Interesse leidet (vgl. etwa Renson 2006, 531), während organisierte außerschulische Sportaktivitäten gleichzeitig mehr und mehr an Popularität gewinnen. Es ist daher nicht überraschend, dass der Unterricht in Leibeserziehung sich heute vornehmlich aus Aktivitäten zusammensetzt, die den alltagsweltlichen Vorlieben von jungen Menschen entsprechen, wie etwa Sport, Tanz und Spiel, und dass eher traditionelle Inhalte, wie Gymnastik oder disziplinierende Übungen verschwinden. Die terminologische Umstellung des bundesdeutschen Sprachgebrauchs von „Leibeserziehung“ auf „Sport“ mag als exemplarische Illustration dieser Tendenz gelten. (ebd.). Im Folgenden möchte ich den pädagogischen Sinn von Leibeserziehung und im Besonderen von rhythmischen gymnastischen Übungen untersuchen. Damit bereite ich einige allgemeinere Schlussfolgerungen über den Zusammenhang von Erziehung und Körperlichkeit vor. Ich gehe davon aus, dass es das Training der fundamentalen Bewegungen des menschlichen Körpers ist, wie etwa das Strecken und Beugen der Arme und Beine, das Biegen und Drehen des Rumpfes etc., das die hohe pädagogische Relevanz der Leibeserziehung ausmacht und dass die Konzentration auf die essenziellen Körperbewegungen im Erziehungsprozess ein kritisches Moment aktivieren könnte, welches geeignet ist, unser Zusammenleben in einem radikalen und demokratischen Sinne zu verändern. Weiters werde ich argumentieren, dass dieses Potenzial einer solchen „Demokratie des Fleisches“ wieder entschärft wird durch die Tendenz, Leibeserziehung an den Geschmack des jugendlichen Publikums anzupassen und an seine alltagsweltlichen Unterhaltungsgewohnheiten von Spiel, Sport und Entspannung heranzuführen. Desgleichen verstehe ich den Trend, Leibeserziehung als geeignetes Instrument zur Beförderung von Hygiene, Fitness und Sozialkompetenz zu betrachten, als eine defensive Strategie, welche den Blick auf das Demokratisierungspotenzial gymnastischer Übung verstellt.
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Die Instrumentalisierung des Körpers (in der Leibeserziehung) Leibeserziehung ist gegenwärtig kein „hot topic“. Der kleine Anteil, der diesem Fachgebiet im Belgischen Curriculum insgesamt zukommt (in der Sekundarstufe etwa zwei von zweiunddreißig Stunden), mag dies anschaulich illustrieren. Und dieser geringe Stellenwert des Faches ist, wie erwähnt, ein internationales Phänomen. Ungeachtet dessen gewinnt die Leibeserziehung in politischen Erklärungen und im öffentlichen Gesundheitsdiskurs erheblich an Bedeutung. Betrachten wir die Argumente, die vorgebracht werden, um Leibeserziehung als ein wichtiges Unterrichtsfach zu legitimieren, stoßen wir auf folgende Begründungen: Körperliche Ertüchtigung befördert verschiedene hochgeschätzte soziale Ziele wie etwa das Zurechtkommen mit Niederlagen, aber auch das faire und großzügige Handhaben von Siegen. Ferner soll die Leibeserziehung mit den Prinzipien von Kooperation und „Leadership“ vertraut machen und zur Durchführung von Wettkämpfen befähigen. Dem gemeinsamen Betreiben von Sport wird dabei neben den Effekten für Fitness und Wohlbefinden die Rolle eines sozialen Bindemittels zugeschrieben. Es lässt sich hier etwa an das bekannte Programm „Teaching Personal and Social Responsibility“ (TPSR) von Don Hellison denken, welches eine Entfaltung der persönlichen und sozialen Verantwortlichkeit durch gemeinsame physische Betätigung zu erreichen verspricht (Hellison 1995). Besondere Bedeutung könnte dabei sein Potenzial gewinnen, (junge) Menschen trotz sozialer, geschlechtlicher oder ethnischer Unterschiede einander näher zu bringen (Scheerder 2007). Zuletzt könnten wir die vielen guten Argumente, die für eine hohe Wertschätzung gegenüber der Leibeserziehung sprechen, noch durch einen weiteren, zunehmend häufiger ins Treffen geführten Hinweis ergänzen: In der richtigen Weise eingesetzt, könnte Leibeserziehung einen verantwortlichen Umgang mit der eigenen Gesundheit und persönlichen Hygiene anregen und ein vernünftiges Verhältnis der Heranwachsenden zu ihrem eigenen Körper fundieren, um etwa körperlichen Versagensängsten oder Ernährungsproblemen, wie etwa der Anorexie, vorzubeugen. Es ist die Überzeugungskraft dieser Art von Argumenten, die den Bestand der Leibeserziehung in der heutigen Schule sichert und so verwundert es nicht, dass das Fach etwa in Belgien hauptsächlich mit der Erreichung der genannten Ziele beschäftigt ist (Vlieghe 2010). Was ich daran problematisieren möchte, ist, dass diese zunächst einmal mit der Bewegung des menschlichen Körpers selbst überhaupt nichts zu tun haben, vielmehr betreffen sie in erster Linie die Verwirklichung persönlicher Identitätsbildung, sozialer Humanisierung und im Besonderen einer gut funktionierenden, florierenden Gesellschaft. Leibeserziehung erscheint solcherart als Erziehung des Leibes oder Erziehung über den Leib. Der Sinn der Erziehung ist der körperlichen Bewegung äußerlich, weil schon im Voraus festgeschrieben als Formung der Heranwachsenden zu verantwortlichen und kompetenten Erwachsenen. In diesem Licht erscheint der Körper lediglich als Instrument, anstatt au sérieux genommen zu werden. Dieselben Ziele ließen sich in Fächern, welche sich nicht mit körperlicher Bewegung beschäftigen,
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ebenso oder vielleicht besser realisieren: Kooperation könnte auch in einem geografischen Unterrichtsprojekt geübt werden, für die Bereitschaft, sich um Gesundheit und Hygiene zu kümmern, wäre auch der Biologielehrer ein geeigneter Promotor. Mit Blick auf das aktuelle Verständnis von Leibeserziehung lässt sich also feststellen, dass dem Körper und seiner Bewegung lediglich eine sekundäre und instrumentelle Bedeutung zukommt. Anstatt genuine Leibeserziehung – also Erziehung im Medium des Leibes – zu sein, ist sie Erziehung des Leibes als Objekt oder über das Instrument des Leibes. Solcherart scheint selbst der körperlichen Erziehung der pädagogische Sinn der Leiblichkeit verloren gegangen. Im Gegensatz dazu möchte ich behaupten, dass es sich beim überkommenen und nunmehr „veralteten“ Programm rhythmischer Gymnastik um eine Praxis handelt, in der der physischen Aktivität als solcher noch pädagogische Bedeutung zukommt, im Besonderen überall dort, wo nicht versucht wird, körperliche Übung durch Verweise auf übergeordnete gesellschaftliche oder persönliche Ziele zu legitimieren. Die Tendenz, den Körper für außerkörperliche Zwecke in Dienst zu nehmen, ist indessen nicht auf Leibeserziehung beschränkt. Die Schule betrachtet leibliche Phänomene insgesamt eher als Störungen denn als Quellen eigenständigen pädagogischen Sinns und pflegt sie daher zu verschweigen oder zu instrumentalisieren und körperfremden Zielen unterzuordnen. In den Erziehungswissenschaften hat sich die Auffassung verbreitet, dass die hormonelle und sexuelle Entwicklung der Jugendlichen einen erheblichen Einfluss auf ihre Schulleistungen zeitigt. Umgekehrt lässt sich zeigen, dass Mädchen, die eine Waldorfschule besuchen, im Vergleich zu ihren Geschlechtsgenossinnen, die eine staatliche Regelschule besuchen, durchschnittlich ein Jahr später in die Pubertät eintreten (Rittelmeyer 2002, 176f). Dies könnte der Grund für ihre besseren schulischen Leistungen sein und darauf zurückgehen, dass Lernbiografien, die auf der Grundlage persönlicher Notwendigkeiten und selbst kontrollierter Entwicklungsschritte organisiert werden können, zu anderen körperlichen Reifungsprozessen führen als solche, die an formalisierte und extern vorbestimmte Leistungsanforderungen angepasst werden müssen. Es ließe sich aus solchen Beobachtungen der Schluss ziehen, es wäre vorteilhaft, den Unterricht so zu gestalten, dass jeder Heranwachsende seinen Lern- und Entwicklungsrhythmus selbst bestimmen kann, dadurch wären sowohl größeres Wohlbefinden als auch bessere Leistungen grundgelegt. Solche Untersuchungen illustrieren m.E., dass ein erhöhtes Interesse an körperlichen Phänomenen auch in der pädagogischen Diskussion und wissenschaftlichen Forschung nicht notwendig eine seriöse Würdigung des pädagogischen Sinnes menschlicher Leiblichkeit zur Folge hat. Auch hier wird der Leib wieder als Instrument betrachtet, das sich benützen lässt, auch wenn es hier vielleicht eher um die Verwirklichung der Ideale klassischer Bildung als um effiziente Anpassung an gesellschaftliche Anforderungen geht. Selbst noch in Konzepten wie den „body-centered pedagogies“ schlägt diese Tendenz durch, auch wenn diese mit Verweis etwa auf Mer-
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leau-Ponty die Einsicht hochhalten, dass jede Erkenntnis und jeder Versuch, sich die objektive und soziale Welt anzueignen, auf einer präreflexiven, leiblich inkarnierten Beziehung zur Welt und zum anderen voraussetzt, allein körperliches Verhalten also aus sich selbst Sinn stiften kann, während alle anderen bedeutsamen menschlichen Aktivitäten auf diesem als ihrem konstitutiven Fundament aufruhen (Meyer-Drawe 1984; Macintyre Latta/Buck 2008). Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Die Erläuterung von abstrakten Zusammenhängen, wie etwa die Wirkung des Blutkreislaufes, läßt sich gut durch körperliche Darstellungsformen – etwa des Biologielehrers – vermitteln. So kann er beispielweise zeigen, wie das Herz arbeitet, indem er durch abwechselnde pumpende Kontraktionen seiner Hände die abwechselnden Kontraktionen der Herzkammern veranschaulicht. Warum aber – so lässt sich nun fragen – werden den Schülerinnen und Schülern diese Ausdrucksmöglichkeiten nicht in gleicher Weise gewährt? Sie werden im Rahmen schriftlicher Prüfungen gezwungen, ihre vielleicht ebenfalls sehr körperlich fundierten Einsichten und Erkenntnisse über die Welt auf eine sehr abstrakte und theoretische Weise zu dokumentieren. Vielleicht hätte der durchgefallene Studenten seine Prüfung mit summa cum laude bestanden, wäre ihm die Möglichkeit geboten worden, sich leiblicher Ausdrucksmittel zu bedienen (PozzerArdenghi/Roth W. M. 2007). Gerade das zuletzt genannte Beispiel zeigt m.E., dass selbst das ausdrückliche Bekenntnis zur zentralen Bedeutung der Leiblichkeit nicht davor schützt, Erziehung bloß als Erziehung des Leibes und über den Leib zu denken. Der Körper wird anerkannt, weil wir ihn unausweichlich benötigen, um die für uns schon vorentschiedenen Bildungsziele zu realisieren. Er erfährt Wertschätzung, um die Erziehung effizienter zu machen, nicht um seiner selbst willen und die Möglichkeit, dass Leiblichkeit aus sich selbst pädagogischen Sinn generieren und dass Erziehung generell schon immer leibliche Erziehung sein könnte, bleibt unerwogen. Die Leiblosigkeit der Pädagogik lässt sich an der zunehmenden Bedeutung des modernen eLearning vielleicht besonders deutlich illustrieren. Diese Art der Beschäftigung soll das noch bestehende Konzept von Unterrichten und Lernen vollständig ersetzen und den Erziehungsprozess in ein ausschließlich zerebrales Geschehen transformieren. Während Schule heute noch auf der Grundlage körperlicher Anwesenheit von Lernenden und Lehrenden und im Rahmen physikalisch ausgeformter didaktischer Umgebungen – wie etwa Schulgebäuden und Klassenzimmern – veranstaltet wird, sollen wir eines Tages nur noch elektronisch miteinander kommunizieren, ohne die heimatliche Stube zu verlassen. Ein solcher virtueller Unterricht müsste dann nicht länger als körperbasierter Vorgang gesehen werden, und damit könnten Leibeserziehung und Bewegungsunterricht endlich der Vergangenheit angehören.
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Der inhärente pädagogische Sinn der leiblichen Erfahrung Ich werde nun im Weiteren die These verteidigen, dass nicht nur Erziehung wesentlich mit dem Körper zu tun hat, sondern dass darüber hinaus das bloß instrumentelle Interesse an pädagogischer Verkörperung ebenso wie das Bedürfnis, alle Erziehung in elektronische Virtualität überzuführen, als eine Art Abwehrmechanismus gesehen werden kann: Instrumentalisierung und Entkörperlichung von Erziehungsvorgängen schützen uns vor Unannehmlichkeiten und Ängsten, die mit dem definitiven Einzug des Leibes in das pädagogische Geschehen virulent werden könnten. Der Gedanke, dass Erziehung ein leiblicher Vorgang im wörtlichen Sinne ist, ergäbe für Lehrende ein ziemliches Unbehagen, vergleichbar der verbreiteten Somatophobie, wie sie etwa in der Furcht vor der Nacktheit in pädagogischen Zusammenhängen, dem Widerwillen vor körperlicher Züchtigung oder der Angst vor körperlichen Berührungen zwischen Lehrenden und Lernenden zum Ausdruck kommt. Obwohl das Zusammenkommen von Lehrenden und Lernenden natürlicherweise die Möglichkeit impliziert, zu berühren und berührt zu werden, gilt dies als nicht akzeptabel. Man könnte dies als eine Art von „moral panic“ bezeichnen. Wie Erica McWilliam gezeigt hat, ist die Absicht, jeden Körperkontakt zu vermeiden, verbunden mit der permanenten Wahrnehmung des Berührungsrisikos zu den Grundfesten der professionellen Identität von Lehrern geworden (McWilliam 2003). Ich werde überdies behaupten, dass das Unbehagen und die Ängste, die mit der Anwesenheit des Leibes in der Erziehung gegeben sind, ihren Grund in einer Erfahrung haben, die tief in unserer körperlichen Existenz begründet liegt und gegen die sie uns schützen sollen: in der Erfahrung radikaler Gleichheit und Gemeinsamkeit. Miteinander in einer Situation als körperliche Existenzen präsent zu sein – wie dies für Erziehungsprozesse vorderhand noch unumgänglich ist – kann bestimmte Unterschiede wie etwa jene zwischen Lehrenden und Lernenden, bildungsbürgerlich Geförderten und proletarisch sich selbst Überlassenen, als hoch begabt und als minder begabt Angesehenen u.ä. als von nebensächlicher Bedeutung spürbar werden lassen. Der Augenblick, in dem wir erleben, dass wir unterschiedslos Wesen von Fleisch und Blut sind, enthält das Potenzial einer direkten, unmittelbaren und unbestreitbaren demokratischen Erfahrung. Mit ihr gerät also die hierarchische Struktur, wie sie für pädagogische Beziehungen üblicherweise charakteristisch ist, in Gefahr, ins Wanken zu geraten. Die Leiblichkeit unseres Daseins tritt immer wieder augenscheinlich hervor. Wenn wir etwa – auf bloße körperliche Funktionen reduziert – einander hilflos ausgeliefert sind, wenn wir vom Rausch der Trunkenheit erfasst wurden, einen Tränenfluss nicht steuern können, wenn wir am Ende unserer körperlichen Kräfte sind oder durch Übermüdung die Kontrolle über unsere Aufmerksamkeit verlieren, dann zeigt sich eine elementare Gleichheit zwischen allen. Auch im Schulunterricht kann so etwas geschehen: Wenn wir im schallenden Gelächter gemeinsam jede Selbstkontrolle verlieren, werden wir reduziert auf nichts mehr als das mechanische Zucken unseres Körpers,
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als vollkommen ausgeliefert den unfreiwilligen und unkontrollierbaren Spasmen des Zwerchfells und der Gesichtsmuskulatur. Wir sind in einem solchen Augenblick nur anonym wirkendes Fleisch, es ereilt uns also eine Erfahrung von Entpersönlichung, welche jedoch ein demokratisches Potenzial enthält: Ungeachtet der differenziellen Position, die wir im übrigen Leben einnehmen, erleben wir eine egalisierende Ausgeliefertheit an die unkontrollierbaren Mechanismen unseres Körpers, wir werden (durchaus passiv und vielleicht ganz gegen unsere eigentlichen Intentionen gerichtet) Teil einer Gemeinschaft, in welcher kulturell, sozial, politisch, ökonomisch hervorgebrachte Positionen keine Rolle mehr spielen, wir werden einer Demokratie des Fleisches unterworfen. Es ist offensichtlich, dass eine solche Umwertung der Werte dem institutionellen Auftrag von Lehrerinnen und Lehrern nicht entgegenkommt. Ein demokratisches Lachen dieser Art unterminiert jede sorgfältig aufgebaute Autorität, Hierarchie und Verlässlichkeit des Erziehungsapparates. Aus diesem Grunde ist schallendes Gelächter in der Schule wenig beliebt. Man kann diesen Sachverhalt aber auch umgekehrt lesen: Die Erfahrung der Demokratie des Fleisches ist eine in einem elementaren Sinne pädagogische. Wenn wir als Lehrende und Lernende die egalisierende Erfahrung durchlaufen, nichts als unterschiedsloses Fleisch zu sein, eröffnet sich eine ganz andere Zukunft als ohne sie. Was wir gemeinsam erlebt haben, bildet dann eine unbestreitbare und unhintergehbare Grundlage für alles weitere Handeln. Damit gewinnt die leibliche Erfahrung einen fundamentalen pädagogischen Eigensinn: Sie fordert von uns, die bestehende Lebenspraxis zu unterbrechen und zu reflektieren und für neue Wendungen zu öffnen (vgl. Vlieghe/Simons/Masschelein 2010). Das Beispiel der „Schwedischen Gymnastik“ Ich möchte nun versuchen, die These vom originär pädagogischen Sinn der geteilten Leiblichkeitserfahrung und der uns durch sie eröffneten Demokratie des Fleisches weiter zu vertiefen. Dazu werde ich Erziehung als ein prinzipiell leibliches Geschehen konzeptualisieren. Ich werde mich dazu dem Thema der Leibeserziehung sensu stricto zuwenden und das Beispiel der historischen „Schwedischen Gymnastik“ aufgreifen. In dieser dreht sich nämlich alles um jene essenziellen körperlichen Bewegungsformen, wie sie der Erfahrung des „Nichts-als-Fleisch-Seins“ zugrunde liegen. Damit könnten sie also auch die Erfahrung einer demokratischen Gemeinschaft ermöglichen und alternative gesellschaftliche Zukunftsperspektiven eröffnen. Mit der Verteidigung der Schwedischen Gymnastik könnte ich mich dem Verdacht aussetzen, ein Plädoyer des pädagogischen Konservativismus formulieren zu wollen und vor dem Hintergrund der massiven historischen und philosophischen Kritik, die an dieser Disziplin geübt wurde (Gleyse 1997; Kirk 1998; Brohm 2006), erscheint mir dieser Verdacht durchaus gerechtfertigt. Dessen ungeachtet möchte ich die, wenn auch vielleicht unzeitgemäße, Sichtweise propagieren, dass gerade Gymnastik – stärker als Sport und Spiel – als das eigentliche Kerngeschäft einer demokratisie-
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renden und wesentlich pädagogisch aufgefassten Leibeserziehung gelten darf. Ich behaupte, dass eine Leibeserziehung, welche sich primär mit Sport und Spiel beschäftigt, das demokratische Potenzial der Leibeserziehung eher untergräbt als fördert und daher geradezu eine Immunisierungsstrategie gegenüber diesem darstellt. Ich wende mich zunächst einmal der Kritik an der Schwedischen Gymnastik zu. Als Schwedische Gymnastik bezeichnet man eine körperliche Betätigung, die sich von Turnen oder Akrobatik grundsätzlich unterscheidet. Letztere beruhen zumeist auf dem Gebrauch von hoch spezialisierten Gerätschaften, wie etwa Trampolinen, Barren, Ringen oder Pferden, und erfordern komplexe und bisweilen gefährliche Bewegungsleistungen, welche ein eher aufwändiges Training erforderlich machen. Das System der Schwedischen Gymnastik, welches im 18. Jahrhundert von Per Henrik Ling entwickelt wurde, hebt sich von vornherein und grundsätzlich von diesem Konzept ab. Hier stehen vielmehr einfache und grundlegende Körperbewegungen im Vordergrund: Das rhythmische Beugen und Strecken der Glieder, das Biegen und Rotieren des Rumpfes etc. Die Verwendung von spezialisierten Geräten ist stark beschränkt. Im 19. Jahrhundert hatten sowohl Turnen wie Schwedische Gymnastik eine wichtige pädagogische Bedeutung. Beide unterschieden sich gemeinsam von Sportaktivitäten, die vornehmlich wegen ihres Erholungswertes oder aus Gründen des sportlichen Wettbewerbs betrieben werden, wie etwa Fußball oder Volleyball. (Eine Ausnahme bildet die englische Erziehungskultur, in welcher Sport im privaten Internat als wichtiges Element der Persönlichkeitsbildung betrachtet wurde.) Während jedoch das kompetitive Element auch in entsprechenden Turnaktivitäten (etwa im Rahmen von Wettbewerben) präsent ist, spielt es dagegen in der Schwedischen Gymnastik überhaupt keine Rolle, da sich diese praktisch auf eine puristische Übung der basalen Bewegungen des menschlichen Körpers beschränkt. Leibeserziehung bedeutet hier tatsächlich: Übung und Formung des sich bewegenden Leibes. Spätestens hier scheint es angebracht, mögliche kritische Einwände gegen Turnen oder Gymnastik zu würdigen. Zweifellos haben sie sich in der Geschichte immer wieder höchst verdächtigen politischen Zielsetzungen dienstbar gemacht. Der Umstand etwa, dass Leibeserziehung in Belgien erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem Pflichtfach erhoben wurde, ist nicht zufällig (D'hoker/Van Asche 1994, 82). Das Fach mit seinen militärischen Drillübungen galt primär als ausgezeichnete Vorbereitung einer Karriere in der Armee. Schwedische Gymnastik hatte im Rahmen der staatsbürgerlichen Bildung des 19. Jahrhunderts vor allem die Aufgabe, bereitwilliges „Kanonenfutter“ zu produzieren (Dekkers 2006). Diese militärische Orientierung der Leibeserziehung äußerte sich auch darin, dass häufig pensionierte Offiziere der Armee als Gymnastiklehrer rekrutiert wurden und dies bildete den Grund für die Ablehnung gegenüber einer allgemeinen Einführung von Gymnastik in den öffentlichen Schulen (D'hoker/Van Asche 1994, 47). Auch die Ähnlichkeiten zwischen dem Lingschen Ansatz und jenem der „Freikörperkultur“, einer Organisation, die den nackten gelen-
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kigen Körper glorifizierte und als Vorbote der faschistischen Bewegung gelten darf, weisen auf die militärisch-disziplinierende Ausrichtung der Gymnastik hin. Sie mag der Grund dafür sein, dass Leibeserziehung erst Anerkennung finden sollte, als seine Popularität bereits im Sinken begriffen war und immer mehr durch sportive und entspannende Aktivitäten aus dem Umkreis der Freizeitwelt der Heranwachenden gefüllt wurde, wie Tanz, Fußball oder Spiele (D'hoker/Van Asche 1994, 87). Doch könnte dies zugleich die Begründung der gegenwärtigen pädagogischen Legitimationsprobleme gewesen sein (Renson 2006, 532). Obwohl der Zusammenhang zwischen Gymnastik und Kriegsführung heute keine Rolle mehr spielt, lassen sich gut begründete analoge philosophische Einwände gegen Gymnastik geltend machen. Wie Jean-Marie Brohm ausgeführt hat (Brohm 2006), kann die gegenwärtige neoliberale Gesellschaft als ein totalitaristisches System verstanden werden, mindestens insoweit, als sie einen Machtapparat bildet, der den menschlichen Leib aufs Äußerste diszipliniert: Die körperlichen Energien und Bewegungsmöglichkeiten werden einem Regime der beständig zu optimierenden Selbstpräsentation unterworfen, das spontane, authentische oder spielerisch-deviante Ausdrucksformen körperlicher Vitalität nicht mehr toleriert und uns auf diese Weise zu funktionierenden Zahnrädern im kapitalistischen System formt. Ging es der alten Schwedischen Gymnastik um die Generierung „gefügiger Körper“, um einen Ausdruck Michel Foucaults (1993) zu verwenden, seien es heute scheinbar harmlose Phänomene, wie etwa das Fitnesstraining oder das Modediktat, welche eine spezifische Perfektionierung des Körpers vorantreiben und als Techniken unserer (freiwillig durchgeführten) Verwandlung in asketische und maximal rentable Subjekte gesehen werden müssten. Sie würden uns zu zwingen versuchen, unseren Lebenslauf vollständig zu kontrollieren, ohne dabei durch unsere leibliche Seinsweise und die mit ihr verbundenen Anwandlungen der Schwäche und Zerbrechlichkeit, des Hanges zu viel zu essen und zu trinken, des natürlichen Antriebes, sich vollständig auszuruhen oder auszuleben, oder des bedauerlicherweise unabwendbaren Dranges, seinen Körper von Urin und Fäkalien zu entleeren, behindert zu werden. Diese Analyse lässt sich in Bezug auf die Praxis der Schwedischen Gymnastik weiter konkretisieren durch die Betrachtung der historischen Herkunft der Leibeserziehung in der modernen Schule. Die ersten Fürsprecher der Gymnastik treffen wir im Kreise der aufgeklärten Philosophen an, welche die menschliche Biologie mit neuen Augen betrachten. Sie orientieren sich dabei sowohl an den letzten Erkenntnissen der Medizin wie gleichermaßen an der Erfindung der Dampfmaschine. Man denke etwa an L'Homme Machine von Julien Offray de La Mettrie (Thomson 1996) oder Adam Smith's revolutionäre Gedanken über menschliche Arbeitskraft. Letzterer, der bekannterweise als Vater der ökonomischen Wissenschaften gelten darf, war einer der ersten, die versuchten, das menschliche Verhalten gänzlich in einer mechanistischen Terminologie zu fassen, nämlich als energetisches System, dessen man sich so effizient
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wie möglich zu bedienen hätte. Der schottische Philosoph bedauerte es ausdrücklich als miserables Geschick des Menschengeschlechts, nur ein Siebtel des energetischen Potenzials des Pferdes zu besitzen (Gleyse 1997, 232). Die eben erst möglich gewordene präzise Messung solcher Potenziale erlaubte es ihm, die menschliche Bewegungsaktivität in Pferdestärken auszudrücken und solcherart einen ernsthaften Mangel zu diagnostizieren. Was sollte näher liegen, als die beste Lösung darin zu sehen, den Menschen so zu trainieren, dass dessen energetisches Potenzial maximal gesteigert würde (ebd.). Gymnastik schien auf diese Weise das ideale Instrument, den Menschen einer Art von Dressur zu unterwerfen, wobei die Unterschiede zwischen einem Training von Menschen und Tieren vernachlässigbar schienen. Es scheint, als hätte diese zweckrationale und quasi-industrielle Auffassung des menschlichen Körpers sich durchgesetzt und die Sphäre der Leibeserziehung zu ihrem Schulbeispiel gemacht. Aber auch außerhalb von ihr weisen einige gesellschaftliche Phänomene eine recht ähnliche Logik auf. Die populäre Musik etwa, die nach dem Diktum von Adorno ein verdummendes Massenphänomen darstellt, welches die subjektive Abhängigkeit vom kapitalistischen Produktionssystem verewigt, anstatt den Menschen kulturelle Aufklärung zu bringen, basiert auf einem „beat“ von etwa 140 Schlägen pro Minute. Dieser Rhythmus entspricht präzise jenem, welcher in den Handreichungen für Leibeserzieher des 19. Jahrhunderts vorgeschlagen wurde, um die militarisierenden Gymnastikübungen zu strukturieren (Gleyse 1997, 319). Auch die visuelle Repräsentation des Leibes, die ihren gegenwärtigen Höhepunkt in der filmischen Pornografie gefunden hat, bedient sich derselben rhythmischen Stilmittel. Man kann sie als eine Art maßlose Mechanisierung des menschlichen Körpers verstehen, die beim Betrachter eine eigentümliche Faszination auslöst: Er genießt es, menschliche Körper als anonyme Maschinen inszeniert zu erleben, welche einander wechselseitig in einem stampfenden Takt durchdringen. Die Akteure sind nur mehr Geräte mit Öffnungen, Griffen und Zuleitungen, welche Sekretionen ausscheiden und aufnehmen (Gleyse 1997, 322). Die Pointe beider Beispiele ist das technokratische Regime, welches sich zweier Lebenssphären bedient, die normalerweise als Sphären genuiner Selbstexpression und Intimität gelten: der Musik und der Sexualität. Aber auch und gerade hier müssen dem Menschen die Grundfeste seiner Emanzipation und Selbstverwirklichung streitig gemacht werden, soll er in effektiver Weise menschenunwürdigen Ansprüchen und Bedingungen unterworfen werden. All diese Argumente scheinen darauf hinaus zu laufen, dass die hier in Rede stehende Gymnastik die Potenziale menschlicher Emanzipation und Selbstverwirklichung, wie sie in der freien körperlichen Bewegung aufgehoben sind, unterdrückt und zum Zweck ihrer Subsumption unter eine totalitäre Logik ausbeutet. Der elementare Genuss, den wir in der spielerisch-chaotischen Bewegung, im sinnlichen Ertasten der eigenen und fremden körperlichen Begrenzung, im spontanen Entdecken neuer leiblicher Aktivitäts- und Ausdrucksmöglichkeiten erleben, wird uns im Gymnastikunter-
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richt systematisch vorenthalten und ausgetrieben und so scheint aus historisch und philosophisch geläuterter Perspektive gar keine anderes Resümee begründbar als die Zufriedenheit über ihre erfolgte Abschaffung. Theoretiker wie Jacques Gleyse und David Kirk, deren Argumente ich hier hauptsächlich vorgetragen habe, empfehlen daher der modernen Leibeserziehung, sie möge sich an Sport und Spiel orientieren, um ihre authentischen und genuinen Ziele ernst zu nehmen und die Befreiung des Faches aus instrumentellen Widmungen zu verwirklichen (Gleyse 1997, 323; Kirk 1998, 131). Schwedische Gymnastik und die Erfahrung zweckfreier Gemeinschaft Dessen ungeachtet möchte ich den Gedanken weiter verfolgen, dass gerade die traditionelle Gymnastik, wie sie von Ling konzipiert wurde, vielleicht am besten geeignet ist, dem pädagogischen Sinn leiblicher Erziehung Gestalt und Wirksamkeit zu geben. Ich möchte dazu eine Annäherung vorschlagen, die nicht den Blick verstellt auf die wichtige Erkenntnis, dass ein rhythmisches Sich-Hingeben an essenzielle Bewegungsformen wie dem Strecken, Beugen, Rotieren oder Ähnlichem eine außergewöhnliche Erfahrung hervorrufen kann, und die jeder Annäherung verborgen bleiben muss, welche die Bewegungsformen a priori als disziplinierende, der menschlichen Freiheit und Selbstbestimmung im Wege stehende Mechanismen auffasst. Selbstverständlich bestreite ich in keiner Weise, dass die Schwedische Gymnastik historisch betrachtet dem Fortbestand autoritärer Regime nützlich war; dies schließt aber nicht aus, dass eine solche politische Instrumentalisierung der sich gymnastisch bewegenden Körper nur einen möglichen Gebrauch – bzw. Missbrauch – rhythmischer und kollektiver leiblicher Bewegung jenseits ihres ursprünglich demokratischen Potenzials darstellt. Betrachten wir die Schwedische Gymnastik in einer phänomenologischen Haltung, so können wir sie in eine Reihe stellen mit dem gemeinsamen Lachen oder dem gemeinsam Sich-Ausliefern an eine erschöpfende Aktivität. Sie bewegt sich also im Umkreis der Erfahrung, einfach nur Körper oder – wie weiter oben formuliert – nur „Fleisch“ zu sein, der Erfahrung, eins zu sein mit dem anonymen und zweckfreien Funktionieren unseres Körpers als solchem. Ich habe dies weiter oben am Beispiel des Lachens demonstriert, aber auch eine lange und anstrengende Wanderung kann eine gleichartige ent-intellektualisierende Erfahrung herbeiführen: Das Bewusstsein des Wanderers mag dann völlig aufgehen in der unmittelbaren Erfahrung des repetitiven und rhythmischen Aufpralls seiner Füße auf den Boden. Er ist in diesem Zustand nichts anderes als die mechanische Abfolge seiner Schritte, als die gleichförmige Kontaktnahme seines sich bewegenden Körpers mit der Erde (Canetti 1980) und gerät damit in einen gleichsam ex-positionierten Zustand, in dem alle Selbstkontrolle verloren ist. In den angeführten Beispielen handelt es sich um eine passive Transformation, denn hier werden wir ohne oder gegen unseren Willen auf unseren Körper reduziert. Die Schwedische Gymnastik hingegen sieht einer absichtsvollen Anstrengung des Körpers als solchen vor. Doch ermöglicht sie eine analoge Erfahrung, da sie auf der
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Aktivierung eben jener Bewegungsformen basiert, welche geeignet sind, die menschliche Intentionalität und Sinngebung zeitweilig zu unterbrechen oder auszuschalten. Es geht hier ja um das von jeder zweckhaften Bedeutung abgetrennte Training der essenziellen muskulären Vorgänge, und dieses öffnet unsere Wahrnehmung für jene entindividualisierende Hingabe an sie. Genau darin liegt ihr Unterschied zu den populären Formen der Leibesübung, wie Turnen oder Sport, welche dieses Moment der Auflösung sinnstiftender Selbstkontrolle in anonymes autonomes Fleisch nicht kennen. Das Turnen impliziert eine präzise und bewußte Kontrolle der Muskelaktivitäten, der Sport ist immer von dem Prinzip des Siegenwollens geprägt und das Spiel orientiert sich am Wunsch nach Amüsement und Entspannung. Alle drei sind mindestens auch der Pflege der Gesundheit und Schönheit gewidmet. Zwar kann man sich auch in Turnübung, Sport oder Spiel verlieren und vergessen, doch ist diese Art des Selbstverlusts nicht gleichzusetzen mit der Erfahrung, die dem Gymnastiker gegeben ist. Erstere praktizieren eine Verzückung oder Ekstase, die im Aufgehen in eine größere Ganzheit und der mit ihr verbundenen neuen, vielleicht fremdartigen Position beschlossen liegt, die rhythmische Bewegung der Schwedischen Gymnastik dagegen bedeutet eine radikale Aufhebung jeder Sinngebungs-, Identitätsbildungs- oder Positionierungsmöglichkeit. Sie beschränkt sich auf die nackte Erfahrung des Fleisch-Seins. Diese Sichtweise lässt sich weiter vertiefen, indem wir an die Unterscheidung anknüpfen, die Giorgio Agamben zwischen zoe und bios trifft, also zwischen dem bloßen physischen Leben einerseits und dem bedeutungsvollen und menschenwürdigen Leben andererseits (Agamben 1995). Agamben behauptet mit Verweis auf eine zentrale These Michel Foucaults, dass alle politischen Formationen des Abendlandes seit der griechischen Antike sich konstituieren durch die Differenz zwischen den als politisch relevant anerkannten Akteueren, denen bios zuerkannt wird, und den jeweils anderen, die auf zoe reduziert werden. Dabei handelt es sich um eine konstitutive Unterscheidung, denn das bedeutungsvolle Leben, bios, ist, was es ist, nur, weil es das andere nicht ist, und vice versa. Das bloße Leben, zoe, wird ausgeschlossen indem es als Rest, nicht-bios, eingeschlossen wird. Es lässt sich an die Unterscheidung von Bürgern einerseits und Frauen, Arbeitern und Sklaven andererseits in der klassischen griechischen Polis denken, oder, aktuell gewendet: an die Gefangenen und des Terrorismus Beschuldigten von Guantanamo. Auch sie bilden eine Kategorie von Menschen, welche zugleich ausgeschlossen und eingeschlossen werden. Obwohl ihnen fast alle Menschenrechte verwehrt sind und sich ihr Dasein daher dem bloßen Leben annähert, bleibt gleichzeitig deutlich, dass sie mehr als nur Tiere sind. Dieser Ausnahmezustand scheint notwendig, um dem abendländischen Diskurs über Politik grundlegenden Sinn zu verleihen. Auch die aktuelle Diskussion über Wert und Rechte chronischer Komapatienten lässt eine analoge Faszination für die Kategorie der vom respektablen Leben Ausgeschlossenen erkennen, sie dient als Folie, gegen die sich das als men-
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schenwürdig verstandene Leben absetzen kann. Zoe und bios sind gleichsam definitorisch voneinander abhängig. Die je bestehende gesellschaftliche Ordnung („souveräne Ordnung“) ist also abhängig vom als ausgeschlossen bestimmten bloßen Leben. Agamben spricht hier kritisch von einer „biopolitischen“ Maschinerie, welche die abendländischen Gesellschaften immer in unterschiedlichen Formen charakterisiert habe. Die positive, vielleicht utopische Streckung seines Denkens bestünde in der Umkehrung ihrer Logik: Zoe könnte auch als solches bestätigt werden, als bloßes Leben affirmiert werden ohne Verweis auf etwas außer ihm, d.h. ohne es zu definieren als das Gegenteil von oder als Mangel an dem, was als bedeutungsvolles und menschenwürdiges Leben gilt. Ein solches „messianisches“ Ideal würde voraussetzen, dass der Unterschied zwischen zoe und bios keine Rolle mehr spielt und dass bloßes Leben rein und ganz akzeptiert werden könnte. Die Unterbrechung der biopolitischen Maschinerie würde so die Möglichkeit einer neuen (oder vielleicht ursprünglicheren) politischen Qualität eröffnen: Das faktische Erleben, nur zoe zu sein und keiner Rechtfertigung in einer Terminologie eines Etwas, welches das Leben erst lebenswert macht, zu bedürfen, impliziert eine radikale Akzeptanz von Potenzialität. Jede Differenz zwischen dem Bedeutungsvollen und Bedeutungslosen wäre damit aufgehoben, oder, positiv formuliert, alles Mögliche wäre möglicherweise bedeutungsvoll, jede unerwartete und unvorhergesehene Zukunft damit möglich. Wir würden ein offenes Können erfahren, nicht im Sinne eines „ich kann dieses oder jenes“, in dem je schon Gegebenes sich verwirklicht, sondern im Sinne eines einfachen „ich kann, punctum“. Der Exkurs über die politische Philosophie Agambens erlaubt nun zum einen eine genauere Fassung meiner Hypothese über den demokratischen und pädagogischen Sinn der Schwedischen Gymnastik und zum anderen eine ebensolche Antwort auf jene Kritik, die ihr vorwirft, im Zeichen einer militarisierenden Disziplinierung jede freie und authentische Lebensgestaltung zu torpedieren. Ich möchte dazu Agambens Konzept von zoe, dem bloßen Leben, der weiter oben skizzierten Erfahrung zur Seite stellen, bloßes Fleisch zu sein. Damit wäre das rhythmische Trainieren der essenziellsten und daher als solchen für sich genommen bedeutungslosesten Bewegungsformen in gewisser Weise positiv gedeutet als Verunmöglichung disziplinierender SelbstKontrolle und technokratischer Beherrschung von Lebens-Sinn. Das politische und emanzipatorische Potenzial einer solchen Erfahrung wäre umso höher zu veranschlagen, wenn dieses Trainieren gemeinsam vollzogen wird und wir uns dabei einander exponieren in reiner zweckfreier Potenzialität, die unbestimmt in eine offene Zukunft weist. Das ihr innewohnende Erleben von Gemeinschaft müsste uns in dem Maße und unabweisbar gleich machen, in dem es der traditionellen Unterstellung entgegentritt, dass Gemeinschaft durch das entsteht, was wir teilen oder gemeinsam haben, wie etwa dieselbe Sprache, eine gemeinsame Herkunft, dieselben Überzeugungen oder auch nur, dass wir – minimalistisch – in einer multikulturellen Ge-
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sellschaft bloß noch die Präkonditionen eines rationalen Entscheidungsprozesses gemeinsam respektieren. Was solcherart entstünde, entspräche eher dem, was Alphonso Lingis die „community of those who have nothing in common“ genannt hat (Lingis 1994): Wir sind einander ausgeliefert und müssen ohne sichere Bestimmung miteinander auskommen. Die Demokratie des Fleisches löscht jede Bedeutung unserer Gemeinsamkeit, was bleibt ist bloß der Umstand, dass wir sie zu bewältigen haben. Dabei soll dem Umstand stets unsere Wachsamkeit gelten, dass sich eben dieselbe gymnastische Praxis auch als probates Mittel totalitärer Regime eignet, seien es faschistische oder neoliberale. Sobald dem Leib alle Bedeutung abhanden gekommen ist, kann er selbstverständlich unterworfen werden als funktionierendes Rädchen in einem gut geölten Getriebe, oder, um es in Agambens Worten auszudrücken, in einer biopolitischen Maschinerie, welche die essenziellen Bewegungen des menschlichen Körpers dem Funktionieren von Ökonomie und Staat subsumiert und damit die leibliche Erfahrung ihres demokratischen Potenzials beraubt. Der mechanische Charakter der gymnastischen Übungen wäre somit umgedeutet als nur mechanisch und in Folge instrumentalisiert als Mittel im Dienste bestehender Verhältnisse, rhythmisch sozialisiertes Fleisch als Kanonenfutter oder maximal vernutzbare Arbeitskraft. Diese destruktive Form ist möglich, aber nicht notwendig. Es gibt eine Alternative, die ermöglicht, die grundlegenden Bewegungsformen als bloßes Leben zu erfahren, welches die bestehende Ordnung des Lebens inklusive ihrer hierarchischen Positionen als bedeutungslos erscheinen lässt und eine Zukunft jenseits dieser eröffnet. Damit ließe sich erklären, worin das eigentliche Motiv des fortwährenden Widerstandes gegen körperliche Praxen vom Typus der Schwedischen Gymnastik zu suchen ist: Das potenziell egalisierende Erlebnis einer radikal zweckfreien leiblichen Gleichheit und Gemeinsamkeit bildet – wie das schallende Lachen – einen unauflösbaren Widerspruch zur überkommenen Ordnung des Unterrichts. In der Neuorientierung der Leibeserziehung in Richtung auf Sport und Spiel wird das transgressive Potenzial der körperlichen Bewegung gezähmt, das, was uns gleich machen könnte, tritt in den Hintergrund und weicht dem Einsatz des Körpers für bereits vorab definierte Ziele. Die Vermittlung von Hygiene und Gesundheit, die Schulung von Teamfähigkeit und Leadership, welche allesamt äußerliche Zwecke der Bewegung des Körpers sind, immunisieren gegen deren demokratische Möglichkeiten. Sie sichern der bestehenden Ordnung ungestörten Bestand und der Zukunft kontrollierte Planbarkeit, anstatt den Subjekten die Chance zu geben, sich in gymnastischer Praxis von solcher Be-Deutung zu befreien. Dieses käme der ursprünglichen Bedeutung des Wortes educatio – wie auch Foucault (2005, 134) feststellt – wohl eher entgegen als jenes: Nicht um die Einführung in die Welt und damit um die Fortführung des Bestehenden geht es, sondern um die Herausführung aus ihm in eine offene, erst zu bestimmende Zukunft. Aus dem Englischen übertragen von Bernd Hackl
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Schulische Unterweisung
Andreas Gruschka
Aufbrechende Machtlosigkeit in Aneignung und Vermittlung – Die Sinnkrise des Unterrichts
I Der Unterricht steht als öffentliche Veranstaltung mit und seit Comenius unter dem Gebot, dass in ihm „allen alles allseitig, rasch, angenehm und gründlich“ zu vermitteln ist. Die Didaktik des Lehrers soll das entsprechend einrichten. Nach fast vier hundert Jahren didaktischer Entwicklung kann jedoch keine Rede davon sein, Comenius’ Programm wäre Wirklichkeit geworden. Auch ohne PISA wissen wir aus der Schule, dass der Unterricht vor allem denen, die ohne sie nicht lernen würden, was sie lernen sollen, häufig nicht das Geforderte vermittelt. Die große Gruppe derer, die nach der PISA-Skalierung noch in der Mitte der Sekundarstufe mit dem Rechnen auf Grundschulniveau kämpfen wie die nur kleine Gruppe der Curriculumerfüller auf der hohen Kompetenzstufe zeigen, wie weit wir von dem „allen alles allseitig“ entfernt sind. Beobachtungen zum alltäglichen Unterricht (vgl. Gruschka 2005, 2009) zeigen, dass „gründliches“ Lernen, das auf das Verstehen der jeweiligen Sache abzielt, entgegen der aktuellen „Kompetenzoffensive“ weiterhin substituiert durch das oberflächliche Auswendiglernen von Begriffen, Regeln, Verfahren und das Operieren im Rahmen eng geführter Schemata. Wenn der Unterricht mit dem Stoff „rasch“ voranschreitet, entsteht für viele Schüler Gehetztheit. Er kann zugleich mit dem „Durchziehen des Stoffes“ als entfremdend und langweilig erlebt werden. Mit dem unproduktiven Lernen entsteht Leerlauf, empfunden als vertane Zeit.1 Dergleichen vollzieht sich nicht nur – wie uns die Lehr-Lernforschung einprägen will – wegen eines unzureichenden „Classroom Managements“, sondern auch weil in ihm immer wieder von den Schülern die Erfahrung des nicht Fortschreitens der Erkenntnis gemacht wird. Wo heute Unterricht in der Schule bewusst „angenehm“ gestaltet wird, etwa indem handlungs-, schülerorientiert und multimedial vorgegangen wird, geht dies regelhaft auf Kosten der Inhalte, die gelernt werden sollen (vgl. Gruschka 2007, 2008). Nach wie vor bestimmen trotz aller Methodenoffensiven die Inhalte – gegenwärtig allgemein ausgerichtet auf die den Schülern zugeschriebenen Kompetenzen (oder Inkompetenzen) – wesentlich das Erleben von Unterricht. Das Didaktische als das Dritte zwischen Schüler und Lehrer, konkret etwa die Aufgabe auf dem Arbeitsblatt, vermag faktisch keineswegs im Normalfall die Vermittlung zu sichern, ja auch nur zu fördern, für die es konstruiert wurde. Das Didaktische ist ein hoch prekärer Gegens-
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tand. Er soll die Sache der Erkenntnis (etwa die „continuous form“, den „Pythagoras“ oder die „Funktionsgleichung“) für Schüler erschließen. Mit ihm ist es alles andere als leicht, die Schüler auch für die Sache zu erschließen. Wir wissen nicht erst seit PISA, dass Lernen und erst recht Verstehen im Unterricht unausgesetzt scheitern. Aus der mehr oder weniger tiefen Kluft zwischen den Ansprüchen an Unterricht und seiner alltäglichen Praxis folgt das Insuffizienzgefühl, mit dem Lehrer und Schüler regelmäßig aus der Veranstaltung heraustreten: nämlich nicht zu- und hinreichend zu vermögen, was man als Lehrender wie als Lernender tun soll. Die mit dem didaktischen Material zu bewirkende Vermittlung funktioniert nicht so recht, zuweilen misslingt sie für alle Anwesenden offenkundig. Indiziert wird dies entweder direkt mit den Ausdrücken der sich durchhaltenden Unfähigkeit von Schülern, die richtigen Antworten auf die Fragen des Lehrenden zu liefern oder indirekt mit Hinweisen auf die fehlende Motivation sowie der Tendenz zur Ablenkung und Disziplinlosigkeit. Noch dort, wo das Verstehen bewusst reduziert wird auf das Wissen, was man bei gegebener Aufgabe zu tun hat, kommt es nicht selten zu Schwierigkeiten. Die Schüler können die Lösung eines Problems nicht zeigen, obwohl sie vielleicht über das geforderte operative Können verfügen: Sie verstehen nicht, was das bedeutet, was sie gerade tun sollen; etwa eine einfache Multiplikation bei der Bestimmung einer Funktionsgleichung (s.u.). Allein bei konsequenter mechanischer Einübung verschwindet für die Zeit der Übung das Problem. Die Schüler lernen z.B., dass „man“ die Grundform des englischen Verbs immer um ein „ing“ ergänzen muss, wenn die „continuous form“, die Verlaufsform gefordert ist. Das wird an vielen Verben immer auf die gleiche Weise eingeübt, bevor der Stellenwert des Hilfsverbs ausdifferenziert wird (He is eating, he was eating.). Das Mechanische wird ironisiert, indem dem Lehrenden statt „cleaning“ „putzing“ angeboten wird: Ich habe längst verstanden. Dass dem nicht so ist, zeigt sich, wenn der Schüler entscheiden soll, ob „David cleans oder is cleaning the blackbord“ richtig sind, und vor allem zu begründen ist, was mit beiden Formen – anders als im Deutschen – ausgedrückt wird. Die Bedeutung der in der Fremdsprache gebildeten Ausdifferenzierung der Formen für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kann während der Einübung vollständig im Dunklen bleiben. Das Kompetenz fördernde Vergnügen an der Besonderheit der fremden Sprache, das durch die Erschließung der Bedeutung gefördert wird, lässt sich im alltäglichen Unterricht nur selten beobachten. Den meisten Schüler bleibt nach der Übung unklar, was den Unterschied ausmacht. Sie sehen nicht, dass mit dem „David is cleaning“ eine Tätigkeit in der Gegenwart so bezeichnet wird, dass sie zugleich in die Vergangenheit als auch die Zukunft sich erstreckt, während „David cleans“ lediglich den Typ der Tätigkeit im gegenwärtigen Augenblick ausdrückt. Im Deutschen geht so etwas nur landsmannschaftlich: David ist am Putzen.
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Gegen die aus dem Nicht-Verstehen erwachsenden Insuffizienzgefühle helfen in der Regel die Beseitigung des Anspruchs auf das Verstehen und der Rückzug auf das ungefähre Bescheidwissen, das sich für die Schüler in den mittleren Noten ausdrückt. Wenn sich die Anstrengung des Lernens wenigstens so weit gelohnt hat, gibt es keine negativen Konsequenzen, dass man letztlich nicht mit und nachvollzogen hat, worum es ging. Aber auch dann erhebt sich à la longue nicht selten doch zur Frage, welchen Sinn ein Lernen macht, das keine wirkliche Aneignung der Sache impliziert und Zueignung letztlich versperrt. Schüler wie Studierende wollen besser nicht nach dem so erworbenen reduzierten Wissen befragt werden. Der Lernende bleibt unbefriedigt, weil es mehr zu lernen gab und wohl auch gelernt hätte werden können. Das Bewusstsein, den eigenen Verstand allein mechanisch eingesetzt zu haben, schafft ein schlechtes Gewissen. Schulisches Lernen bedeutet die Einprägung der Vergeblichkeit, das Gewahrwerden anhaltender eigener Dummheit trotz aller erworbenen Fähigkeit. Was eine Funktion ist, kann man genauso wenig erklären wie den Unterschied zwischen passé simple und imparfait, oder was eine Verbindung von einem Gemisch unterscheidet, was elektrischer Strom oder eine Quelle in der Geschichte sind usf. Schüler mögen im Unterricht angestrengt aufpassen, ihnen entgeht denn doch oft das Wesentliche. Das kann dazu führen, dass erst gar nicht mehr auf diese neugierige Weise aufgepasst, sondern allein darauf geachtet wird, was der Lehrer wohl hören und lesen will. Wo das reicht, läuft es noch für den Angepassten gut. Oft scheitert Mimikry aber beim Versuch, erfolgreich zu sein. Der Lehrer muss schließlich damit rechnen, dass andere Schüler gleichsam beleidigt sind, dass sie mit der Trivialisierung der gewünschten Unterrichtsergebnisse für nicht bildungsfähig verkauft werden. Untersucht man bewusst selektiv die Ausdrucksformen der gefühlten Insuffizienz im Unterricht an Transkripten und Videoaufnahmen, so wird diese dort schlagend als Einheit eines misslingenden Lernens mit Kopf, Herz und Hand deutlich. Nicht wenige Schüler zeigen den Gesichtsausdruck abwesender Anwesenheit, verunsicherter Subjektivität, pessimistischer „Selbsttätigkeit“. Aus angespannten Gesichtern werden schnell müde. Sie hellen sich kurz auf, sobald es interessant wird, um bald aber umso müder erneute Frustration auszudrücken. Entspannter wird es, wenn sich ein unterhaltsamer Nebenschauplatz bildet, der als lebendige und verständliche Kommunikation erscheint. Vielfältig sind die motorischen Ablenkungen, denen Schülern sich überlassen, um mit ihrem Körper über die Trägheit des Kopfes hinwegzukommen. Lehrende sind entspannt, solange das Geschehen nach Erwartung voranschreitet, sie zeigen unmerklich Nervosität, wenn Sand ins Getriebe gerät. Besonders signifikant ist zu beobachten, wie von ihnen die Erfahrung des Nicht-Klappens seelisch und körpersprachlich beherrscht wird: durch die Integration in eine bereits vielfach erfahrene Erwartung. Auf die reagiert man entweder bestätigend resignativ („Wird wohl
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wieder nicht das Gewünschte!“) oder rhetorisch klagend mit Hilfe erzieherischen Nachdrucks. Den dabei hochkommenden Ärger hat man tunlichst unter Kontrolle zu halten, entblößt man sich doch ansonsten in seiner Frustration. Der Verlust des kooperativ dicht genug geknüpften Kontakts zu den Schülern droht unausgesetzt, wo die Routinen des Dompteurs nicht sicher funktionieren. Die Angst mutterseelenallein gelassen zu werden, ist der Horror Vacui der unterrichtlichen Kommunikation. Ein auf die Lehrerfrage folgendes Schweigen der Schüler ist nicht lange auszuhalten, den Fluchtpunkt der Wahl liefert die Möglichkeit, selbst mit dem weiterzumachen, was die Schüler tun sollten, die Antwort auf die gestellte Frage für die Schüler zu liefern. Aber das geschieht nicht selten mit der Bedrückung durch eine didaktische Niederlage, der oft erfahrungslosen Erfahrung eigener Ohnmacht und des Nicht-Verstehens des Nicht-Verstehens der Schüler. Nicht selten gilt es, die Wut über die Dummheit und Faulheit der anvertrauten Schüle zu unterdrücken. Die Beobachtung des alltäglich normalen Unterrichts drängt dem Beobachter den Eindruck auf, als wäre dieses Insuffizienzgefühl eines seiner je unterschiedlich hohen psychischen Gestehungskosten und in der Folge seines thematisch Werdens eines seiner Strukturmerkmale: die unausgesetzte Anwesenheit der wahrscheinlichen Möglichkeit des Nicht-Gelingens der Aneignung von Sinn. In unseren Analysen sind uns allein zwei Ausnahmen von dieser Regel begegnet, eine positive und eine negative. Die eine rare Ausnahme stellt der Unterrichtstypus dar, der ganz auf die Entfaltung der Sache und ihrer Erkenntnis abstellt. Das „Experiment“ in der Physik gerät zur methodisch kritischen Beobachtung der arrangierten Naturgesetzmäßigkeiten, die didaktisch ungegängelten Versuche einer Romanübersetzung aus dem Spanischen bereits bei Anfängern zur Entdeckung der Darstellung einer Geschichte und zur Aneignung spanischer Ideomatik, die aus dem Lateinischen bei Fortgeschrittenen zur prüfenden Auseinandersetzung mit der grammatikalischen Form und ihrem Sinngehalt. Der Versuch, den Bauprinzipien eines expressionistischen Gedichts auf die Schliche zu kommen, mündet in die ästhetisch affizierte Darstellung aller Register der Ausdeutung seiner möglichen Bedeutung. Auch wenn diese Stunden nie ganz ans Ziel kommen, das drohende Sich-Verlieren in der Sache durch die Rückkehr zum Normalprogramm der Stoffvermittlung und den Einsatz didaktischer Abkürzungen gestoppt wird, kann in diesen Stunden doch das Wagnis beobachtet werden, sich auf eine eigenständige Erkenntnis zu kaprizieren, exakte Phantasie, methodische Selbstkritik und die neugierige Lust am Versuchen zu entfachen. Das ist gegenüber der festen unverbrüchlichen Erkenntnis, die man getrost mit nach Hause tragen kann, das Primäre. Nur bei und nach einem willkürlichen Abbruch dieser Anstrengung, der eine Entwertung aller Anstrengung mit sich bringt, entsteht jenes Insuffizienzgefühl (vgl. Gruschka 2010).
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Die andere negative Ausnahme soll im Folgenden an einem Beispiel erläutert werden, das ähnlich selten zu beobachten war und nur in einem Fall den gesamten Unterricht bestimmte. In ihm wird das Unbehagen expressiv und es entlädt sich an einem Anlass zum nachhaltigen Widerstand gegen die zugemutete Unterrichtsweise. Aus der alltäglichen Störung des Unterrichts, die diesen nicht aufhalten kann, wird eine fundamentale Betriebsstörung. Die Disziplinierung der Undisziplinierten läuft ins Leere, die Resignation steigert sich und wandelt sich in Aggression. Routinen verfangen nicht mehr, die bislang eingesetzten Leichtmacher und Weichmacher, die vordem die Widersprüche verdeckten, werden selbst zu Gegenständen der Kritik. Der Unterricht kann nicht recht begonnen werden, es zeigt sich, dass die ihn begründende fundamentale Unterstellung, nämlich die Lösbarkeit der in ihm gestellten Aufgaben, negiert wird. Das didaktisch Vereinfachte bricht sich an dem dadurch erst hermetisch Werdenden des Themas (Funktion in Mathematik). Der Lehrer zeigt seine Ohnmacht, indem er den Prozess nicht mehr in die gewünschte Richtung umzusteuern vermag. Die Schüler wissen nun, wie sie den Lehrer auf seine Widersprüchlichkeit festnageln können und lassen damit nicht locker. Kurzum, die in jener Normalität immer wieder sich einstellende grundlegende Kooperation zwischen Lehrern und Schülern wird von diesem Fall faktisch über fast die gesamte Unterrichtszeit aufgekündigt. Das pädagogische Verhältnis im Unterricht wird in seiner Unhaltbarkeit zum Thema. II Erster Akt Die nicht vollzogene Rückgabe einer Klassenarbeit in Mathematik und die Zusammenrottung der Schüler Der Tropfen, der das bereits gefüllte Fass noch vor der Eröffnung des Unterrichtsgeschehens zum Überlaufen bringt, besteht in der Weigerung des Lehrers, die letzte Klassenarbeit zeitnah den Schülern zurückzugeben. Ein alltäglicher Konflikt. Sm?: Haben Sie die Arbeiten da? 2 Lm: Ne. Sm?: Hey, Herr Lehrer! Sm?: Herr Lehrer, wir wissen nicht mehr, über was wir geschrieben haben. Sw?: Wissen Sie, was ich für eine Note habe? Sw?: Herr Lehrer, haben Sie unsere Mathearbeiten dabei? Lm: Geben Sie es auf! Sm?: Für jede weitere Stunde bekomme ich eine Note besser. Sm?: Es sind jetzt schon vier Wochen, Herr Lehrer! Sw?: Herr Lehrer, dann brauchen wir auch vier Wochen, um eine Hausaufgabe zu machen. Sw?: Verarschen kann ich mich auch selber.
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Sm?: Vier Wochen jetzt schon! Sm?: Was geht denn eigentlich hier ab? (Tumult) Sm?: Wir streiken! (Tumult) Sw?: Herr Lehrer, sind die Arbeiten fertig? (Tumult) SwC: W-a-s? So früh schon? (Tumult) SwA: Ich will keine Tafel putzen. Lm: Doch, mach die sauber. SwA: Wieso muss ich jetzt die Tafel putzen? Sm?: Weil du zu spät gekommen bist. Sw?: Und Herr Lehrer, haben Sie die Mathearbeit dabei? SwA: Wieso kriegen wir die Mathearbeit so spät? (Tumult) SwA: Sie haben jetzt schon einen Monat die Mathearbeit zu Hause rumliegen. (Tumult) Sm: SwA, die gibt es gar nicht mehr! … Lm: So, Hallo erst ma. ...Was ist mit denen, die noch fehlen? SmA: Die haben keinen Bock auf Mathe. Einer dieser Schüler kommt in den Klassenraum und wird von einem Mitschüler mit der Bemerkung attackiert, er hätte doch gesagt, er wolle nicht mehr kommen. Lm: … Hefte und Bücher raus, dass wir loslegen können, ähm, es ist erstmal die Hausaufgabe zu besprechen, prima gemacht SmA (zu SwA, die die Tafel geputzt hat), ganz toll. (Tumult) SmA: Ich heiße SmA! … Lm: SmA du weißt, dass du im Unterricht nicht trinken darfst. Gib das bitte her. (Tumult) SmA: Sie essen doch auch immer im Unterricht. SmB: Vor allem während der Arbeiten, die Sie immer noch nicht dabei haben. Seit einem Monat. Lm: Die Frage nach den Arbeiten nervt mich langsam, nächsten Montag gib ich die zurück. SmB: Sie können doch nicht länger (warten). SwC: Ja, Herr Lehrer, aber letzte Woche war es doch äh schon. Lm: So, Schluss, wer noch etwas verliert, der kann einfach rausgehen. SwD: Wir kriegen die doch am Montag?!
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Lm: Und, ähm, die Argumentation, dass man dann keine Hausaufgaben machen müsste, ist auch totaler Schwachsinn. Auch muss man die Arbeit eine Woche vor der nächsten zurückgeben, da wir keine mehr schreiben, kann ich mir theoretisch bis Mitte Juni Zeit lassen SwB: Ne, das ist schon (der Unterricht findet am 6.6. statt) Der Insistenz der Schüler kann die Wut über die eigene Ohnmacht abgelesen werden. Der Lehrer hat – aus welchen Gründen auch immer, die er konsequent nicht ausspricht – die letzte und damit die für die anstehenden Zeugnisse entscheidende der Klassenarbeiten auch nach vier Wochen noch nicht korrigiert. Mit dieser Verzögerung wird der diagnostische Sinn der Arbeit unfreiwillig parodiert. Es ist zu spät, um noch aus den Fehlern lernen zu können. Ein Schüler trifft diesen Tatbestand gestaltsicher, indem er feststellt, dass man schon nicht mehr wisse, worum es überhaupt in der Arbeit gegangen ist. Unabhängig davon, mit welcher Note ein jeder Schüler zu rechnen hat, die Korrektur der Arbeit steht in Beziehung zu der Anstrengung, der sich alle Schüler unterzogen haben. Das Hinauszögern bis zum letztmöglichen Termin streicht die Anerkennung dieser Anstrengung mit der ausbleibenden Rückmeldung durch. Man könnte es aus der Perspektive eines schlechten Schülers so zuspitzen: „Wenn ich schon eine Fünf bekomme und mir damit erneut gezeigt wird, dass ich nichts so recht verstanden habe, dann will ich wenigstens das Urteil und seine Begründung.“ Es entbrennt ein Machtkampf zwischen der Klasse und dem Lehrer, den dieser trotz des anhaltenden Tumults in der Klasse zunächst durch „Aussitzen“ zu bewältigen versucht. Als handele es sich bloß um eine verschärfte Provokation, um Arbeitsverweigerung als Lustlosigkeit und eine Attacke auf seine Lehrerautorität, reagiert der Lehrer dem Anscheine nach pädagogisch zunächst durch Ignorieren, wartend darauf, dass die Schüler zur Kooperation zurückkehren und sich in das Unvermeidbare, die Wiederaufnahme des Unterrichts schicken. Das stachelt die Schüler wiederum zur Ausrufung eines Streiks an, den in ganzer Konsequenz durchzusetzen wohl weder ihr Ziel ist noch in ihrer Möglichkeit liegt. Aber sie verweigern lange die Zusammenarbeit, weil der Lehrer in ihren Augen den elementaren Respekt ihnen gegenüber vermissen lässt. Das Exemplum liegt in der fehlenden Anerkennung der geleisteten Arbeit, dürfte aber deutlich darüber hinaus verweisen. Es ist wie die Verweigerung des Lohns für geleistete Arbeit. Der Lehrer antwortet darauf in der Haltung des Herrn im Hause, der sich auf das formale Recht der späten Rückgabe zurückziehen kann. Er muss nicht sofort auszahlen. Die Arroganz der Macht veranlasst bei den Schülern das Spielen mit der Reziprozitätsregel: zukünftige Leistungen als Hausaufgaben wollen sie entsprechend behandeln. Das wird zur ultima Ratio, um den Lehrer an seine eigenen Pflichten zu erinnern und ihm die (pädagogische) Unhaltbarkeit seines Verhaltens vorzuführen: sei es seiner Faulheit, seiner fehlenden Arbeitsorganisation, seiner fehlenden Motiviertheit, diese
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„blöden Arbeiten“ durchzusehen, gar sie so zu bearbeiten, dass die Schüler möglichst bald etwas aus der Korrektur lernen können. Die aufbrechende Lust am Widerstand steckt an und greift über: Der „Sklavendienst“ des Tafelputzens wird zunächst verweigert, der Besuch des Mathematikunterrichts insgesamt von den bis dahin abwesenden Schülern als sinnlose Veranstaltung gemieden. Aber mit der Übertreibung wächst auch die Notwendigkeit des Zurückruderns. Auf deren Ausdrücke reagiert der Lehrer – wie sich zeigt – vorschnell mit der Wiedereinrichtung seiner Machtposition: Wer raus geht (draußen bleibt), muss auch wieder reinkommen. Wer die Tafel nicht putzen will, wird die Tafel denn doch putzen und bekommt dafür ein dickes Lob (das den Beigeschmack eines Triumphs der Unterwerfung hat, weswegen sich sofort wieder Tumult erhebt). Nun setzt der Lehrer auf disziplinierende Erziehung und geht gegen besonders Aufmüpfige vor. Wer gerade reingekommen ist, um doch am Matheunterricht teilzunehmen, wird in paradoxer Weise aufgefordert, wieder rauszugehen, obwohl er nicht verweigert, was von ihm verlangt wird. Aber die Macht ist nicht wirklich wieder eingerichtet. Der Lehrer wird von Schülern hart wegen seiner Widersprüchlichkeit attackiert und mit ihr gehen diese wieder zum Angriff über. Während sie im Unterricht nicht trinken dürften, erlaube er sich zu essen. Seine Versprechen bez. der Rückgabe wurden bereits gebrochen und zählen deswegen nicht. Die Begründungen zum Termin sind faul, er steht kurz vor der Überschreitung der juridischen Frist. In die Enge getrieben, wird die SchülerDrohung, die Hausaufgaben zukünftig zu behandeln wie der Lehrer die Schülerarbeiten, zum „Schwachsinn“ erklärt. Auf allen pädagogischen Ebenen macht sich in der Eröffnung ein tief gestörtes Verhältnis der Schüler zu ihrem Lehrer bemerkbar. In ihren Augen versagt der Lehrer als pädagogisches Vorbild: Er predigt Wasser und trinkt Wein, verlangt Pflichterfüllung, die er selbst verweigert. Die Klassenarbeit als Indikator für seine Fähigkeit, den Schülern den Stoff zureichend vermittelt zu haben, scheint ihn gar nicht zu interessieren. Dass die Schüler entsprechend keinen „Bock auf Mathe“ bekommen können, ist nicht weiter verwunderlich. Das Geschehen wird als so sinnlos empfunden, dass es zum Streikaufruf kommt. In ihm steckt nicht nur das Moment der aktuellen Verweigerung, sondern auch ein schriller Hilferuf, die Dinge nicht weiter so schleifen zu lassen. An der Situation etwas ändern kann in den Augen der Schüler allein der Lehrer. Der aber sieht dem revolutionären Treiben weitgehend hilflos zu, und wähnt sich erst wieder in seiner bestimmenden Rolle, als er seine erzieherischen Routinen einsetzen kann. Die aber erweisen sich als völlig ungeeignet, um das aufgebrochene Problem zu lösen, ja mit ihnen bestätigt er – Öl ins Feuer gießend – die Gründe für den Schülerwiderstand. Die faktische Beschimpfung der Schüler als schwachsinnige, offenbart seine Macht als Ohnmacht, pädagogisch sinnvoll mit dem Konflikt umzugehen. Wollte er seine Schüler erreichen, müsste er ihnen vor allem mit Bezug auf die Arbeit erklä-
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ren, was sie konnten und nicht konnten. Die Klage über die fehlende Arbeitshaltung der Schüler kann nicht geführt werden, ohne dass die Klagen der Schüler über den Lehrer von diesem ernst genommen würden. Die gestörte Beziehung ist damit Ausdruck auch einer entsprechenden zu der den Unterricht motivierenden Sache. Zweiter Akt Die Beziehung zum Inhalt der nicht gemachten Hausaufgabe Lm: Wir kommen jetzt zu den Hausaufgaben. Das war auf der Seite 188 Nr. 4. Ist natürlich jetzt ein paar Tage her, weil wir die Aktionswoche … SmA: Hundert wie viel? Ich habe es nicht akustisch. Lm: Lieber SmA! Wenn du jetzt meinst, im Unterricht weiterschwätzen zu müssen, was du getan hast, es sind draußen ein paar Plätze frei. SmA: O.K., ich weiß. Lehrer: Wer hat die Hausaufgabe nicht gemacht? SmB: Was war denn auf? Lm: 188 Nr. 4 SmB: Ich habe es gemacht, aber 104. SmB: Ich hab es nicht. Lm: Ich muss es leider notieren, wer das alles nicht hat. … SwC! Du hast doch dein Heft nicht mit. Sm?: Willkommen im Club. Die Rückkehr zur Tagesordnung erweist sich als langwierig und schwierig. Die Schüler reklamierten das Vergessen des Inhalts der Klassenarbeit mit Blick auf die vier Wochen, die seither vergangen sind. Der Lehrer parodiert und reflektiert das unfreiwillig mit einem Kommentar, den er wohl als pädagogisches Entgegenkommen verstanden wissen will. Die Aktionswoche habe die Präsenz der Aufgabe schwinden lassen. Das kann in zwei Richtungen verstanden werden: Es ist so lange her, dass ich vergessen habe, sie zu machen. Oder: Es ist so lange her, dass ich nicht mehr weiß, was ich als Hausaufgabe nach der Stunde gemacht habe. Eine Woche Unterbrechung mit Mathematik wird vom Lehrer in jedem Fall als möglicher Vergessensgrund ins Spiel gebracht, obwohl mit der pflichtmäßigen Vorlage des Heftes kein Zweifel über die Hausaufgabe bestehen dürfte. Aber auf die Beschwichtigung lassen sich die Schüler nicht sinngemäß ein, sondern nehmen es als Steilvorlage an, um die Aufforderung des Lehrers satirisch zu wenden. Gleich mehrere Schüler provozieren den Lehrer damit, dass sie nicht gehört, ja völlig vergessen haben, was ihre Hausaufgabe war. SmA, den der Lehrer bereits auf dem Kicker hatte, spielt in dessen Augen den aufmerksam Interessierten, er abstrahiert von seiner Hausaufgabenpflicht und wertet die Aufforderung, die Hausaufgabe vorzulegen, als Information, die er nicht richtig verstanden hat: Welche Seite sollen wir jetzt lesen, ich habe es akustisch …! Der Lehrer reagiert schroff, entweder weil er spürt, wie SmA ihn und auch seine eigene Pflicht verhöhnt
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oder weil er die Nachfrage auf das vorherige Schwätzen, also auf eine Unaufmerksamkeit bezieht. Die Schärfe erklärt sich erst mit Ersterem. SmA bleibt bei seiner Linie der gespielten Dienstfertigkeit und zeigt sein Einverständnis in die Bewertung und die Information freier Plätze draußen, von wo er gerade gekommen ist. In seiner Verunsicherung gelingt dem Lehrer eine grammatikalische Meisterleistung in Verzwickung und Verbindung temporaler Bezüge des abweichendes Verhaltens in Gegenwart (wenn du jetzt meinst), Vergangenheit (geschwätzt zu haben) und Zukunft (weiter zu schwätzen). Von dieser Disziplinierung völlig unbeeindruckt reagieren auf die bereits resignativ gestellte Anfrage des Lehrers (Wer hat sie nicht …) und seine Wiederholung der Hausaufgabe weitere Schüler mit einem vernichtenden Urteil über die subjektive Relevanz der Aufgabenbestellung. „Was war denn auf?“, kann nur jemand fragen, der gestern nicht da war. Als fände ein anderer Schüler in seinem Heft die Hausaufgabe, teilt er mit, die weit zurückliegende Hausaufgabe 100 gemacht zu haben. Diese faktische Replik auf die vier Wochen-Regel der Hausaufgabe und den Austausch der Schüler, wer was gemacht hat, mündet in eine erste bewertende Aussage. SmC: Das ist voll schwer für mich, das kann ich nicht. Lm: 188 Nr. 4 ist es nie im Leben. SmC: Ist mir zu schwer. Der Unterricht ist beim Problem der Schüler mit der Sache angekommen, wie auch beim Problem des Lehrers mit dem Problem der Schüler. Wie sich bald zeigen wird, stellt SmC nicht die Avantgarde des Unverständnisses dar, er ist vielmehr der Held der bis dahin in der Sache schweigenden Mehrheit. Es lohnt, das Problem, vor das die Bemerkung des Schülers den Lehrer stellt, näher zu betrachten. Wenn der Schüler mit altersgemäßer Pathetisierung auf die Hausaufgabe reagiert, so ist zu bedenken, dass er damit zunächst einmal ein Kooperationsangebot macht. Das „ich kann es nicht“, wird nicht als anthropologisches Eingeständnis in die eigene Unbildsamkeit vorgebracht (überhaupt nicht nie und nimmer), sondern als Eingeständnis des Scheiterns an der Aufgabe. Können muss dabei nicht als systematische Blockade des Lösens von Aufgaben verstanden werden, sondern erst einmal als Hinweis darauf, dass die 188 Nr.4 für ihn zu schwer war. Schwer muss nicht bedeuten zu anspruchsvoll, sondern kann auch als nicht verständlich interpretiert werden: Ich wusste nicht, was ich da tun sollte. Es liegt dann nicht an der „Sache“, sondern ihrer Vermittlung. Mögen andere auch verstanden haben, um was es hier ging, für mich war es zu schwer, es zu begreifen. Deswegen habe ich es nicht machen können. So wäre die Schülerrede zumindest wörtlich zu lesen, wenn man geneigt ist, die Aussage als authentischen Ausdruck einer Erfahrung mit der Aufgabe zu interpretieren.
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Der Lehrer fragt nun aber nicht nach, warum und was an der Aufgabe zu schwer war. Er lässt das nicht mit dem Hinweis auf den Punkt konkretisieren, an dem der Schüler nicht mehr weiter wusste. Er zeigt auch nicht, was zu tun war, indem er es erneut erklärt. Schließlich bittet er auch keinen Schüler, es SmC zu erklären. Stattdessen delegitimiert er in drastischer Steigerung die Bemerkung des Schülers. Das kann man pädagogisch zu retten versuchen, indem man es als eine erzieherische Aussage liest: Dein Vermögen wird allemal ausreichen, um es doch zu können. Du bist dafür nicht zu dumm und ich werde dir nun zeigen, dass es so ist. Aber diese Demonstration entfällt. Dafür steht das Urteil wie ein Verdikt im Raum. Mit seiner Aussage richtet sich der Lehrer gleichsam nach innen. „Nie im Leben“ negiert die Erklärung des Schülers, ohne selbst schon eine alternative Erschließung des Problems zu liefern. Was ist die Wahrheit hinter der falschen Behauptung des Schülers? Ausgeschlossen ist in seinen Augen, dass eine Aufgabe wie die gestellte zu schwer für ihn sein kann, wenn deren Lösung im Unterricht zureichend vorbereitet wurde. Die didaktischen Hinweise müssten allemal gereicht haben, so dass keine Überforderung der Schüler vorliegt. Oder etwa doch? Eine solche Verteidigung ist nicht sicher zu führen, denn das „nie im Leben“ findet mitten im Leben statt. Mit seinem Urteil bekennt der Lehrer auch seine Hilflosigkeit. Wie kann jemand sein grundsätzliches Scheitern an gerade dieser 188 Nr. 4 bekennen? Damit wird das Nicht-Verstehen eines Nicht-Verstehens artikuliert: Ich kann mir nicht vorstellen, dass das jemand nicht verstehen kann, weil hier eigentlich nichts zu verstehen ist. Es ist vielmehr allein einzusetzen, was man schon verstanden hat. Die Aufgabe ist so trivial, dass an ihr niemand scheitern dürfte. Wenn die Schüler zu Beginn von 188 Nr. 4 y = x2 bei gegebenem x = 4 rechnen sollen, dann müssen sie lediglich 4 mal 4 bestimmen, um y = 16 herauszubekommen. Dieses Rechnen auf Grundschulniveau beherrscht aber jeder in der Klasse. Die Frage kann demnach nicht sein: Wo steckt ein Problem in der Aufgabe? Wer etwas nicht tut, was er kann, der kann nur nicht gewollt haben, was er tun sollte! Das doppelseitige Unvermögen des Verstehens hat zwei Seiten: eine subjektive und eine objektive. Die Sache erscheint dem Lehrer objektiv als das Gegenteil von „voll schwer“, nämlich als so leicht, dass nicht sein kann, was der Schüler behauptet hat. Weswegen das Urteil letztlich darauf hinausläuft festzustellen, dass jeder der willens war, es hätte auch schaffen können. Der Schüler aber postuliert subjektiv guten Willen und ein Problem, das vom Verstehen der Aufgabe ausgeht. So erklärt sich die lakonische Replik des Schülers: Mag alles sein, was Sie mit „nie im Leben“ ausdrücken wollen, aber es bleibt, wie es ist: Sie war zu schwer für mich. Es liegt nicht an meiner fehlenden Motivation (ich will nicht), sondern zwischen mir und der Sache besteht ein Problem, das nur durch eine gelingende Vermittlung zur gelingenden Aneignung führen kann. Ohne jene ist das Arbeiten an der Aufgabe sinn-
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los. Es muss also jenseits der Einsetzung des x durch den Wert 4 und der Multiplikation der Zahl mit sich selbst ein Problem in der Hausaufgabe 188 Nr. 4 geben. (Wir werden bald sehen, worin sie besteht.) Nicht mit der Klärung der Schwierigkeit der Aufgabenstellung für die Schüler wird fortgefahren, dafür will der Lehrer ermitteln, wie weit das Nicht-Machen (Können) von SmC auf andere übertragen werden kann. Damit soll erzieherisch geklärt werden, welche Pflicht mit den Hausaufgaben für die Schüler gegeben ist. Dritter Akt Der übliche Umgang mit dem Nicht-Können als ein Nicht-Wollen: Entschuldigungen SwC: Ich hab auch so was gemacht. … Sm?: Ah doch, ich hab es auch. Lm: Ja, das war die Gruppenarbeit in der letzten Stunde, die ihr habt. Es ist auch schön, dass ihr das habt. Sw?: Das finden wir auch so. Lm: Ich frag mal anders herum. Wer hat es denn gemacht? (Lachen, Gemurmel, einzelne Schüler zeigen auf.) Lm: Super, Gut, dann gehen wir es durch. Es reicht. Es sind ja neun Leute, die es gemacht haben. SmC: Von wie vielen? 1,2,3,4,5... . Lm: SmD hat es gemacht. SmE? Nein SmF hat es gemacht, SwD? SwD: (leise) Ich hab es gar nicht mitgekriegt, sonst hätte ich es geschrieben. … SmC: O.K., die,, die es gemacht haben, kriegen ein Plus und die, die es nicht gemacht haben, ist egal. Lm: SmH hat es nicht gemacht, SwL? SwL: Ich hab die c, hab ich nicht verstanden. Lm: Gut, das macht gar nichts. SmC: Ich verstehe gar nichts, weil ich, ich hatte keine Nachhilfe letztes Mal … Ich habe keine Nachhilfe letztes Mal. Sw: Sag doch einfach: Ne. Lm: Wir hatten doch ausgemacht, dass ihr keinen Grund nennen müsst. Ihr dürft dreimal vergessen. Sw?: Sag einfach: Ne. Lm: Oder was heißt vergessen?! Dreimal nicht machen! (Lachen) Lm: Kein Grund nennen. Der Versuch der Klärung verläuft weitgehend chaotisch. Bei der Durchsicht der Hefte stößt der Lehrer zunächst statt auf die Hausaufgabe auf die Mitschrift der Gruppenarbeit der letzten Stunde und lobt diese im Modus des ästhetisch-moralischen
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„schön“, was die Mitgelobte ironisch zum bestätigenden Selbstlob ermuntert. Der Lehrer wendet daraufhin die Fragerichtung, um zu erfahren, wer denn von den Schülern überhaupt getan hat, was alle tun sollten. Es geht nun nicht mehr darum, wie die Schüler mit der Hausaufgabe umgegangen sind, sondern ob sie überhaupt so etwas wie Hausaufgaben gemacht haben. Das Durchzählen wird bei neun gestoppt. Euphorisch kommentiert der Lehrer das zahlreiche Aufzeigen, als würde die Klasse sich nun endlich insgesamt beteiligen. Das wiederum provoziert die Schülerkritik. Wie könne etwas „super gut“ sein, wenn nur 9 von 27 Schülern etwas im Heft stehen haben? Da sei doch etwas faul. Für was könne das „reichen“? Genüge dem Lehrer dieses Maß an Beteiligung, so bedeute das doch, dass die anderen alle abgeschrieben sind, egal ob sie nicht wollten oder konnten. Der Lehrer übergeht das, indem er die „Leistungskräfte“ der Klasse durchgeht, um bald auf eine Nicht-Leisterin zu stoßen, die er mitgezählt hat. Sie erklärt anders als SmC, dass sie „nicht mitgekriegt“ hat, was aufgegeben war, sonst hätte sie es gemacht. Der Lehrer antwortet darauf nicht. Dafür bietet ihm ein anderer Schüler einen Ausweg aus der desaströsen Lage an. Als wolle er aus dem Misserfolg einen Erfolg machen, werden einfach die belohnt, die ihre Pflicht erfüllt haben, bei den anderen könne dann gar nichts geschehen. Mit den Fleißkärtchen für gemachte Hausaufgaben werden diese zur belohnten Kür und eine Pflicht kann entfallen. Auch diese Bemerkung bleibt unkommentiert. Die Durchsicht wird fortgesetzt, obwohl ein „reichen“ bereits verkündet wurde. Unklar ist, was der Lehrer jetzt noch mit seiner Hausaufgabenüberprüfung bezweckt. Als er auf das bekennende Unverstehen von SwL bei „c“ stößt, reagiert er überraschend mit einer relativierend entwertenden Bemerkung. Wohl weil der gute Wille bei den anderen Aufgaben dokumentiert wurde, wird das NichtVerstehen von „c“ erst einmal unbedeutend, obwohl es doch in der Rückmeldung der Schülerin die wichtige Information darstellt. Wie kann Nicht-Verstehen nun „gar nichts machen“? SmC attackiert daraufhin mit seinem eigenen „gar nichts Verstehen“ den Lehrer frontal. Um im Unterricht mitzukommen, bedarf er regelmäßig der Nachhilfe. Da diese ausgefallen sei, habe er die Aufgabe nicht bearbeiten können. Die wiederholende Betonung verschärft den Ton: So wie Sie die Inhalte erklären, kann jemand wie ich nicht mitkommen. Erst ein anderer Lehrer vermittelt sie Ihnen nachhelfend. Die Kritik bleibt ohne Reaktion. Dafür erinnert ein Mitschüler an eine Regel, die in der Klasse vereinbart worden ist, die der Lehrer daraufhin nochmals expliziert: Es sei überflüssig, Erklärungen und Entschuldigungen für nicht gemachte Hausaufgaben abzuliefern, man dürfe sie dreimal vergessen. Möglicherweise resultiert die Regel aus der Unlust des Lehrers, sich jede Stunde die ausgesuchtesten Entschuldigungen anhören zu müssen, vielleicht reagiert sie auch auf die Massivität, mit der Entschuldigungen wie in der aktuellen Situation zur Gelegenheit gemacht werden, Unterrichtskritik zu
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üben. Jedenfalls kommt die Regel gerade recht, um nicht auf das Nachhilfeargument reagieren zu müssen. Dabei vergreift sich der Lehrer einmal mehr bei der Sprache, indem er aus dreimal nicht Machen dreimal Vergessen macht. Das Lachen der Schüler indiziert ihr Bewusstsein für die Fehlleistung. Was aber macht hier pädagogisch den Unterschied? Augenscheinlich passt das „dreimal nicht Machen“ zur Schwundstufe, die im Unterricht einkalkuliert werden muss, damit man die Konflikte klein halten kann, die als unvermeidlich gelten. Es scheint wie mit dem Fehlen im Unterricht zu sein. Es gibt einen Korridor von Auszeiten. Während man aber das Wegbleiben vom Unterricht entschuldigen muss, entfällt dieses bei der Pflicht der Hausaufgaben! Vergessen als solches wäre da die bessere Lösung, weil sie eine menschliche Schwäche ausdrücken würde. Das aber soll nicht als Grund für das Nicht-Machen der Hausaufgabe geltend gemacht werden können. Das Lachen der Schüler zeigt, dass das Vergessen in ihren Augen immer nur eine faule Ausrede ist. Somit dient die Regel zu zweierlei: zur Vermeidung der Lügen und Ausreden und zum Eingeständnis, dass Pflichten nur begrenzt durchgesetzt werden können, weswegen es vorab einen Rabatt für sie gibt. Die Entlastung liefert aber, wie wir schon gesehen haben, keine Lösung des Problems, weder das der erzieherischen Wirkung der Pflicht noch das der erfolgreichen Bearbeitung von Hausaufgaben. Der Kompromiss, der in der Regel liegt, belegt weiter das gestörte Verhältnis zur Aufgabe des Unterrichts. Sie hat den Ruch der Korruption: Wenn ich euch erlaube, dreimal zu vergessen, nervt ihr mich nicht mit Erklärungen hinsichtlich eurer Nicht-Leistung. Diese wird freilich mit der Regel überhaupt nicht mehr bearbeitet. Vierter Akt Die Aufgabe und die Logik der Funktion Der anhaltende Widerstand der Schüler und das variantenreiche Erklären des NichtVerstehens als der eigentlichen Ursache für das Nicht-Machen führen mit der Zeit dazu, dass der Lehrer zum Problem der Aufgabe zurückkehrt; gezwungenermaßen. SmK: können Sie es noch einmal erklären? Ich habe es nicht mitbekommen, das letzte Mal reingeschrieben. Lm: Müssen wir wohl. Es geht also nun nicht mehr um das Überprüfen der Lösungen der Aufgabe, sondern darum, die Bedeutung der Aufgabenstellung zu klären. Das bezieht sich sowohl auf die technische Ausdrucksgestalt wie ihren Inhalt. Was die Schüler letztlich tun sollten, wurde bereits erwähnt, aber wie lautet die Aufgabe?
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Die folgenden Punkte liegen auf dem Graphen der Funktion y = x2. Gib jeweils alle passenden Zahlen für die fehlende Koordinate an: P1 (4/ ); P2 (-4/ ); P3 (1/3 / ); P4 ( / 0,81); P5 ( / 1/4); P6 ( /2 7/9) Vier Betrachtungen der Aufgabenstellung sind möglich.
Zunächst jene, von der der Lehrer bei seinem „nie im Leben“ ausging. Dafür wäre der Text selektiv so zu lesen: Ich nehme die Gleichung y = x2, gehe davon aus, dass unter P1 bis P6 jeweils entweder der Wert für y oder x angegeben ist. Ich entscheide, dass erst der x-Wert dann der y-Wert kommt; hoffentlich ist das richtig! Dann setze ich den Wert in die Gleichung ein und rechne aus: y = 42 = 16 oder 0,81 = x2 = Wurzel aus 81 Oder was ergibt 81 bei einer der Zahlen, die ich mit sich selbst multipliziere? 9 x 9 sind 81. Um das zu können, muss ich nichts über „Graphen einer Funktion“ und Koordinaten wissen. Sodann kann die Aufgabe auf die graphische Darstellung bezogen werden mit einer x- und einer y-Achse. Im Koordinatensystem gibt es ausgehend vom gemeinsamen Nullpunkt positive und negative Zahlenstrahle. Gesucht wird der jeweils andere y- oder x-Wert, mit dem man in den vier Feldern des Systems einen Schnittpunkt konstruieren soll (durch das Konstruieren eines Rechtecks über bzw. unter der x-Achse mit Hilfe der Werte auf der x- und der y-Achse). Aber den soll ich nicht bestimmen und einzeichnen, sondern ihn ausrechnen, das mache ich so wie bei „Zunächst“. Mit dieser Lösung wird die Gleichung mit einer Unbekannten kontextualisiert. Aber was eine Funktion oder Funktionsgleichung ist, muss deswegen noch nicht verstanden sein. Gleichungen mit zwei Unbekannten kann man aber auf diese Weise graphisch darstellen. Nicht stören muss man sich dabei, dass jeweils unterschiedliche x- und y-Werte vorgegeben sind, die dann zum Ausrechnen führen. Unwichtig ist auch hierfür die Spezifik der gegebenen Gleichung mit einem gemeinsamen Nullpunkt und einer x-Potenz. Erst die dritte Zugangsweise schöpft die gesamte Formulierung aus. Mit ihr wird die Gleichung als eine Funktionsgleichung bestimmt, die sich abhebt von den bis dahin bekannten Gleichungen mit Unbekannten. Der Graph ist dann nicht mehr die Verbindung der Punkte zu einer Linie oder Kurve, sondern die Darstellungsweise der inneren Logik einer Funktionsgleichung. In unserem Fall einer Exponentialfunktion mit einer Parabel um den Null-
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punkt, negativen und positiven Zahlen im x-Bereich, aber nur positiven Zahlen im y-Bereich. Mit einem doppelwertigen x und einem immer nur einwertigen y. Deswegen weiß man dann auch, dass die Suche nach allen passenden Zahlen für die fehlende Koordinate nicht in die Irre führen kann. Man sieht dann, dass das nur für den x-Wert gelten kann, nie aber für den yWert. Denn nur dann ist es eine Funktionsgleichung (so wurde es definiert). „Alle passenden“ sind dann bei x nur 2. Danach hat man alle gefunden. Gerechnet wird dennoch wie im „Zunächst“. Hypothetisch denkbar ist die abstrakte Mathematisierung als Zugangsweise, die als solche nicht unbedingt von Schülern gesucht werden dürfte, aber für den Lehrer von wesentlicher Bedeutung sein müsste, weil erst mit der paradigmatischen Zugangsweise zur Logik von Funktionen und dem, wofür sie mathematisch stehen, es leicht fallen würde, den Schülern das Fremde der Formulierung mit mathematischem Sinn zu vermitteln. Das vom Lehrer vermiedene Abstrakte wäre damit das Zugangsstiftende (vgl. dazu Gruschka 2009). Das allein rechnerische der ersten Zugangsweise dagegen verbaut systematisch das Verständnis des Neuen der Funktionsgleichung.
Der Lehrer steht nun vor der Herausforderung, die Aufgabe, deren Text allen vorliegt und für Verständnisprobleme gesorgt hat, didaktisch erneut auszubuchstabieren. Es reichte nicht, sie vorzulesen. Er könnte fragen, was habt ihr an der Aufgabe nicht verstanden: Was bitte ist ein „Graph der Funktion“? Wo ist x und y in P1? Wie viele passende Zahlen gibt es? Solche Rückfragen vermeidet er, indem er zu einer eigenen Erklärung ansetzt. Lm: Es ist dort eine Funktion gegeben, SmI, mit y ist gleich x2. Bei der a sollte man entscheiden oder sollte man die zweite Koordinate von den Punkten berechnen. Nicht entscheiden. Die zweite Koordinate ist zu berechnen. Es war manchmal x gegeben und in weiteren hinterliegenden Aufgaben war dann y gegeben. Ja. Wer könnte es noch mal mit dem Punkt P1 erläutern, wie es geht und dann die Lösung nennen. Wenn ihr es jetzt aufgeschlagen habt, das ist ja eine leichte Kopfrechnenaufgabe für das Buch. (Husten) Die Darstellung erscheint als wenig gestaltsicher. Mit der Korrektur der Entscheidung durch das Berechnen kann Irritation entstehen. Die Koordinate wird nicht errechnet, sondern bestimmt, die Gleichung wird gerechnet und damit die Koordinate bestimmt. Was ist die zweite Koordinate, was die erste? Nur indirekt wird dies deutlich: „Manchmal“, heißt wohl zunächst ist x, dann wird y gegeben sein. Die Koordinate oder der Wert? Ungeklärt bleibt, was es mit den „alle passenden Zahlen“ auf sich hat, was hier der „Graph der Funktion“ mit den fehlenden Werten zu schaffen hat. Erneut wird behauptet, es handele sich um eine leichte Kopfrechenaufgabe und damit
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bestätigt, dass der Lehrer vor allem die rechnerische Operation im Blick hat, nicht aber das, worüber die Schüler augenscheinlich stolpern. Die Reaktion der Schüler ist entsprechend nicht aufatmend: Der Groschen ist nicht gefallen. Husten als Verlegenheit antwortet auf die bloße Kopfrechenaufgabe. Der Lehrer wartet keine Reaktion ab, sondern reagiert auf eine Störung. Lm: Also wenn du selbst so unorganisiert bist, dass du jetzt nicht weißt, dass es die Hausaufgabe war und dass du es nicht mehr zuordnen kannst, wie ich es schon dreimal gesagt habe, dann hast du es halt nicht gemacht. Dann ist es eben so. SmB: Das hatte ich geschrieben. (Schüler-Lachen) Lm: Ja, das ist ganz schlecht. SmB: Aber ich habe es ja … (Unruhe) SmB: Also können Sie sich … Lm: Nein, weg machen. Interessiert mich jetzt nicht, ich guck mir das später an. (Gemurmel) Lm: Ich kann mich doch jetzt nicht mit jedem Einzelnen hier SmB: Wenn wir es so machen werden, wie Sie oft, Sie die Arbeiten zu hause … Lm: SmB! Jetzt ist wirklich! (Gemurmel) In dem „Dann ist es eben so“ kommt die erzieherische Resignation zum Ausdruck, die zugleich den Verzicht auf das Nachvollziehen der Schülerlösung bedeutet. Die Unwilligkeitserklärung erstreckt sich folglich auch auf die Aufzeichnungen, die SmB dem Lehrer vorlegt. Das unwirsche „ganz schlecht“ veranlasst den Schüler zu einem mehrfachen Versuch für sein Problem um Anerkennung zu werben. Der Lehrer aber will sich damit nicht mehr von der Explikation des richtigen Lösungsweges abhalten lassen und verschiebt den Kommentar auf eine eigene spätere „Nachhilfe“. Als wäre diese nicht für alle, die es nicht verstanden, hilfreich, wird die Ablehnung mit dem Argument begründet, er könne sich nicht mit jedem Einzelnen beschäftigen. Das aber steht gar nicht zur Debatte, sondern erst einmal das exemplarische Aufnehmen eines der im Raume stehenden Verstehensprobleme. Der Schüler weist seine Zurückweisung durch das erneute Stochern in der Wunde des Lehrers zurück. Hier wie dort wird eine machtvoll erscheinende Intervention zum Ausdruck der Ohnmacht, über die Situation sinnvoll verfügen zu können. Der Lehrer weigert sich, die Folgen seiner Vermittlung in der Aneignung des Schülers zur Kenntnis zu nehmen. Dafür wird auf den Modus Operandi zurückverwiesen. Lm: O.K. P1. Wie funktioniert das? SwE: Wir sollten x berechnen, ne? Sm?: Was soll das denn sein?
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(Lachen Unruhe) SmC: Ich verstehe das nicht. Sw?: Ich auch nicht. Lm: Ja, ich habe eine Frage gestellt. Wie gehe ich vor? P1 Klammer auf 4, Stab, zu berechnender Wert, Klammer zu. Wie geh ich vor? SwD! SwD: Ähm, also, ähm, oben steht ja, dass y = x2 ist und das muss man einfach ähm, 16 oder so? Lm: Richtig. Ja und wie krieg ist das raus? SwD: Wie, nein, ähm, also y = 42, in dem Fall. (Unruhe) Lm: Das ist die Aufgabe. … SmA Da muss doch praktisch die Wurzel ziehen, oder? Lm: SwD hat es eben erläutert. Die vier wird für x eingesetzt. SwD kann nicht sagen, wie sie vorgeht im Sinne einer der skizzierten Zugangsweisen, aber sie weiß, was bei der Rechnung herauskommen muss. Das „oder“ indiziert aber einen Rest von Unsicherheit, ob das die ganze Wahrheit ist, vielleicht gibt es noch andere Zahlen, aber die genannte dürfte wohl richtig, weil richtig gerechnet sein. SmC: Wie kommt die denn raus? Lm: Also hab ich quasi die Rechnung 42. Das ist 16 und das ist das, was wir verlangen. (In Wirklichkeit wird deutlich mehr verlangt und dann auch hinzugefügt.) Lm: x-Koordinate schreibe ich mir runter. Das ist die y-Koordinate, ne? Das ist hier der funktionale Zusammenhang, die Funktion, wenn x gegeben ist, muss ich es hier einsetzen können, wie y ausrechnen. Im Koordinatensystem ist es dann der Punkt 4/16. Die kann ich dann einzeichnen. So dann ähm, nennen wir mal die anderen… Auf den Mangel an Wegbeschreibung reagiert SmC. Nun ist es der Lehrer, der eine Antwort versucht. Aber das, was er zur Explikation beiträgt, verlässt ganz das Kopfrechnen. Stattdessen wird ein didaktischer Weg unvermittelt eingeführt: Man schreibe die x-Koordinate runter, zeigend wird die y-Koordinate hinzugefügt und zwischen beiden besteht ein funktionaler Zusammenhang. Von da kommt man zur Rechnung, wenn x gegeben ist. Im System ist es dann der Punkt 4/16. Nicht den, sondern die Werte kann ich einzeichnen, wohl nicht den Punkt, vielmehr die Markierungen auf der x- und der y-Achse. Geklärt ist für die Nicht-Verstehenden damit nichts, stattdessen wird die Konfusion ergänzt um weitere Erklärungen, die nicht zum Ziel führen: Weder zu dem der ersten Beschreibung des Rechenvorgangs noch zu dem der Beziehung auf das Koordinatensystem noch schließlich zu dem des Typs der Funktionsgleichung. Der Lehrer bricht die Explikation mit seiner Erläuterung ab und ruft die nächste Lösung ab. Wenn aber die Schüler schon die einfachste nicht verstanden haben, wird noch unsi-
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cherer, dass sie bei den folgenden Lösungen entdecken, was ihnen operativ und systematisch verborgen geblieben ist. Das Procedere verläuft entsprechend nicht reibungslos, weil die Lösungen anbietenden Schüler Schwierigkeiten haben, die richtige Form zu finden, vor allem als der y-Wert gegeben ist und der x-Wert auszurechnen ist. Der Lehrer macht weitgehend vor, was die Schüler tun sollten. Mehr beiläufig taucht mit dem vierten P erstmals eine weitere Lösungszahl mit dem möglichen Minuswert für x auf. Der darauf reagierende Schüler produziert die signifikante Fehlleistung, diese Tatsache als Beweis zu nehmen, dass es sich dann nicht um eine Funktion handeln kann. Damit ist erneut die Definition gefragt, was eine Funktion zur Funktion macht. Der Lehrer hat endlich ein Stichwort, das Verstehen des Nicht-Verstehens erstmals auszudrücken: Lm: Ich verstehe, ich verstehe deinen Konflikt, du hast ein Problem mit der Definition der Funktion. SmC: Zu mathematisch! Sw?: Ja Lm: Alles klar. Das war jetzt zu sehr hohe Ebene der Fragestellung. Das Verstehen passt in den Plan der Abarbeitung der sechs Punkte. Der Schüler verteidigt seine Lesart: Bei mehreren Werten könne es keine Funktion sein. Der Lehrer problematisiert die Problematisierung merkwürdig flapsig, indem er die Autorität des Lehrbuches in Anspruch nimmt. Lm: Ich weiß, dass du darüber nachgedacht hast. Da oben steht die Funktion, Ja? Ich mein, wenn es im Buch steht, dass es eine ist (lachend), dann ist es auch eine. … Warum ist es jetzt eine Funktion? Und warum gibt es dann zwei x-Werte, die zum selben y-Wert führen? SwE: Ja weil man ja also ein, wenn man ja zu x-Werten einem y-Wert zuordnen darf. Weil ich ein y-Wert zu x-Werte oder so rum stimmt es dann. Lm: Ja so ist es erlaubt. Genau! Sw?: Wie? Sw?: Mir auch nicht. Sw?: Das habe ich nicht verstanden. Lm: Wer kann denn noch mal die Definition wiederholen einfach? SmE: Ja, bei einer Funktion darf einem x, also einem x-Wert immer nur ein y-Wert zugeordnet werden. SS: He? Was? Die Klärung wird abgeschlossen durch den Lehrer mit einer Formaldefinition. Lm: Jeder Ausgangsgröße x aus dem Definitionsbereich wird genau ein y zugeordnet. Das heißt, der Ausgangsgröße -1 wird die 1 zugeordnet, der Ausgangsgröße +1 auch die 1 zugeordnet. In x-Werte hier, jedem x-Wert wird immer genau ein y zugeordnet. Andersherum hat es uns nie interessiert. Es
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gibt natürlich y-Werte, die mehrmals getroffen werden. Das aber war nie das Problem. Wir haben immer so senkrecht geschaut. Senkrechte zur x-Achse dürfen den Graph nur einmal schneiden. So, das war jetzt keine Definition, sondern das war die Methode, wie man also im Schaubild schnell erkennbar ist die Funktion. (Tafelanschreiben; Geflüster) Das ist jetzt durch die neun Tage her von der letzten Mathestunde. Aber das ist wirklich das Allerwichtigste, was man hier lernen muss, sonst hat man verloren für die nächsten Jahre. Der Leser dieser Definitionsversuche, der sich auf die Seite der Nicht-Versteher stellt, dürfte geradezu schwindlig werden im Verlaufe der Klärung. Just im Augenblick der größten Konfusion, des Gefühls des völligen Abgetrenntseins von jedem Verständnis erhebt der Lehrer das Verstehen des von ihm Dargestellten zum „existentiell“ Entscheidenden des Mathematikunterrichts. Faktisch versetzt er damit allen, die nicht mitkommen, den Todesstoß. Er sei bereit, das mehrfach zu wiederholen, erklärt er beschwichtigend. Aber es fällt schwer, daraus Hoffnung zu schöpfen. Warum sollte beim nächsten Versuch gelingen, was so systematisch mit den bisherigen verbaut blieb? Das erneute Durchspielen des Problems vollzieht sich im weiteren Verlauf der Stunde mit dem Durchrechnen eines Musters und dem Illustrieren des Vorgehens an der „Senkrechten“. Gegeben ist die Gleichung y= x (2 +x). Die Schüler sollen eine Wertetabelle von 3 bis +3 anlegen und damit die Gleichung sechsmal ausrechnen. Während die Schüler sich am Ausrechnen versuchen, ist es vor allem der Lehrer, der Fragen stellt und beantwortet. Kommentiert wird dies mit Reprisen auf das Verstehen-Müssen (Lehrer) und das Nicht-Verstehen-Können (Schüler), die wiederholt tumultartig aufeinandertreffen. So erscheinen manche Zahlen, die dem Lehrer genannt werden, diesem als „schwachsinnig“, weil nicht einmal mit der Würde eines Grundschulkindes vereinbar. Die Nerven liegen augenscheinlich blank. Die Aufgabe wird nicht zurückgeführt auf das existentielle genannte Verstehen der Funktionsgleichung, sondern dem Scheine nach gesichert mit „dem Rechnen auf Grundschulniveau“. Nach der Übung bekommen die Schüler am Ende der Stunde alle nochmals 188 Nr. 4 als Hausaufgabe auf. Fazit Phasenweise kommt es im letzten Drittel der Stunde zu einem normal gestörten Unterricht. Auffällig bleibt auch im Folgenden, wie tief die Kommunikationsstörung reicht, die den Unterricht in dieser Klasse bestimmt. Der Eingangskonflikt verweist auf diese Störung als den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Der Kampf der Schüler gegen ihren Lehrer kann als ohnmächtiger Ausdruck des Widerstandes verstanden werden. Mit ihm reklamieren sie ihr „Menschenrecht auf das Verstehen“ (Wagenschein), das ihnen durch die gegebene Unterrichtsweise genommen wird. Der Unterricht erscheint einer großen Gruppe in der Klasse deswegen als sinnlos, genauer
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als sinnentleert, weil aus ihm nur die Bestätigung eigenen Unvermögens folgt. In dem Lehrer erkennen sie nicht jemanden, der ihnen erklären kann, was sie lernen sollen, der keinen Sinn für ihr fehlendes Verständnis entwickelt hat und an dem sie sich wegen seiner Widersprüchlichkeit wenigstens etwas schadlos halten können. Der Lehrer verfügt nur noch über die Reste der Disziplinierungsmacht, in der Sache und seiner Aufgabe erweist er sich als ohnmächtig und weitgehend hilflos. Vom Sinn einer Vermittlungsaufgabe erscheint er weitgehend abgesperrt zu sein. Vermittlung und Aneignung berühren sich so gut wie nicht. Sein Unterricht ist ein kraftloser Kampf gegen das Unbegriffene. „188 Nr. 4 ist es nie im Leben.“ Das Bedrückende an der aufgewiesenen Sinnkrise des Unterrichts besteht wohl in seiner Aussichtslosigkeit. Es kann, weil weder den Schüler wirklich der Streik zu Gebote steht und der Lehrer weiter diese Klasse unterrichten kann, obwohl das „existenzielle Problem“ überhaupt nicht gelöst wurde, immer so weitergehen: bis die Schüler die „Schule überlebt“ (Herndorn) haben. Aber die Analyse zeigt zugleich, was getan werden könnte, um die Sinnkrise produktiv aufzulösen. Nichts spricht aus ihr gegen die pädagogische Option: alle Schüler könnten begreifen, was eine Funktionsgleichung ist.
Endnoten 1
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Die folgenden Aussagen resultieren, ohne dass jedes gefällte Urteil mit Daten in seiner empirischen „Evidenz“ belegt werden soll und kann, aus den Einsichten des Projekts PAERDU (pädagogische Rekonstruktion des Unterrichtens), an dem eine Frankfurter Arbeitsgruppe nun schon seit fünf Jahren arbeitet. Aufgenommen werden hierfür in der Breite der Unterrichtsfächer der Sekundarstufe I (achte Klassen) Unterricht in vier hoch kontrastiven Schulen, der als exemplarisch gelten kann für die einführende Phase in die Fachlichkeit des Lernens im Sinne der Wissenschaftspropädeutik. Nach über 100 mikrologisch ausgewerteten Stunden lassen sich Generalurteile als Tendenzen schier nicht mehr verhindern. Zur Verifikation am Material sei auf die bislang vorliegenden zusammenfassenden Studien verwiesen (vgl. Gruschka 2005, 2008, 2009, 2010). Die zu Beginn der Transkription nicht eindeutig zuzuordnenden Beiträge der Schüler erfolgen entsprechend mit einem „?“
Literatur Gruschka, Andreas (2005): Auf dem Weg zu einer Theorie des Unterrichtens – Frankfurter Beiträge zur Erziehungswissenschaft Bd. 5, Frankfurt: Goethe Universität. Gruschka, Andreas (2007): Schule, Didaktik und Kulturindustrie. Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 2/2007, 253-278. Gruschka, Andreas (2008a): Die Bedeutung der fachlichen Kompetenz für den Unterrichtsprozess. Pädagogische Korrespondenz Nr. 38, 44-74. Gruschka, Andreas (2008): Präsentieren als neue Unterrichtsform, Opladen: Budrich. Gruschka, Andreas (2009): Erkenntnis in und durch Unterricht, Wetzlar: Büchse der Pandora. Gruschka, Andreas (2010): An den Grenzen des Unterrichts, Opladen: Budrich. Twardella, Johannes (2008): Pädagogischer Pessimismus, Frankfurt: Humanities Online.
Marion Pollmanns
Zur Aneignungsseite des Unterrichts Pädagogische Fallstudie unterrichtlicher Lern- und Bildungsprozesse
1 Der didaktische Blick auf die Aneignungen In der didaktischen Theorie werden die Aneignungen der Lernenden oftmals dadurch verdeckt, dass sich ihre theoretische Perspektive an derjenigen der Lehrenden orientiert (vgl. Hackl/Pollmanns 2008, 77ff., Schirlbauer 2008, 197, Klette 2009, 104). Ist es jedoch die Aufgabe didaktischer Unterrichtstheorie, unterrichtliche Vermittlungsprozesse zu verstehen, schließt dies notwendig ein, die Lern- und Bildungsprozesse der SchülerInnen nachzuvollziehen (vgl. Klingberg 1990, 15ff.). Wie man an den Lockerungen in der Modellierung des Lehr/Lernprozesses sieht (siehe z.B. Kade 1997), gehört es zum didaktischen state of the art, Lehren nicht als „Lernenmachen“ (Willmann 1957, 415) zu denken. Bisher existieren jedoch nur wenige empirisch-didaktische Bemühungen, diese Sinn- und Bedeutungskonstitution durch die Aneignenden in unterrichtlichen Vermittlungsprozessen in den Blick zu nehmen. Forschungen etwa, die den Sinn aufzeigen, den SchülerInnen Schule insgesamt abgewinnen (vgl. Czerwenka u.a. 1990, Nölle 1995), abstrahieren von den Aneignungen der zu lernenden Sachen und bleiben in dem Sinne „inhaltsleer“. Setzt man näher an der unterrichtlichen Aneignung an und fragt wie Georg Breidenstein und Helga Kelle (2002) bspw. nach dem Zusammenhang der Peerinteraktion mit dem unterrichtlichen Setting, wird offenkundig, dass die Jugendlichen sich nicht nur die zu lernende Sache aneignen müssen, sondern Unterricht immer auch als die Form des schulischen Lehrens und Lernens und damit sich als Schüler bzw. Schülerin in der Differenz zu sich als Peer deuten müssen. Damit wird zwar ein wichtiger Aspekt unterrichtlicher Vermittlung erfasst, jedoch „entschult“ (vgl. Meulemann/Zinnecker 2003, 128) diese Perspektive die SchülerInnen insofern, als sie am Kern der didaktischen Vermittlung vorbeigeht. Für eine didaktische Unterrichtstheorie käme es daher darauf an, die Art und Weise, in der Jugendliche Unterricht und ihre SchülerInnenRolle deuten, im Zusammenhang mit den Bedeutungen zu rekonstruieren, die sie in der Auseinandersetzung mit dem unterrichtlichen Gegenstand entwickeln. Es tut also Not, den Beitrag der SchülerInnen am Unterricht nicht verkürzt als Lernen des Gelehrten zu fassen, sondern ihn mit dem Begriff der Aneignung in einen so erweiterten Blick zu nehmen. In dieser Absicht zeichnet bspw. die Bildungsgangforschung die Sinnkonstruktionen von SchülerInnen im Fachunterricht nach (vgl. Meyer/Schmidt 2000). Gefragt
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wird, wie SchülerInnen „den Inhalten und Formen schulischen Unterrichts biographisch bedeutsamen Sinn zuschreiben“ (Graduiertenkolleg Bildungsgangforschung 2006, 8; hier nach: Vollstedt/Vorhölter 2008, 27); damit richtet sich die Perspektive auf die Biographie der SchülerInnen und daher längerfristige Entwicklungsprozesse. Entsprechend liegt der Fokus der ansonsten durchaus ähnlich fragenden Bildungsgangforschung quer zu jenem, den ich hier verfolge: Dieser richtet sich auf die unterrichtliche Vermittlung, um diese als Zusammenspiel von Unterrichten und Aneignen zu rekonstruieren. In diesem Aufsatz betone ich die Seite der Aneignung und damit die These, dass eine didaktische Theorie die unterrichtliche Vermittlung nur dann verstehen kann, wenn sie neben der Logik des Unterrichtens auch die Logiken der Aneignungen rekonstruiert. Deutlich werden soll, dass sich unterrichtliche Aneignung immer als ein Ineinander der Aneignung des Inhalts und der des spezifischen Unterrichts als Form des Lehrens und Lernens vollzieht (vgl. für den Elementar- und Primarbereich de Boer/Deckert-Peaceman 2009); dies spiegelt wider, dass die Fachinhalte, mit denen die Lernenden im Unterricht konfrontiert werden, immer geformt sind durch erzieherische Intentionen, Modi didaktischer Bearbeitung, Bildungsansprüche und sozialisierende Rahmenbedingungen der Schule als Institution. In Form einer Fallstudie möchte ich exemplarisch aufzeigen, zu welchen Ergebnissen man durch eine solche Rekonstruktion der didaktischen Vermittlung gelangen kann. Zuvor werde ich das methodische Vorgehen erläutern. 2 Zur Methode Auf den Aneignungsprozess kann methodisch nicht unmittelbar zugegriffen werden. Vielmehr ist der „Weg über die Rekonstruktion der Sinnstruktur der von ihm übrig gebliebenen Ausdrucksgestalten“ (Oevermann 2004, 324) zu gehen. Dazu werden, um mit Ulrich Oevermann zu sprechen, „Protokolle“ (ebd., 325) dieser Aneignungen benötigt. Was können solche sein? Das Protokoll des Unterrichts, also dessen audio- und videobasiertes Transkript, eignet sich nur insofern, als die Aneignungen in ihm aufscheinen; dies ist, entsprechend der Interaktionslogik von Unterricht, zumeist nur in geringem Maße und sehr bruchstückhaft der Fall. Dagegen lässt sich das „Lernangebot“, das durch das Unterrichten konstituiert wird, auf dieser Basis gut rekonstruieren und damit jene Seite der Vermittlung, die es für die Lernenden aneignend zu erschließen gilt (vgl. Gruschka 2005). Für eine Rekonstruktion unterrichtlicher Vermittlung als Zusammenspiel von Unterrichten und Aneignen sind daher andere Protokolle hinzuzuziehen, in denen die Aneignungsprozesse methodisch zugänglich sind. Solche Protokolle werden erzeugt, lässt man SchülerInnen etwa spezielle Aufgaben bearbeiten (vgl. bspw. Schelle 1995, Heinze 2004); sie liegen dann in Form der Bearbeitungen vor. Indem in diesen doku-
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mentiert wird, wie die SchülerInnen den Gegenstand der Aufgabe deuten, können so Aspekte der inhaltlichen Seite der Aneignung erfasst werden. Dass die Aufgaben, die die ForscherInnen stellen, selbst notwendig didaktischer Natur sind, erscheint jedoch ungünstig, wenn nach der unterrichtlichen Vermittlung von Lehren und Lernen gefragt wird, da so der Blick auf diese verstellt erscheint. Diesen Prozess beobachten Ethnographen als den „praktischen Vollzug von Unterricht“ (Breidenstein 2009, 207); ihr praxeologischer Blick analysiert, welches „Durchführungswissen“ (ebd., 206) sich in diesen Vollzügen zeigt, etwa in „spezifische[n] Praktiken des Arbeitsblatt-Ausfüllens“ (ebd., 209). Indem man an diesen Praktiken mittue, zeige man, dass man „das ‚Wie’ des schulischen Lernens“ (Wiesemann 2008, 162) beherrsche, also in Sachen Unterricht kompetent sei, oder über die für den, wie Georg Breidenstein (2006) sagt, „Schülerjob“ notwendige Qualifikation verfüge. Können so also die „inkorporierten Routinen“ (Breidenstein 2009, 210) des SchülerInnen-Seins untersucht werden, so blendet dieser Blick auf das „Wie“ den Inhalt des Lernens (und Lehrens) jedoch aus. Vor diesem Hintergrund versuchen wir, die SchülerInnen in nicht-standardisierten Interviews über Unterricht dazu zu veranlassen, den Gegenstand der betreffenden Stunde darzustellen sowie darzulegen, wie er/sie den Unterricht als Form des Lehrens und Lernens deutet. Objektiv-hermeneutisch gewinnt man anhand eines solchen Protokolls Einblick in die Aneignung. 3 Fallstudie Inwiefern sich dieses Vorgehen als sinnvoll erweist, möchte ich anhand einer exemplarischen Analyse zeigen. Dazu wird das Aneignen in seinem Zusammenhang mit dem Unterrichten bezogen auf eine Geschichte- und Sozialkunde-Stunde dargestellt, die im Oktober 2007 an einer Grazer Neuen Mittelschule in einer 4. Klasse (d.h. im 8. Jahrgang) aufgezeichnet und über die anschließend mit fünf SchülerInnen gesprochen wurde.1 Um den didaktischen Sinn des Unterrichtens zu verstehen, gilt es zu rekonstruieren, was als das Zu-Lernende präsentiert wurde und wie dies geschah. Dies wird für den letzten Teil der Stunde, eine Gruppenarbeit, dargestellt. Damit nachvollziehbar bleibt, in welchem Kontext diese stand, wird zunächst der Unterricht bis dahin knapp erläutert. Zur Logik des Unterrichtens: Politische (und ggf. historische) Bildung im Modus des Als-ob Nachdem die Klasse sich schon in der vorangegangenen GSK-Stunde mit der Ersten Republik Österreich befasst hatte, gibt der Lehrer als Einstieg an: „Und unser Thema für heute ist, dass wir uns die Parteien in dieser Ersten Republik anschaun.“ (U 94f.)2 Als Gegenstand der Stunde wird also ein besonderer Aspekt aus dieser Ära angekündigt, nämlich jener der Parteien.
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Zunächst skizziert der Lehrer an der Tafel das Tableau eines breit gefächerten Begriffsapparats zur Ersten Republik und erläutert diesen. Er thematisiert dabei „Vorstellungen vom zukünftigen Staat“ (U 120), die in der Zeit der Ersten Republik von Bedeutung gewesen seien, zweitens eine „Fülle von Problemen“ (U 230), worunter er u.a. die Wirtschaftskrise, den Vertrag von St. Germain und den Anschlussgedanken fasst, und schließlich die „Parteienlandschaft“ (U 235). Für diese bestimmt er als wesentliche Unterscheidung jene „zwischen Demokratie“ „und Diktatur“ (U 266ff.). Vor „diesem Hintergrund“, so der Lehrer, seien die „Parteien“ (U 280f) zu platzieren; von diesen greift er die Sozialdemokraten, die Christlichsozialen und die Großdeutschen heraus und gibt zugleich an, es habe noch weitere, weniger bedeutsame Gruppierungen gegeben (vgl. U 284ff.). Während dieses Überblicks fordert der Lehrer die SchülerInnen auf, zwei Ausrisse aus (Partei-?)Programmen zu lesen, die im Schulbuch abgedruckt sind (vgl. Ebenhoch/Scheucher/Wald 2007, 32f.). Als Frage wirft er jeweils auf, ob die Gruppierung eher demokratisch oder eher diktatorisch ausgerichtet gewesen sei (vgl. U 428ff., 447ff.). Im Anschluss an diesen thematischen Aufriss zu den damaligen Parteien zeigt der Lehrer per Beamer Informationen über die nationalen Wahlergebnisse zwischen 1919 und 1930 (vgl. U 495ff). Zur Sprache kommen dabei die unterschiedlichen Mehrheitsverhältnisse sowie Koalitionen und Wahlbündnisse. „Ihr kriegts jetzt als Abschluss (.) einen Auftrag“ (U 618f), leitet der Lehrer danach die von ihm zuvor schon angekündigte „Gruppenarbeit“ (U 471) ein. Die SchülerInnen sollen „Parteien (.) erfinden“ (U 620); sie sollen sich also nicht, wie bisher, mit tatsächlichen Parteien beschäftigen, sondern sich selbst welche ausdenken. Der Lehrer präzisiert diesen Auftrag: Die Parteien sollen „entweder auf die Erste Republik Bezug nehmen oder auch nicht.“ (U 620f) Mit dieser Bestimmung eröffnet er keine Wahl, die es zuvor nicht gegeben hätte, sondern hebt vielmehr die Option hervor, sich weiterhin mit der Ersten Republik zu befassen. Im Hinblick auf die didaktische Vermittlung ist an dieser Wahlmöglichkeit wesentlich, dass somit das Thema „Parteien der Ersten Republik“ von Seiten des Lehrers nicht mehr notwendig Gegenstand dieses letzten Unterrichtsabschnitts ist. Im Zentrum der Vermittlung stehen damit also Parteien selbst (jenseits einer spezifischen historischen Epoche). Dass nun eine Partei auf eine bestimmte politische Ära „Bezug nimmt“, bedeutet nicht, in dieser Zeit angesiedelt zu sein. So nimmt die heutige SPÖ nicht auf die Zweite Republik Bezug, sondern ist unwillkürlich Teil dieser. Dagegen kann von der NPD behauptet werden, sie nehme politisch auf die faschistische Ära Bezug. In der spezifischen Option des Bezug-Nehmens wird von den SchülerInnen also nicht verlangt, sich in die damalige Zeit zu versetzen, sondern die Erste Republik aus einer Distanz heraus aufzugreifen, sich also politisch auf sie zu beziehen. Sie könnten politisch an diese Zeit anknüpfen, indem sie bspw. den so genannten Anschlussgedanken wieder
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propagierten. Wählen die SchülerInnen die alternative Option, gibt es keine Bedingung, welche Merkmale die auszudenkende Partei aufweisen soll. Als „Ziel“ seines Auftrages gibt der Lehrer dann an: „alle diese Parteien (...) brauchen einen Namen, brauchen ein Parteilogo und brauchen wenigstens zwei, drei Ziele.“ (U 623ff.) Dass eine Partei, ob erfunden oder real, einen Namen braucht, erscheint unumgänglich. Hätte sie keinen Namen, könnte sie nicht bezeichnet und als Akteurin auf der (gedachten) politischen Bühne gar nicht identifiziert werden oder eben bloß paradox als „Partei ohne Namen“. Ziele zu haben, ist für Parteien dagegen nicht nur von pragmatischem Nutzen, sondern ihre Existenzgrundlage: In einer parlamentarischen Demokratie beanspruchen sie, dem Zweck der politischen Willensbildung und der Verwirklichung dieser Ziele zu dienen. Hat man keine politischen Ziele, die man im demokratischen Procedere umsetzen möchte, bedarf es keiner Partei.3 Insofern sind diese Ziele überhaupt der Grund für eine Partei – und dafür, ihr einen (entsprechenden) Namen zu geben. Dass eine Partei zudem über ein Logo verfügt, ist (heutzutage) üblich, da es u.a. der schnelleren Identifikation dient. Die Reihenfolge, in der der Lehrer die zu erledigenden Aufgaben des Auftrags nennt und die er an der Tafel mit der Nummerierung 1., 2., 3. fixiert (vgl. U 653), läuft der Logik einer Parteigründung entgegen, solange man als deren Grund die Umsetzung von politischen Zielen bzw. das Vertreten politischer Interessen annimmt. Die vorgeschlagene Abfolge entspricht dagegen einer Rationalität der Inszenierung: Zugunsten dieser steht das politische Interesse hinter der Ausstattung mit Symbolen zurück. Als weiteres Ziel kündigt der Lehrer eine Vorstellung der erfundenen Parteien in einer Art Wahlkampf an (vgl. U 628f). Konkret sollen sie sich „im TV“ (U 653) bewähren. Damit markiert der Lehrer auch den historischen Kontext; die so erfolgte zeitliche Eingrenzung stimmt mit der These überein, ein „Bezug“ zur Ersten Republik lasse sich nur stimmig von einem späteren Zeitpunkt aus realisieren. Überdies zeigt sich hier, dass die SchülerInnen die Aufgabe – egal in welcher Variante – nur adäquat erledigen können, indem sie eine Partei erdenken, die in einer Zeit angesiedelt ist, in der der Wahlkampf im Fernsehen ausgetragen wird. Folglich muss es sich um eine mehr oder weniger aktuelle Partei handeln. Entsprechend steht die Gruppenarbeit – im Unterschied zum Unterricht davor – nur noch am Rande unter einem historischen Vermittlungsanspruch. Vielmehr konstituiert der Lehrer für diese Phase des Unterrichts einen neuen Gegenstand aus dem Bereich der politischen Bildung, nämlich jenen einer politischen Organisationsform und deren Darstellung. Diesen hatte er durch die Ansprache der SchülerInnen als BürgerInnen in spe zuvor schon angebahnt: So hatte er sie bspw. danach gefragt, ob sie bereits politische Fragen in den Medien verfolgen (vgl. U 240ff.), sowie an sie appelliert, als „Demokraten“ (U 330), bevor sie wählen, die Parteiprogramme zu lesen.4 Nachdem der Lehrer die Aufgabe erläutert hat, gruppiert er die SchülerInnen für diese, indem er sie nach Schulbänken in Vierergruppe einteilt. Damit obliegt es also
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nicht ihnen, zu entscheiden, mit wem sie eine Partei erfinden, sondern sie sind auf die SitznachbarInnen verwiesen. Angesichts dessen, dass Parteien Zusammenschlüsse politisch Gleichgesinnter sind, erscheint dies als Zwangsvergemeinschaftung. Potenziell wird so der Prozess, politische Interessen auszugleichen, der sich in einer Parteiendemokratie hauptsächlich über die Auseinandersetzungen zwischen den Parteien vollzieht, in den Prozess der Parteierfindung hineinverlagert. Dies unterstreicht erneut den unernsten Charakter der Aufgabe, denn angesichts dessen, dass die Partei nur erfunden werden soll, mag auch unschädlich erscheinen, dies mit mehr oder weniger zufälligen Personen zu tun: Auf die tatsächlichen politischen Ziele der Erfindenden kommt es dann ja gerade nicht an. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Logik der Aufgabe, deren didaktischer Sinn in politischer Bildung zu liegen beansprucht, quer zur Sachlogik politischer Interessenvertretung liegt. Damit erscheint die didaktische Intention, den SchülerInnen die Form der parteipolitischen Auseinandersetzung in einer Demokratie wie dem heutigen Österreich nahe zu bringen, kaum realisierbar. Zwar werden die SchülerInnen als zukünftige BürgerInnen angesprochen, aber in einer Weise, die die Demokratie nicht ernst nimmt: Politik wird hier vom Lehrer als Spiel inszeniert. Nachdem die Logik des Unterrichtens rekonstruiert ist, soll nun exemplarisch die Logik der Aneignung einer Schülerin nachvollzogen werden. Dies geschieht auf der Basis eines der oben erwähnten Interviews. Geführt wurde es während der sich an die GSK-Stunde anschließenden Supplierung, in der der Lehrer diesen Unterricht fortführte; die Gruppenarbeit war daher noch im Gange. Bezogen auf die Schülerin Mia wird die These geprüft, dass angesichts der Logik des Gruppenarbeitsauftrags ein Bezug zum historischen Thema „Parteien der Ersten Republik“ nicht im Zentrum der Aneignung stehen wird und die Aufgabe ihrer Form nach eher zu einem Partei-Spielen animiert, denn zu einer tatsächlichen Beschäftigung mit Parteien als Möglichkeit, eigenen politischen Zielen Gewicht zu verleihen. Vor allem kann aber auch – jenseits der Frage nahegelegter Reaktionen – nachvollzogen werden, wie die Schülerin sich den Inhalt ihres Tuns denkt und wie sie sich zur didaktischen Form des Gruppenarbeitsauftrages verhält. Zur Logik des Aneignens: Mia, die vorhat, Umweltministerin zu sein5 Mia (13 Jahre) und ihre Gruppe bilden die „Umweltpartei Österreich“ (M 115)6. Wie an ihrer politischen Ausrichtung noch deutlich werden wird, verorten die Schülerinnen diese Partei mit ökologischem Fokus weder in der Ersten Republik Österreich, also in den 10er/20er/30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, noch nehmen sie mit der politischen Kategorie der Ökologie auf diese Bezug. D.h. Mias Gruppe wählt also nicht den spezifischen Lösungsweg mit Bezug zur Ersten Republik.. Da Mia als politische Ziele für die „Umweltpartei“ die Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs (vgl. M 132ff.) sowie die Gleichbehandlung u.a. von homo-
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sexuellen Paaren (vgl. M 155f.) nennt, liegt es nahe, sie in der aktuellen (oder jüngeren) politischen Landschaft zu verorten. Ihrerseits ordnet Mia die Partei zeitlich nicht ein, da sich für sie deren Kontext wohl von selbst versteht. Weil die Partei weder Bezug auf die Erste Republik nimmt, noch in einer bestimmten, früheren Zeit angesiedelt ist, eignet sich Mia die Aufgabe also nicht als historische an: Ihr Zugriff antwortet allein auf deren politischen Bildungsgehalt. Angesichts der politischen Ausrichtung der „Umweltpartei Österreich“ lässt sich eine Nähe zu einer existierenden Partei nicht verhehlen: Sie ähnelt stark der Partei „Die Grünen“. Nun erscheint es aus der Sicht mündiger BürgerInnen, und auf diese zielt ja die politische Bildungsabsicht des Lehrers, nicht sinnvoll, eine Partei zu erschaffen, deren Ziele sich (sehr wahrscheinlich) innerhalb einer existierenden Partei vertreten lassen. Anders wäre es, entspränge die „Umweltpartei“ einer Kritik an den Grünen; als „echte“ Öko-Partei wird sie aber nicht vorgestellt. D.h. Mias Gruppe hält die dem Auftrag, etwas zu erfinden, implizite Distanz zum Bestehenden mit ihren Zielen nicht ein: Diese sind so realistisch, dass sie tatsächlich bereits von einer Partei vertreten werden. Darin jedoch, dass ihre Gruppe somit etwas Bestehendes konzipiert, also so tut, als müsse man in Österreich eine ökologische Partei erst gründen, entspricht sie dem Alsob-Modus der Aufgabe, denn als reales Tun erschiene diese verdoppelnde Gründung (wenn nicht absurd so doch) unklug. Eine erste Entscheidung, die Mia und die anderen innerhalb der Gruppenarbeit getroffen haben, sei jene gewesen, für welche gesellschaftliche „Schicht“ (M 151) man Partei ergreife. „Wir vertreten die untere Schicht“ (M 151f.), gibt Mia an. Hier wird kenntlich, dass sie die Gesellschaft als vertikal differenziert versteht, und dass sich Politik ihrer Meinung nach innerhalb dieser Differenzierung verorten muss. Mias Parteinahme für die „untere Schicht“ und damit für die Schwachen macht kenntlich, dass es innerhalb einer ungleichen Gesellschaft ihr politisches Ziel ist, für die Benachteiligten einzutreten. Wesentlich ist, dass Mia diese Parteinahme als willentlichen Akt beschreibt, wenn sie es als Frage einer Entscheidung angibt, ob sie die „obere oder die untere Schicht vertreten wollen“ (M 151). Sie verfolgt nicht deshalb eine Politik zugunsten der „unteren Schicht“, weil sie sich selbst als Teil dieser begreift. Mia solidarisiert sich vielmehr mit ihr. Wegen dieser Parteinahme für die Schwachen und Marginalisierten charakterisiert sie ihre Gruppierung dann auch lachend als „nette Partei“ (M 158), was sie wohl selbst als eine etwas ungelenke Bezeichnung empfindet. Mit dieser „Nettigkeit“ korrespondiert auch die ökologische Perspektive, wenn man sie als Parteinahme für die geschundene Natur versteht. Die Ziele, mit denen die Schülerinnen der Umwelt dienlich sein wollen, sind verkehrspolitische: So soll es „mehr Rad(..)wege“ (M 138) geben und dafür gesorgt werden, „dass die (.) Busse, die (.) außerhalb von der Stadt fahren, [...] öfter fahren“ (M 140f.). Das Ziel, den städti-
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schen Autoverkehr zu reduzieren, stellt Mia als konkrete Maßnahme vor: Es soll bspw. in einem Stadtteil nur noch halb so viele Autos geben dürfen, wie Personen in ihm leben (vgl. M 134ff.). Entgegen dem Auftrag des Lehrers spricht Mia davon, sie hätten die Partei „g’ründet“ (M 114) und sie sich nicht nur ausgedacht. Zugleich beschreibt sie die Gründung als Erfüllung einer Pflicht (vgl. M 111f.). Nun erscheint es der Sache nach widersinnig, eine Partei gründen zu „müssen“ (M 111): Da Parteien der Vertretung der politischen Interessen der Mitglieder dienen sollen, ist davon auszugehen, dass ihre Gründung auf dem Entschluss ihrer Gründungsmitglieder beruht, also keinem Zwang unterliegt. Den Charakter einer Pflicht bekommt die Aufgabe für Mia, da sie sich der Anweisung durch den Lehrer schuldet. Sie deutet den Auftrag also nicht fiktional, obschon ihr bewusst ist, dass sie die Gründung im Modus des Als-ob vollziehen. Ihr ist der Als-ob-Modus so selbstverständlich, dass es ihr gar nicht in den Sinn kommt, es könne sich bei der Gründung um eine „echte“ Parteigründung handeln; deshalb eignet sie sich den Auftrag, eine Partei zu „erfinden“, problemlos als die Aufgabe an, eine Partei zu gründen. Ausdruck der Ernsthaftigkeit, mit der sich Mia und die anderen Schülerinnen der Aufgabe zuwenden, ist es auch, dass sie die vom Lehrer vorgegebene Reihenfolge („1. Name, 2. Logo, 3. Ziele“ (U 653)) verkehren. „Wir haben (.) amal unsere Ideen zusammen g’sprochen, was wir für a Grundidee wollen“ (M 150f). Sie beginnen also mit einer grundsätzlichen Positionierung im politischen Feld, arbeiten die Aufgabe also vom dritten Punkt her ab. Diese Logik erscheint der einer Parteigründung adäquater, als der Weg über Name und Logo zu den Zielen. Hinzukommt, dass Mia in diesen Gruppenprozess mit der Orientierung an ökologischen Fragen ihre persönlichen politischen Überzeugungen einbringt, denn sie gibt an: „ich hab amal vor, > {lachend:} Umweltministerin zu sein. <“ (M 286f.) Mia verhält sich also zu der Aufgabe nicht derart, dass sie für sie mit der Erfindung irgendeiner Partei beantwortet wäre, sondern erarbeitet mit den anderen zusammen eine Lösung, hinter der sie als Mia steht, die sich vorstellen kann, Umweltministerin zu werden. Obwohl also der Lehrer ein Erfinden initiieren wollte, stellt sich Mia „authentisch“ die Frage, welcher Partei sie angehören möchte. Mia berichtet, dass sie die Aufgabe zwar in „Vierergruppen“ (M 112) bearbeiten sollten, ihre Gruppe in dieser Form jedoch keinen Bestand hatte. Ursprünglich wurde sie neben ihr gebildet aus Heidi, Laura und Oliver. „Und der Oliver, der hat sich da wieder mal abgegrenzt“ (M 119). Als Konsequenz führt Mia an: „Dann haben wir ihn komplett ausgeschlossen und seine Ideen.“ (M 123) Die Gruppenspaltung führt Mia also auf das Verhalten Olivers zurück. Sein Nicht-Einfügen wird von ihr einerseits auf die konkrete Gruppenarbeitssituation bezogen („da“), andererseits aber als eine typische Verhaltensweise Olivers dargestellt („der Oliver, der“, „wieder mal“). Dieser erscheint so wie ein Störenfried. Dadurch,
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dass Mia das Verhalten ihres Mitschülers als für ihn typisches Fehlverhalten charakterisiert, präsentiert sie sich hier indirekt als die reifere Schülerin. Neben dem Wesen Olivers verweist Mia aber auch noch auf inhaltliche Differenzen in der Gruppe. Die drei Schülerinnen wollen, so Mia, „Gleichberechtigung am Arbeitsplatz und alles“ (M 120). Inhaltlich konstatiert diese Forderung notwendig einen Zustand der Ungleichberechtigung, der kritisiert und zu überwinden versucht wird. Der anvisierte Zustand einer Gleichberechtigtheit wird dabei auf das Feld der Erwerbsarbeit bezogen. Unbestimmt bleibt, inwiefern diese dort herrschen soll. Üblicherweise jedoch wird sich mit dieser Forderung für einen verstärkten Zugang von Frauen und anderen benachteiligten Gruppen zu („guten“) Arbeitsplätzen sowie für deren äquivalente Entlohnung ausgesprochen. Auch wenn dies an der Formulierung nicht kenntlich wird, so handelt es sich doch vor allem um ein Plädoyer für mehr weibliche Teilhabe. Diesem Ziel setzt Mia nun zunächst nicht ein unverträgliches Olivers entgegen, sondern hebt auf dessen Verhalten ab: „er hat irgendwie nur g’schrieen“ (M 120f). Schon durch die Art, wie er sich artikulierte, diskreditiert sich Oliver in den Augen Mias, denn sein Schreien ist für sie einer Auseinandersetzung über politische Ziele inadäquat. Geschrien habe er: „Männer an die Macht und so.“ (M 121) Dieser Spruch läuft der Forderung der Schülerinnen entgegen, streben diese ja Gleichberechtigung u.a. unter den Geschlechtern an. Die Parole Olivers ist im Vergleich zu ihrer kämpferischer, weil er eine generelle Vormachtstellung der Männer beansprucht; dagegen erscheinen die Ansprüche der Mädchen gezügelt, u.a. weil sie mit ihrem Slogan nicht mehr reklamieren, als der Gleichheitsgrundsatz zugesteht. Hinzukommt, dass „Männer an die Macht“ die ursprüngliche Forderung „Frauen an die Macht“ verkehrt. Durch die Entgegnung des Schülers – so wie Mia sie wiedergibt – wird damit das Geschlechtsspezifische ihres Ziels kenntlich. Was harmonisch als „Gleichberechtigung“ ausgegeben wird, meint konkret u.a. Frauen im Verhältnis zu Männern den Vorzug zu geben, bis ein Zustand der Gleichberechtigung erreicht ist. Oliver stellt also indirekt das Interessierte an der Position der Schülerinnen heraus, das in ihrer Formulierung verdeckt bleibt. Durch seine Verkehrung macht er aus ihrem Anliegen Klartext – allerdings auf Kosten der Bandbreite, denn als Ursache der Ungleichheit wird so allein die Geschlechterdifferenz beachtet. Politisch werden sich die VertreterInnen dieser Standpunkte schlecht einigen können. Es erscheint jedoch fraglich, ob die Parole „Männer an die Macht“ überhaupt als ernst gemeintes politisches Ziel zu verstehen ist. Aus der Sicht der Schülerinnen, die Gleichberechtigung u.a. für Frauen am Arbeitsplatz und damit dort „mehr Macht“ u.a. für Frauen einklagen, muss dieses Ansinnen Olivers wie eine paradoxe Beschreibung der Realität klingen. In Mias Wiedergabe seines Standpunktes zeigt sich, dass sie den Inhalt
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seiner Äußerungen nicht ernst nimmt, sondern diese eher als Provokation ansieht. Dies entspricht ihrer Deutung, Olivers Fehlverhalten habe die Gruppe gespalten. Es wird hier deutlich, dass die ursprüngliche Vierergruppe die Aufgabe zu einem Anlass genutzt hat, das Verhältnis Mädchen/Jungen auszuagieren: Im Medium der Gruppenarbeit wird Genderpolitik betrieben. Die Jugendlichen bearbeiten die Aufgabe, die ihnen unterrichtlich gestellt wird, unter Bezugnahme auf diejenigen (politischen) Fragen, die sie als Mädchen/Jungen bzw. Frauen/Männer (und eben nicht nur als SchülerInnen) umtreiben. Zum Verhältnis von Unterrichten und Aneignen Um zu verstehen, wie sich hier Unterrichten und Aneignen zueinander verhalten, sind nun die Logiken des Lehrens und Lernens aufeinander zu beziehen. Dazu sind die Art, in der Mia sich die vom Lehrer gestellte Aufgabe als Aufgabe aneignet, das Verständnis von Politik und Parteiendemokratie, das sie dabei in Anschlag bringt, sowie die Vorstellung, die sie von sich als Schülerin hat, mit der didaktischen Logik des Unterrichtens in Bezug zu setzen. Gemessen werden kann die Aneignung dabei an dem didaktischen Vermittlungsanspruch, der im Unterricht material erhoben wurde (s.o.). Hinsichtlich Mias Aneignung der Aufgabe „Parteien erfinden“ konnte herausgestellt werden, dass sie diese ernster nimmt, als sie vom Lehrer formuliert wurde. Dass dieser kein „Gründen“ von Parteien forderte, die angebotene Logik der Abarbeitung der eines politisch motivierten Zusammenschlusses widersprach, die Erarbeitung in kontingenten Gruppen erfolgen sollte, all diese Aspekte, die der Aufgabe einen spielerischen Modus verliehen, prägen – wider Erwarten – Mias Bearbeitung nicht. Sie und ihre Mitschülerinnen gründen eine Partei, fragen dabei zuerst nach den Zielen und schließen, als es in der zufällig bestückten Gruppe Meinungsverschiedenheiten gibt, die „unpassende“ Person aus. Die entfiktionalisierende Ernsthaftigkeit, mit der Mia die Aufgabe bearbeitet, mag darin begründet sein, dass ihr die politische Beschäftigung mit ökologischen Fragen bedeutsam ist; die inhaltliche Offenheit der Aufgabe hätte es dann für Mia ermöglicht, ihr dadurch Sinn zu verleihen, dass sie in ihr für sie bedeutsame Inhalte behandelt. Dieser Ernsthaftigkeit der Bearbeitung wird Mias Lösung jedoch nicht in allen Punkten gerecht. Zunächst einmal scheint ihr nicht bewusst zu sein, dass die Ziele der „Umweltpartei“ nicht konsistent erscheinen. So ist zu fragen, inwiefern sich das Eintreten für eine ökologisch nachhaltige Politik mit der Parteinahme für die untere Schicht verträgt. Die Orientierung an Umweltfragen liegt quer zu einer an Schichtfragen, denn erstere betrachtet die Menschheit ja als Teil des Ökosystems o.ä. und lässt entsprechend gesellschaftliche Statusdifferenzen etc. außer Acht. Eine spekulative Synthese wäre jene, dass die Ärmeren weniger Chancen haben, sich von negativen Umwelteinflüssen freizukaufen (so dies überhaupt möglich ist). Mia selbst führt nicht aus, wie ihre Orientierungen an sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit für sie
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zusammengehen. Offenbar unterstellt sie, dass sich diese politischen Ziele problemlos vertragen: Sie verfolgt das „Nette“, d.h. das Soziale und Umweltfreundliche, ohne schon über ein streng durchdachtes politisches Konzept zu verfügen. Dies zeigt sich auch hinsichtlich der ökologischen Nachhaltigkeit, die Mia durch eine Bindung der Autoanzahl an die der Bewohner erreichen möchte. Bezüglich Mias Vorschlag, nur halb so viele Autos zuzulassen, wie Menschen in einem Stadtgebiet wohnen, fällt auf, dass dieser Wert nur wenig unterhalb der Höhe des damaligen Motorisierungsgrades liegt; so kamen 2007 in Graz auf 1000 EinwohnerInnen 593,2 angemeldete Kraftfahrzeuge (vgl. Statistik Austria 2008). Um eine spürbare Reduzierung zu erreichen, müsste man also einen viel rigoroseren Kurs fahren. Auf solch einen rigorosen Kurs deutet hin, dass Mia diese Reduzierung durch direkte Reglementierung erreichen möchte, also der Politik ein starkes Eingriffsrecht zur Durchsetzung ökologischer Ziele zuspricht. Ihr Vorhaben ähnelt dem während der Olympischen Spiele 2008 in Peking verhängten temporären Fahrverbot: An einem Tag durften nur Autos mit ungeraden, am nächsten mit geraden Nummernschildern fahren. Kapitalistische Marktmodelle wie eine Citymaut hingegen steuern nicht direkt, sondern machen Autofahren teurer, um darüber den Stadtverkehr zu reduzieren.7 Anders formuliert: Ein staatlicher Eingriff, wie Mia ihn anstrebt, erscheint in unserer Gesellschaft nur gerechtfertigt, wenn drastische Veränderungen durchgesetzt werden sollen; ginge es um eine mäßige Reduktion, erschiene das Mittel übertrieben. Zu vermuten ist daher, dass Mia weder diese Frage des Verhältnisses von Mittel und Zweck noch die Umsetzungsproblematik bewusst ist. Vor allem da sie die „Umweltpartei“ ja für eine „nette Partei“ hält, besteht hier tendenziell ein Widerspruch. Hinsichtlich der didaktischen Vermittlung ist bedeutsam, dass der Auftrag zur Gruppenarbeit Mia (bis jetzt) weder dazu veranlasst hat, den Abstimmungsbedarf zwischen ihren politischen Zielen zu erkennen, noch deren Synthese o.ä. zu leisten und ihr durch diesen auch die Fragen nach den Formen staatlicher Eingriffe und der Umsetzung ihrer Ziele nicht bewusst geworden zu sein scheinen. Diese Überlegungen anzustellen, beförderte aber die politische Bildung Mias. Trotzdem sie auf den Als-ob-Modus der Aufgabe nicht einsteigt, bietet ihr diese wohl wegen ihres spielerischen Charakters, durch den die zu erfindenden Parteien quasi in der Luft hängen, keine entsprechende Unterstützung, die Fragen, an denen sich Mia in politischer Hinsicht abarbeitet, weiter zu klären. An dem Konflikt, den die Schülerinnen mit Oliver austragen, wird deutlich, dass das Setting einen Spielraum bietet, sich über peerkulturelle Fragen auseinanderzusetzen. Konkret ging es um die gesellschaftliche Teilhabe von Männern und Frauen. So, wie Mia den Verlauf schildert, haben die vier die Geschlechterfrage kaum argumentativ erörtert, sondern eher auf der Ebene von Schlagworten verhandelt. Diese Frage wird also nicht politisch diskutiert, sondern eher als Material benutzt, um Gruppen- und Gendergrenzen zu ziehen.
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Dabei nehmen die drei Schülerinnen sich an ihrem „Arbeitsplatz“ die „Macht“ heraus, einen Schüler aus dem gemeinsam zu absolvierenden Arbeitsprozess auszuschließen. Formal wird damit die mit der Zwangsvergemeinschaftung gestellte Aufgabe, sich zu einigen, von den SchülerInnen abgewehrt; erscheint dies vor dem objektiven Inhalt des Auftrages nachvollziehbar, erfolgt diese Abwehr aber weniger aufgrund des Widerspruchs, sich politisch mit Zufälligen zusammenzuschließen. Zwar halten Mia und die beiden Mitschülerinnen am Sinn der Aufgabe fest, doch Oliver scheint das Absolvieren der Aufgabe (in dieser Gruppe) nicht so wichtig, dass er sich auf eine Diskussion der politischen Ziele einließe. Entsprechend ist sein Ausschluss eher ein Zeichen für Differenzen in der Art, wie die Beteiligten ihre Rollen als SchülerInnen verstehen. Mia zeigt sich dabei als eifrige Schülerin, die die an sie gestellte Aufgabe ernsthaft absolviert. 4 Ausblick Mit der Fallstudie habe ich exemplarisch versucht aufzuzeigen, dass sich unterrichtliche Aneignung immer als ein Ineinander der Aneignung des Inhalts und der des spezifischen Unterrichts als Form des Lehrens und Lernens vollzieht. Ausgelotet wurden dabei auch die methodischen Möglichkeiten nicht-standardisierter Interviews. Auf dieser Basis wurde hier – bezogen auf den letzten Teil des fraglichen GSKUnterrichts – Mias Aneignung sowohl in inhaltlicher wie in formaler Hinsicht herausgearbeitet. Insofern protokolliert das Interview also nicht nur Deutungen des Gegenstandes, sondern auch jene des Unterrichts und der Schülerinnenrolle. Besonders hinsichtlich der Haltung zum Unterricht entkräften sich Zweifel, diese Routinen seien über Interviews nicht zugänglich, da sie nicht erfragt werden könnten (vgl. Breidenstein 2009, 207): Als routinisierte Deutungen aktualisieren sie sich bezogen auf den konkreten Unterricht und sind so in dessen Darstellung enthalten. Entsprechend erscheint es produktiv, Interviews in Ergänzung zu Unterrichtstranskripten zu nutzen, da diese vor allem dann, wenn der Unterricht stark durch die Lehrperson dominiert wird, in Bezug auf die Aneignungsseite nur wenig aussagekräftig sind. Im vorliegenden Fall ist unbefriedigend, dass kein Einblick in das Verhältnis vom Vollzug der Gruppenarbeit und Mias Darstellung dieser möglich ist. So lässt sich bspw. ihre Schilderung der Auseinandersetzung in der Gruppe nicht damit vergleichen, wie sich diese ereignet hat. Hier erweist sich als ungünstig, dass die Gruppenarbeit Mias nicht zu den zwei dokumentierten zählt (vgl. U 1000ff, 2000ff.). Forschungspraktisch besteht das Problem, wie aufnahmetechnisch auf eine Diversifizierung des einen Unterrichtsprozesses in viele Gruppenarbeiten reagiert werden soll. Entweder fertigt man mittels vieler Aufnahmegeräte flächendeckend Aufnahmen an, oder man nimmt, wenn die Interviewpartner schon feststehen, gezielt deren Gruppenarbeiten auf. Die letztere Variante erscheint adäquater, da Gruppenarbeiten u.ä. nicht in gleicher Weise öffentlich sind wie ein allgemeines Unterrichtsgespräch und daher durch die forscherische Dokumentation empfindlicher gestört werden als dieses.
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Hinsichtlich der Aneignung Mias konnte aufgezeigt werden, dass sie sich nicht völlig im Sinne der aus der Logik des Unterrichtens entwickelten Hypothesen vollzieht. Zwar zeigte sich, dass sich Mia mit dem historischen Thema „Parteien der Ersten Republik“ nicht weiter befasst; dieses war angesichts dessen zu erwarten, dass eine aktuelle Partei mit Bezug zur Ersten Republik zu bilden, relativ verquer erschiene. Überrascht hat hingegen die Ernsthaftigkeit, mit der die Schülerin die Aufgabe angeht. Anders als andere SchülerInnen gründet Mia eine Partei mit, hinter deren Anliegen sie als Mia steht. Sie verhält sich also in dem Sinne authentisch, dass sie ihre politischen Überzeugungen einbringt, obschon dies zur Bearbeitung der Aufgabe keinesfalls nötig wäre. Entsprechend tut sie mehr als ihren „Job“ (vgl. Breidenstein 2006). Andere SchülerInnen dagegen steigen auf das Fiktionale des Auftrages ein, indem sie gar keine ernsthafte Lösung anstreben. So produziert eine Gruppe unzählige Namenvorschläge, ohne diese politisch zu verorten (vgl. U 1021ff.), manche, wie „Scheiß Geschichte Partei“ (U 1022), dabei auch nur aus dem Spaß, sich dem Auftrag zu widersetzen. Schließlich setzt sich dort der Name „Friedenspartei Österreich“ (U 1089) durch; das passende Ziel „Frieden für die Welt“ findet keine Zustimmung (vgl. U 1103), weshalb ein Schüler später anmahnt, sie müssen sich als Ziel noch „irgendwas mit Frieden“ (U 1204) ausdenken, um die Bearbeitung stimmig abzurunden. Vor diesem Hintergrund wird noch deutlicher, dass Mia der Aufgabe einen spezifischen Sinn verleiht, indem sie sie interessierende politische Themen einbringt. Jenseits dessen, was auf der Basis der rekonstruierten Logik des Unterrichtens zu erwarten war, zeigt sich, wie Mias Gruppe sich die Aufgabe peerkulturell aneignet. Sie nutzt diese für etwas, das für sie jenseits des Unterrichts bedeutsam ist: Die Mädchen vergemeinschaften sich als Frauen und grenzen sich von Oliver als Junge/Mann ab. Daran zeigt sich, dass, wie Marita Kampshoff argumentiert (vgl. 2000, 201), in der Schule immer sowohl ein doing pupil als auch ein doing gender passiert: Indem SchülerInnen ihr Schüler- bzw. Schülerin-Sein praktizieren, gestalten sie zugleich auch die Geschlechterverhältnisse. Kampshoffs praxeologischer Blick klammert jedoch den unterrichtlichen Inhalt aus, mit dem sich die SchülerInnen im Zuge ihres Tuns auseinandersetzen. Zwar gesteht sie zu, dass sich im Unterricht „vielleicht noch viel, viel mehr“ (ebd.) doing X vollzöge, und deutet so die Spezifik ihres Zugriffs an. Ihm ist aus der Perspektive einer didaktischen Unterrichtstheorie aber entgegenzuhalten, dass so gerade relevante Aspekte ausgeklammert bleiben: Für eine pädagogische Theorie unterrichtlicher Vermittlung stellt sich die Frage nach der Aneignung wesentlich als jene nach der Aneignung des im Unterricht thematischen Inhalts und des Unterrichts als Form des Lehrens und Lernens.
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Die Transkripte dieser Beforschung, bei der ich von Eva Schwarz und Ralf Hartmann unterstützt wurde, liegen unter http://archiv.apaek.uni-frankfurt.de/ vor und sind durch Browsen nach dem Projektzusammenhang „Unterrichten und Aneignen“ auffindbar. D.h.: Unterrichtstranskript Z. X. Zwar ist es auch denkbar, zu anderen Zwecken eine Partei zu gründen, etwa um einer eigentlich außerparlamentarischen politischen Gruppierung einen demokratischen Deckmantel zu verschaffen oder um Posten zu kreieren; eine mit diesen Absichten gegründete Partei würde aber gegen den eigentlichen Sinn von Parteien verstoßen. Dieser Appell, sich als WählerIn über die politischen Absichten der zur Wahl stehenden Parteien zu informieren, bringt die Idee zur Geltung, Parteien dienten der demokratischen Durchsetzung politischer Interessen. Entsprechend ist die normative Deutung, mit Parteien gehe es hier um eine Organisationsform für politische Interessen der BürgerInnen, nicht eine, die von außen an das Material herangetragen wird, sondern eine, auf die sich der Lehrer in seinem Unterrichten stützt. Und nur deshalb widerspricht seine politische Bildungsabsicht der Form des Arbeitsauftrages, mit dem er diese zu verwirklichen sucht. An der Interpretation, auf die sich meine Darstellung hier stützt, haben sich Cornelia Dinsleder, Eva Schwarz, Alois Stifter und Sandra Klampfl beteiligt. D.h.: Transkript des Interviews mit SwM Z. X. – Die dort mit SwM bezeichnete Schülerin wird hier zur besseren Lesbarkeit Mia genannt. Auch die zur Sprache kommenden MitschülerInnen tragen hier aus den Abkürzungen abgeleitete Namen. Relativ dazu erscheint Mias Vorschlag sozial gerecht, stimmt also mit ihrer Parteinahme für die Ärmeren überein.
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Peter Buck / Markus Rehm
Wenn das Phänomen nicht erscheint – oder: Wie viel gesellschaftlich formatierte „andere Intentionalität“ notwendig ist, wenn man adäquat über die Atome unterrichten soll
1 Das fachdidaktische Problem, das wir sehen Die Hauptüberschrift dieses Beitrags ist bewusst paradox gewählt: Nach herkömmlichem Verständnis ist „Phänomen“ ein anderes Wort für das „Erscheinende“. Demnach müsste das Phänomen ja immer erscheinen. Unterdessen ist es weitgehend anerkannt, dass es keine sinnlichen Erscheinungen gibt, die es notwendig machen, Atome zu denken. Denn erst die Zusammenschau von verschiedenen experimentellen Befunden führte – spät – zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur generellen und nicht mehr hinterfragten Akzeptanz von „Teilchen“, für die ganz andere Regeln gelten als für Sandkörnchen, Puderstäubchen oder Nebeltröpfchen. Man hatte bis zu diesem Zeitpunkt mindestens einhundert Jahre lang sehr heftig darüber gestritten, ob man Atomen eine Existenz zubilligen könne. Die moderne Physik kann also nicht auf den Atombegriff verzichten; zugleich ist in den letzten achtzig Jahren eine erdrückende Vielzahl von Befunden gesammelt worden, die deutlich machen, dass sich Atome unserer lebensweltlichen Vorstellungskraft entziehen. Der Chemiedidaktiker Ekkehard Fladt hat für die fachdidaktische Diskussion dafür den Begriff der „atomaren Anderswelt“ geprägt (Buck/Fladt 1996), und er weist daraufhin, dass die „Andersweltlichkeit“ schwer zu thematisieren sei. Die – nunmehr positiven, nicht mehr zu bestreitenden – experimentellen Befunde führen dazu, dass man von „atomaren Phänomenen“ sprechen muss, wenn man adäquat, d.h. den in den Wissenschaften akzeptierten Vorstellungen gemäß unterrichten will. Für einen Phänomenbegriff, wie er seit Hegel (1807) im philosophischen Sprachgebrauch verwendet wird oder wie er in der phänomenologischen Philosophie bei Husserl und den anderen Phänomenologen Grund legend ist, stellt die Wortverwendung unseres Titels und unserer Betrachtungsweise der Atome als „Phänomene“ kein Problem dar. Husserl stellt zu Beginn seiner V. Logischen Untersuchung klar: „Die Erscheinungen selbst erscheinen nicht, sie werden erlebt“ (Husserl 1988, 7). Wer sich dagegen auf Kant beruft, kommt zu einer anderen Betrachtungsweise, denn „was bei den sinnlichen (sensuellen) Erkenntnissen und den Phänomenen dem logischen Gebrauche des Verstandes vorhergeht, heißt Erscheinung, die diskursive Erkenntnis, welche aus der mittels des Verstandes erfolgenden Vergleichung mehrerer Erscheinungen durch den Verstand entsteht, heißt Erfahrung.“ (Kant 1958, 23; Hervorhebung PB & MR.) Für Kant würden die „atomaren Phänomene“ (welche quantenmechanischer
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Art sind) nicht „Erscheinung“ („Phänomene“) heißen dürfen, weil ihnen keine „sinnlich (sensuellen) Erkenntnisse“ „vorangehen“, sondern eben nur „Vergleichungen“ „mittels des Verstandes“. Diese Aporie hat zu gravierenden Problemen der Naturwissenschaftsdidaktik geführt; sie veranlasst, so vermuten wir, den einen oder anderen Fachdidaktiker zum sog. „Modellismus“ Zuflucht zu nehmen: „Allen Erkenntnisvorgängen liegt ein Abbildungsprozess zugrunde: ein originalseitig Vorgegebenes wird irgendwie modellseitig nachvollzogen“ (Stachowiak 1980, 53); alles Erkennen geschieht nach Stachowiak also in Modellen. Wieder andere Fachdidaktiker, bspw. die Konstruktivisten verschiedener Couleur, lösen den Widerspruch anders: Jede Erkenntnis ist ein Konstrukt; die „atomaren Phänomene“ sind lediglich „viabel“ ausgedacht. Man kann einfach nicht wissen, wie die Welt (und damit auch die „Welt der Atome“) tatsächlich aussieht. – Mit unserem Beitrag wollen wir zeigen, dass ein phänomenologischer fachdidaktischer Zugang husserlscher Prägung, wie wir ihn verstehen,“ das aufgetauchte Problem leichter bewältigt – nämlich das Problem, dass Atome im kantschen Sinne keine „Phainomena“, sondern „Noumena“ sind (Kant 1958, 19 und 27), Gedachtes also, Gedachtes welches sich lebensweltlicher, visueller, sinnlicher Anschauung verweigert. 2 Der Bezug zur Thematik dieses Bandes Der Untertitel unseres Beitrags „Wie viel gesellschaftlich formatierte ›andere Intentionalität‹ notwendig ist, wenn man adäquat über die Atome unterrichten soll“ schlägt den Bogen zur eigentlichen Thematik dieses Bandes, denn wenn die Aneignung „atomarer Phänomene“ im Rahmen naturwissenschaftlicher Bildung Sinn machen soll, geht es nicht nur um ein Kennenlernen, was Quantenphysiker erschlossen haben, sondern unabtrennbar auch um die epistemologischen Grundannahmen, die reflektiert werden müssten, soll der Unterricht über Atome auch Verstehensprozesse auslösen. Dabei begegnen die Lernenden den andersartigen „Intentionalitäten der Anderen“ (vgl. Egger/Hackl i.d.B., 7f.). Wenn es im Unterricht dann um die abstrakte Welt der Atome geht, treffen die Schülerinnen und Schüler auf die Intentionalität, nämlich ihrer Lehrpersonen, welche ihr Fach als Wissenschaft studiert haben und dabei gezwungen waren, von ihren lebensweltlichen Vorstellungen Abstand zu nehmen. Die Lehrpersonen haben dabei modellistische, konstruktivistische oder phänomenologische oder welche epistemologischen Grundannahmen auch immer entwickelt, die nun in einer „hintergründig impliziten Form“ vorliegen (ebd.), und oftmals nicht thematisiert oder reflektiert sind. Treten epistemologische Grundannahmen den eigenen Grundannahmen gegenüber, so können sie – aufeinanderstoßend – als „Bedrohung unseres Selbst“ (ebd.) erlebt werden, weil sie mit den eigenen Intentionalitäten in Widerspruch geraten. Hier, bei den „andersweltlichen Atomen“ aber stößt der oder die VerstehenWollende auf eine „vorgedachte, vorgestaltete menschliche Kultur“ (ebd.), auf eine
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andere, gesellschaftlich vorformatierte Intentionalität. Bedeutsam wird sie für den Chemie- und Physikunterricht nun interessanterweise nicht wegen ihrer Vorformatierung auf dem Gebiet der Chemie oder Physik selbst, sondern auf fachdidaktischem Gebiet, weil – meist implizit – jeder Fachdidaktik eine epistemologische Grundhaltung zu Grunde liegt. In dieser Beziehung können verschiedene fachdidaktische Traditionen (fachdidaktische Zugriffsweisen) identifiziert werden, die in diesem Beitrag in den Abschnitten 3., 4. und 5. einander gegenüber gestellt werden. Interessanterweise korrespondieren sie mit den drei unterschiedlichen Verständnissen des Verstehensakts, welche Helmstadt (1999) in einer phänomenographischen Untersuchung empirisch „gefunden“ hat (Abschnitt 6.). Die Notwendigkeit, „adäquaten“ Unterricht über die Atome zu gestalten, kann bildungstheoretisch begründet werden: Es sind dabei nicht die Atomkraftwerke und die Atomwaffen im Kontext der atomaren Auf- oder Abrüstung, die wegen ihrer das Alltagsleben bestimmenden oder ihrer lebensbedrohlichen Auswirkungen einen Physik- und Chemieunterricht über die Atome verlangen. Nein, die Atome selbst haben uns eine „Lektion“ zu erteilen, wie sie Ernst-Peter Fischer in seinem Buch „Die andere Bildung“ (2002) zum Ausdruck bringt. Die andersweltlichen Atome haben einen eigenständigen Bildungsgehalt. Sie lehren uns, wie zuerst die Physiker und dann immer breitere Schichten gezwungen waren, eine Umwertung der wissenschaftlichen Werte vorzunehmen. In einer Tabelle erläutert Fischer dies (Abb. 1):
Abb. 1: Zur „Lektion“, die die Atome im Rahmen einer „Anderen Bildung“ zu erteilen haben, gehört nach Ernst-Peter Fischer die Erfahrung der „Umwertung aller Werte“ (Fischer 2002, 165)
Fischer postuliert: Wer den Beitrag der Naturwissenschaften zur Allgemeinbildung ernst nimmt und ihm einen wesentlichen Stellenwert im Bildungsprozess zuteilt, der muss etwas über die „verschränkte Welt“ erfahren; er muss die “Lektion der Atome“
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(Fischer 2000, 160) lernen. Allgemeinbildung manifestiert sich in einem Unterricht über die Atome dann, wenn die Möglichkeit geschaffen wird die „Andersweltlichkeit“ verstehen zu wollen (Volition). Der Wille etwas anders zu denken präjudiziert das andere Denken zu können und beides, das Wollen und das Können, vereinigen sich dann zur Bildung. In einem so ausgerichteten Unterricht geht es dann nicht primär und nur um die Befunde der Quantenmechanik, sondern auch und vor allem um die Verstehensbemühungen der atomaren Phänomene selbst – die Verstehensbemühungen seitens der Wissenschaftler ebenso wie seitens der Lernenden. Die Erörterung der „gesellschaftlich vorformatierten Intentionalität“, und also die Tatsache, dass auch der Konsens der Wissenschaft ein volitionaler Akt ist, dies zu thematisieren ist ein bildender Teil der „Lektion der Atome“. Für den jetzigen Status Quo der Chemiedidaktik identifizieren wir ein Theoriedefizit, welches die notwendige Erörterung der „gesellschaftlich vorformatierten Intentionalität“ betrifft. Dies wollen wir an verschiedenen didaktischen Positionen deutlich machen. 3 Eine erste didaktische Position: „Informierende Modelleinführung“ „Zum Modelleinsatz im Chemieunterricht gibt es zwei polare Standpunkte, die sich auf den ersten Blick gegenseitig ausschließen“, heißt es in einem Basisartikel der Zeitschrift „Naturwissenschaften im Unterricht – Chemie“ zum Thema „Modelle im Chemieunterricht“ (Graf 2002, 5). „Nach Auffassung der einen Position sollen Modelle aus dem Kontext heraus im Unterricht mit den Lernenden gemeinsam entwickelt werden“, – siehe Abschnitt 4 unten – „während die Vertreter der anderen Position eine informierende Modelleinführung anstreben. Im Vordergrund steht hier die Arbeit mit den Modellen: ... Vertreter des informierenden Umgangs mit Modellen sehen den entscheidenden Vorteil ihrer didaktischen Vorgehensweise darin, dass mithilfe optimaler Modelle die steigende Stofffülle gemeistert und zudem ein ökonomischer, einprägsamer Chemieunterricht gestaltet werden kann.“ (ebd., 5) „Ökonomisch einprägsamer Chemieunterricht“? Wenn wir an unsere Lehramtsstudierenden denken, die in der Schule oftmals einen solchen ökonomisch einprägsamen Chemieunterricht genossen haben, können wir von folgenden Erfahrungen berichten: Wir geben den Studierenden bspw. den Aufsatz zu lesen „Wie wirken atomistische Modellvorstellungen auf das Naturverständnis (jüngerer) Menschen?“ (v. Mackensen 1976) und die Studierenden stolpern meistens über einen Satz wie den folgenden: „Da die Notwendigkeit und damit die Tragweite der [atomaren] Begriffsbildung für die Schüler (und mitunter auch für den Lehrer) undurchschaubar sind (im Sinne der theoretischen Physik und einer Erkenntnistheorie), läuft diese Einführung via Mitteilung auf eine Indoktrination hinaus.“ (ebd., l47)
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Die Studierenden stören sich häufig am Wort „Indoktrination“, sie fragen hier, wie denn überhaupt indoktriniert werden könne, denn alles, was sie in der Schule („informierend“!) gelernt haben, sei doch so stimmig (gewesen). Es kommt häufig ein Unbehagen auf, die Welt nun komplexer denken zu müssen, als sie zuvor informierend dargelegt wurde. Und ohne Grund will wohl niemand über Bord werfen, was ihm Wissensfundament und Orientierung zur Welterkenntnis geworden ist. Es hat sich bei ihnen ein festes, stabiles Bild von der submikroskopischen Welt gebildet, das nur schwer zu erschüttern ist, zu erschüttern eigentlich nur durch eingehende Diskussionen von selbst im Labor hervorgerufenen und gesehenen Phänomen, etwa der Expansion beim Mischen von Aceton und Heptan, wo sie doch in der Schule gelernt haben, dass eine Mischung von zwei unterschiedlichen flüssigen Stoffen mit ihren unterschiedlich großen Flüssigkeitsmolekülkugeln immer zu Kontraktionen führen (vgl. Buck 1982). Wirkungsvoll ist auch ein Gespräch über den Zusammenhalt (Kohäsion) der Stahlkabel einer Seilbahn, mit der man vom Tal über tiefe Abgründe hinweg auf den Berggipfel gelangen kann. Würden sie sich solchen Stahlkabeln anvertrauen, wo sie doch gelernt haben, dass man sich Metalle als geordnete Ansammlungen von Ionen vorstellen müsse, die durch einen „Elektronenbrei“ oder gar ein „Elektronengas“ zusammengehalten würden? (vgl. Buck 1985) Die visuelle Imaginierung der internalisierten Teilchenvorstellungen (vielleicht auch unterstützt durch ein Bild aus dem Schulbuch) wirkt angesichts eines Seilbahnfotos häufig sehr ernüchternd (Abb.2).
Abb. 2: Man versuche das Modell eines elektrischen Leiters (z.B. ein Draht aus Stahl – linkes Bild) zur Deutung der Kohäsion (z.B. die Festigkeit des Stahlkabels – rechtes Bild) zu verwenden
Häufig kann man (zumeist als Absicherungsfloskel) lesen: „Bei der Modellkonstruktion sollte stets das Falsifikationstheorem des Kritischen Rationalismus von Karl. R. Popper zugrunde gelegt werden. Jeder Modellnutzer sollte sich bewusst sein, dass es zwar im Laufe der Zeit im Idealfall eine Annäherung von Realität und Modell geben
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wird. Realität und Modell werden aber prinzipiell nie die gleichen Merkmale haben“ (Graf 2002, 8). Aber ist dem so? Fallstudien von Fischler (1996) zeigen: Es kommt durchaus und auch typischerweise vor, dass Lehrpersonen in einem Interview zunächst (und nur einmal) den „Modellcharakter“ ansprechen, und im weiteren Verlauf über ihren Physikunterricht ausschließlich in „realistischen“ Termini sprechen. Und genau so hat man im genannten Themenheft „Modelle im Chemieunterricht“ nicht den Eindruck, dass sich die Autoren wirklich dieser Forderung „bewusst“ sind: Zum Beispiel bei dem Vorschlag, wie man „mit Modellen die wichtigsten Begriffe“ – „Aggregatzustände“, „Die chemische Reaktion“ oder „Erdöldestillation“ – „verstehen und erlernen“ kann. (Haupt 2002, 13-15), oder wenn man sich den Unterricht „Einführung eines Kern-Hülle-Modells“ (Roloff 2002) vorzustellen versucht, in dem „zwei Stunden zunächst in einem Lehrervortrag das Kugelwolkenmodell vorgestellt [wird]. Hierbei müssen sukzessive folgende Mitteilungen gemacht bzw. Regeln aufgestellt werden.“ Es folgt eine Liste von sieben „Mitteilungen bzw. Regeln“; diese werden in diesem Unterricht „mit Hilfe von Magnetapplikationen an der Tafel sukzessive entwickelt.“ (ebd., 21). – Da gerät das „Falsifikationstheorem“ von Herrn Karl R. Popper schon mal leicht in Vergessenheit. Es ist schwer vorstellbar, wenn man sich den in dem besagten Zeitschriftenheft beschriebenen Unterricht vor seinem geistigen Auge ausmalt, wie das Lernen mit Modellen auf diese Weise „dazu beiträgt, dass die Schülerinnen und Schüler zu mündigen Bürgern erzogen werden, sich bilden und die Welt zunehmend auch mit ‚chemischen Augen’ sehen lernen“ (Graf 2003, 4). Weder der „mündige Bürger“ noch die „mündige Bürgerin“ zeichnen sich für uns hier auch nur im Entferntesten ab, auch Bildung nicht, nein auch nicht naturwissenschaftliche Allgemeinbildung, ob im Sinne einer Scientific Literacy oder ob im Sinne von Fischers „Andere Bildung“ (Fischer 2003). Wir glauben hier eher eine Form von „Halbbildung“ zu identifizieren, die der Denkerfahrung völlig entsagt und lediglich dinghafte Vorstellungen der Teilchenwelt abbilden will. Die dort vermittelten Teilchen- und Atommodelle weisen nicht auf irgendeine „Anderswelt“ hin und mögliche Verstehensprozesse sind an den Lernenden vorbei gegangen, ja sie sind ihnen vorenthalten worden. In ihrer Schulbuchanalyse verweist Mikelskis-Seifert (2002, 31) darauf, dass „eine unangemessene Darstellung des Modellaspekts“ das Problem verschärft: „Anstatt den artifiziellen Charakter der Teilchenmodelle in den Vordergrund zu stellen, bedient man sich in ... [zahlreichen] ... Schulbüchern eines induktiven Zugangs zur Teilchenstruktur der Materie. In diesen Schulbüchern werden die Schüler mit empirischen Beweisen für die Richtigkeit der Teilchenvorstellung konfrontiert, so dass sie durch die Texte in ihrer naiv-realistischen Sichtweise bestärkt werden.“ Hört hat im Jahre 2000 eine repräsentative Umfrage an Realschul-Chemielehrern Baden-Württembergs durchgeführt, wie sie die Teilchenvorstellung einführen. 88 % der Antwortenden wählt eine solche „informierende Einführung“. Fast 40 % hält eine
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„Unterscheidung von sichtbarem Phänomen und atomarer Welt“ nicht für notwendig. (Hört/Buck 2003). Die Studie von Bildernagel und Eilks (2008, 2009a, 2009b) zeigt, dass eine große Mehrheit der Lehrkräfte – so Bindernagel und Eilks – davon ausgeht, dass eine Abfolge verschiedener historischer Modelle der ‚klassische Weg‘ sei, wie im Chemieunterricht zu verfahren sei. Auch diese Lehrkräfte wählen unseres Erachtens eine „informierende Einführung“. 4 Eine zweite didaktische Position: Modelle, die aus dem experimentellen Kontext heraus im Unterricht mit den Lernenden gemeinsam entwickelt werden Wir zitierten den Moderator des Heftes „Modelle im Chemieunterricht“ (Graf 2002, 4) bereits mit der Bemerkung, dass es zwei sich gegenseitig ausschließende Positionen gibt, wie Modelle zur Teilchenstruktur der Materie eingeführt werden sollten. Die Gegenposition zur „informierenden Einführung“ (Abschnitt 3) ist der Auffassung, dass Modelle „aus dem Kontext heraus im Unterricht mit den Lernenden gemeinsam entwickelt werden“ müssten. Die Arbeitsgruppe um Rosalind Driver an der Universität Leeds, bekannt für Ihre Erforschung der kindlichen Vorstellungen, die Schülerinnen und Schüler in den naturwissenschaftlichen Unterricht einbringen (z.B. Driver 1992), hat im Rahmen ihres CLIS-Projekts (Children's Learning in Science – Driver et al. 1987) als eine der Ersten zusammen mit den Schülern Teilchen-Vorstellungen entwickelt, die die empirisch gefundenen Eigenschaften der Gase deuten sollen. Auch andere Unterrichtsansätze, die ebenfalls die Eigenschaften von Gasen zu deuten versuchen, liegen von Novick/Nussbaum (1985), Meheut/Chomat (1990), Vollebregt (1998) und Rohr (2005) vor. Bei diesen Ansätzen steht der Gedanke im Hintergrund, dass es das Gebiet der Gasgesetze war, in dem erfolgreich eine Deutung der Befunde mit Teilchenvorstellungen (in der von Boltzman begründeten statistischen Thermodynamik) gelang. Es sind hier funktionelle Zusammenhänge von Observablen (z.B. der Zusammenhang gemessener Volumina und gemessener Temperaturen oder gemessener Drucke), die gedeutet werden, und die Lernenden werden mit einfachen Versuchsanordnungen in eine ähnliche Lage gebracht, wie die Wissenschaftler boltzmannscher Denkweise am Ende des 19. Jahrhunderts. Die genannten Ansätze, nach denen die Lernenden selbst Teilchenmodelle für die Gasgesetze entwickeln, wurden alle aus dem konstruktivistischen Paradigma heraus entwickelt, das davon ausgeht, dass man Naturwissenschaften nicht einfach als Wissensvermittlung („Wissensübertragung“) lehren kann, sondern damit rechnen muss, dass die Lernenden ihr Wissen auf andere Weise konstruieren, als die wissenschaftlich ausgebildete Lehrperson dies erwartet. Und in der Regel beobachtet man (durchaus im Sinne dieses konstruktivistischen Ausgangspunktes), dass „in fast jeder teilnehmenden Klasse ... einige Schüler gefunden werden, die bei den [Deutungs]aufgaben etwas mit Teilchenvorstellungen erklären. Aber selbst diese Schülerinnen und Schüler
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zeigten wenig Konsistenz in der Art, wie sie mit solchen Vorstellungen umgingen, indem sie Teilchenvorstellung(en) zur Erklärung des einen Phänomens heranzogen und das andere Phänomen mit anderen Vorstellungen deuteten. Und wenn sie gefragt wurden, wie sie auf die Teilchenvorstellung(en) gekommen sind, bekannten sich nur wenige zu einer eigenen Urheberschaft, während die meisten sich auf früheren Unterricht (oft in der Grundschule) oder Fernsehprogramme oder Bücher beriefen“ (Johnston 1990, 250). Auch wir selbst haben solche Inkonsistenzen beobachtet (Buck/ Stavy/Tirosh 1995), deuten sie aber als Zeichen von Plastizität des Denkens: Anfänger müssen auf verschiedenen Denkwegen nach Antworten suchen, wenn sie mit der Vielfalt der sich ihnen bietenden Welt zurecht kommen wollen! Es taucht also ein Dilemma auf: Will man Modelle aus dem Kontext heraus im Unterricht mit den Lernenden gemeinsam entwickeln, dann kommt man nur vereinzelt und nicht insgesamt mit allen Lernenden zum Ziel. Aus einer kritischen Position dem Konstruktivismus gegenüber macht Matthews (1994) Driver und ihrer Arbeitsgruppe den Vorwurf, letztlich würden die Kinder eben doch gezwungen, die „richtigen“ Vorstellungen zu konstruieren; und auch ihr Unterricht sei letztlich eine „transmission of knowledge“ (ebd., 167), also „Übermittlungsunterricht“ oder boshaft übersetzt „Keilriemen-Unterricht“. Dieser Vorwurf ergibt sich aus einer generellen Unzulänglichkeit des konstruktivistischen Ansatzes, er gebe keine Mittel in die Hand, Lernende das „Richtige“ lernen zu lassen, das was die Wissenschaft herausgefunden habe und in den Lehrplänen vorgeschrieben sei. 5 Eine dritte didaktische Position, genannt „Der Sprung zu den Atomen“: die mäeutische Auseinandersetzung mit der vorgefundenen Welt Wie kommt man aus diesem Dilemma heraus? Informierend die Atome zu lehren führt dazu, dass ihre Beschaffenheit, ihre „Andersweltlichkeit“, also etwas Wesentliches auf der Objektseite nicht erfasst würde (vgl. oben 3. Abschnitt). Aus klassischen Kontexten heraus, etwa Erklärung für die gefundenen Eigenschaftsveränderungen von Gasen zu finden, wie der Physiker Boltzmann das ursprünglich getan hatte, führt bei einer nur sehr geringen Zahl von Lernenden zu einer atomistischen Deutung (vgl. oben 4. Abschnitt). Die Atome lassen sich nicht aus sinnlicher Erscheinung zwingend ableiten, denn sie sind letztlich gedachte Erscheinung, und zwar mittlerweile zwingend gedacht, so dass wir ihre Existenz ebensowenig leugnen können, wie wir leugnen können, dass S eine Zahl ist und kein Faktor, oder dass ein Tesserakt ein durchgängig rechtwinkliges vierdimensionales Gebilde mit 8 begrenzenden Würfeln und 16 Eckpunkten ist. Was in der Wissenschaft Physik oder in der Wissenschaft Chemie mit ‚Atomen‘ gemeint ist, kann offensichtlich nur im Sprung gelernt werden. Man muss an den Rand einer Aporie geführt werden, auf eine vermeintliche Unmöglichkeit, um dann doch einen Absprung zum anderen Ufer der abstrakten Welt zu finden, wo Doppeldeutigkeit, Unstetigkeit, Unanschaulichkeit und Unbestimmtheit herrschen (vgl. Abb. 1).
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Dieser Sprung wird im Gespräch vollzogen; die Unterrichtsform, in der dieses Gespräch stattfindet, ordnet der Lehrperson eine Hebammenfunktion zu: Sie muss nicht die Erkenntnis verkünden, sondern bei der Geburt einer Erkenntnis assistieren; daher heißt der dafür notwendige Unterricht „mäeutisch“. Wagenschein hat dazu einen Vorschlag gemacht: Man solle den Lernenden die Brown’sche Bewegung zeigen, im Mikroskop und/oder projiziert. „Man setze sie vor den Schirm und sage möglichst nichts. Man lasse sie beschreiben, was sie sehen. Auf einer höheren Schulstufe wird die Diskussion darüber weitergehen, denn es handelt sich hier um ein Motivations- und Initiationsphänomen ersten Ranges.“ (Wagenschein/Buck 1984, 10). Über diesen Vorschlag gab es vor 10 Jahren eine heftige Diskussion, denn Dahlmann (1997) hatte Wagenschein vorgeworfen, auch er betreibe „Indoktrination“, vorsätzlich, weil er die Schüler zu „materialistisch-mechanistischen“ Bildvorstellungen verleite. Später schwächte Dahlmann ab (1998, 255): „Wagenschein selbst ist indoktriniert“. Er verwende einen inadäquaten „Vokabelschatz“ und ignoriere die physikalischen Grundgesetze, wodurch ein falscher Eindruck von der wahren Beschaffenheit der atomaren Welt entstehe. Dahlmanns Vorwürfe hören sich an wie die polemische Version des Bedenkens, mit dem Mikelskis-Seifert (2002, 31) oben im Abschnitt 3 bereits zitiert wurde: „Anstatt den artifiziellen Charakter der Teilchenmodelle in den Vordergrund zu stellen, bedient man sich ... eines induktiven Zugangs zur Teilchenstruktur der Materie“. Obendrein: „ein Thema, einfach vom Lehrer hingesetzt“ (Dahlmann 1998, 252). Buck (1998) hat die Anklage Dahlmanns entschieden zurückgewiesen – im Tenor dahingehend, dass Dahlmann Wagenscheins Intentionen verkannt habe. (Die beiden Interpretationen sind in Abb. 3 einander gegenübergestellt.) In der physikalischen Argumentation widerspricht Buck dabei nicht. Er zieht lediglich einen weiteren, nach ihm zentralen, pädagogischen Gesichtspunkt hinzu. – Gleichwohl bleibt an Wagenscheins Vorschlag ein Hauch von Unbefriedigung hängen. Wird es ihm nicht ähnlich ergehen wie den Unterrichtsversuchen, die Modelle gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern entwickeln wollen (vgl. Abschnitt 4.)? Wagenschein hat also mit seinem Vorschlag, die Lernenden das Phänomen der Brown’schen Bewegung vor einer Großprojektion des Versuchs erleben zu lassen und dabei zu hoffen, sie würden dann den Weg zur Anderswelt selbst finden, die Aufgabe offensichtlich nicht gelöst. Dahlmann hat Recht: Das mit den Augen Gesehene „zwingt nicht“, an Atome oder andersweltliche Teilchen zu denken. Und Buck bringt in seiner Verteidigung Wagenscheins eigentlich nur vor, dass Wagenschein den Weg zur Anderswelt nicht verbaut. Aber das ist ja noch nicht eigentlich ein „Initiationsphänomen ersten Ranges“. Und man muss sich Millars Urteil wohl anschließen, der betont: „Particle ideals must be taught ostensively“ (Millar 1990, 290) - Man müsse Teilchenvorstellungen durch Hinzeigen („ostensively“) lehren. Aber wie zeigt man auf etwas, das sich den Sinnen nicht zeigt und nur Denkforderung ist?
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WAGENSCHEINs Text
DAHLMANNs Interpretation
BUCKs Interpretation
Ein Motivations-, ein Initiationsphänomen ersten Ranges:
erneute methodische Bewertung des Phänomens
didaktische Bewertung des Phänomens: ...
Die Fragen drängen sich: Warum bewegen sich die Stäubchen?
Ausgangsproblem
... es löst sachliche Motivation aus: die Fragen beginnen zu sprudeln:
Sind sie lebendig?
Hypothese 1: Die Stäubchen sind lebendig.
Warum bewegen sich die Stäubchen? Aus der Alltagserfahrung ergibt sich: Was sich selbsttätig bewegen kann, ist (meist?) lebendig.
Nein: gewöhnliche Russbröckchen, Kristallsplitter, Fetttröpfchen tun das.
Widerlegung: Es gibt hier keine lebendig-spontane Bewegung!
Wenn sie nur winzig genug sind und nicht auflösbar. Sie „bewegen sich“ also gar nicht, nicht „freiwillig“, tun selber nichts, tun nur mit!
Zusatzprämisse: Sie sind winzig genug und nicht auflösbar.
Einwand: Also doch nicht lebendig! Die Sache bleibt also rätselhaft!
Wo aber ist der Treiber? –
Hypothese 2: Es ist ein äußerer Treiber, ein Verursacher da.
Neue Spekulation: Was sich bewegt, muss einen Treiber haben!
Das kann nur das Wasser sein.
Ad-hoc-Erklärung als Hypothese 3: Es ist das Wasser.
Bleibt wohl nichts anderes übrig als Wasser!
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Aber das Wasser ist doch ganz still?
Schlussfolgerung: Also kann das Wasser eigentlich nicht der Treiber sein. Daraus folgt jedoch nicht eine grundlegende Änderung, sondern eine Anpassung der Vorstellung; und zwar im Sinne der angestrebten „atomistischen“ Deutung entgegen der Sinneswahrnehmung als
Erneuter Einwand. Es wird immer merkwürdiger! Wagenscheins Anlauf zum Sprung vom lebensweltlichen Verstehen zum physikalischen Verstehen.
Offenbar doch nicht. Die Hypothese ist kaum zu umgehen: Wir müssen uns im tiefsten Innern des Wassers eine ständige stoßende Unruhe vorstellen (der Physiker Lenard nannte sie „Kleinwimmel“), eine ganz geheime Aufruhr, ein MikroFiebern, ein unaufhörliches, das immer da ist, das einfach dazugehört zur Materie und zur Wärme.
Hypothese 4: Wasser kann und darf nicht still sein. Kleinwimmel („Dauerwimmel“) „im tiefsten Innern“ (also in der nichtsinnlichen Unternatur, deren kontinuierliche oder diskontinuierliche Eigenschaft wir grundsätzlich nicht erkennen können) als neue „Erklärung“ aufgrund des materialistisch-mechanistischen Paradigmas: Die Unruhe wird vermittels Bildersprache materialisiert, in ständig stoßende, wimmelnde Einzelteilchen verwandelt, die wir nicht wahrnehmen, sondern uns nur „vorstellen“ können („kleinstes Teilchen“ als hypothetisches Konstrukt). Allein schon der Begriff „stoßen“ setzt üblicherweise einzelne mechanische Objekte voraus. Doch phänomenologisch „ist“ die Unruhe einfach „da“ – das ist es und nichts mehr! „Stoßen“ ist Hypothese. In Wirklichkeit ist das Staubkörnchen selbst unruhig, obwohl es das nach dem 2. Hauptsatz nicht sein dürfte.
Hier wird er gemacht, der Sprung zur Andersweltlichkeit: Bei der „stoßenden Unruhe“ „im tiefsten Innern“ ist es irgendwie anders! Vage, undeutliche Sprechweise charakterisiert das Rätselhafte, das in den DenkHorizont tritt. Neue Fragen könnten auftreten, etwa: „Wo ‘wohnt’ sozusagen die stoßende Unruhe?“ – „In den winzigen ‘Räumen’ seines ‘tiefsten’ Inneren’ wohl!
Abb. 3 Wagenscheins Vorschlag zur Thematisierung der Atome und ihm dabei unterstellte Intentionen. (aus Buck 1998, 158)
Wir gehen seit vielen Jahren den folgenden Weg: Wir betrachten – kurz gesagt – die materielle Welt als ein verschachteltes System: Der ‚menschliche Kopf’ ist Komponente des Systems ‚menschlicher Körper’. Ein einzelnes ‚Haar’ ist Komponente des Systems ‚Kopf’. So stellt sich heraus, dass alle wägbare Materie von den kosmischen Spiralne-
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beln bis zu den Elementarteilchen der Physik (fast) immer System und zugleich Komponente des nächst „höheren“ Systems ist. Nun hat jedes System eigene, neue Eigenschaften, die die Komponenten einzeln nicht haben und umgekehrt (ausführlich vgl. Rehm/Buck 2006). Das meist unvorhersagbare Hervorgehen neuer Eigenschaften („Emergenz“), ist ebenso wie der Systemgedanke mittlerweile auch in den Naturwissenschaften eine anerkannte Denkfigur (vgl. Clayton 2008, Kapitel III). Durchdenkt man dies mit den Schülerinnen und Schülern in aller Gründlichkeit, ist es nicht mehr verwunderlich, dass die Atome als Komponenten der Stoffportionen andere Eigenschaften haben als die Stoffe selbst und auch andere Eigenschaften als die Protonen, Neutronen und Elektronen, die die Atome komponieren. Mit unserer Atome-Didaktik respektieren wir den „Hauch der Unbegreiflichkeit“, der der Anderswelt der Atome nun mal anhaftet, wir berücksichtigen, dass Denken und sinnliche Wahrnehmung beide nötig sind, um das Phänomen ‚Atom’ zu fassen. „Wir verzichten auf Erklärungen durch Modelle und geben den Modellen einen anderen Stellenwert“ (vgl. Buck, Rehm/Seilnacht 2004). Und vor allem tun wir, was Marton/Booth in ihrer phänomenologisch fundierten „pedagogy of awareness“ (1997) raten: wir bauen eine „Relevanzstruktur“ auf, in der das zu Verstehende eingebettet ist, indem wir ein Ordnungssystem für alle wägbaren Erscheinungen der Welt mit den Lernenden ausprobieren. Und wir lassen sie die eigenständige Denkerfahrung machen. Wir vertreten dabei keinen Instruktionsansatz, sondern vielmehr ein Lehr- und Lernarrangement, das bildungswirksam sein will, indem es die Schülerinnen und Schüler zwar aufklärt, wie (manche) Chemiker denken, aber letztlich doch und idealerweise einen Rest von Rätselhaftigkeit oder sogar Unbegreiflichkeit seitens aller Beteiligten – Lehrpersonen wie Schülerinnen und Schüler – ausdrücklich anerkennt. Wir streben also letztlich ein Bewusstwerden der gesellschaftlichen Formatierung des wissenschaftlichen Wissens bei den Lernenden an und vertreten damit eine pädagogische Position, die eigenständiges Verstehen als Prozess zu einer tragfähigen Allgemeinbildung favorisiert, in der die kulturelle Teilhabe (zum Beispiel die gesellschaftliche Formatierung des wissenschaftlichen Wissens) ausdrücklich ihren Platz hat. Im Sinne des naturwissenschaftlichen Unterrichts sollen damit Verstehensprozesse zu einer tragfähigen allgemeinen naturwissenschaftlichen Bildung führen. 6 Die Kohärenz der fachdidaktischen Positionen mit den von Helmstad gefundenen Verstehensverständnissen Fassen wir zusammen, welche Intentionalitäten mit den in den Abschnitten 3, 4 und 5 skizzierten fachdidaktischen Ansätzen verbunden sind. Mit Intentionalität meinen wir im Sinne des Husserlschen Wortgebrauchs (z.B. in Husserl 1988, § 16 und 17), die Bewusstseins-Ausrichtung einer (hier didaktisch) handelnden Person. Da Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas ist, ist es also inhaltlich ausgerichtet. Was will die Lehrperson mit ihrem professionellen Tun bewirken oder was meint sie bewirken zu sollen,
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wenn sie zum Beispiel ihren Unterricht im Sinne einer „informierenden Modelleinführung“ (Abschnitt 3.) gestaltet? Oder wenn sie „den Sprung zu den Atomen bei ihren Lernenden“ (Abschnitt 5.) vorbereiten will? (vgl. die bei Egger/Hackl i.d.B. grundsätzlich ausgeführte Problematik) Beim Herausarbeiten der Intentionalitäten der drei angesprochenen fachdidaktischen Positionen fiel uns auf, dass sie den Typen entsprechen, die Helmstad (1999) in einer phänomenographischen Untersuchung über das „Verstehen“ herausfand: Helmstad untersuchte, was Menschen unter der Tätigkeit oder dem Vorgang des Verstehens verstehen, er präparierte in seiner Untersuchung drei Hauptformen des Verständnisses von verstehen heraus:
reception understanding - verstehen als die Übernahme von Fakten acquisition understanding - selbst-erarbeitetes Verstehen realization understanding - Verstehen als Vorgang im Bewusstsein
Fachdidaktische Position - „informierende Modelleinführung“ Bei der „informierenden Modelleinführung“ können wir den intentionalen Hintergrund so charakterisieren: Im Chemie- und Physikunterricht muss eine „Stofffülle“ „gemeistert“ und „eingeprägt“ werden (Wortstämme aus Graf 2002, 5). Wenn es der Lehrperson gelingt, die Übermittlung des Wissensbestandes effektiv zu bewerkstelligen, haben ihre Schülerinnen und Schüler am Ende „verstanden“. Verstehen meint dann genau das, was Helmstad reception understanding nennt, denn das zu lernende Wissen sei faktisch und diese Art von Verstehen kennzeichne die Übernahme (reception) dieser Fakten. Fachdidaktische Position -„Modelle gemeinsam entwickeln“ „Modelle gemeinsam“ auf der Basis von Beobachtungen zu „entwickeln“ (Abschnitt 4) entspricht genau der Tätigkeit, die zu einem acquisition understanding, zu einem Verstehen durch Selbst-Erarbeitung führen soll. Fachdidaktische Position – mäeutischer Unterricht Schließlich der „mäeutisch“ organisierte Unterricht (Abschnitt 5), in der es um persönliche Sinngebung geht für die aus Lehrbüchern gewonnenen Erkenntnisse der Wissenschaften Physik und Chemie. Diese sollen, so die Intentionen der mäeutisch unterrichtenden Lehrpersonen, persönlich von den Lernenden eingesehen werden. Helmstad nennt diese Form des Verstehens realization understanding. Der Verstehende hat bewusst verstanden, ihm macht etwas Sinn, er versteht nicht nur Fakten („informierenden Modelleinführung“ Abschnitt 3) und Zusammenhänge („Modelle gemeinsam entwickeln“ Abschnitt 4), sondern auch how something works, wie etwas Sinn macht, „funktioniert“. Er hat Evidenz erlebt. (vgl. Helmstad 1999)
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Peter Buck / Markus Rehm
In der Schule finden wir sowohl bei den Lehrpersonen als auch bei den Lernenden hauptsächlich das empfangende Verstehen, manchmal das Verstehen, das durch das selbstständige Erarbeiten zustande kommt und eher selten das durch Evidenz hervorgebrachte Verstehen. Und das hat zur Konsequenz, dass die Auseinandersetzung mit der Intentionalität des Anderen (der Lehrperson oder den lernenden Personen), die zumal vorformatiert ist, unvermeidlich bleibt. Hierfür ist in dem mäeutisch ausgelegten „dritten“ didaktischen Zugang (vgl. Abschnitt 5.) ausdrücklich Themenraum und Diskussionszeit vorgesehen. Wir haben unseren mäeutisch orientierten Unterricht in Abschnitt 5. nur sehr rudimentär vorgestellt; ausführlicher aber in unserem Buch „Der Sprung zu den Atomen“ (Buck/Rehm/Seilnacht 2004).
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Wenn das Phänomen nicht erscheint
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Prozessuale Formung
Sonja Hnilica
Schulbank und Klassenzimmer – Disziplinierung durch Architektur
Einleitung Adolf Lorenz 1888 leitete seinen Artikel Die heutige Schulbankfrage mit der Bemerkung ein, dass „unsere Lehrjahre auch Sitzjahre heißen“ könnten (Lorenz 1888, I). In Preußen verbrachte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstmals in der Geschichte praktisch die gesamte Bevölkerung eines Staates einen großen Teil ihrer Kindheit und Jugend in der Schule sitzend. Sitzend in speziellen Bänken, die in einer intensiven Fachdebatte von Pädagogen, Ärzten und Architekten gemeinsam entwickelt wurden. Der Krefelder Schuldirektor Wilhelm Buchner konstatierte 1868, die Schulbank sei ein „Geräth“, „an welches unsere Jugend vom 6. bis 16. Jahre wöchentlich durchschnittlich 28-30 Stunden lang gebannt ist“, und „von dessen gesundheitsgemäßem Bau das Augenlicht, die kräftige Brust, der gerade Wuchs von Hunderttausenden von Kindern abhängt.“ (Buchner 1869, 44) Die These dieses Beitrags ist: Die Schulbank als in Reihen aufgestellte und fix mit dem Pult verbundene Sitzgelegenheit wurde als technischer Apparat gesehen, um den Körper zu formen, und über den Körper auch den Geist. Die Schulbank ist damit der Kern, der Kristallisationspunkt einer disziplinierenden Schularchitektur. Die Debatte um die Schulbank ist ein gesamteuropäisches Phänomen des langen 19. Jahrhunderts. Preußen wurde hierbei von Fachvertretern als die führende Nation angesehen. Preußen hatte ein in seiner Einheitlichkeit neuartiges staatliches Schulsystem aufgebaut. Zu den wichtigsten Neuerungen gehörte die tatsächliche Durchsetzung der schon seit langem existierenden Schulpflicht mit einer Alphabetisierungsrate von annähernd 100%. Das Land wurde in zwei Wellen 1820-1835 und 1865-1880 mit Schulbauten bestückt, die als Bautyp völlig neu konzipiert wurden (vgl. Jeismann/Lundgren 1987, 127). Sie bestanden im Wesentlichen aus einer Aneinanderreihung identischer sogenannter Klassenzimmer, die um einige weitere Räume wie Lehrerzimmer, in den Volksschulen zunächst auch noch Lehrerwohnungen, und spezielle Fachräume ergänzt wurden. Fixer Bestandteil dieses neuen Raumtyps war die Schulbank, die in jahrzehntelanger Forschungstätigkeit von Architekten, Ärzten und Pädagogen entwickelt worden war. Die große Zahl von Publikation zur „Schulbankfrage“ lässt die Bedeutung erahnen, die der Problematik beigemessen wurde. Hier seien exemplarisch einige Beispiele genannt: Schuldirektor Mader aus Olmütz wies 1869 noch darauf hin, dass er seine Kompetenz in der Schulbankfrage durch eigene Umschau in vielen Schulen Deutsch-
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lands, das Studium von Schriften sowie eigene Versuche erlangt habe (Mader 1869); Adolf Lorenz verwies 20 Jahre später auf 30 Aufsätze und Bücher zur Thematik zwischen 1860 und 1888 (Lorenz 1888); Leo Burgerstein und August Netolitzky führten in ihrem Handbuch der Schulhygiene 1895 bereits 104 Publikationen auf (Burgerstein/Netolitzky 1895, 96ff.); Wilhelm Rettig konnte sich 1909 auf „vier ausführliche Verfügungen königlicher Regierungen über die von ihm konstruierte Schulbank und 25 eingehende Gutachten von städtischen Verwaltungen, Schulmännern u.a.“ berufen (Rettig 1909, 29). Der bekannte Augenarzt Hermann Cohn aus Breslau reiste zu drei Weltausstellungen, um die dort gezeigten Schulbänke und -bauten zu sichten und zu kommentieren (u.a. Cohn 1873). Das Problem des Sitzens in der Schule wurde zunächst wissenschaftlich definiert und sollte dann technisch gelöst werden. Im Folgenden möchte ich die Bedeutung von Architektur und Mobiliar für die schulische (Körper-)Erziehung herausarbeiten (ausführlicher vgl. Hnilica 2003). Schularchitektur wird von Machtdispositiven geprägt und verortet gleichzeitig Individuen. So trägt sie zur Konstruktion von Identität bei. Sie ist Ort und Instrument für Rituale und repräsentiert gesellschaftliche Werte. Architektur in ihrer raumbildenden, physischen Substanz kann Personen isolieren oder Verbindungen schaffen, Blicke inszenieren und körperliche Bewegung steuern. Im Zusammenwirken mit gesellschaftlichen Normen und sozialen Praktiken kann Schularchitektur so Hierarchien etablieren. In ihrer Zeichenhaftigkeit transportiert sie gesellschaftliche Werte und Normen – und das im Vergleich zu anderen Medien in besonders dauerhafter Form. In der Architekturgeschichtsschreibung handelt es sich bei der Schulbank um ein Randphänomen, dem bislang wenig Beachtung geschenkt wurde, wohl weil es sich bei der Schulbank nicht um ein baukünstlerisches Thema handelt. Für die historische Bildungsforschung der Schweiz, von Seiten des Möbelbaus und in der deutschen Medizingeschichte liegen dazu bereits detaillierte Untersuchungen vor (Kost 1985; Müller, Schneider 1998; Vom Berg-Hefermehl 1969). 1 Die Schulbankfrage Einen kurzen Blick weiter zurück in die Geschichte der Schule ist nötig, um die Neuerungen des 19. Jahrhunderts voll zu würdigen. Seit dem Mittelalter – und in ländlichen Volksschulen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein – wurde im Wesentlichen in ähnlichen Räumen unterrichtet. Es gab keine spezifische Schularchitektur, das Haus des Lehrers war gleichzeitig Schulraum; hinzu kamen adaptierte Räume in Klöstern oder Ähnliches, spezielles Mobiliar gab es kaum.
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Der niederländische Genremaler Jan Steen verewigte um 1650 eine turbulente Dorfschulszene.
Abb. 1: Jungen- und Mädchenschule von Jan Steen (um 1650) (Edinburgh, National Galleries of Scotland)
Mag das Chaos auch nicht ganz den historischen Tatsachen entsprechen, so wird doch immerhin deutlich, dass die heute üblichen Methoden des Massenunterrichts, wie Jahrgangsklassen, das frontale Unterrichtsverfahren und vor allem das gemeinsame Fortschreiten der Schüler beim Lernen in den ländlichen Volksschulen noch unbekannt waren. Der Lehrer und seine Frau sitzen an einem Pult in der Mitte eines großen Raums, dem Haus der Lehrerfamilie. Entlang der Wände ist eine Anzahl roh gezimmerter Tische und Bänke aufgestellt, wie in einem Wirtshaus. Die Schüler stehen, sitzen, knien oder liegen auf Boden, Tischen, Bänken, Stühlen, Fässern. Mädchen und Buben aller Altersstufen führen Aufgaben aus, schlafen, spielen, diskutieren oder raufen, während einzelne Kinder von der Frau des Lehrers unterwiesen werden. Im Vordergrund kniet ein Schüler beim Schreiben auf der Bank, ein zweiter Schreibender hat den Kopf auf die Tischplatte gelegt, auch der Lehrer lehnt ganz entspannt in seinem Sessel. Diese Freiheit der Sitzhaltung geht auf jahrhundertealte Gewohnheiten zurück.
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200 Jahre später war das nicht mehr akzeptabel. Buchner definierte die korrekte Schreibhaltung: „Wir rücken den Stuhl so weit unter den Tisch, daß die vordere Stuhlkante unter die Tischkante zu stehen kommt, und wenn wir uns beim Schreiben anlehnen wollen, wol noch weiter. Der Oberschenkel liegt völlig bis zur Kniebeuge auf, der Unterschenkel steigt senkrecht abwärts, der ganze Fuß steht auf. Der Unterarm liegt ganz oder fast ganz auf dem Tische. Der Oberkörper hält sich gerade, parallel mit der natürlich geradlinigen Tischkante; der Rücken stützt sich auf die Lehne; nur eine leichte Vorbeugung des Nackens ist erforderlich, um das Abwärtsblicken der Augen zu unterstützen. So entsteht eine vollkommen bequeme, nicht ermüdenAbb. 2: Korrekte Schreibhaltung, Werbeaufnahme um de, sich stets gerade haltende Schreib1968 (Müller/Schneider 1998) stellung.“ (Buchner 1869, 45) Die Tätigkeit des Schreibens beanspruchte nicht nur die Schreibhand, sondern den Körper als Ganzes und wurde darüber hinaus bis in die kleinste Geste zerlegt. Burgerstein und Netolitzky führten aus: „Die Hand soll beim Schreiben derart gestellt sein, daß der Handteller nur wenig nach links geneigt ist. Der Kleinfingerrand des Handtellers berühre die Schreibfläche nicht; die Hand ruhe auf der äußeren Kante des Nagelgliedes des kleinen Fingers, welcher leicht gebeugt sein soll, gleich dem auf ihm ruhenden Ringfinger, auf welchem sich wiederum der Mittelfinger und durch denselben die ganze Gruppe der drei den Federhalter führenden Finger zu stützen hat. Der Zeigefinger bilde einen ganz flachen Bogen ohne Knickung.“ (Burgerstein/Netolitzky 1895, 253) War die „richtige“ Haltung einmal derart genau definiert, konnte jede abweichende Haltung in der Folge als „falsch“ klassifiziert werden. Der Orthopäde Daniel Gottlob Moritz Schreber betonte 1858 die vielfältigen und schweren gesundheitlichen Gefahren einer falschen Schreibhaltung (Schreber 1858, 200). Diese einschneidenden Veränderungen in der Körperauffassung beschrieb Michel Foucault in seinem 1975 erschienenen Buch Überwachen und Strafen: „Eine gute Schrift setzt beispielsweise eine ganze Gymnastik voraus: eine Routine, deren rigoroser Code den gesamten Körper von der Fußspitze bis zum Zeigefinger erfasst.“ (Foucault 1976, 195) Der Körper
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wurde als besondere Art Maschine verstanden, bei der eine effiziente Manipulation der Einzelteile zum bestmöglichen Gesamtapparat führen würde. Die bis ins Detail zerlegten, erforschten und anschließend sorgfältig eingeübten Bewegungen wurden in der Folge als „organisch“ bezeichnet. Es ging also beim Schönschreiben weniger um das Produkt, die Schrift, und schon gar nicht um den Inhalt des Schriftstücks, sondern um die Tätigkeit des Schreibens an sich.
Abb. 3: Schreibender Android von Pierre de Jaquet Droz, Ende 18. Jh. (Feldhaus 1908)
Aus den detailliert formulierten Anforderungen erwuchs eine jahrzehntelange Debatte um die richtigen Abmessungen der Schulbank, sei es der Neigungswinkel der Pultplatte, die Höhe des Fußbretts oder die Ausbildung der Lehne. Die Schulbankfrage wurde damit zu einem zentralen Anliegen der Schulhygiene. Wenn man aber die Unterrichtspraxis bedenkt, so zeichnet sich ein konstruktives Dilemma ab. Zum korrekten Schreiben musste man den Stuhl unter den Tisch ziehen. Die Kinder blieben jedoch nicht die ganze Stunde über sitzen, sondern mussten sich für jede Antwort, zur Begrüßung des Lehrers, zum Singen etc. erheben. Dafür musste zwischen Tisch und Bank etwas Distanz sein, sonst konnten die Kinder in der Bank nur mit eingeklemmten, gebeugten Knien stehen. Eine fix vereinigte Bank, die gleichzeitig zum Stehen
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und Sitzen geeignet ist, ist unmöglich. Die aus heutiger Sicht naheliegende Lösung, Tisch und Sitz konstruktiv zu trennen, wurde nicht ernsthaft in Betracht gezogen. Man fürchtete, durch das Hin-und-her-Rücken könne der Unterricht gestört werden, außerdem sollte die korrekte Distanzabstimmung nicht den Schülern selbst überlassen werden (vgl. Lorenz 1888, 17, 38). Statt dessen versuchten seit den 1870er Jahren zahlreiche Architekten, Pädagogen und Schulhygieniker, das Problem mechanisch zu lösen: sie erfanden Klapp- und Schiebemechanismen, die gleichzeitig optimales Stehen und Sitzen in der Schulbank ermöglichen sollten. Entweder wurden die Pultplatten weggeklappt oder -geschoben oder die Sitze waren beweglich. Es wurde mit Dreh-, Pendel- und Schiebesitzen experimentiert (ebd., 18ff., 53ff.; vgl. Müller 1998, 15ff.). Letztere wurden von den Schülern beim Aufstehen mit den Kniekehlen zurückgestoßen, beim Hinsetzen musste man allerdings darauf achten, sie wieder nach vorne zu ziehen, um nicht ins Leere zu fallen (vgl. Krauth/Meyer 1902, 176f.). Beim Pult nach Hittenkofer diente die Tischplatte in den Schreibpausen dem Vordermann als Lehne, gleichzeitig konnte zum Aufstehen auch noch das Fußbrett weggeklappt werden (Lorenz 1888, 25f.). Die Kurbeln, Hebel, Gelenke und Federn waren den jahrelangen Belastungen des Schulalltags jedoch nicht gewachsen. Der Schiebemechanismus der Paul’schen Schulbank, in der in Wien 1887 immerhin knapp die Hälfte aller Buben saßen, wurde von Lorenz vernichtend als „Polterkasten“ bezeichnet: „Das Hinabdrücken der automatischen Leiste, welches dem Zurückschieben des Pultes vorangehen muß, macht nämlich immer einige Schwierigkeit, das Kind muß immer stärker drücken, bis die Leiste dann mit einem plötzlichen Ruck in die Tiefe fährt und das am anderen Ende des Hebels befindliche eiserne Gewicht mit einem durch die Resonanz des Pultkastens vielfach verstärkten, donnerähnlichen Knalle an die untere Fläche der Pultplatte anschlägt. [...] Die Gänge eines Schulhauses, in welchem Paul’sche Bänke in Verwendung stehen, widerhallen von Zeit zu Zeit von diesem Getöse.“ (ebd., 35) Zeitgleich ist zu beobachten, dass für Bürostühle, also für sitzende Erwachsene, die neuen mechanischen Möglichkeiten auch die Anforderungen an den Sitzkomfort veränderten. Schon 1853 wurde in den USA der erste federnde Bürostuhl für dynamisches Sitzen patentiert (vgl. Giedion 1982, 442ff.). Ständige kleine Verschiebungen des Gleichgewichts sollten die Blutzirkulation in Gang halten. Regungsloses Stillsitzen wurde in US-amerikanischen Büros schon um die Jahrhundertwende als produktionshemmend verworfen. Während bewegliche Sitzgelegenheiten in Büros und Wohnungen auch in Europa schnell zum Standard wurden, propagierte man in den Schulen weiterhin das Stillsitzen. Die Kunsthistorikerin Irene Nierhaus beschreibt ihre eigenen Erfahrungen in einer österreichischen Volksschule noch Anfang der 1960er Jahre: „Wir saßen in unserem Klassenzimmer, wie durch ein unsichtbares Kataster säuberlich aufgereiht, mit den Armen am Rücken verschränkt, stillgestellt.“ (Nierhaus 1999, 186)
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Abb. 4: Bewegliche Schulbänke (von links nach rechts und oben nach unten): Subsell mit Pendelsitz und Tischplatte, die zum Stehpult hochgeklappt werden kann von Kottmann (Burgerstein/Netolitzky 1895); Ausziehpult von Küffel (Lorenz 1888); Klappbank von Hittenkofer (Lorenz 1888); Mittelholmbank mit Klapppult von Zahn (Burgerstein 1906); Oszillierende Tischplatte nach Schlimp, 2. Preis der „Wiener Schulbankkonkurrenz 1893“ (Burgerstein/Netolitzky 1895); Rotationssitz von Vandenesch (Lorenz 1888); Faltbank „Columbus“ von Ramminger & Stetter (Krauth/Meyer 1902); Größenverstellbare Bank von Munzinger (Müller/Schneider 1998)
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Nachdem die beweglichen Konstruktionen bei den Pädagogen also auf wenig Gegenliebe gestoßen waren, fand man schließlich zu einer statischen Lösung, die sich allgemein durchsetzte. Statt langer Bankreihen stellte man Zweisitzer her. Das bekannteste Modell war die Bank des Oberbaurats Wilhelm Rettig.
Abb. 5: Austreten aus der Bank nach Rettig, 1893 patentiert (Schulmöbelmuseum VS Tauberbischofsheim)
Die Kinder konnten, statt beim Stehen in der Bank zu klemmen, seitlich heraustreten und in der Gasse zwischen den Bänken stehen. Diese Bewegung wurde von einem erhöhten Fußbrett unterstützt. Man trat nicht nur zur Seite, sondern auch eine Stufe hinunter. Der Nürnberger Hygienekongress von 1904 verabschiedete 14 Punkte zur Schulbank: „1. Das Banksystem soll zweisitzig sein. 2. Das System soll keine beweglichen Teile haben. [...] 5. Das Aufstehen soll außerhalb der Bank erfolgen. [...] 9. Bank und Tisch sollen aus einem Stück sein ...“ (Walter 1908, 74f.) Damit kann die Diskussion um bewegliche Bänke als abgeschlossen gelten. Die Kinder saßen so exponiert, dass sie keinem ihrer Nachbarn ungesehen zu nahe kommen konnten. Außerdem konnte sich der Lehrer endlich ungehindert zwischen den Kindern bewegen, was bei mehreren Reihen langer Bänke mit eng gedrängt sitzenden Kindern schwierig gewesen war: „Jedes Kind kann unmittelbar vom Lehrer
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erreicht werden [...] jeden Augenblick kann der Lehrer an jeder Stelle sein, alles überschauen.“ (Buchner 1869, 53) Die den medizinischen und pädagogischen Erfordernissen gleichermaßen angepasste Konstruktion wurde mit weiteren wissenschaftlichen Argumenten abgesichert. Die Fußbretter beispielsweise betrachtete man auch unter hygienischen Gesichtspunkten als unbedingt erforderlich (vgl. Rettig 1909, 19). Das Abheben der Körper vom Boden, der mit Schmutz und unsichtbar lauernden Bakterien assoziiert wurde, hatte überdies einen hohen symbolischen Wert. Allerdings ergaben sich gerade dadurch neue hygienische Probleme: Unter den niedrigen Fußrosten konnte der Boden nicht gewischt werden. Die Bank des Münchner Oberbaurats Wilhelm Rettig war deshalb an einer Seite mit Scharnieren am Boden verankert und ließ sich als Ganzes seitlich umlegen. Die in alle Pulte fix eingelassenen Tintenfässer hatten einen Schwanenhals, damit die Tinte auch bei den während des Putzens um 90° geklappten Tischen nicht auslief (vgl. Müller/Schneider 1998, 17). Ein weiteres Problem war die Größenanpassung. Nur genau passende Abmessungen gewährleisteten die korrekte Schreibhaltung. Es gab zunächst Lösungen mit beweglichen Möbeln, die quasi „mitwachsen“ konnten. Diese Sitzmaschinen konnten sich als Hausschülerpulte für begüterte Bürgersfamilien etablieren. In der Schule setzten sich unbewegliche Modelle durch: In großen Kampagnen wurden Schulpflichtige vermessen (vgl. Kost 1985, 111ff.). Aus dem gewonnenen Datenmaterial ermittelte man Größennormen für die einzelnen Jahrgänge und stattete die Klassenzimmer mit Bänken in jeweils drei Größenstufen aus. Im Standardhandbuch für Architekten Neufert, das seit 1936 in mittlerweile 39 Auflagen erschienen ist, finden sich solche Größentabellen noch bis in die 1970er Jahre. Dabei stieg die Größe der Bänke nach hinten an, die Kleinen saßen also vorne, die Großen hinten. Die Normen schufen die Voraussetzung für die Industrialisierung der Möbelproduktion. Traditionell fertigten Schreiner die Schulmöbel vor Ort. Ein erster Schritt zur Vereinheitlichung der Produktion waren Vorlagen für die Handwerker, die von Ärzten, Architekten oder Pädagogen angefertigt wurden. Sie enthielten Maße, Materialvorgaben und technische Details. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Schulmöbel zunehmend industriell produziert. In Deutschland wurde die 1893 patentierte „Rettig-Schulbank“ mit mehreren Millionen hergestellten Sitzen zum meistverkauften Produkt, das bis in die 1960er Jahre verwendet wurde. Sie wurde nach ganz Europa und bis in die Kolonien exportiert, überall saßen die Kinder an den gleichen Bänken. Binnen weniger Jahrzehnte wurde somit die Schulausstattung in höchstem Maß zentralisiert. Die Einführung der Norm wirkte noch in eine zweite Richtung. Das erstmalig verfügbare Datenmaterial wurde auch für medizinische Zwecke genutzt. Auf dieser Grundlage konnte der „normale“ Körper und die „normale“ Entwicklung definiert werden. Ein rechnerischer Durchschnitt, eine statistische Häufung innerhalb eines
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bestimmten Feldes wurden zur Norm erklärt. Alle Abweichungen galten in der Folge als krankhaft. Auffällig lange Beine oder Linkshänder passten nicht in die so penibel bemessenen Schulbänke, fielen innerhalb der genormten Umgebung besonders unangenehm auf, unterliefen die angestrebte Ordnung. Buchner, in seinem geradezu wütenden Streben nach dem perfekten Sitz, wollte allen diesen abweichenden Körpern mit untergelegten Kissen, aufgeschraubten Leisten etc. die Schulbank doch noch optimal auf den Leib schneidern (Buchner 1869, 141).
Abb. 6: Anthropometer nach Ghini (Genua) zur Vermessung von Schülern, publiziert in Schweizerisches Schularchiv (1887) (Kost 1985)
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2 Bank und Körper Der Orthopäde Schreber stellte 1858 eine Anzahl von Apparaten vor, die den Knochenbau von Kindern gerade und symmetrisch machen sollten. Der bekannteste war der „Geradhalter“, eine an die Tischplatte zu schraubendes Eisengestänge, das verhinderte, dass man beim Schreiben den Oberkörper über die Tischplatte neigt (Schreber 1858, 203). Zahlreiche weitere Apparate wurden konstruiert, beispielsweise der Brillengeradhalter von Müller aus Basel: Wenn das Kind den Kopf nach unten beugte, fielen Klappen aus schwarzem Zelluloid herunter und nahmen ihm die Sicht (vgl. Burgerstein 1906, 43).
Abb. 7: Erziehungsapparate (von links nach rechts und oben nach unten): Brillengeradhalter von Müller (Burgerstein/ Netolitzky 1895); Geradhalter von Kallmann (Burgerstein/Netolitzky 1895); Kinnstütze von Soennecken (Kost 1985); Geradhaltesitz von Kuhn (Burgerstein/Netolitzky 1895); Geradhalter von Schreber (1858)
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Abb. 8: Kommandos zur Benutzung der Schulbank nach Robson (1874)
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Die Schulbank kann in diesem Sinne als Erziehungsapparat aufgefasst werden, in den der Körper des Kindes ähnlich wie in ein Korsett „förmlich eingezwängt“ werden konnte, wie das Schweizerische Schularchiv 1888 konstatiert (Kost 1985, 130). Der Erziehungsapparat Schulbank bot die Möglichkeit, den Körper der Kinder zu manipulieren, ohne ihnen körperlich nahe zu kommen. Suspekt war jegliche Form der Berührung, die häufig als sexuelles Moment wahrgenommen wurde, auch Körperstrafen gerieten im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend in Verruf. Der Apparat, zwischen Erzieher und Kind gestellt, ermöglichte die Umgehung des Berührungstabus. Die Schulbank diente gleichzeitig als Instrument für spezielle Übungen. Vom britischen Architekten Edward Robert Robson sind Exerzierregeln für die Schule (1874) überliefert (Robson 1972, 377ff.). Die Darstellung von Bewegungsabläufen als Kombination von Bild, Kommando und Anweisungstext, ist direkt von militärischen Exerzieranleitungen entlehnt. Es geht für Schüler wie Soldaten nicht um das Verstehen des Befehls, sondern um das Wahrnehmen eines Signals und die sofortige Reaktion darauf, entsprechend einem vorgegebenen Code. Mittels immer wieder wiederholter Übungen wurden die Körper der Schüler, die Schulbank und Schreibutensilien zusammengeschaltet. Die Oberfläche der Bank war in der Erinnerung immer mit dem sich aus der Praxis des Exerzierens konstituierenden Machtverhältnis verknüpft (vgl. Foucault 1976, 196f.). Dass diese beabsichtigte Verknüpfung auch tatsächlich funktionierte, illustrieren Walter Benjamins Schulerinnerungen. In der Schule angelangt, schrieb er, „kam freilich bei Berührung mit meiner Bank die ganze Müdigkeit, die erst verflogen schien, verzehnfacht wieder.“ (Benjamin 1972, 248) Im von Johann Ignaz von Felbiger bereits 1768 als „Frontalunterricht“ bezeichneten Unterrichtssystem taten alle Schüler dasselbe zur gleichen Zeit: „Alle Kinder müssen nicht nur einerlei Sachen vornehmen, sondern sie müssen es auch zur gleichen Zeit tun; anstatt, daß nach dem ehemaligen Brauch ein Kind nach dem anderen, wie Schulmeister reden, aufsagen, so sagen sie jetzt alle zugleich auf, sie buchstabieren, sie lesen, schreiben, rechnen, sie lernen zugleich auswendig, sie wiederholen und antworten; kurz, sie machen alles zusammen und zu einer Zeit.“ (Felbiger 1768, 35f.) Die so durchgearbeiteten Bewegungen sicherten die Pädagogen 100 Jahre später zusätzlich mit dem Argument ab, sie ermöglichten besonders ökonomisches Arbeiten (Fricke 1869, 199). Damit wurden bereits wichtige Aspekte des später als Taylorismus bekannten Prinzips der Rationalisierung in der industriellen Produktion vorweggenommen. Die neuen Produktionsweisen der Industrialisierung erforderten Arbeitskräfte mit neuartigen Kompetenzen. Neben der zeitlichen Durcharbeitung des Unterrichts sind detaillierte Vorgaben zur Anordnung der Schulutensilien auf der Tischplatte überliefert. Der Lehrer W. Fricke wies allen Schulutensilien eine genau definierte Position auf der Oberfläche des Tisches zu: „Rechts im Pulte liegen die Hefte: Rücken auf Rücken, und daneben steht das Arbeitskästchen mit den Federn usw. links liegen grö-
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ßere Gegenstände, wie der Atlas, das Zeichenheft usw.“, damit die Schülerinnen „ohne in das Pult hineinzusehen, alles Nöthige sofort hervorzulangen und einzuräumen im Stande sind. Wir haben hier die Idee des römischen Feldlagers auf das Schulleben angewandt.“ (ebd., 198f.) Gemeinsam ist den genannten Bestrebungen die enorme Detailversessenheit. Wozu diese Akribie? Es fällt auf, dass durchweg eine Verbindung gesehen wird zwischen der Haltung des Körpers und der Geisteshaltung oder der Psyche. Schlechte Haltung führt zu sündigen Gedanken, umgekehrt bringt eine ordentliche Umgebung auch ordentliche Bürger hervor. Geht es bei dieser Argumentation um eine simple Gleichsetzung äußerer und innerer Zustände? Oder ist es eher so, dass der Körper das Tor zur Persönlichkeit des Kindes öffnen soll? Man sollte wohl eher von einer Hintertür sprechen. Ich betrachte Körper und Geist dabei nicht als diskrete Einheiten, in dem Sinne dass der Geist im Körper wohnt, sondern gehe davon aus, dass sich Körper und Geist gegenseitig bedingen. Körperliche Eigenart kann als Bedingung von Subjektivität gelesen werden. Auf der anderen Seite ist der Körper Ort der Einschreibung verschiedener Arten der Subjektivität. Diese sozialen Einschreibungen in den Körper, vom Soziologen Pierre Bourdieu als Einverleibung von Kultur bezeichnet, erfolgen über Körpertechniken (Bourdieu 1976, 199). Der Anthropologe Marcel Mauss vermutete 1950, dass so grundlegende Dinge wie Haltung und alle Gesten, wie etwa das Gehen, Sitzen und Schreiben, nicht naturgegeben sind, sondern erlernt werden. Diese Körpertechniken können damit eine Person einer Klasse, Nation oder einem Geschlecht zuordnen (Mauss 1975, 204). Der Anthropologe Gordon W. Hewes erfasste rund 100 Sitzhaltungen, deren Verteilung er weltweit innerhalb verschiedener Kulturkreise nachwies und außerdem bestimmten Altersstufen, Geschlechtern und hierarchischen Positionen und kulturell dominanten Tätigkeiten zuordnete (Hewes 1955, 231ff.). Das über das Stillsitzen in der Schulbank Einverleibte ist jenseits des Bewusstseinsprozesses angesiedelt. Es also selbst noch davor geschützt, ausgesprochen oder überhaupt gedacht zu werden. Der preußische Staat hat mit enormem Aufwand erreicht, dass alle seine Bürger große Teile ihrer Kindheit und Jugend in einer sehr speziellen Situation verbrachten. Durch die Kombination von Haltungsvorschriften und mechanischer Unmöglichkeit wurde die Bewegungsfreiheit der Schüler drastisch eingeschränkt. Die Schule vermittelte auf diese Weise nationale Körpertechniken. Die Schulbank war der Ort und das Instrument zur Einübung von Ordnungsregeln, Haltungen und Arbeitsrhythmen in militärischer Strenge. Die bloße Berührung mit der Schulbank evoziert bereits eine ganze Reihe von Werten, Vorschriften und Ermahnungen. Die Bank und das mit ihr verbundene Reglement dienten dazu, über Körpertechniken eine nationale Identität in die Körper der jungen Bürger einzuschreiben.
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Abb. 9: Sitzhaltungen nach Gordon W. Hewes (1955)
3 Klassenzimmer Die Schulbank steht nicht für sich, sondern ist in einen größeren architektonischen Kontext eingebunden. Die Schulbank ist der Angelpunkt der gesamten Schularchitektur. Ihre Anordnung und ihre Dimensionen bestimmen die Größe des Klassenzimmers. Nahezu alle Abmessungen waren genormt. Die preußischen Schulbauvorschriften von 1895 fordern Klassen für 48-54 Kinder (vgl. Neufert 1936, 149f.). Um 1850 war die Norm noch bei 80 Kindern pro Klasse gelegen. Die Breite des Klassenzimmers von 6 m ergab sich aus der Platzbreite pro Schüler zuzüglich Gangbreiten, die Raumlänge von ca. 9 m aus der Sitztiefe zuzüglich Gänge und Lehrerpodest. Das ist gleichzeitig die maximale Distanz, in der Kinder das an der Tafel Geschriebene noch lesen können. Die Fläche der Tischplatte war so bemessen, dass die Kinder auch beim Beschreiben der untersten Zeile eines Heftes noch genügend Platz hatten (Lorenz 1888, 4). Die Vorschriften für die Belichtung führten zu Raumhöhen um 3,5 m. Mit diesen Abmessungen wurde ein Rauminhalt je Kind von 3,5-4,0 m3 gewährleistet, genug um ein Kind für eine Schulstunde mit Sauerstoff zum Atmen zu versorgen
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(Burgerstein/Netolitzky 1895, 123ff, 134ff; Neufert 1940, 149f.). Die Belichtung sollte von links kommen, damit die Schreibhand keinen Schatten auf das Papier wirft. Die Schüler saßen im Klassenzimmer in Zweierreihen, vor sich das erhöhte Lehrerpult und die Tafel. Der Lehrer hatte die Klasse im Blick, und die Klasse sah auf den Lehrer. Die Anordnung von Körpern im Raum und die ungleiche Verteilung von Blicken stellten eine Hierarchie her. Das Klassenzimmer verstärkte eine bereits bestehende, asymmetrische Machtverteilung in ähnlicher Art, wie Michel Foucault es für das von Jeremy Bentham entwickelte Panopticon (1787) beschrieben hat (Bentham 1995; vgl. Foucault 1976, 257ff.). Abb. 10: Preußische Richtlinien für Klassenzimmer nach Neufert (1936)
Das Klassenzimmer wich insofern vom Panopticon ab, als es den Lehrer als überwachende Person exponierte, statt sie zu verstecken. Dafür lassen sich in anderer Hinsicht Analogien ziehen. Nur der Lehrer konnte sich frei im Raum bewegen. Die Aufstellung der Bänke in Reihen erschwerte den Kindern die Bezugnahme untereinander; um miteinander zu kommunizieren, mussten sie die Verhaltensregeln brechen. Jeder Schüler erlebte sich damit als dem Lehrer ganz alleine gegenübergestellt – wie im Panopticon. Die Position des Lehrers wurde so als gottähnlich konstruiert: Er war allgegenwärtig, alles sehend, allwissend und omnipotent. Die Illusion der Allmacht des Lehrers machte in vielen Fällen eine tatsächliche Demonstration in Form von Strafen oder schlechten Zensuren unnötig. Der Lehrer sah ja in der Praxis niemals alles, trotz noch so perfekter Bank. Allein schon die latente Möglichkeit, einem strafenden Blick des Lehrers ausgeliefert zu sein, tat Wirkung. Die Macht des Lehrers (und die Ohnmacht der Schüler) wurden natürlich nicht nur durch die Architektur des Klassenzimmers konstruiert, sondern gleichermaßen durch spezielle Praktiken, wie das Exerzieren oder willkürlich nach nicht nachvollziehbarem Muster verteilte Strafen. Friedrich Torberg hat für seinen Roman Der Schüler Gerber (1930) einen Lehrer namens „Gott Kupfer“ erfunden und beschrieben, wie dieser – in Allmachtsphantasien schwelgend – seine
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Schüler planvoll erniedrigt (Torberg 1973, 7ff.). Torberg prangerte diese sadistischen Exzesse nicht als Einzelfall an, sondern als Fehler im System. Die Architektur des Klassenzimmers unterstützte diese Machtkonstellation durch symbolische Komponenten. In Österreich hängen bis heute in Klassenzimmern ein Kreuz und das Bild des Bundespräsidenten. Diese zwei Symbole stellen den Lehrer als Vertreter der höchsten Autoritäten dar – Gott und Vaterland. Außerdem befand sich an der Stirnwand oft eine Uhr, die Werte wie Pünktlichkeit und Ordnung repräsentierte. Im Rücken des Lehrers war außerdem die Tafel angebracht, auf der in wohldosierten Portionen das Wissen dargeboten werden konnte, das der Lehrer den Lernenden voraushatte. Für die Schüler war dieselbe Tafel dagegen ein – oft mit traumatischen Erlebnissen verknüpfter – Ort der Prüfung und der Exponiertheit ihres (Un-)Wissens. Man denke auch an die Wortherkunft von „Katheder“, dem erhöhten Sitz des Lehrers. Eine vom Papst ex cathedra verkündete Lehrmeinung hat Unfehlbarkeitsanspruch. Abb. 11: Podest, Lehrerpult und Wandtafel von Richard Riemerschmidt (1903) (Müller/Schneider 1998)
Eigentlich waren die Schulmeister und Pädagogen jedoch, gesamtgesellschaftlich gesehen, nicht besonders mächtig. In ihrer Unterrichtsführung wurden sie von Direktoren und Schulinspektion überwacht. Seit 1850 ist eine jährlich steigende Flut von Gesetzen festzustellen, die besonders die schlecht bezahlten Volksschullehrer betrafen. Im Klassenraum hatte der Lehrer das Recht, den Schülern ihre Plätze zuzuweisen. Das Versetzen wurde gezielt als Bestrafung oder zur Belohnung angewandt, wobei die schlechten Schüler hinten, die guten vorne saßen. In vielen Schulen gab es die „Eselsbank“ in der renitente Kinder stehend den Unterricht verbringen mussten. Die Sitzordnung im Klassenzimmer schuf so eine Art „lebendes Tableau“ (Foucault 1976, 189), sie charakterisierte die Individuen durch den ihnen zugewiesenen Platz. Die räumliche Sichtbarmachung der individuellen Leistung jedes Schülers wirkte sanktionierend, indem sie auf die öffentlich zur Schau gestellten Schwächeren Druck ausübte, sich dem Durchschnitt anzunähern. Für die Klassenbesten dagegen war allein die Sichtbarmachung ihrer Position schon die Belohnung ihrer Leistung.
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Das System wurde erweitert im Bautypus des Schulhauses als Ganzes: Ein typischer Schulgrundriss zeigt eine Aneinanderreihung von Klassenzimmern an einem Korridor.
Abb. 12: Grundriss der Sophien-Realschule, Berlin, nach Robson (1874)
Der Idee der „Klasse“ lag die dauerhafte Aufteilung der Schulgemeinde in gleichartige Gruppen zugrunde. Diese Gleichaltrigen mit einem einheitlichen Wissenstand konnten dann in einem eigenen Raum von jeweils einem Lehrer simultan unterrichtet werden. Ein Schuljahr stand damit gleichzeitig für ein bestimmtes Lernpensum, andersherum formuliert, der gesamte Lernstoff zergliederte sich in Jahresportionen, die von einer Gruppe von gleichaltrigen Schülern innerhalb des vorgeschriebenen Zeittakts zu bewältigen waren. Wissen wurde als Besitz betrachtet, der Lehrern und Schülern in unterschiedlichem Grade zu Eigen ist. Es ist mit einem räumlich genau definierten Platz in der Hierarchie verbunden. Die Klassenzimmer wurden im Lauf einer normalen Schulkarriere in einer zeitlichen Abfolge von Schuljahren durchschritten. Genauso wie die Kinder im Klassenzimmer geordnet werden konnten, waren sie in einem größeren Maßstab im Schulhaus angeordnet. Das Klassenzimmer stand so für eine bestimmte Position innerhalb der Schulhierarchie. War man bis in die „Oberprima“ vorgedrungen, so war man tatsächlich ein „Schüler erster Klasse“. Der bereits erwähnte Architekt Edward Robert Robson bereiste im Auftrag der britischen Regierung Europa und die USA, um Schulbauten zu besichtigen und daraus die Standards für den englischen Schulbau zu entwickeln. Robson kam in seinem Buch School Architecture 1874 zu dem Schluss, dass Preußen auf dem europäischen Kontinent die führende Position in Fragen der Erziehung einnehme (Robson 1972, 71f.). Besonders beeindruckt war er von der Uniformität der Schulgebäude: „Im Alter von sechs Jahren kommt ein deutscher Junge in die Volksschule. [...] Es gibt dort eine
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Reihe von Klassenzimmern, die von einem weiten Korridor aus betreten werden. Er wird in eines davon gesetzt, ausgestattet mit Bänken und Tischen, die exakt gleich – nur kleiner – sind wie jene für Jungen, die doppelt so alt sind wie er. Und dort beginnt er mit dem intellektuellen Drill, der bis zum Alter von vierzehn Jahren fortgeführt wird. [...] Sogar der ungeschickteste Rekrut ergibt einen passablen Soldaten, wenn er regelmäßig und für ausreichend lange Zeit gedrillt wird.“ (ebd., 72f.) Dieses System, so Robson, könne kaum scheitern, die Massen zu einer Nation zu erziehen. Die Schule parzellierte Raum und Zeit parallel in dreifacher Weise: Mit der Ordnung in der Schulbank, d.h. der Anordnung der Schulutensilien am Arbeitsplatz der Schüler, ging eine im Sekundentakt zerlegte Gestik als Grundlage der auszuführenden Übungen einher. Dem Tableau von Personen im Klassenzimmer entsprach der ebenso penibel zerlegte Schultag, der das zu erwerbende Wissen im Stundenplan in unterschiedliche Lehrgegenstände teilte. Die Anordnung der Klassenzimmer im Schulhaus schließlich erwuchs aus der Zerlegung des Schülerlebens in Schuljahre und bildete gleichzeitig die räumlichen Voraussetzungen für deren Organisation. Der Schulraum wurde auf diese Weise zu einer komplexen Überwachungs-, Hierarchisierungs- und Belohnungsmaschine. Räumliche Strukturen und Machtmechanismen überlagerten sich zu einem disziplinierenden Raum. Die Architektur der Schule wirkte mit, disziplinierte Körper zu erzeugen, die sich jederzeit in kompliziertere Apparate einordnen konnten, um dort als Teil einer größeren Maschine zu wirken. 4 Schluss Die Schulbank im Klassenzimmer ist das materielle Gegenstück einer Ideologie des unbeweglichen Schülerkörpers. Diese Überzeugungen entstanden aus einer Überlagerung von einer Reihe von Diskursen und Praktiken: der Einigung der Nationalstaaten, dem Aufkommen massenproduzierter Schulmöbel, der medizinischen Diskussion des sexuellen Verhaltens, dem Gedanken der Norm etc. In dieser diskursiven Überschneidung konnten alternative Modelle kaum formuliert, ja nicht einmal als Möglichkeit in Betracht gezogen werden. Der Diskurs limitierte die Fragen und die Antworten. Nicht ausführlich erwähnt wurde die Frage, inwieweit die Konzepte der Konstrukteure und die tatsächliche Nutzung der Schulbänke und -räume im Einklang stehen. Vielerorts wurden beispielsweise aufgrund ökonomischer Zwänge die Bänke überbelegt. Auch musste den Konstrukteuren klar sein, dass Kinder auch in der optimalen Bank immer noch krumm sitzen konnten. In gewissen Bereichen konnten die hegemonialen Praktiken durch subversive Nutzungen bekämpft, herausgefordert oder umgangen werden. Der Hamburger Lehrer Ernst Fischer, um hier nur ein Beispiel zu nennen, publizierte 1910 über die Schulbank als Turngerät (Fischer 1910, 49ff.; vgl. Schonig 1998, 37ff.).
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Abb. 13: Schulbank als Turngerät nach Fischer (1910)
Die gymnastischen Übungen boten den Kindern immerhin die Möglichkeit, ihre Bänke einmal aus anderer Perspektive – nämlich in Bewegung – zu erleben. Dazu muss allerdings angemerkt werden, dass im Diskurs über die korrekte Haltung die den Körper in Bewegungslosigkeit zwingende Schulbank nicht die einzige Methode war, wenn auch die bevorzugte, – die andere Methode arbeitete ganz im Gegenteil mit Bewegung: eben die Gymnastik, die auch bereits von Akteuren wie Schreber als Ergänzung zu den Geradhaltern eingesetzt wurde. Die italienische Ärztin Maria Montessori ging 1909 wesentlich weiter, indem sie die Schulbank an sich als Fehlentwicklung kritisierte. Die wissenschaftlich entwickelten Bänke machten Kinder, die aufrecht und stark geboren wurden, zu Buckligen. Und schlimmer noch: In den Schulbänken würden die Kinder zur Sklavenmentalität erzogen (Montessori 1930, 17, 20). Montessori entwickelte für ihre neuen Unterrichtsmethoden eine Umgebung, die ästhetisch, angenehm und befreiend sein sollte. Statt mit feststehenden Schulbänken möblierte sie daher die Räume ihrer Schule mit normalen Tischen und Stühlen, wie sie in jedem Esszimmer stehen könnten. Die Möbel waren so leicht, dass die Kinder sie selber umstellen konnten (ebd., 76ff.). „Wirft ein Kind durch eine ungeschickte Bewegung einen Stuhl um, der mit Geräusch zu Boden fällt, so erhält es hiermit einen eindringlichen Beweis seiner eigenen Ungeschicklichkeit; wäre dieselbe Bewegung in festen Bänken ausgeführt worden, so wäre sie unbemerkt hingegangen. [...] Die Geschicklichkeit in den Bewegungen, die es sich hier erworben hat, wird ihm das ganze Leben hindurch von Nutzen sein. Noch im Kindesalter erlangt es die Fähigkeit, sich geordnet und doch mit vollkommener Freiheit zu bewegen. [...] Die Zucht muss aus der Freiheit hervorgehen.“ (ebd., 79-81)
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Die Reformpädagogik Montessoris und ihrer Zeitgenossen markierte das Ende der Schulbank als pädagogisches Projekt. Seit den 1920ern erschien die Trennung von Tisch und Sitz zunehmend als zwingend, wenn nicht natürlich. Die Schulbank ist heute abgeschafft, doch das Klassenzimmer ist ein Beispiel dafür, wie zäh überkommene Vorstellungen in der Architektur weiterleben. Schüler und Lehrer müssen sich vielerorts weiterhin mit einer Architektur arrangieren, die seinerzeit für anders gelagerte Interessen konzipiert wurde.
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True Lies – Über die Dilemmata einer reformpädagogischen Aneignung tayloristisch entworfener Lernräume Dass Räume pädagogische Wirkungen haben, ist erziehenden Praktikern geläufig, und seit Reformpädagogen wie Maria Montessori von der „vorbereiteten Umgebung“ oder Loris Malaguzzi vom „dritten Erzieher“ gesprochen haben, zählt diese Einsicht auch zum ganz offiziellen Repertoire der Ausübung von Erziehungskunst. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit pädagogischer Architektur fällt dagegen zurückhaltender aus, doch hat die unermüdliche Ausrufung paradigmatischer „turns“ zuletzt auch der Beschäftigung mit Raumfragen zu angemessener Popularität in der scientific community verholfen (vgl. etwa Döring/Thielmann 2008). Als Klassiker der Analyse von Schulen als Lern- und Herrschaftsraum darf sicherlich der 1975 erschienene Text „Überwachen und Strafen“ von Michel Foucault angesehen werden, der ausführlich einige architektonische Eigenheiten moderner Schulbauten und deren machtstrategische Funktionalität untersucht (Foucault 1994). In jüngerer Zeit haben aus erziehungs- bzw. sozialwissenschaftlicher Sicht etwa Christian Rittelmeyer (2002, 2004), Michael Göhlich (1993), Gunter Otto (1997), Jutta Ecarius / Martina Löw (1997), Gerald Becker / Johannes Bilstein / Eckart Liebau (1997), Eckart Liebau / Gisela Miller-Kipp / Christoph Wulf (1999), Franz-Josef Jelich / Heidemarie Kemnitz (2003) und Jeanette Böhme (2009) aufschlussreiche Arbeiten und/oder Sammelbände zum Thema vorgelegt. Auch aus architekturtheoretischer Perspektive findet das Thema fallweise Interesse, etwa bei Hugo Kükelhaus (1981, 1988), Christian Kühn (2005, 2009), Peter Hübner (2005) oder Joachim Moroder / Horst Hambrusch (2007). Die phänomenologische Architekturbetrachtung hat das Thema Schule dagegen noch nicht für sich entdeckt, dort stehen bislang Gebäude und Räume im Vordergrund, welche dem privaten Leben oder der sakralen Inszenierung gewidmet sind (vgl. nur etwa Martin Heidegger 2004; Gaston Bachelard 1987; Otto Friedrich Bollnow 2004, 123ff.; Hermann Schmitz 2005a, 149ff. oder 2005b, 207ff.; Gernot Böhme 2006). Besonders schmal ist der Bestand an Arbeiten, die sich der Aufgabe widmen, konkrete Beispiele von Schularchitektur in einem empirischen Sinne aufzuarbeiten. Hier ginge es darum, am Beispiel vorfindlicher Lernräume nachzuzeichnen, in welcher tatsächlichen Weise „der Sinn der Dinge“ sich für die Menschen wandelt je nach dem Sinn ihres Hauses“ (Saint-Exupéry, zit. bei Bollnow 126), damit also zu betreiben, was Bachelard (1987, 35) mit Blick auf die Psychoanalyse als „Topoanalyse“ charakterisiert hat. Pionierarbeit hat hier sicher Christian Rittelmeyer geleistet, dessen Studie „Schulbauten positiv gestalten“ (1994) einen möglichen Ansatz zur empirischen Bearbeitung des Themas präsentiert. Einen etwas anders akzentuierten Zugang vermitteln Studien
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in der Tradition einer hermeneutischen Architekturforschung: Ingrid Kellermann / Christph Wulf (2009) etwa interpretieren Schularchitektur im Kontext ritueller Raumpraktiken, Georg Breidenstein (2006) nähert sich dem Raumthema in ethnografischer Perspektive, Jeanette Böhme / Ina Herrmann (2009) oder ich selbst (2009) versuchen, inspiriert durch das Beispiel Oliver Schmidtkes (2006), der Sache in objektivhermeneutischer Einstellung Sinn abzugewinnen. Die in der Folge rekonstruierte Raumsituation bildet einen relativ eigenständigen Sektor einer Wiener Grundschule, in dem SchülerInnen auf der Grundlage eines reformpädagogisch orientierten Schulversuches bis zur sechsten Schulstufe (also der zweiten Stufe der regulären Sekundarstufe I) unterrichtet werden. Der Unterricht findet überwiegend als Gesamtunterricht statt, das pädagogische Personal wechselt also nur geringfügig. Die Klassenlehrerin verfügt über langjährige Erfahrung im Experimentieren mit reformpädagogischen Unterrichtsformen. Sie kann als sehr engagiert und – im Sinne der selbst gestellten Ansprüche – pädagogisch erfolgreich angesehen werden. Dies lässt sich etwa daran ablesen, dass sie regelmäßig freiwillig ein wesentlich höheres Kontingent an „Problemfällen“ (z.B. SchülerInnen, die als „nicht beschulbar“ gelten) in ihre Klassengemeinschaft integriert, als dies vom Gesetz her zugemutet wird, ohne dass dies zu erheblichen nach außen hin sichtbaren Störungen des Unterrichts führen würde. Die nachfolgende Darstellung referiert aus Platzgründen lediglich einen Ausschnitt aus einer Gesamtanalyse. Dies wird v.a. an ihren „Rändern“ deutlich. So wäre sie etwa noch erweiterbar durch die Analyse: 1. der Schnittstellen der untersuchten Räume zu den (in diesem Falle erheblich abweichend gestalteten) übrigen Räumlichkeiten der Schule – damit ließe sich u.a. der Zutritt zu den hier untersuchten Räumlichkeiten erheblich präzisieren, 2. der architektonischen Außengestalt der Schule – hier wäre v.a. zu reflektieren, in welcher Weise die nach innen hin vollzogene Organisation der Aufenthalte, Bewegungen und subjektiven Dispositionen der Akteure nach außen in den Siedlungsraum hinein wahrnehmbar wird, 3. von verschiedenen Details der Raumsituation, die in sich ein Verweisungsganzes bilden (z.B. das „Äpfel-Stilleben“ auf einem der Tische – vgl. Abb. 13) der tatsächlichen Aufenthalte und Bewegungen der Personen in den Räumen – als Teil der durch die Architektur choreografierten Raumgestalt. I Der räumlich abgegliedert liegende Unterrichtsraum und der Flur, über den man ihn erreicht, ist in einem traditionell konzipierten Schulgebäude aus der Wende vom 19. zum 20. Jh. untergebracht. Da der genannte Schulversuch nur in der hier in Rede stehenden Klasse durchgeführt wird und nicht die ganze Schule umfasst, bildet die nachfolgend beschriebene Szenerie eine Art „Insel“ im Schulgebäude, welche jedoch vom Rest der Institution freundlich anerkannt und unterstützt wird. Man erreicht die Räumlichkeiten über eine der Nebentreppen des Schulgebäudes. Die letzten Stufen
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des ersten Treppenabschnitts münden geradewegs in den L-förmigen Flur, von dem aus man durch die erste Türe links den Klassenraum betritt (Abb. 1). Der Flur bildet mit dem Klassenraum eine durchgehende Gesamtgestalt und er wird wie dieser intensiv und vom selben Personenkreis pädagogisch genützt, so dass ich meine Betrachtung bereits hier systematisch beginne. Der Flur ist geeignet, den durchschnittlichen österreichischen Schulabsolventen, dessen Erwartungen an der durchschnittlichen österreichischen Schularchitektur geeicht wurden, zu überraschen: Schon sein erster ganz spontaner Gesamteindruck lädt ganz entschieden ein zum Entschleunigen der Eigenbewegung, zum Verweilen an unterschiedlichen Raumstellen und zur breiten Streuung der Aufmerksamkeit. Dieser erste Eindruck entsteht durch die kombinierte Wirkung einer Summe von ästhetischen Details, die allesamt eine analoge Ausrichtung besitzen.
Abb. 1: Flur – Blick von der nach oben weiterführenden Treppe
Die Formensprache des Flurs wird bestimmt von einer beinahe unüberschaubaren Mannigfaltigkeit ihres Repertoires. Als solche imponiert zunächst die Vielzahl der durch Kontrastwirkungen und plastische Ausformungen zur Erscheinung gebrachten Figuren und Strukturen. Wie etwa Abb. 1, 2 und 3 zeigen, ergibt sich diese Vielfalt zum
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einen durch die große Menge an kleinen vielfarbig und formal unterschiedlich gestalteten Objekten, die vor allem an den Wänden aufgestellt, -geklebt und -gehängt wurden sowie frei von der Decke hängen. Zum anderen ist die Oberfläche des Fußbodens kleinteilig in helle und dunkle Töne gegliedert, die auf den ersten Blick eher an aufgeschüttete Kieselsteine erinnern denn an eine glatte Ebene (Abb. 1, 4). Auch die Garderoben mit den Überkleidern und Schuhen der SchülerInnen tragen zur Reichhaltigkeit der Formbestände bei. Die Gliederung der Aussicht in die meisten möglichen Blickrichtungen ist so detailreich und differenziert, dass der unbedarft schweifende Blick beinahe magnetisch eingefangen und zwischen den vielfältigen Details hin- und hergezogen wird. Gemeinsam ist den meisten Formen, dass sie entweder einen organischen Duktus aufweisen (wie etwa das Mäandrieren einer gewachsenen Pflanze), einen repetitiven (wie der Rhythmus einer Gruppe sich bewegender Tiere) oder dem Formenkreis der Zentralsymmetrie entstammen (wie die vielen unterschiedlichen Blüten und Sonnen aber auch: ein Regenschirm, ein Fußball, ein Tisch mit sechseckiger Platte) (vgl. etwa Abb. 2, 3, 4). Weitgehend in den Hintergrund gedrängt werden dagegen jene Formeindrücke, die üblicherweise das Erscheinungsbild von traditionellen Innenarchitekturen prägen: die geraden Kanten, rechten Winkel und ebenen Flächen, welche die bauliche Konstruktion des Raumes bzw. seine bauliche Abgrenzung gegen die angrenzenden Räumlichkeiten zeigen.
Abb. 2: Flur – Garderobe / Fenster
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Abb. 3: Flur – Schrank
Farblich setzt sich der erste Eindruck des Flurs zusammen aus dem durch die kieselartige Struktur durchscheinend wirkenden hellen Braun des Fußbodens, den pastellfarbenen Farbtönen der Wände (hauptsächlich beige und hellgrün) und der Farbkomposition, die sich aus den unzähligen kleinen Accessoires der Innenraumgestaltung ergibt. Aufgrund der geringen Größe und der großen Anzahl der einzelnen Bestandteile trägt ihre recht hemmungslose Buntheit und Kontrastverliebtheit keinen wirklich dominanten oder gar aggressiven Farbwert auf, sondern schließt harmonisch an die gebrochene Tonalität der grundierenden Pastelltöne an und akzentuiert diese nach den jeweils abweichenden Lokalfarben einiger größerer Objekte hin. Einige Farbkonzentrationen sind zwar deutlich eigenwilliger ausgeprägt, schlagen aber aus der skizzierten Gesamtstruktur dennoch nicht bruchhaft oder aggressiv heraus. Die Kulisse der Formen wie Farben wirkt anregend, jedoch ohne den Betrachter zu attackieren. Räumlich präsentiert sich der Flur zunächst als ein zimmergroßer, also der alltäglichen Erfahrung – vor allem der Kinder – geläufig dimensionierter Ort. Seine räumliche Gliederung indessen verfügt im Gegensatz zu üblichen Wohnzwecken gewidmeten Zimmern über einige bemerkenswerte Spezifika. Zunächst spannen sich – wie
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schon angedeutet – die begrenzenden Flächen seines Volumens nicht als jene rechtwinkelig angeordneten geometrisch regelmäßigen Ebenen auf, wie sie durch die bauliche Architektur des ursprünglichen Ausgangsraums gegeben sind.
Abb. 4: Flur –Tisch
Sie werden vielmehr durch mannigfache Reihungen und Ballungen der Accessoires in Richtung eines eher organisch gewachsen scheinenden Hohlraumes abgewandelt. Die aus den unauffällig kolorierten baulichen Formen herausragenden Möbel, Kleidungsstücke, Papierblumen und sonstigen plastischen Arrangements lassen eher diffuse Konturen entstehen und evozieren Raumeindrücke, wie wir sie von den auf unregelmäßigen Höhlungen und Wölbungen beruhenden Gestalten einer Höhle oder einer Lichtung in naturräumlich strukturierter Umgebung kennen. Als ein Effekt dieser Art öffnet sich beispielsweise der Raum dem Eintretenden in einer geradezu bergenden Geste. Er suggeriert keine schnelle oder zentrifugale Ortsveränderung, sondern lädt zum Bleiben. Eine schwache Bewegungssuggestion geht lediglich von der großen Bogenform des Tisches aus, sie ist aber zum Kreisel gebogen und führt daher weder aus dem Raum hinaus noch im Raum in gerader Richtung voran. Bestimmend für das insgesamte Raumerleben ist natürlich auch der Umstand, dass der Flur im
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Rücken des Eintretenden (also in Richtung der von unten in den Flur einmündenden bzw. der nach oben weiterführenden Treppe) wandlos offen ist. Der Raum ist offensichtlich als Vorraum des Klassenzimmers konzipiert. Dies erhellt zunächst aus der einfachen topologischen Gegebenheit, dass man, um das Klassenzimmer zu erreichen, den Flur teilweise queren muss. Diese Not wird hier zur Tugend: Der Flur hat offensichtlich nicht bloß die Funktion des Verkehrswegs zur Klasse, sondern dient wichtigen zusätzlichen Zwecken, die auch funktional außerhalb oder am Rande des eigentlichen Unterrichtsgeschehens lokalisiert sind. Zum einen wird er als Stauraum für jene Kleidungsstücke verwendet, die im Klassenraum selbst nicht gebraucht werden. Diese Funktion weicht von der Designation des Flurs als Vorraum nicht ab, denn es handelt sich beim Deponieren der Kleidungsstücke ja tatsächlich um ein Vorbereitungsereignis für die „eigentliche“ Aktivität im Klassenraum. Gleichzeitig verleiht die wandlose, der Treppe zugewandte Seite des Flurraumes ihm eine spezifische Störungsanfälligkeit und Intimitätsgefährdung, die eine für einen Vorraum auch typische vagile Nutzung des Raumes nahe legt. Diese Konnotationen in Richtung auf einen bloßen Durchgangs- bzw. Vorraum werden jedoch von anderen Gestaltungsdetails in Frage gestellt. So arbeitet schon die differenzierte durch reichhaltige formen-, farben- und raumhafte Ausdrucksmittel vollzogene Detailgestaltung eher auf eine höhere Verweildauer und eine eher sessile Nutzung hin. Der Tisch und dann noch einmal seine sechseckige Form unterstreichen diese Lesart zusätzlich (Abb. 4). Er lädt recht unmissverständlich zum Platznehmen, und dies in freundlich-kommunikativem Tonfall: Zum einen verspricht seine zentralsymmetrische Form eine tendenziell egalitäre Sitzposition – zumindest für bis zu sechs Personen, eine Kommunikationseinheit, die aufgrund ihrer Größe immerhin bereits erhebliche soziale Ansprüche stellt. Zudem zwingt er sein Publikum in keine rechtwinkelig-strikte oder diametral-konträre Logik, sondern ordnet sie schräg zueinander, was ihren Blick nicht von vornherein aneinander vorbei (wie im rechten Winkel) und auch nicht direkt ineinander führt (wie im Gegenüber). Der Tisch befindet sich ferner an der hellsten Stelle des (hier erörterten Teils des) Flurs, nämlich direkt vor einem Fenster, welches nicht nur für die intensive Ausleuchtung des Raumes verantwortlich ist (Abb. 5). II Diesem Fenster kommt eine besondere Rolle bei der Erzeugung und Dramatisierung des Raumeindrucks zu. Der gesamte Flur inszeniert sich – wie bereits angedeutet – durch Form- und Raumeindrücke, die den meisten Menschen eher aus naturräumlichen Umgebungen denn aus traditionellen Schulgebäuden geläufig sind: Figurationen, die eher einem organischen als einem technischen Formenkreis entstammen, repetitive Wiederholungen und Abwandlungen, bunte kleinteilig strukturierte Lokalfarben, die zugleich harmonisch in übergreifende Erscheinungsfarben eingebunden sind, un-
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eindeutige Gliederungen und Abgrenzungen u.Ä. Diese Inszenierung findet hier im Hintergrund des Tisches eine besonders zugespitzte Form und bildet damit in gewisser Weise das dramatische Zentrum der innenarchitektonischen Gestaltung des Flurs.
Abb. 5: Flur – Fenster
Fenster haben stets eine wichtige Aufgabe im Kontext der für Architektur zentralen Thematik des Verhältnisses von „Innen“ und „Außen“: Sie markieren (im paradigmatischen Grundkonzept des „Fensters“) einen Übergangsbereich, durch welchen das Außen nach innen hin (wie das Innen nach außen hin) sichtbar und damit die Abgrenzungsfunktion der Wand gegenüber dem Außen (resp. dem Innen) explizit deutlich wird. In dem Maße nämlich, in dem im Fenster das Außen für das Innen (resp. umgekehrt) sichtbar wird, drängt es sich als solches in die Wahrnehmung, es erscheinen also beide Sphären gleichzeitig und zugleich getrennt, wodurch ihr Getrenntsein augenfällig wird. Im vorliegenden Fall gestaltet sich dieser Zusammenhang aber gerade nicht auf diese Weise. Auf die Fensterscheiben sind nämlich fliegende Vögel gemalt, die einerseits der örtlichen Sphäre zuzugehören scheinen, die durch weitere, auf die Innenseite der Wand gemalte Vögel und Pflanzen markiert werden: Sieht man sie als dem Gesamtschwarm zugehörig, drücken sie in den Raum herein, da sie ja größer und
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detaillierter dargestellt sind als die den Schwarm bildenden Exemplare, also näher wirken. Andererseits erscheinen die Vögel auf den Scheiben durch ihren fernräumlichen Hintergrund, vor dem sie sich abheben und gegen den sie sich bei Bewegungen des Beobachters plastisch verschieben, als dem äußeren Raum des natürlichen Himmels zugehörig. Dies erzeugt ein eigentümliches Springen des Bildes. Das Fenster, sonst (in zweifachem Sinne) klare Grenze zwischen hier und dort, eröffnet eine eigenständige dritte Sphäre, welche jedoch ohne dauerhaften Bestand ist und bald hier und bald dort einzuschmelzen scheint. Abgesehen von diesem Oszillieren bewirken die aufgemalten Bilder auch, dass das Glas der Scheibe selbst an sinnlicher Eindrücklichkeit verliert. Dadurch wird der Schnitt gemildert, den das Fenster in Fortsetzung der Wandrichtung quer durch den Blick des nach außen schauenden Betrachters zieht, und auch dies trägt zur insgesamten geometrischen Diffusion des architektonischen Ausgangsraums bei. Die Irritation verläuft jedoch insgesamt dezent und lässt sich als durchaus attraktives Spiel mit den Möglichkeiten einer sonst völlig banalen Glasscheibe empfinden. Sowohl die Bemalung der zwei wie Säulen aufragenden freien Wandpartien links und rechts neben dem Fenster sowie die Bemalung der Fenster selbst zeigen die weiter oben skizzierten morphologischen Bezüge auf Natur in konzentrierter Form und referieren zugleich auch in expliziter Weise auf sie: Man sieht wuchernde Pflanzen, schwärmende Vögel, allerlei reales und fantastisches Getier im großen gemeinsamen Schwung und in kleiner emsiger Binnenbewegung. Den Vögeln kommt dabei im zweifachen Sinn des Wortes eine herausragende symbolische Bedeutung zu. Zunächst signalisieren sie, dass sich hier Natur befindet und sowohl ihre Größe wie ihre Bewegung, vor allem aber der Umstand, dass sie wie auf dem schönen Urlaubsfoto im Gegenlicht erscheinen, verleiht dieser Botschaft noch erheblichen ästhetischen Nachdruck. Sie ist vielschichtig: Nicht rohe Natur, etwa in ihrer brutalen Form des kämpferischen Erlegens von Beutetieren oder des hilflosen Ertrinkens in Überschwemmungen, wird hier offenbar, sondern erbauliche und bedeutungsträchtige: Der rhythmisch im Gleichsinn schwerelos dahin flatternde Schwarm könnte gänzlich aus Tauben bestehen, die aus der Feder Picassos stammen und den Frieden auf Erden beschwören. Die freie Weite, die die auf die Wand gemalten Vögel ikonisch repräsentieren, verwandelt sich in einer von links nach rechts ausholenden Geste beim Erreichen des Fensters in wirkliche fliegende Vögel in der natürlichen freien Weite des hinter dem Glas sichtbaren Himmels. Es eröffnet sich ein magischer Korridor in die echte, wirkliche, tatsächliche Natur und die Vögel, seit je her mystische Boten des Schicksals, weisen den Weg zu ihr hin. Die Schwerelosigkeit des Fliegens, die Geborgenheit im Schwarm, die Freiheit des Ausbruchs aus der Enge der rechtwinkeligen Behausung – sie laden den Betrachter ein, an ihnen teilzuhaben. Das Fenster lässt also nicht nur banales Außenlicht in den Raum und auf den Tisch fließen und es fasziniert nicht nur als überdimensioniertes Springbild, es gibt
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sich auch – ganz zu diesen eher formalen Effekten passend – als Verbindungstüre, als eine Art Stargate, welches die ferne Natur in die Architektur hereinzusaugen oder ebenso die Seele der Anwesenden aus dieser fort und zu jener hin fortzutragen in der Lage ist. Gleichzeitig und paradoxerweise kann es aber auch eine ganz konträre Geborgenheitsillusion vermitteln: Hat man das über die fernen Horizonte hinaus gebeamte Gefühl wieder zu sich selbst zurückgeholt, kann man auch beruhigt dessen gewahr werden, dass man den kleinen heimeligen Flur gar nie verlassen hat, weil der so weite Blick im Grunde nur am Fensterglas hängengeblieben war. Dennoch verweist der Flur nicht einfach nur auf Natur. Niemand würde sich in ihm fühlen wie in einem Gesamtkunstwerk, welches ausschließlich den Wäldern und Wiesen huldigen soll oder gar in ihnen selbst errichtet wurde. Unzweideutig insistieren viele Formen, Farben und Gegenstände auf die baulich-technische Herkunft des Raumes. So sind etwa die geraden Linien und ebenen Flächen nicht grundsätzlich unsichtbar, die Farben der Wände nicht in unterschiedliche Farbschattierungen aufgelöst, die markanten Umrisse der Möbelstücke nicht gänzlich durch Pflanzenmotive und Blütenattrappen unkenntlich und Ähnliches mehr. Der Flur soll also keineswegs Naturraum imitieren (wie die architektonischen Schlangenbeschwörungen Friedensreich Hundertwassers), sondern lediglich in nachdrücklicher Weise zitieren. Und gerade dies macht erst die Dynamik des Eindrucks aus, wie er durch den Flur dem Betrachter vermittelt wird: Es handelt sich um einen hybriden Raum, dessen Spannung sich zwischen morphologischen Anklängen an Technik und Natur entfaltet. Dabei kommt die Aura des rechten Winkels nicht lediglich als Residualbestand des ursprünglichen Raumes zur Geltung, sie wird auch in den darübergelegten Accessoires erneut aktiviert, etwa in den Anschlagtafeln und allgegenwärtigen Zettelchen mit allerlei pädagogischen und sonstigen Hinweisen (vgl. etwa Abb. 3, 6). Als exemplarisch für dieses Spannungsverhältnis mag der Schrank gelten (Abb. 3). Aus Naturholz gefertigt, verweist er auf seine wilde Herkunft, in seinen rechten Winkeln auf deren technomorphe Zurichtung. Vielleicht wäre dieses sicherlich in Schulräumen häufig anzutreffende Detail nicht erwähnenswert, fände sich die Verankerung der Rauminszenierung in beiden Welten nicht so konsequent fortgeführt in der Kombination der Accessoires, die auf den Schultern des Schrankes ruhen. Hier finden sich nicht nur allerlei Pflanzen und Pflanzenimitate, sondern – an zentraler kompositorischer Position – auch ein Fußball und ein Regenschirm. Beides sind Gegenstände, die sich einerseits technischer Herstellung verdanken, jedoch zugleich andererseits auf naturnahe, oder wie man heute zu sagen pflegt, „Outdoor“-Aktivitäten verweisen. Der Ball wurde auf grünes Blätterwerk drapiert, welches durch seine Farbe die Assoziation des grasbewachsenen Feldes einträgt (die jedoch durch die Blätter wieder merkwürdig ironisch gebrochen erscheint), der durch sein Speichenwerk noch augenfälliger „technisch“ konstruierte Regenschirm schließlich erinnert uns zugleich an die Begegnung mit den abzuwehrenden Aspekten der Natur.
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Abb. 6: Flur – Anschlagtafel
Warum dieses kunstvolle Potpourri? Was lässt es uns fühlen? Das scheinbar so bedenkenlose Nebeneinander von morphologischen und thematischen Verweisen auf Technik und Natur zeigt an, dass hier, an diesem Ort, Architektur und Natur, Technik und Mensch, oder Ursprung, gesellschaftlicher Zugriff und schöpferische Subjektivität versöhnt sind, konfliktfreie Koexistenz praktizieren bzw. über jeden kämpferischen Gegensatz hinaus sind. Ein pädagogischer Koloss aus Stein, Zement und gebrannten Ziegeln, der so bereitwillig sich auf seine Heilung und Bekehrung durch Fauna und Flora einlässt, will als definitiv humanisiert anerkannt werden und demonstriert, dass er die ihm anvertraute Klientel in ihrem Sprießen und Werden angemessen zu bergen und zu behüten versteht.
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Betreten wir nun das Klassenzimmer (Abb. 7), so finden wir uns – wenig überraschend – in einer Atmosphäre, die jene des Flurs formal wie thematisch konsequent fortsetzt. Dennoch ist der erste Eindruck mit jenem des Flurs nicht gänzlich identisch. Der wesentlichste Unterschied lässt sich als Intensivierung jener Anmutung fassen, die bereits den Flur auszeichnet, begleitet von einer geringfügigen Verschiebung dieser Anmutung in Richtung auf mehr Helligkeit, mehr Wärme und noch mehr Geborgenheit.
Abb. 7: Klassenzimmer
Formensprachlich treffen wir hier wieder auf die bereits bekannte Dominanz des Runden und Organischen, des Mäanders und der Zentralsymmetrie bei gleichzeitiger weitgehender Absenz der langen Geraden, vor allem in ihrer Erscheinungsform als Raumkanten in Fluchtrichtung und rechtem Winkel sowie der großflächigen Ebenen als Raumoberfläche zwischen diesen Kanten. Die Vielzahl der kleinteiligen Formen hat hier ein Ausmaß erreicht, das den schweifenden Blick unablässig einfängt und wieder abwirft, nicht ohne das Gefühl zu hinterlassen, kaum etwas ausreichend erfasst zu haben oder der Vielfalt auch nur annähernd gerecht geworden zu sein. Dennoch drängt sich diese, auch hier aufgrund der geringen Ausdehnung der Objekte, nicht
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wirklich aufdringlich in die Wahrnehmung herein, überschwemmt sie nicht, erzeugt vielmehr ein visuelles Rauschen, aus dem sich zwar immer wieder Details ausgliedern, das aber rasch nur noch als hintergründiges Klangbild fungiert, welches bald diesen, bald jenen Grundton annimmt, bald in diesen, bald in jenen Rhythmus verfällt und das eine wie das andere fortspinnt, variiert, beendet und wieder aufnimmt. Vor allem das rhythmische Element spielt eine entscheidende Rolle für die spezifische Anmutung des Klassenraumes. Eine figural induzierte Grundvibration durchzieht praktisch alle wahrnehmbaren Raumrichtungen: Schon der Fußboden steht nicht still, sondern schwingt im gleichmäßigen Hin und Her seines Fischgrätmusters. Auch alle anderen Zonen des Raumes verströmen aufgrund ihrer äußerst kleinteiligen, aber wegen der Ähnlichkeit ihrer Objekte annähernd regelmäßigen Figurationskomplexe einen zarten, aber deutlich spürbaren Rhythmus. Seien es in Regalen verstaute Buchreihen, aufgehängte Papiersterne, Werkzeugarrangements oder selbst kleine Informationsplakate, sie alle imponieren durch formale Ähnlichkeit, serielle Anordnung, abgestimmte Abstände, regelmäßige Variation ihrer Richtungen etc. Man kann die ineinander übergehenden suggestiven Vibrationen dieses dreidimensionalen Ornaments je nach individuellem Ruhebedürfnis natürlich auch als, wenn auch unerhebliche, Belastung verbuchen, das fernem Stimmengewirr oder durch ein Fenster herein flutendem Verkehrslärm entspricht, häufiger scheint jedoch der Effekt, dass sie als wohlig-anregendes Stimulans empfunden werden, welches gleich dem Schnurren einer Katze oder dem Knarren eines alten Holzbodens die optische Stille des leeren Raumes durch breite aber hintergründig bleibende sinnliche Tönung anreichert.
Abb. 8: Klassenzimmer – Deckenbehang
Farblich präsentiert sich der Klassenraum in wärmeren Tönen als der Flur. Am stärksten tragen dazu Fußboden und Wände bei. Ersterer ist aus hellem Naturholz gefertigt, letztere sind durchgehend in einem satten Gelbton gehalten. Beides zusammen verleiht dem Raum ein hintergründiges warmes Strahlen, das entfernt an einen sonnigen Sommertag denken lässt. Ähnlich wie im Flur summieren sich auch hier wieder sehr
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unterschiedliche kräftige und bunt kombinierte Farben eher zu heterogenen, aber aufgrund der Kleinheit der Flächen harmonischen Farbschleiern, die einem pointillistischen Gemälde entlehnt sein könnten, als zu heftigen Dominanzen und Suggestionen (etwa von Bewegungen aus der oder in die Tiefe des Blickraumes). Wesentlich tragen zum Gesamteindruck auch die vier großen Fenster bei, die den Farben beträchtlich mehr Helligkeit, Glanz und Kraft verleihen, als dies den Farben des Flurs zukommt. Räumlich öffnet sich die Klasse spürbar großzügiger als der Flur, da sie über einiges mehr an Bodenfläche verfügt. Dadurch entsteht größere Weite im Raumgefühl, zusätzlich verstärkt durch die mehrfach mögliche Fortsetzung des Blickes durch die Fenster, die den Blick auf eine kleine innerstädtische Parkanlage freigeben. Gleichzeitig schlägt zu Buche, dass dieser Raum nun nach allen vier Seiten hin durch Wände abgeschlossen ist. Die größere Weite des Raumgefühls geht also einher mit einem Mehr an Geborgenheit und dadurch eröffneter Intimität.
Abb. 9: Klassenzimmer – Details Raumgliederung
Der spontane Raumeindruck gliedert sich ein in jene allgemeinere Logik, der auch schon Formenrepertoire und Farbenpalette verpflichtet waren: Durch die applizierten Rundungen, Wölbungen, Aussparungen, Lichtungen, Vorsprünge, „chaotischen“ Rhythmen, Weitungen und Engungen, die durch vielerlei dreidimensionale Gegenstände und bildhafte Suggestionen in Szene gesetzt werden, entsteht ein eher amorpher
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Binnenraum. Wie im Flur ist auch hier die ursprünglich geometrische Kastenform des Raumes wieder weitgehend unsichtbar gemacht und in eine organisch gegliederte Landschaft mit geometrisch eher diffuser Ausformung transformiert worden. So verschwinden etwa die oberen – normalerweise frei sichtbaren – Raumkanten beinahe hinter einer Reihe von schräg angebrachten und durchhängenden Schnüren, deren mannigfacher Behang die Aufmerksamkeit durch Kontrastwirkung, Farbe und baumelnde Bewegung wesentlich erfolgreicher auf sich zieht als jene (Abb. 8). Die warm-gelbe Bemalung der Decke und das vor sie gesetzte Accessoire drückt nach innen, also unten, es signalisiert an der Raumoberseite das Gegenteil von „freier Luft“ und lässt damit den Eindruck entstehen, der eigene Körper wäre von allen Seiten her von stabiler Materie eingefasst. Dies verleiht dem Klassenzimmer eine leicht höhlenartige Anmutung. Ausgeprägter noch als im Flur bilden sich – auch durch die größere Ausdehnung des Raumes ermöglicht – mannigfache Binnenräume in Form von Buchten, Nischen und Lichtungen (Abb. 9). Die Fenster geben dem räumlichen Ausdruck wieder ein spezifisches Gepräge (Abb. 10): Zwar sind es nun nicht mehr Vögel, die durch ihren Flug die klare Grenze zwischen dem Innen des Raumes und seinem Außen irritieren, sondern Blumen und Fische, dennoch erfüllen sie eine ganz ähnliche Funktion. So bilden die auf die Fensterscheiben gemalten Blumen gleichsam eine „zweite Reihe“ von Pflanzen hinter den realen physischen Pflanzen davor auf dem Fensterbrett. Die Scheibe ist also in ihrer Funktion als Grenze des Raumes wieder in bereits bekannter Weise in Frage gestellt:
Abb. 10: Klassenzimmer – Fenster
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Genau dort, wo der Raum eigentlich zu Ende sein soll, geht er nun weiter, mit eben solchen Pflanzen, wie sie auch im Raum herumstehen und wie sie natürlich auch in der noch einmal dahinter liegenden Parkanlage zu sehen sind. Die Pflanzen im Raum, auf dem Fenster und im Park bekennen sich entgegen ihrer kognitiven Einordnung als „hier“ und „dort“ zu einer mehrdeutigen räumlichen Sphäre, der mittlere Raum der Scheibe dockt bald innen, bald außen an und inszeniert ein Spiel mit der Wahrnehmung des Betrachters: Die Blumen hinter den inneren Blumen müssten eigentlich im Freien sein, da es „dahinter“ ja nur das „Außen“ gibt, doch müssten sie sich zugleich im Innenraum befinden, da als „vor“ dem Park ja nur das „Innen“ des Klassenraumes in Frage kommt. An Originalität übertroffen wird diese Ironie noch von jener, die sich bei einer anderen Scheibe mit aufgemalten Fischen bemerkbar macht (vgl. Abb. 10). Diese wirken, schon von ihrer Größe her, wie der Besatz eines Aquariums. Damit ist die Raumwahrnehmung einer neuen Variante des bereits bekannten Springphänomens ausgesetzt: Blickt man auf die Scheibe, sieht man die Fische auf ihr sitzen, schaut man hingegen auf die Fische, beginnen sie dahinter im Aquarium zu schwimmen. Damit erscheint die Scheibe als Schalk: Man blickt durch das Fenster ins Freie hinaus und – schaut in ein Aquarium hinein. Die Scheibe, von der man annehmen musste, dass hinter ihr das Außen liegt, dreht den Spieß um und zaubert den Betrachter ins Außen eines Wasserbehälters. Solcherart werden nicht nur Aufmerksamkeit und Raumgefühl stimuliert, sondern auch ein Stück Humor. Die Einrichtung des Raumes folgt einem konzentrischen Ordnungsprinzip: An allen drei fensterlosen Wänden (und in der Fensterwand in geringerem Ausmaß) wird in Regalen und ähnlichen Behältnissen vielfältiges Material aufbewahrt, welches in unterschiedlicher Weise Anlass und Gegenstand von Lernen werden kann (Abb. 11): Bücher, Bilder, Schemata, Landkarten, Werkzeuge, Spiele, Musikinstrumente, Anleitungen, Zimmerpflanzen, Arbeitsprodukte etc. Daran in Richtung Raummitte anschließend stehen – ebenfalls an allen vier Seiten des Raumes – die Arbeitstische der SchülerInnen und LehrerInnen. In der Mitte des Raumes öffnet sich somit ein größerer freier Platz (vgl. Abb. 9). Damit ergeben sich drei quasi „ringförmig“ angeordnete Zonen: eine „hohe“ und zugleich „ruhige“ Zone (Schränke, Regale), eine „niedrig“ und zugleich stärker belebte Zone (Tische) und eine „flache“ Zone, welche den dynamischsten Bewegungsaktivitäten zur Verfügung steht (Fußboden). Mit dieser Anordnung ist der wesentlichste Aspekt der Bewegungschoreografie des Raumes festgeschrieben.
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Abb. 11: Klassenzimmer – Materialaufbewahrung
IV Erst wenn man in den Klassenraum eingetreten ist, ist man wirklich „angekommen“. Darauf verweisen schon das über der Türe nach außen hin prangende Schild mit der Aufschrift „Willkommen“ und das Schild „Lerngemeinschaft MC“ links von der Türe, welche sich beide unmissverständlich auf den Klasseneingang (und nicht etwa schon auf den Aufenthalt im Flur) beziehen (Abb. 12). Und in der Tat: Hier in der Klasse selbst kommt das leitende ästhetische Programm erst wirklich zur Vollendung. Das zentrale soziale Bekenntnis des Klassenraumes heißt: zwanglose Harmonie. Ihre Choreografie besteht in einer ganz spezifischen Kombination aus konsequenter Abwehr und Durchhaltung von Struktur. Das Moment der Zwanglosigkeit wird der Großform abgetrotzt: Die geometrische Gewalt, die rechtwinkelig ausholende Macht über die eingefassten Menschen wird zunächst einmal gestalterisch gebannt, doch entsteht aus diesem Sieg über die makroskopische Ordnung der Dinge noch keine Harmonie.
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Abb. 12: Klassenzimmer – Eingangsschilder
Diese wird durch eine akribische Strukturierung der kleinen Form herbeigeführt. Der Verlust an sinnlich spürbarer Architektonik wird kompensiert durch die Radikalisierung der Binnenordnung und nun ergreift der amorph gemachte Raum die Körper nicht durch die – sei es generöse oder ehrfurchtsgebietende – große Geste, sondern durch die kleinen gleichsam elektrischen Impulse, die seine Oberfläche aus allen Richtungen abstrahlt. Diese Magie der Mikrostruktur wirkt nicht penetrant, ganz im Gegenteil, sie unterstreicht durch ihre durchgängige Bereitschaft zu lockerer Abwandlung und immer schon vorgesehener rücksichtsvoller Ausnahme die Zurückweisung der großen als Zwangsform noch einmal nachdrücklich und bringt ihre ablehnende Haltung gegenüber aller Einschränkung und Herrschaft über die Körper, Bewegungen und Spontaneitäten unübersehbar zur Geltung. Sie blockiert jede Raumwirkung, die man dem Überwältigenden, dem Heroischen oder dem Pathos gleichgerichteter Gemeinsamkeit zurechnen könnte, wie sie etwa für imperiale Architektur charakteristisch ist. An ihre Stelle tritt jedoch keineswegs ein verwahrlosungsaffines Laissez-Faire, sondern das gerade Gegenteil: eine hintergründig, aber kraftvoll spürbare soziale Präsenz. Von den liebevoll gestalteten Aufbewahrungssystemen über die sorgsam geordneten Buchreihen und einladenden Obstapplikationen bis hin zu den Produkten der kindlichen Kreativität erweist sich jeder Ausschnitt der Situation als subkutaner Verweis auf intentionale Geordnetheit, jeder angeräumte Winkel als Denkmal kümmernder und sorgender Obacht (Abb. 13). Die strenge Durchgängigkeit eines in seinem Maße genau bestimmten Verhältnisses von Struktur und Chaos macht sinnfällig, dass alle sichtbare Lockerheit auf ein äußerst ernst genommenes und konsequent gehandhabtes Programm zurückgeht. Hier wurde Maria Montessoris Diktum von der vorbereiteten Umgebung ein subtil und hintergründig konzipiertes begehbares Denkmal errichtet. Die Beziehung zwischen dem amorph-organischen Raumerlebnis und der fürsorglich-milden Strenge der Mikroästhetik lässt noch einmal eine hintergründige Parallele zur natürlichen Welt hervortreten.
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Abb. 13: Klassenzimmer – gestaltete Details
Auch in dieser ist es ja die große Form der Felsen, Bäume oder Seen, welche zum Amorphen und organisch Wuchernden tendiert, und die kleine des Kristalls, der Blüte oder des Wellenkreises, die strengerer formaler Ordnung folgt. Dieser Oberton rahmt nahtlos den auch im Klassenzimmer wieder allgegenwärtigen thematischen Bezug auf Natur: In Schalen wachsen Kräuter, auf dem Bücherregal sind Äste drapiert, als würden sie hinter dem Möbelstück emporwachsen, vom Plafond hängen Sterne und Blüten aus Papier, im Raum ergeben sich durch allerlei Wölbungen und Vorsprünge kleine Binnenräume wie Buchten, Höhlen und Lichtungen, in den Fensterscheiben wachsen Blumen und tummeln sich kleine Fische, in einem Käfig erwartet das (tatsächlich lebende) Klassentier, gestreichelt zu werden (Abb. 14). Auch hier ist also unübersehbar: Wir befinden uns in einem dreidimensionalen Arrangement, welches aus wesentlichen Bestimmungsmomenten der überkommenen Bausubstanz und Fundstücken aus dem Naturraum zusammengsetzt wurde und auch hier deutet sich vielfach Versöhnung an, exemplarisch etwa im Plafondbehang, gemixt aus Blüten, welche aus Papier geschnitten und CDs, welche blütenartig bemalt wurden.
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Abb. 14: Klassenzimmer – Natur im Raum
Am Rande und der Vollständigkeit halber wäre noch zu vermerken, was dem Betrachter der Fotos naturgemäß verborgen bleiben muss: dass nämlich der intensive Eindruck, den der Raum gewährt, sich nahezu ausschließlich als visuelles Ereignis vollzieht, während den anderen Sinnesorganen kaum ein analoges innovatives Erlebnis zuteil wird. Damit nimmt die Gestaltung dieses Lernambientes die Herausforderung der optischen Überrumpelungskultur, in der sich Heranwachsende heute behaupten müssen, entschlossen an und versucht, ihr auf ihrem eigenen Territorium Paroli zu bieten. V Da es sich bei unserem Betrachtungsgegenstand um einen Schulraum handelt, wird nun endlich auch von pädagogischen Bedeutungen im engeren Sinn zu sprechen sein. Betrachten wir zunächst die ursprüngliche Gestaltung des Flurs. Sowohl Tragwerk (tragende Mauern) als auch funktionale Raumabtrennungen (Zwischenwände) sind baulich zunächst unmittelbar sichtbar. Wie die Aufschließungsräume, Fenster, Türen und weiteren funktionalen Bestandteile des Gebäudes folgen sie den traditionellen Schulbaukonzepten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, zeigen nach innen hin also eine aus-
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geprägt nüchtern-zweckrationale Gliederung. Der Flur ist architektonisch konzipiert als Aufschließungsraum für mehrere Klassenräume. Er schließt unmittelbar an die erste Etappe der anschließend weiter nach oben führenden Treppe an, setzt diese waagrecht fort und erreicht nach einer rechtwinkeligen Rechtsbiegung zwei weitere Raumtüren. Seine Größe ist offensichtlich nach der Anzahl der zu erwartenden Personen dergestalt bemessen, dass mehrere von ihnen gleichzeitig und ungehindert in beide Richtungen unterwegs sein können, denn dies wurde als Erfordernis des jeweils gleichzeitigen Beginns und Schlusses von Unterrichtseinheiten und Pausen sowie mit Blick auf mögliche Fluchtbewegungen etwa im Falle eines Brandes berücksichtigt. Die Belichtung durch ein genormtes Fenster (bzw. deren weitere zwei nach der Biegung) entspricht ebenso der skizzierten funktionalen Designation. Soll ein solcher Flur nun primär als Schacht zur Ermöglichung eines möglichst reibungsarmen Transfers von SchülerInnen und Lehrpersonal funktionieren, so muss nicht nur seine bauliche Qualität die Gesetze der Physik des Fließens berücksichtigen, also etwa nicht durch unangemessene Dimensionierung oder herausragende Hindernisse zu Stauungen der innerschulischen Lokomotionen führen, sondern auch seine innenarchitektonische Ausgestaltung. Dies bedeutete zum einen, dass es stets strikt verboten war und heute noch ist, auf dem Flur Möbelstücke aufzustellen, zum anderen und vor allem aber, dass die Gestaltung der Flure auch ästhetisch dazu beitragen soll, den effektiven Personendurchsatz zu befördern, zumindest keinesfalls zu behindern. Strikt zu vermeiden ist etwa, Plätze oder auch nur Signale zu schaffen, die zum Verweilen oder gar zur gemeinschaftlichen Interaktion einladen würden. Diesem Paradigma folgend etablierte sich eine Kultur des Flurs, die ich selbst als Schüler noch in allen Anstalten meiner pädagogischen Verwahrung antraf und die durch den Austriazismus „Gang“ (für „Flur“) von vornherein ganz unmissverständlich umrissen ist: Hier wird gegangen und sonst nichts. Noch heute finden sich in vielen Schulen „Gänge“, deren ästhetische Suggestion primär in ihrer Sogwirkung und ihrer teflonartigen Glätte besteht. Dieser Eindruck wird realisiert, indem nichts in solchen Fluren den Blick oder die Bewegung des durchgeschleusten Individuums einzufangen oder zu halten geeignet ist. Die dominanten Linien, die das Auge identifizieren kann, führen linealgerade an das Ende des Schlauches, welches entweder durch eine Wand, eine Türe oder den Beginn einer Treppe angezeigt wird und damit das finale Aus oder ein unaufhaltsames Weiter sinnfällig macht. Dazwischen findet sich nichts als gerade Raumkanten und kahle oder unspektakulär verzierte Wandflächen. Allein die Klassentüren signalisieren ein mögliches Abzweigen aus diesem hermetischen Bewegungsimperativ (vgl. etwa Abb. 15).
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Abb. 15: Funktional gestalteter moderner Schulflur (Beispiel)
Ein solcher „Gang“ erzeugt nicht nur faktisch wirkende Zweckrationalität, er weist den von ihm betroffenen Menschen auch eine ganz bestimmte soziale Rolle im baulich vorgesehenen Geschehen zu. Sie erfahren sinnlich-unmittelbar das Verständnis, das dieser Rolle als angemessen unterlegt wurde. So ferne sie nun in der architektonischen Form ausschließlich unter dem Aspekt ihres reibungsarmen Transports berücksichtigt sind, widerfährt ihnen zunächst keinerlei explizite Respektlosigkeit. Es wird ja in der Architektur nichts weiter thematisch, als bloß das funktionale Problem effizienter Bewegung. Doch ereignet sich – wie schon in Karl Kraus' bekannter Formulierung: „gar net ignorieren“ ironisch angezeigt – genau damit eine recht unfreundliche implizite Klarstellung: Wer strikt in keiner Weise als jemand angesprochen wird, dessen individuelle sinnlich-räumliche oder sozial-kommunikative Bedürfnisse in irgendeiner Form in Betracht kommen, muss sich als anonymisierter Bestandteil einer fremdverwalteten Substanz erfahren, die an diesem Ort nur unter ihr selbst unverfügbaren Umständen aktiv werden kann. In einem solchen „Gang“ ist man eben nichts als disponible Transportmasse. Analog lässt sich der ursprüngliche Klassenraum charakterisieren. Zur Illustration meiner Überlegungen verwende ich die Skizze eines preußischen Normschemas zur
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Errichtung von Klassenzimmern, welches mit dem Jahr 1895 rechtlich wirksam wurde (Abb. 16).
Abb. 16: Normschema preußisches Klassenzimmer, 1895
In seiner 1913 (also 18 Jahre später) erschienenen Schrift „Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung“ beschreibt Frederick Winslow Taylor die produktivitätseinschränkenden spontanen Verhaltensweisen von Industriearbeitern sowie mögliche systematische Strategien, ihnen entgegenzuwirken und bringt damit zugleich den „heimlichen Lehrplan“ des Preußischen Klassenzimmers auf den Begriff. Bei dem von Taylor unternommenen Versuch, unter Aufwendung eines gegebenen Ensembles psychophysischer Ressourcen ein Maximum an effektiver Leistung zu lukrieren, sollte kein Aspekt der Arbeitstätigkeit unberücksichtigt bleiben und so wurden die menschlichen Akteure der Produktionstätigkeit einem rigorosen Reglement unterworfen: „Wäre es Schmidt erlaubt worden, einen Haufen von 47 t Roheisen ohne Anweisung und Anleitung eines der Methode Kundigen in Angriff zu nehmen, er hätte in seiner Gier, den in Aussicht gestellten Lohn zu verdienen, ohne seinen Muskeln die zu ihrer Wiederherstellung absolut notwendigen Ruhepausen zu gönnen, so ununterbrochen und angestrengt gearbeitet, daß er wahrscheinlich schon um 11 oder 12 Uhr
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völlig erschöpft gewesen wäre. Doch da ein Mann … ihn tagtäglich überwachte und bei seiner Arbeit anleitete, … war es ihm möglich, den ganzen Tag in gleichmäßigem und ruhigem Tempo ohne Übermüdung zu arbeiten.“ (Taylor, zit. bei Haug 1978, 111) Der Mensch muss als produktiver Edelstein erst einmal fachkundig geschliffen werden, zu seinem eigenen Besten. Und dazu bedarf es einer klug durchdachten rigorosen Fremdsteuerung, welche die erwünschten Funktionen maximiert und alle Störeinflüsse nach Möglichkeit ausräumt. Die Ultima Ratio einer radikal kontrollierten Verschränkung von Verrichtungen und Bedingungen unter dem ausschließlichen Gesichtspunkt ihrer verfahrenstechnischen Optimierung lässt sich auch pädagogisch realisieren: Die im „Normschema“ entworfene gleichsinnige Ausrichtung aller Schülerplätze zum Lehrertisch und zur zentral dominierenden Tafel legt zunächst einmal fest, dass primär simultane Aneignungsprozesse unter der Bedingung kollektiver Unterweisung erfolgen sollen. Es handelt sich idealtypisch um ein „auditorium-scriptorum“ (Freinet 1965, 54): Die Kargheit der Einrichtung und des Wandschmucks soll Anlässe für Ablenkungen von der Polarisierung auf Anweisung und Lehrvortrag minimieren, das von links einfallende Licht das Anfertigen von Mitschriften in gleichgerichteter Aktion unterstützen. Die lineare symmetrische Anordnung der Sitze und Reihen entindividualisiert den einzelnen Lernenden und ordnet ihn als Gleichen in eine Gruppe Gleicher ein, die lediglich im Sinne einer Rangreihe räumlich differenziert wird: Man kann zum Beispiel weiter nach vorne versetzt werden und dies mag – je nach intentionaler Rahmung – Ausdruck positiver Auszeichnung (z.B. Anerkennung) oder negativer Auszeichnung (z.B. erhöhter Kontrollbedarf) sein. Im Übrigen herrscht hier das Prinzip der Egalität, allerdings weniger im Sinne frei sich entfaltender Individualität als vielmehr deren bürokratisch verordneter und zwangsweise exekutierter Einengung. Die Zweckwidmung und zugleich Dialektik einer solchen „modernen“ Zu- und Gleichrichtung als Voraussetzung von Konkurrenz- und Expropriationsbereitschaft hat Horst Rumpf am Beispiel von Sartres Flaubert-Biografie detailreich rekonstruiert (vgl. 1986). Auf Transfer reduzierte Funktionalität des Flurs, auf Belehrung getrimmte Sitzordnung im Klassenraum, beides übt Gewalt aus, die gegen die elementaren Bedürfnisse der Nutzer verstößt. Diese Betrachtung lässt sich schon überzeugend illustrieren mit der einfachen Überlegung, dass persönliche Wohnräume, die quasi das „Hoheitsgebiet“ ihrer Bewohner darstellen, eine solche Sprache der ästhetischen Ignoranz niemals sprechen würden. Noch in den lieblosest eingerichteten oder restriktivst kontrollierten Wohnungen finden sich Merkmale einer persönlichen Widmung und Aneignung, die beständig ästhetisch daran erinnern, dass hier ein individueller Mensch wohnt und diesen Raum gemäß seinen eigenen Maßgaben benützt. Schulische Flure und Lernräume sind öffentliche Räume. Sie werden im Auftrag einer öffentlichen Ordnung zur Organisation der gesellschaftlichen Erledigungen ihres Schülerpublikums gestaltet. Damit geraten sie über ihre faktischen Wirkungen hinaus
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auch zur emphatischen Werbung für die ihnen zugrunde liegenden Prämissen als „Ideale“ allgemeinen gesellschaftlichen Handelns. Im skizzierten Fall bestünden solche Ideale etwa in einem anonymen Aufgehen in öffentlicher Verpflichtung, in der Bereitschaft, sich einem mechanistischen Prinzip der Effizienzmaximierung unterzuordnen und Ähnlichem mehr. Die schulische Inszenierung fordert nicht nur ihre passive Einhaltung ein, sondern auch auf zu ihrer aktiven Aneignung als je eigenständiges Bedürfnis, wodurch jene erst so recht politisch bedeutsam und die Wertigkeit ihrer systemsolidarischen Verteidigung wie ihrer reformerischen Ablehnung verständlich. werden VI Wie anders nun also die Sprache, die unser freundliches Raumarrangement aus Flur und Klassenzimmer spricht, wie unmissverständlich damit seine Klarstellung, was es sein und was nicht sein will: Hier ist alle anonymisierende Vermassung und Unterwerfung gebannt, der Einzelne ist – wenn auch wohl in vielen Fällen kontrafaktisch – als Einzelner angesprochen, der fühlt, wünscht und autonom handelt. Der hohle Appell an die Bereitschaft zur Aufopferung an ein fremdorganisiertes großes Ganzes ist hier echolos verhallt. Diese Räume sind eindeutig pädagogischen Zwecken gewidmet: Jedes ihrer Details ist als förderliche Ansprache entworfen, als vorsichtige Kontaktnahme mit dem neu Eintretenden, als maieutische Frage an den Unentschlossenen und als unaufdringliches Angebot an den bereits Aktiven. Als Adressat fungiert hier der verallgemeinerte bildungsbedürftige Heranwachsende. Er ist das das Alpha und das Omega der Inszenierung, der Fluchtpunkt, auf den die gesamte Szenerie zuläuft. Gleichzeitig rücken auch die pädagogischen Akteure in spezifischer Ansicht ins Licht, als jene Kraft, die dies alles gestaltet hat, materialisiert in der fürsorglichen Gestaltung jener unerschöpflichen Schutz- und Anregungslandschaft. Sie intoniert: Wir mögen euch, wir sind für euch da und wir fühlen uns für euch und euer Lernen verantwortlich. Die dichte Struktur der gleichsinnig eingestimmten Details zeigt die wache Präsenz des Personals, ihre übergroße Vielfalt und dessen unermüdliche Anstrengungsbereitschaft. Beides kann als Ausdruck von fürsorglicher Zuneigung interpretiert werden, es lässt aber auch spüren, dass man hier nicht primär privativer Unterhaltung sich widmen kann: Der Ernst des Lebens verlautet hier gedämpft, aber unüberhörbar. Doch dies trägt keinen paternalistischen oder moralisierenden Beigeschmack, sondern einen des optimistischen Appells und des emphatischen Engagements. Wie eine Rede Barack Obamas beschwört der Raum die Kraft der kreativen Imagination und der aktiven Anstrengung und demonstriert am eigenen Beispiel, dass und wie man durch entschlossenen Eingriff die Welt verändern und gestalten kann: Aus einem langweiligen und technokratischen Bauwerk haben wir diese pulsierende anregende Umgebung gestaltet. Genau so könnt ihr aus jeder alltäglichen Lebenssituation das Abenteuer der schöpferischen Erneuerung gewinnen. Die pädagogische Aura des Raumes spricht die Heranwachsenden nicht bloß als Einzelne oder diese gar als neoliberal Konkurrierende an: Ein Großteil der Acces-
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soires, die als Mikroelemente der Raumerscheinung eingesetzt sind, entstammen der kreativen Arbeit der SchülerInnen. In den meisten Fällen werden diese Beiträge aber nicht primär als Individualleistungen gewürdigt, sondern zu eigenständigen Arrangements kombiniert (vgl. etwa Abb. 17). Damit wird die Emanzipation der sozialen Anerkennung aus dem pädagogischen Verhältnis vorbereitet: Die Heranwachsenden dürfen nicht nur Zuwendung konsumieren, sondern auch geben. Sie werden selbst als Urheber von Zuwendung und Gestaltung ernst genommen und damit zu Verselbständigung und Eigenverantwortung im sozialen Austausch aufgerufen. Und diese bezieht sich natürlich auch wieder auf außermenschliche Natur: auf die zu wässernden Blumen und auf das zu fütternde Streicheltier beispielsweise.
Abb. 17: Klassenzimmer – Schülerarbeiten
Die Organisation der Aufenthalte und Bewegungen im Raum – vorrangiges Gestaltungsfeld der Architektur – setzt dieses Konzept konsequent fort: In Übereinstimmung mit den überwiegend individuellen und in Kleingruppen vollzogenen Arbeitsabläufen sieht die Raumgestaltung weder eine eindeutig rituell-symbolisch noch ästhetisch markierte Fokussierung auf ein dirigierendes und kontrollierendes Zentrum vor. Hier finden sich keine linear-symmetrisch angeordneten Bankreihen, deren Fluchtli-
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nien eine bestimmte Blickrichtung suggerieren würden. Ganz im Gegenteil: Durch die „Nischen“ und schützenden „Binnenräume“ scheinen die Heranwachsenden einer „panoptischen“ Kontrolle eher entzogen als ausgeliefert. Die skizzierte ringförmige Anordnung, die gegen die Mitte zu jeweils mehr an freier Bewegung ermöglicht, inszeniert eine individualisierte egalitäre Anordnung fern jeder Eingliederung der Zuhörer in eine geometrisierte Menschenansammlung. Weder ein deutlich als solcher markierter Lehrertisch noch eine zentral dominierende Tafel ziehen die Aufmerksamkeit nach einem institutionalisierten Vorne. Es ist zwar eindeutig die Mitte des Raumes, die als Ort der größten Dynamik fungiert, aber sie bildet kein konstantes Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit, welches der „Tafelzone“ des traditionellen Klassenzimmers entspräche. Hier gilt, dass man sich von Fall zu Fall dort hinwendet, wo gerade ein Ereignis besondere Aufmerksamkeit nahelegt, sich aber im Übrigen seinen eigenen Aufgaben und Beschäftigungen widmet (vgl. Abb. 18).
Abb. 18: Klassenzimmer – dezentral organisierte Zonen
Die Lernlandschaft arrangiert indessen nicht nur vorausschauenden Schutz und bedürfnisgerechte Handlungsmöglichkeit, sie repräsentiert nicht bloß ein taggeträumtes „Nest in der Welt“ (Bachelard 1987, 115), auch explizit normative Intervention hat in die Raumgestaltung Eingang gefunden: An vielen Stellen der Klasse befinden sich Zettel
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affichiert, welche zu berücksichtigende Hinweise geben, Regelbefolgungen einmahnen oder wichtige Informationen verbreiten und in Erinnerung rufen (vgl. Abb. 19). Diese Zettel sorgen nicht nur für Nachricht, sondern auch für Legitimationsdruck, denn ein allfälliger Verweis auf Uninformiertheit wird von vornherein delegitimiert durch die Allgegenwart der Kundmachung. Was der autoritäre Schulmeister durch lautes Gezeter zu Gehör zu bringen versuchte, bringt sich hier leise und unaufdringlich, aber zugleich permanent, präzise und unbestreitbar zur Geltung. Überdies erinnern die Zettel noch einmal eindringlich an die pädagogische Widmung des Raumes generell. Damit bekräftigen die liebevoll gegliederten und verzierten Miniaturplakate eine besonders wichtige Botschaft des Raumes: Dies hier ist ein Klassenzimmer.
Abb. 19: Klassenzimmer – Aushänge
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Betrachtet man all diese mehr oder weniger sinnlich-unmittelbar wirksam werdenden ikonischen Eigenheiten des Raumarrangements, so ist man versucht, sie als eine geradezu perfekte Lösung für ein schwieriges Problem anzusehen: Schulgebäude repräsentieren volkswirtschaftlich betrachtet erhebliche ökonomische Werte. Sie werden in einer Zeit entlang der für diese maßgeblichen ideologischen Leitvorstellungen errichtet, überdauern diese jedoch erheblich. Was also tun, wenn einer Gesellschaft der einst grundierende Zeitgeist abhanden gekommen ist und der ideologische Wiederaufbau nicht die Mittel wert ist, die er benötigen würde? Bildet nicht die innenarchitektonische Renovierung nach dem hier vorgeführten Muster eine ökonomisch vertretbare Alternative zu Abriss und Neuerrichtung gemäß einem ohnehin schnell wieder alternden Paradigma? Spricht nicht zusätzlich für diese Strategie, dass die solcherart generierbare Spannung zwischen dem Alten und dem Neuen gerade als besonders aufklärerisches Attribut des Bauwerks gelten kann: Das alte Verworfene bleibt sichtbar und wird dem neuen Bevorzugten unterworfen? Wird damit nicht geschichtliche Transformation gerade als solche lesbar, politische Dialektik unmittelbar sinnlich-räumlich erfahrbar? Repräsentiert das Beispiel daher nicht geradezu eine doppelte Wahrheit auf einen Schlag: die Wahrheit der Zeitkritik an überkommener Machtausübung und die Wahrheit der verwirklichten Utopie einer bedürfnisgerecht gestalteten Lernwelt? Die reifliche Überlegung spricht dagegen: Wenn, wie hier dargestellt, die Einrichtung der baulichen Form entgegenarbeitet, so entsteht etwas prinzipiell anderes, als wenn äußere und innere Architektur von vornherein an pädagogisch überzeugenden Kriterien bemessen werden und die Gesamtgestaltung eine in sich stimmige Aussage formulieren kann. In ersterem Fall bleibt der Widerspruch zwischen der auf ein bestimmtes Ziel orientierten baulichen Kernsubstanz und deren Zurücknahme und Reorientierung durch applizierte Gestaltungselemente unausräumbar bestehen. Nun können – wie wir aus aufgeklärter Pädagogik wissen – Widersprüche zwar durchaus auch als pädagogisches Kapital betrachtet werden, im vorliegenden Fall scheinen dafür aber keine günstigen Bedingungen gegeben. Erstens: Widerspruchserfahrungen werden benötigt, um Lernprozesse auszulösen und Einsichten zu befördern, doch müssen sie dazu einer produktiven Auflösung zugänglich sein, um nicht die Spannung, die sie erzeugen, unerträglich werden zu lassen und Hilflosigkeit, Verdrängung und Defätismus zu induzieren. Eine solche Spannungswirkung in einem Bauwerk auf Dauer zu stellen, das die Lernbiografien der Heranwachsenden beherbergen soll, wird also zunächst schon einmal die Krisenbewältigungspotenziale von Kindern in den meisten Fällen grundsätzlich überfordern. Was als bauliches Denk-Mal für Erwachsene unter bestimmten Bedingungen Aufklärung bewirken könnte, erweist sich für Kinder wohl schnell als repressiver Käfig und als Mittel der Sozialisierung in die stumme Akzeptanz der unausräumbaren Ungereimtheit.
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Zweitens: Aus eben diesem Grunde, so lässt sich vermuten, haben die Schöpfer der dargestellten Innenarchitektur die innere Widersprüchlichkeit ihrer Raumsituation bis zur platten Genießbarkeit des Arrangements abgeschliffen. Der technokratische Widerpart der pädagogischen Heimeligkeit wird ja nicht nachvollziehbar und durchschaubar dargeboten, sondern kaschiert und versteckt. Vom Widerspruch geblieben ist nur noch seine hintergründig kontraproduktive Wirkung. Damit wurde zugleich getilgt, was als Anker einer kritischen Reflexion noch wäre vorstellbar gewesen. Die kunstvoll arrangierte Anrufung der Natur wird solcherart nicht kenntlich als kritische Utopie, sondern fungiert als Zierat eines diffus widrigen Untergrundes, als quasi frei schwebendes Animationsmittel juveniler Bildsamkeit1. Jene würde in Bewegung gehalten von einer Vision, die die Verwirklichung eines alternativen Anderen erstrebt, hier aber wird befriedet: Das Publikum ergötzt sich bereits am schönen Schein des Vorgefundenen. Es wird kein Versprechen gegeben, das Erstrebenswerte erscheint hier als bereits eingelöst. Drittens: Die Revision der alten Bausubstanz geht dem ihr von dieser nahegelegten eigenen Schwung auf den Leim. Die Abwehr der alten Herrschaftsarchitektur ist einer plakativen Negation verhaftet, welcher die glatte Wand, die große Form und der rechte Winkel generell verdächtig sind. Natur dagegen und das mit ihr verbundene Amorphe und Organische scheint demgegenüber prinzipiell unschuldig und heilungsträchtig. Doch gibt es keinen Grund, einem solchen romantischen Fundamentalismus zu folgen. Zwar ist nicht zu bestreiten, dass das dargestellte Raumensemble von den Kindern heiß geliebt wird, dass es sie birgt und irritiert, entspannt und anregt gleichermaßen, dass es als Heimstätte erlebt und doch nicht als private Behausung missverstanden wird, aber moderne Architektur hat überzeugend demonstriert, dass auch die klare Großform zu pädagogischer Meisterleistung fähig ist (vgl. nur etwa Abb. 20, vgl. auch Hellerup School 2009)
Abb. 20: Hellerup Schule, Dänemark – Detail der Außenansicht/Detail der Innenansicht
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Alles skeptische Räsonnement soll und kann indessen weder Engagement noch Einfallsreichtum der Gestalter der hier präsentierten ästhetisch-pädagogischen Provinz diskriminieren noch die anhaltende Faszination verbergen, die ich selbst ihr entgegenbringe. Jeder Besuch dieser kleinen magischen Oase in der Wüste der urbanen Beschulungseinöde hat in mir – entgegen alle bildungstheoretische, diskursanalytische oder ideologiekritische Einsicht – den Wunsch erneuert, doch noch einmal für ein paar Tage zur Schule gehen zu dürfen, in diese Schule nämlich.
Endnote 1
Vgl. dazu als paradigmatisches Gegenmodell etwa die ästhetische Inszenierung der „GeschwisterScholl-Schule“, wie sie von Böhme/Herrmann (2009, 215f) analysiert wird: Hier wird die „Diktatur des rechten Winkels“ (so eine Lehreräußerung, s. ebd.) nicht zurückgedrängt, sondern durch konträre Formbestände in ein deutlich spürbares Widerspruchsverhältnis gesetzt.
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Abbildungen Alle Abbildungen eigene Fotografien außer: Abb. 15: http://www.vincenz-von-paul-schule.de/images/schlfluroben_.jpg (Aufruf 11.2.2010) Abb. 16: Sonja Hnilica, i.d.B., 156 Abb. 20: http://www.grontmij-carlbro.com/NR/rdonlyres/737B9236-1FDC-4744-A4E42E0B57A2FC21/0/TrappeHellerupskole.jpg (Aufruf 11.2.2010)
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Einfinden in Rhythmen – Rhythmen des Einfindens Zum kursförmigen Erlernen von Bewegungsabläufen
Einleitung Dieser Beitrag befasst sich mit der Frage, wie kulturell geprägte Bewegungsabläufe in Kursen der Erwachsenenbildung erlernt werden. Er nimmt damit einen Sonderfall des Erlernens sozialer Praktiken in den Blick, der sich selbst wiederum in spezifischen sozialen Praktiken realisiert. Meist orientiert am Ziel der Herstellung oder Aufrechterhaltung körperlicher Gesundheit werden in solchen Kursen ritualisierte Bewegungsabläufe und Körperhaltungen gelehrt, gelernt und praktiziert, die in unterschiedlichsten kulturellen Zusammenhängen entstanden sind (vgl. Andersen 2001). Das Spektrum reicht vom Orientalischen Tanz und afrikanischem Trommeln über Yoga bis hin zu Aerobic und Bauch-Beine-Po-Gymnastik. Mit dem Fokus auf Lehr-Lernsituationen wird hier nicht das für das Erlernen sozialer Praktiken als zentral angesehene naturwüchsige Geschehen der Teilhabe an einer kollektiven Praxis in den Blick genommen. Weder werden in Kursen des Bewegungslernens die Praktiken in Auseinandersetzung mit der milieubedingten materiellen und sozialen Umwelt unmerklich inkorporiert (vgl. Bourdieu 1987a) noch ergibt sich das Lernen beiläufig im Eintreten in eine Praxisgemeinschaft und im Fortschreiten vom Novizen, der periphere Aufgaben übernimmt, zum Meister, der im Zentrum der gemeinsamen Praxis steht (vgl. Lave/Wenger 1991). Das kursförmige Erlernen von Bewegungsabläufen ist vielmehr zunächst durch eine Brechung des zu erlernenden Praxiszusammenhangs gekennzeichnet. Um Yoga, Tanz oder Selbstverteidigung praktizieren zu können, werden in Kursen diese Praktiken, die im Kern aus einer Abfolge und Kombination bestimmter Körperhaltungen und -bewegungen bestehen, abgewandelt. Nicht die Beteiligung an einer Praxis, sondern die Beteiligung an einer Simulation dieser Praxis ist der Modus, in dem sich das Lernen ereignet. Diese für LehrLernsituationen spezifischen Modulationen lassen sich insbesondere in einem veränderten Umgang mit den rhythmischen Strukturen der zu erlernenden Bewegungsabläufe ausmachen. Wie sich ein solches Erlernen von Praktiken im Durchgang durch ihre gezielte Modulation ereignet und wie sich die Beteiligten eines solchen Geschehens handelnd darauf beziehen, soll im Folgenden anhand eines Volkshochschulkurses erläutert werden, der das Erlernen einer Choreographie im Orientalischen Tanz zum Ziel hat.1
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Zunächst werden vor dem Hintergrund bislang diskutierter Zugänge zu Praktiken des Lernens und zum Erlernen sozialer Praktiken die Spezifika des kursförmigen Erlernens sozialer Praktiken herausgearbeitet. Zum Verständnis des hervorstechenden Merkmals der Modulation wird auf Erving Goffmans Rahmentheorie zurückgegriffen (Kapitel 1). Vor diesem Hintergrund wird anhand des Beispielfalls das Modulationsrepertoire beschrieben, auf das beim kursförmigen Erlernen von Bewegungsabläufen zurückgegriffen wird: das Augmentieren beim Einüben, das Repetieren beim Üben und das Transponieren beim Ausüben (Kapitel 2). Im Anschluss daran wird anhand eines ausgewählten Ausschnitts aus diesem Kurs gezeigt, wie sich im handelnden Bezug der Beteiligten auf dieses Modulationsrepertoire komplexe polyrhythmische Strukturen ausbilden, in denen die rhythmische Struktur der zu erlernenden Praktiken zum Teil nur noch in Andeutungen erkennbar wird, aber dennoch zentraler Bezugspunkt des Geschehens bleibt (Kapitel 3). Abschließend wird die diese Überlegungen konstituierende Unterscheidung zwischen einer originären und einer modulierten Praxis zu relativieren sein (Kapitel 4). 1 Kurse als Situationen der lernbezogenen Modulation sozialer Praktiken Unter dem Schlagwort des practical turn und der Verwendung des Sammelbegriffs der sozialen Praktiken formiert sich eine Forschungsperspektive auf soziale Situationen, die den körperlichen, räumlichen, und dinglichen Materialitäten von Interaktionen eine konstitutive Bedeutung beimisst und dadurch neue Einblicke in Prozesse der Reproduktion und Strategien der Subversion des Sozialen eröffnet (vgl. Hörning/Reuter 2004). Für erziehungswissenschaftliche Analysen zum Lehren und Lernen könnte aus dieser Perspektive eine Aufwertung der bislang randständigen Frage resultieren, wie sich vor dem Hintergrund der Körpergebundenheit von Wissen, Können und Wollen Lehren und Lernen als raum-, körper- und dingbezogenes Geschehen realisiert. Damit rücken die im erziehungswissenschaftlichen Diskurs eher randständigen Phänomene der Nachahmung und der Gewöhnung, der Mimesis (vgl. Gebauer/Wulf 1992) und der Übung (vgl. Prange/Strobel-Eisele 2006, 48ff) ins Zentrum des Forschungsgeschehens. Diese Perspektive erlaubt es, Lehren und Lernen als materiale Praktiken zu begreifen (vgl. Göhlich 2001; Honig/Joos/Schreiber 2004; Wulf/Zirfas 2007; Rabenstein/Reh 2008; Alkemeyer u.a. 2009). Nur am Rande behandelt wird in diesem Zusammenhang bislang, dass nicht nur der Umgang mit Lernen selbst eine materiale Praxis darstellt, sondern dass in pädagogischen Situationen körper- und raumgebundene Praktiken erlernt werden, die ihren Ursprung und ihren Ort der Realisierung jenseits der pädagogischen Situationen haben. Es werden pädagogische Praktiken rekonstruiert, aber nur am Rande wird auch betrachtet, inwiefern diese Formen auf das Erlernen von Praktiken bezogen sind (vgl. allerdings Schindler 2009). Etablierte Theorien, die nicht die Praktiken des Erlernens, sondern das Erlernen von Praktiken betonen, gehen dagegen von einer handelnden
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Einbindung der Lernenden in einen Praxiszusammenhang aus, der sich nicht über Lehr-Lernverhältnisse konstituiert. Dabei lassen sich zwei unterschiedliche Grundverständnisse eines solchen in die Praxis eingebundenen Erlernens sozialer Praktiken unterscheiden: eine Variante dieser Theorien eines Erlernens von Kenntnissen und Fähigkeiten unmittelbar „von Praxis zu Praxis“ (Bourdieu 1987b, 188) fokussiert Prozesse des Erwerbs von Körperhaltungen und -bewegungen als „Einbau kollektiver Schemata und Dispositionen in den Menschenkörper“ (vgl. Fröhlich 1999). Dies geschieht im Wesentlichen unbemerkt im Rahmen einer unbeobachteten, aber umso stärker prägenden sozialen Lebensgeschichte des Körpers (vgl. Bourdieu 1987a), die wesentlich von der sozialen Lage des Lernenden abhängt. Eine andere Variante versteht das Lernen selbst als sozial konstituiertes Phänomen: “In contrast with learning as internalization, learning as increasing participation in communities of practice concerns the whole person acting in the world.” (Lave/Wenger 1991, 49). Lernen ergibt sich in dieser Theorie des situierten Lernens in der aktiven Beteiligung an einer Gemeinschaft von Praktizierenden und ereignet sich als allmählicher Übergang von Novizen zunächst zugestandenen peripheren Rollen hin zu immer zentraleren Rollen, die den gekonnt Praktizierenden vorbehalten sind. Die in diesem Beitrag analysierten Situationen des Erlernens von (Bewegungs)Prak-tiken in Kursen unterscheiden sich grundlegend von diesen beiden Institutionalisierungsformen des Lernens. Das Lernen ergibt sich hier nicht unbeobachtet, selbstverständlich aus dem In-der-kulturell-geprägten-Welt-Sein. Es folgt vielmehr auf einen sichtbar gemachten Akt der Entscheidung, sich in ein Arrangement zu begeben, das eigens dazu eingerichtet wurde, Bewegungsmuster des Körpers zu prägen. Man wird nicht in Kurse hineingeboren, sondern man meldet sich zu ihnen an – zu einem vergleichsweise späten Zeitpunkt in der Lebensgeschichte. Bei der Gemeinschaft, in die sich die Lernenden begeben, handelt es sich auch nicht um einen Kreis von Beteiligten, der primär von der Idee eines gemeinsamen, arbeitsteiligen Praktizierens der zu erlernenden Bewegungsabläufe und Haltungen zusammengehalten wird. Ein Tanzkurs ist kein Tanzverein, wer einen Yoga-Kurs besucht, wird nicht automatisch zum Yogi. Im Vordergrund steht nicht, wie beim situierten Lernen, die Beteiligung an der originären Praxis auf zunächst randständigen und zunehmend zentraleren Positionen, sondern es wird eine Praxis etabliert, die durch eine Differenz zwischen Lehrenden und Lernenden bestimmt ist (vgl. Proske 2004). Der Unterschied zwischen dem kursförmigen Bewegungslernen und dem in Praxiszusammenhängen eingebundenen Lernen besteht allerdings nicht in einer Praxisabstinenz, wie häufig dem schulisch institutionalisierten Lernen unterstellt wird (vgl. z.B. Bourdieu 1987, 59 und 188). Die Durchführung der zu erlernenden Praktiken ist in Veranstaltungen des Bewegungslernens durchaus ein konstitutiver Bestandteil (vgl. auch Schindler 2009; Althans/Hahn/Schinkel 2009), allerdings – und das ist ein zent-
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rales Merkmal kursförmigen Lernens – geschieht dieses Praktizieren als Modulieren der originären, zu erlernenden Praktiken. Um das kursförmige Bewegungslernen in diesem Sinne als Praxis der „Inszenierung“ (vgl. Bausch 2001) einer Praxis zu beobachten, schlagen wir vor, Ervin Goffmans Konzept sozialer Rahmen (1980) heranzuziehen und das, was in diesen Kursen geschieht, als Modulationen primärer Rahmen zu verstehen. Während primäre Rahmen als Kontexte zu verstehen sind, in denen Handlungen des alltäglichen Lebens primär erwartbar sind und so bestimmte Deutungsschemata konstituieren, ist unter Modulation „eine systematische Transformation eines Materials…“ zu verstehen, „…das bereits im Rahmen eines Deutungsschemas sinnvoll ist, ohne welches die Modulation sinnlos wäre“ (ebd., 57). Kurse und Unterricht sind in diesem Sinne lernorientiert modulierte Praxen und damit zugleich Praxen der lernorientierten Modulation. In ihnen realisieren die Akteure eine Art „Sonderaufführung“ (Goffman 1980, 71ff) deren Eigenart darin besteht, dass Handlung oder Stücke davon in einem anderen Zusammenhang und zu anderen Zwecken aufgeführt werden, wobei das „eigentliche Ergebnis der Handlung nicht eintritt“ (ebd.). Was dies für das Erlernen von sozialen Praktiken bedeutet, lässt sich anhand der rhythmischen Strukturen deutlich herausarbeiten, die diese Kurse prägen (zum Verhältnis von Praxis und Rhythmus vgl. Franke 2005; Bourdieu 1987b, 141). Eine fokussierte Beobachtung der rhythmischen Abläufe in solchen Settings macht eine Verschränkung von zu erlernender Praxis und Praxis des Lehrens bzw. Lernens erkennbar. Die immer auch rhythmisch geformten Bewegungsabläufe der zu erlernenden Praktiken werden in Lehr-Lernsettings durch pädagogische Handlungslogiken aufgebrochen, die einer eigenen Rhythmizität folgen und dabei selektiv auf die Rhythmizität des Gegenstandes zugreifen, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. 2 Transponieren, Augmentieren, Repetieren – das Modulationsrepertoire In der vergleichenden Analyse von Kursen des Bewegungslernens2 zeigen sich wiederkehrend drei Interaktionsmuster, die jeweils auf spezifische Probleme des unterrichtsförmigen Erlernens von Bewegungsabläufen reagieren: Einüben, Üben und Ausüben (vgl. Herrle/Dinkelaker/Kade 2009). Während Ausgangspunkt des Einübens ein unterstelltes oder beobachtetes Wissensdefizit darstellt, das durch ein Kennenlernen der zu erlernenden Bewegungsabläufe bearbeitet wird, ist Ausgangspunkt des Übens ein unterstelltes oder beobachtetes Könnensdefizit. Hier steht das Könnenlernen im Vordergrund, also das Problem, dass die Kenntnis eines Bewegungsablaufs noch lange nicht bedeutet, dass man ihn auch kompetent ausführen kann. Das Ausüben reagiert dagegen auf ein Praxisdefizit der Beteiligten. Vor dem Hintergrund einer unterstellten oder auch nur behaupteten Kenntnis und Kompetenz wird gemeinsam der zu erlernende Bewegungsablauf ohne pädagogische Einsprüche oder
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Unterbrechungen vollzogen. Diese funktional differenzierten Interaktionsmuster sind jeweils mit spezifischen Modulationen der zu erlernenden Praxis verbunden. Als „Bewegungspraxen des Sports sind [sie] zwar aus sich heraus verständlich, aber sie nehmen doch auf vorgängige Praxen Bezug“ (Alkemeyer 2004, 59; vgl. auch Gebauer 1995). Zwar erscheint diese Staffelung Einüben-Üben-Ausüben als logischaufbauende und erwartbare Rhythmisierung des Lehr-Lernprozesses: erst kennen lernen, dann können lernen, dann anwenden lernen. Empirisch jedoch zeigt sich, dass eine solche Reihenfolge im Ablauf keineswegs zwingend ist: so wird häufig auch in Kursen zuerst Bekanntes und Gekonntes ausgeübt, dann Neues eingeübt und anschließend geübt. Weiterhin zeigt sich, dass zwischen den unterschiedlichen Mustern situativ gewechselt wird: erst einüben, dann üben, dann wieder einüben, schließlich ausüben, noch einmal üben, erneut einüben usw. Die einzelnen Muster sind also nicht als Elemente einer festen Abfolge zu verstehen, sondern lediglich als ein den Kursbeteiligten zur Verfügung stehendes Repertoire, auf das sie zurückgreifen können und zurückgreifen müssen, um kursförmiges Bewegungslernen zu realisieren. Die mit den Interaktionsmustern des Einübens, Übens und Ausübens einhergehenden Modulationsformen der zu erlernenden Praxis können als Augmentation, Repetition und Transposition beschrieben werden. Zur Charakterisierung der Veränderungsweisen von Rhythmen werden hier musiktheoretische Begriffe entlehnt. Während das Ausüben sich im Überführen der rhythmischen Praktik in einen veränderten Bezugsrahmen, also in einem Transponieren der zu erlernenden Praktiken in die Kurssituation unter Beibehaltung der ursprünglichen rhythmischen Strukturen realisiert, geschieht das Einüben in der zeitlichen Dehnung der rhythmischen Strukturen, also im Augmentieren der Elemente des Bewegungsmusters. Das Üben wiederum realisiert sich in der ständigen Wiederholung, also im Repetieren einzelner Elemente des Bewegungsmusters das gelegentlich durch Korrekturen unterbrochen wird. Über dieses Modulationsrepertoire scheinen die Kursbeteiligten wie selbstverständlich zu verfügen. Dass auch diese Modulationsformen zu erlernen sind, zeigt eine Untersuchung von Birgit Althans, Daniela Hahn und Sebastian Schinkel (2009). Beim Erlernen einer Breakdance-Choreographie mit Jugendlichen lehrt der Sozialarbeiter nicht nur den Tanz, sondern auch den korrekten Umgang mit der Lehr-Lernsituation. Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen, zur Selbstverständlichkeit gewordenen Rahmungen des Agierens und Interagierens und ihrer Rhythmizität kann verstanden werden, welchen Pfaden die Akteure in der Interaktionssituation jeweils folgen und wie sie sich aufeinander beziehen. Um das in Kursen des Bewegungslernens vorhandene Repertoire an Modulationsmustern darzustellen, beginnen wir mit der Erläuterung des Ausübens als Modulationsform des Transponierens.
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2.1 Transponieren beim Ausüben Kennzeichnend für die Realisierung eines orientalischen Tanzes ist – minimalistisch betrachtet – die gleichzeitige Bewegung unterschiedlicher Körperpartien zu einem orientalischen Musikstück nach bestimmten choreographischen Prinzipien. Dies wollen wir als Rhythmizität des Gegenstandes begreifen – die fortgesetzte zeitliche Koordination von Körperbewegungen zum Takt der Musik. Wichtige Merkmale für soziale Situationen, in denen dieser Tanz aufgeführt wird, sind darüber hinaus ein Kostüm, das die Tänzerin trägt, sowie die Kopräsenz eines auf die Tänzerin ausgerichteten Publikums. Die kursspezifische Modulationsform, die diesen originären Zusammenhang von rhythmischer Bewegung und sozialer Inszenierung am wenigsten stark verändert, ist diejenige, in der die pädagogische Differenz zwischen Lehrenden und Lernenden die geringste Rolle spielt. Beim Ausüben wird der Gegenstand in seiner Rhythmizität beibehalten, aber wesentliche Merkmale im Kontext der aufgeführten Bewegungen werden so verändert, dass es sich erkennbar um eine Simulation des Ausgangskontextes handelt. Da bei dieser Modulationsform die zu erlernenden Bewegungsabläufe in ihrer rhythmischen Struktur erhalten bleiben und lediglich in einen anderen Kontext gestellt werden, nennen wir sie Transponieren. Schon ein erster visueller Vergleich zwischen im Internet verfügbaren Abbildungen des Originalkontextes und videographischen Aufnahmen des Kurses zeigt wesentliche Differenzen auf (siehe Abb. 1).
Abb. 1: Transponieren beim Ausüben3
Anders als in der Ausgangspraxis treten im Kurs nicht nur eine Tänzerin auf, sondern mehrere. Die Choreographie wird nicht in warmem Licht auf einem Teppich inmitten von Publikum, sondern in einem hell durchleuchteten Trainingsraum auf Linoleum vor einem Spiegel aufgeführt. Statt in die Augen des begeisterten Publikums zu schauen, spiegeln sich die Akteure in ihren eigenen Bewegungen. So klatscht am Ende auch nicht das Publikum Beifall, sondern die Lernenden applaudieren sich selbst. Obwohl kein Publikum anwesend ist, verhalten sich die Beteiligten weitestgehend so, als ob eine Aufführung stattfinden würde. Lernende und Lehrende tanzen gemeinsam
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zur Musik. Der Rhythmus des Kursgeschehens entspricht dabei weitgehend dem Rhythmus des zu erlernenden Gegenstandes: Die Choreographie wird in ihrem Ablauf vollständig aufgeführt, orientiert am Takt des Musikstücks. Das Tanzen der Choreographie wird nicht unterbrochen, selbst dann nicht, wenn jemand einen Fehler macht oder aus dem Rhythmus gerät. Hierin ähnelt das Ausüben der originären Praxis und unterscheidet sich zugleich wesentlich vom Einüben und Üben. Die Ordnung der zu erlernenden Choreographie stellt damit einen zentralen Bezugspunkt des lernorientierten Modulationsgeschehens dar (vgl. Schindler 2009). Obwohl beim Ausüben die Differenz zwischen Lehrenden und Lernenden zurücktritt, hebt sich die Lehrerin dennoch von den anderen Tänzerinnen ab. Ihre Bewegungen sind deutlicher und flüssiger als die der anderen. Zudem gibt sie immer wieder knappe verbale Hinweise, wie „Lächeln!“. Die Kursleiterin übernimmt hier die Rolle einer Vortänzerin, an der sich die anderen Tänzer orientieren können. Statt alleine vor Publikum bei einer Festlichkeit aufzutreten, tanzt hier eine Gruppe anwesender Personen synchron zur Musik in Gegenwart einer Lehr-Person, die zwar mittanzt, ab und zu aber durch Hinweise zur Aufführung die soziale Asymmetrie deutlich macht, die zwischen ihr und der Lernendengruppe besteht. Dieser Handlungszusammenhang weist Parallelen auf zu dem von Goffman beschriebenen Setting der Rollenspiel-Veranstaltung (vgl. Goffman 1980, 86f). Um später als Tänzerin agieren zu können wird zunächst das Erlebnis des Tanzens vor Publikum in einer Simulation (re-)aktualisiert. Dabei können sich die Lernenden in Anwesenheit einer Person, die Verantwortung für die Gestaltung der sozialen Situation übernimmt, sukzessive in die Rolle einer orientalischen Tänzerin einfinden, ohne den sozialen Erwartungen ausgesetzt zu sein, die an eine Realsituation herangetragen werden (zum pädagogischen Moratorium vgl. Zinnecker 2000). Dass sich die Beteiligten in Lehr-Lernveranstaltungen im Modus der Transposition (unter Beibehaltung der rhythmischen Struktur der originären Praxis) auf den Gegenstand beziehen können, setzt die Unterstellung eines vorhandenen Bewegungswissens und einer vorhandenen Bewegungsfähigkeit voraus. Sollen dagegen neues Bewegungswissen erworben oder neue Bewegungsfähigkeiten entwickelt werden, wird der transponierte Gegenstandsrhythmus auch in seiner zeitlichen Gestalt moduliert. Beim Einüben geschieht dies durch rhythmisches Augmentieren. 2.2 Augmentieren beim Einüben Charakteristisch für Situationen des Einübens sind eine Zerteilung des originären Gegenstandsrhythmus und eine ausgedehnte Darstellung der gebildeten Teilelemente durch die Kursleiterin, mit dem Ziel, ein Imitieren durch die Teilnehmenden zu ermöglichen. Die Reihenfolge der einzelnen Elemente bleibt dabei in der Regel erhalten. Die Kursleiterin schreitet beim Einüben fort, indem sie zur Darstellung des nächsten Elements übergeht, das auch in der Originalchoreographie ein Anschluss-Element
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darstellt. Dies geschieht in dem Moment, wenn ein erfolgreiches Imitieren der Bewegungen durch die Teilnehmenden beobachtet bzw. unterstellt wird. Die zugrundeliegende Modulationsform kann als Augmentieren gekennzeichnet werden, weil sie durch die zeitliche Dehnung der einzelnen Elemente des zu erlernenden Bewegungsablaufs in der Darstellung der Kursleiterin bestimmt ist. In Abbildung 2 sind ein Ausschnitt aus der ausgeübten Choreographie sowie die augmentierte Behandlung eines Teils aus diesem Ausschnitt im Einüben dargestellt (beide im Zeitraum von 18 Sekunden).
Abb. 2: Augmentieren beim Einüben
Das in der oberen Zeile als Nummer 3 gekennzeichnete Element der Choreographie wird während des Einübens (dargestellt in der unteren Zeile) über einen deutlich längeren Zeitraum hinweg aufgeführt. Die Aufführung wird begleitet durch Erläuterungen der Kursleiterin. Die Musik ist ausgestellt. Anfangs bewegt sich nur die Kursleiterin, bis dann zum Ende hin alle die vorgeführte Bewegung vollziehen. Während sich die Akteure beim Ausüben überwiegend synchron bewegen, ist hier die Bewegung der Lernenden weitgehend individuell verschieden und wesentlich durch ihr je eigenes Lerntempo und Vorwissen bestimmt. Der Sinn dieses kursleiterregulierten Augmentierens wird erkennbar, wenn die Teilnehmendenaktivitäten in dieser Modulationsform betrachtet werden. Das Einüben beginnt für die Teilnehmenden mit einem Bewegungsstillstand, der eine vollständige Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Bewegungen der Kursleiterin ermöglicht. Nach unterschiedlich langer Zeit gehen die Teilnehmenden dann dazu über, selbst die beobachtete Bewegung zu realisieren oder es zumindest zu probieren. Schlägt der Versuch fehl, wird erneut das Beobachten der Kursleiterin in den Mittelpunkt gestellt, oder weiter ausprobiert. Dieser Prozess des
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Imitierens und Abgleichens der Teilnehmenden braucht mehr Zeit, als die Ausführung des Elements im Bewegungsablauf selbst verbrauchen würde. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der rhythmischen Augmentation. Dem ausgedehnten Zeigen einer neuen (Teil-)Bewegung auf Seiten der Lehrperson steht ein Beobachten und Ausprobieren der Bewegung auf Seiten der Lernenden gegenüber. Wie lang diese Darstellung ausgedehnt wird und wie klein die Elemente gewählt werden, die aus dem Ganzen des Bewegungsablaufs herausgegriffen werden, ist sehr unterschiedlich und hängt vom unterstellten Schwierigkeitsgrad der Bewegung und den unterstellten Imitationsfähigkeiten der Teilnehmenden ab. Haben die Lernenden die neue Bewegung wahrgenommen und erfolgreich ausprobiert, wird im Einüben sukzessiv fortgeschritten bis hin zur vollständigen Darstellung des zu erlernenden Gesamtablaufs. Wird dagegen ein weiterer Imitationsbedarf unterstellt oder beobachtet, verharrt die Lehrerin beim aktuellen Gegenstand und zeigt ihn noch einmal in veränderter Weise, statt sich der nächsten (Teil-)Bewegung als Lerngegenstand zu widmen. Der Ablauf des Einübens ist erst in dem Moment abgeschlossen, wenn der gesamte einzuübende Rhythmus als bekannt vorausgesetzt werden kann. Allerdings sind häufig Unterbrechungen dieser Kette zu beobachten und Wiederaufnahmen zu einem späteren Zeitpunkt. So wechseln sich etwa Sequenzen des Einübens mit Sequenzen des Übens ab oder das Einüben erstreckt sich über mehrere Kurstreffen hinweg. Im Zuge des Augmentierens ist eine weitere, bedeutsame Abwandelung der originären Praxis zu beobachten: die Bewegungen finden ohne Musikbegleitung statt. Das Ausschalten der Musik ermöglicht eine Abkopplung vom Tempo, das mit dem Takt der Musik vorgegeben wird. Die dadurch wegfallende Taktung der Bewegungen wird durch die Kursleiterin substituiert. Dieser Handlungszusammenhang weist Parallelen zu dem von Goffman beschriebenen Setting der Demonstration auf. Dort geht es um das Aufführen bzw. Vorführen „einer aufgabenähnlichen Tätigkeit außerhalb ihres gewöhnlichen funktionalen Zusammenhangs, um jemand anderem einen genauen Einblick in den Ablauf zu ermöglichen“ (Goffman 1980, 79). Das in allen sozialen Situationen mitlaufende Moment der mimetischen Anähnlichung (vgl. Gebauer/Wulf 1992) wird hier methodisiert. Wer kompetenter Akteur in der zu erlernenden Praxis ist und wer versucht, sich diesem Akteur anzuähneln, ist durch die starke Rollenunterscheidung zwischen Kursleiterin und Teilnehmenden eindeutig festgelegt. Um ausreichend Gelegenheit sowohl zur Beobachtung als auch zur tentativen Performanz zu geben, wird die zu erlernende Praxis augmentiert. Sehen die Beteiligten das situative Problem nicht im Kennenlernen eines Ablaufs, sondern in dessen Routinisierung, kommt dagegen das Modulationsmuster des Repetierens zum Tragen.
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2.3 Repetieren mit okkasionellen Interruptionen beim Üben Ausgangspunkt des Übens ist die Unterstellung oder Beobachtung, dass eine Bewegung zwar bekannt ist, aber noch nicht gekonnt ausgeführt werden kann. Beim Üben wird der Körper an eine bestimmte Bewegung oder einen bestimmten Bewegungsablauf gewöhnt, so dass eine Automatisierung der Abläufe möglich wird. Dies geschieht durch vielfaches Wiederholen dieser Bewegung (vgl. Prange/Strobel-Eisele 2006, 48ff). Das zentrale Modulationsprinzip des Übens besteht daher im Repetieren. Realisiert wird dies durch ein wiederholendes Proben der sich überwiegend synchron bewegenden Lernenden, begleitet durch ein Vormachen der Lehrperson. Dieses Vormachen ist allerdings nicht zwingende Voraussetzung für das Üben. In einigen Kursen des Bewegungslernens üben die Teilnehmenden durchaus auch ohne aktive Beteiligung der Kursleiterin. Kennzeichnend für Übungssituationen ist dagegen in jedem Fall eine andere, durch die Kursleitende hervorgerufene Modulation des Geschehens. Das vielfach wiederholte Geschehen wird von Zeit zu Zeit unterbrochen, wenn die Teilnehmenden durch die Kursleiterin korrigiert werden. Die Interaktion zwischen Kursleiterin und Teilnehmenden ähnelt im Moment dieser Korrekturen dem Interaktionsmuster beim Einüben. Die Kursleiterin zeigt, wie es geht, die Teilnehmenden versuchen zu imitieren. Im Unterschied zum Einüben sind diese Demonstrationssituationen aber nicht eingebunden in eine Reihe von Zeigeakten, sondern sie treten vereinzelt auf, abhängig von einem beobachteten Fehler der Lernenden, und verschwinden dann wieder, sobald eine Überwindung des Fehlers unterstellt oder beobachtet werden kann. Das Üben ist daher durch das Modulationsmuster des Repetierens mit okkasionellen Interruptionen geprägt. Abb. 3 auf der nächsten Seite zeigt das Wiederholen eines Elements der Choreographie beim Üben. Während beim Ausüben die in den Bildern 2 und 3 dargestellten Bewegungen lediglich einmal wiederholt werden (erkennbar in den Bildern 4 und 5), geschieht diese Bewegungswiederholung beim Üben vielfach. Die einfache Wiederholung erscheint im Kontext des Ausübens als stilistisches Mittel der Betonung, die mehrfache Wiederholung im Kontext des Übens als Gewöhnungspraxis. Auch beim Üben wird – wie beim Einüben – der Gegenstand zergliedert. Allerdings ist das anschließende Wiederzusammensetzen nicht Bestandteil des Übens.
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Abb. 3: Repetieren beim Üben
Das einzelne geübte Element erscheint in seiner vielfachen Wiederholung isoliert. Während sich im augmentierenden Modus des Einübens Phasen des Fortschreitens von Bewegungselement zu Bewegungselement und Phasen des Verharrens bei einem Bewegungselement abwechseln, ist der repetierende Modus des Übens durch ein ostinates Verharren bei einem Bewegungselement gekennzeichnet. Die vereinzelten Interruptionen durch Korrekturen sind Moment des Rückschritts, bei denen das dem Üben eigentlich vorausgesetzte Kennen der richtigen Bewegung in Frage gestellt und im Anschluss daran wiederhergestellt wird. Das Repetieren weist Parallelen zu dem von Goffman beschriebenen Modus des Einübens auf (vgl. Goffman 1980, 72ff). Er abstrahiert dort auf die Entwicklung der „Fähigkeit, eine Handlung in der gewünschten Weise aufzuführen“. Im Üben wird das in sozialen Situationen immer mitlaufende Moment der Gewöhnung methodisiert. Diese Praktik des bewussten Erzeugens von Bewegungsweisen und Haltungen des eigenen Körpers, die der unmittelbaren bewussten Kontrolle selbst nicht zugänglich sind, wird seit der Antike als wesentliches Mittel der Kultivierung und Kontrolle des eigenen Körpers verstanden (vgl. Kinzel 1995).
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2.4 Interaktionsmuster und Modulationsformen im Überblick Folgende Tabelle fasst die oben beschriebenen Muster und die in ihnen realisierten Modulationsformen anhand wesentlicher Gesichtspunkte zusammen: die interaktive Rahmung, das im Zentrum stehende pädagogische Grundproblem, die realisierte Modulation des Gegenstands sowie die Handlungsweisen von Lehrenden und Lernenden, die diesen Modulationen zu Grunde liegen. Interaktive Rahmung
Pädagogisches Problem
Modulationsform Handlungsweisen von des Gegenstandes Lehrenden und Lernenden
Einüben
Kennenlernen von Neuem
Augmentieren
Üben
Könnenlernen von Bekanntem
Ausüben
Anwenden von Bekanntem und Gekonntem
Lehrende
Lernende
Zeigen
Beobachten, Ausprobieren
Repetieren mit okkasionellen Interruptionen
Begleitendes Vormachen, Korrigieren
Proben
Transponieren
Aufführung des Aufführung des Gegenstandes Gegenstandes (Tanzen), Hinweise (Tanzen) geben
Tabelle 1: Das Modulationsrepertoire in Kursen des Bewegungslernens
3 Zwischen Abstimmung und Ungleichzeitigkeit: Prozessierung der Gegenstandmodulationen im Handeln der Beteiligten Die dargestellten Modulationsformen bilden den Rahmen des Handelns in Kursen des Bewegungslernens. An ihnen orientieren sich die Akteure, um ihr Agieren untereinander abzustimmen. Sie sind allerdings keineswegs als starre Formen zu verstehen, in die sich Lehrende und Lernende einzupassen haben. Vielmehr bilden sie eine Interpretationsfolie für das Geschehen, die es sowohl ermöglicht, eigenes Verhalten verständlich zu machen als auch das Verhalten Anderer zu verstehen. Um in Kursen des Bewegungslernens zu handeln, haben die Beteiligten immer wieder neu zu entscheiden, auf welche Rahmung der Situation sie zurückgreifen, welches Modulationsmuster sie also anwenden. Dabei gilt es, die eigenen Situationsdefinitionen bzw. Rahmungshypothesen mit denen der anderen Beteiligten abzugleichen. Anhand des folgenden Ausschnitts lässt sich zeigen, dass eine solche Abstimmung keineswegs bedeuten muss, dass alle Beteiligten auf die selbe Modulationsform zurückgreifen. Vielmehr ist das gleichzeitige Anwenden unterschiedlicher Modulationsformen in bestimmten Situationen sogar strukturell erwartbar und pädagogisch er-
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wünscht. Wie sich vor diesem Hintergrund das Lehr-Lerngeschehen als polyrhythmische Verschränkung unterschiedlich gerahmter Handlungsstränge herausbildet, wollen wir anhand eines Übergangs darstellen, an dessen Ende eine Sequenz des Einübens etabliert ist. Dabei wird der sequentielle Verlauf des Geschehens nachgezeichnet. Sowohl verbale als auch nonverbale Untergliederungen werden zur Unterscheidung von Sequenzelementen herangezogen (vgl. Dinkelaker/Herrle 2009, 70ff). Um mögliche Bedeutungen der Äußerungen der Beteiligten zu eruieren, wird abweichend vom üblichen Vorgehen ein Wissen über Kontexte und erwartbare Rahmungen vorausgesetzt. Dadurch wird es möglich, das Verhalten der Beteiligten als Handeln innerhalb der spezifischen Rahmungen des Bewegungslernens in Kursen zu verstehen. Das zur Analyse herangezogene Vorwissen haben wir in Kapitel 2 dargestellt. Es ist selbst Ergebnis einer Analyse, an deren Anfang ein Absehen von vorhandenem fallspezifischen Vorwissen stand. Die Analyse setzt ein, als die Kursleiterin eine Äußerung vollzieht, die offensichtliche eine vorherige Phase des Kursverlaufs abschließt. Der Verlauf des Geschehens wird dokumentiert durch Standbilder des Geschehens aus zwei Kameraperspektiven sowie durch das Transkript dessen, was gesprochen wird. Der Zeitpunkt des Standbilds ist im Transkript durch das fett geschriebene Wort markiert.
Abb. 4
Die Teilnehmerinnen realisieren zum Zeitpunkt des Kursgeschehens, das durch Abbildung 4 dokumentiert ist, keine Bewegungen, die dem Muster des orientalischen Tanzes zugerechnet werden können. Dabei richten sie sich überwiegend in Richtung des Spiegels aus und markieren diesen Ort damit als „vorne“. Indem sie der dort positionierten Kursleiterin (in schwarzer Hose und rosafarbenem Oberteil) eine erhöhte Aufmerksamkeit zukommen lassen, markieren sie die Situation als eine, in der das
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Beobachten der Kursleiterin im Vordergrund steht. Dies lässt vor dem Hintergrund des dargestellten Modulationsrepertoirs zwei Situationsverständnisse zu: es könnte sich um eine Situation des Einübens handeln, bei der die Kursleiterin vormacht, was die Teilnehmenden nachmachen wollen, oder es handelt sich um eine Situation des Übergangs, bei der die Kursleiterin darüber informiert, was im Folgenden geschehen wird. Die verbalen Äußerungen der Kursleiterin bestätigen die zweite Lesart der beobachtenden Haltung der Teilnehmenden. In diesem Moment wird nicht eingeübt, sondern es wird eine Situation des Einübens eingeleitet. Auch dass die Kursleiterin sich nicht bewegt, entspricht dieser Situationsdeutung. Mit ihrem Verweis auf die letzte Zusammenkunft schließt die Kursleiterin nicht an das an, was bislang im Kurs geschehen ist, sondern referiert auf eine Ereigniskette, die über die aktuelle Situation hinausweist. Diese Ereigniskette beginnt nicht erst im vorangegangenen Treffen. Denn dort wurde auch lediglich „weitergemacht“. Im hier vorliegenden Kontext kann dies nur so verstanden werden, dass sich ein Vorgang des Einübens nun schon über mehrere Treffen hinweg ausdehnt, und beim letzten Treffen weitere Teilstücke des zu erlernenden Gegenstands behandelt worden sind. Die Art und Weise, in der das „letzte Mal“ aufgegriffen wird, lässt nun zwei Unterstellungen der Kursleiterin erkennbar werden, die – sollten sie von den anderen Beteiligten übernommen werden – das weitere Geschehen wesentlich beeinflussen könnten: eine Unterstellung besteht darin, dass diejenigen, die das letzte Mal da waren, noch in Erinnerung haben, was da neu gezeigt wurde; eine andere Unterstellung besteht darin, dass diejenigen, die nicht da waren, das dort Gezeigte nicht kennen können. Für diejenigen, die das letzte Mal da waren, und sich gemerkt haben, was gezeigt wurde, würde also im Folgenden eine Übung erwartbar sein. Für sie ist „das Neue“ eine Wiederholung. Für diejenigen, die nicht da waren, oder vergessen haben, was beim letzten Mal vorgeführt wurde, müsste sich im Folgenden eine Situation des Einübens auftun. Ob die Teilnehmenden die Situation als Üben oder als Einüben begreifen, müsste sich darin zeigen, ob sie bei den erwartbaren Vorführungen der Kursleiterin gleich mitmachen i.S.v. Proben oder aber ob sie zunächst beobachten. Möglicherweise um den Teilnehmenden die Gelegenheit zu geben, sich an „das Neue“ zu erinnern, das beim letzten Mal gezeigt wurde, möglicherweise aber auch, um sich den Bewegungsablauf selbst zu vergegenwärtigen, wartet die Kursleiterin einige Sekunden, bis sie mit ihren Bewegungen beginnt. Dabei hat sie die Hände an die Hüften gelegt und eine Körperhaltung eingenommen, die ein baldiges Tanzen erwarten lässt (vgl. Abb. 4). Auch einige Teilnehmerinnen haben sich in eine solche Startposition begeben. Dies lässt erwarten, dass auch sie zu tanzen beginnen, sobald die Kursleiterin dazu den Einsatz gibt. Ihre Haltung legt ein Verständnis der Situation als Übung nahe. Andere Teilnehmerinnen lassen aufgrund ihrer Körperhaltung dagegen erkennen, dass sie (noch) nicht tanzbereit sind. Ihre Haltung legt ein Verständnis der Situation als Einüben nahe.
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Abb. 5
Entgegen der aufgrund des bisherigen Geschehens nahe liegenden Erwartungen beginnt ausschließlich die Kursleiterin sich zu bewegen. Die startbereiten Teilnehmerinnen bleiben dagegen bewegungslos und schauen zu – ebenso wie die anderen Teilnehmerinnen, die sich bislang noch nicht tanzbereit gezeigt haben (vgl. Abbildung 5). Eine Erklärung für diese Abweichung lässt sich in den verbalen Äußerungen der Kursleiterin finden. Sie beginnt nicht, wie angekündigt mit dem Neuen, sondern beginnt noch früher im Ablauf der Choreographie. Dieses Element ist für keinen der Beteiligten neu, man könnte also erwarten, dass seine Realisierung im Rahmen einer Übung stattfindet. Die Wortwahl der Kursleiterin „soll ich das noch mal erklären“ thematisiert das Geschehen aber als Einüben. Es wird erklärt und nicht geprobt. Hier unterstellt die Kursleiterin, dass trotz bereits vollzogenen Einübens, den Teilnehmenden dieses Element noch nicht oder nicht mehr verfügbar ist. Diese Unterstellung der Kursleiterin scheinen die Teilnehmerinnen zu akzeptieren. Sie schauen der Kursleiterin bei ihren Bewegungen zu, proben aber selbst nicht. Damit charakterisieren auch sie die Situation als Moment des Einübens. Eine Teilnehmerin jedoch fällt aus diesem einübenstypischen Rahmen: sie beginnt, die Tanzfläche zu verlassen (vgl. Abbildung 5). Möglicherweise war sie das letzte und das vorletzte Mal da und sieht keine Notwendigkeit, an diesem nochmaligen Einüben teilzunehmen oder aber sie erkennt am Vormachen der Kursleiterin, dass sie schon so viel verpasst oder vergessen hat, dass auch das jetzt begonnene Einüben nicht mehr anschließt an das, was sie schon kennt. Im ersten Fall würden vorhandene im zweiten Fall fehlende Kenntnisse zum Verlassen der Lehr-Lern-Situation führen. Nachdem durch das von der Kursleiterin unterstellte Gedächtnisproblem alle Beteiligten als Einübende adressiert wurden, ist nun zu erwarten, dass im weiteren Verlauf des Geschehens die Beteiligten versuchen, die Drehung der Kursleiterin nachzu-
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ahmen, und dass die Kursleiterin durch eine wiederholte Vorführung Gelegenheit dazu gibt.
Abb. 6
Entgegen dieser Erwartung wiederholt die Kursleiterin aber ihr Drehen nicht, wartet also nicht ab, bis die Teilnehmenden so weit sind, das Drehen selber auszuprobieren. Dieses Verhalten erscheint vor dem Hintergrund der im unterrichtsförmigen Bewegungslernen erwartbaren Abläufe ungewöhnlich. Zwei Deutungen lassen sich hier unterscheiden: entweder sind die Teilstücke, in die die Kursleiterin den Gegenstand zergliedert, aus mehreren Unterstücken zusammengesetzt. Wenn sie die Bewegung der Arme über dem Kopf zu Ende vorgeführt haben wird, wird sie wieder mit dem Drehen von vorne anfangen, um den Teilnehmenden ein Ausprobieren zu ermöglichen. Oder das Drehen war lediglich so etwas wie ein Stichwort, um den Teilnehmenden einen Wiedereinstieg in die zergliederte Praxis zu ermöglichen, ein kurzer Moment des Ausübens, in dem die Einbettung des Einzuübenden in die Gesamtchoreographie angedeutet wird. Wie im Bild (vgl. Abb. 6) zu erkennen, deutet die Teilnehmerin mit dem weißen Oberteil die Situation in der zweiten Variante und setzt damit einen wesentlichen Akzent für das weitere Geschehen. Ihr Einsetzen gemeinsam mit dem Elementwechsel der Kursleiterin rahmt die Situation als Übung, zumindest als Geschehen, das für eine der Teilnehmerinnen ein Üben und kein Einüben darstellt. Um mitzumachen, hat die Teilnehmerin nichts weiter benötigt als ein Signal, zu welchem Zeitpunkt die bereits bekannten Bewegungen zu vollziehen sind. Damit weist sie die vorangegangene Unterstellung weiterer Erklärungsbedürftigkeit für sich zurück und erzeugt so eine Differenz zwischen sich und allen anderen Teilnehmenden. Das Risiko, mit dieser Anmaßung vorhandener Kenntnisse durch eine erkennbare Abweichung von der Vorführung der Kursleiterin zu scheitern, wiegt für diese Teilnehmerin anscheinend gering.
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Alle anderen Teilnehmenden verharren dagegen weiterhin in der Position des Beobachtens. Sie positionieren sich damit als Lernende, die erst noch zuschauen müssen, bevor sie selbst aktiv werden können. Sie inszenieren sich als Einübende. Auch diejenigen, die ihre Hände nicht schon vorher in die Hüfte gestemmt hatten, haben dennoch ihre Körperspannung sichtbar erhöht. Dies charakterisiert ihr Beobachten als Vorbereitung eines anschließenden Ausprobierens. Indem diese Teilnehmenden der Interpretation des Geschehens als Einüben folgen, verschaffen sie sich Zeit, um eine als gelungen angesehene Annäherung an die zu erlernende Praxis beobachtend vorzubereiten. Durch das Mitüben der Teilnehmerin mit dem weißen Oberteil kommen sie allerdings in Zugzwang. Jedes weitere Zögern kann nun auf ihre individuellen Fähigkeiten zugerechnet werden und wird als Differenz in der Lernfähigkeit beobachtbar. Überhaupt nicht als Lernende verhält sich dagegen die Teilnehmerin, die die Tanzfläche verlassen hat. Was sie in dem hier abgebildeten Moment tut, wissen wir nicht, weil die Kamera sie nicht mit in den Blick genommen hat. Zumindest aufgrund ihrer Positionierung im Raum jenseits der Übungsfläche ist aber davon auszugehen, dass sie sich auf die Situation weder als Übende noch als Einübende bezieht.
Abb. 7
Indem die Kursleiterin bei der Darstellung der Armbewegung verharrt und zudem verbal auf diese Bewegung hinweist, entspricht sie sowohl der Situationsdeutung, die die Teilnehmerin mit dem weißen Oberteil vorgeschlagen hat – das Drehen war lediglich der Einsatz für eine gemeinsame Übung – als auch der Situationsdeutung, die das Verhalten aller anderen Teilnehmenden nahe gelegt hat. Zwar war das Drehen nur ein Auftakt, aber in dem Moment, in dem das Neue dargestellt wird, kommt es zum augmentierenden Einüben. In Reaktion auf diese fortgesetzte Darstellung der Armbewegungen steigen nun auch weitere Teilnehmerinnen in diese Bewegung mit ein. Da diese Teilnehmerinnen zuvor das Geschehen noch beobachtet haben, erscheint
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dieses Mitmachen nun als ein Ausprobieren im Rahmen des Einübens. Durch das vergleichsweise frühe Ausprobieren heben sich diese Teilnehmerinnen von denjenigen ab, die weiter zuschauen. In der Gruppe der Lernenden sind zu diesem Zeitpunkt vier unterschiedliche Rahmungen als Varianten der Bezugnahme auf die Situation zu unterscheiden: Die Teilnehmerin im weißen Oberteil charakterisiert sich als fortgesetzt Übende, die eines Einübens nicht länger bedarf. Die Teilnehmerinnen, die erst jetzt begonnen haben, die Bewegungen der Kursleiterin zu imitieren, zeigen sich als diejenigen, die genug gesehen haben, um nun selbst tätig zu werden. Sei es, weil sie eine besonders schnelle Auffassungsgabe haben, oder sei es, dass sie nur eines kleines Anstoßes bedurft haben, um sich daran zu erinnern, was sie bereits beim letzten Mal beobachtet haben. Sie charakterisieren sich damit als Einübende, die sich – aufgrund ihrer wiederholt aufgeführten Bewegung – im Übergang zum Üben befinden. Diejenigen, die noch nichts tun, verweisen auf ihren weiteren Beobachtungsbedarf, zeigen aber durch ihre Körperhaltung zugleich an, dass ein Übergang vom Beobachten zum Ausprobieren jederzeit erwartbar ist. Dadurch charakterisieren sie sich tendenziell als Einübende. Die Teilnehmerin, die sich abseits des Geschehens aufgestellt hat, dementiert dagegen die Erwartung eines unmittelbar anschließenden Ausprobierens. Dadurch, dass sie Aufmerksamkeit demonstriert, schließt sie allerdings auch nicht aus, dass eine Beteiligung an der gemeinsamen Praxis zu einem späteren Zeitpunkt noch stattfinden könnte. Sie charakterisiert sich damit als temporärer Aussteiger mit Einüben am Horizont. Das Fallbeispiel zeigt, dass zu einem Zeitpunkt des Geschehens ganz unterschiedliche Modulationen des gegenstandsinhärenten Rhythmus zum Tragen kommen können. In solchen Fällen kommt es zu einer polyrhythmischen Verschränkung der unterschiedlichen Aktivitäten der Beteiligten. Solche Mehrdeutigkeiten der Situation ergeben sich insbesondere im Rahmen von Übergängen, können aber auch über längere Zeiträume hinweg stabil bleiben, wie Analysen gezeigt haben. Je nachdem ob sich die Teilnehmenden als Wissende bzw. Nicht-Wissende oder Könnende bzw. NichtKönnende verstehen bzw. als solche verstanden werden, wird ein anderes Handlungsmuster aufgerufen, einhergehend mit einer anderen Modulationsform, wobei die spezifische Leistung des Kursgeschehens darin besteht, dass zugleich mehrere Könnensstatus und damit mehrere Modulationsweisen realisiert werden können (vgl. auch Goffman 1980, 35). Dass das Geschehen überhaupt als sinnvoller Zusammenhang interpretiert werden kann, setzt allerdings den gemeinsamen Bezug auf ein Modulationsrepertoire voraus. Das rhythmische Geschehen der zu erlernenden Choreographie und die Modulationsweisen des Augmentierens, Repetierens und Transponierens, stellen dabei den Bezugspunkt aller Beteiligten dar. Reagiert wird in solchen Überlagerungen auf von Kursleitenden oder von Teilnehmenden selbst unterstellte Kompetenzdifferenzen. Ein wesentliches Regulativ dieser Beteiligungsformen bilden damit Selbst- und Fremdzuschreibungen von
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(Nicht-)Wissen bzw. (Nicht-)Können (vgl. Dinkelaker 2007, 2008). Mit jeder Aktivität positioniert sich jeder Beteiligte in einer kompetenzorientierten Positionsordnung (vgl. auch Markowitz 1984, 144), in deren Zentrum der kompetente Lehrende steht, zu dem sich die Teilnehmenden in unterschiedlich weiter Entfernung befinden. 4 Die nur beobachterabhängige Unterscheidung zwischen originären und modulierten Praktiken Einleitend wurde das pädagogisch-explizite Erlernen körpergebundener sozialer Praktiken in Kursen noch in Differenz zu Mustern des praxissituierten-beiläufigen Erlernens gesetzt. Begründet wurde dies damit, dass das kursförmige Erlernen dadurch gekennzeichnet ist, dass es selbst nicht als Teil der originären Praxis verstanden werden kann, die erlernt werden soll, sondern durch weitreichende Modulationen dieser Praxis gekennzeichnet ist. Diese Differenz ist abschließend in zwei Richtungen zu relativieren und damit zu präziseren: Zum einen stellt es eine Vereinfachung dar, das, worauf Kurse als Gegenstand verweisen, als unverfälschte und originäre Praxis zu beschreiben. Zum anderen lässt sich wiederkehrend beobachten, dass das, was in Kursen geschieht, selbst Merkmale einer originären Praxis aufweist. Betrachtet man die unterschiedlichen Spielarten, in denen der orientalische Tanz im mitteleuropäischen Kulturkreis wahrgenommen wird, zerbricht die bislang unterstellte Selbstverständlichkeit einer originären Praxis, auf die Kurse im orientalischen Tanz referieren. Der ägyptische Solotanz „Raqs Sharqi“, der als Ursprung des orientalischen Tanzes gilt, ist Teilnehmenden von Kursen der Erwachsenenbildung in der Regel nur zugänglich in Abbildungen und Reiseberichten. Wer sich die Mühe macht, ins Ursprungsland Ägypten zu reisen, wird dort einer durch touristische Verhältnisse modulierten Praxis des orientalischen Tanzes begegnen. Alltäglicher Kontakt mit dem orientalischen Tanz ist dagegen eher im Kontext popkultureller Adaptierungen erwartbar – nicht wenige werden ihm in Musikvideos von Shakira begegnet sein – oder im Rahmen von Feierlichkeiten, wie Verlobungen, Betriebsfeiern oder 50. Geburtstagen. Was hier als originäre Praxis im Sinne einer primären Rahmung gelten kann und was als modulierte, daraus abgeleitete Praxis, wird durch diese Vervielfältigung der Kontexte nicht mehr unterscheidbar. Im Kontext solcher verschachtelter Modulationen (vgl. auch Goffman 1980, 94 – er verwendet allerdings die Metapher der Zwiebel), lässt sich die Differenz zwischen originärer und modulierter Praxis letztlich nur als beobachterabhängige Unterscheidung zwischen Ausgangspraxis und modulierter Praxis begreifen, die wiederum sowohl auf die Ausgangspraxis als auch auf die modulierte Praxis angewendet werden kann. Vor dem Hintergrund einer solchen relationalen Perspektive erscheint nicht nur die originäre Praxis, auf die im Lehr-Lernkontext verwiesen wird, selbst als moduliert, auch die Praxis des lernbezogenen Modulierens weist wiederum Merkmale einer originären Praxis auf. Dies zeigt sich insbesondere in dem wiederkehrend beobachtbaren
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Phänomen, dass Teilnehmende von Kursen des Bewegungslernens, die die intendierten Bewegungsabläufe erfolgreich erlernt haben, keineswegs ihre Kursteilnahme beenden, sondern Kurse als Orte der Verstetigung ihres Praktizierens nutzen. Nicht der Übergang in die originäre Praxis, sondern eine veränderte Nutzung der modulierten Praxis wird zum Anwendungsfeld des Gelernten. Solche Tendenzen der Verstetigung der Lernpraxis sind in der Erwachsenenbildung weniger die Ausnahme als die Regel. Die Kurse sind damit nicht länger nur Einstiegspunkt für die Aneignung von Neuem, sondern auch Momente der fortgesetzten Praxis (vgl. Kade 1997)4. Versteht man in diesem Sinne Kurse selbst als originäre Praxen zeigen sich nun doch Parallelen zu den für das Erlernen sozialer Praktiken typischen Mustern des Partizipationswandels und der unbewussten Habitualisierung: In der vorangehenden Fallanalyse wurde erkennbar, dass das Geschehen wesentlich dadurch bestimmt ist, in welcher Art und Weise die Beteiligten am gemeinsamen Geschehen partizipieren. Das Lehr-Lerngeschehen bildet also eine eigene Positionsordnung aus, die sich im Grad der Modulation der Ausgangspraxis und am unterstellten Kompetenzstatus orientiert. Innerhalb dieser Positionsordnung bewegen sich die Beteiligten von marginalen Beobachterpositionen zu zentralen Darstellungspositionen. Dies geht nicht selten so weit, dass fortgeschrittene Lernende die Rolle von Kursleitenden übernehmen. Damit wird zugleich die lernorientierte Modulation der Praxis zum Normalfall, zu einem habituell verkörperlichten, selbstverständlichen Moment des gemeinsamen Praktizierens. Die Verschränkung der Rhythmen der zu erlernenden Praktiken und der Rhythmen der Praktiken des Erlernens wird zum Prinzip einer eigenständigen Praxis.
Endnoten 1
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Dabei stehen die Muster des Umgangs mit zu erlernenden Praktiken im Vordergrund, während die Spezifik von Tanzkursen eine untergeordnete Rolle spielt Hiermit befasst sich etwa Leelo Keevallik in ihrem Projekt “Language, voice and the body: multiple resources in dance instruction“ siehe: http://www.anst.uu.se/leelkeev/DanceProject.htm, vgl. auch Schindler 2009; Althans/Hahn/Schinkel 2009. Zum Projekt „Bild und Wort: Erziehungswissenschaftliche Videographie - Kurs- und Interaktionsforschung“ vgl. Kade/Nolda 2007. Quelle zur Abbildung links: http://fabbio-fabbi.blogspot.com/2008/06/oriental-dance.html; Google-Suchbegriff: oriental dance. (24.11.2009) Quelle zur Abbildung Mitte: http://www.kulturelle-landpartie.de/klp_res/pressebilder_gross/ Bauchtanz.jpg; Google-Suchbegriff: Bauchtanz. (24.11.2009) Quelle zur Abbildung rechts: Szene aus einem videographierten Kurs zum orientalischen Tanz (Projekt: Bild und Wort). Auch das kursförmige Eintreten in die Gemeinschaft der Praktizierenden setzt weiterhin zwingend körperliche Anwesenheit sowie das gemeinsame Praktizieren voraus. Kurse vereinen somit die Notwendigkeit des gemeinsamen Tuns unter körperlich Anwesenden mit der Möglichkeit des Übertretens sozialräumlicher Grenzen und der Schaffung neuer gesellschaftlicher Orte des Praktizierens. Kurse der Erwachsenenbildung werden so selbst zum Ort und zur Gelegenheit des Praktizierens von Kulturen, um den Preis von Modulationen, die ihre erhöhte Zugänglichkeit reflektieren.
Einfinden in Rhythmen – Rhythmen des Einfindens
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Die Präsentation des Blickes in der Foto-Serie „Kinder der Ruhr“ von Marie-Jo Lafontaine
Einleitung In der Fotografie widmen sich Künstlerinnen und Künstler in den letzten zwanzig Jahren vermehrt dem Thema Kindheit und Jugend. Dabei entstehen oft eindringliche Porträtstudien, die die Betrachtenden in ihren Bann ziehen. Eine von ihnen ist die belgische Foto- und Videokünstlerin Marie-Jo Lafontaine. Sie nähert sich dem Thema des Heranwachsens in unterschiedlichen Serien. So fotografierte sie Jugendliche für ihre Serien „Belle Jeunesse“ (1998), „Liquid Crystals“ (1999) oder „Babylon Babies“ (2001). In den Videoarbeiten „The Swing“ und „ChillOut Room“ (1997-1999) transportiert sie das Thema in eine fast skulpturale Gestalt, die als Raumerfahrung den Betrachtenden zugänglich wird. Kinder wiederum porträtierte sie zunächst unter dem Aspekt der Gewalt als Opfer und Täter in der Serie „Als das Kind noch Kind war“ (1993/94), bevor sie ab 1996 die „Kinder der Ruhr“ aufnahm. Diese Serie umfasst zirka zwanzig Brustbilder, die unterschiedlich zusammengestellt werden. Lafontaine begreift diesen Zyklus als „work in progress“, d.h. die Fotografien können in Anzahl und Auswahl variieren. Allen gemeinsam ist die für Lafontaine typische Formensprache. Die Schwarz-Weiß-Fotografien der „Kinder der Ruhr“ zeigen etwa zehnjährige Mädchen und Jungen aus dem Ruhrgebiet, die sich mit nacktem Oberkörper frontal den Betrachtenden zuwenden. Die über zwei Meter hohen Fotografien bannen die Betrachtenden durch den unverwandten Blick der Kinder und ihre Ausdrucksstärke und irritieren zugleich. Als Betrachtende können wir uns dieser Inszenierung nicht entziehen, wir verharren unweigerlich vor den Fotografien und werden gezwungen, den Blick zu erwidern. Lafontaine mutet uns in der Inszenierung eine Auseinandersetzung mit dem jeweils uns anblickenden Kind zu. Doch was sehen wir, wenn wir uns ein solches Foto der Serie einmal genauer ansehen, wie organisiert die Inszenierung der Fotografie dieses Betrachten und was hat das mit Pädagogik zu tun? Diesen drei Fragen wird der Text im Folgenden nachgehen.
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Abb. 1: Marie-Jo Lafontaine: Kinder der Ruhr. München 2000, 37
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Ein etwa zehnjähriges Mädchen schaut uns aus großen schwarzen Augen an. Einzig der weiße Lichtreflex-Punkt in der Pupille wird nicht von diesem tiefen und glänzenden Schwarz geschluckt. Alles an dem Mädchen scheint schwarz zu sein. Das Schwarz der Augen wird umkreist von dem gleichen tiefen dunklen Schwarz der Haare, die das Gesicht wie einen Rahmen vollkommen umspielen. Der Haarkranz ist seidig glänzend und dick, so dass das Gesicht wie von einem dicken Helm geschützt wird, der allerdings nicht aus Metall ist, sondern bloß ebenso glänzt. Das Haar des Kindes ist frisiert. Es hat einen bis an die Augenbrauen hinunterfallenden Pony geschnitten bekommen, so dass das Gesicht nicht nur an den Seiten und am Kinn von Haaren umrahmt, sondern auch die Stirn wegen der Dicke des Haares vollkommen vom Pony verdeckt wird. Das Haar schließt den Kopf und das Gesicht des Mädchens so ein, dass eine abstrakte Form ihres Gesichtsfeldes entsteht. Damit wird erneut die Assoziation des Helms aufgegriffen. Doch dieser Helm hat kein Visier, sondern gibt uns den Blick auf das Gesicht ungeschützt frei. Alles andere an diesem Helm – das Glänzende des Materials sowie das Umhüllende des exponierten Kopfes – teilt die Haarpracht des Kindes mit dem metallischen Helm einer Ritterrüstung. Aber der Helm des Mädchens ist nicht unbeweglich und starr. Seine Haare fallen zwar glatt und ohne Wellen oder Krausen herab, aber sie sind auch nicht auffällig ordentlich gekämmt. Manche Strähnen stehen ab und erwecken den Eindruck, als ob das Mädchen sich soeben in die Kamera gedreht habe und die Kamera diesen Schwung der Haare noch eingefangen hat. Am unteren Haarkantenrand fallen die kinnlangen Haare in einer Welle nach innen, so dass sich die Spitzen sanft um Wangen und Kinn legen. Es wirkt, als ob sich die rechte und linke Kante der Haare in der Mitte des Kinns berühren und einen Rahmen um das Gesicht legen. Allerdings übernimmt das Schließen des Kreises schlussendlich der dunkle Schattenwurf des Kinns. Diese Helmassoziation wird dadurch unterstützt, dass das Kind scheinbar keinen Hals hat. Haare und Kinn scheinen direkt in Schulter und Oberkörper überzugehen. Dieser Eindruck könnte dadurch entstehen, dass das Kind die Schultern nach oben zieht. Dies aber tut das Mädchen auf diesem Foto nicht, denn die Schultern folgen der entspannten Abwärtsbewegung der Arme, die locker am Körper herunterhängen. Die eigentümliche Schulterpartie, der der Hals zu fehlen scheint und die die Haare wiederum geschickt verdecken, kommt erst nach längerer Betrachtung des Fotos in den Blick. Zunächst schaut uns ein körperlich vollkommen entspanntes Kind an. Gleichwohl macht es den Eindruck, als ob es ein wenig und ganz leicht seinen Körper zu den Betrachtenden hinneigt. Dieser Eindruck entsteht dadurch, dass der Kopf des Mädchens minimal nach rechts von der Mitte verschoben ist und die Schultern unterschiedlich weit hinabhängen. D.h. das Mädchen hält seinen Körper nicht
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um eine fiktiv zentrierende Mittellinie aufrecht, sondern verleiht seiner Haltung durch das leichte Abweichen etwas Lebendiges, Dynamisches, was es den Betrachtenden ermöglicht, dies als Zugewandtheit zu deuten. Welchen Blick erwidern wir nun unter diesem Haarhelm? Die dunklen Haare und Augen deuten darauf hin, dass es sich um ein ausländisches Kind handelt. Das Schwarz ist so dominant, dass wir es nicht übersehen können oder bloß als ein individuelles, körperliches Merkmal unter vielen wahrnehmen. Dieses Schwarz aktiviert eine ganze Assoziationskette um das Thema „Migration“ und der damit verbundenen pädagogischen Hilfestellung. Aber der Anflug von pädagogischer Hilfe wird zugleich vom Blick des Mädchens selbst im Zaum gehalten. Es macht nämlich gar nicht den Eindruck, als ob es Hilfe brauche. Sein Glanz von Haaren und Augen signalisiert, dass es ihm körperlich gut geht. Es gibt jemanden, der sich um es kümmert und dafür sorgt, dass seine Haare gewaschen sind und ihren seidigen Glanz behalten. Und auch das Kind selbst bietet uns vertrauensvoll seinen Blick an. Es ist ein stark das Gegenüber fixierender Blick, den das Schwarz der Augen zu schlucken scheint. Das Undurchdringliche der Haare findet sich im Blick wieder. Dadurch, dass die Stirn verdeckt ist, haben wir keinen weiteren Hinweis als einzig die Augen, wie das Kind uns anschaut. Es ist ein intensiver, undurchdringlicher und auch abwartender Blick. Das Gesicht wird von einem geschwungenen Mund abgeschlossen, dessen Lippen aufeinander liegen und das Abwartende betonen. Seine Lippen sind merkwürdig rissig; es scheint, als ob das Kind zu viel und kontinuierlich an den Lippen leckt. Die rissigen Lippen stören das schöne Gesicht und geben ihm einen Ausdruck von Rauheit. Der Blick und das Gesicht erwecken den Eindruck, als ob wir es hier mit einem Mädchen zu tun haben, das keine Scheu vor der anderen, fremden Person hat. Nichts in seinem Blick oder in der Haltung weicht dem Gegenüber aus. Zugleich befindet sich das Kind in einer Hab-Acht-Stellung. Es macht keinen vertrauensseligen Eindruck, der eine Erwartung nährt, dass es freudig auf eine fremde Person losstürmte. Vielmehr vermittelt das Mädchen etwas abwartend Verschlossenes. Es gibt nicht zu viel von sich preis, auch wenn es sich nicht gänzlich dem Gegenüber verschließt. Es konfrontiert sich mit dem Gegenüber, ohne sich vollkommen an die Person auszuliefern. Der nackte Oberkörper des Mädchens ist aufrecht und noch kindlich ungeformt. Dünne, gerade Arme hängen an ihm herab. So wie der Hals des Kindes unter den Haaren verschwindet, so verschwinden auch die Brustwarzen im Oberkörper. Sie sind fast nicht von der sie umgebenden Haut zu unterscheiden. Alles an diesem Körper ist Kind, nichts gibt ihm etwas spezifisch Mädchenhaftes. Der Körper ist schlank, fast mager, einige Rippenknochen sind zu erkennen. Auffällig sind die Falten an den Achseln, die die herabhängenden Arme erzeugen, die wiederum Schatten auf die Seiten des Oberkörpers werfen. Diese Schatten verweisen darauf, dass das Kind vollkommen unverkrampft vor der Kamera steht. Es hat nicht die Arme ängstlich an den O-
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berkörper gepresst, sondern sie hängen so entspannt herab, dass sich zwischen Armen und Oberkörper eine natürliche Lücke bildet. Alles an der Haltung des Mädchens ist demzufolge entspannt. Es öffnet sich mit seinem Oberkörper vollkommen seinem Gegenüber. Das, was der Körper preisgibt, ist noch ungeformt. Es gibt nichts Spezifisches zu erkennen, was den Körper zu demjenigen dieses Mädchens machen oder ausweisen könnte. Keine geschlechtstypischen Merkmale sind zu erkennen; es handelt sich eindeutig um den Körper eines Kindes. Die einzige Auffälligkeit bildet die Schulterpartie, die rechts und links unterschiedlich lang zu sein scheint und damit der Körperhaltung etwas Schiefes verleiht. Das Markante am Mädchen und das es Kennzeichnende bildet demzufolge der Kopf. Die tiefschwarzen Haare und seine schwarzen Augen verleihen ihm eine persönliche Note, die der Oberkörper aufgrund seines Alters noch nicht herbeigeführt hat. Was uns aber aus den Augen entgegenschaut, ist ein Kind, das aufgrund seiner auffallenden Haarpracht und seiner Augen als hübsch wahrgenommen wird. Es ragt genau durch diese Kennzeichen aus der Gruppe der Kinder heraus. Es ist dadurch nicht irgendein Kind unter vielen, sondern ein besonderes. Dieses Wissen, um das Wahrgenommen-Werden, scheint auch der angstlose Blick zu zeigen. Dem Wahrgenommen-Werden nicht nur in dieser spezifischen Porträtsituation, sondern aller Wahrscheinlichkeit auch in der Menge begegnet das Kind mit einer Verschlossenheit des Blicks. Das auffällige Schwarz des Gesichtes, das es markant erscheinen lässt, ist zugleich auch dasjenige, was das Gegenüber schluckt und eine Undurchdringlichkeit vermittelt, die das Kind wiederum schützt. Der Blick auf dieses Kind konfrontiert mit einem Blick, der uns in den Bann des Kindes und den seiner Schönheit treten lässt und zugleich auch aus ihm heraushält. Das Kind schützt sich selbst, genau wie der Helm den Ritter im Kampf mit seinem Gegenüber. Ästhetik der Präsentation Lafontaine verleitet uns durch ihr konfrontatives Arrangement zu einer extensiven Explikation der Sensation, die von den Fotografien ausgeht. Meine beispielhafte Selbstbeobachtung beim Betrachten eines der Fotos der Serie „Kinder der Ruhr“ zeigt, dass eine ungeheure Menge an Annahmen und Deutungen darüber, mit was für einem Mädchen wir es hier zu tun haben, aktiviert wird, die sich der visuellen Wahrnehmung der Fotografie verdankt und einzig gekoppelt ist an die nicht situierte, reine „Studio“-Präsentation des Mädchens. Jedoch sind wir als Betrachtende nicht vollkommen frei zu assoziieren, sondern die Künstlerin richtet durch das Arrangement der Fotografie einen spezifischen Blick auf das Kunstwerk ein. D.h. Lafontaine ist selbst am Werke, den rezipierenden Blick auf die Kinder mitzugestalten. Doch wie inszeniert sie unseren Blick auf die Kinder
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und welche spezifische ästhetische Präsentation des Mädchens sowie aller Kinder der Serie „Kinder der Ruhr“ wählt sie? Alle Kinder der Serie fotografiert Marie-Jo Lafontaine in schwarz-weiß vor einem monochromen Hintergrund als Einzelporträts. Die Kinder blicken frontal und unbewegt, fast starr in die Kamera. Als Brustbilder sehen wir neben Kopf und Gesicht die nackten Oberkörper. Die Fotos der „Kinder der Ruhr“ sind hoch- und großformatig; ihre Originalmaße betragen 2,24 m x 1,17 m. Explikation des Normalkontexts der Form „Porträt“ Gemäß einem rekonstruktionslogischen Vorgehen, das auf Fotografien angewendet wird, wird zunächst der Normalkontext der Form und die damit verbundene Erwartungshaltung der Rezipienten expliziert. Dies ist analog zum hermeneutischen Vorgehen in der Kunstgeschichte zu betrachten, wie es von Max Imdahl vertreten wird. Er spricht von „Experimenten“ und meint damit das Durchspielen von Möglichkeiten im Bildaufbau, um so die gewählte Form genauer bestimmen zu können (vgl. Imdahl 1994, 303). Die Explikation des Normalkontextes „Porträt“ wird es möglich machen, die Differenz zu der von Lafontaine gewählten Porträtform näher zu bestimmen und somit die Spezifik der ästhetischen Präsentation als Strukturhypothese zu generieren. Sie bildet den Rahmen für die je besondere Form der Rezeption durch die Betrachtenden (vgl. Englisch 1991; Heinze-Prause/Heinze 1996). Ein Porträt ist zunächst die bildliche Darstellung einer Person im Profil oder en face. Im Medium der Fotografie ist es möglich, ein realistisches Abbild der Person zu erzeugen, so dass ein Moment in der Zeit für alle Zeit fixiert wird. Das Porträt verfolgt mit handwerklichem Können – anders als der Schnappschuss, dem der Zufall in die Hände spielt – das Ziel, die Person ins Bild zu setzen. Sie ist für die Betrachtenden wiedererkennbar. Wir erhalten durch die Fotografie die Gelegenheit, diese Person immer wieder ansehen zu können. Wie dieses Ins-Bild-Setzen vollzogen wird, ist dem Verwendungszusammenhang, für den das Porträt erstellt wird, zu entnehmen. Dabei finden zwei Formen die größte Verbreitung: das Porträt als Passfoto und als Andenken. Beiden Formen sind unterschiedliche Erwartungshaltungen eingeschrieben, die im Folgenden skizziert werden. Normalkontext: Passfoto Als Passfoto taucht das Porträt im Ausweispapier jedes deutschen Staatsbürgers auf. Diese Art der Fotografie wird meist als Routinearbeit erledigt oder gleich von einem Automaten erstellt. Formal sind dem Ausdruck enge Schranken gesetzt, denn der
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Staat definiert spezifische Vorgaben, die von der fotografierten und der fotografierenden Person einzuhalten bzw. herzustellen sind. Wegen der Verwendung für biometrische Analysen gelten in Deutschland bspw. folgende Vorgaben (vgl. Bundesdruckerei 2009): Die Fotografin muss darauf achten, dass das Gesicht 70-80% der Bildfläche einnimmt, der Kopf vollständig abgebildet und zentriert ist, keine Schatten und Reflexionen im Gesicht zu sehen sind; der Hintergrund ist einfarbig und hell, am besten grau zu wählen und es darf im Hintergrund kein Schatten entstehen. Die fotografierte Person wiederum muss gerade und mit neutralem Gesichtsausdruck in die Kamera schauen, sie darf die Augen nicht geschlossen halten und das Gesicht darf nicht durch Haare oder Brillen verdeckt werden. Bei Kindern bis 6 Jahren sind nach den deutschen Vorgaben Abweichungen in Kopfhaltung, Gesichtsausdruck und hinsichtlich der Blickrichtung zugelassen. Diese Vorgaben betreffen sowohl die kameratechnische Einrichtung der Fotografie als auch die Haltung der fotografierten Person. Es entsteht damit weder künstlerisch noch individuell ein Freiraum zur Gestaltung des Ausdrucks. Das Ins-Bild-Setzen der Person ist der Verwendung als Passfoto vollkommen untergeordnet. Als Dokument im Ausweis soll das Foto die erkennungsdienstliche Identifizierung der Person sichern. Obwohl sich auch sprachliche Beschreibungen der Person im Ausweisdokument finden, ermöglicht doch erst das Bild, schnell und relativ eindeutig zu entscheiden, ob die Person, die sich ausweisen muss, auch diejenige ist, die durch das Ausweisdokument spezifiziert wird. Das Passfoto setzt die überprüfende Person überhaupt erst in die Lage, einen Ähnlichkeitsabgleich zu vollziehen. Damit dies möglichst schnell und eindeutig gelingt, wird versucht, alles Verfremdende im Gesichtsausdruck auszuschalten. Das Gesicht soll auch deswegen so neutral fotografiert werden, um die Anwendung biometrischer Verfahren zu sichern. Der individuelle Ausdruck, der die Person erst zu der je besonderen macht, wird über die strenge Vorgabe der fotografischen Einrichtung kontrolliert, wenn nicht sogar ausgelöscht. Das Porträt als Passfoto führt eine Standardisierung der Aufnahme herbei, die die Unterschiedlichkeit nur noch in der physiognomisch gegebenen Differenz der Personen zulässt. Der Abbildcharakter der Fotografie steht dabei im Zentrum der Verwendung des Porträtfotos als Identifizierungsobjekt. Eine unbekannte Person wird so über ihre äußeren Attribute identifizierbar. Normalkontext: Andenken Dem Porträt als Andenken und Geschenk liegt eine andere Erwartungshaltung zugrunde. Über alle Altersphasen hinweg werden solche Aufnahmen von vertrauten Personen erstellt und an ebensolche verschenkt: Die Frau schenkt dem Mann ein Bild von sich, Eltern schenken Großeltern ein Bild ihrer Enkel, der beste Freund ver-
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schenkt ein Freundschaftsbild als Doppelporträt. Ein Foto von sich oder von einer der Beschenkten nahe stehenden Person ist immer ein sehr persönliches, nahezu intimes Geschenk. Es wird verschenkt, um die Erinnerung an die Person wach zu halten. Das Foto überbrückt die Abwesenheit. Allerdings erwarten wir von einem Porträt als Geschenk oft mehr als das bloße Wiedererkennen. Wir wollen nicht nur, dass die fotografierte Person vorteilhaft abgelichtet wird, sondern es soll auch das jeweils Spezifische sichtbar werden. Ein gutes Porträt zeigt die Person in ihrer Unverwechselbarkeit, so dass wir beim Anblick des Fotos denken: So ist diese Person. Der individuelle Ausdruck ist daher bei dieser Art des Porträts zentral. Er wird uns über den Gestalteindruck als Ganzes mitgeteilt; denn das Unverwechselbare liegt meist nicht nur in einem bestimmten Lächeln, einer spezifischen Kopfhaltung oder in der Art, die Hände zu verschränken. Es ist das Zusammenspiel von vielen kleinen Momenten, die sich nicht immer zeigen, die aber die besondere Person für uns eindeutig zu dieser und keiner anderen werden lassen. Zentral ist das Wiedererkennen eines die Person in ihrer Individualität spezifizierenden Ausdrucks, der der Person tatsächlich zeitunabhängig gegeben ist. Diese Zeitlosigkeit trifft unsere Vorstellung, dass bei allem Wandel der Person etwas im Kern vorhanden ist, das gleich bleibt. Besonders im Falle der Andenken-Fotografie von Kindern und Jugendlichen wird diese Bannung der Zeit bewusst. Mit dem Porträt wird dokumentiert, wie das Kind zu einem bestimmten Zeitpunkt war, wie es aussah, wie es sich verhalten hat. Die Fotografie kann die schnelle Veränderung der Kinder und Jugendlichen festhalten. Etwas, das sich vor unseren Augen fast unmerklich vollzieht: das Heranwachsen der Kinder wird erst über die Fotografien greifbar und ansichtig. Sie bannen und fixieren die Veränderungen und halten sie für spätere Zeiten fest. Inszeniert werden solche Andenken-Porträts von Kindern und Jugendlichen oft an auffälligen Wegemarken, wie Taufe, Eintritt in die Schule, Aufnahme in die religiöse Gemeinschaft oder Abschluss der Schule und Universität. Diese fotografierten Lebensphasen geben rückblickend Auskunft über Kontinuitäten und Veränderungsprozesse im Kind und Jugendlichen. Die Porträt-Fotografien von Kindern als Andenken sind zunächst auf die Veränderung in der Zeit gerichtet. Sie sollen diese dokumentieren und festhalten. Umso erstaunter stellen wir manchmal fest, wie unbemerkt sich ein bestimmter Ausdruck durch die verschiedenen Altersstufen durchsetzt und damit tatsächlich uns das Unverwechselbare des jeweiligen Menschen als wiederum Zeitloses präsentiert. D.h. während beim Passfoto das Wiedererkennen über die äußeren Merkmale der Person zentral ist und dem Wechsel dieser Attribute durch die immer wieder zu erstellenden Dokumente Rechnung getragen wird, setzt das Porträt als Geschenk gerade das Zeitlose und das Individuelle im Ausdruck in den Mittelpunkt.
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Der fotografierten Person bleibt im Falle des Passfotos kein Spielraum, sich selbst als Person zu inszenieren, sondern ihre Haltung wird von den staatlichen Vorgaben vollkommen bestimmt. Beim Porträt als Andenken hingegen ist die abgelichtete Person immer an der Inszenierung beteiligt. Sie stellt sich der Kamera und entwirft in ihrer Haltung ein Bild von sich. Es liegt dann in dem Zusammenspiel zwischen fotografierter und fotografierender Person, welche Tendenz sich durchsetzt: diejenige der SelbstInszenierung oder diejenige des forschenden Blicks zu ergründen, wer die por-trätierte Person eigentlich ist. Marie-Jo Lafontaines inszenierte Ästhetik Die Kinder der Serie „Kinder der Ruhr“ nehmen alle die gleiche Haltung vor der Kamera ein. Sie schauen frontal und mit neutralem, fast reglosem Gesichtsausdruck in die Kamera und damit uns an. Die Augen sind geöffnet und werden nicht von Haaren oder Brillen verdeckt. Die Ausleuchtung ist gleichmäßig, d.h. ohne Schatten, jedoch mit einem Rest Reflexion in den Augen. Der Hintergrund ist einheitlich anthrazit. Ein solches Porträt taugt wenig als Andenken der Enkel für die Großeltern, weil es zu konfrontativ ist. Hier werden keine niedlichen Aufnahmen von der nachwachsenden Generation präsentiert. Die Kinder werden nicht in einer altersspezifischen oder vertrauten Umgebung gezeigt oder für eine bestimmte Institution inszeniert. Die Fotografien bilden keine Dokumente des Aufwachsens oder des Eintritts in eine bestimmte Lebensaltersstufe. Sie verweigern in ihrer reduzierten formalen Inszenierung jegliche Kontextualisierung, die Rückschlüsse auf das spezifische Kind zulässt. Die Strenge des Aufbaus verhindert einen individuellen Ausdruck, den die Kinder in Haltung und Mimik finden könnten. Doch gerade die formale Strenge gibt den Fotografien und damit den fotografierten Kindern etwas Zeitloses. Die fehlenden Attribute lassen uns kein Zeitalter und keine Mode an Kleidung oder Einrichtung ablesen. Damit zielt die Struktur der Fotografie auf etwas, was der Andenken-Fotografie eigentümlich ist: das Charakteristische und Unverwechselbare, das sich als zeitlos erweist und hier auf das Kind-Sein gerichtet ist. Es wird von Lafontaine nicht so arrangiert, dass wir es als Ausdruck einer bestimmten Zeit, als Ausdruck einer bestimmten Mode deuten können. Sondern das Zeitlose ist hier allein in der visuellen Konfrontation mit den fotografierten Kindern zu erschließen. Formal-strukturell rückt Lafontaine ihre Porträtfotografien stark in die Nähe der Passfotos. Mit Ausleuchtung, Vermeidung von Schatten und grauem Hintergrund entspricht die technische Einrichtung den Vorgaben der Passfoto-Fotografie. Der gerade Blick in die Kamera und der reglose Ausdruck des Gesichts sind wohl Vorgaben, die die Kinder von der Fotografin erhalten haben. Doch wo die deutsche Staatlichkeit Nachsicht walten lässt, indem sie Kindern eine Abweichung hinsichtlich der
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Bewegung vor der Kamera zugesteht, ist Lafontaine unerbittlich. Sie fordert von allen Kindern die gleiche Strenge in der Präsentation vor der Kamera. Lafontaine bricht aber auch die Passfoto-Inszenierung, indem die fotografierten Kinder zu viel Haut zeigen. Die Nacktheit der Oberkörper gibt selbst für eine biometrische Erkennung zu viel preis. Als staatlich verordnetes Passfoto überschritte es hier die Grenzen der Intimität und Privatheit.
Abb. 2: Marie-Jo Lafontaine: Kinder der Ruhr. Dortmund 1999, 8f.
Lafontaine leiht sich von der Passfoto-Inszenierung die formale Strenge und von der Andenken-Fotografie das Inszenieren der Zeitlosigkeit der fotografierten Person. Sie radikalisiert wiederum beide Formen, indem sie die Kinder, noch mehr als staatlich gefordert, von sich preisgeben lässt, indem sie nackt fotografiert werden, und sie nimmt der Andenken-Form weitestgehend den individuellen Ausdruck. Diese strenge und fast karge Inszenierung setzt den abgelichteten Kindern einen Rahmen, der ihnen kaum Spielraum lässt, sich individuell ins Bild zu setzen. Allein über die Armhaltung wird dieser ihnen zugestanden. Hier finden sich in der FotoSerie herunterhängende, angewinkelte, vor der Brust verschränkte Arme. Lafontaine setzt die Kinder schonungslos der frontal auf sie gerichteten Kamera aus. Der formale Rahmen bestimmt, wie die Kamera auf sie gerichtet wird; sie können – haben sie einmal zugestimmt – dieser Bedingungslosigkeit des Fotografiert-Werdens nicht entkommen. Die Künstlerin schaltet gerade das mit der Kamera aus, was wir an Kindern kennzeichnend hervorheben: ihren Eigensinn, das noch nicht gesellschaftlich Angepasste, ihre spontane Natürlichkeit. Die Kinder scheinen auf den ersten Blick dem künstlerischen Arrangement schutzlos ausgeliefert zu sein.
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Dieser Schutzlosigkeit wiederum wirkt Lafontaine formal-ästhetisch entgegen. Sie richtet zwar die Foto-Serie nach dem Muster der Passfotos ein, ohne aber die Funktion der Identifizierung erfüllen zu können. Ermöglicht das Passfoto den visuellen Abgleich zwischen Ausweisdokument und real anwesender Person, so bekommt das Kunst-Porträt eine fast lebhafte Eigenständigkeit. Die Fotografie ersetzt den real anwesenden Menschen. Dies drückt Lafontaine durch die Größe der Fotos aus. Sie sind mit einer Höhe von über zwei Metern übermenschengroß. D.h. sie vergrößert die Abgelichteten nicht nur auf Lebensgröße, sondern geht über diese hinaus. Dies hat im Falle der zehnjährigen Kinder einen weiteren Effekt. Denn als reale Kinder sind sie immer kleiner als die sie betrachtenden Erwachsenen. Als fotografisch Porträtierte wachsen sie nun über sich und die Betrachtenden hinaus. Ihnen wird eine Größe zugewiesen, die sie weder physisch noch gesellschaftlich haben. Die Künstlerin stattet sie mit einem Attribut aus, so dass sie für ihre betrachtenden Gegenüber an Stärke und Gewicht gewinnen. Das, was sie im realen Leben nicht ablegen können, stellt ihnen Marie-Jo Lafontaine künstlerisch zur Verfügung: Größe. Doch neben der realen Größe des Fotos schafft Lafontaine über die Inszenierung auch eine metaphorische Größe, die ich als Schutz für die Kinder kennzeichnen möchte. Die Vorgaben zu Haltung und neutralem Gesichtsausdruck verhindern zwar, dass die Kinder zu ihrem eigenen Ausdruck finden, zugleich entlastet Lafontaine sie damit aber auch, dies tun zu müssen. Denn im Falle der hier Porträtierten handelt es sich um Menschen, die noch dabei sind, sich als Persönlichkeiten zu bilden, eine eigene Identität zu schaffen. Kinder sind in diesem Prozess äußerst verletzlich, weil sie viel weniger als Erwachsene eine Antwort darauf geben können, wer sie sind. Deswegen ist die formale Strenge der Porträts von Marie-Jo Lafontaine nicht nur eine Verhinderung des je individuellen Ausdrucks der Kinder, sondern zugleich eine vorweg genommene Schutzfunktion, die darauf verweist, dass die Kinder mit der Aufgabe, sich selbst vor der Kamera zu zeigen, wahrscheinlich überfordert wären. Dabei reduziert die Künstlerin die Kinder auf ihre physiognomische Erscheinung, die fast keine Unterscheidungsmerkmale über Haltung, Mimik, Kleider oder Umgebung zulässt. Die Fotografien geben den Blick frei auf Gesicht und Oberkörper. Lafontaine organisiert unsere Rezeption damit so, dass wir frontal den Blick der Kinder erwidern müssen. Wir sind gezwungen, uns visuell ein Urteil über sie zu bilden, wenn wir die Aufforderung, die vom Arrangement ausgeht, annehmen. Als Fotografien rücken wir den Kindern dabei aber nicht zu nahe, sondern können uns Zeit nehmen, sie eingehend zu betrachten und uns darüber versichern, was wir eigentlich visuell wahrnehmen und was wir daraus schließen, mit wem wir es zu tun haben. Der von Lafontaine inszenierte, konfrontierende Blick provoziert somit eine Rezeption der Betrachtenden, die uns in radikaler Weise unsere Deutungen des visuellen Eindrucks bewusst werden lässt.
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Pädagogische Einsichten Pädagogisch ist die Betrachtung von Lafontaines Foto-Serie „Kinder der Ruhr“ in dreierlei Hinsicht relevant und bedeutungsvoll. Wenn wir eine Person in den Blick nehmen, dann bedeutet dies immer mehr als das bloße Abscannen von äußerlichen Daten und das Speichern dieser für ein späteres Wiedererkennen. Wir deuten die uns visuell zugänglichen Daten wie Kleidung, Haltung, Gestik, Mimik und gelangen zu einem ersten Urteil darüber, mit was für einer Person wir es zu tun haben werden. Wir können dabei nicht alles an der Person wahrnehmen, sondern wählen aus. Aller Wahrscheinlichkeit nach haben wir uns im Laufe der Zeit ein persönliches Profil der visuellen Wahrnehmung angeeignet. Die Einschätzung der anderen Person fußt nicht ausschließlichen auf den visuellen Eindrücken, doch der Sehsinn ist immer auch und in einem bedeutenden Maße beteiligt. Das, was wir sehen und welche Bedeutung wir ihm beimessen, ist konstitutiv für das nachfolgende Handeln der Person gegenüber. Dies trifft auch für den pädagogisch absichtsvollen Umgang zwischen Erwachsenen und Kindern oder Jugendlichen zu. Der Pädagoge ist darauf angewiesen zu klären, mit was für einem Kind er es zu tun hat oder bekommen wird. Diese Deutung fußt zu einem bedeutenden Teil auf der visuellen Wahrnehmung des anderen. Sie bildet eine wichtige Quelle für die Ausrichtung des pädagogischen Handelns dem besonderen Kind gegenüber. Diese Wahrnehmung des anderen ist jedoch flüchtig und schwer zu greifen, aber es ist auch anzunehmen, dass sie inhaltlich spezifisch, eben pädagogisch geformt ist. In der Betrachtung der Fotografien von Marie-Jo Lafontaine wird uns unsere Strukturierungsaktivität beim Abtasten der Fotografien bewusst. Wir deuten unweigerlich das, was wir am Kind wahrnehmen, und stellen damit eine erste – äußerst fragile –, aber inhaltlich spezifische Hypothese darüber auf, wer dieses Kind ist. Lafontaines Arrangement unseres Blickes zwingt uns dazu und lässt uns zugleich die Vagheit der Hypothese bewusst werden. Daneben werden wir gewahr, auf was wir beim Betrachten bspw. des fotografierten Mädchens achten. Uns fallen die rissigen Lippen und das schöne schwarze Haar auf. Sie werden zu Kennzeichen für etwas, auf das es sich ggf. aus pädagogischem Blickwinkel zu achten lohnt. Verweisen die rissigen Lippen vielleicht auf ein inneres Unwohlsein des Kindes oder auf eine Nachlässigkeit im Elternhaus, so ist das Schwarz der Haare entweder Zeichen für andere Kinder zur Bewunderung oder zum Spott. Als Pädagogen achten wir auf Kleinigkeiten und nehmen sie als erste Hinweise, denen wir weitere Aufmerksamkeit schenken müssen. D.h. an den Fotografien von Lafontaine ist es uns auch möglich, dass wir uns der Deutung des Blicks bewusst werden und dass wir uns in der Betrachtung von Kindern schulen, auf Kleinigkeiten und scheinbare Nebensächlichkeiten zu achten. Uns wird verdeutlicht, was es alles in einem Kindergesicht an Zeichen zu entdecken gibt.
Die Präsentation des Blickes
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Als Letztes wird uns über das karge Arrangement der Künstlerin bewusst, dass wir das visuell Wahrgenommene in eine Geschichte einweben müssen. Lafontaine setzt uns den Kinderblicken ohne einen Hinweis auf eine zeitliche oder örtliche Situierung aus und dennoch kommen wir nicht umhin, das Wahrgenommene als persönliche Geschichte dieses Mädchens zu deuten. Wir erstellen stellvertretend eine Biographie für die fotografierte Person, weil wir die einzelnen Daten in eine Reihe, in einen Lebensweg einweben müssen, um als Pädagogen überhaupt handlungsfähig zu werden. Lafontaines „Kinder der Ruhr“ sind deswegen von pädagogischem Interesse, weil sie uns verleiten, den eigenen Blick auf das Kind auszuhalten und uns darüber befragen, was wir eigentlich dabei tun und zu welchen Schlüssen wir über ein uns unbekanntes Kind gelangen. Die visuelle Wahrnehmung des anderen steht auch am Anfang jedes pädagogischen Verhältnisses und bildet seine konstitutive Grundlage. Daher ist es für die Pädagogik bedeutsam, sich darüber aufzuklären, was wir eigentlich tun, wenn wir Kinder betrachten.
Literatur Lafontaine, Marie-Jo (2000): Kinder der Ruhr. München: Storms. Lafontaine, Marie-Jo (1999): Kinder der Ruhr, Text von Otto Neumaier. Dortmund: St. Petri-Kirche. Neumaier, Otto: Kinder blicken dich an. In: Lafontaine 2000, 5-9. Imdahl, Max (1994): Ikonik. Bilder und ihre Anschauung. In: Boehm, Gottfried (Hg.): Was ist ein Bild? München: Funk, 300-324. Englisch, Felicitas(1991): Bildanalyse in strukturalhermeneutischer Einstellung. Methodische Überlegungen und Analysebeispiele, in: Garz, Detlef / Kraimer, Klaus (Hg.): Qualitativ-empirische Sozialforschung, Opladen,: Westdeutscher Verlag, 133-176. Heinze-Prause, Roswitha / Heinze, Thomas (1996): Kulturwissenschaftliche Hermeneutik. Fallrekonstruktionen der Kunst-, Medien- und Massenkultur, Opladen : Westdeutscher Verlag. Bundesdruckerei: Personaldokumente/elektronischer Reisepass – ePass – Foto-Mustertafel (2009) Berlin, http://www.bundesdruckerei.de/de/service/service_buerger/buerger_persdok/persdok _epassMstr.html (20.12.2009).
Biographische Bewegung
Rudolf Egger
Blick und Gegenblick Drei Generationen Goethe auf dem Weg nach Italien
„Wenn man fragt, worin eigentlich die große Leistung des Christoph Kolumbus bestanden habe, als er Amerika entdeckte, so wird man antworten müssen, daß es nicht die Idee war, die Kugelgestalt der Erde auszunützen, um auf der Westroute nach Indien zu reisen; diese Idee war schon von anderen erwogen worden. Auch nicht die sorgfältige Vorbereitung seiner Expedition, die fachmännische Ausrüstung der Schiffe, die auch von anderen hätte geleistet werden können. Sondern das schwerste an dieser Entdeckungsfahrt war sicher der Entschluß, alles bis dahin bekannte Land zu verlassen und so weit nach Westen zu segeln, daß mit den vorhandenen Vorräten eine Umkehr nicht mehr möglich war." (Heisenberg 2003, o. S.)
Selber nachschauen gehen – Bildungsreisen (Weg-)Gehen und wahrnehmen, reisen und schreiben – Spätestens seit der Aufklärung gehören diese beiden Bereiche zur Erkundungskonstante des Menschen. Das „an den Ort gebunden sein“ wird in Bewegung aufgelöst. Die Größe des Raumes und der Zeit müssen mit den eigenen Füßen und Augen vermessen, in neuen Beziehungen verortet und begrifflich aussagbar gemacht werden. Der Mensch tritt reisend ein in die Vielgestaltigkeit der Welt, lernt, das bislang Unverfügbare als Potenzial zu nutzen. Was aber ist im Fremden neu und wie kann das Unbekannte erkennbar gemacht werden? Wo verläuft die Trennlinie zwischen dem Gewussten und dem Erahnten, zwischen dem Sichtbaren und dem Verdeckten? Wo ist die Grenze meiner Welt? Wenn Kolumbus am 3. August 1492 lossegelt, ist er längst schon innerhalb dieser Fragestellungen. Er wagt es, sich auf diese Suchbewegungen einzulassen, von denen er nur weiß, dass er jenseits des jetzt noch geläufigen Horizonts wieder festen Boden unter den Füßen finden muss, ist doch eine Umkehr mit den vorhandenen Vorräten nicht mehr möglich. Das Wagemutigste an seiner Tat ist laut Heisenberg der Entschluss, so weit nach Westen zu segeln, dass der bevorratete Horizont überschritten werden muss. Hinter dem Horizont aber liegt das Unbekannte, alles was er einschließt ist uns zuhanden, zumindest denkbar. Kolumbus weiß um die Endlichkeit seiner Vorräte. Er vertraut auf einen stabilen Kosmos jenseits der ihm bislang zugänglichen Welt, segelt los, bedeutet doch das Innewerden einer Grenze auch den Beginn ihrer Überwindung. So brechen wir auf, um das Gewohnheitsmäßige, das Ererbte mit neuem Geist aufzufüllen, weil mit den vorhandenen Vorräten keine Selbstbestimmung
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mehr möglich wäre. Dies ist ein Unternehmen voller Risiken und Gefahren. Einerseits trete ich aus dem Gewohnten heraus und werde (zumindest temporär) obdachlos, andererseits merke ich, dass dieser Horizont, meine „Emanzipationslinie“, mit jeder meiner Gesten mitläuft, mir immer wieder vorausläuft, scheinbar uneinholbar ist. Diese prekäre Situation des zweifachen „Außerhalb“ macht uns die Welt immer wieder fremd, undurchdringlich, bedrohlich, und nimmt uns jene „unendliche Leichtigkeit des Seins“, die ungebrochenes Handeln auszeichnen könnte. Kolumbus fährt los, weiß er doch, dass Leben nur in der Konfrontation mit dem mit uns mitlaufenden Horizont möglich ist. Er weiß auch, dass wir in den Tag hineinsegeln, als wäre alles für immer gelöst und erledigt. Aber dem ist nicht so. Wir müssen uns immer wieder neu den Dingen und den Menschen stellen. Einmal losgesegelt, kommt schnell der Punkt, an dem mit den vorhandenen Mitteln eine Umkehr nicht mehr möglich ist. Hier fängt der Prozess des Lernens, der Neuorientierung, der Bildung an. Jede/r, der/die an Bildung und Erziehung interessiert ist, steht vor diesen Fragen, vor denen auch Kolumbus gestanden hat, denn der Horizont gehört uns nicht, er muss „erarbeitet“ werden. Die Schwierigkeiten dabei sind niemals ganz ausgeräumt. Immer wieder muss das Zutrauen in die Möglichkeiten der Gestaltung, in die Verständlichkeit der Welt uns selbst und den anderen abgerungen werden. Das Wesen dieser Bewegung hin zu Verständlichkeit heißt Vernunft, ein Name dafür ist Aufklärung. Vernunft ist dabei über die kognitiven Befähigungen hinaus vor allem die Fähigkeit, mit dem unverständlich Bleibenden, dem Fremden, dem Anderen zurechtzukommen, ohne die bestimmende Forderung nach einer möglichen Verständlichkeit, nach dem Willen zum „selber nachschauen gehen“, aufzugeben. In diesem Willen zum eigenen Blick und den daraus entstehenden Möglichkeiten des Erzählens über das Gesehene liegen die Bedingungen dafür, dass wir uns aus dem Stadium der „Idioten“ im ursprünglichen griechischen Wortsinn (als Kreaturen, die keinen öffentlichen Raum gemeinsamer Aktivität kennen, sondern nur Privatinteressen folgen) fortbewegen. In seinem Geschichtenband „Zur Mündung“ erzählt der Schweizer Schriftsteller Franz Hohler (2000) beiläufig davon, dass er eines Morgens beschließt, bis zur Mündung des Flusses zu wandern, der durch seine Heimatstadt fließt. „Ich gehe der Glatt entlang, bis sie in einen größeren Fluss mündet“, (ebd., 8) steht dort lapidar. Er will dem Lauf des Flusses folgen, seine Füße sollen ihn dorthin tragen, wo die Landkarte in seiner Tasche keine Bedeutung mehr hat, ja wo sich im Gehen der Blick in die Karte wie von selbst verbietet. Ein Rückeroberer der Terra incognita, die von den Wörtern und Begriffen vielfach schon deformiert ist, macht sich hier auf seinen Weg, um selbst nachzuschauen, wohin denn dieses Fließen führt, wodurch es in Gang bleibt oder aufgehalten wird, in welchen Gegenden es welche Gestalt bekommt und um mit den Menschen über all seine Beobachtungen und Schlussfolgerungen zu sprechen. Losgehen und davon berichten. Nicht zwingend nur von dem, was man gesehen hat, vielleicht mehr davon, dass man gesehen hat. Ein solcher Agens bestimmt auch die Reisen der in diesem Aufsatz vor-
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gestellten Männer. Selbst nachschauen gehen, der historischen und biographischen Wegbiegung folgen und dann Rechenschaft ablegen, dass, was hier gesehen wurde. Ihre in Berichtform dargestellten Reiseschilderungen belassen es aber nicht nur mit der Schilderung der Ereignisse. Sie erheben auch den Anspruch, durch ihre Darstellungen mit anderen Menschen in Kommunikation zu treten. Sie sind in diesem Sinne auch „didaktisch“ motiviert, denn das fundamentale Interesse an der individuellen Besitznahme der Welt, die Lust an der Illustration und Selbstdarstellung, die Inszenierung des Persönlichen, zeigen eine Aneignungsform von Kosmos, in der sämtliche Erfahrungen, die sie machen, alles, was sie lernen, mit einer individuellen und einer sozialen Logik verbunden wird. Denn keine Erfahrung ist nur die ihre, hat etwas ausschließlich Privates, sondern jedes Aufmerken ist eingewoben in die unsichtbaren Pfade der sozialen Beziehungen, der Kultur und der hier wirkenden Diskurse. In diesem Sinne blickt das Wahrgenommene auf sie zurück, auch dann, wenn sie den Blick auf ihre Füße senken und nur an den nächsten kleinen Schritt denken. Stets besteht der Weg aus vielen Gegenblicken, aus all den an sie herangetragenen Erwartungen und Wünschen, aus den vielen biographischen und gesellschaftlichen Gründen, die das Handeln bestimmen. Dies gilt umso mehr im Zustand des Reisens und des Lernens, wo die vorwärts drängenden Bewegungen hin zu einem konkreten und letztlich doch fiktiven Horizont dominieren. Die Reisebewegungen des 17., 18. und des 19. Jahrhunderts, die wir unter dem Motto der Bildungsreisen kennen, lassen sich als eine spezifische Explikation einer solchen Hermeneutik des Horizonts betrachten. Die Fähigkeit der Menschen zur lernenden Aneignung des Fremden bedeutet hierbei, dass den vielen neuen Hinweisen, Ereignissen und Erlebnissen Sinn und Bedeutung beigemessen werden muss, um diese in einen sozialhistorischen und lebensspezifischen Zusammenhang einzuordnen, wie dies Rousseau seinem Emile mit auf den Weg gibt: „Alles, was aus Vernunft geschieht, muß seine Ordnung haben. Das Reisen, als Teil der Erziehung betrachtet, muß die seine haben. Das Reisen um zu reisen, heißt umherirren, vagabundieren; reisen um der Bildung willen, ist auch noch zu vage; Bildung ohne bestimmtes Ziel ist nichts“ (Rousseau 1963, 907). Erst eine solche Aneignung der Welt als Deutung und Zusammenhangsbildung, als erlebbare Anschauung und Differenz von Nähe und Ferne, kann in diesem Sinne als Lern- und Bildungsprozess bestimmt werden. Wenn im Folgenden von drei Fahrten nach Italien berichtet wird, so geschieht dies mit der Absicht, die hierbei wirkenden normativen Bezugnahmen in der sozialen Welt der Akteure herauszuarbeiten und ihr Subjektsein als Folge einer biographisch und sozial bedingten Ontogenese zu deuten. Johann Caspar, Johann Wolfgang und auch August Goethe haben sich auf die Reise gemacht in das Land ihrer Sehnsucht, in den Sehnsuchtsort des 18. Jahrhunderts schlechthin – nach Italien. Jeder von ihnen hat dabei eine Art Tagebuch geführt, das Rechenschaft über die Reisen geben soll.
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Johann Caspar Goethe (1710 – 1782) Johann Caspar ist der Erste aus der Goethe-Familie, der sich als 30-Jähriger und eben zum Doktor der Rechte promoviert, 1740 nach Italien aufmacht. Begriffe wie „Tour de France“ und der „Giro d’Italia“ werden heute ausschließlich mit dem Radsport in Verbindung gebracht. Im 16., 17. und 18. Jahrhundert sind sie gebräuchliche Vokabel für die akademische Reise (vor allem) von Studenten aus finanzkräftigen Familien (vgl. dazu u.a. Griep/Jäger 1983, Wiedemann 1988). Schon seit Beginn des 17. Jahrhunderts finden Reisende nach Italien eine ausgebildete Infrastruktur vor, die vor allem durch den Handel, die wissenschaftliche Ausbildung und das in Rom zentrierte katholische Kirchenregiment geschaffen wurde. Johann Caspars Reise, die ihn bis nach Neapel führt, ist eine solch klassische Bildungsreise im Sinne der ständischen Kavalierstour. Auf solchen Bildungsreisen soll der junge aufstrebende Geist fremde Länder und Sitten kennenlernen, um zurückgekehrt sein wohldotiertes Amt welterfahren antreten zu können. Jenseits der sonst wesentlichen Reisemotive (wie das Seelenheil oder das Leben als Gesandte oder Soldaten) achten die situierten Bürger streng auf den Bildungs- und Nutzwert dieser Reise für ihre Söhne. Diese Fahrten in den Süden haben deshalb meist auch ein verbindliches Ausbildungsprogramm, ein bewährtes Curriculum, das zu den klassisch altehrwürdigen Städten, Kunstschätzen und Denkmälern führt. Mit den eigenen Augen soll hier „überprüft“ werden, wie es in diesen Ländern zugeht. Die Reisebeschreibungen von Johann Caspar sind in 42 Briefe gegliedert, die alle an einen fiktiven Adressaten gerichtet sind, und die jeweils kunstfertig, gründlich und bedachtsam Auskunft über das Gesehene geben. Seine hier gesammelten Eindrücke, die ihn als selbstbewussten bildungshungrigen Bürger erscheinen lassen, schreibt er (erst zwischen 1762 und 1768) in italienischer Sprache nieder. Diesen Briefen folgen fünf „Appendices“, die als detaillierte Selbstversuche einer lebensnahen Zusammenfassung seiner Eindrücke gesehen werden können. Eindrucksvoll, und weit in das Alltagsleben ausgreifend, ist dabei vor allem der einfallsreiche „Briefwechsel zwischen zwei Personen unterschiedlichen Geschlechts“, den er (literarisch geschickt ausgearbeitet) vorgibt, in seinem Mailänder Gasthof hinter einer Vertäfelung gefunden zu haben. Durch diese weitschweifigen moralischen Ausführungen versucht er seinen Reiseerlebnissen eine verstärkte lebenspraktische Form zu geben, um derart ein sittliches Fundament für die eigene große „Lebensreise“ und die der LeserInnen zu legen. So soll neben der Schilderung des Vorgefundenen ein exemplarisches Verhältnis zum noch zu Entdeckenden entstehen. Dieses Vorgehen scheint ihm auch deshalb angebracht, da er immer wieder betont, dass sein eigenes Erleben jenes „Wunderlandes Italien“ immer nur aus Bruchstücken besteht, denen er nicht gerecht werden kann. So beginnt er sein Buch mit den Worten: „Es ist mir zwar nicht unbekannt, daß schon viele Autoren, alte wie neuere, das wundervolle Italien bereist und ihre Aufzeichnungen um die Wette veröffentlicht haben, aber ich glaube dennoch nichts
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Unrechtes zu tun, wenn nun auch ich meine Beobachtungen niederschreibe, da ich ebenfalls das Glück gehabt habe, den Giro zu machen. Ich will damit freilich nicht vor das Publikum treten, vor diesen obersten und gar zu strengen Richter, weil ich wohl weiß, daß es meinen unbedeutenden Gedanken an den dazu erforderlichen Voraussetzungen fehlt. Ich hatte damals nämlich keine andere Absicht und keinen anderen Zweck als den, nur meinen eigenen Neigungen nachzugehen, ohne dabei auch jene allerhöchsten Gelüste befriedigen zu wollen, denen doch nur Gerichte von einer erlesenen Feinheit zusagen, wie sie ein Koch meines Schlages nicht zu bereiten versteht“ (Goethe 1999, 7). Hinter diesen beschwichtigenden Worten wird aber bald ein wohlüberlegter moralischer Plan sichtbar, der den Reisenden als sittenstrengen und auch pedantischen Betrachter seiner Umwelt zeigt. Bestimmend in den Briefen, aber auch in all seinen übrigen Betrachtungen ist dabei seine kulturalistische und moralische Deutung des Aufgenommen. Jede Sehens-Würdigkeit wird anhand eines von ihm festgehaltenen allgemeingültigen Maßstabes gemessen und eingeschätzt. Alle lokalen Traditionen und Eigentümlichkeiten werden darin registriert und mit den eigenen Vorstellungen über die Welt verglichen und bewertet. So wird z.B. der besichtigte Karneval zu einem Schulbeispiel für das Verderben des Glücksspiels verwendet, oder die Aktmodelle in den venezianischen Malerakademien dienen der Schilderung einer zügellosen Freizügigkeit, deren Folgen als fatal dargestellt werden. Alles was er sieht und denkt, seine unzähligen Abschriften von Gedächtnistafeln, wie auch die vielen puritanischen Seitenhiebe, werden in einer Art Lebenskonzept gebündelt. Die gesamte Reise ist einer eindringlichen Methodisierung unterworfen, ob das nun die Sitten, die Kleidung oder die Lebensverhältnisse der Bevölkerung sind. Im Vergleich mit den geläufigen heimischen Gegebenheiten begründet Johann Caspar sein Urteil über das Fremde. Sein diesbezügliches Einordnungsraster ist stringent und für ihn nicht hinterfragbar, weshalb diese Vergleiche in der Regel zugunsten des Deutschen entschieden werden. In der „reinen“ Beschreibung des Gesehenen ist er aber durchaus bemüht, ein gutes Abbild der bildenden Kunst und der Architektur zu geben, wenngleich seine historischen oder ästhetischen Beurteilungen sich auf eine sorgfältige formale Charakteristik eines Kunstwerkes beschränken. Bei seinen Versuchen, die Qualitäten derselben zu beschreiben, kommt er über das übliche Reservoir von „schön, phantastisch oder groß“ kaum hinaus. Seine visuellen Eindrücke versucht er durch das Abschreiben oft seitenlanger Inschriften zu fixieren. Diese Ausweise der unverfälschten Wiedergabe des Realen sollen ihn als vertrauenswürdigen Chronisten darstellen, der seine Urteile auf das Tatsächliche beschränkt. Er will zeigen, dass er in der Lage ist, das Gesehene im Rahmen eines festgelegten Plans zu finden und zu beschreiben. Aufmerksam folgt er diesen vorgezeichneten Bahnen und freut sich über jeden erfolgreich absolvierten Schritt, jede kopierte Inschrift. Johann Caspars Wissen über die Anderen, das Andere, stellt die eigenen Projektionen niemals in Frage. Seine Reise ist deshalb eine Bewegung im Bekannten und alles Kennen-Lernen ist der schon erwähnten Absicht der Klassifizierung untergeordnet. Dabei ist er durchaus bemüht zu erkennen, was der Fall ist, um sich eine wahre und
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gerechtfertigte Überzeugung der Welt (im traditionellen Sinne Platons) zu erarbeiten. Das Verhältnis zwischen epistemischem Subjekt und zu klärendem Sachverhalt ist dabei durch klare Formen und Prozeduren gekennzeichnet und geregelt. Das lernende Subjekt steht fest auf dem Boden einer begründeten Wahrheit, die alle Vorkommnisse der Reise gewissenhaft zu bestimmen und zu protokollieren vermag und die diese im Sinne einer Vervollkommnung des Gewussten erweitert. Dabei leitet ihn eine internalistische Lern- und Wissenskonzeption, deren Wahrheitsanspruch auf der Überzeugung beruht, dass seine interne Perspektive alle Zuordnungen fraglos und eindeutig rechtfertigen kann. Das Andere wird an den für ihn bedeutsamen Unterschieden festgemacht und dadurch auch als ein pädagogisches Objekt hervorgebracht. An vielen Stellen seiner Reisebeschreibungen stehen deshalb auch Warnungen und Ratschläge, wie er dies z.B. in der Besteigung des Vesuvs erzählt. „Es dürfte nicht unpassend sein, wenn ich hier eine Bemerkung über die Verschlagenheit des italienischen Volkes in puncto Geldverdienen anbringe. Jedermann weiß, daß das biedere Volk sehr zum Müßiggang neigt, weshalb diese Leute die unterschiedlichsten Kniffe ersinnen, um die allzu leichtgläubigen und unerfahrenen Reisenden in die Falle zu locken. So bieten sie etwa mit einer bescheidenen und unschuldigen Miene ihre Hilfe an, wenn ein Reisender ein Denkmal besichtigen will; sie überhäufen ihn dann mit allen möglichen Übertreibungen von dieser oder jener Ruine, Inschrift oder was sonst Wertschätzung genießt, und führen ihn fast gegen seinen Willen überall herum. Wenn dann die Runde beendet ist, verlangen sie ein ebenso gutes Trinkgeld, als wenn sie bestellte Ciceroni gewesen wären. Uns ist das auf dem Rückweg vom Vesuv passiert, wo wir nicht geglaubt hatten, die Leute entlohnen zu müssen, die uns offenbar zu ihrem eigenen Vergnügen begleitet hatten, aber der Ausgang belehrte uns eines Besseren. Man kann die verschiedenen Arten, zu einem Trinkgeld zu kommen, gar nicht alle aufzählen!“ (Goethe 1999, 11) Reiseschilderung, ästhetische Einordnungsliteratur, moralisches Brevier und kulturelle Rechtfertigungsschrift verschmelzen innerhalb seiner Bemühungen hier zu einer Melange aus Vorurteilen, kontextlosen Abbildungen und kulturalistischen Wertungen. Hinter all diesen Anstrengungen steht die Versicherung an die LeserInnen: „Ich war hier, darum glaubt mir“. Der dabei geschilderte Zusammenhang von alltäglicher Lebenspraxis und kultureller Differenzierung, von Wissen und sozialer Praxis, lässt so ein pädagogisches Objekt „Italien“ entstehen, das Teil einer kulturalistisch abgesicherten Machtstruktur ist. Das Deutungsmuster „Kulturdifferenz“ ist ihm dabei ein permanenter Begleiter in seiner paternalistischen Haltung dem Land und den Menschen gegenüber. In all seinen Problematisierungen von Identitäten, Sozialstrukturen oder historischen Bedingungen ist dieses Dominanz- und Hegemonieverhältnis deutlich sichtbar. Dabei ist das erwähnte Unterscheidungsmerkmal stets ein statisches Deutschland, weshalb die deskriptiven Züge seiner Reisebeschreibung stets auf präskriptive Generalisierungen hinauslaufen. In dieser Hinwendung zu „seinem Italien“ entsteht eine globale Geschichte dieses Landes, die mit (für ihn verbindlichen) universellen Kategorien ausgestattet wird. Seine Lernwege werden in globalen Geschichten verortet und begrifflich oder moralisch dingfest gemacht. Auch wenn unterschiedliche
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Vergangenheiten unterschiedliche Geschichten, andersgeartete Arten, Mensch zu sein, hervorgebracht haben, wird diese Vielfalt menschlicher Erfahrungen auf eine großangelegte soziologische Einheitlichkeit reduziert (zum Beispiel auf die italienische Lebensweise). Auf völlig andere Weise wird sein Sohn 46 Jahre später diese Reiseform zur Geschichtsaneignung nutzen. Johann Wolfgang (1749 – 1832) Unter den Legionen an Reisetagebüchern nimmt Johann Wolfgang Goethes Italienische Reise einen heute noch immer überragenden Stellenwert ein. Die hierin erzählten persönlichen Erlebnisse, Beobachtungen und Erfahrungen werden in einem derart großen Spektrum an sprachlicher Vielfalt und biographischen Selbstversuchen ausgedrückt, dass dieses Werk zu den wichtigsten seines Genres gehört. Wie sein Vater hat auch er die während der Reise entstandenen Texte nach seiner Rückkehr nach Weimar erst einmal zur Seite gelegt. Die Italienische Reise, so wie wir sie heute kennen, erschien erst 1816/1817 (beziehungsweise vollständig 1829). Erst mit 30 Jahren Distanz hat er sich diesen Aufzeichnungen noch einmal gewidmet, in der Überarbeitung viele Alltäglichkeiten aus dem Text gestrichen, wobei sich der Gestus des Buches vielfach änderte. Was hierbei entstand, war auch eine Art Rückblick auf sich selbst als jungen Reisenden. Die Grundlage des Werkes bildet aber nach wie vor seine umfangreiche Korrespondenz, vor allem die Briefe an Charlotte von Stein. Die Reise des Vaters hat den Sohn vielfach in seinen Vorstellungen von jenem Wunderland Italien geprägt, wenngleich er den verschriftlichten väterlichen Ausführungen eher ablehnend gegenübersteht. Es ist vielmehr das Fluidum jenes Italien, das er durch die eigenhändigen Zeichnungen des Vaters und die mitgebrachten Bilder und Fundstücke zu spüren vermeint, das ihn beeindruckt und das er mit eigenen Phantasien verbinden kann. Seine gesamte Kindheit schildert er umhüllt von den schwärmerischen Erzählungen und den vielgestaltigen Erinnerungsstücken des Vaters die im Hause Goethe allgegenwärtig sind. Er saugt diese Atmosphäre des Italienischen ein, versucht sie sich zugänglich zu machen, weshalb er auch schon mit neun Jahren der italienischen Sprache mächtig ist. Das ist der eine, der geistige Beginn der eigenen Reise nach Italien. Seine tatsächliche Tour beginnt am 3. September 1786, als er überstürzt die Karlsbader Gesellschaft verlässt und inkognito als „Filippo Miller, Tedesco, Pittore“ in den Süden reist. Die Vorbereitungen dafür sind eingeschrieben in seine Biographie und währen bereits ein ganzes Leben, wenn auch die tatsächlichen Planungsschritte bescheiden sind – gleicht seine Fahrt anfangs doch einer Art von Flucht, mit der er dem sich entwickelnden Rollenzwang im Weimar davonlaufen will. Diese schon lange ersehnte Reise soll ihm helfen Ordnung zu machen im Leben und im literarischen Werk – der Faust, der Wilhelm Meister, die Iphigenie und andere Werke sind zu vollenden – und er möchte seinen Blick als Maler schärfen, durch Erlebnisse den „sinnlichen Rohstoff“ für die Formung seiner Person und die Gestalten seiner Werke erwerben. Recht
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schnell geht es deshalb über den Brenner, nach Trient und Verona nach Vicenza, wo er am 19. September ankommt. Erst nach dieser langen Wegstrecke verlangsamt er sein Tempo, legt eine kurze Rast ein und fährt schließlich nach Padua und Venedig weiter. In der Lagunenstadt beschließt er länger zu bleiben, arbeitet an seinen Werken und ist in die Betrachtung der Gebäude und der „Sitten“ vertieft. Über Bologna gelangt er schließlich am 29. Oktober an sein großes Ziel, nach Rom, der grandiosen geheiligten Stadt seiner Sehnsüchte. Hier bleibt er bis Februar und beginnt auch die Reise in eine umfassende biographische Perspektive zu verorten: „Ja, die letzten Jahre wurde es eine Art von Krankheit, von der mich nur der Anblick und die Gegenwart heilen konnte. Jetzt darf ich es gestehen; zuletzt durft' ich kein lateinisch Buch mehr ansehen, keine Zeichnung einer italienischen Gegend. Die Begierde, dieses Land zu sehen, war überreif: da sie befriedigt ist, werden mir Freunde und Vaterland erst wieder recht aus dem Grunde lieb und die Rückkehr wünschenswert, ja um desto wünschenswerter, da ich mit Sicherheit empfinde, daß ich so viele Schätze nicht zu eigenem Besitz und Privatgebrauch mitbringe, sondern daß sie mir und andern durchs ganze Leben zur Leitung und Fördernis dienen sollen“ (Goethe 2007, 125). Der erste Teil seiner Reise ist damit zu Ende. Er hat den Trott und die Erwartungen der eigenen Geschichte hinter sich gelassen, hat die Spur des Neuen aufgenommen und folgt ihr mit den sich auf seiner Fahrt verändernden Wahrnehmungsmöglichkeiten. Gut sichtbar werden diese Veränderungen in seinem Blickfeld auch in seinem Schreibgestus. Die ersten Tagebucheintragungen sind geprägt von Naturbeschreibungen. Trotz des hohen Reisetempos nimmt er sorgsam die Änderungen der Pflanzen und Bodenbeschaffenheit auf seiner Route wahr. Nur selten schreibt er anfangs über Menschen, als müsste er auch auf diese Weise Abstand zu seinen sozialen Verpflichtungen herstellen, indem er sich stärker der Natur widmet. Je weiter es aber nach Süden geht, desto stärker treten auch seine menschlichen Bezüge, die Wirkungen des Natürlichen auf das Menschliche, in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Die hier hergestellten Zusammenhänge sind ihm äußerst wichtig, nehmen sie doch systematisch Bezug auf die ihn umgebende soziale und „natürliche“ Welt. Er möchte herausfinden, wie die einzelnen Bereiche miteinander korrespondieren, welche Mittel die Menschen gefunden haben, sich auf die unterschiedlichen Formen der Natur einzustellen und wo die Grenzen solcher Beeinflussungen liegen. So erscheint z.B. in der Beschreibung der Pflanzenwelt, der Geologie oder des Klimas im Verlauf der Reise ein menschlicher Wesenszug, den er auf sein jeweiliges Temperament hin untersuchen möchte. Er sucht ständig seinen Horizont nach Bezugspunkten für die Erklärung von Entwicklungen ab. Immer wieder ändert er hier die Ausschnitte seiner Wahrnehmungen, um die dahinterliegenden Phänomene zu untersuchen. Besonders die Zusammenhänge zwischen Meteorologie und dem eigenen Fortkommen interessieren ihn stets aufs Neue. Pedantisch beobachtet er alle Wetterveränderungen und versucht, die hier wirkenden Ursachen zu entschlüsseln. Er ist sich bewusst, dass hier Kräfte am Werk sind, die alles in Bewegung versetzen, die sich gegenseitig beeinflussen und die nirgendwo eine statische Welt darstellen: „Betrachten wir die
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Gebirge näher oder ferner und sehen ihre Gipfel bald im Sonnenschein glänzen, bald von Nebel umgeben, von stürmenden Winden umsaust, von Regenstrichen gepeitscht, mit Schnee bedeckt, so schreiben wir das alles der Atmosphäre zu, da die Augen ihre Bewegungen und Veränderungen gar wohl sehen und fassen. Die Gebirge hingegen liegen vor umserm äußeren Sinn in ihrer herkömmlichen Gestalt unbeweglich da. Wir halten sie für tot, weil sie ruhen. Ich aber kann mich schon seit längerer Zeit nicht entbrechen, einer inneren, stillen, geheimen Wirkung derselben die Veränderungen, die sich in der Atmosphäre zeigen, zum großen Teile zuzuschreiben. Ich glaube nämlich, dass die Masse der Erde überhaupt, und folgend auch besonders ihre hervorragenden Grundfesten, nicht eine beständige, immer gleiche Anziehungskraft ausüben, sondern daß diese Anziehungskraft sich in einem gewissen Pulsieren äußert“ (Goethe 2007, 17f.). Dieses Pulsieren der Welt in allen Zustandsformen ist für ihn ein wesentliches Prinzip allen Lebens, innerhalb dessen er auch die Felsformationen nicht als tote Materie begreift. Ähnlich verhält es sich für ihn auch mit der Wahrnehmung unserer Umwelt. Alles den Menschen Umgebende ist für ihn der permanenten menschlichen Fragestellung und Bedeutungsabsicht ausgesetzt. Nirgendwo existiert für ihn hier Stillstand, immer gilt es, den Verwandlungen der Welt nachzugehen. Ein stets aufs Neue durchgespieltes Beispiel ist für ihn das Wetter. Gerade das, was das Wetter ausmacht, seine vordergründige Unbeeinflussbarkeit, wird von ihm ständig in Verbindung mit den eigenen Sinneswahrnehmungen und auch den persönlichen Stimmungsschwankungen gebracht. In unzähligen Passagen geht er diesen Bezügen zur Natur nach, beschreibt sie in den mannigfachen Beziehungen zum Menschen, einmal als Ursache für körperliche Merkmale, das andere Mal als prinzipielle Kraftquelle menschlichen Verhaltens und Lebens. Er selbst reagiert auf das Wetter wie ein Kind, das mit Jubel den Sonnenschein oder mit Entmutigung die Gewitterwolken verfolgt. Überall ist in seinen Texten eine solche Veränderung, Bewegung, Wandlung und Erneuerung in den Bezügen des Außen und des Innen zu bemerken. Das gleiche Prinzip der wechselseitigen Beeinflussung von Subjekt und Struktur überträgt er auch auf den Umgang der Menschen miteinander. Den historischen und sozialen Voraussetzungen die es Individuen ermöglichen, ihr Leben zu leben, geht er in den Lebensgeschichten, in der Praxis der sozialen Akteure, nach. Dabei wird er in der Konfrontation mit den sich verändernden Lebensstilen auf seiner Reise sensibel dafür, dass jedes soziale Feld seine eigenen Prinzipien, mit ihren speziellen Praxis- und Wahrnehmungsschemata hat, weshalb sowohl in seinen Briefen als auch in all seinen Beschreibungen und Gesprächen dieses Interesse an den konkreten Menschen, die ihm etwas zu sagen oder zu zeigen haben, im Mittelpunkt steht. Das, was den Menschen ausmacht, was ihn antreibt und kopflos macht, was ihn erhebt und formt, ist es, was ihn interessiert. Auch wenn anfangs seitenlange Beschreibungen über die Bodenbeschaffenheit, die Botanik, über das Klima oder über Geologie angefertigt werden, so ist mit Fortdauer seiner Fahrt das Zentrum seiner Wahrnehmungen doch stets die Verbindung seiner Betrachtungen mit dem menschlichen Dasein. Überall ist er bemüht, den Einfluss der
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Menschen auf die Welt, sowie umgekehrt, den Einfluss der Natur auf den Menschen, zu ergründen. In der Beschreibung des Amphitheaters zu Verona z.B. füllt er das leere Theater in seiner Schilderung mit Personen, um ein lebendiges Bild davon zu bekommen, welche Rolle das Theater für Menschen spielt, wie sich die Beziehungen der Menschen untereinander im Angesicht der Kunst gestalten: „Denn eigentlich ist so ein Amphitheater recht gemacht, dem Volk mit sich selbst zu imponieren, das Volk mit sich selbst zum besten zu haben. Wenn irgendwas Schauwürdiges auf flacher Erde vorgeht und alles zuläuft, suchen die Hintersten auf alle mögliche Weise sich über die Vordersten zu erheben: man tritt auf Bänke, rollt Fässer herbei, fährt mit Wagen heran, legt Bretter hinüber und herüber, besetzt einen benachbarten Hügel, und es bildet sich in der Geschwindigkeit ein Krater. Kommt das Schauspiel aber öfter auf derselben Stelle vor, so baut man leichte Gerüste für die, so bezahlen können, und die übrige Masse behilft sich, wie sie mag. Dieses allgemeine Bedürfnis zu befriedigen, ist hier die Aufgabe des Architekten. Er bereitet einen solchen Krater durch Kunst, so einfach als nur möglich, damit dessen Zierat das Volk selbst werde. Wenn es sich so beisammen sah, mußte es über sich selbst erstaunen; denn sonst ist es nur gewohnt, sich durcheinander laufen zu sehen, sich in einem Gewühle ohne Ordnung und sonderliche Zucht zu finden, so sieht das vielköpfige, vielsinnige, schwankende, hin und her irrende Tier sich zu einem edlen Körper vereinigt, zu einer Einheit bestimmt, in eine Masse verbunden und befestigt, als eine Gestalt, von einem Geiste belebt. Die Simplizität des Oval ist jedem Auge auf die angenehmste Weise fühlbar, und jeder Kopf dient zum Maße, wie ungeheuer das Ganze sei. Jetzt, wenn man es leer sieht, hat man keinen Maßstab, man weiß nicht, ob es groß oder klein ist“ (Goethe 2007, 40). In diesem Bild des gemeinschaftlich geschaffenen, mit einer Idee aufgeladenen „Ovals“ beschreibt er die normativen Beziehungen zwischen Kunst und Identität genauso wie die konstitutiven Elemente von Individualiät und Kollektiv, von Herrschaft und Einordnung. Gerade diese (zumindest kurzfristige) Integration in ein größeres Ganzes ist für ihn Maßstab und Ziel des Mensch-Seins. Aber er weiß auch, dass sich diese Zusammenführung nur dort menschengemäß entwickeln kann, wo sich der konkrete Umriss einer Gemeinschaft lebensnah in der Mitwirkung, in der Entfaltung von Handlungskompetenzen und der gemeinsam erarbeiteten Bedeutung von Bürger und Staat, von Nehmenden und Gebenden, erfahren lässt. In diesem Sinne fragt er nach den universell tätigen Wechselwirkungen zwischen den Figuren in den antiken Statuen und Gemälden und den jetzt lebenden Menschen. Er stellt die Erschaffer all dieser Werke, der Bilder, Tempel und Kirchen in Bezug zu den konkreten Menschen, die er Volk nennt und die er als verantwortlich für die Atmosphäre der Kunst und auch der Politik sieht. Dabei geht es ihm vor allem um das Verständlich-Machen, um ein Sich-in-Beziehung-Setzen zu den historischen Werten und Gütern einer Gesellschaft. Sein Zutrauen, dass er sich in einer prinzipiell verstehbaren Welt bewegt, dass solche Verständlichkeit überhaupt möglich und auch tauglich ist, bildet das Fundament seiner Betrachtungen. Gleichzeitig zeigt seine Hinwendung zu den historischen Gegebenheiten, dass Werte und Ziele einem Wandel unterliegen. Dabei ist es immer wieder „das Fremde“, das perspektivisch Andere, das zum Anlass zum Lernen genommen wird, um die vielen möglichen Bezüg-
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lichkeiten und Eigenschaften, die hier zu sehen, zu nennen und zu begreifen sind, in ein kulturelles Zeichensystem zu übersetzen. Dieser Modus von Lernen ist daher keine rezeptive Abbildung gegebener Objekte im Aufnehmenden, sondern stets eine reflexive Erzeugung einer begrifflichen Einheit, die unser Verständnis der Welt und auch der Gegenstände erst konstituiert. Die italienischen Tagebücher von Johann Wolfgang Goethe sind deshalb auch das Ergebnis eines stilistischen Willens. Mehr als um eine genaue Darstellung der „wirklichen“ Ereignisse geht es ihm auch um die Gewinnung einer Haltung im und durch das Schreiben. August (1789 – 1830) August beginnt seine Riese unter ähnlichen Voraussetzungen wie sein Vater. Anders aber als dieser flieht er nicht vor den vor sich massenhaft auftürmenden Vorhaben, vor den sich etablierenden gesellschaftlichen Ansprüchen, sondern sein Leben, seine „Weimarer Mansardenexistenz“, beschreibt er als einen Zustand der Untätigkeit, der fortwährenden Unproduktivität und der gleichzeitigen Unruhe und Selbstverlorenheit. Diese Reise soll ihn aktiv von seinen „physischen moralischen Übeln“ befreien, soll zu einem selbstbestimmten Dasein führen, für das er auch endlich Verantwortung übernehmen will. Groß sind seine Erwartungen und viel will er auch dafür riskieren, wie er in einem Gedicht ein Jahr zuvor betont: „Ich will nicht mehr am Gängelbande / Wie sonst geleitet seyn, / Und lieber an des Abgrunds Rande / Von jeder Fessel mich befreien. // Und ist auch sichrer Sturz bereitet, / Ich weiche nicht vom schmalsten Pfad, / Um Rechtthun mancher wird beneidet, / Und wohl ist dieß die schönste That“ (Goethe 2003, 284). Er will hinaus, will sich als 41-jähriger Familienvater und Kammerherr in Weimar endlich in der großen Welt beweisen, was er unter den Augen des Vaters nicht zu können glaubt. So reist er im April 1830 aus Weimar ab, um über Frankfurt nach Mailand zu gelangen. Schon zu Beginn seiner Fahrt ist kaum mehr etwas von der angekündigten Verwegenheit des Entschlusses in seinen Aufzeichnungen sichtbar. Brav trottet er den vorgeschriebenen Wegen nach, gehorsam gibt er dem Vater Auskunft über all seine „Fort-Schritte“. „Lieber Vater“, schreibt er zu Beginn seines Tagebuchs, „den Abend kamen wir gegen 5 nach Eysenach wo gegessen wurde. Dann gings um 7 Uhr fort die Nacht hindurch, wo wir dann früh um 6 in Fulda ankamen 5 Minuten Kaffee tranken dann ununterbrochen bis aufs Umspannen bis Salmünster fuhren. Hier wurde 20 Minuten gehalten um etwas zu genießen. Von da aber wurde außer dem Umspannen bis Frankfurth wo wir gestern abend ankamen nicht mehr gehalten“ (Goethe 2003, 9). Die große Reise schrumpft bald zur Absolvierung der täglichen Wegstrecken zusammen. Er bemüht sich, die Dinge rund um sich zu erkennen und dem Vater zu beschreiben, aber vor allem wird das Vorwärtskommen binnen kurzem als eine arge Schinderei geschildert, sodass er immer wieder ein paar Tage Ruhe einlegen muss, um seine „wundgesessenen Stellen“ zu kurieren. Auch der ihm vom Vater an die Seite gestellte Berater Eckermann wird ihm bald zur Plage, da dieser wissbegierig alles erkunden möchte und August sich mehr um sein leibliches Wohl als um die zu
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entdeckende neue Welt sorgt. So setzt sich Eckermann schließlich in Genua (ob der permanenten Wehleidigkeit Augusts entnervt) von ihm ab und fährt zurück nach Deutschland. August ist darüber nicht unglücklich und schreibt weiterhin täglich, wie dem Vater versprochen, an seinem Tagebuch, das er per Post oder Bote immer wieder als pflichtbewusstes Pfand seiner Erlebnisse nach Weimar schickt. Er versucht ein bestmögliches Abbild seiner Erlebnisse zu erstellen, will dem Vater zeigen, dass er durchaus in der Lage ist, die Welt und seinen Tag ordnend in Besitz zu nehmen. So schreibt er exemplarisch etwa am 15. Mai 1830: „Früh manches in Ordnung gebracht, um 11 ausgegangen in der Stadt herumgedämmert, einen Hut und leichte Reitmütze gekauft, alles ziemlich wohlfeil, ein schöner Seidenhut mit Futteral 2 rt 7 gr. Eine sehr bequeme Mütze 4 Kopfstück u.s.w. Wir sahen auch diesen Morgen ein sehr schönes Gemälde von Raphael, eine kniende Madonna welche vom Jesukinde, das auf einem Rasen schläft den Schleier nimmt um es dem kleinen Johannes der sich auf ihr Knie stützt zu zeigen. Es sind die Figuren 2/3 Lebensgröße“ (Goethe 2003, 30). Dieser Fleiß erfreut den zu Hause gebliebenen Vater, und er bringt in Briefen an Bekannte seine Genugtuung darüber zum Ausdruck. Auch an August schreibt er voller Zuversicht und gibt ihm auch immer wieder Ratschläge und viel Lob mit auf den Weg, „…, wenn ich dir, bey dieser Gelegenheit versichere: dass Deine Tagebücher aus Mayland höchst löblich sind, wie Du am eigenen Behagen daran fühlen musst. Den Menschen und den Sachen gerade in die Augen zu sehen und dabey auszusprechen, wie einem zu Muthe ist, dieses bleibt das Rechte, mehr soll und kann man nicht thun“ (Goethe 2003, 232). Der Vater ist (sowohl in Augusts Briefen als auch in seinen alltäglichen Streifzügen) allgegenwärtig. An allen Orten, die er besucht, trifft er auf seine Spuren. Der Ruf des Meisters aus Weimar folgt ihm stets, ob in Mailand, Genua, Rom oder Neapel, immer wird er als Sohn des berühmten Dichters behandelt. August sonnt sich in diesem Glanz auch und nimmt die sich daraus ergebenden Möglichkeiten des sozialen und finanziellen Kredits des Vaters bereitwillig an. „Diese Herren kennen sämtl. Ihre Schriften genau und sind sehr angenehme Leute (…). Ich habe eine von Ihren Medail. in ein sauberes Rähmchen fassen lassen und selbiges durch den einen der Herren welcher mich eingeführt hatte, dem neuen Lese Institut (Cassino genannt) zum Geschenk gemacht“ (Goethe 2003, 49). Er schlüpft bald vollends in die Gestalt des Vaters, bewertet seine Eindrücke aus jenen Perspektiven, die er ihm zuschreibt. Ob es nun Gedanken, Empfindungen oder auch Münzen, Medaillen und kleine Kunstgegenstände sind, überall sucht er nach Ergänzungen, die in den verschiedenen Sammlungen des Vater Platz finden könnten und die er (als Beschreibungen in Briefen oder als gekaufte Waren) nach Hause schickt. „Obgleich ich hier für mich gar nichts gekauft habe, als einige Ansichten von Mailand u. der Umgebung, welche zur angenehmen Erinnerung dienen werden, so sende doch hierbey 2 Kisten u. 1 Rolle. Das eine Kistchen enthält die für Sie erkauften Medail., es ist eine hübsche Anzahl und der ganze Aufwand nur 8 Napol. d’Or. Es werden einige Doubletten seyn höchstens 2 od. 3 wo ich nicht genau wußte ob wir sie hatten. Ich hoffe sie sohlen Ihnen u. Meyer Freude machen, es ist meiner Ansicht nichts unbedeutendes darunter. Dann habe ich eine alte Streitaxt von einem wunderbaren zum Talkgeschlecht gehörigen Stein und 1 Stück Lapis Lazuli
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für ein Kopfstück gekauft. (…) Alles dient später zu besserer Verständigung bei gemüthl. Erzählung. Legen Sie eine eigene Mappe zu diesen Dingen an, denn es kommt doch wohl noch manches von anderen Gegenden hinzu “ (Goethe 2003, 51). Dieses Sammeln und Aufmerken für den Vater gibt ihm Richtung für seine Aktivitäten. Dadurch sollen die Schilderungen der Stationen auf seiner Reise eine soziale und erkenntnisgerichtete Plastizität erhalten, die auch ein Bild seines „genesenden Inneren“ skizzieren. „Im Ganzen ist meine Stimmung sehr ruhig, und ich kann sagen, daß ich niemals besonnener, weniger heftig und duldsamer gewesen bin. Der Zustand meiner Nerven besonders hat sich bedeutend gebessert, ich möchte sagen ist ganz im Gleichgewicht, das einzige was mich incommodirt ist zuweilen unregelmäßiger Puls und der Druck in der Magengegend“ (Goethe 2003, 52). Aber diese Stimmung hält nicht lange an, denn mit fortschreitender Reise wird sein Zustand immer stärker vom Alkohol und auch von Prahlsucht geprägt. Auch äußere Ereignisse tragen immer wieder dazu bei, dass sich sein Gemütszustand verschlechtert. So stürzt z.B. seine Kutsche um, und ein Schlüsselbeinbruch zwingt ihn zu häuslicher Ruhe oder er wird von „scharlachrothem Frießel“ befallen. Trotz allem versucht er aber immer wieder dem Vater zu zeigen, dass auch er in der Lage ist, sein Leben zu leben und schreibt übermütig von einer Seefahrt bei Sorrent: „Eine Barke erwartete uns am Meer; aber ehe wir darin gelangten - !! so bergunter (nicht Burgunder) da glaubte ich wirklich unter zu gehen. Es war kein Spaß mehr es war Ernst, (…) Was war zu thun? Ich nenne mich Arimbiörn der Seekönig und fange an zu commandiren, das heißt ich biete jeden der Barcaroles 5 Flaschen Wein, Makkaroni und buon Mano“ (Goethe 2003, 180f.). Gleich darauf bereut er dieses großspurige Verhalten auch wieder und zeigt sich vorwurfsvoll, überfordert, müde. In Rom angekommen, werden seine Aufzeichnungen immer dürftiger. Er ist eingeschüchtert von der Fülle und vom Glanz der Stadt, aber auch von den Erwartungen an sich selbst und davon, wie er dem Vater Rechenschaft darüber ablegen kann. Triumphal schreibt er noch am 16. Oktober, elf Tage vor seinem unerwarteten Tod: „Mein höchster Wunsch ist erfüllt! Ich habe Italien gesehen und genossen, bin reich an Kenntnissen von Kunst, Leben, Treiben und Natur geworden und da Sie mir schrieben auf einige Kugeln am Rosenkranze käme es nicht an, so habe ich sie gut verwendet“ (Goethe 2003, 190). Er rafft sich auf, erstellt sich ein immenses Programm, das er (dem Vater zuliebe) absolvieren möchte, hastet durch die Museen und die Stadt, von Besuch zu Besuch, bis ihn ein Scharlachfieber schwächt und er schließlich am 27. Oktober 1830 an einem Schlaganfall stirbt. Selbst im Tod konnte sich August der Übermacht seines Vaters nicht erwehren. Die vom Vater für seinen Sohn in Rom errichtete Grabstele hat folgende Inschrift. „Goethe der Sohn, seinem Vater vorangehend, starb vierzigjährig 1830“. Augusts Reise geht namenlos zu Ende, die Inschrift auf seinem Grabmal weist ihn als den aus, der er Zeit seines Lebens war: Der Sohn. Was Augusts Reise auszeichnet, ist seine Reduzierung auf eine reine Geistesbildung im Sinne des Erinnerns an das väterlich Vorgeformte, Vorerfahrene, das Vorgezeichnete und bereits katalogisierte Wissen. In diesem, ihm ungeheuer schwer fallenden nüchternen Bewahren und Wiedergeben des Gesehenen wird ein gewissermaßen
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anästhetischer Bildungsmodus sichtbar, in dem sich kaum Platz für Schöpferisches, Außergewöhnliches oder auch Fremdes bietet. August reflektiert kaum, analysiert selten. Seine Bildungsreise bleibt reduziert auf das Ablaufen gängiger Seh- und Sprachmuster. Nichts ist hier zu spüren vom Versuch des Verstehens vielfältiger menschlicher Lebens- und Lernmöglichkeiten, von der wirkungsvollen Erprobung seiner Möglichkeiten in konkreten und fremden Lebenssituationen. Die Flut der äußeren Bilder führt ihn nicht zu einer Ästhetisierung seiner Wahrnehmung, sondern bewirkt genau das Gegenteil, nämlich die Anästhesie seiner Sinnlichkeit. Alle seine Eindrücke werden sofort in die „Haben“-Liste des Vaters übersetzt, um die passende „Performance“ zu erreichen. Das Individuum August wird seiner Einmaligkeit und Eigenart enteignet. Das Auge des Vaters ist stets in ihm, in den Briefen, in den vom „Dichterfürsten“ evozierten Sozialkontakten, und erinnert an die Fortführung der griechischen Paideia-Tradition als Geleit zur Bildung des ganzen Menschen. Augusts Weg nach Italien wird gewährt und begleitet von den in ihm stets präsenten erzieherischen Blicken des Vaters, die jeden Raum lange vor ihm in Besitz nehmen. Ist August zwar ausgezogen, sich selbst zu bilden, um das „Unbestimmte“, das ihn in Weimar umgeben hat, zu klären, bleibt der Fixstern seiner Bestrebungen aber stets über ihm, bietet ihm Schutz und Richtung, gibt ihm (unter Schermerzen) eine Fassung, eine Sinngestalt, eine Prägung, ja ein Gesetz, dem er sich nicht entziehen kann. Seine Befreiungsversuche aus dieser Abhängigkeit und der Fremdbestimmung treffen (sowohl in sich als auch außerhalb) immer wieder auf den bereits vorhandenen Blick des Vaters. Seine Sehnsucht nach Autonomie findet keine rechte Kraft vor der Übermacht des bereits Vorhandenen. Wohin immer er auch blickt, schaut ihm der Vater schon entgegen. Diese unheilvoll sich verfestigende Form von Herrschaft bestimmt das eigene Erleben und Denken durch eine doppelte Form der Führung. Einmal geht es um die Tätigkeit des Wahrnehmens und des Erlebens der Umwelt, wobei das „WahrGenommene“ den Kriterien des internen Zensors entsprechen muss. Daraus ergibt sich auch seine Haltung gegenüber dem Sich-selbst-Erkennen, das stets unter dem Zwang zum Rapportieren, zum Beweisen, zum Rechtfertigen des Gedachten, Gesehenen und Erlebten steht. Um überhaupt als intelligibles Subjekt in Erscheinung treten zu können, muss August die charakteristischen Verhaltensmuster und Verhaltensweisen seines Vaters nachahmen und zu seinen eigenen machen. Alle seine Initiativen, seine Dynamik und auch seine Mobilität gehen letztlich immer wieder voll auf in dieser Anpassungsfähigkeit und zeigen ihm beharrlich seine Unfähigkeit, ein freies und rationales Subjekt zu sein. Dieses widersprüchliche Verhältnis von Unterwerfung und versuchter Selbstermächtigung ist prinzipiell allen Subjekten bekannt, jedoch kann sich August der Übermacht (außer durch seine Flucht in den Alkohol, die die mächtige Figur des Vaters kurzfristig entzaubern kann) nicht entziehen. Im Gegenteil. Auf weiten Strecken seiner Schilderungen „genießt“ er seine leidenschaftliche Komplizenschaft mit der Autorität des Vaters, denn diese Autorität ruft ihn ins Leben,
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zwingt ihn ins soziale Dasein, verleiht ihm durch seine Anrufung Existenz. Der Vater ist in diesem Sinne das Versprechen der Anerkennung dieser Wirklichkeit in der Sicherheit eines sozialen Zusammenhangs. Aufschlussreich am Beispiel August ist die Tatsache, dass der Vater den eigenen Ansprüchen des Sohnes durchaus Platz geben möchte, diese sogar noch ausdrücklich fördert, indem er ihn immer wieder auffordert, eigenständig zu sein, ihm Eckermann „mit auf den Weg“ gibt, seine Reise voll finanziert u.dgl. Alle diese väterlichen Angebote verstärken in August aber nur seine Bestrebungen, der Sichtweise des Vaters zu entsprechen. Sein individuelles Potenzial möchte er dadurch unter Beweis stellen, dass er anschlussfähig an die Gedankenstrukturen des Vaters ist. Hier zeigt sich, was das „Pädagogische“ eingebettet in vielfältige Kontexte ist, und wie es verdeckt, verborgen wirkt. Im Falle August wirkt es dabei vor allem durch dieses Verborgene der Struktur in den Kommunikationszusammenhängen. Besonders deutlich wird dies anhand seines Tagebuchs, das ursprünglich dem Zweck der emanzipatorischen Welterkennung dienen soll, letztendlich aber eine permanente „Qualitätskontrolle“ durch den für ihn allzeit anwesenden Vater darstellt. Die Notwendigkeit, sich einem lernenden Dasein zu verpflichten, sein Unwissen und seine „Schuld“ in Form von Wissen und Bildung abzutragen, wird dermaßen stark, dass das tatsächlich Gesehene, Erlebte und Gedachte unter dem verdeckten Erziehungs-Vertrag zusammenbricht, selbst wenn die begehrten Anerkennungen immer wieder „gewährt“ werden. Autorität und lernendes Subjekt stehen dabei in keinem wechselseitigen Bezug mehr, sondern die antizipierte Autorität überdeckt das Subjekt im sozialen Dasein, das sich einen anderen, destruktiven Ausweg sucht. Aneignung zwischen Blick und Gegenblick Die hier besprochenen Reisebeschreibungen zeigen auf anschauliche und doch sehr verschiedene Art und Weise, wie in jedem dieser Akte der Besitznahme fremder Welten, der Boden der unexpliziert gebliebenen Erfahrungen die Wahrnehmung und Aneignung derselben bestimmt. Dabei sind die jeweiligen Bedeutungsrahmen für diese impliziten Erfahrungen recht unterschiedlich, je nachdem welche Form der „Stellungnahme“ gegenüber der Welt hierbei zum Ausdruck kommt. Wie unterschiedlich entsteht doch konkreter Sinn, d.h. auf die Situation bezogene Bedeutung, für die drei Männer. Der Fluss ihrer Reise, der permanente „Status Nascendi“ wird dabei durch die spezifischen Erwartungen, die biographisch situierten Perspektiven und die erlernten Möglichkeiten, Bedeutung zu generieren, gerahmt, um letztlich das zu erfassen, was für sie die Welt darstellt. Auf der konventionellen Ebene halten sie sich in ihren Beschreibungen an die wesentlichen Symbole und an den Kanon der Reiseberichte ihrer Zeit. Wir sehen die drei Männer, wie sie mit ihren unterschiedlichen Möglichkeiten die Geschichte ihrer Reise innerhalb alltagsästhetischer und lebenspraktischer Dimensionen ordnen. Die dargestellten Gedanken und Szenen bekommen durch diesen nachvollziehbaren Reisevorgang eine programmatische Dimension, die den Reisevorgang absichern und in Hin-
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blick auf den jeweils angestrebten Erkenntnisgewinn nutzbar machen soll. In diesen Reiseerzählungen wird dabei (auf verschiedenartige Weise) eine narrative Konstruktionsleistung erbracht, indem der Prozess des Sich-selbst-Erzählens einen Erzählmodus etabliert, der den erzählten Ereignissen eine zeitlich fixierbare Position entlang einer Entwicklungslinie zuweist. In allen drei Berichten spielt sich die Wahrnehmung ihrer Reise zwischen Vertrautem und Fremdem, Alltag und Neuem, Normalität und Ausnahme, zwischen Individualität und Kollektivität ab. Es setzt sich aus ästhetischen Erfahrungen, reflexiven Begründungen und pragmatischen Alltagshandlungen zusammen. Eine solche aus Aufbruch und Alltäglichkeit zusammengesetzte, expansive und auseinanderstrebende Koproduktion von Subjekt und Fremdheit, von Identifikation und Experiment, ist in allen drei Berichten (wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß) auf die unmittelbare Aneignung des „Neuen“ ausgerichtet. Die hier zu leistende biographische Absicherung des Gesehenen, Gehörten und Gedachten verlangt für sie unmittelbar nach einer sozialen Konstituierung. So voraussetzungsvoll diese Reisen in Bezug auf das mitgebrachte Wissen auch sind, um die symbolisch repräsentierte Welt begreifen zu können, so voraussetzungsreich sind sie auch in Bezug auf ihre sozialen Absicherungen. Diese vollziehen sich bei den hier vorgestellten Reisenden vorwiegend durch die für alle verbindliche Form ihres Reiseberichts in Briefform. Hier ist quasi immer die Anbindung an eine spezifische soziale Wirklichkeit vorhanden, die die kulturelle und historische Aneignungsform stützt. Erst das Format des Briefes, der persönlichen Anrede, vervollständigt für sie die aktuelle Beschreibung des Vorgefundenen. Es ist jener Agens, der entscheidend ist für das Funktionieren, das Gültigmachen dieser Bewegungen in Raum und Zeit. In den Briefen wird die ganze Breite der gesellschaftlichen Beziehungen, der mitgebrachten, aber auch der sich neu erschließenden Erkenntnisse, bespielbar. Das bloße Zusammentragen von Einsamkeitserleuchtungen und Öffentlichkeitserfahrungen, die auf den persönlich durchschrittenen Wegen erarbeitet werden, muss erst durch die direkte Anrede (wie fiktiv diese letztlich auch immer sein mag) in einem sinnvollen Sozialraum begründet werden. Jede individuelle Bereicherung des künstlerischen und persönlichen Repertoires muss rückgebunden werden an einen sozialen Modus, der wiederum dafür sorgt, dass die erworbenen Differenzierungen nun nicht mehr nur kognitiv gesichert werden. Vielmehr sollen die initiierten Bildungsprozesse als Bewegungen zwischen sozialen Lebensentwürfen und individuellen Selbststeuerungsmöglichkeiten gestaltet werden. Unter diesen Bedingungen ist eine hochspezialisierte Berichtform entstanden, die nicht nur die Welt abbilden will, sondern die die Entstehung und Absicherung von Lebenswegen mitliefert. Die dabei angefertigten „Narrative“ sind zeitlich geordnete und auf ein Ziel gerichtete Muster und Matrizen, die die Biographien von Menschen formen (sollen), indem sie deren Pfade (im erzählten Rückblick) ein Ziel, einen Sinn geben. Die Selbsterzählung und die Möglichkeit, sich selbst in der Einheit von Erzähler und erzählter Figur als stabile Person wieder zu erkennen, wird durch die Kontinuität der Reiseerzählung,
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durch die Zentrierung der Schritte hin auf ein ausweisbares Ziel und durch die Form der brieflichen Rückbindung an ein Sozialsystem geschaffen. Der eingangs angesprochene Gestus des „selber nachschauen gehen“ bekommt erst innerhalb dieser Parameter seine Gestalt. In jeder der drei Schilderungen ist es das Wechselspiel der Blicke, zwischen dem Reisenden und den (potenziellen) LeserInnen, die den Sinn des Dargestellten ausmachen. Erst in einer solchen Wechselseitigkeit erfüllt sich (wenngleich auch auf völlig unterschiedliche Art und Weise) für alle drei der Sinn des Reisens. Die Blicke, die hier freigegeben werden, können dabei (wie bei Johann Caspar) auch an fiktive Personen gerichtet sein, sie sind aber grundlegend auf einen Austausch, auf ein Angeschaut-Werden angelegt, sind letztlich als kommunikative Prozesse zu verstehen. Diese Wechselseitigkeiten bleiben dabei immer zentrale Bezugspunkte und bilden den Fokus ihres Berichts. Die in den Reisetagebüchern vorgelegten konkreten „Auskünfte“ über das Gesehene und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen sind aber recht unterschiedlich. Ihre hier sichtbar werdenden Antworten, ihre spezifischen Gesten der Herrschaftslegitimationen, der Besitznahmen, der Prozeduren, in denen die äußere, fremde Welt den Subjekten einverleibt wird, unterschieden sich innerhalb ihrer biographischen Entwicklungslinien und deren sozialen Gravitationsfeldern grundlegend voneinander. Johann Caspars Blick ist der eines Reisenden, der eine wohlgeordnete Fremde erzeugt, die er, auch in all ihrer Unvollkommenheit und vermeintlichen Rückständigkeit, pflichtbewusst abzubilden versucht. Sein Blick ist niemals unruhig, wandert stets den Horizont der schon mitgebrachten Bedeutungen ab. Bei ihm ist dieses Verlangen nach Kongruenz stark präsent, besonders dann, wenn in den „gefundenen“ Briefen von einer stabilisierten Welt zwischen Mann und Frau erzählt wird, wenn er das Fremde als geradlinige Fortsetzung seines Erfahrungsschatzes begreifen will. Seine Begegnungen mit dem Fremden werfen keine unlösbaren Fragen auf, denn das ihm Bekannte und Vertraute dient ihm als Schutzschild gegen jede Form der Verunsicherung. Die „Eroberung“ des Fremden verläuft für ihn linear und gerecht, denn er fühlt sich darin berechtigt, die Art, die Form und die Konsequenz der Begegnungen zu bestimmen. Durch diese Definitionsmacht fühlt er sich auf seiner Reise „gut aufgehoben“ in seinen Vor-Urteilen, die ihm tragfähige Begriffe für seine Wahrnehmungen, seine vernünftigen und soliden Anschauungen bieten. Seine Perspektive auf die Menschen, die Dinge und die Situationen, die ihm begegnen, ist in Deutschland erprobt und gesellschaftlich abgesichert. Seine Formen der Aneignung, des Lernens, finden innerhalb dieses Eingebundenseins in eine für ihn vernünftige Lebenswelt statt, die sich durch objektive Eigenschaften oder praktische Zweckdienlichkeit auszeichnen. Johann Caspars Zentralperspektive ist daran interessiert, einen kulturell klar konzeptualisierten und sozial geordneten Raum darzustellen. Nichts liegt ihm ferner, als ein bewegliches Subjekt, dessen Perspektive sich durch die Ortsveränderung laufend verändert. Johann Wolfgang ist jener der drei Italienreisenden die grundlegend versuchen, erst einmal den Blick frei zu bekommen für eine unvoreingenommene Begegnung mit dem
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„Anderen“. Je weiter er auf seiner Reise voranschreitet, je tiefer er in diesen „Zustand Italien“ eintaucht, desto stärker geht die sinnliche Erfahrung über eine bloße Erfassung und Kodierung von Eindrücken und deren Einordnung in ein vorgefertigtes Schema hinaus. In den Winden, den Farben oder den Geschichten, die ihm entgegenwehen, versucht er immer wieder, sein Wind-, Farben- oder Geschichteverhalten zu erfassen. Er weiß, dass es keine neutrale Wind-, Farben und Geschichtswahrnehmung gibt, denn jede davon ist immer schon gefärbt durch die instabilen Formen der Zu- oder Abwendung, durch die fließenden oder sprunghaften Bewegungen seiner Wahrnehmung und durch die nachhaltigen oder zögernden Rhythmen seiner Reise. Sinn ist und wirkt für ihn stets nur „indirekt“ und lateral, entsteht erst im spezifischen Miteinander von Subjekt und Welt. Die Rolle des Subjekts verschiebt sich hier in seinen Betrachtungen immer wieder von der zentralen Instanz in einem weit ausgreifenden Akt der Sinnproduktion. An vielen Stellen seiner Betrachtungen beschreibt er einen Umgang mit der Welt, der stets nach neuen Blickwinkeln sucht. In der Zweideutigkeit von Wahrnehmung und Begriff entfaltet sich ihm so ein Italien, das sich seiner Subjektivität als ein offenes Ganzes präsentiert, obgleich er einsehen muss, dass dessen Erkenntnis nur begrenzt und vorläufig gelingen kann. Es sind für ihn vor allem die Situationen, in denen er sich „nicht auskennt“, in denen die Erinnerungskapazität nicht weiterhelfen kann, die ihn eine Schwelle überqueren lassen, die ihn zu „neuen Erkenntnissen“ führen. Sein Blick beharrt hier zwar auf einer größeren Ferne zu den Dingen, dem Fremden, jedoch schafft sein „schöpferischer Geist“ eine Form der vorsichtigen Nähe, die emotionale Zugänglichkeiten erzeugt, die „berühren“. Ähnlich wie dies M. Merleau-Ponty (1966) in seiner Analyse leiblicher Verständigung und leiblicher Bezogenheit beschreibt, verfährt Johann Wolfgang derart, dass das Sehen und Berühren verwandte Sinneswahrnehmungen sind. Beide entstammen aus einer grundsätzlichen Reversibilität: In meiner Berührung berührt mich auch der/das Berührte und dabei spüre ich mich. In meinem Sehen ergreifen mich die Dinge wesentlich, indem ich sie sehe. In dieser Form der Wahrnehmungswechselspiele liegt ein Spannungsverhältnis, eine Form von Kontakt und Entfernung, von Annäherung und Ferne enthalten, in der Differenzerfahrungen möglich werden. Anders als sein Vater, bei dem die zu betrachtende Welt eine Fassade darstellt, die es abzubilden gilt, ist sich Johann Wolfgang bewusst, dass er stets in diese „Gegenüberwelt“ eingebettet ist. Augusts Perspektive wiederum kann diese Formen des lückenhaften Blickes oder auch des „blinden Flecks“ nicht akzeptieren. All sein Reisen und Sehen ist auf die Herstellung von Sicherheit durch den Segen des Vaters ausgerichtet. Überall sieht er deshalb (ähnlich wie sein Großvater) auch nur das schon Vertraute, an dem es sich abzuarbeiten gilt. Anders als diesem erwächst ihm daraus aber keine sichere Übernahme des Erfahrenen, sondern stets erwartet ihn eine, seine eigene Persönlichkeit aushöhlende eindringende Fremdheit. Augusts Blick ist einer, der erst durch den antizipierten Gegenblick des Vaters auf die Welt trifft. Durch diesen permanenten Vaterbezug entsteht hier eine
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Mangel- und Differenzerfahrung, in der er seinen Blick auf die Dinge stets als zu oberflächlich, zu ungenau und fragwürdig einschätzt. Erst durch den antizipierten Gegenblick des Vaters kann für ihn jene Wirklichkeit festgeschrieben werden, die ihm Praxis und Perspektive ermöglicht. Er möchte alles sehen, begreifen und einsammeln, um es seinem Vater zu zeigen: „Schau, das habe ich auch gesehen!“ ist sein Credo dabei. Erwartet er sich von dieser Reise zu Beginn zwar noch die Befreiung vom Gängelband des Vaters, so erzeugt er auf seiner Reise dieses Joch doch immer wieder neu. August ist nicht in der Lage, ein individuelles Bildungs-Kräftefeld für sich zu kreieren. Für ihn gibt es stattdessen ein fortwährend unübersichtliches Feld an Ereignissen und Situationen, die erst in der Affirmation ihren Stellenwert erhalten. Das „selber nachschauen gehen“ stößt dabei sofort an die Schutzzäune der ihn prägenden väterlichen Erwartungsstrukturen. Dort, wo diese Rahmung verlassen wird, zeigt sich ihm die Welt als bedrohlich, aber auch als anziehend, wenngleich er der lebensweltlichen und situativen Orientierung nur punktuell (und meist unter Alkoholeinfluss) traut. Dann aber verschwimmt ihm jenes Bild, das er von sich in den Briefen an den Vater zeichnet, und wird ersetzt durch eine Vielzahl von willkürlichen Ausschnitten aus dem ungeordneten Alltag. In solchen Momenten liefert ihm (zumindest episodisch) der Alkohol ein Bezugsfeld, das dem Vater widerstehen kann. Beide Bezugssysteme machen ihm aber schmerzhaft eine Differenzerfahrung bewusst, dass die Übernahme des Anderen ins Ich keine eigene Identität schafft (vgl. Mead 1975). Das Diktum des Vaters aus Faust I, „Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen“ (Goethe 1980, 22), treibt ihn erst recht in die Enge, denn er merkt, wie viel davon ihm fremd bleibt und wie wenig er dem Vater als transzendentalem Standpunkt entfliehen kann. Augusts Reise kann mit den Augen von J. P. Sartre auch als „das Ausbluten der Eigenwelt unter dem Blick des Anderen“ (Sartre 1994, 460ff.) beschrieben werden. Das, was August beobachtet, erkennt, scheint beständig vor ihm zu fliehen. Er kann nur dort seine Gegenstände in eine ihm vertraute Relation setzen, wo sich die Objekte im „Raum des Vaters“ manifestieren. Seine Versuche diese subjektive Erstarrung zu lösen, führen immer wieder in Gefühle der Ohnmacht oder der Scham. Augusts Aneignungslernen ist gekennzeichnet durch sein individuelles Anpassungs- und Überlebenstraining in den von ihm wahrgenommenen privaten und gesellschaftlichen Verhältnissen. Jeder Versuch der subjektiven Ausweitung dieser Verhältnisse wird von seinen erlernten „Dispositiven der Macht“ gleich wieder konterkariert. In den hier geschilderten Reiseberichten zeigt sich, wie subjektive Erfahrungen und deren Deutungen stets auf gesellschaftliche Verhältnisse bezogen bleiben. Das individuelle Benennungshandeln findet seinen Ort immer innerhalb gesellschaftlicher Machtverhältnisse, Lebensbedingungen und sozialer Normen. Das dabei geschilderte problembezogene Benennungs- und Lösungshandeln, das den Erfahrungshorizont bestimmt, zeigt recht unterschiedliche Subjekte, die sich ihre Welt als soziale Praxis unmittelbar aneignen. Die dabei sichtbaren intentionalen Logiken des Handelns, die Potenziale und Beschränkungen ihrer Aneignungsprozesse sind Ausdruck komplexer biographischer An-
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eignungsmodi, die die jeweilige subjektive Weltzugewandtheit begreifbar machen. Von der reduktionistischen Überbetonung der „abhängigen Variablen“ der äußeren Einwirkung (bei August) über die wissens- und moralgesättigte Erklärungsabsicht (bei Johann Caspar) bis hin zu den elementaren Formen der Entwicklung eines eigenen „Aneignungssystems“ (bei Johann Wolfgang) reichen hier die Variationen. Die hier angestrebte Herausbildung übergeordneter, generativer Handlungs- und Wissensstrukturen, im Sinne von Selbst- und Weltreferenzen, greifen dabei konkret auf die Entwicklungsgeschichte der jeweiligen Erzähler, deren strukturelle und subjektive Rückbindung an den jeweiligen Kontext der erlernten Bezugnahme auf die Welt zurück. „Die Frage, wie Subjekte diese qualitativen Übergänge vollziehen, ergibt Aufschluss über den Wechsel der Lernebenen, über den Wechsel der Erfahrungsmodalität sowie über den Wechsel der Zukunftsstruktur des biographischen Entwurfs, gibt also Aufschluss über die Mikrostrukturen von Bildungsprozessen“ (Marotzki 1990, 246). Gerade diese (Trans-)Formation von Erfahrungen, von Wissen und Handlungsstrukturen in lebensgeschichtlichen und lebensweltlichen Zusammenhängen bestimmen jene „Sinnüberschüsse“, die Ressourcen für Bildungsprozesse darstellen. Die dabei sichtbar werdenden eigensinnigen Prozesse der „AutorInnenschaft“ der eigenen Lebens-Reise gegenüber bleiben aber stets an vorfindbare Situationen und Strukturen gebunden, über die nicht beliebig verfügt werden kann. Derartige Aneignungsprozesse haben somit zumindest eine doppelte Bedeutung. Sie sind Rahmen und Rahmungen zugleich, Blick und Gegenblick, in denen Erfahrungen (im Rückgriff auf ein System von Regeln) bewertet, als Bestandteile der sozialen Welt durch subjektive Bedeutungszuweisung rekonstruiert werden, und in denen gleichzeitig das „Aneignungssystem“ selbst und der Prozess der Erfahrungsaufschichtung zur Disposition steht.
Literatur Egger, Rudolf (2004): Next Exit: Bildung. Lernwelten im Übergang. Graz. Goethe, August (2003): Auf einer Reise nach Süden. Tagebuch 1830. München. Goethe, Johann Caspar (1999): Reise durch Italien im Jahre 1740. München. Goethe, Johann Wolfgang (1980): Faust. Der Tragödie erster Teil. Stuttgart. Goethe, Johann Wolfgang (2007): Italienische Reise. München. Griep Wolfgang / Jäger Hans-Wolf (Hg.) (1983): Reise und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts. Heidelberg. Heisenberg, Werner (2003): Physik ist ... Antworten zum Fragebogen von Werner Heisenberg http://www.ptb.de/de/publikationen/blickpunkt/interviews/heisenberg.html [6. 10. 2009] Hohler, Franz (2000): Zur Mündung. 37 Geschichten von Leben und Tod. München . Marotzki, Winfried (1990): Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie. Weinheim. Mead, George Herbert, (1975): Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Mit einer Einl. hrsg. v. Charles. W. Morris. 2. Aufl. Frankfurt/M.. Merleau-Ponty, Maurice (1996): Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin. Rousseau, Jean-Jacques (1963): Emile oder über die Erziehung. Stuttgart. Sartre, Jean-Paul (1994): Das Sein und das Nichts. Reinbek. Wiedemann, Conrad (Hg.) (1988): Rom – Paris – London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in fremden Metropolen. Ein Symposion. Stuttgart.
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Chronographien – Bildungsbiographische Bewegungen im Raum
1 Aneignungsverhältnisse nach Humboldt Bildung – so die klassische Formulierung von Wilhelm von Humboldt – zielt auf die „Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt“. Sie verlange vom Menschen, „soviel Welt als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden“ (Humboldt 1969/1793, 235). Bildung bezeichnet die „weitest mögliche ‚Aneignung‘ von Welt durch das Subjekt“ (Luhmann 2002, 188). Wobei Aneignung heißt, dass das „Subjekt in der Lage ist, mit der Welt, obwohl sie unerreichbar draußen ist, wie mit etwas Eigenem umzugehen und an der Welt ein eigenes Dasein zu bestimmen“ (ebd.). Bildung stellt demnach sicher, dass das angeeignete Wissen ganz dem individuellen Subjekt zugehört. Anders als individuumszentrierte, lernfixierte und kognitiv eng geführte Fassungen hält dieser Bildungsbegriff einen theoretischen Horizont offen, der die empirische Analyse eines breiten Spektrums von geschichtlich entfalteten Bildungsgestalten und Bildungsprozessen erlaubt, die sich jeweils unter dem Gesichtspunkt der Ausschnitte und ihres Umfangs der angeeigneten Weltaspekte, der bevorzugten Formen ihrer Aneignung und der Modalität, in der sie im Resultat mit dem individuellen Subjekt verknüpft sind, deutlicher unterscheiden. Bruchlos wird man heute allerdings nicht an den aneignungsbezogenen Humboldtschen Bildungsbegriff anknüpfen können.1 Seine Ausarbeitung verbleibt noch im subjekt- und identitätsphilosophischen Kontext des Deutschen Idealismus. Individuelle Aneignung wird als subjektinterner Prozess begriffen, in dem sich eine äußere, als fremd erfahrene Welt vom Einzelnen gewissermaßen einverleibt wird, Subjektbildung also als Aufhebung von Fremdheit konzipiert wird. Die im Zuge von Bildungsprozessen immer zugleich stattfindende Konstitution sozialer Realitäten, in denen sich die Individuen situieren müssen, kommt bei Humboldt ebenso wenig in den Blick wie die für Identitäten in moderne Gesellschaften kennzeichnende Problematisierung des je spezifisch Eigenen in Zeit und Raum und damit auch nicht die Erfahrung der Interdependenz von Aneignung und Fremdheit.2 In seinem Kern neigt Humboldts Bildungsverständnis eher zu einem kulturtheoretischen als zu einem sozialwissenschaftlichen Realitätsverständnis. Die Welt, um deren Aneignung es im Zeichen von Bildung geht, ist im Kern immer kulturelle Wirklichkeit, die soziale und historische Welt, in welche die Individuen eingebettet sind, bleibt noch außerhalb des Blicks. Was Humboldt auch noch nicht ahnen konnte, war eine mit dem Theorem der Entgrenzung und Universalisierung des Pädagogischen thematisierte Entwicklung der Aneignungsund Vermittlungspraktiken in modernen Gesellschaften (vgl. Kade/Seitter 2007), die
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auf die grundlegende Abhängigkeit der Subjektbildung von der Inanspruchnahme pädagogischer Angebote – lifewide und lifelong, wie es im europäischen Memorandum des Lebenslangen Lernens (2001) prägnant heißt – mit einer Diversifizierung und Verbindung von nicht nur ‚reinen‘ Formen reagiert. Parallel zu einer entsprechenden Dehnung und Differenzierung von „Aneignungsverhältnissen“ (Kade 2003) erweitert sich auch das Weltspektrum, auf das sich Aneignung richten kann und das unter dem Aspekt der Aneignung als Bedingung von Subjektbildung zum Gegenstand gemacht wird. Einem Bildungsverständnis, welches das Individuum monadologisch verabsolutiert und in einer allmächtigen Gegenwart fixiert, wäre ein Bildungsverständnis gegenüber zu stellen, das Individuen a priori als sozio-kulturell, räumlich und zeitlich eingebettet begreift. Bildung geschieht also nicht nur als Aneignung von symbolisch repräsentierter Welt. Sie ist nicht nur Wissenserwerb, sondern auch mit einer Bewegung in der Raum- und Zeitdimension verbunden. Einen Zeitindex hat Bildung insofern, als die sich bildenden Individuen Personen mit einer je spezifischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind (vgl. SchmidtLauff 2008). Auch verweisen die Aneignungsverhältnisse, in denen Individuen eingebettet sind, auf ein zeitliches Schema, das die Biographien der Individuen, deren Position im Verhältnis der Generationen und deren Situierung im Verlauf der Geschichte umfasst. Bildungsbiographien sind daher immer auch eine Auseinandersetzung mit der Zeitlichkeit des Seins – auf individueller wie auf sozialer Ebene. Einen Raumindex hat Bildung, insofern die sich bildenden Individuen in verschiedenste soziale Räume eingebettet sind (vgl. Bourdieu 1991). Auch die Aneignungsverhältnisse, innerhalb derer sich die Individuen im Lauf ihres Lebens wiederfinden, verweisen auf verschiedene soziale Räume, mit ihren je spezifischen Strukturierungen, Grenzziehungen, und Bewegungsflächen. Bildung als eine Form der individuellen Verortung in Raum und Zeit ist damit Ausdruck dessen, wie sich Menschen ihre Lebenszeit und ihren Lebensraum aneignen. Die raum-zeitliche Verankerung der Aneignungsverhältnisse gibt Bildung dabei ebenso ihre spezifische Gestalt wie die individuellen Aneignungspraktiken, die sich auf den lokalen, regionalen und globalen Raum beziehen, in dem das Leben der Individuen eingebettet ist (vgl. Giddens 1984; Beck/Lau 2004; Fischer 2007) Bildungsbiographien können als Chronographien zeitlich wie räumlich eingebetteter Bildungsprozesse gelesen werden und damit als Karte einer Bewegung entlang der biographischen Zeit und im sozialen Raum. Aus diesem Blickwinkel treten zwei Themenkomplexe in den Vordergrund: Die Biographie als Karte bezeichnet zum einen Relationen zwischen Leben und Bildung, zum anderen konstituiert sie – als biographische Erzählung – diese Relationen aber auch in einer je spezifischen Art und Weise (vgl. Dünne 2008).
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2 Biographische Darstellung raum- und zeitbezogener Bildungsbewegungen Raum- und zeitbezogene Bildungsbewegungen lassen sich empirisch auf Grundlagen von Daten bzw. Texten rekonstruieren, die mit Verfahren der Teilnehmenden Beobachtung, der Videographie, der Dokumentenanalyse, von Experten- und Betroffenengesprächen erzeugt wurden. Im Folgenden soll zur Rekonstruktion individuell differenter Aneignungsbewegungen von Raum- und Zeitdimensionen das Potential genutzt werden, das thematisch fokussierte biographische Erzählungen bieten. Die in den biographischen Erzählungen geschilderten Bildungsprozesse lassen sich als Bildungsgestalten, d.h. als Formen der Einbettung der individuellen (lehrlernbezogenen) Lebensführung in das Spannungsfeld gesellschaftlicher Aneignungsverhältnisse analysieren. Sie sind in diesem Sinne nicht nur Ausdruck individuellbiographischen Erlebens und Handelns, sondern auch gegenwartsverankerte Repräsentationen individueller Vergangenheits- und Zukunftsbezüge, die sich in der – in den biographischen Erzählungen geschilderten – gegenwärtigen Raumnutzung und Raumwahrnehmung widerspiegeln. Bildung ist vor diesem Hintergrund eine Bewegung bzw. Prozessordnung im Raum, die auf biographisch situierte Lebensthemen Bezug nimmt. Wir werden im Folgenden anhand von zwei Fällen aus dem Kontext eines von der DFG geförderten Projektes3 über das Lernen im Lebensverlauf auf der Grundlage von nach 25 Jahren wiederholten thematisch fokussierten biographischen Interviews signifikante Aspekte von Bildungsgestalten als Chronographien analysieren: Als zeitübergreifender (vertikaler) Prozess ist Bildung eine Option des sozialen Aufstiegs und ein Mittel der Auseinandersetzung mit den Folgen des eigenen Bildungsaufstieges. Als zeitgleiches (horizontales) Nebeneinander verschiedener Bildungsräume ist Bildung eine Möglichkeit persönlicher Entfaltung und ein Mittel der Durchsetzung eigener Vorstellungen im Sozialen. 2.1 „Sich weiterbilden“ als Weg der möglichen Selbstfindung und Selbstverwirklichung in einer fremden Welt: Eine Aufstiegsbiographie Bildungsbiographisches Kurzportrait TN304 wird 1947 geboren und wächst als „typisches Kind aus der Unterschicht“ auf. Ihren gewerkschaftlich engagierten Vater bezeichnet sie als „bekennenden Kulturbanausen“, ihre Mutter als „streng religiöse“ Katholikin. Die elterliche Erziehung erlebt TN30 als autoritär und angstbesetzt: Werte wie Selbstständigkeit und Bildung werden von den Eltern mit Verweis auf den dadurch entstehenden Verlust partnerschaftlicher und göttlicher Zuwendung abgelehnt. TN30 wird zudem in eine überkommene Frauenrolle gedrängt. Die traditionellen und insbesondere die religiösen Vorstellungen der Eltern sind es, die eine weitergehende Schullaufbahn für TN30 verschließen, ob-
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wohl sie als gute und strebsame Lernerin in der Volksschule die Aufmerksamkeit des Lehrpersonals auf sich zieht und stellenweise die Funktion einer Hilfslehrerin angetragen bekommt. Nach dem Abschluss der Volksschule absolviert TN30 eine Ausbildung, um daraufhin als Beamtin zu arbeiten. In dieser Zeit belegt sie ihren ersten Englisch-Kurs an der Volkshochschule, vor allem um sich Wissen anzueignen, über das sie – im Gegensatz zu ihren Arbeitskolleginnen – aufgrund ihrer geringen Schulbildung nicht verfügt. Nach einigen Jahren Berufstätigkeit gibt TN30 ihre Stelle auf, um als Zimmermädchen in einer gehobenen Touristenregion zu arbeiten, da sie gerne mit Menschen zu tun haben will. Zur Zeit der Geburt ihrer Tochter wechselt TN30 wieder in einen Bürojob, schmiedet dort aber bereits Pläne sich längerfristig für einen sozialen Beruf zu qualifizieren. Das von ihr in Erwägung gezogene Fernstudium zur Erzieherin beginnt TN30 allerdings nicht. Stattdessen holt sie, auf Anregung einer Beratungsstelle ihr Abitur per Fernstudium nach, um anschließend, mit etwa 28 Jahren, an der Universität das Studium des Lehramts für die Grundschule aufzunehmen. Das im Englisch-Kurs an der Volkshochschule erworbene Wissen bildet den Schlüssel zur Zulassung zum „Begabtenabitur“ und zum erfolgreichen Studium des Lehramts. Nach Abschluss ihres Studiums arbeitet TN30 über einen längeren Zeitraum an einer Grundschule, zuerst als Lehrerin, später auch als Schulleiterin. Zum Zeitpunkt des zweiten Interviews gibt TN30, nunmehr 59 Jahre alt, an, im Lehrberuf das „Ihre“ gefunden zu haben. Sie verweist im Interview mehrfach auf ihre Herkunft aus der Unterschicht, bezeichnet sich nun aber als Person, die ein Kind aus der Unterschicht „war“. Sie besucht weiterhin Kurse an der Volkshochschule, allerdings nicht mehr, um sich kompensatorisch Wissen anzueignen, sondern um ihren persönlichen Interessen nachzugehen. Mit Blick auf die nahende Verrentung, möchte sie sich – als „begeisterte Teilnehmerin der Volkshochschule“ – durch einen ausgedehnteren Kursbesuch weiterhin „neue Horizonte“ erschließen und so in Bewegung bleiben. Bildungsprozessanalyse Der von TN30 beschriebene Bildungsprozess zeichnet eine vertikal ausgerichtete Aufstiegsbewegung nach, die sich vor allem an der Findung einer spezifisch eigenen Position im Berufsleben ausrichtet und mit einer weitgehenden Ablösung von der eigenen Herkunft aus der Unterschicht verbunden ist. Die eigene Kindheit und Jugend beschreibt TN30 dabei als Phasen des Nicht-Lernens und der dogmatischen Belehrungen durch die eigenen Eltern. Gegenüber dieser als beherrschend und beschränkend erlebten familiären Umwelt verweist TN30 in ihren Erzählungen auf die Volksschule als Ort erlebter Selbstverwirklichung und Freiheiten. Dort wird nicht nur ihre besondere Lernbegabung gesehen, sondern auch im möglichen Umfang gefördert. Dem familiären Verhinderungsraum des „Belehrtwerdens“ sowie der Verkennung der individuellen Fähigkeiten und der verschlossenen Zukunft steht so der schu-
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lische Möglichkeitsraum des „Sich-Weiterbildens“ sowie der Verwirklichung der eigenen Fähigkeiten und einer offenen Zukunft gegenüber. Ganz in diesem Sinne nutzt TN30 den ersten von ihr belegten Kurs in der Erwachsenenbildung. Als „Kind aus der Unterschicht“ findet sie sich in einem beruflichen Feld wieder, dessen Angehörige ihr bezogen auf die Kenntnis der Fremdsprache Englisch überlegen sind. Auf diese Situation reagiert TN30, indem sie sich das ihr bislang fehlende Wissen kompensatorisch aneignet. Die Wahl eines Sprachkurses schließt an die eigene schulische Präferenz für Deutsch an und realisiert zudem, was ihr durch die Eltern explizit untersagt, von ihren Lehrern aber ausdrücklich befürwortet wurde – nämlich an einer Realschule Englisch zu lernen. Der Englisch-Kurs bildet somit einen ersten Schritt der Entfremdung von der eigenen Herkunft, ist dabei aber ein erster Annäherungsversuch an ein bildungstechnisch höher gestelltes soziales Milieu. Einen zentralen Bruch zur Herkunftsfamilie vollzieht TN30 etwa mit Mitte 20, als sie die sichere Stelle in der Behörde aufgibt, um Zimmermädchen in einem gehobenen Touristenort zu werden. Anders als in ihrer Kindheit und ihrer beruflichen Situation erlebt sich TN30 in ihrer neuen Tätigkeit als sozial gut eingebettet. Die offensichtlichen sozialen Unterschiede zwischen ihr als Bediensteter und den Urlaubsgästen werden nicht thematisch gemacht. Anders als in ihrer, der Unterschicht entstammenden Familie, erfährt TN30 im Rahmen des von der Oberschicht dominierten Urlaubsortes eine positive soziale Anerkennung ihrer Fähigkeiten. Das Erleben der Eingebundenheit in einen sozialen Kontext verbindet sich dabei mit der Erfahrung des vom „Leben“ angeregten Lernens. Die Tätigkeit als Zimmermädchen ist es, die TN30 zum Entschluss führt, hauptberuflich mit Menschen arbeiten zu wollen. Nach ihrer Heirat und der folgenden Schwangerschaft plant TN30, sich per Fernstudium zur Erzieherin ausbilden zu lassen. Die von ihr kontaktierte Beratungsstelle übernimmt in dieser Situation eine ähnliche Position wie die ehemaligen Schullehrer, indem diese TN30 – unter Hinweis auf die ihr eigenen Fähigkeiten – auf weiterführende Bildungsmöglichkeiten aufmerksam machen. Die Beratungssituation wird zur Schlüsselstelle im weiteren Lebenslauf von TN30. Anders als nach Abschluss der Volksschule kann sie nun selbst entscheiden, welchen Lebensweg sie wählen möchte. Ohne weitere Überlegungen anzustellen, übernimmt sie den Vorschlag der Beratungsstelle und schreibt sich für das Begabtenabitur und anschließend das Studium des Lehramtes ein. In beiden Interviews schildert TN30 die einschneidende Funktion, die gerade das Studium in ihrem Leben eingenommen habe. Die bislang in den sozialen Kontexten erlebte Erfahrung der Entbettung, die den Bildungsprozess von TN30 blockiert, überträgt sich hier zum ersten Mal auf den sozialen Kontext, in dem TN30 später tätig sein wird. TN30 schildert das Studium als Ort der Be- und Entfremdung. Sie findet sich als Studentin im „akademischen Milieu“ wieder, vor dem sie bisher einen „Heidenrespekt“ hatte. Die von ihr erlebten Gepflogenheiten an der Universität
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führen allerdings zum weitgehenden Verlust des Respekts vor den Akademikern. Ihre „Minderwertigkeitsgefühle“ bezogen auf den Umgang mit Akademikern – zu denen sie sich nicht zählt – setzen sich allerdings bis zum Zeitpunkt des zweiten Interviews fort. Nachdem TN30 das Studium überwunden hat, kann sie mit der Ausübung des Lehrberufs an verschiedene biographische Fragmente wieder anknüpfen. Auf individuell-biographischer Ebene bildet die Tätigkeit als Lehrerin den Nexus, entlang dessen verschiedenste, bislang kaum zusammenhängende Lebensfragmente zielbezogen zueinander in Verbindung gesetzt werden können. Erst mit der Ergreifung des Lehrberufes erhalten die vorangegangenen biographischen Stationen – sowie die mit ihnen verbundenen Zuordnungs- und Abgrenzungsbewegungen – einen Sinn. Der Blick auf den eigenen Bildungsprozess und die eigene Berufung zur Lehrerin ermöglicht eine sinnvolle Choreographie und Chronographie des Vergangenen in eine erlebte Gegenwart hinein – vom Hilfslehrer über das Zimmermädchen hin zur Englischlehrerin –, wobei der Lehrberuf gleichzeitig die weitere Kartierung der Zukunft vorgibt. Schließlich ermöglicht es TN30 der Beruf als Lehrerin, die eigene Biographie in der Gegenwart sozial wirksam aufzuarbeiten: Die Erfahrungen als Kind, das an der Entfaltung der eigenen Fähigkeiten gehindert wurde, möchte sie ihren Schülern ersparen, indem sie dafür Sorge trägt, „dass so kleine Menschen freier erzogen werden“. Dabei knüpft sie an ihre Herkunft aus der Unterschicht an, aus der sie ein ihr quasi inhärentes Verständnis für Benachteiligte ableitet. Durch den Beruf der Lehrerin wird es TN30 so möglich, das eigene Aneignungs- und Vermittlungshandeln in weitgehend der eigenen Logik unterworfene Aneignungsverhältnisse einzubinden. Damit ist es der Lehrberuf, der TN30 eine gegenwärtige, positiv wahrgenommene, Lebensgestalt eröffnet: „Lehrer“ zu sein, schildert sie als „echt das Meine“. An dieser gefundenen Position setzt ihr weiteres Handeln zum Zeitpunkt des zweiten Interviews an. Nunmehr geht es ihr nicht mehr um einen weiteren sozialen Aufstieg oder um eine erneute Selbstfindung, sondern vor allem um die weitgehende Verwirklichung eigener inhaltlicher Interessen. Bildungsbewegung im Lichte wiederholter biographischer Erzählungen Die sich in der biographischen Erzählung von TN30 über zwei Interviews im Abstand von 25 Jahren abzeichnende Chronographie von Aneignungsverhältnissen und Aneignungshandeln verweist auf einen in drei Phasen verlaufenden Bildungsprozess: An eine Phase des Nichtlernens schließt sich ein zuerst wenig, später dann stärker zielgesteuert verlaufender Suchprozess an, der mit Phasen der Selbstfindung oszilliert. Nach dem Ergreifen des Lehrberufes kommt diese vertikale Fortschrittsbewegung zum Stillstand und geht in eine sich über alle Lebensbereiche ausdehnende Selbstverwirklichung über, die auch die von TN30 forcierte Zukunftsperspektive darstellt. Eingelagert ist diese Bewegung in das Spannungsfeld zwischen sozialräumlichen Kontexten der Unterschicht und akademischen Milieus. Beiden Sozialräumen gehört
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TN30 zum Zeitpunkt der Interviews an. Qua ihrer Herkunft fühlt sie sich aber immer noch der Unterschicht verbunden und grenzt sich durch Sprache und Verhalten gegen die Akademiker ab. Dabei gilt ihr berufliches Augenmerk vor allem den Kindern, die, wie sie, aus bildungsschwachen Familien kommen und der Förderung bedürfen. Der zentrale Ort ihrer Selbstverwirklichung, als der Ort an dem ihre individuelle Biographie als Lerner in eine sozial wirksame Biographie als Lehrer übergeht, ist dabei die Schule. Innerhalb des Raums „Schule“ entspannt sich die Chronographie der individuellen Vergangenheit und Gegenwart von TN30 mit Verweis auf die, nunmehr dem eigenen Handeln unterliegende, bessere soziale Zukunft für sich und andere. Dabei sind es die noch entwicklungsfähigen „Körper“ der Schüler, auf die eine ideale Version der eigenen – ungehinderten Selbstverwirklichung als Lerner – projiziert wird. Den Endpunkt des Bildungsaufstiegs von TN30 bildet mithin die Rückkehr zu der Vergangenheit des eigenen Bildungsprozesses und – in räumlicher Hinsicht – die Rückbesinnung auf den Sozialraum, in dem – konträr zur lernfeindlichen familiären Umwelt – zum ersten Mal die eigenen Fähigkeiten anerkannt und gefördert wurden. Einem zeitlichen, berufs- wie milieubezogenen Aufstieg steht ein räumlicher Rückschritt gegenüber. Die Thematisierung von Begrenzungen und Möglichkeiten innerhalb ihres Lebenslaufes wird von TN30 auf den sie umgebenden Sozialraum abgebildet, indem die Aneignungsverhältnisse, innerhalb derer sich die individuellen Aneignungspraktiken konkretisieren, werden in Form von Verhinderungsräumen (Familie) und Möglichkeitsräumen (Schule) einander gegenübergestellt. Das eigene Handeln innerhalb dieser Räume wird als Bewegung geschildert, die zum Zeitpunkt des ersten Interviews (1984) vor allem eine gegenwärtige Selbstvergewisserung zum Ziel hat, während sie zum Zeitpunkt des zweiten Interviews (2008) als zielgerichtete und zeitüberdauernde Findung der eigenen Berufung zur Lehrerin dargestellt wird. Wenn man den Bogen von der ersten zur zweiten bildungsbiographischen Erzählung 25 Jahre später spannt, erweist sich Bildung – in Form des „Sich-Weiterbildens“ – als der den Modus, in dem, basierend auf einer durch Bildung ermöglichten gegenwärtigen Selbstvergewisserung, eine konsequente zeitübergreifende Selbstverwirklichung erst realisierbar wird. Durch Bildung eröffnen sich so Chancen der Überwindung von Verhinderungsräumen sowie die Nutzung der Potentialität von Möglichkeitsräumen. Bildung macht sowohl eine Abgrenzung und Entbettung bezogen auf die bisherige soziale Verortung als auch eine Zuordnung und erneute Einbettung in bisher fremde soziale Räume möglich. Die von TN30 schon in ihrer Jugend diagnostizierte Differenz zwischen verhinderter und ermöglichter Verwirklichung der eigenen Fähigkeiten ist dabei das leitende Motiv ihrer Bildungsbiographie. Sie ist auch zentrales Motiv ihres eigenen Selbstverständnisses als Lehrerin.
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2.2 Erwachsenenbildung als Ort der Selbstverwirklichung und Gegenwelt zum Beruf: Eine Entfaltungsbiographie Bildungsbiographisches Kurzportrait TN41 wird 1943 bei Stettin geboren. Da ihre verwitwete Mutter vor den russischen Streitkräften flüchtete, wächst sie als Kind bei den Großeltern auf. Um 1952 flüchtet die Mutter mit ihrem zweiten Ehemann aus den sowjetisch besetzten Gebieten nach Westberlin. Dort findet sich die mittlerweile neunköpfige Familie in einem Flüchtlingslager wieder. Die Zustände im Lager sowie die zunehmende Depressivität der Mutter lassen in TN41 den Entschluss reifen, möglichst bald finanziell selbstständig sein zu wollen. Nach dem Besuch einer Handelsschule nimmt sie daher eine Stelle als Angestellte bei einer Behörde in Berlin an. Nach einer zweijährigen Fortbildung wird sie als Beamtin in den höheren Dienst aufgenommen. Während ihrer Tätigkeit in der Behörde belegt sie erste Kurse an der Volkshochschule im kreativen Bereich, um die im Beruf erlebte Unterforderung zu kompensieren. Mit etwa 33 Jahren zieht TN41 mit ihrem Mann von Berlin nach Düsseldorf. Nach etwa 18 Monaten erfolgt ein erneuter Umzug nach Stuttgart. Als nach weiteren 18 Monaten ein Rückzug nach Berlin ansteht, reicht sie die Scheidung ein und zieht 1980 nach Frankfurt, wo sie Bekannte hat. Über die verschiedenen Ortswechsel hinweg bleibt TN41 in verschiedenen Behörden tätig, zugleich setzt sie ihren Besuch von VHS-Kursen fort. Angekommen in Frankfurt findet sie eine Stelle in einer Verwaltungsbehörde. Dort setzt sich die erlebte berufliche Unterforderung fort, was zu einem ausgedehntem Kursbesuch und verstärkten Engagement in außerberuflichen Tätigkeitsfeldern führt. Die von ihr besuchten Kurse erlebt TN41 dabei als Orte individueller Selbstverwirklichung vor dem Hintergrund eines sozial-konstruktiven Miteinanders. Die in der Erwachsenenbildung erfahrenen Möglichkeiten versucht sie später auch innerhalb ihrer beruflichen Tätigkeit umzusetzen. Ein erster Schritt dazu ist die Suche nach einer Stelle, die mit größeren Herausforderungen verbunden ist. Als sie keine solche Stelle finden kann, beginnt sie sich über verschiedene Ausbildungen eine Position als Suchtberaterin und später als 100% freigestellte Frauenbeauftragte in ihrer Behörde zu erarbeiten. Da sich TN41 als Kämpferin für die eigenen Überzeugungen versteht, kommt es zu schweren Konflikten zwischen ihr und Kollegen, Vorgesetzten und dem Betriebsrat, die sich bis in die Zeit ihrer Verrentung fortsetzen. In diese Zeit fällt auch ihre erneute Heirat. Nach ihrer Verrentung ziehen TN41 und ihr Mann 2005 von Frankfurt nach Friedberg. Am neuen Wohnort knüpft sie über ihre Teilnahme an Bildungsveranstaltungen neue Kontakte. Zudem engagieren sie und ihr Ehepartner sich stark in der Betreuung von Kindern von Migranten.
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Bildungsprozessanalyse Der von TN41 beschriebene Bildungsprozess lässt sich als horizontale Ausdehnungsbewegung beschreiben. Damit ist das Ziel verbunden, in Absetzung zum jeweils als einschränkend erlebten gegenwärtigen Sozialraum in Familie und Beruf eine Gegenwelt zu etablieren, in der die Durchsetzung eigener Interessen und das Erleben sozialer Einbettung möglich ist. In beiden Interviews differenziert TN41 zwischen dem Sozialraum des Berufes und ihrer Freizeit, in dem sie eine Vielfalt an Bildungsangeboten belegt. Die eigene berufliche Tätigkeit erlebt sie als Unterforderung und Belastung. Unterfordert fühlt sie sich durch den geringen Schwierigkeitsgrad ihrer ausführenden Tätigkeiten. Belastend sind der hohe Konkurrenzdruck sowie die Missgunst zwischen den Kollegen. Gegenüber dieser problematischen beruflichen Umwelt wird das Feld des Lernens Erwachsener als Ort des „eigentlichen Lebens“ in Form möglicher Selbstverwirklichung und eines konstruktiven sozialen Miteinanders abgegrenzt. Dem beruflichen Zwangsraum der Fremdsteuerung und des gestörten sozialen Miteinanders steht so der Verwirklichungsraum des Lernens Erwachsener gegenüber, der sich durch die darin mögliche Selbststeuerung eigenen Handelns bei gleichzeitigem Vorhandensein einer unterstützenden Gruppe auszeichnet. Diese Differenz zwischen fremdgesteuertem und selbstgesteuertem Handeln bildet das Hauptmotiv der Bildungsbiographie von TN41, die – anders als bei TN30 – weniger auf Differenzen in der biographischen Lebenszeit als vielmehr auf Differenzen im erlebten Sozialraum abhebt. Das Motiv der – in den je spezifischen Sozialräumen vorhandenen – Differenz von Selbststeuerung und Fremdsteuerung reflektiert die biographischen Erfahrungen von TN41 als Flüchtling, d.h. einer räumlich entbetteten Person, die auf der Suche nach einer eigenen Verortung und damit ihrer sozialen Einbettung ist. Die Flucht vor dem Bedrohlichen bildet das Grundthema ihrer Kindheitserzählungen. TN41 merkt an, bereits als „Embryo ein Heimatflüchtling“ gewesen zu sein. Bei der Flucht aus den Ostgebieten und bei der Flucht nach Berlin handelt es sich um fremdinduzierte Bewegungen. Demgegenüber ist das zielstrebige Ergreifen eines Ausbildungsberufes und die damit verbundene Absetzung von der dysfunktional erlebten Familie eine Bewegung, die von TN41 selbst ausgeht. Die Entscheidung für eine Beamtenlaufbahn und die mit ihr verbundene finanzielle Unabhängigkeit lässt sich so als erstes Moment der Etablierung einer Gegenwelt in Absetzung zu einer defizitär erlebten bisherigen Lebenswelt deuten. Die erste Ehe ist ebenfalls durch beständige, immer fremdbestimmte Ortswechsel gekennzeichnet. TN41 folgt ihrem Mann quer durch Deutschland. Den beständigen Erfahrungen der Entbettung versucht sie durch den an jedem Wohnort neu ansetzenden Besuch von Volkshochschulkursen entgegenzuwirken. Diese fungieren dabei als Abkürzungsstrategie der sozialen Einbettung am Wohnort und als Surrogat selbstbestimmten Handelns. Aus den Kursbesuchen ergeben sich aber keine länger andauernden sozialen Bindungen, auch weil die Wohnortswechsel im Achtzehnmonats-
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Takt erfolgen. Den Bruch mit ihrem Mann vollzieht TN41, als dieser einen Rückzug nach Berlin plant. Da sie dies, gerade mit Blick auf die sich dadurch anbahnende erneute Nähe zu ihrer Herkunftsfamilie, als „Rückschritt“ empfindet, reicht sie die Scheidung ein. Ihr Wunsch nach sozialer Anbindung führt zum – nunmehr selbstbestimmten – Umzug nach Frankfurt, wo sie „Bekannte“ hat. Der erneute Umzug führt zu einer bereits bekannten Situation: TN41 findet sich an einem fremden Wohnort und in einer ihr fremden Behörde wieder. Die neue berufliche Tätigkeit erlebt sie vor allem unterfordernd und belastend. Demgegenüber stellt sich das Feld des Lernens Erwachsener als Gegenwelt dar, in der sowohl sozialer Anschluss als auch die Durchsetzung eigener Ideen möglich werden. Zentrale Kurse in dieser Phase des Überganges sind einmal ein Stadtteil-Kurs, aus dem sich Freundschaften ergeben, die auch 25 Jahre später noch gepflegt werden. Zum anderen ein Kurs zur Schmuckherstellung, an dem TN41 über viele Jahre teilnimmt. „Begeistert“ ist sie vor allem von dem Kursleiter, der seinen früheren Beruf „hingeschmissen hat, um seinen Traum zu leben“. Während TN41 im ersten Interview noch eine strikte Dichotomie zwischen dem Beruf und dem Lernen als Zufluchtsort selbstgesteuerten Handelns markiert, zeigt sich im 25 Jahre später geführten zweiten Interview, dass sie auch in ihrer Behörde eine Position einnehmen konnte, in der ihr die Durchsetzung eigener Handlungslogiken möglich wird: Ausgehend von der im Zufluchtsraum Erwachsenenbildung erlebten Möglichkeiten zielführender Selbststeuerung und konstruktiven sozialen Miteinanders beginnt TN41 ihr Berufsfeld umzuformen. Ihre Ausbildungen zur Suchtberaterin und Frauenbeauftragten ermöglichen es ihr, Fluchträume in Zufluchtsräume zu transformieren. Dies geschieht im Modus des Lernens und durch die Veränderung ihrer Position im Sozialraum, insofern sie nunmehr eigene Vorhaben durch- bzw. umsetzen kann. Nach ihrer Verrentung blickt TN41 im zweiten Interview in bilanzierender Perspektive auf eine bewegte Zeit zurück, in der sie viele Veränderungen in Gang gesetzt hat. Sie bereut ihr Engagement nicht, bekennt aber gleichzeitig, diesen Weg kein zweites Mal gehen zu wollen. Der Übergang in die Rente wird auf individuell-biographischer Ebene nicht als Bruch erfahren, sondern als Ausweitung des „eigentlichen Lebens“. In diesem Leben steht nunmehr die Durchsetzung eigener Ideen innerhalb eines konstruktiven sozialen Umfeldes im Zentrum. Gleichzeitig setzt sich das Motiv des eigenen Einsatzes für die eigenen Ideale, das TN41 vor allem als Frauenbeauftragte innerhalb des Berufes verfolgt hat, in ihrer Freizeit fort: Im Zentrum ihrer Freizeitaktivitäten steht die Betreuung von Kindern von Migranten und deren Eltern. Hauptanliegen ist es dabei – anders als bei TN30 –, nicht die Fähigkeiten der Kinder zu fördern, sondern ihnen einen möglichst guten Schulabschluss und damit eine solide Ausgangsposition für das weitere Leben zu ermöglichen. Rückblickend vergleicht TN41 die Situation der Flüchtlingskinder mit ihrer eigenen Kindheit: Ähnlich wie ihre Schützlinge sei auch sie in einer schwierigen Situation aufgewachsen und
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habe vielfältige Erfahrungen von Entfremdung machen müssen. Die Schilderung der eigenen Familie gleicht den Schilderungen der Familien von Migranten oft bis ins Detail. Gleichzeitig bilden die eigenen Erfahrungen in der Kindheit nicht den Ausgangspunkt für das soziale Engagement von TN41. Vielmehr schafft sie sich durch die Arbeit mit den Flüchtlingen eine Ersatzfamilie und kompensiert die bewusst gewählte eigene Kinderlosigkeit. Diese Ersatzfamilie zeichnet sich durch all das aus, was der eigenen Herkunftsfamilie von TN41 und den Kindern fehlt – was Erwachsenenbildung nach ihren Erfahrungen aber auszeichnet: ein konstruktives soziales Miteinander, in dem die einzelnen Mitglieder der Gruppe sich gegenseitig in Krisenzeiten unterstützen und dabei sowohl zur Verwirklichung eigener als auch zur Verwirklichung fremder Ziele beitragen. Die gegenwärtige Arbeit mit den Kindern bildet so das Zentrum einer Chronographie des eigenen Lebens, die weniger auf einen sinnvoll zu rekonstruierenden Ablauf vergangener Ereignisse abhebt, als sich vielmehr am Problem der zeitlichen Parallelität konfligierender – Selbststeuerung oder Fremdsteuerung unterliegender – Sozialräume abarbeitet und dabei die kontrastierenden Motive der Flucht und der Zuflucht in den Mittelpunkt stellt. Bildungsbewegung im Lichte wiederholter biographischer Erzählungen Die in den biographischen Erzählungen der beiden mit TN41 geführten Interviews zum Ausdruck kommende Chronographie von Aneignungsverhältnissen und Aneignungshandeln weist keine spezifischen zeitlichen Phasen auf. Stattdessen hebt sie auf eine die gesamte Biographie überspannende Gleichzeitigkeit differenter Sozialräume ab, die sich einerseits als Fluchträume und andererseits als Zufluchtsräume charakterisieren lassen. In einem ersten Lebensabschnitt dominiert die Dichotomie von dysfunktionaler Familie und Ausbildung als Form der Abgrenzung von der Familie. Später wird der ergriffene Beruf zum belastend erlebten Bereich, dem die Erwachsenenbildung als Gegenwelt gegenübersteht. Nach der eigenen Verrentung scheint es so, als würde der bisher positiv konnotierte Bereich des eigenen Lebens die nunmehr dominante Lebenswelt bilden. Gleichzeitig etabliert TN41 aber durch ihre Arbeit mit Migranten eine dazu konträre Welt, in der sie selbst nicht mehr als Lernende, sondern als Lernprozesse von anderen fördernde Person auftritt. Die Flüchtlinge werden für sie zu einer Art Ersatzfamilie. Der vorläufige Endpunkt der Bildungsbiographie von TN41 ist damit mit einer Hinwendung zum Ausgangspunkt des eigenen Bildungsprozesses und – in räumlicher Hinsicht – mit einer Rückkehr ins Flüchtlingsmilieu verbunden. Dieser zweite „familiäre“ Sozialraum bezieht sich allerdings nicht mehr auf die eigene Herkunft, sondern vor allem auf die Zukunft der anderen. Entlang der selbstgesteuerten Arbeit mit Flüchtlingen und der dadurch möglich werdenden besseren Zukunft für sich und andere entspannt sich so eine Chronographie der individuellen Vergangenheit und Gegenwart von TN41, die weniger auf ihre eigene Zeitlichkeit
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als Biographie, denn vielmehr auf ihre eigene Räumlichkeit als „Flüchtlingsbiographie“ verweist. 3 Bildung als Bewegung in Raum und Zeit: Zwischen individueller Entwicklung und pädagogischer Strukturierung Auf der Ebene der Lebensereignisse weisen beide analysierten Bildungsbiographien zahlreiche Ähnlichkeiten auf. In beiden Fällen handelt es sich um Biographien weiblicher Personen, deren frühe Kindheit in die Nachkriegszeit fällt. Beide Frauen entstammen schwierigen familiären Verhältnissen und sind geschieden. Sie haben einen beruflichen Aufstieg hinter sich, der ihnen schon früh eine finanzielle Unabhängigkeit von Familie und Ehepartner ermöglicht hat. Auch engagieren sich beide Frauen stark für sozial Benachteiligte – Kinder aus der Unterschicht bzw. Flüchtlingskinder. Unter dem anthropologischen Aspekt von Bildung als biographischer Bewegung in Raum und Zeit5 kontrastieren die beiden Fälle trotz aller Ähnlichkeiten aber grundlegend: Entlang der Erzählungen von TN30 lässt sich eine vertikal orientierte Aufstiegsbiographie nachzeichnen, in deren Zentrum ein zeitlich gelagerter und durch Bildungsprozesse gerahmter Übergang von einem sozial schwachen Milieu in die gehobene Mittelschicht steht. Die Interviews mit TN41 verweisen demgegenüber auf eine horizontal gelagerte Entfaltungsbiographie, die sich im Spannungsfeld verschiedener, zeitlich paralleler Sozialräume verortet und für die Bildung weniger als Prozess, denn vielmehr als alternative Lebenswelt von Bedeutung ist. In beiden Fällen lassen sich die Differenzen zwischen den zeitlich aufeinander folgenden bzw. räumlich nebeneinander gelagerten Sozialräumen auf die Frage nach der in ihnen möglichen Fremd- oder Selbststeuerung (von Identität und Handeln) zuspitzen: Im Fall von TN30 geht der zeitliche Prozess des „Sich-Weiterbildens“ mit der weitgehenden Emanzipation von ihrem Herkunftsmilieu und dessen für Frauen vorgesehenen Rollenvorstellungen einher. Im Fall von TN41 ermöglicht die Teilnahme an Bildung – als dem „eigentlichen Leben“ – die Etablierung einer zeitgleichen Gegenwelt zu den jeweils als belastend erlebten Sozialräumen von Familie und Beruf.6 Einem Verständnis von Bildung als quasi subjektintern gesteuertem Prozess einer weitgehend konfliktfreien Aneignung von Welt lässt sich – im Anschluss an die vorangegangenen Überlegungen – nunmehr ein Verständnis von Bildung gegenüberstellen, welches Bildung als eine Form der individuellen Einbettung in Zeit und Raum begreift, die immer auch mit der individuellen Konstitution sozialer Welten einhergeht. Bildung als Aneignung von Welt kann so als eine individuelle Übergangsbewegung in gesellschaftlicher Zeit und sozialem Raum verstanden werden, die zwischen den beiden Polen individuell initiierter Selbst- und sozial induzierter Fremdsteuerung oszilliert. Bildungsbiographien sind als Chronologien einer Bewegung in Zeit und Raum vertikal verlaufende Prozesse innerhalb horizontal ausgebreiteter Bildungsräume.
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Die Betonung des Prozesscharakters von Bildung verweist darauf, dass diese einen Zeitindex hat, und damit individuelle Bewegungen in der Zeit über verschiedene Sozialräume hinweg rahmt. Sie bezieht sich in dieser Hinsicht auf das Spannungsfeld zwischen individueller Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie auf die individuelle zeitliche Verortung in generationeller und historischer Zeit. Als individuellen Entwicklungsprozess verweist Bildung auf das Moment der Selbststeuerung, als pädagogischer Prozess wird die Seite der Fremdsteuerung unterstrichen. Wie insbesondere am Fall von TN30 erkennbar wurde, beinhalten Entwicklung und pädagogische Strukturierung bezogen auf die individuelle Subjektwerdung gleichermaßen Chancen wie Risiken. Zum einen kann pädagogisches Handeln individuelle Entwicklung verhindern. Gleichermaßen kann Entwicklung quasi blind verlaufen und erst durch pädagogische Eingriffe in eine erstrebenswerte Richtung gelenkt werden – etwa durch qualifizierte Beratung an berufsbiographischen Schlüsselstellen.7 Pädagogische Strukturierung und individuell-plurale Entwicklung schließen sich dabei – wie im Falle von TN30 – nicht per se aus, sondern regen sich vielmehr auf unterschiedliche Weise gegenseitig an. Die Betonung der Raumdimension macht darauf aufmerksam, dass Bildung die Funktion erfüllt, gleichzeitig nebeneinander existierende, individuelle Positionen im Sozialraum zueinander zu kalibrieren. Sie bezieht sich auf das Spannungsfeld gegenwärtiger Sozialräume, innerhalb derer ein Individuum existiert. Überwiegt der Aspekt der Selbststeuerung der Bildungsbewegung, so kann man von einer subjektzentrierten Entfaltung sprechen, die verschiedene Sozialräume miteinander verkettet. Dominiert demgegenüber der Aspekt der Fremdsteuerung der räumlich gelagerten Bildungsbewegung, so kann man dies unter dem Begriff der „Ausbildung“ – im Sinne einer weitestgehend fremdgesteuerten Positionierung im Sozialraum – fassen. Am Beispiel von TN41 wird erkennbar, dass sowohl die eigene Entfaltung als auch die Ausbildung je eigene Chancen und Risiken eröffnen und auf vielfältige Weise miteinander verbunden sind. So kennzeichnet die Bildungsbiographie von TN41 gerade das Changieren zwischen der Ausbildung und dem daran anschließend ergriffenen Beruf als Ausweg aus dem Sozialraum der Herkunftsfamilie und der individuell gesteuerten Selbstverwirklichung im Bereich der Erwachsenenbildung. Im ersten Fallbeispiel ermöglicht Bildung die Konstruktion einer quasi vertikal angeordneten, individuell kohärenten Chronologie sequenziell aufeinander folgender Lebensereignisse. Im zweiten Fall ermöglicht Bildung die Konstruktion einer horizontal angeordneten, individuell kohärenten Chronologie simultan ablaufender Lebenswelten. In beiden Fällen ist Bildung das Medium, das Transitionen verschiedener Zeiten und Räume ermöglicht bzw. eine Brückenfunktion zwischen verschiedenen Zeiten und Räumen innehat.
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Bildung als individuelle Bewegung
Selbststeuerung
Fremdsteuerung
in der Zeit (vertikal)
Selbstgesteuerte Aneignung im Spannungsverhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Fremdgesteuerte Aneignung im Spannungsverhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
im Raum (horizontal)
Selbstgesteuerte Fremdgesteuerte Aneignung in verschie- Aneignung in verschiedenen Sozialräumen denen Sozialräumen
Bildung übernimmt in Form selbstgesteuerter zeitbezogener Aneignung oder selbstgesteuerter raumbezogener Aneignung sowie in Form fremdgesteuerter zeitbezogener Aneignung und fremdgesteuerter raumbezogener Aneignung vielfältige Funktionen innerhalb der Biographien der Subjekte. In den beiden analysierten Fällen steht am Ende der Erzählung eine gegenwärtig geschlossene Bildungsgestalt im Sinne einer gefundenen und gesicherten Identität, in der die eigene Bildung – in jeder ihrer möglichen Formen – den Schlüssel zur Integration differenter Lebenszeiten und Lebenswelten darstellt. Sowohl in der Prozess- als auch in der Raumdimension ermöglicht Bildung so eine Überbrückung von Dissonanzerfahrungen, die Individuen im Verlauf ihrer subjektiven Lebensführung machen.
Endnoten 1
2 3
4
Wiedereingeführt in den erziehungswissenschaftlichen Diskurs hat den Humboldtschen Bildungsbegriff Heinz-Elmar Tenorth, indem er 1986 den, wenn auch Fragment gebliebenen, gleichwohl zentralen, „Theorie der Bildung des Menschen“ überschriebenen Text Humboldts noch einmal in seinem wegweisenden Band „Allgemeine Bildung. Analysen zu ihrer Wirklichkeit, Versuche über ihre Zukunft“ veröffentlicht und damit leicht zugänglich gemacht hat. Zur Fremderfahrung zwischen Aneignung und Enteignung vgl. Waldenfels 1990. Das von der DFG (KA 642/4-1) geförderte Projekt (vgl. Hof/Kade 2008) trägt den Titel: Prekäre Kontinuitäten. Der Wandel von Bildungsgestalten im großstädtischen Raum unter den Bedingungen der forcierten Durchsetzung des Lebenslangen Lernens. Projektleitung: Jochen Kade / Christiane Hof; MitarbeiterInnen: Sascha Benedetti, Monika Fischer, Cornelia Maier-Gutheil, Ulrike Funk, Heike Breckle, Marco Dobel. Die Nummerierungen beziehen sich auf das Gesamtsample des Projekts; wobei TN bedeutet, dass es sich um Erwachsene handelt, die zum Zeitpunkt der ersten Erhebungswelle 1984-5 (auch) an Kursen der Erwachsenenbildung/Weiterbildung teilnahmen. Bei den in diesem Aufsatz behandelten Fällen handelt es sich um Teilnehmerinnen.
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Zur Unterscheidung der anthropologischen Bedeutungsrichtungen Horizontalität und Vertikalität vgl. Binswanger 1949, insbes. S. 48ff; Sloterdijk 2009; zur Nutzung dieser Unterscheidung in struktureller Sicht vgl. Tippelt 2007. Zur Relationierung von Fortschritts- und Fortsetzungsmotiven in Bildungsprozessen vgl. Kade/Seitter 1995. Zur Riskanz des lebenslangen Lernens vgl. Kade 1997.
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Heide von Felden
Biographische Statuspassagen: Lernerfahrungen in Übergängen
1 Einleitung Seit einigen Jahren fokussieren gesellschaftliche Analysen Freisetzungs- und Flexibilisierungstendenzen, die im Wesentlichen darin bestehen, dass Menschen heute stärker gefordert sind, sich mit häufigen Veränderungen und Wandlungen auseinander zu setzen und mit Unsicherheiten und Risiken umzugehen (vgl. Beck 1986, Beck/Giddens/Lash 1996). Das hat Auswirkungen auf ihre Wahrnehmung von Welt und damit auch auf ihre Lernprozesse (vgl. von Felden, 2009). Übergänge im Lebensverlauf bekommen in diesem Zusammenhang in der soziologischen Forschung in den letzten Jahren zunehmend Aufmerksamkeit. In der Übergangsforschung geht es wesentlich um die Erfassung der Komplexität von Übergängen in sozialen Systemen, um Aussagen zur Bedeutung von Übergängen und zur Berücksichtigung von einflussreichen Faktoren sowie zur möglichen Veränderung von Übergangsstrukturen treffen zu können. Die Übergangsforschung ist in unterschiedlichen Fachrichtungen (Soziologie, Erziehungswissenschaft, Psychologie, Ethnologie) angesiedelt und weist unterschiedliche Theorien und Termini auf, so dass Übergänge teils als Übergangsriten (van Gennep 2005), als Prozesssequenzen (vgl. Böpple 2009), als Statuspassagen (Glaser/Strauss 1971) oder als Transitionen (Welzer 1990, 1993) untersucht werden. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Diskussion, wie Übergänge im Lebenslauf methodisch erfasst werden können und wie sowohl die strukturelle Seite der Gesellschaft und ihrer Institutionen, als auch die subjektive Seite der handelnden Individuen eingefangen werden kann (vgl. Bührmann, 2008). Wenn es zutrifft, dass Individualisierung als neuer Modus der Vergesellschaftung Institutionalisierungsformen bestimmt (vgl. Beck 1986, 205), dann gilt gerade für die Übergangsforschung, dass sie sich mit einer Vielzahl von Übergangsphänomenen auseinandersetzen muss, die wesentlich individuell geprägt sind. Zum einen sind Übergänge struktureller Art vielschichtigen Bedingungen unterworfen, zum anderen sind Phänomene der Lebenswelt in ihrem Übergangscharakter zu untersuchen. Von daher muss sich die Forschung verstärkt mit dem Umgang und den Bewältigungsstrategien von Menschen mit ihren individuell verlaufenden Biographien auseinander setzen. Im Projekt „Übergänge vom Studium in den Beruf“ (vgl. von Felden/Schiener 2010) haben wir sowohl aus quantitativer als auch aus qualitativer Sicht den Übergang vom Studium in den Beruf anhand von Befragungen von Absolventinnen und Absolventen einer Hochschule mithilfe von Fragebögen und qualitativen Leitfrageninter-
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views beleuchtet. Während den Fragebögen die Gesamtkohorte der Universität des Abgangsjahrgangs 2002 zugrunde lag, wurden Leitfadeninterviews mit 16 Personen der Fächer Medizin und Pädagogik erhoben. Die beiden Fächer wurden gewählt, weil damit eine größtmögliche Unterschiedlichkeit in der Studienstruktur, im Fachhabitus, in der Studiensozialisation und im Arbeitsmarkt vermutet wurde. In der qualitativen Untersuchung lag der Schwerpunkt auf den subjektiven Deutungen und individuellen Herangehensweisen an den Übergang zwischen Studium und Beruf. In diesem Beitrag möchte ich ein Interview zugrunde legen, das nach der Erzählaufforderung eine zusammenhängende Haupterzählung des eigenen beruflichen Werdegangs mit eigener Relevanzsetzung bietet und damit strukturell einem narrativen Interview nahe kommt. Mein Fokus liegt darauf, Lernerfahrungen und Lernprozesse in Übergängen darzustellen. Im Folgenden erläutere ich zunächst meine Ansätze der Auswertung, um im Anschluss daran die Ergebnisse aus dem Interview darzustellen. 2 Zum Ansatz der Auswertung Um Lernerfahrungen und Lernprozesse der Protagonistin aus dem Transkript eines narrativen Interviews heraus zu arbeiten, bedarf es der Erläuterung der methodischen Vorgehensweise, da Lernen in einer Lebensgeschichte bzw. einer Erzählung des beruflichen Werdegangs nicht selbstverständlich thematisiert wird. Die Interviewpartnerin hat zwar Diplompädagogik mit dem Schwerpunkt Erwachsenenbildung studiert und ist von daher im beruflichen Zusammenhang mit Lernen konfrontiert. Dennoch geht es mir nicht allein darum, ihre Selbstsicht auf den Gegenstand wiederzugeben, sondern ich möchte Lernprozesse anhand der Struktur des Interviews rekonstruieren und somit Prozesse erfassen, die der Erzählerin durchaus nicht bewusst sind. Erst damit kann qualitative Forschung aus der Empirie etwas ermitteln, was jenseits von bewussten Darstellungsstrategien und vermeintlich erwünschten Antworten im Text zu erfassen ist. Die Struktur des Gesagten ist vor allem anhand der erzählerischen Gestalt des Interviews zu ermitteln. Dabei beziehe ich mich einerseits auf die Vorschläge von Fritz Schütze, die er im narrationsstrukturellen Verfahren niedergelegt hat (vgl. Schütze 1981, 1983, 1984; zusammenfassend in von Felden 2008) und zum anderen auf die Auswertungsvorschläge von Gabriele Lucius-Hoene und Arnulf Deppermann (2004), die narrative Interviews rekonstruieren, um der narrativen Identität der Protagonisten auf die Spur zu kommen. Darunter verstehen sie eine „im Prozess des Erzählens hergestellte Form der Selbstvergewisserung“ (ebd., 10). Da ihr Fokus auf narrativer Identität als einer aktuellen Herstellungsleistung liegt, unterscheiden sie entsprechend an Einflüssen: – die doppelte Zeitperspektive des Erzählens, – die Konstruktivität des Erinnerns, – den Einfluss der Erzählsituation und – die Interaktivität des Erzählprozesses (vgl. ebd., 29).
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Die doppelte Zeitperspektive des Erzählens meint, dass die Interviewten aus ihrer aktuellen Sicht über sich selbst in der Vergangenheit erzählen. D.h. dass das erzählende Ich der aktuellen Zeit das erzählte Ich der Vergangenheit als erinnerten Handlungsträger darstellt. Grundsätzlich kennt das erzählende Ich den weiteren Verlauf des Geschehens ausgehend von der Vergangenheitssituation, und so wird die Auswahl des zu Erzählenden von der aktuellen Sicht geprägt. Dennoch ist die Frage, wie das erzählende Ich die Vergangenheit darstellt, entweder in der Perspektive der erzählten Zeit als Zeit, in der sich das Geschehen abspielte oder in der Perspektive der Erzählzeit, also aus dem Hier und Jetzt. Die Vergangenheit kann anschaulich dargestellt werden, wenn die Perspektive der erzählten Zeit gewählt wird (vgl. ebd., 24-29). Dann wird das Geschehen häufig reinszeniert durch wörtliche Rede und Dialogwiedergabe, szenisches Präsens, Reaktualisierungen der deiktischen Erlebnisperspektive und der früheren Wahrnehmungs- und Wissensbasis sowie einen hohen erzählerischen Auflösungsgrad (vgl. ebd., 228-236). Damit ist es möglich, verschiedene Zeitdimensionen in einem Interview zu erfassen. Diese Veränderungen in der Zeit beinhalten häufig Lernund Bildungsprozesse, so dass in der Analyse der doppelten Zeitperspektive Veränderungen der Erzählenden, mithin Lernprozesse zu bestimmen sind. Unter der Konstruktivität des Erinnerns verstehen Lucius-Hoene und Deppermann verschiedene konstruktive Akte des Individuums, in denen mentale Prozesse gestalterischen Einfluss nehmen. Grundsätzlich unterscheiden sie zwischen – „den Ereignissen, die stattgefunden haben, – der Art und Weise, wie wir sie damals erlebt haben, – der Art und Weise, wie wir uns heute daran und an unser erlebendes Selbst erinnern, – und der Art und Weise, wie wir davon erzählen“ (ebd., 29). In diesem Sinn konstruieren die Individuen ihre Erinnerungen, die sich durchaus von den „wirklichen“ Geschehnissen unterscheiden können, da jede Erinnerung bereits selektiv kodiert, partiell vergessen und vielfältig transformiert wurde. Bearbeitungen dieser Art dienen der Bewältigung und Adaption der Erinnerungen an aktuelle Bedürfnisse im Sinne der Aufrechterhaltung eines positiven Identitätsgefühls, der Kohärenz und der Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz sowie des Abgleichs der persönlichen Geschichte mit der umgebenden Gruppe und Kultur (vgl. ebd., 30). Ausgehend vom Interpretativen Paradigma als Forschungsansatz ist diese Konstruktivität nicht zu umgehen, weil Welt nur über subjektive Konstruktionen erschließbar ist. Das gilt insbesondere für Lern- und Bildungsprozesse über die Lebenszeit, die nicht anders als über Erinnerungen der Lernenden zugänglich sind. Für Lucius-Hoene und Deppermann bestehen im Einfluss der Erzählsituation weitere Kriterien, die Einfluss auf die Auswahl und die Art der Darstellung des zu Erzählenden haben. Sie nennen institutionelle Merkmale der Situation, kommunikative Ziele des Erzählers, Erzählkonventionen und die Interviewerin, die als Zuhörerin in der interaktiven Situation der Kommunikation zur „Ko-Autorin“ werden kann (vgl. ebd., 32f.). Erzählen sei Repräsentation und Performanz, so dass einerseits eine be-
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stimmte Wirklichkeit repräsentiert werde, andererseits die Geschichte subjektive Botschaften enthalte, die auf die Zuhörenden gerichtet seien. Interviewpartnerinnen und Interviewpartner definieren die Situation und entscheiden, wie sie sich den Interviewenden gegenüber zeigen wollen bzw. welche Inhalte diese vermutlich erwarten. Insbesondere dieser Interaktivität des Erzählens messen Lucius-Hoene und Deppermann große Bedeutung bei und führen aus, dass sie sich vor allem in der Verständigungsorientierung und in den Zugzwängen des Erzählens, die Fritz Schütze ausgeführt hat, niederschlagen. Die Zugzwänge des Erzählens (Gestaltschließungszwang, Detaillierungszwang, Relevanzfestlegungs- und Kondensierungszwang, vgl. Kallmeyer/Schütze 1977, 188ff.) wiederum weisen auch darauf hin, dass das Erzählen nicht allein auf der bewussten Ebene erfolgt, sondern Strukturen aufweist, die sich „hinter dem Rücken der Erzählenden“ durchsetzen. Nach meiner Auffassung können Lern- und Bildungsprozesse einer Person als Teil narrativer Identität verstanden werden, in dem Sinn, dass die temporale Dimension des Erzählens die Erfahrungsaufschichtung und damit die Entwicklung von Lernund Bildungsprozessen abbildet und die Zugzwänge des Erzählens eine bewusste Konstruktion der Erinnerung zum Teil unterläuft. Strukturell zeigt eine mögliche Unterschiedlichkeit in den Positionierungen der Zeitebenen eine grundlegende Veränderung an, die auf transformatorische Bildungsprozesse schließen lässt. Allerdings weisen Griese/Griesehop (2007) darauf hin, dass die Relation von Zeit und Identität sich im Paradigma Narrative Identität von Annahmen des narrationsstrukturellen Verfahrens nach Fritz Schütze unterscheide (ebd., 40). Während Schütze auf den Erfahrungsbegriff rekurriert und die Erfahrungsaufschichtung in narrativen Interviews herausarbeiten will, seien „Analogiebildungen zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem (…) im Gedankengebäude Narrative Identität (…) von untergeordneter Bedeutung. Lebensgeschichtliche Stehgreiferzählungen werden in erster Linie als Resultat interaktiver Praxis gefasst“ (ebd., 40f.). Nach dieser Position können im Paradigma Narrative Identität keine Erfahrungsprozesse und damit Lernund Bildungsprozesse aus Interviews, insbesondere narrativen Interviews, herausgearbeitet werden, weil durch die aktuelle Herstellungsleistung jedes Interview prinzipiell die eigene Biographie unterschiedlich darstellen könne. „Im Unterschied zur Rekonstruktion von Erfahrungsaufschichtung kann die Rekonstruktion von Identität unter der Prämisse narrativer Identität ‚nur‘ Aussagen über den Prozess der Herstellung von Identität im interaktiven Kontext generieren. Entsprechend kann weder die Wahrnehmung von Erfahrungen, Ereignissen oder Erlebnissen im Damals erforscht noch ein ontologischer Status in Anspruch genommen werden“ (ebd., 43). Dieser Auffassung schließe ich mich nicht an, denn auch in der Erarbeitung von zeitlichen Dimensionen und Lern- und Bildungsprozessen aus narrativen Interviews geht es nicht um das Herausarbeiten von wirklichen oder ontologischen Bestandteilen von Prozessen oder der Vernachlässigung von Konstruktionsprinzipien. Die Untersu-
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chung zeitlicher Dimensionen, die sich in eventuellen Unterschieden zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit oder in unterschiedlichen Erzählerperspektiven in Form verschiedener Haltungen ausdrückt, gibt Hinweise auf Veränderungen oder Wandlungen in der Biographie des Erzählenden. Wichtig für die Auswertung von narrativen Interviews ist darüber hinaus die Unterscheidung der Textsorten. Die Wahl der Textsorte, die meistens nicht reflektiert wird, lässt dennoch Schlüsse über die kommunikative Funktion des Gesagten zu. In narrativen Interviews trifft man in der Regel auf die Textsorten erzählen, beschreiben und argumentieren. Lucius-Hoene/Deppermann fassen die wichtigsten Charakteristika der üblichen Textsorten zusammen: „ ,Erzählen‘ (im weitesten Sinne) thematisiert ein Geschehen, einen zeitlichen Wandel und stellt entsprechend Ereignisse, Handlungen und Erfahrungsbildungen dar, die eine temporale Veränderungsdimension beinhalten. ,Beschreiben‘ bezieht sich dagegen auf die Darstellung von ,Welt‘, seien es Personen, Situationen, Räume, Milieus, Landschaften oder Gefühle, die keine Veränderung thematisiert, sondern quasi ein Bild evoziert. ‚Argumentieren‘ stellt sich als Oberbegriff für verschiedenste Muster dar, die gekennzeichnet sind durch eine theoretisch-abstrahierende und bewertende Stellungnahme zu einem Geschehen, Problem, Faktum oder Konflikt; dazu gehören z.B. auch Erklärungen, Begründungen oder Plausibilisierungen“ (Hervorhebungen im Original, Lucius-Hoene/Deppermann 2004, 143). Während das Erzählen und Beschreiben sich in erster Linie auf den Wirklichkeitsbereich als Gegenstand des Erzählten bezieht, kann das Argumentieren als sprachliche Handlung gefasst werden, die sich auf moralische oder faktische Begründungen bezieht. Im folgenden Fallbeispiel wende ich die Analyse der erzählerischen Gestalt des Textes an und arbeite vor dieser Folie Lernerfahrungen und Lernprozesse in Übergängen heraus. 3 Lernerfahrungen in Übergängen Das Leitfadeninterview begann mit der Bitte, die Entwicklung von der Wahl des Studienfaches vor dem Studium zur heutigen Berufssituation zusammenhängend darzustellen. Dieser Bitte kamen die Interviewten unterschiedlich nach. Das folgende Interview ist ein Beispiel, in dem die Protagonistin, Frau Petershagen (Name anonymisiert), sehr ausführlich ihren beruflichen Werdegang schildert, der im Transkript 17 Seiten umfasst, und damit fast ein narratives Interview produziert. Sie beginnt mit ihrem Realschulabschluss und berichtet in zeitraffender Darstellung über ihre Ausbildung und anschließende Arbeit im naturwissenschaftlichen Bereich, danach über ihr Fachhochschul-Studium und ihre anschließende Arbeit als Ingenieurin. Sie fährt fort mit ihrer Familienphase, in der sie zwei Kinder bekommen und nicht gearbeitet habe. Der anschließende Wiedereinstieg in den Beruf gestaltet sich insofern schwierig, als sie nicht als Ingenieurin, sondern halbtags als Assistentin arbeitet. In dieser Berufsposition wird sie in den Personalrat gewählt und danach zur
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Frauenbeauftragten. Durch den Besuch verschiedener Seminare und Workshops findet sie zunehmend Gefallen an pädagogischer Arbeit. Sie entschließt sich, neben ihrer Halbtagsstelle an einer Universität Erziehungswissenschaft zu studieren. Während des Hauptstudiums wechselt sie mit ihrer halben Stelle an die Fachhochschule und kann dort als Ingenieurin arbeiten. Nach ihrem Abschluss als Diplompädagogin bekommt sie die Chance, selbst Seminare in der Weiterbildung anzubieten. Gleichzeitig arbeitet sie mit einer weiteren halben Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin in verschiedenen Projekten und gelangt darüber zu ihrer derzeitigen festen Anstellung mit einer halben Stelle im Bereich Personalentwicklung, die sie neben ihrer halben Stelle als Ingenieurin ausfüllt. Damit beendet sie ihre Haupterzählung. Die Protagonistin schildert aufgrund ihres beruflichen Werdegangs unterschiedlicher Ausbildungen und beruflicher Erfahrungen mehrere Übergänge. Diesen Umstand kann sich die Forscherin zunutze machen, um die Aneignungsstrategien der Interviewpartnerin über einen längeren Zeitraum zu beleuchten. In diesem Beitrag beschränke ich mich auf drei Phasen, den Übergang ins Studium, die Entwicklung während des Studiums und den Übergang in die berufliche Situation nach dem Hochschulstudium. Zur Zeit des Interviews kann Frau Petershagen als Diplompädagogin auf eine erfolgreiche Einmündung in eine Stelle im pädagogischen Bereich verweisen. Das ist insofern wesentlich, da sie aus der Perspektive der aktuellen Erzählzeit auf einen erfolgreichen Werdegang zurückblicken und insofern ihre berufliche Biographie als gelungen darstellen kann. 3.1 Übergang in die Universität Frau Petershagen schildert den Beginn ihrer Studienzeit an der Universität sehr anschaulich und in reinszenierter Form: „A: Ich bin also an die Uni, hab nach langem Hin und Her, weil auch damals war schon nicht ganz so einfach 'n Zweitstudium, also was man alles brauchte, zu beginnen. Und das erste Semester begann damit, dass meine Tochter stürzte, ein Gipsbein hatte, und ich dachte: „Na ja, ist ja nicht so tragisch. Kannst ja immer irgendwann an die Uni gehen“ und ging also, es waren so dreieinhalb, vier Wochen nach Semesterbeginn, fuhr ich also dann ganz mutig – es war schon 'n komisches Gefühl – ich war ja auch älter und dachte „Wo ist denn das alles?“ und die Uni viel größer wie so 'ne FH. Die FH, und besonders [Ort a], war ja *extrem* [betont] verschult. Ganz klein. Ja? Und also da hätten Sie zehn Mal [Ort a] nach [Ort b] bringen können, so ungefähr von der Größe her. Na ja, ich hab dann aus dem Stundenplan da irgendwas rausgefunden, was sich da irgendwie einordnen ließ zu meinem Halbtagsjob und zu den Kindern und kam da hin, machte die Tür auf, da saßen die da und da war da 'n Dozent und ich wollte mich da rein schleichen und dann sagte der: *„Was wollen Sie denn hier?“* [etwas barsch] Das war der Herr [A]. I: Hmhm.
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A: Charmant. Ist er noch da? I: Ich kenn ihn nicht. A: Okay. Besser. I: [lacht] A: Ich dachte, pfff also ich dachte halt, man geht da rein und s da quatscht der einen an. Ja? Ich war doch gerade froh, dass ich die Tür gefunden hatte. Ja, dann sagt sage ich „Ja, ich ich wollte hier studieren, erstes Semester.“ - „Ja wollen Sie auch 'n Schein machen?“ - „Ja.“ – „Ja dann sind Sie zu spät.“ – „Zu spät? Für was? Weil ich jetzt fünf Minuten zu spät bin?“ I: Hm. A: „Nee, aber Sie haben drei Wochen verpasst und damit ist diese die Anwesenheitspflicht abgegolten.“ – „Gut, darf ich mich trotzdem setzen?“, weil ich dachte „Okay, ich muss mich jetzt mal setzen“. Jetzt hab ich ja auch frei genommen und hmm. So. Das war der Pädagoge, Herr [A]. Ich war also so war kein Ingenieur jemals in meinem ganzen Ingenieur-Studium. Nicht so wie der Pädagoge [A]. Ja? Ich war zutiefst beeindruckt oder eher entsetzt natürlich. Na? Und es ereilte mich des Öfteren, muss ich ganz ehrlich sagen. Also die Ingenieure sind manchmal so 'n bisschen natürlicher. I: Hmhm. A: Und nicht so, nicht so [sucht nach den richtigen Worten] – ach, vielleicht erwart ich auch zuv von den Pädagogen da zuviel oder. Naja, war auf jeden Fall keine, keine Einzelbegegnung“ (Z. 156195). Frau Petershagen beginnt ihre Geschichte mit den außergewöhnlichen Schwierigkeiten, mit denen sie gleich zu Beginn konfrontiert wurde. Dabei spielt ihre besondere Situation als Mutter und als halbtags Berufstätige, die etwas älter ist und ein Zweitstudium absolvieren will, eine bedeutende Rolle. In ihrer Perspektive nimmt der Unfall ihrer Tochter sie als Mutter in die Pflicht, so dass sie ihren verspäteten Einstieg ins Semester als „nicht so tragisch, kannst ja immer irgendwann an die Uni gehen“ für sich deutet. In zunehmend isochroner Zeitgestaltung schildert sie ihre damalige Befindlichkeit und realisiert ihre Verunsicherung. Auch die Wahl der Veranstaltung hat sie abhängig von ihrer Berufstätigkeit und den Verpflichtungen mit den Kindern getroffen. Danach bestimmt ihre damalige Erlebnisperspektive das weitere Erzählen. Sie versetzt sich in die damalige raumzeitliche Situation und referiert auf die damalige Wissens- und Erwartungsperspektive. In wörtlicher Rede gibt sie den Dialog zwischen dem Dozenten und sich wieder. Dabei reinszeniert sie den barschen Tonfall und ihre empörten Gedanken über das Geschehen. Sie fühlt sich ungerecht behandelt, weil sie in ihrer Perspektive bereits so viele Hindernisse überwunden, allen Mut zusammengenommen und sich zurechtgefunden hatte. Unterstrichen wird diese Konfrontation durch das Missverstehen des „zu spät“, das in ihrer Darstellung wiederum die Kleinlichkeit des Dozenten ausdrücken sollte. Auch im Folgenden referiert sie auf ihre persönliche Situation, die ihr nur unter großem Aufwand den Besuch des Seminars ermöglicht hatte. In ihrer Erzählung geht sie in selbstverständlicher Weise von ihrer
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Perspektive aus, die in der erzählten Zeit dieselbe ist wie in der Erzählzeit. Sie sieht in der Bewältigung der verschiedenen Hindernisse schon eine gute Leistung, rechnet nicht damit, ihren verspäteten Start in das Semester begründen zu müssen und ist entsetzt darüber, in welchem Ton sie angesprochen wird. Sie nutzt die Geschichte, um ihre damalige und aktuelle Positionierung deutlich zu machen, die ein Fehlverhalten des Dozenten annimmt. Ganz offensichtlich bedeutet die Begegnung mit der Universität für Frau Petershagen eine Konfrontation mit einer für sie fremden Welt, die sie so nicht erwartet hatte. Dieser fremden Kultur begegnet sie, indem sie auf ihre eigenen Maßstäbe rekurriert, die aus ihren Fachhochschulerfahrungen und ihren beruflichen und familiären Erfahrungen resultieren: „Also ich finde, so 'ne Uni ist schon heftig, die durch zu durchzublicken, vor allen Dingen, wenn man nicht ganz da anwesend ist, sondern ich hab ja Teilzeit gearbeitet, ganz normal, und meine Kinder hatt’ ich halt auch noch. Und war also zwar regelmäßig, aber relativ wenig da“ (Z. 366-370). Auch durch ihre Zeitgestaltung lässt sie sich nicht ganz auf die Universität ein, die ihr damit fremd bleibt. Ihre anfänglichen Unsicherheiten in Hinsicht auf Prüfungsverpflichtungen und Organisationsbedingungen baut sie ab, indem sie sich Informationen von Kommilitoninnen beschafft, die sie über ihre Kontaktfähigkeiten kennen lernt. In dieser Art der Konfrontation mit Unerwartetem und im aktiven Nachsuchen von Hilfe gelingt es ihr schließlich zunehmend, sich zurechtzufinden. Sie lernt im Modus der Konfrontation und der Interaktion, ohne sich ganz auf die universitären Gepflogenheiten einzulassen, wie an ihren Positionierungen in den Reinszenierungen und an ihren Evaluationen der Geschichten aus der aktuellen Erzählzeit deutlich wird. Insofern ist sie mit dem Übergang in die universitäre Kultur konfrontiert, den sie aber aus ihrer beruflichen und familiären Kultur wahrnimmt und insofern nicht vollzieht. 3.2 Entwicklung während der Universitäts-Ausbildung Ein Interessen- und Arbeitsfeld, das sie mit dem Diplomstudium verbindet, liegt in ihrem Wunsch, Seminare mit Erwachsenen durchführen zu wollen. An diesem Themenfeld erläutere ich im Folgenden ihre Entwicklung während des Universitätsstudiums. Den Anstoß zu ihrem Wunsch bildet die Begegnung mit einem Professor, der ihr in Weiterbildungsseminaren vor dem Studium aufgefallen war: „[…] immer der Professor [X]. Immer war’s der Professor [X] und in mir entstand das Bild „Ich muss an diese Uni und ich muss da studieren und *ich muss den Professor [X] kennenlernen* [lachend]. I: Hmhm. A: Das, das war’s dann einfach. Also es gab wie so 'n wie so 'n Puzzle ein Teil gab zum anderen, ne? Also erstmal, wie gesagt, Frauenbeauftragte, Personalrat. Das Gefühl, die Naturwissenschaft
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allein, also nicht das es völlig falsch war, *aber es es befriedigt mein Herz vielleicht nicht wirklich, meinen Kopf vielleicht, aber nicht das Herz* [leidenschaftlich]. Ja?“ (Z. 144-152). In ihrer Darstellung hatten ihre Eltern ihr nach dem Realschulabschluss verboten, den Weg in die Pädagogik zu wählen, so dass sie zunächst eine Ausbildung im naturwissenschaftlichen Bereich absolviert. Offenbar bedurfte es zunächst dieser beruflichen Entwicklung und der Familienphase, bevor sie sich von ihren Eltern emanzipieren und endlich die Pädagogik kennen lernen konnte. Diesen lang andauernden Lernprozess kennzeichnet sie als Puzzle, in dem ein Stück zum anderen kommt, bis sie schließlich ihren Wunsch, in die Pädagogik zu gehen, umsetzt. Sie konstruiert ihn als Herzensangelegenheit, als Interesse, das tief in ihr selbst verankert war und ihr Interessen- und Kraftfeld ausmacht (vgl. Schulze 2005, 47). Symptomatisch für ihr Lernen ist die Begeisterung für eine Person, die den Lerngegenstand verkörpert. Die Begeisterung für den Professor schwingt in ihren leidenschaftlichen Worten mit, in denen sie die Dringlichkeit ihres Anliegens gleich dreimal wiederholt. In gleicher Weise hatte sie vorher geschildert, dass sie wegen eines netten Lehrers die Ausbildung im naturwissenschaftlichen Bereich gemacht (vgl. Z. 80) und wegen eines Ingenieurkollegen das Studium an der Fachhochschule aufgenommen hatte (vgl. Z. 88-95). Anhand konkreter Vorbilder vergegenwärtigt sie sich einen Aufgabenbereich, den sie anstrebt und lässt sich beflügeln. So lernt sie im Modus der Nachahmung von Vorbildern, wobei die emotionale Atmosphäre eine wesentliche Rolle spielt, so dass von einem nachahmenden, mimetischen Lernen gesprochen werden kann. Der Wunsch, Seminare halten zu wollen, war begleitet von einer „riesengroßen Angst davor, wie das zu machen.“ (Z. 832f.). Konkret wird die Entscheidung mit Beginn des Hauptstudiums, in dem sie sich für eine Studienrichtung entscheiden musste: „Und dann kam das Hauptstudium. Dann kam ich ins Schleudern. Weil jetzt musst’ ich mich entscheiden und eigentlich wusst’ ich ja gar nicht so genau, was ich wollte. […] Feststand, ich wollt auf keinen Fall Richtung Sonderpädagogik. Das war so der Punkt. Aber was denn dann? Es war auch nicht so, dass es mir gut ging, sag ich jetzt mal, Referate zu halten, geschweige denn 'n 'n Workshop, 'n Seminar oder ähnliches. Ja? Panik, Schweiß - auch ohne Hitze – [schlägt auf Tisch?] Also die Vorstellung hatt’ ich gar nicht. Ich hatte das zwar immer, wenn ich da in diesen, für Personalrat, Frauenbeauftragten, in so Fortbildungen war, aber ich konnte mir dann trotz allem nicht vorstellen, es zu machen. […] Das war eigentlich das, was mich abgehalten hat, ansonsten immer wieder dies Interesse an, also Angst hat mich eigentlich abgehalten. Und dann kam halt, was ich wirklich ganz toll fand und auch bis zum heutigen Tag gut fand – die Erwachsenenbildung“ (Z. 250-268). Das Interesse, das sie zu diesem Bereich hinzog, wurde begleitet von der Angst vor der Anforderung bzw. der Unkenntnis zur Bewältigung der Aufgabe. Diese Ambivalenz der Gefühle begleitet sie und besetzt das Thema mit ihrem Ehrgeiz. Im Hauptstudium hat sie nun Kontakt mit dem besagten Professor, der den Anstoß zur Dip-
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lompädagogik gelegt hatte. Jetzt steigert sich ihre emotionale Begeisterung und überschwänglich wiederholt sie dreimal, dass sie „alles“ von ihm belegt habe: „[...] also der Einzige, der Einzige, mein Schwarm war der Professor [X]. *Alles* [betont], was der gemacht hat, *alles* [betont] hab ich belegt, ob ich’s gebraucht hab oder nicht. Habe alles belegt. Was mich, und ich mache heute, ich halte Seminare, und ich mache sie genauso. Der hat mich *so was* [betont] von überzeugt dieser Mann. […] Der Mann war *jedes Mal* [betont] schweißgebadet. Ja? Aber ich *hab das dann be hab verstanden* [abgehackt] also im Lauf der Jahre verstanden, um was es ihm ging. Also ic also dass er sich's viel leichter hätte machen können beispielsweise, indem er vorgelesen hätte, aber dann war in dem Austausch, wurde auch klar, so dieses weniger ist mehr. Die also dieser Satz, den begann ich dann auch zu begreifen. Der hat nicht so viel Papier durchgearbeitet, aber es ist eben viel mehr hängen geblieben. Und beispielsweise in mir eine Überzeugung, genauso zu arbeiten […] Weil der *sooo* [lang gezogen gesprochen] engagiert da gearbeitet hat bis wirklich zum bitteren Ende. Das fand ich einfach so toll. Und da ist wirklich viel mehr hängen geblieben, weil das, man hat das verinnerlicht, was da passiert ist. Das ist, also ich lerne eben auch emotional, und das war dann eben nicht nur auf der Sachebene, sondern auf der emotionalen Ebene, mit allen Höhen, Tiefen, Freuden, Ängsten war ja jed, alle zwei Wochen dieses Seminar bestückt“ (Z. 287-317). Nachdem sie im Sprechen in die aktuelle Erzählzeit gewechselt ist – „ich halte Seminare, und ich mache sie genauso“ – wählt sie die Darstellungsform der Argumentation, um ihre Begeisterung zu begründen und ihren Standpunkt zu erläutern. Sie hebt ab auf das Engagement des Professors, seine Fähigkeit, eine emotionale Atmosphäre zu schaffen und zu gestalten und Inhalte in Interaktionen zu erarbeiten, so dass sie sich angesprochen fühlte und seine Botschaften verinnerlichen konnte. Ihre Argumentation aus der aktuellen Erzählzeit zeigt, dass sie wesentliche Elemente für ein Lernen in ihrem Sinn benennen kann und damit über Kriterien für gute Seminare verfügt. Aus der eigenen Lernerfahrung leitet sie ab, was ihr wichtig ist beim Prozess des Lernens. Sie begibt sich emotional in die Situation und ist begeistert von ihren Erfahrungen. Interessant ist die Darstellung eines retardierenden Elements in dieser Entwicklung: „Dann hatte ich den [X] erlebt, der mir [lacht] - dadurch wurde der Traum intensiviert, aber gleichzeitig auch so massiv groß, weil ich dachte: *„Genau so.“* [leicht verzweifelt] aber also ich hätte mir *noch* [betont] vorstellen können, was vorzutragen. Ja? Also 'ne Vorlesung. *Jetzt* [lachend] hatte sich der Wunsch irgendwie noch mal so wie quadriert oder v vi oder verdreifacht. Ne, ich will es jetzt nicht nur vorlesen, ich will's jetzt *so* [betont] machen. Und die Vorstellung *dahin* [betont] zu kommen, die war so absurd. Ich hatte keine *Vorstellung* [verlegenes Lachen ?] dazu“ (Z. 850858). In der Betonung und Färbung des Sprechens versetzt sie sich in die erzählte Zeit, die einerseits ihre Begeisterung und ihren Ehrgeiz, andererseits ihre „leichte Verzweiflung“ und ihre „Verlegenheit“ in Hinsicht auf die Bewältigung dieses großen Ansin-
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nens ausdrücken. Reinszeniert und damit anschaulich schildert sie ihre damaligen Gedanken und Gefühle, die ihren Wunsch konkreter, aber dadurch fast unvorstellbar machten. Wie aber im Zitat zuvor deutlich wird, hat sie offensichtlich diese Phase des Unvorstellbaren überwunden, denn in der aktuellen Erzählzeit stellt sie fest, dass sie die Seminare aktuell genauso mache. Hier wird ein Lernprozess angezeigt, der in der Überwindung der Ambivalenz der Gefühle und der Aneignung des „Unvorstellbaren“ besteht. Am Ende des Studiums durch einen Vorfall in der mündlichen Prüfung bei dem besagten Professor wird sie jäh enttäuscht. Nach der ausführlichen Schilderung des Prüfungsablaufs evaluiert sie: „Nee, das ja so war's halt. Das war dann eigentlich Ja, aber wir hatten ja gar keinen Kontakt mehr. Es war ja es war ja sowieso zu Ende. Aber da dacht ich und ich hatte ihn einfach ich hatte ihn mir 'n bisschen schöner schön gemalt oder wie man das halt so. Ich mochte ihn total und fand ihn halt toll und das hat dann so 'n bisschen abgebrochen halt. Vollkommen egal, hat keine Konsequenzen für nichts und niemanden. Es war nur so mein Bild dann. […] Das hätte ich nie erwartet und – ja, so war's halt. Ich hätt ihn schon nicht so erwartet in der Prüfung, hätte gedacht, dass hat er besser im Griff. Dass ich dann noch da drunter leide mit der Note, dass war fand ich ganz abscheulich und auch noch bei ihm. Ja? So weil so wie ich angefangen habe und ausgerechnet bei ihm, das fand ich sehr unschön“ (Z. 912-924). Ihrer Auffassung nach habe er sich nicht professionell in der Prüfung verhalten und ihr nicht alle Chancen gegeben, so dass sie schlechter abschnitt als sie sich erhofft hatte. Diese menschliche Enttäuschung wog umso schwerer, weil sich ihr Lernen vor allem durch die Begeisterung für das Vorbild speiste und damit auf der Beziehungsebene stattfand. Durch diesen Vorfall hat sich ihr Bild von ihm verändert, wie im Wechsel der gewählten Zeiten (vom Präteritum zum Perfekt und zum Präsens) deutlich wird: „Ich mochte ihn total und fand ihn halt toll und das hat dann so 'n bisschen abgebrochen halt. Vollkommen egal, hat keine Konsequenzen für nichts und niemanden“. In der mehrmaligen Wiederholung der Enttäuschung zeigt sich ihr schwieriger Abschied vom gefühlvollen Schwärmen zum Versuch einer Rationalisierung. In einer anderen Interviewpassage geht sie nochmals darauf ein: „Zum Schluss war's dann nicht mehr okay. Ich glaub, da war ich dann zu kritisch geworden. Dieses auf dem Denkmal, das war irgendwie dann nicht mehr so. Ich war irgendwie gewachsen und dann hab ich mehr gesehen und dann war das nicht mehr so“ (Z. 728-731). Vom aktuellen Standpunkt aus sieht sie sich am Ende des Studiums als verändert an. Sie bezeichnet ihre Wahrnehmung als kritischer, distanzierter und weniger schwärmerisch. Im Abschied vom nachahmend-mimetischen Lernen auf der Beziehungsebene reflektiert sie ihre eigene Entwicklung des Wachstums und der Zunahme an Perspektiven.
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3.3 Übergang in den Beruf Nach dem Studium war es in ihren Worten eher Zufall, dass sie recht schnell das Angebot bekam, selbst Seminare durchzuführen: „[…] also für mich war's dann einfach der Glücksfall, dass ich dazwischen an die Fachhochschule geraten war, da gab's dann irgendwie 'n Veranstaltung für Frauen und, ich weiß gar nicht mehr, was wie das genau war. Ich, ich glaube „Karriere für Frauen“ irgendwas und da kam eine eine Seminarleiterin auf mich zu, bei der ich selbst mal 'n Seminar besucht hatte. Also ich hatte in der Runde gesagt, ich hätte jetzt abgeschlossen, vor 'nem halben Jahr oder so, und wär auf der Suche und irgendwie würd nix finden und wüsst auch nicht und so. Und dann kam die zu mir in der Pause und sagte: „Ich hab immer mal Aufträge übrig. Wollen Sie für mich arbeiten?“ Und ich erstmal sofort „Ja“ und dann hatte ich Monate lang nur Bauchweh, weil dann ging's konkret um 'n Seminar – mit dem Thema „Knigge“. Und „Knigge“, ich sag überhaupt noch nicht mal gerne „Guten Tag“ [2 Sek.] I + A lachen los. A: *Das war die Herausforderung schlechthin, in allerlei Bereichen.* [lachend] (Z. 473-487). In ihrer Darstellung der Zeit nach dem Studium hebt sie stark darauf ab, dass das Angebot völlig überraschend und ohne ihr Zutun an sie herangetragen wurde und gibt ihre eigenen Gedanken so wieder, als habe sie damals nicht gewusst, wie es weitergehen sollte. Immerhin verfügte sie zu der Zeit mit dem Diplomtitel über eine Berechtigung, die sie zunächst aber nicht mit sich als Expertin konnotiert. Offenbar geht es bei ihr in der erzählten Zeit wieder um eine neue Phase, in der sie sich nicht auskennt und diese Unkenntnis in ihrer Wahrnehmung wohl dazu gehört. Spontan nimmt sie das Angebot an, ohne sich inhaltlich auszukennen oder über Erfahrungen zu verfügen, was ihr in der folgenden Zeit durchaus „Bauchweh“ bereitet. Aber sie kann in der Erzählzeit zusammen mit der Interviewerin darüber lachen, dass „Knigge“ eigentlich kein Thema ist, das zu ihr passt. Inzwischen kann sie vor dem Hintergrund ihrer aktuellen Erfahrungen mit ihrer damaligen Unkenntnis kokettieren. Später im Interview fragt die Interviewerin sie nach ihren Erfahrungen mit dem ersten Seminar: „I: Hmhm. Und können Sie können Sie mir erzählen über Ihre über Ihre erste Seminarveranstaltung, ihr erstes Seminar. A: *Ich bin bald gestorben.* [leise, fast etwas beschämt?] I: Aha. A: Ich dacht, ich ich Notfalltropfen, Globuli, ich *war vollgestopft. Ich dacht, dass überleb ich nicht.* [lacht laut] Es war furchtbar. Also Frauen Frau von der Frauenbeauftragten in in [Ort c] – es gab da noch drei, vier Folgeseminare – also die haben sofort da angerufen. Die eigentlich die eigentliche Auftraggeberin war - ich war noch nicht richtig fertig, da hatte die schon die Infos „Es war so was von gut. Wir wollen wieder was mit der Frau machen.“ Aber Blut und Wasser – es muss 'ne Steigerung davon geben – wie ich geschwitzt habe. Ich das fängt an mit, ich weiß nicht mehr wie ich mich vorstellen soll, mit was ma was sagt ich denn denen und ich hab alles geliefert. Der [X] war da, der [Y] war da.
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Ja? Weil der doch gesagt hatte, es ist ihm doch im Bewusstsein. „Greifen Sie die Bemerkungen, die Fragen auf.“ I: Hm. A: Das war alles da. I: Hm. A: Ja. Aber – ja, es war das härteste verdiente Geld in meinem Leben, glaub ich. Freiwillig. [lacht] *Freiwillig. Ich hätt's ja einfach lassen können.* [lachend] (Z. 965-986). In dramatischen Worten schildert Frau Petershagen, wie es ihr in ihrem ersten Seminar ergangen ist. Geschickt verbindet sie zwei Perspektiven auf das Geschehen: zum einen ihr inneres Gefühl: „Ich dacht, dass überleb ich nicht“, zum anderen die Reaktionen der Teilnehmerinnen, die bereits vor dem gesamten Abschluss des Seminars ein positives Feedback an die Verantwortliche lanciert hatten. In diesem inszenierten Gegensatz zwischen „Es war furchtbar“ und „Es war so was von gut“ gelingt es ihr, eine hohe Erwartung und eine vollkommene Erfüllung dieser Erwartung darzustellen. Sie habe „Blut und Wasser“ geschwitzt, ein von ihr häufig gebrauchtes Bild, das Anstrengung, Engagement und die Intensität der Arbeit symbolisiert. Und sie habe sich an die Hinweise der Professoren X und Y erinnert, die „da waren“. So betont sie, dass sie Erfolg hatte und in der Lage war, bereits bei ihrem ersten Seminar vieles von dem Gelernten umzusetzen. Wieder kokettiert sie im gemeinsamen Lachen mit der Interviewerin über die ersten Hürden als Dozentin und ihre Bewältigung. Wichtig für ihre Ausbildung waren neben dem Studium Fortbildungsseminare, die praxisorientiert konzipiert waren und die sie höher schätzt als die in ihren Augen zu theorielastigen Universitätsseminare. Sie nennt die Coaching-Ausbildung an der FHS und die Seminare, die die Frauenbeauftragte an der Universität angeboten hatte: „A: Und da gab's dann 'ne Coaching-Ausbildung über drei Semester. Die machen die heute noch, die ist sehr erfolgreich. Eine meiner *besten* [leicht betont] Ausbildungen, die ich jemals durchlaufen habe, aber da kann ich über überhaupt über keinen Dozenten meckern. Wenn ich was aufzubauen hätte, würd ich's *genau so aufbauen* [betont] Es ist genau diese Mischung von Theorie und Praxis. Genau, was mir also so 'n bisschen gefehlt hat halt immer. Es gab da an der Uni immer sehr viele Theoretiker und der [Dozent Z] […] nee, also wie soll ich denn jetzt sagen – mir fehlt da die Übersetzung von Theorie und Praxis dann. Der ist auch so’n bisschen Trockenbrötchen und von der Vermittlung sowieso […]. Ich weiß nicht so, ich kann’s gar nicht benennen, aber irgendetwas hat einfach gefehlt so [2 Sek.] an was Spritzigem also ja, dass man da hätte sich mehr merken können. […] Es war einfach ’n bisschen, ’n bisschen mager irgendwie“ (Z. 432-458) „A: Ach, und was ich noch richtig gut fand an der Uni, da hat die Frauenbeauftragte dort für die Frauen, also für die Studentinnen [langes Äh, 2 Sek.] irgendwelche Fortbildungen arrangiert. […] ich hab mich damals dann für das Projektmanagement entschieden, was eben auch dann 'n Lehrbeauftragter von Außen gemacht hat und was eben, wie häufig von Lehrbeauftragten veranstaltet, sehr gut war. Also das war auch 'ne große Bereicherung für mich. Fand ich toll, dass die Frauenbeauftragte das
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damals gemacht hatte. Ja, gut, und so kam ich also, so begann das mit den Seminaren und parallel lief ja dann auch schon die Coaching-Ausbildung. I: Hmm. A: und ja, so bin ich heute ausgebildeter Coach und sehr erfolgreiche Trainerin, in „Knigge“. [lacht] Und also ich hab mich noch nie um 'n um 'n um 'n Seminar bemüht und es laufen seitdem locker sechs Seminare im Jahr“ (Z. 488-503). Frau Petershagen referiert stark auf Fortbildungsseminare, durch die sie ausgebildet wurde und kritisiert dagegen die Seminare an der Universität, die überwiegend zu wenig praxisorientiert gewesen seien. In der Haltung der Expertin bewertet sie die Seminare sehr dezidiert und unterscheidet in ihrer Positionierung deutlich zwischen gut und schlecht. Sie zeigt sich damit als eine erfahrende Dozentin, die sehr genau weiß, welche Kriterien sie an eine Weiterbildung in ihrem Sinn anlegt, die vor allem verständlich, interaktiv und emotional ansprechend sein sollen. Ihr zeitraffender Bericht mündet in eine selbstbewusst vorgetragene Evaluation und eigene Darstellung ihrer aktuellen beruflichen Position als ausgebildeter Coach und erfolgreiche Trainerin, die häufig nachgefragt wird. Ihre Kritik an der Theorielastigkeit der Universität scheint im Interview häufig durch. Im Vorgespräch, das ebenfalls in Teilen transkribiert wurde, legt sie Wert auf verständliche Texte, die leicht zu rezipieren seien anstatt schwierige theoretische Texte: „Also, sie hätten’s auch chinesisch schreiben können. Es wäre nur noch eine geringfügige Steigerung gewesen, ja? Und ich kann so was nicht verstehen. Warum schreib ich nicht so, dass ich die Menschen, dass ich mehr Menschen einfange, was will ich damit? […] Das hat mich wütend [betont] gemacht, ja? Weil ich’s dann nicht locker lesen konnte, also so mal zack, zack, zack, zack. Das hat so mein Futter, das also, das war wie’n schwieriges Futter, was ich nochmals aufbereiten muss und noch mal und noch mal, anstatt schnell so den Hunger zu befriedigen“ (Z. 6-18). Es wird deutlich, dass es Frau Petershagen um Verständlichkeit, Interaktivität und das Einbeziehen vieler Menschen geht statt um komplizierte Inhalte. Sie legt Wert auf praxisnahes, emotionales und interaktives Arbeiten in Bildungszusammenhängen und möchte sich mit Theorie nicht beschweren. Auffällig ist ihre bildreiche Sprache, in der sie vorwiegend körperliche Bilder für Lernprozesse wählt. So drückt sie die Aneignung von Wissen als Aufnahme von Essen bzw. Futter aus und kritisiert zuviel Theorie als Trockenbrötchen bzw. fehlendem Spritzigem und als zu mager. Im weiteren Verlauf des Interviews erläutert sie darüber hinaus ihre Projekterfahrungen als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fachhochschule, die zu einer halben festen Stelle im Bereich der Personalentwicklung geführt haben, die sie aktuell neben ihrer halben Stelle als Ingenieurin ausfüllt. In diesen Schilderungen wird erneut deutlich, worin ihre besonderen Fähigkeiten liegen: Sie lernt in Beziehungen, sie holt sich
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aktiv Unterstützung durch einflussreiche Personen und gestaltet ihre Interaktionen lebendig und wirkungsvoll. 4 Abschluss Das Interview bietet insgesamt einen Einblick in einen beruflichen Werdegang, der aus der Sicht und Relevanzsetzung der Protagonistin geschildert wird. Indem die Übergänge in die Universität und in die berufliche Situation nach der Hochschulausbildung thematisiert werden, haben wir es einerseits mit einer gesellschaftlich normierten Struktur und formalen Lernprozessen zu tun, andererseits mit subjektiven Konstruktionen und individuellen Aneignungsprozessen. Um diese Lern- und Aneignungsprozesse nicht nur aus der Selbstsicht der Erzählerin auszuwerten, sondern auch Bedeutungen jenseits bewusster Darstellungsstrategien zu erfassen, wurden die sprachlichen Strukturen und die erzählerische Gestalt des Gesagten einer Analyse unterzogen. Nach meiner Auffassung konnten damit vor allem unterschiedliche Zeitebenen und unterschiedliche Haltungen im Text identifiziert werden. Frau Petershagen zeigt sich in der aktuellen Erzählzeit als selbstbewusste und erfolgreiche Pädagogin, die sich in der beruflichen Praxis wohl fühlt. Im gesamten Interview wird aber auch deutlich, dass sie sich auf die universitäre Kultur während ihres Studiums nicht wirklich eingelassen hat, sondern die für sie fremde Kultur sowohl in der erzählten Zeit als auch in der Erzählzeit überwiegend kritisiert und sich von ihr distanziert. In ihrer grundlegenden Haltung kann nicht von einem transformativen Lernen gesprochen werden, weil sie sich nicht in ihrer Welt- und Selbsthaltung ändert, sondern die Lernangebote überwiegend aufgrund bestehender Deutungsmuster wahrnimmt und sie sich assimilativ aneignet. Durchgängig vermeidet sie es, Lernangebote, die für sie fremd sind bzw. Irritationen auslösen, in ihre Wahrnehmungsschemata aufzunehmen und verteidigt dagegen ihr bereits aufgebautes Vorverständnis. Formal hat sie eine Statuspassage absolviert, indem sie einen Hochschulabschluss erlangt hat. Allerdings wappnet sie sich geradezu gegenüber möglichen Sozialisationseinflüssen der Universität und fokussiert eher ein praxisbezogenes Learning by doing. In ihren Lernaktivitäten zeigt sie sich unterkomplex, weil sie überwiegend nachahmend lernt und ihre eigenen Lernerfahrungen des emotionalen Beziehungslernens als Maßstab anlegt. Zwar ändert sie im Laufe des Studiums ihre Haltung zum Thema „Seminare durchführen“, indem sie ihre angstbesetzte Vermeidung aufgibt und Kriterien für eine Seminargestaltung in ihrem Sinn annimmt, doch erst durch Erfahrungen in der Praxis erlangt sie zunehmende Sicherheit in ihrer Arbeit als Pädagogin, wobei es sich nicht um einen Prozess der Professionalisierung handelt im Sinne eines TheoriePraxis-Bezuges.
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AutorInnenverzeichnis
Sascha Benedetti Dipl. Päd., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung der Goethe-Universität Frankfurt. Arbeitsschwerpunkte: Erwachsenenbildung/Weiterbildung, Lebenslanges Lernen, Biographieforschung. E-Mail: Benedetti@em.uni-frankfurt.de Peter Buck Dr. rer. nat. Professor im Ruhestand für Chemie und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Arbeitsschwerpunkte: Verstehensprozesse im naturwissenschaftlichen Unterricht, Integrierter naturwissenschaftlicher Unterricht. Phänomenologische Naturwissenschaftsdidaktik. E-Mail: pbuck-heidelberg@t-online.de Jörg Dinkelaker Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung des Fachbereichs Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Arbeitsschwerpunkte: Umgang mit Wissen/Kommunikation von Lernen/pädagogische Kommunikation, Formen des Lernens Erwachsener, erziehungswissenschaftliche Videographie. E-mail: dinkelaker@em.uni-frankfurt.de Rudolf Egger Dr. phil., Professor für Weiterbildung und lebenslanges Lernen am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Universität Graz. Arbeitsschwerpunkte: Erforschung formeller und informeller Lernwelten aus der Sicht transformativer Aneignungsprozesse, interpretative und rekonstruktive Modelle empirischer Sozialforschung. E-Mail: rudolf.egger@uni-graz.at Heide von Felden Dr. phil., Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Erwachsenenbildung am Institut für Erziehungswissenschaft der Johannes Gutenberg Universität Mainz. Arbeitsschwerpunkte: historische und qualitativ empirische Bildungsforschung, Biographieforschung, Erforschung von Bildungs- und Lernprozessen über die Lebenszeit, Genderforschung. E-Mail: heide.von.felden@uni-mainz.de
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Monika Fischer Dipl. Päd., Mitarbeiterin am Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung des Fachbereichs Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt. Arbeitsschwerpunkte: Erwachsenenbildung/Weiterbildung, Lebenslanges Lernen und reflexive Moderne, Biographieforschung, Raum als Konzept und Objekt der Erwachsenenbildung. E-Mail: Monika.Fischer@em.uni-frankfurt.de Wiltrud Gieseke Dr. päd., Professorin für Erwachsenenpädagogik am Institut für Erziehungswissenschaften der Philosophischen Fakultät IV der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Beratungsforschung, Programmforschung, Professionsforschung im Bereich Erwachsenenbildung. E-Mail: wiltrud.gieseke@cms.hu-berlin.de Andreas Gruschka Dr. phil., Professor für Schulpädagogik und Allgemeine Pädagogik an der Universität Frankfurt. Arbeitsschwerpunkte: Rekonstruktion, Kritik und Theorie der didaktisierten Organisations- und Vermittlungsformen im Schulbetrieb, Erschließung ästhetischer Repräsentationen als didaktisch-pädagogische Erkenntnismittel, Methodologie einer bildungstheoretisch fundierten Erforschung von Schulwirklichkeit. E-mail: a.gruschka@em.uni-frankfurt.de Bernd Hackl Dr. phil., Professor für Schulpädagogik und Leiter des gleichnamigen Instituts der Universität Graz. Arbeitsschwerpunkte: Didaktik, Lehrer/innen/aus/bildung, Phänomenologie und rekonstruktive Hermeneutik des Lernens und pädagogischen Handelns, i.B. seiner leiblichen, ästhetischen und funktionalen Situiertheit. E-Mail: bernd.hackl@uni-graz.at Jürgen Hasse Dr. rer. nat. habil., Professor für Humangeographie und Didaktik der Geographie am Institut für Humangeographie der Universität Frankfurt am Main. Arbeitsschwerpunkte: Räumliche Vergesellschaftung, Phänomenologische Stadtforschung, MenschNatur-Verhältnisse. E-mail: hasse.juergen@t-online.de
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Matthias Herrle Dipl. Päd., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung des Fachbereichs Erziehungswissenschaften an der GoetheUniversität Frankfurt/Main. Arbeitsschwerpunkte: Methodologien und Methoden qualitativer Sozialforschung, Erziehungswissenschaftliche Videographie, Kurs- und Unterrichtsforschung, Formen pädagogischer Interaktion. E-mail: herrle@em.uni-frankfurt.de Sonja Hnilica Dipl.-Ing. arch. Dr. techn., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Geschichte und Theorie der Architektur der TU Dortmund. Arbeitsschwerpunkte: Architekturtheorie des 19. und 20. Jahrhunderts, Architektur, Macht und Gender, Städtebautheorie, Medien und Entwurfsstrategien, Architektur der Nachkriegsmoderne. E-mail: sonja.hnilica@tu-dortmund.de Sieglinde Jornitz Dr. phil, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung und Lehrbeauftragte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Arbeitsschwerpunkte: Internationalisierung der Erziehungswissenschaft, Konzeption wissenschaftlicher Informationszugänge und Pädagogische Bildwelten. E-Mail: jornitz@dipf.de Jochen Kade Dr. phil., Professor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Erwachsenenbildung/Weiterbildung, am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt, Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung, Arbeitsschwerpunkte: Theorie des Erziehungssystems, der Erwachsenenbildung/Weiterbildung und des Lebenslangen Lernens, Biographie- und Adressatenforschung, Wissenskommunikation, Videographie, Pädagogik der Medien. E-Mail: Kade@em.uni-frankfurt.de Marion Pollmanns Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Schulpädagogik der Universität Graz. Arbeitsschwerpunkte: Didaktik und Schultheorie, rekonstruktive Unterrichtsforschung. E-Mail: marion.pollmanns@uni-graz.at
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Markus Rehm Dr. paed., Professor für Chemie und ihre Didaktik an den Pädagogischen Hochschulen Ludwigsburg und Luzern. Arbeitsschwerpunkte: Verstehensprozesse im naturwissenschaftlichen Unterricht, Integrierter naturwissenschaftlicher Unterricht. Kompetenzentwicklung und Professionalisierung in der Lehrerbildung. E-Mail: rehm@ph-ludwigsburg.de Christian Rittelmeyer Dr. phil., bis 2003 Professor für Erziehungswissenschaft am Pädagogischen Seminar der Georg-August-Universität Göttingen mit den Arbeitsschwerpunkten Pädagogische Psychologie, Pädagogische Anthropologie, Erziehungsgeschichte und Forschungsmethoden der Erziehungswissenschaft. E-Mail: rittelmeyer@keerl.net Joris Vlieghe Mag. phil., Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Löwen (Belgien) und Stipendiat der “Research Foundation of the Flemish Community” sowie des “Research Council of the University of Leuven”. Arbeitsschwerpunkt: diskursanalytische Rekonstruktion leiblicher Phänomene im pädagogischen Kontext, in Arbeit: “Judith Butler and the public dimension of the body: the importance of corporeal vulnerability for education and philosophy of education”. E-mail: joris.vlieghe@ped.kuleuven.be