Lew Tolstoi Sewastopoler Erzählungen
Tolstoi schrieb diese Erzählungen 1855 bis 1856 nach einem Aufenthalt im belagerte...
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Lew Tolstoi Sewastopoler Erzählungen
Tolstoi schrieb diese Erzählungen 1855 bis 1856 nach einem Aufenthalt im belagerten Sewastopol während des Krimkrieges, dem ersten Stellungskrieg der modernen Geschichte. Die drei Erzählungen »Sevastopolskie rasskazy« brachten ihm den literarischen Erfolg. © Verlag der Nation Berlin 1978
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ROMAN FÜR ALLE
BAND 229
Krimkrieg 1853 - 1856. Dieser Kampf zwischen Rußland und der Türkei, in den bald auch England und Frankreich militärisch eingriffen, war aus der Rivalität der europäischen Großmächte um die Vorherrschaft im vorderen Orient entstanden. Der junge Lew Tolstoi meldete sich freiwillig zur Krim- Armee. Im Brennpunkt des Geschehens, in der elf Monate heiß umkämpften Festung Sewastopol, schrieb er wie ein Kriegsberichterstatter seine Erlebnisse nieder. In drei Erzählungen schildert er den heldenhaften Kampf der russischen Soldaten, und man fühlt, wie er mit diesen schlichten Menschen verwächst, die so tapfer und selbstverständlich ihre Pflicht tun. Züge vom Karrierismus, Selbstsucht und Eitelkeit, die er im Offizierskorps findet, stoßen ihn ab, so daß ihm fragwürdig erscheint, daß gerade diese Menschen Macht über andere besitzen. Sein ganzer Haß aber richtet sich gegen den Krieg und sein sinnloses Sterben. Mit Worten und Bildern, in der Gegenüberstellung der zauberhaften Schönheit in der Natur und dem grauenvollen Anblick eines Schlachtfeldes weiß er dem Ausdruck zu verleihen, denn nicht als ein interessantes Schauspiel will er den Krieg zeigen, sondern «in seiner wirklichen Gestalt - mit Blut, Qualen und Tod... »
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LEW TOLSTOI Sewastopoler Erzählungen
Aus den Jahren 1853 bis 1855
VERLAG DER NATION BERLIN -4-
Originaltitel: Sewastopolskije rasskasy Aus dem Russischen übertragen von Hermann Asemissen Mit einem Nachwort von Michael Fahrentholz
1. Auflage 1978 Verlag der Nation Berlin Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags Rütten & Loening, Berlin Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten Lizenz- Nr. 400/49/78 LSV7201 Einband und Titelvignette: Gisela Röder, Gruppe 4 Gesamtherstellung: GG Völkerfreundschaft Dresden
Best. -Nr. 696 528 9 DDR 1, 75 M
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Sewastopol im Dezember Das Morgenrot beginnt eben den Himmel über dem Gipfel des Sapunberges zu färben; das dunkelblaue Meer hat die finstere Tönung der Nacht bereits abgelegt und wartet auf den ersten Sonnenstrahl, um sich in heiterem Glänze zu spiegeln; von der Bucht her dringen Kälte und Nebel herüber. Es liegt kein Schnee: alles ist schwarz, aber der scharfe Morgenfrost prickelt im Gesicht und läßt den Boden unter den Füßen knirschen, und das ferne, pausenlose Brausen des Meeres, in das sich hin und wieder der Donner in Sewastopol abgefeuerter Schüsse mischt, ist das einzige, was die morgendliche Stille stört. Auf den Schiffen schlägt es dumpf acht Glasen. Auf der Nordseite weicht die nächtliche Ruhe allmählich dem Getriebe des Tages. Hier zieht, mit den Gewehren klirrend, eine Mannschaft zur Ablösung der Wache vorüber, dort eilt ein Arzt bereits dem Lazarett zu; ein Soldat, der aus dem Unterstand hervorgekrochen ist, wäscht sich das sonnengebräunte Gesicht mit vereistem Wasser, wendet sich dem rot aufleuchtenden Osten zu und verrichtet, hastig das Kreuz schlagend, sein Morgengebet; ein hoher, schwerer Wagen, mit zwei Kamelen bespannt, fährt langsam und knarrend in Richtung Friedhof, wo die blutigen Leichname, mit denen er fast bis zum Rande beladen ist, bestattet werden sollen... Wenn Sie sich dem Hafen nähern, schlägt Ihnen ein eigentümlicher Geruch nach Steinkohle, Dünger, Feuc htigkeit und Rindfleisch entgegen; tausenderlei Dinge - Holz, Fleisch, Schanzkörbe, Mehl, Eisen und anderes - liegen aufgehäuft auf dem Landungsplatz. Soldaten verschiedener Regimenter, teils mit Säcken und Gewehren, teils ohne Feldgepäck, drängen sich hier, rauchen, schimpfen miteinander und schleppen Lasten auf den Dampfer, der rauchend an der Anlegestelle liegt; Mietsjollen, die mit allen möglichen Leuten - Soldaten, -6-
Seeleuten, Händlern und Frauen - besetzt sind, legen am Landungsplatz an oder stoßen ab. „Zur Grafskaja, Euer Wohlgeboren? Bitte einzusteigen!“ Zwei oder drei ausgediente Matrosen bieten Ihnen ihre Dienste an und stehen in ihren Jollen auf. Sie wählen die nächstliegende, steigen über den halbverwesten Kadaver eines braunen Pferdes, der dort vor dem Boot im Schmutz liegt, und begeben sich ans Steuer. Sie sind vom Ufer abgestoßen. Rings um sich herum haben Sie das jetzt bereits in der Morgensonne glänzende Meer und vor sich einen alten Matrosen im Kamelhaarmantel, der sich gemeinsam mit einem blonden jungen Burschen, ohne zu sprechen, eifrig ins Ruder legt. Sie blicken auf die gestreiften Kolosse der Schiffe, die nah und fern über die Bucht verstreut liegen, auf die kleinen schwarzen Punkte der Schaluppen, die über den leuchtendblauen Wasserspiegel gleiten, auf die am jenseitigen Ufer sichtbaren hübschen hellen Gebäude der Stadt, die von den rosigen Strahlen der Morgensonne umspielt werden, auf die schaumbedeckte weiße Linie der Mole, auf die versenkten Schiffe, von denen hier und da kläglich die schwarzen Spitzen der Masten emporragen, auf die feindliche Flotte, die sich in der Ferne schimmernd am kristallklaren Horizont abzeichnet, und auf die von den Rudern aufgewirbelten Wellen mit den darin perlenden salzigen Bläschen. Sie horchen auf die gleichmäßigen Laute der Ruderschläge, auf die Stimmen, die über das Wasser herüberschallen, und auf das majestätische Grollen der Kanonade, die sich, wie es Ihnen scheint, verstärkt. Es ist unmöglich, daß Sie bei dem Gedanken, sich nun ebenfalls in Sewastopol zu befinden, nicht von einem Gefühl des Mutes und Stolzes beseelt werden und daß das Blut in Ihren Adern nicht schneller zu kreisen beginnt.
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„Halten Sie direkt auf den ,Kistentin' * zu, Euer Wohlgeboren“, wendet sich der alte Matrose an Sie, der aufgestanden ist, um die Richtung zu prüfen, die Sie dem Boot geben. „Nach rechts steuern!“ „Der hat noch alle seine Kanonen“, bemerkt der blonde Bursche, als er das Schiff betrachtet, an dem Ihr Boot vorbeifährt. „Natürlich: er ist ja noch neu. Auf ihm hat Kornilow gewohnt“, antwortet der Alte und sieht sich ebenfalls das Schiff an. „Sieh mal, wo die explodiert ist“, sagt der Bursche nach langem Schweigen, zu einem auseinanderlaufenden weißen Rauchwölkchen aufblickend, das plötzlich hoch über der südlichen Bucht erschienen ist und von dem scharfen Laut einer krepierenden Bombe begleitet wird. „Da feuert er heute von der neuen Batterie“, fügt der Alte gleichmütig hinzu und spuckt sich in die Hand. „Leg dich mal ins Zeug, Mischka, wir wollen die Barkasse überholen!“ Und Ihre Jolle flitzt mit erhöhtem Tempo über den Wasserspiegel der breiten Bucht, überholt tatsächlich die schwer mit Säcken beladene Barkasse, die ungleichmäßig von unbeholfenen Soldaten gerudert wird, und legt zwischen den verschiedenartigen Booten an, die in großer Zahl an der Grafskaja festgemacht haben. Am Kai wogt lärmend eine Menge Soldaten in grauen und Matrosen in schwarzen Mänteln sowie buntgekleideter Frauen. Weiber halten Gebäck feil, russische Bauern bieten aus ihren Samowaren mit lauten Rufen heißen Sbiten an, und gleich auf den ersten Stufen sehen Sie verrostete Kanonenkugeln, Bomben, Kartätschen und gußeiserne Geschütze verschiedenen Kalibers herumliegen. Etwas weiter weg erstreckt sich ein großer Platz voll mächtiger Balken, Lafetten und schlafender Soldaten. Hier stehen Pferde, Fuhrwerke, grüne Geschütze, *
Das Schiff „Konstantin“. (Anm. d. Verf.)
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Munitionskisten und Gewehrpyramiden der Infanteristen; Soldaten, Matrosen, Offiziere, Frauen, Kinder und Händler bewegen sich auf dem Platz hin und her; Fuhren mit Heu, Säcken und Tonnen fahren vorüber; hin und wieder reitet ein Kosak, ein Offizier über den Platz, oder ein General fährt in einer Kutsche vorbei. Rechter Hand ist die Straße durch eine Barrikade gesperrt; in den Schießscharten sind kleine Kanonen aufgestellt, neben denen ein Matrose sitzt und seine Pfeife raucht. Zur Linken erhebt sich ein stattliches Haus mit römischen Ziffern am Giebel, vor dem Soldaten und blutbefleckte Tragbahren stehen - überall nehmen Sie die unangenehm berührenden Merkmale eines Kriegslagers wahr. Der erste Eindruck, den Sie gewinnen, ist zweifellos äußerst ungünstig: die eigentümliche Verquickung des Lagerlebens mit dem städtischen Getriebe, der hübschen Stadt mit dem schmutzigen Biwak ist nicht nur unschön, sondern kommt Ihnen geradezu als abstoßende Unordnung vor; man könnte sogar meinen, daß alle verstört seien und sinnlos herumhasteten, ohne zu wissen, was sie tun sollen. Doch sobald Sie die Gesichter der Menschen, die sich um Sie herum bewegen, genauer ansehen, werden Sie zu einer ganz anderen Erkenntnis kommen. Betrachten Sie zum Beispiel jenen Trainsoldaten, der drei braune Pferde zur Tränke führt: gelassen murmelt er etwas vor sich hin, und er wird sich ganz gewiß nicht in diesem Völkergemisch verirren, das für ihn überhaupt nicht da ist, sondern er wird seine Aufgabe, worin immer sie bestehen mag -- Pferde zu tränken oder sich mit Geschützen abzuschleppen - , ebenso gelassen, selbstsicher und gleichmütig erfüllen, als ob dies alles etwa in Tula oder Saransk vor sich ginge. Die gleiche Einstellung lesen Sie auch dem Gesicht jenes Offiziers dort ab, der in makellos weißen Handschuhen vorüberkommt, dem Gesicht des Matrosen, der rauchend auf der Barrikade sitzt, den Gesichtern der Arbeitssoldaten, die vor dem Portal des ehemaligen Adelsklubs mit Tragbahren warten, und dem Gesicht des jungen -9-
Mädchens, das, um sein rosa Kleid nicht zu bespritzen, von Stein zu Stein über die Straße hüpft. Ja, wenn Sie zum erstenmal ins Innere Sewastopols kommen, steht Ihnen zweifellos eine Enttäuschung bevor. Vergeblich suchen Sie wenigstens in einem einzigen Gesicht Anzeichen von Erregung, Verwirrung oder gar Enthusiasmus, Todesbereitschaft und Entschlossenheit zu entdecken: nichts von alledem. Sie sehen Menschen, die sich durch nichts hervortun und ruhig ihrem Tagewerk nachgehen, so daß Sie versucht sind, Ihre eigene Hochstimmung für übertrieben zu halten und ein wenig die Richtigkeit Ihrer Vorstellung zu bezweifeln, die Sie sich von dem Heldentum der Verteidiger Sewastopols nach Erzählungen und Schilderungen sowie nach dem Aussehen der Nordseite und den von dort herüberschallenden Detonationen gebildet haben. Doch bevor Sie solchen Zweifeln nachgeben, sollten Sie sich auf die Bastionen begeben und die Verteidiger Sewastopols an Ort und Stelle betrachten oder, noch besser, einfach in das gegenüberliegende Haus, in den ehemaligen Adelsklub, gehen, vor dessen Portal Soldaten mit Tragbahren stehen - dort werden Sie die Verteidiger Sewastopols zu Gesicht bekommen, dort werden Sie fürchterliche und deprimierende, erhabene sowohl als auch komische, aber jedenfalls erstaunliche, das Gemüt erhebende Bilder wahrnehmen. Sie betreten den großen Saal des Klubs. Kaum haben Sie die Tür geöffnet, sind Sie sofort von dem Anblick und dem Geruch von vierzig oder fünfzig amputierten und schwerverwundeten Kranken betroffen, die zum Teil in Betten, meist jedoch auf dem Fußboden liegen. Geben Sie nicht der Regung nach, die Sie auf der Schwelle zaudern läßt - es ist eine schlechte Regung; gehen Sie weiter, schämen Sie sich nicht, daß Sie gleichsam gekommen sind, die Märtyrer zu „betrachten“, genieren Sie sich nicht, näher zu treten und mit ihnen zu sprechen: diese Unglücklichen freuen sich, einen mitfühlenden Menschen zu sehen, lieben es, von ihren Leiden zu erzählen -10-
und Worte der Liebe und Teilnahme zu hören. Sie gehen zwischen den Betten entlang und halten nach einem nicht allzu streng und leidend aussehenden Kranken Ausschau, an den Sie herantreten könnten, um ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. „Wo bist du verwundet?“ Sie fragen unsicher und befangen einen alten ausgemergelten Soldaten, der Sie, auf seinem Bett sitzend, mit gutmütigen Blicken beobachtet und gleichsam einlädt, zu ihm zu kommen. Ich sage: „Sie fragen befangen“, denn außer tiefem Mitgefühl flößt der Anblick von Leiden hohe Achtung für denjenigen ein, der sie erlitten hat, und die Scheu, ihn irgendwie zu verletzen. „Am Bein“, antwortet der Soldat; doch zugleich bemerken Sie an dem Faltenwurf der Bettdecke, daß er unterhalb des Knies gar kein Bein mehr hat. „Gott sei Dank“, fügt er hinzu, „jetzt ist es wieder so weit, daß ich heraus kann.“ „Ist es schon lange her, daß du verwundet wurdest?“ „Ja, schon die sechste Woche liege ich hier, Euer Wohlgeboren.“ „Nun, und hast du jetzt noch Schmerzen?“ „Nein, jetzt tut es nicht mehr weh; nur in der Wade scheint's noch zu zwicken, wenn schlechtes Wetter ist, sonst geht es.“ „Wie kam es denn zu deiner Verwundung?“ „Auf der fünften Bastion, Euer Wohlgeboren, beim ersten Bombardement. Ich hatte die Kanone gerichtet und wollte grade zur ändern Schießscharte rübergehen, da fühlte ich einen Schlag gegen das Bein, als sei ich in eine Grube gestolpert. Ich schaute hin: das Bein war futsch.“ „Hat es denn im ersten Augenblick gar nicht weh getan?“ „Nicht sehr; es war nur so, als stieße man mir etwas Heißes ins Bein.“ „Nun, und nachher?“ -11-
„Auch nachher war es nicht schlimm; nur als sie später die Haut zusammenzogen, da hat es gejuckt. Die Hauptsache ist, Euer Wohlgeboren: man darf nicht viel denken; wenn man nicht denkt, läßt sich alles ertragen. Alles kommt davon, daß der Mensch denkt.“ Nun tritt eine Frau in einem graugestreiften Kleid und mit schwarzem Kopftuch heran und greift in Ihr Gespräch mit dem Matrosen ein. Sie erzählt von ihm, von seinen Qualen und dem hoffnungslosen Zustand, in dem er sich vier Wochen la ng befunden hat; sie spricht davon, wie er nach seiner Verwundung die Tragbahre angehalten habe, um das Feuer unserer Batterie zu beobachten, wie sich die Großfürsten mit ihm unterhalten und ihm fünfundzwanzig Rubel geschenkt hätten und daß er ihnen erklärt habe, er wolle wieder auf die Bastion, um wenigstens die junge Mannschaft anzuleiten, wenn er schon selber nicht mitmachen könne. Während die Frau dies alles in einem Atemzug vorträgt und dabei abwechselnd Sie und den Matrosen ansieht, der sich abgewendet hat und, ihr scheinbar gar nicht zuhörend, an seinem Kissenbezug herumzupft, leuchten ihre Augen vor heller Bewunderung. „Das ist meine Alte, Euer Wohlgeboren“, erklärt der Matrose mit einem Ausdruck, als wollte er sich ihretwegen bei Ihnen entschuldigen und sagen: Nehmen Sie ihr's nicht übel. Es ist nun mal Weiberart, dummes Zeug zu reden. Sie beginnen, einen Begriff von den Verteidigern Sewastopols zu bekommen, und fühlen sich plötzlich beschämt angesichts dieses Mannes. Sie möchten ihm so vieles sagen, um ihm Ihr Mitgefühl und Ihre Bewunderung auszudrücken; aber Sie finden keine Worte oder sind unbefriedigt von denen, die Ihnen in den Sinn kommen - und Sie verneigen sich schweigend vor dieser wortkargen, unbewußten Größe und Seelenstärke, dieser Scham vor der eigenen Würde. „Nun, gebe Gott, daß du bald wieder zu Kräften kommst“, sagen Sie zu ihm und bleiben vor einem anderen Kranken -12-
stehen, der auf dem Fußboden liegt und offenbar unter unerträglichen Schmerzen dem Tode entgegensieht. Es ist ein hellblonder Mann mit bleichem, aufgedunsenem Gesicht. Er liegt, den linken Arm zurückgeworfen, rücklings in einer Stellung da, die entsetzliche Qualen ausdrückt. Durch den trockenen, offenstehenden Mund stößt er angestrengt röchelnd den Atem aus; die blauen, bleiernen Augen sind starr nach oben gerichtet, und unter der verrutschten Bettdecke ragt der mit Verbandzeug umwickelte Stumpf des rechten Armes hervor. Der schwere Geruch des abgestorbenen Körpers schlägt Ihnen entgegen, und die verzehrende innere Glut, die alle Glieder des Leidenden durchdrungen hat, überträgt sich gleichsam auch auf Sie. „Ist er bewußtlos?“ fragen Sie die Frau, die Ihnen gefolgt ist und Sie so liebevoll ansieht, als seien Sie ein naher Verwandter von ihr. „Nein, er hört noch, was man sagt. Aber es steht sehr schlecht mit ihm“, fügt sie flüsternd hinzu. „Heute habe ich ihm Tee zu trinken gegeben - wenn er mir auch fremd ist, muß man doch Mitleid haben; aber er hat kaum was getrunken.“ „Wie fühlst du dich?“ fragen Sie den Verwundeten. Er verdreht die Pupillen in Richtung auf Ihre Stimme, sieht Sie aber nicht und versteht nicht, was Sie sagen. „Am Herzen brennt es.“ Etwas weiter fällt Ihr Blick auf einen alten Soldaten, der gerade die Wäsche wechselt. Sein Gesicht und sein Körper haben eine eigentümliche bräunliche Färbung und sind abgemagert wie ein Skelett. Der eine Arm fehlt ganz: er ist unmittelbar an der Schulter amputiert. Der Kranke sitzt schon wieder ganz munter da, er hat sich erholt; aber an dem leblosen trüben Ausdruck seiner Augen, an der erschreckenden Magerkeit und den Furchen in seinem Gesicht erkennen Sie, daß dies ein Mensch ist, der den besten Teil seines Lebens bereits hinter sich hat. -13-
Auf der anderen Seite sehen Sie auf einer Pritsche das leidvolle, totenblasse zarte Gesicht eine r Frau, deren Wangen von fieberhafter Röte überzogen sind. „Das ist unsere Matrosenfrau“, erklärt Ihre Begleiterin. „Am Fünften hat eine Bombe ihr Bein getroffen, als sie ihrem Mann das Mittagessen auf die Bastion brachte.“ „Hat man ihr das Bein abgenommen?“ „Bis übers Knie hat man es ihr abgenommen.“ Wenn Sie starke Nerven haben, können Sie sich nun links durch die Tür in den angrenzenden Raum begeben: dort werden Verbände angelegt und Operationen ausgeführt. Ärzte mit blutbefleckten Armen bis zum Ellbogen und mit bleichen, finsteren Gesichtern machen sich an einer Pritsche zu schaffen, auf der mit geöffneten Augen ein Verwundeter liegt und, vom Chloroform betäubt, sinnlose, mitunter ganz alltägliche und zu Herzen gehende Worte stammelt. Die Ärzte sind mit dem widerwärtigen, doch wohltätigen Werk des Amputierens beschäftigt. Sie sehen, wie das scharfe gekrümmte Messer in den gesunden weißen Körper eindringt; sehen, wie der Verwundete unter fürchterlichen, herzzerreißenden Schreien und Verwünschungen plötzlich zu Bewußtsein kommt; sehen, wie der Feldscher den amputierten Arm in eine Ecke wirft; sehen, wie ein anderer Verwundeter, der im selben Zimmer auf einer Tragbahre liegt und die Operation seines Kameraden beobachtet, stöhnt und sich krümmt, nicht so sehr vor körperlichem Schmerz als infolge der seelischen Tortur der Erwartung. Sie sehen hier grauenvolle, die Seele erschütternde Bilder, sehen den Krieg nicht in seinem geordneten, schönen und glänzenden Gewande, mit Musik, Trommelwirbel, wehenden Fahnen und auf ihren Pferden paradierenden Generälen, sondern in seiner wirklichen Gestalt - mit Blut, Qualen und Tod... Beim Verlassen dieses Hauses der Leiden werden Sie ganz gewiß ein wohliges Gefühl empfinden, aus freierer Brust die -14-
frische Luft einatmen und sich im Bewußtsein Ihrer Gesundheit glücklich schätzen; doch zugleich werden Sie eingedenk der gesehenen Leiden Ihre eigene Nichtigkeit erkennen und sich ruhig, ohne wankelmütig zu werden, auf die Bastionen begeben. Was bedeuten schon die Leiden und der Tod eines so nichtigen Wurmes, wie ich es bin, angesichts so vieler Todesopfer und Leiden? denken Sie. Doch der Anblick des klaren Himmels, der strahlenden Sonne, der schönen Stadt, der offenstehenden Kirche und des in verschiedenen Richtungen vorüberziehenden Militärs führt dazu, daß Ihr Gemüt bald wieder in den normalen Zustand der Leichtfertigkeit, der kleinen Sorgen und der ausschließlichen Freude an der Gegenwart zurückversetzt wird. Unterwegs begegnet Ihnen vielleicht ein aus der Kirche kommender Leichenzug mit Musik und wehenden Kirchenbannern, der einen Offizier in rosarotem Sarg zum Grabe geleitet, und von den Bastionen schallt vielleicht das Dröhnen der Kanonade herüber. Aber dies führt Sie nicht zu den vorherigen Gedankengängen zurück; Sie halten den Leichenzug für ein ungemein schönes militärisches Schauspiel, den Donner der Geschütze für sehr schöne kriegerische Klänge, und weder dieses Schauspiel noch diese Klänge bringen Sie mit den klaren Gedanken über Leiden und Tod in Verbindung, die Sie, auf sich selbst bezogen, im Lazarett empfunden haben. Wenn Sie die Kirche und die Barrikade passiert haben, kommen Sie in den belebtesten Teil der Innenstadt. Zu beiden Seiten sehen Sie Schilder von Geschäften und Gastwirtschaften: Händler, Frauen mit Hüten oder mit Kopftüchern, stutzerhafte Offiziere alles weist auf Standhaftigkeit, Selbstvertrauen und Sicherheit der Bevölkerung hin. -15-
Wer Lust hat, sich die Gespräche der Matrosen und Offiziere anzuhören, der kehre rechter Hand in die Gastwirtschaft ein: dort wird sicherlich schon von dem Verlauf der letzten Nacht gesprochen, von Fenka, vom Gefecht am Vierundzwanzigsten, von dem hohen Preis und der Minderwertigkeit der verabreichten Koteletts und vom Tod des einen oder anderen Kameraden. „Zum Teufel, heute ist's ganz schlimm bei uns!“ sagt mit tiefer Stimme ein semmelblonder, bartloser junger Marineoffizier, der einen gestrickten grünen Schal um den Hals gebunden hat. „Wo ist das: bei uns?“ fragt ihn ein anderer. „Auf der vierten Bastion“, antwortet der junge Offizier, und Sie blicken bei den Worten „auf der vierten Bastion“ natürlich mit besonderer Aufmerksamkeit und sogar mit einer gewissen Hochachtung auf den semmelblonden Krieger. Sein übertrieben aufgeräumtes Wesen, das Fuchteln mit den Händen, sein lautes Lachen und seine Art zu sprechen, die Ihnen aufdringlich vorkam, führen Sie nun auf die großtuerische Stimmung zurück, in die manche sehr junge Menschen nach einer überstandenen Gefahr verfallen; aber immerhin erwarten Sie, daß er jetzt davon erzählen wird, wie schrecklich es auf der vierten Bastion wegen des Bombardements und des Kugelregens sei. Doch weit gefehlt! Schlimm ist es dort durch den Schmutz. „Man kommt nicht bis zur Batterie durch“, sagt er und zeigt auf seine Stiefel, die bis in Kniehöhe mit Schmutz bedeckt sind. - „Und bei mir ist heute der beste Konstabelsmaat gefallen. Direkt in die Stirn hat's ihn getroffen“, berichtet ein anderer. „Wer denn? Mitjuchin?“ „Nein... Kommt denn nun endlich mein Kalbsbraten? Ihr Kanaillen!“ fügt er, zum Kellner ge wandt, hinzu. „Nein, nicht Mitjuchin, sondern Abrossimow. Er war ein tollkühner Bursche - sechs Ausfälle hat er mitgemacht.“ Am ändern Ende des Tisches sitzen zwei Infanterieoffiziere, die Koteletts mit Erbsen essen und eine Flasche sauren -16-
Krimwein, der „Bordeaux“ genannt wird, vor sich stehen haben. Der eine, noch jung an Jahren, mit rotem Kragen und zwei Sternchen am Mantel, erzählt dem anderen, einem alten Mann mit schwarzem Kragen und ohne Sternchen, von dem Gefecht an der Alma. Der Jüngere ist schon ein wenig angeheitert, und an der stockenden Art seines Berichts, an seinem unsicheren Blick, in dem sich Zweifel ausdrückt, ob man ihm auch glaubt, und vor allem daran, daß er sich selbst bei der Sache eine übertrieben große Rolle zuschreibt und das Ganze allzu schaurig klingt, merkt man, daß er von einer, wahrheitsgetreuen Schilderung des Hergangs „stark abweicht. Doch Sie interessieren sich nicht für derartige Erzählungen, die man noch lange an allen Enden Rußlands zu hören bekommen wird; Ihnen liegt daran, möglichst schnell auf die Bastionen und namentlich auf die vierte Bastion zu gelangen, über die Ihnen so viele und so verschiedenartige Berichte zu Ohren gekommen sind. Wenn jemand sagt, er sei auf der vierten Bastion gewesen, dann klingt aus seinen Worten eine besondere Befriedigung, ein besonderer Stolz heraus; wenn jemand sagt: „Ich gehe auf die vierte Bastion“, dann merkt man ihm stets eine leichte Erregung an, oder er trägt einen übertriebenen Gleichmut zur Schau; wenn man jemand aufziehen will, sagt man: „Dich müßte man auf die vierte Bastion stellen“; wenn man einer Tragbahre begegnet und die Sanitäter fragt, woher sie kommen, lautet die Antwort meist: „Von der vierten Bastion.“ Ganz allgemein existieren hinsichtlich dieser berüchtigten Bastion zwei grundverschiedene Ansichten: die von Leuten, die noch nie dort gewesen sind und die Überzeugung haben, daß die vierte Bastion für jeden, der sie betritt, den sicheren Tod bedeutet, und die Ansicht derer, die dort leben, wie der semmelblonde junge Marineoffizier, und die, wenn sie davon sprechen, lediglich erzählen, ob es dort trocken oder schmutzig, ob es im Unterstand warm oder kalt ist. -17-
In der halben Stunde, die Sie in der Gastwirtschaft zugebracht haben, hat sich das Wetter geändert: der Nebel, der über dem Meer lagerte, hat sich zu trübseligen grauen Wolken zusammengeballt und die Sonne verdeckt; von oben rieselt eine triste kalte Feuchtigkeit herab und legt sich auf die Dächer und Gehsteige und auf die Mäntel der Soldaten. Nachdem Sie eine zweite Barrikade passiert haben, treten Sie rechts durch ein Tor und gehen auf einer bergan führenden langen Straße weiter. Hinter dieser Barrikade sind die Häuser zu beiden Seiten der Straße unbewohnt; man sieht keine Schilder, die Türen sind mit Brettern verrammelt, die Fenster zerschlagen, hier und da ist die Ecke eines Hauses weggerissen, ein Dach zertrümmert. Die Gebäude muten wie alte Veteranen an, die alle möglichen Nöte und Fährnisse überstanden haben und Sie stolz und mit einer gewissen Geringschätzung anzublicken scheinen. Unterwegs stolpern Sie über umherliegende Geschosse und mit Wasser gefüllte Löcher, von Bomben in den steinigen Boden gewühlt. Auf der Straße treffen oder überholen Sie Soldatenformationen, Fußkosaken, Offiziere. Ab und zu begegnet Ihnen auc h ein Kind oder eine Frau, die aber keine der Damen mit Hut ist, sondern eine einfache Matrosenfrau in altem Pelz und Soldatenstiefeln. Wenn Sie die Straße weitergehen und einen kleinen Abhang hinabgestiegen sind, sehen Sie rundherum keine Häuser mehr, sondern nur noch bunt durcheinandergewürfelte Haufen von Steinmassen, Brettern, Lehm und Balken; vor Ihnen erhebt sich ein steiler Berg, über den sich ein schwarzes, schmutziges, von Gräben durchzogenes Gelände erstreckt, und das, was Sie hier vor sich haben, das ist die vierte Bastion... Zivilpersonen treffen Sie hier noch weniger, Frauen sind überhaupt nicht zu sehen, Soldaten gehen im Eilschritt, auf dem Weg zeichnen sich hier und da Blutstropfen ab, und sicherlich begegnen Ihnen Soldaten mit einer Tragbahre, auf der ein Verwundeter mit fahlem gelbem Gesicht in einem blutbefleckten Mantel liegt. -18-
Wenn Sie die Träger fragen: „Wo ist er verwundet?“, antworten sie Ihnen kurz, ohne sich umzuwenden: „Am Bein“ oder: „Am Arm“, wenn es eine leichte Verwundung ist; oder sie schweigen verbissen, wenn auf der Tragbahre kein Kopf zu sehen ist und sie einen bereits Verschiedenen oder einen Schwerverwundeten forttragen. Während Sie im Begriff sind, den Berg hinaufzusteigen, werden Sie von dem in der Nähe ertönenden Pfeifen einer Bombe oder Kanonenkugel unangenehm überrascht. Sie begreifen plötzlich, und auf ganz andere Art als früher, die Bedeutung der Detonationen, die Sie von der Stadt aus gehört haben. Die eine oder andere stille, beglückende Erinnerung flackert plötzlich in Ihrem Gedächtnis auf; Sie beginnen sich mehr mit Ihrer eigenen Person zu beschäftigen als mit Beobachtungen; Ihr Interesse an der ganzen Umgebung vermindert sich, und Sie werden unversehens von einem unangenehmen Gefühl der Zaghaftigkeit übermannt. Doch ungeachtet dieser kleinmütigen Stimme, die angesichts der Gefahr in Ihrem Innern laut geworden ist, straffen Sie, besonders bei einem Blick auf den Soldaten, der, die Arme schwenkend und in dem breiigen Schmutz immer wieder ausrutschend, lachend an Ihnen vorbeigelaufen kommt, unwillkürlich die Brust; Sie heben den Kopf und arbeiten sich weiter den glitschigen lehmigen Berg hinauf. Sobald Sie etwas höher hinaufgekommen sind, schwirren rechts und links Gewehrkugeln vorüber, und Sie überlegen vielleicht, ob Sie nicht lieber durch den Laufgraben gehen sollten, der sich parallel zum Weg hinzieht; aber der Laufgraben ist mit einem gelben, bis über die Knie reichenden flüssigen und derartig stinkenden Schmutz angefüllt, daß Sie es vorziehen, auf dem über den Berg führenden Weg zu bleiben, zumal Sie sehen, daß auch alle anderen ihn benutzen. Nach etwa zweihundert Schritten kommen Sie zu einem aufgewühlten schmutzigen Gelände, das ringsum von Schanzkörben, Bunkern, Erdhütten, Plattformen und Wällen umgeben ist, auf denen große -19-
gußeiserne Geschütze stehen und gleichmäßige Stapel von Geschossen liegen. Alles dies scheint Ihnen völlig planlos, ohne Zusammenhang und Ordnung aufgehäuft zu sein. Hier sitzt eine Gruppe Matrosen auf einer Batterie, dort liegt mitten auf dem Geschützstand, zur Hälfte im Schmutz versunken, eine zertrümmerte Kanone, drüben arbeitet sich ein Infanterist mit Gewehr, mühsam die Füße aus dem klebrigen Schlamm ziehend, über die Batterien hinweg, und überall, wohin man auch blicken mag, sieht man Splitter, nicht krepierte Bomben, Geschosse, Spuren des Lagers - und alles dies im flüssigen, zähklebrigen Schmutz versunken. Sie glauben in unmittelbarer Nähe den Einschlag eines Geschosses zu hören und vernehmen an allen Seiten die verschiedenen Tonarten fliegender Kugeln: solcher, die wie eine Biene surren, und anderer, die abgehackt pfeifen oder wimmern wie eine Saite; eine fürchterliche Detonation ertönt, die alles ringsum erschüttert und von Ihnen als etwas ungemein Entsetzliches empfunden wird. Dies hier ist sie also, die vierte Bastion, dieser berüchtigte, in der Tat grauenvolle Ort! sagen Sie sich in Gedanken und empfinden dabei ein klein wenig Stolz und große Befriedigung darüber, daß Sie Ihre Furcht unterdrückt haben. Doch es erwartet Sie eine Enttäuschung: hier ist noch nicht die vierte Bastion. Es ist die Jasonowsche Schanze, eine verhältnismäßig sehr sichere und durchaus nicht besonders schreckliche Position. Um zur vierten Bastion zu kommen, müssen Sie nach rechts in den schmalen Laufgraben abbiege n, durch den eben in gebückter Haltung ein Infanterist hintrottet. In diesem Laufgraben können Ihnen möglicherweise wieder Sanitäter mit einer Tragbahre begegnen oder ein Matrose und Soldaten mit Spaten; Sie sehen hier Minenleger und in den Schmutz gebaute Erdhütten, in die nur zwei Mann gebückt hineinkriechen können und in denen die Vorposten der SchwarzmeerBataillone hausen, das Schuhzeug wechseln, essen, ihre Pfeife rauchen, und Sie finden wiederum allenthalben stinkenden Schmutz, Lagerspuren und umherliegende Eisenstücke. Nach -20-
weiteren dreihundert Schritten stoßen Sie abermals auf eine Batterie, auf einen Platz voller Löcher, um den sich ein Ring von Erdwällen, mit Erde gefüllten Schanzkörben und auf Plattformen stehenden Geschützen zieht. Hier werden Sie vielleicht vier oder fünf Matrosen antreffen, die im Schütze der Brustwehr Karten spielen, und einen Marineoffizier, der Ihnen, sobald er Sie als wißbegierigen Neuling erkennt, mit Vergnügen sein Reich und alles, was Sie interessieren könnte, zeigen wird. Dieser Offizier dreht sich, auf einem Geschütz sitzend, so ruhig eine Zigarette aus gelbem Papier, spaziert so ruhig von einer Schießscharte zur anderen und spricht so ruhig mit Ihnen, ohne die geringste Erregung, daß auch Sie ungeachtet der jetzt häufiger als bis dahin über Sie hinwegschwirrenden Kugeln kaltblütig werden, dem Offizier mit Interesse zuhören und ihn ausfragen. Der Offizier wird Ihnen - doch nur, wenn Sie ihn danach fragen - vom Bombardement am Fünften erzählen, wird davon sprechen, daß von seiner Batterie nur ein einziges Geschütz in Aktion treten konnte und von der gesamten Bedienungsmannschaft im ganzen acht Mann übriggeblieben waren, daß er aber dennoch am nächsten Morgen das Feuer aus sämtlichen Geschützen eröffnet habe; er wird Ihnen schildern, wie am Fünften eine Bombe in einen Matrosenunterstand eingeschlagen ist und elf Mann getötet hat, und er wird Ihnen durch eine Schießscharte die feindlichen Batterien und Laufgräben zeigen, die von hier nicht weiter als dreißig bis vierzig Sashe n entfernt sind. Ich fürchte nur, daß Sie, wenn Sie sich zur Schießscharte hinauslehnen, um den Feind zu betrachten, vor lauter vorbeischwirrenden Kugeln nichts erkennen werden oder daß Sie, falls Sie doch etwas sehen, sehr erstaunt sein werden, daß der weiße steinige Wall, der sich so nahe vor Ihnen erstreckt und auf dem weiße Rauchwölkchen emporschießen, daß eben dieser weiße Wall der Feind ist - er, wie die Soldaten und Matrosen zu sagen pflegen. -21-
Es ist sogar gut möglich, daß der Marineoffizier aus Ehrge iz oder einfach, weil es ihm Spaß macht, in Ihrer Gegenwart eine kleine Schießerei veranstalten will. „Der Konstabelsmaat und die Mannschaft ans Geschütz!“ - und vierzehn Matrosen, von denen die einen ihre Pfeife in die Tasche stecken, andere den Rest eines Zwiebacks zu Ende kauen, begeben sich, mit ihren eisenbeschlagenen Stiefeln über die Plattform polternd, flink und wohlgemut an das Geschütz und laden es. Betrachten Sie die Gesichter, die Haltung und die Bewegungen dieser Leute: in jeder Falte ihrer sonnengebräunten Gesichter mit den hervortretenden Backenknochen, in jedem Muskel, in der Breite der Schultern, der Stämmigkeit der Beine, die in mächtigen Stiefeln stecken, in der Ruhe und Sicherheit jeder ihrer Bewegungen erkennt man die wichtigsten Züge, die die Stärke des Russen ausmachen: Schlichtheit und Hartnäckigkeit; doch über diese Hauptmerkmale hinaus haben hier, so scheint es Ihnen, Gefahr, Ingrimm und die Leiden des Krieges jedem dieser Gesichter auch noch den Stempel des Bewußtseins eigener Würde, hoher Gesinnung und edler Gefühle aufgedrückt. Plötzlich ertönt ein fürchterliches, nicht nur das Gehör, sondern Ihr gesamtes Wesen erschütterndes Getöse, das Sie mit dem ganzen Körper zusammenzucken läßt. Unmittelbar darauf vernehmen Sie den sich entfernenden Pfiff eines Geschosses, und ein dichter Pulverrauch hüllt Sie, die Plattform und die dunklen Gestalten der Matrosen, die sich darauf bewegen, ein. In Verbindung mit dem von unserer Seite abgegebenen Schuß bekommen Sie verschiedene Äußerungen der Matrosen zu hören. Sie sehen ihr Frohlocken und nehmen ihre Gefühle wahr, die Sie vielleicht nicht erwartet haben: Wut über den Feind und die Begierde, sich an ihm zu rächen, die jeder im Grunde seiner Seele hegt. Sie hören freudige Ausrufe: „Direkt in die Schießscharte hat sie eingeschlagen; zwei, scheint es, sind tot... da bringt man sie fort.“ - „Jetzt ist er erbost, gleich wird er herüberballern“, sagt einer der Leute. Und in der Tat -22-
sehen Sie bald darauf einen Blitz vor sich aufzucken, eine Rauchwolke, und der Posten, der auf der Brustwehr steht, ruft: „Kanooone!“ Anschließend saust ein Geschoß an Ihnen vorüber, bohrt sich trichterförmig in die Erde und wirbelt um sich herum Steine und Schmutzspritzer durch die Luft. Der Batteriekommandeur, der sich über dieses Geschoß ärgert, befiehlt, ein zweites und drittes Geschütz zu laden; der Feind erwidert unser Feuer, und Sie gewinnen interessante Eindrücke, bekommen interessante Dinge zu hören und zu sehen. Der Posten ruft abermals: „Kanone!“, und Sie hören wieder den gleichen Laut und den Aufschlag, sehen wieder die gleichen Spritzer; oder er ruft: „Mörser!“, und Sie hören das gleichmäßige, ziemlich angenehme und mit dem Gedanken an etwas Schreckliches schwer in Einklang zu bringende Sausen einer Bombe, hören, wie sich dieses Sausen Ihnen nähert und immer schneller wird, und nehmen dann eine schwarze Kugel wahr, ein Aufprallen auf die Erde und das dröhnende, die Luft erschütternde Explodieren der Bombe. Hierauf fliegen pfeifend und klirrend Splitter nach allen Seiten, Steine schwirren polternd durch die Luft, und Sie werden mit Schmutz bespritzt. Bei diesen Lauten empfinden Sie ein seltsames Gemisch von Genuß und Furcht. In dem Augenblick, in dem das Geschoß auf Sie zufliegt und Sie dies wissen, kommt Ihnen unweigerlich der Gedanke, daß es Sie töten wird; aber ein gewisser Stolz läßt Sie Haltung bewahren, und niemand sieht das Messer, das sich in Ihr Herz bohrt. Doch wenn das Geschoß vorübergeflogen ist und Sie unverletzt geblieben sind, leben Sie dafür um so mehr auf und werden, freilich nur für einen Augenblick, von einem beglückenden, unbeschreiblich angenehmen Gefühl ergriffen, so daß Sie in der Gefahr, in diesem Spiel mit Leben und Tod einen besonderen Reiz finden und sich wünschen, es möchten immer noch weitere Bomben oder Granaten und in noch geringerer Entfernung von Ihnen aufschlagen. Doch nun ruft der Posten mit seiner lauten, tiefen Stimme wiederum: „Mörser!“ Abermals ertönt ein Pfeifen, ein -23-
Aufschlag und die Detonation einer Bombe, und im selben Moment vernehmen Sie das Stöhnen eines Menschen. Sie treten an den Verwundeten, der, in Blut und Schmutz liegend, ein seltsames, nicht menschenähnliches Aussehen hat, zugleich mit den Leuten heran, die eine Tragbahre bringen. Dem Matrosen hat es ein Stück Brust herausgerissen. Während der ersten Augenblicke drückt sich in seinem schmutzbespritzten Gesicht nur Schreck aus und eine gemachte, verfrühte Duldermiene, wie sie Menschen in solcher Lage eigen ist. Doch als die Tragbahre vor ihn hingestellt wird und er sich ohne Hilfe mit der unverletzt gebliebenen Seite darauf legt, gewahren Sie, daß sich dieser Ausdruck ändert und einem Ausdruck der Begeisterung und hoher, unausgesprochener Gedanken Platz macht; die Augen des Verwundeten glühen, er preßt die Zähne zusammen und reckt den Kopf unter Anstrengung höher. Und als man ihn dann mit der Tragbahre aufhebt, läßt er die Träger haltmachen und sagt mühsam, mit bebender Stimme zu seinen Kameraden: „Lebt wohl, Brüder!“ Er will noch etwas, offenbar irgend etwas Ergreifendes hinzufügen, wiederholt aber nur dieselben Worte: „Lebt wohl, Brüder!“ Nun tritt einer seiner Kameraden auf ihn zu, setzt ihm die Mütze auf, die der Verwundete ihm hinhält, und kehrt ruhig und gleichmütig, die Arme schwenkend, zu seinem Geschütz zurück. „So ergeht es täglich sieben oder acht Mann“, sagt der Marineoffizier, der das sich in Ihrem Gesicht ausdrückende Entsetzen bemerkt, während er sich gähnend eine Zigarette aus gelbem Papier dreht... Somit haben Sie also die Verteidiger Sewastopols unmittelbar am Ort der Verteidigung gesehen und kehren zurück, ohne merkwürdigerweise den Geschossen und Kugeln, die Sie weiterhin auf dem ganzen Weg bis zum zerstörten Theater umschwirren, die geringste Beachtung zu schenken: Sie kehren ruhig, gehobenen Geistes zurück. Das Wichtigste und Beglückendste, was Sie mitbringen, ist die Überzeugung, daß es unmöglich sei, Sewastopol zu erobern, und darüber hinaus, -24-
daß es überhaupt unmöglich sei, die Kraft des russischen Volkes, wo auch immer, zu erschüttern. Diese Unmöglichkeit haben Sie nicht beim Anblick der zahllosen Traversen und Brustwehren, des raffiniert ausgeklügelten Netzes von Laufgräben, Minen und übereinander aufgebauten schweren Geschützen erkannt, wovon Sie nichts verstanden haben, sondern an den Augen, den Reden, der Haltung, an dem, was man den Geist der Verteidiger Sewastopols nennt. Das, was sie tun, tun sie mit einer solchen Selbstverständlichkeit, mit so wenig Anstrengung und Anspannung, daß Sie zu der Überzeugung gelangen, diese Menschen könnten noch hundertmal mehr, könnten alles vollbringen. Sie begreifen, daß das Gefühl, das sie ihr Werk tun läßt, nicht jenes kleinliche, von Eitelkeit und Gedankenlosigkeit bestimmte Gefühl ist, das Sie selbst empfunden haben, sondern ein andersartiges, mächtigeres Gefühl, daß aus ihnen Menschen gemacht hat, die unter ständigem Beschuß und angesichts Hunderter Todesmöglichkeiten ebenso ruhig leben wie angesichts des einen Todes, dem alle Menschen ausgesetzt sind, und die unter solchen Bedingungen im Schmutz hausen und ununterbrochen arbeiten und wachsam sein müssen. Um einer Auszeichnung, einer Beförderung willen oder infolge von Drohungen können sich Menschen solchen Bedingungen nicht unterwerfen: es muß einen anderen, höheren Beweggrund geben. Dieser Beweggrund liegt in einer Empfindung, die bei Russen selten offen zutage tritt und schamhaft verborgen bleibt, aber in der Tiefe der Seele eines jeden ruht: in der Liebe zur Heimat. Die Berichte über die erste Zeit der Belagerung Sewastopols, als noch keine Befestigungen und keine Truppen vorhanden waren und faktisch keine Möglichkeit bestand, es zu halten, aber dennoch nicht der geringste Zweifel darüber aufkam, daß eine Kapitulation unmöglich sei; über die Zeit, als Kornilow, ein des alten Griechenlands würdiger Held, bei einer Truppenbesichtigung sagte: „Wir wollen sterben, Brüder, aber Sewastopol nicht übergeben!“ und unsere Russen, denen -25-
keinerlei Phrasenmacherei liegt, darauf antworteten: „Wir wollen sterben! Hurra!“ - diese Berichte haben erst jetzt aufgehört, für Sie bloß eine schöne historische Überlieferung zu sein, und sind zu einem unumstößlichen Zeugnis von Tatsachen geworden. Jetzt begreifen Sie die Menschen, die Sie soeben gesehen haben, und stellen sie sich klar als jene Helden vor, die in schwerer Zeit nicht verzagten, sondern sich gehobenen Mutes und mit Freude auf den Tod vorbereiteten nicht für die Stadt, sondern für das Vaterland. Noch für lange Zeit wird diese Epopöe Sewastopols, deren Held das russische Volk war, in Rußland ihre erhabenen Spuren hinterlassen... Es geht bereits auf den Abend zu. Die Sonne ist unmittelbar vor ihrem Untergang aus den grauen Wolken hervorgetreten, die den Himmel verhüllen, und hat die lila Wolken, das grünliche Meer, das mit Schiffen und Booten bedeckt ist und unter einem gleichmäßigen, breiten Wellenschlag wogt, die weißen Gebäude der Stadt und die Menschen, die sich auf den Straßen bewegen, unversehens in ein purpurnes Licht getaucht. Über das Wasser schallen die Klänge eines altmodischen Walzers, der von einer Regimentskapelle auf dem Boulevard gespielt wird, und mischen sich seltsam in die von den Bastionen herübertönenden Schüsse.
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Sewastopol im Mai 1 Bereits sechs Monate sind vergangen, seitdem von den Bastionen Sewastopols das erste Geschoß durch die Luft sauste und die Erde auf den feindlichen Befestigungsanlagen aufwühlte; Tausende von Bomben, Kanonen- und Gewehrkugeln sind von den Bastionen zu den Laufgräben und von den Laufgräben zu den Bastionen geflogen, und über alldem hat unablässig der Todesengel geschwebt. Tausende von Menschen sind inzwischen in ihrem Ehrgeiz verletzt, Tausende sind befriedigt worden, haben sich aufgebläht, Tausende haben ihre letzte Ruhe in der Umarmung des Todes gefunden. Wie viele Rangabzeichen wurden angelegt, wie viele wieder abgenommen, wie viele Annen- und Wladimirorden, wie viele rosarote Särge und leinene Leichendecken hat es gegeben! Und nach wie vor erschallen die gleichen Laute auf den Bastionen, blicken die Franzosen an klaren Abenden aus ihrem Lager mit unwillkürlichem Erbeben und abergläubischer Angst auf die aufgewühlte gelbe Erde der Sewastopoler Bastionen, nach den sich auf ihnen bewegenden schwarzen Gestalten unserer Matrosen und zählen die Schießscharten, aus denen gußeiserne Kanonen drohend herausragen; nach wie vor beobachtet der Steuermannsunteroffizier vom Telegraphenturm durch das Fernrohr die bunten Figuren der Franzosen, ihre Batterien, ihre Zelte, die sich über den Grünen Berg bewegenden Kolonnen und die über den Laufgräben aufsteigenden Rauchwölkchen; und mit unvermindertem Eifer streben aus allen Himmelsrichtungen Menschenmengen mit verschiedenartigen Wünschen diesem schicksalsschweren Orte zu. Doch die Frage, die die Diplomaten nicht zu lösen vermochten, läßt sich noch weniger durch Pulver und Blut lösen. -27-
Mir ist oft ein merkwürdiger Gedanke durch den Kopf gegangen: Wie wäre es, wenn die eine der kriegführenden Parteien der anderen vorschlagen würde, aus jeder Armee je einen Soldaten zu entlassen? Dieser Wunsch mag absonderlich erscheinen, aber warum sollte er nicht erfüllt werden? Sodann müßte von jeder Partei ein weiterer Soldat entlassen werden, dann ein dritter, ein vierter und so fort, bis schließlich (unter der Voraussetzung, daß beide Armeen gleich stark wären und die Menge durch Tüchtigkeit ersetzt werden müßte) in jeder Armee nur noch je ein Soldat übrig wäre. Und sofern es wirklich unumgänglich ist, daß komplizierte politische Fragen zwischen vernünftigen Vertretern vernünftiger Geschöpfe durch Kampf entschieden werden müssen, sollten dann eben diese beiden Soldaten miteinander kämpfen: der eine würde die Stadt belagern, der andere sie verteidigen. Diese Betrachtung ist, so wunderlich sie auch klingt, dennoch berechtigt. In der Tat, welch ein Unterschied besteht darin, ob ein einzelner Russe gegen einen einzelnen Vertreter der Verbündeten kämpft oder ob achtzigtausend gegen achtzigtausend kämpfen? Warum nicht ebensogut hundertfünfunddreißigtausend gegen hundertfünfunddreißigtausend? Warum nicht zwanzigtausend gegen zwanzigtausend? Warum nicht zwanzig gegen zwanzig? Warum nicht einer gegen einen? Das eine ist keineswegs logischer als das andere. Im Gegenteil, das letztere ist bedeutend logischer, weil es menschlicher ist. Eins von beiden: entweder ist der Krieg ein Irrsinn, oder aber die Menschen, die diesen Irrsinn begehen, sind gar nicht die vernünftigen Geschöpfe, für die man sie bei uns aus irgendeinem Grunde zu halten pflegt. 2 Im belagerten Sewastopol spielte auf dem Boulevard neben dem Pavillon eine Regimentskapelle, und eine Menge Militär und Frauen promenierte feiertagsmäßig auf den Wegen. Die helle Frühlingssonne, die am Morgen über den englischen -28-
Befestigungsanlagen aufgegangen und dann, für alle gleichmäßig freundlich strahlend, über die Bastionen, über die Stadt und über die Nikolai-Kaserne gewandert war, neigte sich jetzt dem blauen Meer zu, das ruhig wogend in der Ferne in silbernem Glanz leuchtete. Aus der Seitenpforte eines der kleinen Matrosenhäuser, die dicht nebeneinander auf der linken Seite der Morskaja-Straße stehen, trat ein hochgewachsener, sich ein wenig gekrümmt haltender Infanterieoffizier, streifte einen nicht gerade blendendweißen, doch sauberen Handschuh über die Hand und schlug, nachdenklich zu Boden blickend, den zum Boulevard hinaufführenden Weg ein. Sein unschönes Gesicht mit einer niedrigen Stirn ließ nicht auf große geistige Fähigkeiten schließen, drückte jedoch Besonnenheit, Ehrlichkeit und anständige Gesinnung aus. Er war schlecht gebaut: langbeinig, schwerfällig und gleichsam gehemmt in seinen Bewegungen. Seine Kleidung bestand aus einer erst wenig abgenutzten Mütze, einem leichten Mantel von etwas komischer, ins Lila gehender Farbe, an dessen Borte eine goldene Uhrkette hervorschimmerte, Beinkleidern mit Stegen und glänzenden sauberen Stiefeln aus Kalbsleder, deren Absätze allerdings ein wenig schiefgetreten waren; aber nicht so sehr an diesen Dingen, die man gemeinhin bei einem Infanterieoffizier nicht vorzufinden pflegt, als vielmehr an seiner Gesamterscheinung erkannte ein geübtes militärisches Auge sofort, daß es sich bei ihm nicht um einen ganz einfachen Infanterieoffizier handelte, sondern um etwas Besseres. Man hätte ihn für einen Deutschen halten können, wenn seine Gesichtszüge nicht eine rein russische Herkunft verraten hätten, oder für einen Adjutanten, einen Regimentsquartiermeister (doch dann hätte er Sporen gehabt) oder einen Offizier, der für die Dauer des Feldzuges von der Kavallerie oder gar von der Garde hierhergekommen war. Er hatte sich in der Tat von der Kavallerie nach hier versetzen lassen und dachte augenblicklich, während er den Weg zum Boulevard hinaufstieg, über einen Brief nach, den er gerade von -29-
einem ehemaligen Kameraden, einem jetzt außer Dienst im Gouvernement T. lebenden Gutsbesitzer, und dessen Frau, der blassen, blauäugigen Natascha, seiner guten Freundin, erhalten hatte. Ihm fiel eine Stelle des Briefes ein, wo sein Freund schrieb: „Wenn uns der ,Invalide' gebracht wird, stürzt Pupka“, so nannte der einstige Ulanenoffizier seine Frau, „schnurstracks ins Vorzimmer, rafft die Zeitungen an sich, läuft mit ihnen zur Bank in die Laube oder in den Salon (in dem wir mit Dir, wie Du Dich wohl noch erinnern wirst, so nett die Winterabende verbracht haben, als das Regiment hier in der Stadt lag) und liest mit so glühendem Eifer von Euren Heldentaten, wie Du es Dir gar nicht vorstellen kannst. Sie sagt oft von Dir: Ja, Michailow ist eine Seele von Mensch, ich könnte ihm um den Hals fallen, wenn ich ihn wiedersehe, er kämpft auf den Bastionen, wird ganz gewiß das Georgskreuz bekommen und dann in den Zeitungen erwähnt werden' und dergleichen mehr, so daß ich wirklich allmählich eifersüchtig auf Dich werde.“ - An einer anderen Stelle hieß es: „Die Zeitungen kommen hier mit ungeheurer Verspätung an, und wenn auch viele Gerüchte verbreitet werden, so kann man doch vieles nic ht glauben. Die Dir bekannten jungen Damen mit der Musik erzählten zum Beispiel gestern, daß Napoleon von unseren Kosaken bereits gefangen und nach Petersburg abtransportiert worden sei, aber Du wirst Dir denken können, wie wenig ich dem Glauben schenke. Außerdem erzählte uns ein Ankömmling aus Petersburg (er tut Dienst beim Minister, in besonderen Angelegenheiten, ein reizender Mensch, der jetzt, nachdem wir niemand mehr in der Stadt haben, für uns eine solche Rissurs ist, wie Du es Dir gar nicht vorstellen kannst) der versichert also mit Bestimmtheit, daß Eupatoria von unseren Truppen genommen sei, so daß die Franzosen jetzt keine Verbindung mit Balaklawa mehr hätten und daß wir dabei zweihundert, die Franzosen aber annähernd fünfzehntausend Mann verloren hätten. Meine Frau war von dieser Nachricht so begeistert, daß sie die ganze Nacht hindurch gefeiert hat; sie -30-
sagt, daß Du ihrem Gefühl nach sicherlich an dieser Schlacht teilgenommen und Dich hervorgetan haben mußt...“ Ungeachtet dessen, daß sich ein hochmütiger Leser auf Grund der Worte und Ausdrücke, die ich absichtlich hervorgehoben habe, und des ganzen Tons des Briefes wahrscheinlich über die Gesittung des Stabshauptmanns Michailow, der mit schiefgetretenen Absätzen herumläuft, über diesen Kameraden, der von einer „Rissurs“ schreibt und so merkwürdige geographische Vorstellungen hat, über seine blasse Freundin in der Laube (wobei er sich die betreffende Natascha vielleicht nicht ganz unbegründet mit schmutzigen Fingernägeln vorstellt) wie überhaupt über diese ganze abgeschmackte, ihn mit Abscheu erfüllende provinzielle Milieu mit Recht eine ungünstige Meinung gebildet hat - ungeachtet dessen gedachte der Stabshauptmann Michailow mit unsagbar beglückender Wehmut seiner blassen Freundin, mit der er so ma nchen Abend in der Laube gesessen und über „Gefühle“ gesprochen hat, gedachte er seines guten Kameraden von den Ulanen, der sich immer so ärgerte, wenn er bei einem Partiechen, das sie in seinem Arbeitszimmer mit dem Einsatz von einer Kopeke spielten, bete war und dann von seiner Frau ausgelacht wurde, gedachte der Freundschaft, die ihm diese Menschen entgegengebracht hatten (und vermutete vielleicht auch, daß dabei seitens seiner blassen Freundin noch etwas mehr mitgespielt hatte). Alle diese Personen mit ihrer Umgebung wurden in seinem Gedächtnis in einem unbeschreiblich lieblichen, verklärt rosigen Licht wach, und er berührte, seinen Erinnerungen hingegeben, mit der Hand lächelnd die Tasche, in der dieser für ihn so liebe Brief steckte. Diese Erinnerungen taten dem Stabshauptmann um so mehr wohl, als der Kreis, auf den er hier im Infanterieregiment angewiesen war, ein viel niedrigeres Niveau hatte als jener, in dem er vorher in der Stadt T. verkehrt hatte und als Kavallerist und galanter Kavalier ein gern gesehener Gast gewesen war. -31-
Sein früherer Kreis hatte ein so viel höheres Niveau gehabt als der jetzige, daß seine Kameraden von der Infanterie, wenn er ihnen in Augenblicken der Offenherzigkeit davon erzählte, daß er früher einen eigenen Wagen besessen, auf den Bällen beim Gouverneur getanzt und mit einem Zivilgeneral Karten gespielt habe, ihm mit so ungläubig gleichmütiger Miene zuhörten, als wollten sie nur nicht widersprechen und das Gegenteil beweisen: Laßt ihn doch reden, wenn ihm das Spaß macht! Und wenn er angesichts der Schnapssauferei der Kameraden, des Kartenspiels, bei dem die Bank ganze fünf Rubel aufwies, und überhaupt ihrer ungeschlachten Manieren nicht offen seine Verachtung zeigte, war dies nur der ungewöhnlichen Sanftmut, Verträglichkeit und Besonnenheit seines Charakters zuzuschreiben. Von den Erinnerungen ging Stabshauptmann Michailow unwillkürlich zu Wünschen und Hoffnungen über. Wie überrascht und erfreut wird Natascha sein, dachte er, während er in seinen schiefgetretenen Stiefeln eine schmale Quergasse entlangging, wenn sie im „Invaliden“ einen Bericht darüber liest, wie ich als erster auf ein Geschütz geklettert bin und das Georgskreuz bekommen habe! Befördert muß ich auf Grund des schon für mich eingereichten Vorschlags ohnehin bald werden. Dann kann ich es sehr leicht noch in diesem Jahre zum Major der Linientruppen bringen, da viele gefallen sind und sicherlich noch viele von uns in diesem Kampf umkommen werden. Und wenn es dann wieder zu einer Schlacht kommt, wird man mir, der sich schon einen Namen gemacht hat, ein Regiment anvertrauen... ich werde Oberstleutnant... Annenorden am Halse... Oberst... Er war bereits General, der Natascha, die Witwe seines Kameraden, der seinen Wunschträumen gemäß inzwischen gestorben sein würde, mit einem Besuch beehrt, als die Klänge der auf dem Boulevard spielenden Musik deutlicher an sein Ohr schlugen, eine Volksmenge vor seinen Augen auftauchte und er sich auf dem Boulevard in die bisherige Rolle -32-
eines bedeutungslosen, ungeschickten und schüchternen Stabshauptmanns der Infanterie zurückversetzt fand. 3 Er ging zunächst auf den Pavillon zu; hier standen die Musikanten, denen in Ermangelung von Notenständern andere Soldaten desselben Regiments die aufgeschlagenen Noten hielten und die von mehr zusehenden als zuhörenden Schreibern, Junkern, Kinderfrauen mit Kindern und Offizieren in alten Mänteln umgeben waren. Rings um den Pavillon standen, saßen oder promenierten hauptsächlich Matrosen, Adjutanten und Offiziere in weißen Handschuhen und neuen Mänteln. In der Hauptallee des Boulevards spazierten Offiziere aller Art und Frauen aller Art, nur wenige von ihnen mit Hüten, die meisten mit Kopftüchern (auch solche ohne Hut und ohne Kopftuch traf man), aber auffallenderweise alle jugendlichen Alters, keine einzige alte war unter ihnen. Weiter unten, in den schattigen, dufterfüllten Akazienalleen, saßen oder promenierten einzelne abgesonderte Gruppen. Niemand auf dem Boulevard war besonders erfreut, dem Stabshauptmann Michailow zu begegnen, ausgenommen allenfalls Hauptmann Obshogow und Hauptmann Suslikow aus seinem Regiment, die ihm herzlich die Hand schüttelten; aber der eine hatte Kamelhaarhosen und einen zerschlissenen Mantel an, war ohne Handschuhe und hatte ein derartig rotes, vor Schweiß glänzendes Gesicht, und der andere schrie so laut und exaltiert, daß es peinlich war, sich mit ihnen sehen zu lassen, namentlich vor jenen Offizieren in weißen Handschuhen, von denen sich Stabshauptmann Michailow mit dem einen, einem Adjutanten, zu grüßen pflegte, während er einen anderen, einen Stabsoffizier, hätte grüßen können, weil er ihm zweimal bei einem gemeinsamen Bekannten begegnet war. Welches Vergnügen hätte es ihm im übrigen auch schon bereiten können, in Gesellschaft dieser Herren Obshogow und Suslikow zu promenieren, denen er ohnehin sechsmal täglich begegnete und -33-
die Hand drückte? Nicht deswegen war er zum Konzert gekommen. Er hatte große Lust, an den Adjutanten, mit dem er bekannt war, heranzutreten und mit ihm und den anderen Herren zu sprechen, nicht etwa, damit Hauptmann Obshogow und Hauptmann Suslikow, der Leutnant Paschtezki und andere sehen sollten, daß er mit ihnen sprach, sondern einfach deshalb, weil es sympathische Leute waren, die zudem über alle Neuigkeiten Bescheid wußten und manches erzählen würden... Doch warum scheute sich der Stabshauptmann Michailow, warum traute er sich nicht, an sie heranzutreten? - Wenn sie mich nun womöglich gar nicht grüßen, dachte er, oder zwar grüßen, aber dann mit ihrer Unterhaltung untereinander fortfahren, als ob ich überhaupt nicht da wäre? Oder wenn sie mich einfach stehenlassen und ich allein zwischen den „Aristokraten“ zurückbleibe? - Das Wort „Aristokraten“ (im Sinne eines auserlesenen Kreises innerhalb jedes beliebigen Standes) ist bei uns in Rußland, wo es eigentlich überhaupt keinen Platz haben sollte, seit einiger Zeit sehr populär geworden und in alle Gegenden und alle Bevölkerungsschichten eingedrungen, in denen die Eitelkeit um sich gegriffen hat (und unter welchen Lebensbedingungen und unter welchen Umständen hätte sich nicht diese erbärmliche Eigenschaft breitgemacht?) - es geht unter Kaufleuten, Beamten, Schreibern, Offizieren um, in Saratow, in Mamadysch, in Winniza, überall, wo es Menschen gibt. Und da es in dem belagerten Sewastopol viele Menschen gab, gab es folglich auch viel Eitelkeit, das heißt viele „Aristokraten“, obwohl über dem Haupte jedes „Aristokraten“ und „Nichtaristokraten“ in jedem Augenblick der Tod schwebte. Für den Hauptmann Obshogow war Stabshauptmann Michailow ein „Aristokrat“, weil er einen sauberen Mantel und Handschuhe trug, und er konnte ihn deswegen nicht leiden, obschon er ihm eine gewisse Achtung zollte; für den Stabshauptmann Michailow war der Adjutant Kalugin ein „Aristokrat“, weil er -34-
Adjutant war und sich mit einem anderen Adjutanten duzte; er war aus diesem Grunde nicht besonders gut auf ihn zu sprechen, hatte jedoch Respekt vor ihm. Für den Adjutanten Kalugin war Graf Nordow „Aristokrat“, aber er schimpfte ständig über ihn und verachtete ihn im Grunde seiner Seele, weil er Flügeladjutant war. Das Wort „Aristokrat“ ist ein schreckliches Wort. Warum lacht der Unterleutnant Sobow so gezwungen, obwohl es keinen Grund zum Lachen gibt, wenn er an seinem Kameraden vorbeigeht, der sich in Gesellschaft eines Stabsoffiziers befindet? Um damit zu zeigen, daß er, obschon kein „Aristokrat“, dennoch durchaus nicht weniger wert ist als diese beiden. Warum spricht der Stabsoffizier mit so monotoner, wehmütig träger Stimme? Um seinen Gesprächspartner merken zu lassen, daß er „Aristokrat“ ist und sich sehr herabläßt, wenn er mit einem Unterleutnant spricht. Warum fuchtelt der Junker so mit den Armen und zwinkert vielsagend, während er hinter einer Dame hergeht, die er zum ersten Male sieht und unter keinen Umständen anzureden wagen wird? Um allen Offizieren zu beweisen, daß er, obwohl er vor ihnen die Mütze zieht, dennoch ein „Aristokrat“ sei und sich sehr wohl fühle. Warum hat der Artilleriehauptmann die gutmütige Ordonnanz in so grobem Ton abgefertigt? Um vor allen zu bekunden, daß er nie liebedienert und sich nicht das geringste aus „Aristokraten“ macht. Und so geht es endlos weiter. Eitelkeit, Eitelkeit allenthalben - sogar am Rande des Grabes und unter Menschen, die bereit sind, um einer hohen Überzeugung willen zu sterben. Eitelkeit! Sie ist anscheinend ein charakteristischer Zug und eine besondere Krankheit unseres Zeitalters. Warum haben sich die Menschen früherer Zeiten, soviel man weiß, nie über diese Seuche aufgeregt wie etwa über Pocken oder die Cholera? Warum gibt es in unserem Zeitalter nur drei Arten von Menschen: solche, die das Prinzip der Eitelkeit als eine zwangsläufig gegebene und darum gerechtfertigte Tatsache ansehen, der sie sich freiwillig unterordnen; solche, die sie als eine unglückselige, aber -35-
unüberwindliche Erscheinung hinnehmen, und solche, die unbewußt und sklavisch unter ihrem Einfluß handeln? Warum haben Homer und Shakespeare über Liebe, über Ruhm und Leiden gesprochen, während die Literatur unseres Zeitalters nur eine endlose Geschichte der „Snobs“ und der „Eitelkeit“ darstellt? Nachdem Stabshauptmann Michailow zweimal unschlüssig an der Gruppe „seiner Aristokraten“ vorübergegangen war, nahm er sich beim dritten Male ein Herz und trat an sie heran. Diese Gruppe bildeten vier Offiziere: der Adjutant Kalugin, mit dem Michailow bekannt war, der Adjutant Fürst Galzin, dem selbst Kalugin das „Aristokratentum“ nicht ganz absprach, ferner der Oberstleutnant Neferdow, der zu den sogenannten hundertzweiundzwanzig Vertretern der Gesellschaft gehörte, die sich, teils aus Patriotismus, teils aus Eitelkeit, in der Hauptsache aber deshalb, weil es alle taten, aus dem Ruhestand wieder zum Dienst gemeldet hatten - ein alter Junggeselle, der in den Moskauer Klubs zu Hause war und sich hier der Gruppe von Unzufriedenen angeschlossen hatte, die nichts taten, nichts verstanden und alle Anordnungen ihrer Vorgesetzten verurteilten, und schließlich der Rittmeister Praskuchin, der ebenfalls zu den hundertzweiundzwanzig Helden zählte. Zum Glück für Michailow war Kalugin in ausgezeichneter Stimmung (der General hatte kurz zuvor eine höchst vertrauliche Unterredung mit ihm geführt, und Fürst Galzin, der aus Petersburg eingetroffen war, hatte bei ihm Wohnung genommen); er hielt es nicht für unter seiner Würde, dem Stabshauptmann Michailow die Hand zu reichen, wozu sich Praskuchin - der mit Michailow sehr häufig auf der Bastion zusammentraf, sich wiederholt von ihm mit Wein und Schnaps hatte bewirten lassen und ihm sogar zwölfeinhalb Rubel von einer Kartenpartie her schuldete - nicht entschließen konnte. Da er den Fürsten Galzin noch nicht recht kannte, wollte er sich vor ihm nicht durch seine Bekanntschaft mit einem einfachen -36-
Stabshauptmann der Infanterie bloßstellen; er begnügte sich also mit einem leichten Kopfnicken. „Nun, Hauptmann, wann geht es wieder auf die Bastion?“ fragte Kalugin. „Erinnern Sie sich noch, wie wir einander auf der Schwarzow-Redoute begegneten? Da ging es heiß her, nicht wahr?“ „Ja, sehr heiß“, erwiderte Michailow, den dabei die Erinnerung daran bedrückte, was für eine traurige Figur er in jener Nacht gemacht hatte, als er gebückt durch den Laufgraben zur Bastion geschlichen und Kalugin ihm in schneidiger Haltung und munter mit dem Säbel rasselnd entgegengekommen war. „Ich müßte eigentlich erst morgen hin“, fuhr Michailow fort, „aber einer unserer Offiziere ist erkrankt und deshalb...“ Er wollte erzählen, daß er noch nicht an der Reihe sei, es aber infolge der Erkrankung des Kommandeurs der achten Kompanie, in der nur ein Fähnrich zur Verfügung stehe, für seine Pflicht gehalten habe, für den Leutnant Nieprzytrzecki einzuspringen, und deshalb schon heute auf die Bastion gehe. Kalugin hörte ihn nicht bis zu Ende an. „Ich habe es im Gefühl, daß es dieser Tage etwas geben wird“, sagte er zum Fürsten Galzin. „Meinen Sie nicht, daß es heute etwas geben wird?“ fragte Michailow schüchtern und sah abwechselnd Kalugin und Galzin an. Niemand antwortete ihm, Fürst Galzin legte nur die Stirn in Falten, blickte an Michailows Mütze vorbei und sagte nach kurzem Schweigen: „Ein hübsches Mädel, das da drüben mit dem roten Tuch! Kennen sie sie vielleicht, Hauptmann?“ „Es ist die Tochter eines Matrosen, der im Hause neben mir wohnt“, antwortete der Stabshauptmann. „Kommen Sie, wir wollen sie uns genauer ansehen!“ Damit hakte sich der Fürst von der einen Seite bei Kalugin, von der anderen bei Michailow ein, ohne weiteres voraussetzend, daß dies dem Stabshauptmann ein großes Vergnügen bereiten müsse, was auch tatsächlich zutraf. -37-
Der Stabshauptmann war abergläubisch und hielt es für eine große Sünde, sich vor einem Gefecht mit Frauensleuten einzulassen; in diesem Falle jedoch gab er sich den Anschein, ein großer Luftikus zu sein, womit er allerdings bei Kalugin und dem Fürsten Galzin keinen Glauben fand und das junge Mädchen mit dem roten Kopftuch, das schon oftmals bemerkt hatte, wie er beim Vorbeikommen an ihrem Fenster errötet war, sehr in Erstaunen setzte. Praskuchin, der nachfolgte, stieß den Fürsten Galzin alle Augenblicke am Arm und machte verschiedene Bemerkungen in französischer Sprache; da aber der Weg für vier nebeneinander nicht genügend Platz bot, war er gezwungen, allein zu gehen, und erst beim zweiten Rundgang nahm er den für besonders tapfer geltenden Marineoffizier Serwjagin am Arm, der auf ihn zugekommen war und ihn angeredet hatte, weil er sich ebenfalls der „Aristokratengruppe“ anzuschließen wünschte. Und der vielgepriesene Krieger hakte sich mit seinem muskulösen Arm, der schon so manchen Feind niedergestreckt hatte, höchst erfreut bei Praskuchin ein, der aller Welt und auch Serwjagin selber als ein in nicht allzu gutem Ruf stehender Mensch bekannt war. Praskuchin wollte dem Fürsten Galzin nun eine Erklärung für seine Bekanntschaft mit diesem Marineoffizier geben und flüsterte ihm zu, daß es sich um einen berühmten Kriegshelden handele; doch Fürst Galzin, der tags zuvor auf der vierten Bastion gewesen war und erlebt hatte, daß zwanzig Schritt von ihm entfernt eine Bombe explodierte, bildete sich ein, nicht weniger heldenhaft zu sein als dieser Herr, und da er überdies der Ansicht war, daß Ruhm sehr oft unverdient erworben wird, schenkte er Serwjagin keinerlei Beachtung. Stabshauptmann Michailow war es so angenehm, in Gesellschaft dieser Offiziere zu promenieren, daß er nicht nur den lieben Brief aus T. und die drükkenden Gedanken vergaß, die ihn angesichts des bevorstehenden Dienstes auf der Bastion befallen hatten, sondern vor allem auch, daß er um sieben Uhr zu Hause sein mußte. Er verweilte so lange bei ihnen, bis sie sich -38-
schließlich nur noch miteinander unterhielten, seinen Blicken auswichen, um ihm zu verstehen zu geben, daß er gehen könne, und sich endlich ganz von ihm trennten. Aber dennoch war der Stabshauptmann befriedigt, und als er an dem Junker Baron Pest vorbeikam, der besonders stolz und eingebildet war, nachdem er gestern erstmalig eine Nacht im Unterstand der fünften Bastion zugebracht hatte und sich daher für einen Helden hielt, verdroß ihn nicht im geringsten die anmaßende Miene, mit der der Junker vor ihm Haltung annahm und die Mütze zog. 4 Doch kaum hatte der Stabshauptmann die Schwelle seiner Wohnung überschritten, als er von ganz anderen Gedanken ergriffen wurde. Er erblickte sein winziges Zimmer mit dem unebenen Lehmfußboden und den schiefen, mit Papier verklebten Fenstern, sein altes Bett mit dem Wandteppich darüber, auf dem eine Amazone dargestellt war und zwei Tulaer Pistolen hingen, das schmutzige Bett des Junkers, mit dem er das Zimmer teilte, und die Kattundecke darauf; er sah seinen Burschen Nikita, der mit zerzaustem, fettigem Haar vom Fußboden aufstand und sich den Kopf kratzte; er sah seinen alten Mantel, die mit der Aasseite des Leders nach innen genähten Stiefel, das zum Mitnehmen auf die Bastion vorbereitete kleine Bündel, aus dem das Ende eines seifigen Käses und der Hals einer mit Schnaps gefüllten Porterflasche herausragten - und ihn packte Entsetzen, als ihm nun plötzlich einfiel, daß er sich mit der Kompanie für die ganze nächste Nacht auf die Schanzen begeben sollte. Sicherlich werde ich diesmal nicht mit dem Leben davonkommen, ich habe das im Gefühl, dachte der Stabshauptmann. Und das ärgerlichste dabei ist, daß ich noch gar nicht an der Reihe war, daß ich mich selbst dazu erboten habe. Wer sich vordrängt, wird immer getötet. Und was fehlt überhaupt diesem verwünschten Nieprzytrzecki? Es ist sehr gut möglich, daß er gar nicht krank ist und daß nun seinetwegen ein -39-
Mensch getötet wird, denn daß ich fallen werde, ist gewiß. Übrigens, wenn mir nichts geschieht, kann ich sicherlich mit einer Auszeichnung rechnen. Ich sah, wie angenehm der Regimentskommandeur berührt war, als ich ihn bat, er möge gestatten, daß ich für den kranken Leutnant Nieprzytrzecki einspringe. Wenn schon keine Beförderung zum Major, so ist mir doch zum mindesten der Wladimir sicher. Ich gehe ja schon zum dreizehnten Male auf die Bastion. Auch das noch - dreizehn ist eine Unglückszahl! Gewiß werde ich fallen, ich fühle es im voraus, daß ich fallen werde. Doch irgend jemand mußte ja einspringen, man konnte die Kompanie doch nicht dem Fähnrich überlassen, denn wenn dann etwas schiefgegangen wäre, hätte es die Ehre des Regiments, die Ehre der Armee gekostet. Es war meine Pflicht, mich zu melden ... ja, meine Pflicht. Aber es gibt eine Vorahnung... Der Stabshauptmann vergaß, daß ihn eine derartige Vorahnung in mehr oder weniger starkem Grade jedesmal befallen hatte, wenn er sich auf die Bastion begeben mußte, und wußte nicht, daß jeder, der sich an die Front begibt, mehr oder weniger von einer ähnlichen Vorahnung bedrückt wird. Nachdem sich der Stabshauptmann durch diese Auslegung seiner Pflicht, die bei ihm, wie überhaupt bei allen nicht besonders intelligenten Menschen, sehr stark ausgeprägt war, einigermaßen beruhigt hatte, setzte er sich an den Tisch und schrieb einen Abschiedsbrief an seinen Vater, zu dem sein Verhältnis wegen Geldangelegenheiten seit einiger Zeit etwas getrübt war. Als er den Brief nach zehn Minuten fertig hatte, erhob er sich mit tränenfeuchten Augen vom Tisch und sagte, während er sich anzukleiden begann, in Gedanken sämtliche Gebete her, die er kannte (denn laut zu beten war ihm in Gegenwart des Burschen peinlich). Er hätte gern das Bildchen des heiligen Mitrofani geküßt, mit dem ihn seine verstorbene Mutter einst gesegnet hatte und in das er besonderes Vertrauen setzte; da er sich aber schämte, dies im Beisein Nikitas zu tun, ordnete er die -40-
Heiligenbildchen auf der Brust so an, daß er sie draußen, ohne den Mantel aufzuknöpfen, herausziehen konnte. Der angetrunkene und mißgelaunte Bursche reichte ihm nachlässig den neuen Rock (der alte, den der Stabshauptmann gewöhnlich anzog, wenn er sich auf die Bastion begab, war nicht ausgebessert). „Warum ist der Rock nicht ausgebessert? Du willst nur immer schlafen, Faulpelz!“ sagte Michailow wütend. „Wann schlafe ich denn?“ brummte Nikita. „Den ganzen lieben Tag renne ich wie ein Hund umher; man ist zum Umfallen müde, und da soll man nicht mal einschlafen.“ „Du bist wieder betrunken, wie ich sehe.“ „Ich habe mich nicht für Ihr Geld betrunken; warum machen Sie mir da Vorwürfe?“ „Schweig, du Rindvieh!“ schrie der Stabshauptmann und war nahe daran, dem Burschen einen Schlag zu versetzen; ohnehin schon gereizt, hatte ihn Nikitas Frechheit vollends um seine Selbstbeherrschung gebracht und besonders gekränkt, weil er den Burschen, mit dem er schon zwölf Jahre zusammen hauste, gut leiden mochte und sogar verwöhnte. „Rindvieh? Rindvieh?“ wiederholte Nikita. „Warum beschimpfen Sie mich so, Herr? Ist jetzt die Zeit danach? Es ist nicht gut, zu schimpfen.“ Michailow besann sich darauf, wohin er gehen sollte, und war beschämt. „Du kannst aber auch wirklich jeden um seine Geduld bringen, Nikita“, sagte er in mildem Ton. „Den Brief dort an meinen Vater laß auf dem Tisch liegen, und rühre ihn nicht an“, fügte er errötend hinzu. „Zu Befehl“, antwortete Nikita, der unter der Wirkung des „für sein eigenes Geld“ getrunkenen Schnapses rührselig geworden war und, sichtlich in dem Wunsche zu weinen, mit den Augen blinzelte. Und als der Stabshauptmann dann vor der Haustür „Lebe wohl, Nikita!“ sagte, brach dieser wirklich in ein erzwungenes -41-
Schluchzen aus und stürzte auf seinen Herrn zu, um ihm die Hände zu küssen. „Leben Sie wohl, Herr!“ stammelte er unter Tränen. Die alte Witwe eines Matrosen, die sich vor der Haustür aufhielt und als Frau von dieser rührseligen Szene natürlich mit ergriffen wurde, wischte sich mit ihrem schmutzigen Ärmel über die Augen, und, nachdem sie etwas davon gemurmelt hatte, daß jetzt sogar Herrschaften solches Leid auf sich nehmen müßten und daß sie, ein armes Geschöpf, als Witwe zurückgeblieben sei, erzählte sie dem betrunkenen Nikita zum hundertsten Male von ihrem Unglück: wie ihr Mann schon beim ersten „Bonderment“ umgekommen und wie ihr Häuschen vollständig zertrümmert worden sei (das Haus, in dem sie jetzt wohnte, gehörte nicht ihr). Nikita seinerseits zündete sich nach dem Fortgang seines Herrn eine Pfeife an, bat die Wirtstochter, ihm Schnaps zu holen, und hörte nicht nur sehr bald zu weinen auf, sondern zettelte im Gegenteil mit der Alten einen Streit wegen eines Eimers an, den sie angeblich zerbeult hatte. Vielleicht werde ich auch nur verwundet, überlegte der Stabshauptmann, während er sich, als es bereits dunkelte, mit seiner Kompanie der Bastion näherte. Aber wo und wie? Hier oder da? dachte er, in Gedanken auf die Brust oder den Leib zeigend. Wenn sie hier träfe - er dachte an den Oberschenkel und nur außen streifte... Wenn ich aber hierher getroffen werde und es ein Granatsplitter ist, dann ist alles aus! Der Stabshauptmann langte indessen, gebückt durch die Laufgräben gehend, wohlbehalten an den Schanzen an, teilte, nunmehr schon in völliger Dunkelheit, gemeinsam mit einem Pionieroffizier die Leute für die Arbeiten ein und setzte sich in eine Grube unter der Brustwehr. Der gegenseitige Beschuß war nicht lebhaft; nur ab und zu blitzte auf unserer oder auf der feindlichen Seite ein Lichtschein auf, und die leuchtende Röhre einer Bombe zeichnete am dunklen Sternenhimmel einen feurigen Bogen. Aber alle Bomben gingen weit hinter oder rechts von der Verschanzung nieder, in der der Stabshauptmann -42-
in seiner Grube saß, so daß er sich etwas beruhigte, einen Schnaps trank, dazu ein Stück von seinem seifigen Käse aß und, nachdem er gebetet hatte, ein wenig schlafen wollte. 5 Fürst Galzin, Oberstleutnant Neferdow, der Junker Baron Pest, der ihnen auf dem Boulevard begegnet war, und Praskuchin, den niemand aufgefordert und mit dem sich niemand unterhalten hatte, der aber nicht von ihnen wich - sie alle begaben sich vom Boulevard mit Kalugin zum Teetrinken in dessen Wohnung. „Du hast mir die Sache mit Waska Mendel noch nicht zu Ende erzählt“, sagte Kalugin, nachdem er seinen Mantel abgelegt, den Kragen seines sauberen gestärkten Hemdes aus holländischem Leinen aufgeknöpft und am Fenster in einem bequemen Polstersessel Platz genommen hatte. „Wie ist es denn zu seiner Heirat gekommen?“ „Das ist zum Totlachen, mein Lieber! Je vous dis, il y avait un temps oú on ne parlait que de ça à Pétersbourg“, antwortete Galzin lachend und sprang vom Klavier auf, an dem er gesessen hatte, um sich neben Kalugin auf dem Fensterbrett niederzulassen. „Es ist einfach zum Totlachen. Ich kenne schon alle Einzelheiten...“ Und er erzählte vergnügt, geistreich und gewandt eine Liebesgeschichte, die wir hier auslassen wollen, weil sie für uns ohne Interesse ist. Bemerkenswert aber ist, daß nicht nur Fürst Galzin, sondern auch alle übrigen Herren - von denen einer auf dem Fensterbrett saß, ein anderer mit angezogenen Beinen hockte, ein dritter sich am Klavier niedergelassen hatte - hier ganz andere Menschen zu sein schienen als auf dem Boulevard: es war nichts. mehr von dem lächerlic h aufgeblasenen und anmaßenden Benehmen zu merken, das sie vor den Infanterieoffizieren an den Tag gelegt hatten; hier, wo sie unter sich, unter ihresgleichen waren, benahmen sie sich ungezwungen und erwiesen sich, namentlich Kalugin und Galzin, als sehr nette, gutmütige und vergnügte -43-
Leute. Man unterhielt sich über Petersburger Kameraden und Bekannte. „Was macht Maslowski?“ „Welcher? Der von den Leibulanen oder der Kavalleriegardist?“ „Ich kenne beide. Der Kavalleriegardist war zu meiner Zeit noch ein junges Bürschchen, gerade mit der Schule fertig. Wie steht's mit dem älteren? Ist er schon Rittmeister?“ „O ja, schon lange.“ „Und gibt er sich immer noch mit seiner Zigeunerin ab?“ „Nein, der hat er den Laufpaß gegeben.“ Nachdem man sich eine Weile in dieser Weise unterhalten hatte, setzte sich Fürst Galzin ans Klavier und trug sehr hübsch ein Zigeunerliedchen vor. Praskuchin sang, obwohl ihn niemand dazu aufgefordert hatte, die zweite Stimme mit, und zwar so gut, daß er nun gebeten wurde, auch weiter mitzusingen, worüber er sich sehr freute. Ein Diener trat ein, der auf einem silbernen Tablett Tee, Sahne und Brezeln brachte. „Biete dem Fürsten an“, sagte Kalugin. „Man kann sich wirklich kaum vorstellen“, sagte Galzin, der sich ein Glas Tee genommen hatte und ans Fenster trat, „daß wir uns hier in einer belagerten Stadt befinden: mit Klavierspiel, Tee und Sahne und einer Wohnung, wie ich sie mir schöner auch in Petersburg nicht wünschen könnte.“ „Ja, wenn auch das noch fehlte...“, bemerkte der stets unzufriedene alte Oberstleutnant. „Dieses ewige Warten auf irgendein Ereignis, dieser Anblick, wie täglich Menschen fallen, ohne daß ein Ende abzusehen ist, wäre einfach unerträglich, wenn wir dazu auch noch im Schmutz wohnen und auf alle Bequemlichkeiten verzichten müßten.“ „Was sollen dann unsere Infanterieoffiziere sagen“, warf Kalugin ein, „die auf den Bastionen mit den Soldaten zusammen in den Unterständen hausen und Borstsch aus dem Mannschaftskessel essen? Wie muß denen zumute sein?“ -44-
„Ja, das verstehe ich nicht“, sagte Galzin, „und ich kann mir, offen gestanden, auch nicht vorstellen, daß Menschen in schmutziger Wäsche, verlaust und mit ungewaschenen Händen tapfer sein können. Nein, weißt du, cette belle bravoure de gentilhomme ist dabei unmöglich.“ „Diese Art Tapferkeit verstehen sie auch nicht“, bemerkte Praskuchin. „Rede doch keinen Unsinn!“ unterbrach ihn Kalugin schroff. „Ich habe sie hier gründlicher kennengelernt als du und werde immer und überall behaupten, daß unsere Infanterieoffiziere, obschon sie Läuse haben und zehn Tage lang nicht die Wäsche wechseln, wahre Helden und bewunderungswürdige Menschen sind.“ In diesem Augenblick betrat ein Infanterieoffizier das Zimmer. „Ich... ich habe Befehl... Kann ich den Gene... Seine Exzellenz sprechen? Im Auftrag von General N. N.“, brachte er, sich verbeugend, schüchtern hervor. Kalugin stand auf und fragte den Offizier, ohne dessen Gruß zu erwidern, mit einer verletzend übertriebenen Höflichkeit und einem erkünstelten offiziellen Lächeln, ob er die Güte haben wolle, ein wenig zu warten. Dann drehte er sich, ohne ihn zum Sitzen aufzufordern und weiter zu beachten, zu Galzin um und begann mit diesem ein Gespräch in französischer Sprache, so daß der arme Offizier, der in der Mitte des Zimmers stehengeblieben war, schließlich nicht wußte, was er mit sich selbst und seinen hilflos herabhängenden unbehandschuhten Händen anfangen sollte. „Die Angelegenheit ist äußerst dringend“, sagte er, nachdem er eine Weile schweigend gewartet hatte. „So! Dann darf ich bitten“, sagte Kalugin, worauf er seinen Mantel anzog und den Offizier, wiederum mit einem verletzenden Lächeln, zur Tür geleitete. „Eh bien, messieurs, je crois que cela chauffera cette nuit“, sagte Kalugin, als er vom General zurückkam. -45-
„Was gibt es denn? Was? Ein Ausfall?“ wurde er mit Fragen bestürmt. „Ich weiß es nicht, ihr werdet es selbst sehen“, antwortete Kalugin mit einem geheimnisvollen Lächeln. „So sage es mir doch“, drang Baron Pest in ihn. „Wenn es heute zu etwas kommt, muß ich mit dem T. sehen Regiment in der vordersten Linie sein.“ „Dann geh doch in Gottes Namen!“ „Mein Chef ist auch auf der Bastion, da muß ich wohl ebenfalls hin“, sagte Praskuchin und schnallte seinen Säbel um. Niemand antwortete ihm: er mußte selber wissen, was er zu tun und zu lassen hatte. „Es wird heute gar nichts geben, das ahne ich“, erklärte Baron Pest, während er zugleich mit beklommenem Herzen an den bevorstehenden Kampf dachte, die Mütze aber keck aufs Ohr rückte und zusammen mit Praskuchin und Neferdow, die ebenfalls voll banger Erwartung auf ihre Posten eilten, mit festen, schallenden Schritten das Zimmer verließ. „Leben Sie wohl, meine Herren!“ - „Auf Wiedersehen, meine Herren! Noch heute nacht treffen wir uns wieder“, rief Kalugin ihnen aus dem Fenster nach, als Praskuchin und Pest, tief über die Pausche des Kosakensattels gebeugt und sich wohl als Kosaken fühlend, auf der Straße davonsprengten. „Ja, ein wenig!“ rief der Junker zurück, der nicht richtig verstanden hatte, was ihm nachgerufen worden war, und bald darauf verklang das Getrappel der kleinen Kosakenpferde in der dunklen Straße. „Non, dites- moi, est-ce qu'il y aura véritablement quelque chose cette nuit?“ sagte Galzin zu Kalugin, während beide im Fenster lagen und die Bomben beobachteten, die über den Bastionen aufstiegen. „Nun, dir kann ich es ja sagen, paß mal auf... Du bist doch schon auf den Bastionen gewesen?“ Galzin nickte bejahend, obwohl er erst ein einziges Mal dort gewesen war, und zwar auf der vierten Bastion. „Also, gegenüber unserer Lünette befand sich eine -46-
Tranchee...“ Und Kalugin, der kein Fachmann war, sich aber sehr viel auf sein militärisches Urteil einbildete, begann, allerdings etwas verworren und die militärtechnischen Ausdrücke vielfach durcheinanderbringend, die Lage unserer und der feindlichen Befestigungsanlagen sowie den Plan des vorgesehenen Unternehmens auseinanderzusetzen. „Hör mal! Auf den Schanzen beginnen sie schon zu knattern. Oho! Kommt die von uns oder von drüben? Jetzt explodiert sie!“ Die beiden Offiziere tauschten Bemerkungen aus, während sie vom Fenster aus die sich in der Luft schneidenden feurigen Linien der Bomben, das Aufblitzen der Schüsse, das für einen Augenblick den dunkelblauen Himmel beleuchtete, und den weißen Pulverdampf beobachteten und auf das sich immer mehr verstärkende Dröhnen der Kanonade horchten. „Quel charmant coup d'œil! Nicht wahr?“ Kalugin machte seinen Gast auf dieses in der Tat schöne Schauspiel aufmerksam. „Manchmal sind die Bomben nicht von den Sternen zu unterscheiden.“ „Ja, ich hielt auch eben eine für einen Stern, bis sie dann niederging und explodierte. Und jener große Stern dort - wie heißt er eigentlich? - , der sieht auch ganz aus wie eine Bombe.“ „Weißt du, ich bin jetzt dermaßen an die Bomben gewöhnt, daß ich bestimmt glaube, in Rußland werde ich später in einer sternenklaren Nacht alle Sterne für Bomben halten. So gewöhnt man sich daran.“ „Sollte ich mich nicht auch an dem Ausfall beteiligen?“ meinte Fürst Galzin nach kurzem Schweigen; er schauderte zwar allein schon bei dem Gedanken, sich während dieser fürchterlichen Kanonade auf den Schanzen aufzuhalten, dachte aber zugleich mit Befriedigung daran, daß man ihn unter keinen Umständen nachts dorthin beordern könne. „Unsinn, mein Lieber! Das schlage dir aus dem Kopf, und ich würde dich auch gar nicht fortlassen“, antwortete Kalugin, der sehr wohl wußte, daß sich Galzin um keinen Preis auf die -47-
Schanzen begeben würde. „Du wirst noch bald genug hinkommen.“ „Wirklich? Du meinst also, ich muß nicht hin?“ Da ertönte aus der Richtung, in welche die beiden Herren blickten, nach dem vorausgegangenen Geschützdonner ein furchtbares Gewehrfeuer, und Tausende von kleinen Flämmchen blitzten ununterbrochen auf der ganzen Linie auf. „Jetzt ist es richtig losgegangen!“ sagte Kalugin. „Dieses Knattern der Gewehre packt mich immer so, daß ich es nie kaltblütig anhören kann. Nun wird , hurra!' gerufen“, fügte er hinzu, als aus der Ferne von den Bastionen ein vielhundertstimmiges „... aaa!“ herüberschallte. „Wer ruft, hurra'? Unsere Leute oder die von drüben?“ „Ich weiß es nicht. Jetzt muß der Nahkampf begonnen haben, da das Gewehrfeuer aufgehört hat.“ In diesem Augenblick kam ein Ordonnanzoffizier mit einem Kosaken angesprengt, hielt unter dem Fenster vor der Haustür an und saß ab. „Woher?“ „Von der Bastion. Ich muß den General sprechen.“ „Kommen Sie herein. Was gibt's?“ „Sie haben unsere Schanzen angegriffen... und besetzt; die Franzosen führten riesige Reserven heran ... stürmten... wir hatten nur zwei Bataillone da“, berichtete schweratmend der Offizier - derselbe, der am Abend dagewesen war - und ging diesmal ohne weitere Umschweife auf die Tür zu. „Hat sich unsere Besatzung zurückgezogen?“ fragte Galzin. „Nein, es kam noch rechtzeitig ein weiteres Bataillon an, und wir schlugen die Feinde zurück“, antwortete der Offizier schroff. „Aber der Regimentskommandeur und viele Offiziere sind gefallen, und ich bin beauftragt, um Verstärkung zu bitten.“ Mit diesen Worten begab er sich mit Kalugin zum General, wohin wir ihm nicht folgen wollen. Fünf Minuten später saß Kalugin bereits auf einem Kosakenpferd und sprengte (wiederum in jener eigentümlichen, -48-
quasi kosakenmäßigen Sitzart, an der, wie ich bemerkt habe, alle Adjutanten aus irgendwelchen Gründen einen besonderen Reiz finden) zur Bastion, um dort verschiedene Befehle des Generals zu überbringen und Nachrichten über den endgültigen Ausgang der Kämpfe abzuwarten, indes sich Fürst Galzin, getrieben von jener quälenden Erregung, die die Anzeichen in der Nähe vor sich gehender Kämpfe gewöhnlich bei den an ihnen nicht beteiligten Menschen hervorrufen, auf die Straße begab und ziellos auf und ab ging. 6 Gruppen von Soldaten erschienen, die Verwundete auf Tragbahren transportierten oder sie unter die Achseln gefaßt führten. Draußen war es stockfinster; nur hier und da sah man die erleuchteten Fenster eines Lazaretts oder einer Wohnung, in der noch Offiziere beisammensaßen. Von den Bastionen schallte unvermindert das Dröhnen von Geschützen und Gewehrfeuer herüber, und am dunklen Himmel blitzten immer noch kleine Flämmchen auf. Von Zeit zu Ze it ertönte das Getrappel des Pferdes eines vorübersprengenden Ordonnanzoffiziers, das Stöhnen eines Verwundeten, die Schritte und Stimmen der Träger oder die Stimmen der aufgeschreckten Einwohner, die vor die Tür getreten waren, um die Kanonade zu beobachten. Unter den Einwohnern befanden sich auch der uns bereits bekannte Nikita, die alte Matrosenwitwe, mit der er sich inzwischen wieder versöhnt hatte, und deren zehnjährige Tochter. „Mein Gott, allerheiligste Gottesmutter!“ murmelte die Alte seufzend vor sich hin, während sie auf die Bomben blickte, die wie kleine Feuerbälle unaufhörlich von einer Seite zur anderen flogen. „Welch ein Schrecken, welch ein Schrecken, oooh! So schlimm war's nicht mal beim ersten Bonderment. Da platzt wieder so eine Verdammte - grade über unsrem Haus in der Vorstadt.“ -49-
„Nein, das ist weiter weg“, sagte das Mädchen. „Sie fallen alle bei Tantchen Arinka in den Garten.“ „Und wo steckt jetzt wohl mein Herr?“ ließ sich Nikita, der noch nicht ganz nüchtern war, in singendem Tonfall vernehmen. „Ich liebe ja meinen Herrn so, daß ich es gar nicht sagen kann. Er schlägt mich, aber trotzdem liebe ich ihn ganz schrecklich. So sehr hab ich ihn lieb, daß ich, wenn er, Gott behüte, schändlich umkommen sollte, selbst nicht weiß, was ich mir dann antun würde, das können Sie mir glauben, Tantchen. Bei Gott! So einen Herrn wie ihn, den gibt's nur einmal. Kann man ihn denn mit denen vergleichen, die dort Karten spielen? Das sind lauter pfui! mit einem Wort“, schloß Nikita. Er zeigte auf das helle Fenster des Zimmers seines Herrn, in dem der Junker Zwadczewski in Abwesenheit des Stabshauptmanns mit Gästen zechte, die er anläßlich seiner Auszeichnung mit einem Orden eingeladen hatte: mit dem Unterleutnant Ugrowitsch und dem nämlichen Leutnant Nieprzyt rzecki, der sich nicht auf die Bastion begeben konnte, weil er an einem Zahngeschwür litt. „Sternchen, immerzu fliegen Sternchen“, unterbrach das kleine Mädchen mit einem Blick auf den Himmel das Schweigen, das nach den Worten Nikitas eingetreten war. „Da! Da ist noch eins heruntergeflogen! Warum machen sie das, Mamalein?“ „Sie werden unser Häuschen noch ganz zertrümrnern“, sagte seufzend die Alte, ohne auf die Frage des Mädchens einzugehen. „Als ich heute mit dem Onkel dort hinging, Mamalein“, fuhr in singendem Tonfall das redselig gewordene Mädchen fort, „da lag eine ganz, ganz große Kugel in der Stube neben dem Schrank: sie hat wohl den Flur durchschlagen und ist dann in die Stube hineingeflogen. Sooo groß ist sie, daß man sie nicht aufheben kann.“ „Alle, die ihre Männer hier hatten und Geld, die sind weggefahren“, sagte die Alte. „Aber wir - oje, oje, das Letzte, was man hatte, unser Häuschen, auch das haben sie zertrümmert. Seht nur, seht nur, wie er feuert, der Satan! Mein Gott, mein Gott!“ -50-
„Und gerade als wir aus der Tür treten, da kommt eine Bombe angesaust, da platzt sie und überschüttet uns so mit Erde, daß mich und den Onkel beinah ein Splitter getroffen hat.“ „Einen Orden müßte sie dafür bekommen“, sagte der Junker, der mit den Offizieren herausgekommen war, um sich die Kanonade anzusehen. „Ja, wirklich, du solltest dich an den General wenden“, sagte Leutnant Nieprzytrzecki und klopfte der Alten auf die Schulter. „Pójdê na ulicê zobaczyæ, co tam nowego“, fügte er hinzu und kam die Stufen herunter. „A my tymczasem napijmy siê? wódki, bo coœ dusza w piê ty ucieka“, sagte lachend der fröhliche Junker Zwadczewski. 7 Immer mehr Verwundete, die auf Tragbahren gebracht wurden oder, sich gegenseitig stützend, zu Fuß ankamen und sich laut unterhielten, begegneten dem Fürsten Galzin. „Wie sie angestürmt kamen, Brüder“, sagte mit tiefer Stimme ein hochaufgeschossener Soldat, der zwei Gewehre über dem Rücken trug, „wie sie angestürmt kamen und, Allah, Allah!'* riefen, einer nach dem anderen. Die einen schlug man zurück, aber die anderen drängten schon nach. Da war nichts zu machen. Unzählige...“ Doch hier unterbrach ihn Galzin. „Kommst du von der Bastion?“ „Jawohl, Euer Wohlgeboren.“ „Also, was hat's dort gegeben? Erzähle!“ „Ja, was hat's gegeben? Sie kamen in unge heurer Menge, Euer Wohlgeboren, stürmten auf den Wall, und damit war's aus. Sie haben uns alle überwältigt, Euer Wohlgeboren.“ „Wieso überwältigt? Ihr habt sie doch zurückgeschlagen?“
*
Unsere Soldaten waren aus den Kämpfen gegen die Türken so an diesen Ruf des Feindes gewöhnt, daß sie immer erzählten, auch die Franzosen riefen «Allah». (Anm. d. Verf.)
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„Wie konnten wir sie denn zurückschlagen, wenn sie mit ihrer ganzen Streitmacht ankamen? Sie haben uns alle niedergemacht, und Verstärkung kam keine.“ Der Soldat irrte sich, denn die Stellung war behauptet worden; es ist aber eine Eigentümlichkeit, die man allgemein beobachten kann: jeder Soldat, der bei einem Kampf verwundet wurde, ist der Meinung, daß er mit einer Niederlage geendet habe und ungemein blutig gewesen sei. „Man hat mir doch gesagt, der Angriff sei abgeschlagen“, sagte Galzin gereizt. In diesem Augenblick kam Leutnant Nieprzytrzecki hinzu, der den Fürsten im Dunkeln an dessen weißer Mütze erkannt hatte und die Gelegenheit benutzen wollte, mit diesem einflußreichen Offizier ein Gespräch anzuknüpfen. „Wissen Sie vielleicht, was eigentlich los war?“ fragte er höflich und legte die Hand an den Mützenschirm. „Ich erkundige mich selbst gerade“, antwortete Galzin und wandte sich wieder an den Soldaten mit den zwei Gewehren. „Ist der Angriff vielleicht nach deinem Fortgang abgeschlagen worden? Wann hast du die Stellung verlassen?“ „Eben erst, Euer Wohlgeboren“, antwortete der Soldat. „Aber die Tranchee ist sicherlich verloren, er hat uns allesamt überwältigt.“ „Schämt ihr euch denn gar nicht - die Tranchee aufzugeben! Das ist ja furchtbar!“ sagte Galzin, der sich über diesen Gleichmut des Soldaten ärgerte. „Schämen solltet ihr euch!“ fügte er hinzu und wandte sich von den Soldaten ab. „Ach, es ist ein schreckliches Volk! Sie kennen es nicht genug“, fiel Leutnant Nieprzytrzecki ein. „Von diesen Leuten, versichere ich Ihnen, kann man weder Stolz noch Patriotismus, noch Ehrgefühl erwarten. Sehen Sie doch mal, in welchen Mengen sie da ankommen! Von ihnen ist höchstens der zehnte Teil verwundet, die übrigen sind alles, Assistenten', denen nur daran liegt, sich dem Kampf zu entziehen. Ein nichtswürdiges Volk! Es ist eine Schande, so zu handeln, Leute, eine Schande!“ fügte -52-
er, sich zu den Soldaten umwendend, hinzu. „Einfach unsere Tranchee aufzugeben!“ „Was soll man machen gegen eine solche Übermacht!“ brummte der Soldat. „Wirklich, Euer Wohlgeboren“, mischte sich da ein Soldat ein, der auf einer Tragbahre vorübergeschafft wurde, „wie sollten wir sie nicht aufgeben, wo er uns doch fast alle niedergemacht hat? Wenn wir genug Leute gewesen wären, hätten wir sie im Leben nicht aufgegeben. Aber so - was sollten wir denn machen? Einen hab ich niedergestochen, aber da bekam ich einen solchen Hieb, daß... Au, au, tragt sachte, Brüder, holpert nicht so... ooh!“ stöhnte der Verwundete. „Es scheinen tatsächlich viele unnötige Mitläufer dabeizusein“, sagte Galzin und hielt nochmals den großen Soldaten mit den zwei Gewehren an. „Wohin gehst du? Heda! Stehenbleiben!“ Der Soldat blieb stehen und nahm mit der linken Hand die Mütze vom Kopf. „Wohin gehst du und wozu?“ herrschte ihn Galzin an. „Du Taugenichts...“ Er wollte fortfahren, doch da bemerkte er, als er jetzt dicht an den Soldaten herankam, daß dessen rechter Arm, den er unter den Rockaufschlag gesteckt hatte, bis über den Ellbogen mit Blut überströmt war. „Ich bin verwundet, Euer Wohlgeboren.“ „Was für eine Verwundung ist es denn?“ „Hier ist wohl eine Kugel durchgegangen!“ Der Soldat deutete auf seinen Arm. „Aber was das am Kopf für eine Wunde ist, kann ich nicht sehen“, sagte er, wobei er sich bückte und das von Blut zusammengeklebte Haar auf seinem Hinterkopf zeigte. „Und wem gehört das zweite Gewehr?“ „Das ist der Stutzen von einem Franzosen, den hab ich ihm abgenommen, Euer Wohlgeboren. Ich wäre ja gar nicht weggegangen, wenn man nicht diesen Soldaten da begleiten müßte, der sonst womöglich noch umkippt“, fügte er hinzu und -53-
zeigte auf einen Soldaten, der vor ihm ging und, sich auf sein Gewehr stützend, das linke Bein mühsam nachschleppte. „Wo willst du denn hin, Halunke?“ fuhr der Leutnant Nieprzytrzecki, der sich bei dem einflußreichen Fürsten durch seinen Eifer lieb Kind machen wollte, eine n anderen Soldaten an. Auch dieser war verwundet. Den Fürsten Galzin überkam plötzlich eine brennende Scham für den Leutnant Nieprzytrzecki und noch mehr für sich selbst. Er fühlte, daß er errötete - was bei ihm selten vorkam -, ließ den Leutnant stehen und begab sich, ohne weitere Verwundete zu befragen und zu mustern, zur Verbandstelle. Nachdem er sich vor dem Eingang mit „Mühe zwischen den sich dahinschleppenden Verwundeten und den Tragbahren, auf denen Verwundete hinein und Tote herausgebracht wurden, durchgedrängt hatte, betrat Galzin den ersten Raum, warf einen Blick hinein, kehrte impulsiv sofort wieder um und eilte auf die Straße hinaus. Das da war allzu fürchterlich! 8 Der große, hohe dunkle Saal, nur durch die vier oder fünf Kerzen erleuchtet, mit denen die Ärzte zur Untersuchung ah die Verwundeten herantraten, war buchstäblich zum Bersten voll. Ununterbrochen kamen Träger mit Verwundeten, legten sie einen neben den anderen auf den Fußboden, auf dem es schon so eng war, daß sich die Ärmsten stießen und einer von des anderen Blut benetzt wurde, und gingen wieder, um weitere Verwundete zu holen. Die Blutlachen, die man an den noch nicht besetzten Stellen sah, der fiebrige Atem mehrerer hundert Menschen und der Schweiß der Träger erzeugten einen besonderen, stickigen und penetranten Geruch, der die ganze Luft erfüllte, in der trübe die vier auf den Saal verteilten Kerzen brannten. Das Gemisch von Gestöhn, Seufzern und Röcheln, das den ganzen Raum durchdrang, wurde hin und wieder von einem herzzerreißenden Schrei übertönt. Schwestern, in deren ruhigen Gesichtern sich nicht leeres, weibisch-weinerliches Mitleid, sondern aktive, -54-
praktische Hilfsbereitschaft ausdrückte, sah man hier und dort über einen Verwundeten hinwegsteigen und sich mit Medikamenten, Wasser, Verbandzeug und Scharpie zwischen blutbefleckten Soldatenmänteln und Hemden fortbewegen. Die Ärzte knieten mit finsteren Gesichtern und aufgekrempelten Ärmeln vor den Verwundeten, neben denen Feldschere Kerzen hielten, steckten die Finger in die Wunden, befühlten sie und drehten die von Säbelhieben getroffenen, schlaff herunterhängenden Glieder um, ohne auf das herzzerreißende Stöhnen und Flehen der armen Dulder zu achten. Einer der Ärzte saß neben der Tür an einem kleinen Tisch und registrierte in dem Augenblick, als Galzin den Raum betreten hatte, bereits den fünfhundertzweiunddreißigsten Verwundeten. „Iwan Bogajew, Soldat der dritten Kompanie des S. sehen Regiments, fractura femoris complicata“, rief ein anderer Arzt vom Ende des Saales herüber, nachdem er das zerschmetterte Bein eines Soldaten abgetastet hatte. „Dreh ihn mal herum!“ „Oooh, meine Wohltäter, die ihr unsere Wohltäter seid!“ schrie der Soldat, und er bat flehentlich, sie sollten ihn nicht anrühren. „Perforatio capitis!“ „Semjon Neferdow, Oberstleutnant des N. schen Infanterieregiments. Sie müssen sich schon ein wenig zusammennehmen, Oberst, so geht es nicht, ich kann Sie sonst nicht behandeln“, sagte ein dritter Arzt, der mit einem Häkchen im Kopf des unglücklichen Oberstleutnants herumstocherte. „Au, lassen Sie mich! Au, um Gottes willen, schneller, schneller, um Gottes... oooh!“ „Perforatio pectoris... Sewastjan Sereda, Soldat... Welches Regiment? - Nein, halt, Sie brauchen es nicht erst einzutragen: moritur. Schafft ihn weg!“ sagte der Arzt und trat von einem Soldaten zurück, der röchelnd mit bereits brechenden Augen dalag. Etwa vierzig Sanitätssoldaten, die darauf warteten, auf ihren Tragbahren Verbundene ins Lazarett und Tote in die Kapelle zu -55-
bringen, standen an der Tür und blickten schweigend, von Zeit zu Zeit einen schweren Seufzer ausstoßend, auf dieses Bild,.. 9 Auf dem Wege zur Bastion begegnete Kalugin vielen Verwundeten. Da er aber aus Erfahrung wußte, wie nachteilig sich der Anblick von Verwundeten während der Kampfhandlung auf das Gemüt der Menschen auswirkt, hielt er nicht an, um die Verletzten anzusprechen, sondern bemühte sich im Gegenteil, sie gar nicht zu beachten. Am Fuße des Berges kam ihm von der Bastion in vollem Galopp ein Ordonnanzoffizier entgegengesprengt. „Sobkin! Sobkin! Einen Augenblick!“ „Nun?“ „Woher kommen Sie?“ „Von den Schanzen.“ „Nun, was tut sich dort? Geht's heiß her?“ „Die Hölle ist los! Es ist furchtbar.“ Und der Ordonnanzoffizier sprengte weiter. Das Gewehrfeuer war zwar abgeflaut, doch die Kanonade hatte in der Tat mit erneuter Heftigkeit und Erbitterung eingesetzt. Ach, wie fatal! dachte Kalugin, indes er ein gewisses Unbehagen verspürte und nun ebenfalls von einer Vorahnung beschlichen wurde, das heißt von einem höchst natürlichen Gedanken: dem Gedanken an den Tod. Doch Kalugin war nicht der Stabshauptmann Michailow; er besaß Ehrgeiz, war mit eisernen Nerven gesegnet und, kurz gesagt, das, was man unter tapfer versteht. Er überließ sich nicht dem ersten Gefühl, sondern versuchte, sich Mut zuzuspreche n. Dabei erinnerte er sich eines Adjutanten - Napoleons, glaube ich -, der nach Überbringen eines Befehls mit blutüberströmtem Kopf in vollem Galopp auf Napoleon zugesprengt war. „Vous êtes blessé?“ hatte Napoleon gefragt. - „Je vous demande pardon, Sire, je suis tué.“ Und der -56-
Adjutant war vom Pferd gesunken und auf der Stelle tot zusammengebrochen. Ihm schien dies etwas sehr Schönes zu sein, und sich in Gedanken sogar ein wenig in die Rolle jenes Adjutanten versetzend, schlug er mit der Peitsche auf sein Pferd ein, nahm eine noch schneidigere kosakenmäßige Haltung an, blickte sich nach dem Kosaken um, der, in den Steigbügeln aufgerichtet, hinter ihm her galoppierte, und langte frischen Muts an der Stelle an, wo man absitzen mußte. Hier traf er vier Soldaten, die sich auf den Steinen ein Sitzplätzchen ausgesucht hatten und ein Pfeifchen rauchten. „Was macht ihr hier?“ fuhr er sie an. „Wir haben einen Verwundeten weggebracht, Euer Wohlgeboren, da ruhen wir jetzt ein bißchen aus“, antwortete einer der Soldaten, seine Mütze ziehend und die Pfeife hinter dem Rücken verbergend. „Ist jetzt Zeit zum Ausruhen? Marsch, auf eure Plätze! Ich werde es dem Regimentskommandeur melden.“ Hierauf ging er zusammen mit den Soldaten bergan durch den Laufgraben, in dem ihnen alle Augenblicke Verwundete begegneten. Oben angekommen, bog er in einen nach links abzweigenden Laufgraben ein, und als er in diesem einige Schritte weitergegangen war, sah er sich mutterseelenallein. Ein Granatsplitter flog zischend ganz dicht an ihm vorüber und prallte an die Laufgrabenwand. Vor ihm stieg eine Bombe auf und kam, so schien es ihm, direkt auf ihn zugeflogen. Plötzlich von Furcht gepackt, lief er schnell ein paar Schritte weiter und warf sich auf die Erde. Doch als die Bombe dann in großer Entfernung von ihm explodierte, ärgerte er sich furchtbar über sich selbst. Er stand auf und sah sich um, ob ihn nicht jemand beobachtet hatte; doch es war niemand da. • Wenn die Furcht das Herz erst einmal erfaßt hat, weicht sie nicht so leicht einem ändern Gefühl. Kalugin, der sich immer damit gebrüstet hatte, daß er sich nie bücke, hastete jetzt, so schnell er konnte und fast auf allen vieren, durch den Laufgraben. Ach, das -57-
endet nicht gut, dachte er, als er einmal stolperte, ich werde bestimmt umkommen. Und als er nun merkte, wie schwer ihm das Atmen fiel und daß er ganz in Schweiß gebadet war, wunderte er sich selbst, machte aber keinen Versuch mehr, sein Furchtgefühl zu überwinden. Plötzlich wurden vor ihm Schritte laut. Er richtete sich schnell auf, hob den Kopf und ging, nunmehr mit verlangsamten Schritten, doch forsch mit dem Säbel rasselnd, weiter den Laufgraben entlang. Er erkannte sich selbst nicht wieder. Als er dann mit einem Pionieroffizier und einem Matrosen zusammentraf, die vom anderen Ende des Grabens kamen, als der Offizier ihm zurief: „Hinlegen!“ und dabei auf den leuchtenden Punkt einer Bombe zeigte, die sich, immer intensiver leuchtend, mit ständig zunehmender Geschwindigkeit näherte und neben dem Laufgraben einschlug, da beugte er nur ein wenig, nur als Reflexbewegung auf den durchdringenden Zuruf, den Kopf und setzte seinen Weg fort. „Der hat ja Mut, will sich nicht mal hinlegen!“ sagte der Matrose, der seelenruhig die niedergehende Bombe beobachtet und mit geübtem Auge sofort erkannt hatte, daß die Splitter den Graben nicht erreichen würden. Nur noch wenige Schritte waren es, die Kalugin über einen freien Platz zurücklegen mußte, um zur Blindage des Kommandeurs der Bastion zu kommen, als er aufs neue in Verwirrung geriet und von dieser blöden Furcht gepackt wurde; sein Herz begann heftiger zu klopfen, das Blut stieg ihm in den Kopf, und er mußte seine ganze Willenskraft aufbieten, um zur Blindage hinüberzulaufen. „Wieso sind Sie so außer Atem?“ fragte der General, als Kalugin ihm die Befehle überbrachte. „Ich bin sehr schnell gegangen, Exzellenz.“ „Möchten Sie ein Glas Wein?“ Kalugin leerte ein Glas Wein und zündete sich eine Zigarette an. Der Nahkampf war bereits beendet, und nur das beiderseitige heftige Artilleriefeuer dauerte noch an. In der Blindage saßen -58-
General N. N., der auf der Bastion den Befehl führte, und sechs weitere Offiziere, unter denen sich auch Praskuchin befand, und besprachen verschiedene Einzelheiten der Kämpfe. Hier nun, in diesem behaglichen, blautapezierten Stübchen, das eine Chaiselongue, ein Bett, einen mit Schriftstücken bedeckten Tisch, eine Wanduhr und ein Heiligenbild mit einem brennenden Öllämpchen davor aufwies - als er diesen ganzen Zubehör menschlicher Behausung und die etwa einen Arschin dicken Balken sah, aus denen die Decke bestand, und auf die Kanonade horchte, die hier nur schwach zu hören war, da war es Kalugin ganz unbegreiflich, daß er sich zweimal eine so unverzeihliche Schwäche hatte zuschulden kommen lassen; er ärgerte sich über sich selbst, und ihn verlangte nach einer Gefahr, um sich erneut zu erproben. „Ich freue mich, auch Sie hier anzutreffen,, Kapitän“, wandte er sich an einen schnauzbärtigen Marineoffizier in Stabsoffiziersmantel und mit dem Georgskreuz auf der Brust, der gerade die Blindage betrat und den General bat, ihm Leute zur Verfügung zu stellen, die auf seiner Batterie zwei verschüttete Schießscharten wiederherstellen sollten. „Der General hat mich beauftragt, zu ermitteln“, fuhr Kalugin fort, als der Kommandeur der Batterie das Gespräch mit dem General beendet hatte, „ob Sie mit Ihren Geschützen die Tranchee unter Kartätschenbeschuß nehmen können.“ „Nur ein Geschütz ist intakt“, antwortete der Kapitän mürrisch. „Nun, wir wollen trotzdem hingehen und uns die Sache ansehen.“ Der Kapitän zo g die Stirn kraus und räusperte sich unwillig. „Ich bin dort die ganze Nacht auf den Beinen gewesen und jetzt gekommen, wenigstens eine Weile auszuruhen“, sagte er. „Können Sie nicht allein hingehen? Mein Vertreter, Leutnant Karz, wird Ihnen alles zeigen.“ Der Kapitän, der schon sechs Monate lang eine der gefährdetsten Batterien befehligte, seit Beginn der Belagerung auf der Bastion hauste und diese selbst in der ersten Zeit, als -59-
noch keine Blindagen angelegt waren, keinen Augenblick verlassen hatte, genoß bei den Matrosen den Ruf besonderer Tapferkeit. Um so mehr überraschte Kalugin seine Ablehnung. Da sieht man, was ein solcher Ruf zu bedeuten hat, dachte er. „Nun, dann werde ich eben allein hingehen, wenn Sie gestatten“, sagte er ein wenig spöttisch zum Kapitän, der indessen seine Worte ganz unbeachtet ließ. Kalugin bedachte nicht, daß er auf den Bastionen zu verschiedenen Zeiten alles in allem vielleicht fünfzig Stunden zugebracht hatte, während der Kapitän hier seit sechs Monaten hauste. Kalugin wurde noch von Ehrgeiz angestachelt, von dem Wunsch, sich hervorzutun, von der Hoffnung auf Auszeichnungen, auf Ruhm und von dem Reiz der Gefahr. Der Kapitän hingegen hatte dies alles bereits durchgemacht: zuerst war er ehrgeizig gewesen, hatte den Mutigen gespielt, keine Gefahr gescheut und auf Auszeichnungen und Ruhm gehofft, die ihm schließlich auch zuteil geworden waren. Doch mittlerweile hatte für ihn das alles seinen Anreiz verloren, und er sah die Dinge jetzt mit anderen Augen: er erfüllte aufs genaueste seine Pflicht, wußte jedoch nach sechsmonatigem Aufenthalt auf der Bastion sehr wohl, von wie vielen Zufällen sein Leben hier bedroht war, und setzte es daher nicht ohne dringende Notwendigkeit solchen Zufällen aus, so daß der junge Leutnant, der erst seit einer Woche bei der Batterie Dienst tat und jetzt Kalugin herumführte, wobei beide, sich voreinander aufspielend, den Kopf völlig sinnlos durch die Schießscharten steckten und auf den Wall hinauskletterten, scheinbar zehnmal mehr Mut besaß als der Kapitän. Als sich Kalugin nach Besichtigung der Batterie auf dem Rückweg zur Blindage befand, stieß er im Dunkeln auf den General, der sich mit seinen Ordonnanzoffizieren auf den Wachtturm begab. „Rittmeister Praskuchin“, sagte der General gerade, „gehen Sie bitte zur rechten Verschanzung und bestellen Sie dem zweiten Bataillon des M. schen Regiments, das dort arbeitet, es soll die -60-
Arbeiten einstellen, sich möglichst geräuschlos zurückziehen und sich seinem Regiment anschließen, das am Fuße des Berges in Reserve liegt. Verstanden? Führen Sie die Leute persönlich zum Regiment zurück.“ „Zu Befehl.“ Und Praskuchin lief im Trab zu der Verschanzung. Das Artilleriefeuer flaute allmählich ab. 10 „Arbeitet hier das zweite Bataillon des M. schen Regiments?“ fragte Praskuchin, als er in schnellem Lauf am Ziel angelangt war und dort Soldaten traf, die Säcke mit Erde auf dem Rücken trugen. „Jawohl.“ „Wo ist der Kommandeur?“ Michailow, der annahm, daß nach dem Kompaniechef gefragt werde, und Praskuchin zuerst für einen Vorgesetzten hielt, kroch aus seiner Grube heraus, legte die Hand an den Mützenschirm und trat auf ihn zu. „Der General hat befohlen, Sie möchten unverzüglich... und vor allem möglichst geräuschlos... zurückgehen... Nein, nicht zurück, sondern zur Reserve“, sagte Praskuchin, während er mißtrauisch in die Richtung des feindlichen Feuers blickte. Als Michailow nun Praskuchin erkannte, ließ er die Hand sinken und gab, nachdem er erfaßt hatte, worum es sich handelte, den Befehl weiter, worauf das Bataillon in freudige Erregung geriet, die Soldaten ihre Gewehre nahmen, die Mäntel anzogen und sich in Bewegung setzten. Niemand, der es nicht selbst ausgekostet hat, vermag sich das beglückende Gefühl vorzustellen, mit dem man nach dreistündigem Bombardement einen so gefährlichen Standort verläßt, wie es die Schanzen sind. Michailow, der schon zu wiederholten Malen sein Ende für unvermeidlich gehalten und mehrmals sämtliche Heiligenbildchen geküßt hatte, die er auf -61-
der Brust trug, war schließlich etwas ruhiger geworden und hatte sich mit dem Gedanken abgefunden, daß er unweigerlich getötet würde und schon nicht mehr dieser Welt angehöre. Nichtsdestoweniger kostete es ihn große Mühe, seine Beine davon abzuhalten, in Laufschritt überzugehen, als er an der Spitze der Kompanie Seite an Seite mit Praskuchin die Schanzen verließ. „Auf Wiedersehen“, sagte der ein anderes Bataillon befehligende Major zu ihm, der auf den Schanzen zurückblieb und mit dem zusammen Michailow einen Schluck getrunken und dazu ein Stück von dem seifigen Käse gegessen hatte, als er in seiner Grube unter der Brustwehr saß. „Kommen Sie gut hin!“ „Und Ihnen wünsche ich, hier alles glücklich zu überstehen; es scheint jetzt ruhiger zu werden.“ Doch kaum hatte Michailow dies ausgesprochen, als der Feind, der offenbar die auf den Schanzen entstandene Bewegung bemerkt hatte, in immer kürzeren Abständen herüberschoß. Unsere Artillerie erwiderte das Feuer, und es entspann sich aufs neue eine heftige Kanonade. Die hoch am Himmel stehenden Sterne leuchteten nur schwach; die Nacht war dunkel - man sah die Hand vor Augen nicht - , und nur das Aufblitzen der Schüsse und der krepierenden Bomben tauchte die Gegenstände für einen Augenblick in Licht. Die Soldaten gingen schweigend und schnell, einander unwillkürlich überholend, des Weges; bei den pausenlosen Detonationen der Schüsse war nichts anderes zu hören als der rhythmische Widerhall ihrer Schritte auf dem trockenen Boden, das Klirren aneinanderstoßender Bajonette oder das Gebet und der Stoßseufzer eines furchtsamen Soldaten: „Mein Gott, mein Gott, was ist das bloß!“ Zwischendurch wurde das Stöhnen eines Verwundeten und der Ruf laut: „Eine Tragbahre!“ (In der von Michailow befehligten Kompanie waren im Laufe der Nacht allein durch das Artilleriefeuer sechsundzwanzig Mann außer Gefecht gesetzt worden. ) In der Ferne flammte am dunklen Horizont ein Blitz auf, der Posten auf der Bastion rief: -62-
„Kanooone!“, und ein Geschoß flog summend über die Kompanie hinweg, wühlte den Boden auf und schleuderte Steine in die Luft. Verflucht, wie langsam es vorwärts geht! dachte Praskuchin, der sich, neben Michailow marschierend, alle Augenblicke nach hinten umsah. Ich werde wirklich lieber vorauslaufen; den Befehl habe ich ja ausgerichtet... Doch nein: dieser blöde Kerl könnte dann erzählen, daß ich ein Feigling sei, wie ich es gestern ja auch von ihm behauptet habe. Mag kommen, was da will - ich bleibe neben ihm. Warum er nur mit mir geht? dachte Michailow seinerseits. Soviel ich beobachtet habe, bringt er immer Unglück. Da kommt wieder eine angeflogen, offenbar direkt auf uns zu. Nachdem sie ein paar hundert Schritte weitergegangen waren, trafen sie mit Kalugin zusammen, der sich forschen Schrittes und mit dem Säbel rasselnd auf dem Weg zu den Schanzen befand, um auf Befehl des Generals festzustellen, wie weit dort die Arbeiten fortgeschritten seien. Doch als er jetzt Michailow traf, sagte er sich, daß er ja, anstatt unter diesem fürchterlichen Beschuß selbst dorthin zu gehen, was ihm auch gar nicht befohlen war, ebensogut alles von einem Offizier erfahren könne, der eben dort gewesen war. Michailow berichtete denn auch ausführlich über den Stand der Arbeiten und bereitete Kalugin, der den Schüssen scheinbar nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte, zudem noch dadurch großen Spaß, daß er sich bei jeder Bombe hinhockte, selbst wenn sie in weiter Ferne krepierte, den Kopf senkte und jedesmal versicherte, sie komme „direkt hierher“. „Sehen Sie, Hauptmann, die kommt direkt hierher“, sagte Kalugin spöttisch und stieß Praskuchin an. Nachdem er noch ein Stück mit ihm gegangen war, bog er in den Laufgraben ein, der zur Blindage führte. Man kann nicht sagen, daß dieser Hauptmann sehr tapfer sei, dachte er, als er durch die Tür der Blindage trat. -63-
„Nun, was gibt's Neues?“ fragte der Offizier, der als einziger zugegen war und gerade sein Abendessen verzehrte. „Ach, nichts Besonderes; ich glaube, es wird jetzt nichts mehr geben.“ „Wieso nichts geben? Im Gegenteil, der General ist soeben wieder auf den Wachtturm gegangen. Es ist ein weiteres Regiment eingetroffen. Da - hören Sie? Das Gewehrfeuer beginnt aufs neue. Bleiben Sie ruhig hier. Was wollen Sie dort?“ sagte der Offizier, als er bemerkte, daß sich Kalugin zum Gehen anschickte. Eigentlich müßte ich unbedingt hin, dachte Kalugin, aber ich habe mich heute ohnedies genug der Gefahr ausgesetzt. Ich hoffe, daß ich nicht nur als chair à canon gebraucht werde. „Ja, wirklich, es ist richtiger, ich erwarte den General hier“, sagte er. Etwa fünf Minuten später kam der General tatsächlich mit dem Stab seiner Offiziere zurück; unter ihnen befand sich auch der Junker Baron Pest, während Praskuchin nicht dabei war. Die Schanzen waren zurückerobert und von unseren Truppen besetzt. Nachdem Kalugin über den Verlauf der Kämpfe genaue Informationen erhalten hatte, verließ er gemeinsam mit Pest die Blindage. 11 „Dein Mantel ist ja mit Blut befleckt: hast du denn am Nahkampf teilgenommen?“ fragte Kalugin den Junker. „Ach, mein Lieber, es war furchtbar. Stell dir vor ...“ Und Pest begann nun zu schildern, wie der Kompaniechef gefallen sei, wie er selbst die Führung der ganzen Kompanie übernommen und einen Franzosen niedergestochen habe, wie ohne ihn altes verloren gewesen wäre und dergleichen mehr. Der Kern dieser Schilderung - daß der Kompaniechef gefallen war und Pest einen Franzosen getötet hatte - entsprach der -64-
Wahrheit; doch bei der Beschreibung der Einzelheiten dichtete der Junker manches hinzu und renommierte. Er renommierte, ohne es selbst zu merken, denn da er sich während der Kämpfe ununterbrochen in einer Art Umnebelung und so hochgradigen Sinnesverwirrungen befunden hatte, daß für ihn scheinbar alles, was sich abspielte, irgendwo anders, zu einer anderen Zeit und mit jemand anderem vor sich gegangen war, war es nur natürlich, daß er sich bemühte, alle diese Einzelheiten in einem für ihn günstigen Licht darzustellen. In Wirklichkeit jedoch hatte sich die Sache wie folgt zugetragen. Das Bataillon, dem der Junker für den Ausfall zugeteilt war, hatte etwa zwei Stunden unter Beschuß an einer Mauer gestanden; dann hatte der sich vorn aufhaltende Bataillonskommandeur einen Befehl gegeben, die Kompanieführer waren in Bewegung geraten, und das Bataillon war vorgerückt, hatte die Brustwehr verlassen und nach etwa hundert Schritten haltgemacht, um sich kompanieweise in einzelnen Kolonnen zu formieren. Pest erhielt Befehl, sich am rechten Flügel der zweiten Kompanie aufzustellen. Ohne sich im geringsten darüber im klaren zu sein, wo er sich befand und zu welchem Zweck er hier war, stellte sich der Junker auf den ihm angewiesenen Platz und starrte, während er unwillkürlich den Atem anhielt und es ihm kalt über den Rücken lief, geistesabwesend in die dunkle Ferne, aus der er irgend etwas Schreckliches erwartete. Es war übrigens weniger Furcht, was ihn in diesen Zustand versetzte, denn geschossen wurde jetzt nicht mehr, als vielmehr der unheimliche und befremdende Gedanke, sich außerhalb der Festung auf freiem Felde zu befinden. Da erteilte der Bataillonskommandeur vorn abermals einen Befehl. Die Offiziere gaben ihn flüsternd weiter, und die schwarze Wand der ersten Kompanie sank plötzlich nieder. Es war befohlen worden, sich hinzulegen. Die zweite Kompanie legte sich gleichfalls hin, und Pest rannte sich dabei einen Stachel in die Hand. Einzig der Kommandeur der zweiten Kompanie legte sich nicht hin. Seine kleine Gestalt bewegte sich -65-
vor der Kompanie hin und her; er redete unaufhörlich und schwenkte den blanken Säbel. „Jungens, jetzt den Kopf hoch! Geschossen wird nicht, wir rücken den Kanaillen gleich mit dem Bajonett zu Leibe. Sobald ich, hurra!' rufe, stürmt ihr hinter mir her, niemand darf zurückbleiben! Geschlossen zusammenhalten, das ist die Hauptsache... Wir wollen doch zeigen, was wir können, wollen uns nicht blamieren, Jungens, he? Für den Zaren, für unser Väterchen...“, redete er drauflos, wobei er seinen Worten eine Menge Schimpfwörter beimischte und drohend mit den Armen fuchtelte. „Wie heißt unser Kompaniechef?“ fragte Pest einen Junker, der neben ihm lag. „Er hat ja großen Mut!“ „Ja, wenn es in den Kampf geht, ist er immer ein toller Draufgänger“, sagte der Junker. „Lissinkowski heißt er.“ In diesem Augenblick blitzte unmittelbar vor der Kompanie eine Flamme auf, ein fürchterliches Krachen ertönte, das die ganze Truppe betäubte, und Steine und Splitter wurden hoch in die Luft geschleudert (noch mindestens fünfzig Sekunden später kam ein Stein von oben geflogen und riß einem Soldaten das Bein ab). Es war eine Bombe, von einer Elevationslafette abgefeuert, und daß sie genau dort einschlug, wo die Kompanie lag, ließ erkennen, daß die Franzosen die Truppe bemerkt hatten. „Mit Bomben kommt er an, der Schweinehund! Warte nur, wenn wir erst herankommen, wirst du schon das dreikantige russische Bajonett zu spüren kriegen, du Verfluchter!“ wetterte der Kompaniechef so laut, daß der Bataillonskommandeur ihn auffordern mußte, zu schweigen und sich ruhiger zu verhalten. Kurz darauf erhob sich die erste Kompanie und nach ihr auch die zweite. Es wurde befohlen, das Bajonett zu fällen, und das Bataillon setzte sich in Bewegung. Pest wurde von einem derartigen Grauen gepackt, daß er sich weder bewußt war, wie lange er lief, noch wohin und wozu er sich fortbewegte. Er taumelte wie ein Betrunkener. Doch plötzlich blitzten von allen Seiten Millionen Flammen auf, und ringsum begann es zu -66-
zischen und zu krachen. Er stieß einen Schrei aus und lief kopflos weiter, weil auch alle anderen schrien und liefen. Da stolperte er und fiel über einen Körper; es war der Kompaniechef, der, an der Spitze der Truppe vorrückend, verwundet worden war und den Junker am Bein ergriffen hatte, weil er ihn für einen Franzosen hielt. Als er dann das Bein befreit hatte und aufstand, prallte im Dunkeln jemand mit dem Rücken gegen ihn und hätte ihn beinahe wieder zu Boden geworfen, während ein anderer rief: „Stich ihn nieder! Warum zögerst du?“ Jemand nahm ein Gewehr und stieß das Bajonett in eine weiche Masse. „A moi, camarades! Ah, sacré b... Ah! Dieu!“ ertönte ein furchtbarer, gellender Schrei, und erst jetzt begriff Pest, daß er einen Franzosen niedergestochen hatte. Sein ganzer Körper bedeckte sich mit kaltem Schweiß, er zitterte wie von Fieber geschüttelt und warf das Gewehr von sich. Doch das währte nur einen Augenblick; gleich darauf kam ihm der Gedanke, daß er ein Held sei. Er hob sein Gewehr wieder auf und lief zusammen mit allen übrigen unter Hurrarufen von dem getöteten Franzosen weg, dem ein Soldat auf der Stelle die Stiefel auszog. Nachdem er etwa zwanzig Schritte gelaufen war, langte er in der Tranchee an. Dort fand er unsere Truppen und den Bataillonskommandeur. „Ich habe eine n niedergestochen!“ sagte er zum Bataillonskommandeur. „Bravo, Baron...“ 12 „Denke dir, Praskuchin ist tot“, sagte Pest, als er Kalugin, der nach Hause ging, ein Stück begleitete. „Nicht möglich!“ „Ganz bestimmt, ich habe es selbst gesehen.“ „Nun dann, bis später! Ich habe es eilig.“ Ich bin sehr zufrieden, dachte Kalugin, als er dem Hause zuschritt. Zum erstenmal habe ich während meiner Dienstbereitschaft solches Glück gehabt. Eine famose Sache: ich bin am Leben und unversehrt, werde im Rapport mit höchster Anerkennung erwähnt werden und ganz gewiß den -67-
goldenen Säbel bekommen. Den habe ich aber auch wirklich verdient. Nachdem er dem General alles Nötige gemeldet hatte, begab er sich in sein Zimmer, wo er den Fürsten Galzin vorfand, der schon lange zurückgekehrt war und, auf ihn wartend, das Buch „Splendeur et misères des courtisanes“* las, das er auf Kalugins Schreibtisch entdeckt hatte. Kalugin empfand ein unsagbares Behagen in dem Bewußtsein, sich zu Hause und außer Gefahr zu befinden. Nachdem er sein Nachthemd angezogen hatte, begann er, schon im Bett liegend, Galzin die Einzelheiten der Kämpfe zu schildern, und zwar sehr begreiflicherweise in einer Beleuchtung, aus der hervorging, daß er ein überaus tüchtiger und tapferer Offizier sei, wozu es meines Erachtens gar keiner Anspielung bedurft hätte, da dies ohnehin allgemein bekannt war und niemand das Recht oder einen Anlaß hatte, es zu bezweifeln - ausgenommen vielleicht der gefallene Rittmeister Praskuchin, der sich zwar glücklich geschätzt hatte, gelegent lich Arm in Arm mit Kalugin zu promenieren, aber erst gestern einem Freunde gegenüber im Vertrauen geäußert hatte, Kalugin sei wohl ein sehr netter Kerl, habe aber eine große Abneigung, sich auf die Bastionen zu begeben. Praskuchin war, nachdem sich Kalugin von ihnen getrennt hatte, weiterhin an der Seite Michailows gegangen und hatte, als sie sich einer weniger gefährdeten Stelle näherten, gerade ein wenig aufgeatmet. Da leuchtete hinter ihm ein greller Blitz auf, und er hörte, wie der Posten „Mörser!“ rie f und einer der hinter ihm gehenden Soldaten sagte: „Die kommt gerade auf das Bataillon zugeflogen.“ Michailow sah sich um. Der helle Punkt der Bombe schien auf seinem Zenit zu verharren, in jener Stellung, bei der unmöglich vorauszusehen ist, welche Richt ung das Geschoß nehmen wird. Doch das schien nur einen Augenblick *
Eines jener netten Bücher, die seit einiger Zeit in so großer Menge auftauchen und sich bei unserer Jugend aus irgendeinem Grunde besonderer Beliebtheit erfreuen. (Anm. d. Verf.)
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so; dann sauste die Bombe mit ständig zunehmender Geschwindigkeit heran, kam immer näher und näher, so daß man schon die Funken der Röhre sehen und das unheildrohende Pfeifen hören konnte, und senkte sich genau über dem Bataillon zur Erde. „Hinlegen!“ rief jemand aufgeregt. Michailow warf sich auf den Bauch. Praskuchin duckte sich instinktiv bis auf den Boden und kniff die Augen zusammen; er hörte nur, daß die Bombe irgendwo in nächster Nähe auf den harten Boden aufprallte. Es verging eine Sekunde, die ihm eine Stunde zu währen schien - die Bombe explodierte nicht. Praskuchin erschrak: hatte er sich gar unnötigerweise ängstlich gezeigt? War die Bombe vielleicht ein ganzes Stück weiter weg niedergegangen, war es ihm nur so vorgekommen, als zische sie unmittelbar über ihm? Er öffnete die Augen und stellte zu seiner Beruhigung und Genugtuung fest, daß Michailow, dem er zwölfeinhalb Rubel schuldete, mit dicht an die Erde geschmiegtem Körper. unbeweglich zu seinen Füßen lag. Doch zugleich fiel sein Blick für einen kurzen Moment auf die leuchtende Röhre der einen Arschin von ihm entfernt sich im Kreis drehenden Bombe. Kaltes Entsetzen, das alle anderen Empfindungen und Gedanken lahmte, überwältigte ihn; er schlug die Hände vors Gesicht und sank in die Knie. Es verging eine weitere Sekunde - eine Sekunde, in der ihm eine ganze Welt von Gefühlen, Gedanken, Hoffnungen und Erinnerungen durch den Kopf schoß. Wen wird sie treffen: mich oder Michailow? Oder uns beide zusammen? Und falls sie mich trifft, dann wo? Wenn auf den Kopf, dann ist alles zu Ende; aber wenn ein Bein getroffen wird, kann man es amputieren - ich werde darauf bestehen, chloroformiert zu werden -, und ich werde weiter am Leben bleiben. Möglich ist es ja auch, daß nur Michailow getroffen wird; dann werde ich erzählen, wie wir Seite an Seite gingen, wie er zerschmettert wurde und mich sein Blut bespritzte. Nein, -69-
mir ist sie näher - sie trifft mich! Hier fielen ihm die zwölfeinhalb Rubel ein, die er Michailow schuldete, und noch eine weitere Schuld, die er in Petersburg hatte und die längst hätte beglichen sein müssen; das Motiv eines Zigeunerliedes, das er gestern abend gesungen hatte, ging ihm durch den Kopf; die Frau, die er liebte, tauchte in seiner Phantasie in einer Haube mit lila Bändern auf; die Erinnerung an einen Mann, von dem er vor fünf Jahren beleidigt worden war und an dem er sich nicht gerächt hatte, wurde in seinem Gedächtnis lebendig, obwohl ihn zugleich, untrennbar von diesen und tausend anderen Erinnerungen, die Empfindung der Gegenwart - die Erwartung des Todes und die Angst vor ihm - keinen Augenblick verließ. Womöglich wird sie gar nicht explodieren, dachte er und wollte mit verzweifelter Entschlossenheit die Augen öffnen. Doch in diesem Moment wurde er durch die noch geschlossenen Lider hindurch von einem grellen Feuerschein geblendet; ein furchtbares Krachen ertönte, und er verspürte einen heftigen Stoß gegen die Brust. Er wollte weglaufen, stolperte über den ihm zwischen die Beine geratenen Säbel und fiel auf die Seite zu Boden. Gott sei Dank, es ist nur eine Prellung! war sein erster Gedanke; er versuchte, mit den Händen die Brust zu berühren, aber seine Arme waren gleichsam an den Körper gefesselt und der Kopf in einen Schraubstock gezwängt. Vor seinen Augen tauchten Soldaten auf, die er mechanisch zu zählen begann: einer, zwei, drei Soldaten, und da, im zurückgeschlagenen Mantel, ein Offizier, fügte er in Gedanken hinzu. Dann zuckte vor seinen Augen ein Blitz auf, und er überlegte, was das sei, ein Mörseroder ein Kanonenschuß; wahrscheinlich war es ein Kanonenschuß. Doch nun wurde wieder geschossen, wieder kamen Soldaten, fünf, sechs, sieben, und alle gingen weiter. Plötzlich überkam ihn Furcht, sie könnten ihn zertreten; er wollte ihnen zurufen, daß er verwundet sei, aber sein Mund war so trocken, daß die Zunge am Gaumen klebte und er von einem verzehrenden Durst gequält wurde. Als er jetzt fühlte, daß seine -70-
Brust ganz naß war, weckte die Empfindung der Nässe in ihm die Vorstellung von Wasser, und selbst diese Nässe, die seine Brust bedeckte, hätte er gern getrunken. Anscheinend habe ich mich beim Fallen blutig geschlagen, dachte er. Immer mehr der Furcht erliegend, von den weiterhin an ihm vorüberhuschenden Soldaten zertreten zu werden, nahm er seine ganze Kraft zusammen und wollte rufen: Nehmt mich mit!; doch statt dessen entrang sich ihm ein derartig herzzerreißendes Stöhnen, daß er selbst zusammenschauerte, als er es hörte. Hierauf begannen vor seinen Augen rote Flämmchen zu tanzen, und es war ihm, als häuften die Soldaten Steine auf ihn. Die Flämmchen verflüchtigten sich nach und nach, und die Steine, die auf ihm lasteten, drückten ihn immer mehr und immer stärker. Er machte eine Anstrengung, die Steine abzuwerfen, streckte sich aus - und sah, hörte, dachte und fühlte nichts mehr. Ein Splitter war ihm mitten in die Brust gedrungen und hatte ihn getötet. 13 Als Michailow die Bombe bemerkte, warf er sich hin und kniff, ebenso wie Praskuchin, die Augen zusammen, öffnete sie dann zweimal und schloß sie wieder. In den zwei Sekunden, die die Bombe bis zum Explodieren auf dem Boden lag, überdachte und empfand er unendlich viel. Während er im stillen zu Gott betete und ein über das andere Mal wiederholte: Dein Wille geschehe!, dachte er zugleich: Warum nur. habe ich den Militärdienst erwählt und mich obendrein zur Infanterie versetzen lassen, um den Krieg mitzumachen! Hätte ich nicht besser getan, beim Ulanenregiment in T. zu bleiben und die freie Zeit mit meiner Freundin Natascha zu verbringen? Das habe ich nun davon! Und er begann zu zählen: eins, zwei, drei, vier - mit dem Gedanken, daß er am Leben bleiben würde, wenn die Bombe bei einer geraden Zahl, und daß er den Tod fände, wenn sie bei einer ungeraden Zahl explodierte. Alles ist aus! Das ist mein Tod! dachte er, als die Bombe platzte (ob bei einer geraden oder ungeraden Zahl, das wußte er nicht) und er zugleich einen -71-
Schlag und einen empfindlichen Schmerz am Kopf verspürte. „Herrgott, vergib mir meine Sünden!“ stammelte er, breitete die Arme aus, richtete sich auf und fiel bewußtlos auf den Rücken. Das erste, was er fühlte, als er wieder zu sich kam, war das Blut, das ihm über die Nase rann, und der Schmerz im Kopf, der jedoch an Heftigkeit erheblich nachgelassen hatte. Jetzt hauche ich wohl den Geist aus, dachte er. Was wird drüben sein? Herr, nimm meine Seele in Frieden auf! Sonderbar ist es nur, überlegte er, daß ich im Sterben so deutlich die Schritte der Soldaten und das Schießen höre. „Heda, bringt eine Tragbahre! Der Kompaniechef ist verwundet“, rief ihm zu Häupten eine Stimme, an der er unbewußt den Trommler Ignatjew erkannte. Jemand packte ihn an den Schultern. Er versuchte die Augen zu öffnen und erblickte über sich den dunkelblauen Himmel, eine Gruppe von Sternen und zwei Bomben, die, eine die andere überholend, über ihn hinwegflogen; er sah Ignatjew, Soldaten mit Tragbahren und Gewehren, den Grabenwall und erkannte plötzlich, daß er noch nicht im Jenseits war. Ein Stein hatte ihn leicht am Kopf verletzt. Seine erste Empfindung war fast ein gewisses Bedauern; er hatte sich so gut und ruhig auf den Übergang ins Jenseits vorbereitet, daß ihn die Rückkehr zur Wirklichkeit mit all den Bomben, Trancheen und Soldaten und all dem Blut jetzt unangenehm berührte; die zweite Empfindung bestand in einer unbewußten Freude darüber, daß er lebte, und die dritte in dem angsterfüllten Wunsch, möglichst schnell die Bastion zu verlassen. Der Trommler verband seinem Kommandeur den Kopf mit einem Tuch, faßte ihn unter die Achsel und wollte ihn zur Verbandstelle führen. Wohin gehe ich eigentlich, und was will ich dort? dachte der Stabshauptmann, als er ein wenig zur Besinnung kam. Deine Pflicht ist es, bei der Kompanie zu bleiben und sie nicht im Stich zu lassen, zumal auch die ganze Kompanie bald aus dem Bereich des Feuers herauskommen wird, flüsterte ihm eine innere Stimme zu. Und wenn du als Verwundeter bei der Truppe ausharrst, ist dir eine Auszeichnung sicher. -72-
„Laß nur, mein Lieber“, sagte er und entzog seinen Arm dem dienstbeflissenen Trommler, dem es vor allem darum zu tun war, selber von hier fortzukommen. „Ich will nicht zur Verbandstelle, ich bleibe bei der Kompanie.“ Und er kehrte um. „Sie sollten sich doch lieber ordentlich verbinden lassen, Euer Wohlgeboren“, redete ihm der furchtsame Ignatjew zu. „Das scheint einem nur in der ersten Aufwallung so, daß es nicht gefährlich ist, aber es kann womöglich schlimmer werden. Sie sehen doch, was sich hier tut... Wirklich, Euer Wohlgeboren!“ Michailow blieb einen Augenblick unschlüssig stehe n und hätte wahrscheinlich den Ratschlag Ignatjews befolgt, wenn ihm nicht eine Szene eingefallen wäre, die er dieser Tage auf der Verbandstelle beobachtet hatte: Ein Offizier war mit einer unbedeutenden Schramme an der Hand gekommen, um sich einen Verband anlegen zu lassen; aber die Ärzte hatten beim Anblick der Verletzung gelächelt, und einer von ihnen - mit einem Backenbart - hatte sogar gesagt, er würde an dieser Wunde gewiß nicht sterben und man könne sich selbst mit einer Gabel schmerzhafter verletzen. Vielleicht werden sie ebenso mißtrauisch lächeln, wenn sie meine Wunde sehen, und dazu eine spöttische Bemerkung machen, dachte der Stabshauptmann, worauf er sich kurz entschlossen umdrehte und ungeachtet der Einwände des Trommlers zur Kompanie zurückging. „Wo ist der Ordonnanzoffizier Praskuchin, der mit mir zusammen war?“ fragte er den Fähnrich, der die Kompanie befehligte, als er dort eintraf. „Ich weiß es nicht, er ist gefallen, glaube ich“, antwortete mürrisch der Fähnrich, den es sehr verdroß, daß der Stabshauptmann zurückgekehrt war und ihn damit der Genugtuung beraubte, zu erklären, er sei als einziger Offizier bei der Kompanie zurückgeblieben. „Gefallen oder verwundet? Das müssen Sie doch wissen, er war doch bei uns. Und warum haben Sie ihn nicht mitgenommen?“ -73-
„Wo war da an Mitnehmen zu denken, in dieser Hölle!“ „Ach, das ist nicht recht, Michail Iwanytsch“, sagte Michailow empört. „Man kann ihn doch nicht im Stich lassen, wenn er vielleicht noch lebt; aber auch wenn er getötet wäre, hätte man den Leichnam mitnehmen müssen. Bedenken Sie doch, er ist Ordonnanzoffizier des Generals und vielleicht noch am Leben.“ „Woher denn am Leben, wenn ich Ihnen doch sage, daß ich selbst an ihn herangetreten bin und mich - überzeugt habe“, erwiderte der Fähnrich. „Ich bitte Sie, wir hatten genug zu tun, unsere eigenen Leute fortzuschaffen! - Da legt er wieder mit Granaten los, dieser Schurke!“ fügte er hinzu und duckte sich. Michailow hockte sich ebenfalls nieder. Er griff sich an den Kopf, der von der Bewegung empfindlich zu schmerzen begann. „Nein, man muß ihn unbedingt holen, vielleicht ist er noch am Leben“, sagte er. „Das ist unsere Pflicht, Michail Iwanytsch!“ Michail Iwanytsch antwortete nicht. Wenn er ein tüchtiger Offizier wäre, hätte er ihn gleich mitgenommen, dachte Michailow. Jetzt müssen Soldaten allein losgeschickt werden, ihn zu holen; kann man ihnen das überhaupt zumuten? Bei diesem schrecklichen Feuer können sie vielleicht unnötigerweise ums Leben kommen. „Soldaten! Es muß jemand zurück und den Offizier holen, der verwundet drüben im Graben liegt“, sagte er in nicht allzu lautem und gebieterischem Ton, da er voraussah, wie unangenehm den Soldaten die Ausführung dieses Befehls sein würde; und da er sich an keinen von ihnen namentlich gewandt hatte, meldete sich auch wirklich niemand, den Befehl auszuführen. „Unteroffizier, kommen Sie mal her!“ Der Unteroffizier tat, als habe er nichts gehört, und marschierte weiter, ohne aus der Reihe zu treten. Vielleicht ist er auch wirklich schon tot, und es hat keine n Sinn, die Leute dieser Gefahr auszusetzen. Die Schuld trifft mich allein, weil ich mich nicht um ihn gekümmert habe; ich werde -74-
selbst hinübergehen, um festzustellen, ob er noch lebt. Das ist meine Pflicht, sagte Michailow zu sich selbst. „Michail Iwanytsch! Führen Sie die Kompanie weiter, und ich werde nachkommen“, sagte er; und während er mit der einen Hand den Mantel zusammenraffte und mit der anderen unablässig das Bildchen des heiligen Mitrofani berührte, in den er besonderes Vertrauen setzte, lief er, fast bis zur Erde geduckt und zitternd vor Entsetzen, so schnell er konnte, den Graben hinunter. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß sein Kamerad tot war, trat Michailow den Rückweg an; keuchend, gebückt, den verrutschten Verband festhaltend und den Kopf stützend, der immer heftiger zu schmerzen begann, schleppte er sich weiter. Das Bataillon war bereits am Fuße des Berges an seinem Ziel angelangt und befand sich fast außer Schußweite, als Michailow es einholte. Ich sage fast außer Schußweite, denn ab und zu verirrte sich auch hierher noch ein Geschoß (in dieser Nacht war ein Kapitän, der während der Kämpfe im Unterstand der Matrosen gesessen hatte, von einem Granatsplitter getötet worden). Morgen werde ich immerhin zur Verbandstelle gehen und mich registrieren lassen, beschloß der Stabshauptmann, als ihm der herbeigerufene Feldscher einen Verband anlegte. Das kann meiner Beförderung nur dienlich sein. 14 Hunderte mit frischem Blut überströmte Körper von Menschen, die noch vor zwei Stunden von vielfältigen hohen oder nichtigen Hoffnungen und Wünschen erfüllt gewesen waren, lagen mit erstarrten Gliedern in dem taufeuchten blühenden Tal, das die Bastion von den Laufgräben trennte, und auf dem ebenen Fußboden der Sewastopoler Totenkapelle. Hunderte von Menschen, Verwünschungen und Gebete auf den ausgetrockneten Lippen, krochen umher, wanden sich •und stöhnten - die einen zwischen den Leichnamen im blühenden -75-
Tal, die anderen auf Tragbahren, auf Pritschen und auf dem blutbefleckten Fußboden des Verbandplatzes. Aber wie auch an anderen Tagen wetterleuchtete es über dem Gipfel des Sapunberges, verblaßten die flimmernden Sterne, drang vom rauschenden dunklen Meer weißer Nebel herüber, leuchtete im Osten das Morgenrot auf, huschten purpurne längliche Wölkchen über den hellblauen Horizont, und wie an anderen Tagen stieg, der ganzen erwachten Welt Freude, Liebe und Glück verheißend, der mächtige, herrliche Sonnenball empor. 15 Am Abend des nächsten Tages spielte auf dem Boulevard wieder eine Jägerkapelle, und wieder promenierten Offiziere, Fahnenjunker, Soldaten und junge Frauen feiertagsmäßig vor dem Pavillon und unter den duftenden weißblühenden Akazien. Kalugin, Fürst Galzin und ein Oberst gingen vor dem Pavillon Arm in Arm spazieren und unterhielten sich über die Ereignisse des Vortages. Den Leitfaden des Gesprächs bildeten in der Hauptsache nicht die Kämpfe selbst, sondern, wie es in solchen Fällen meist zu sein pflegt, der Anteil, den der Erzählende an ihnen gehabt, und der Mut, den er dabei bewiesen hatte. Ihre Gesichter und Stimmen hatten einen ernsten, fast kummervollen Ausdruck, der zu besagen schien, daß sie durch die Verluste der gestrigen Kämpfe tief betroffen und in Trauer versetzt seien; doch da keiner von ihnen einen ihm sehr nahestehenden Menschen verloren hatte - soweit man im Kriege überhaupt von einander sehr nahestehenden Menschen sprechen kann - , war dieser Ausdruck von Trauer, ehrlich gesagt, nur ein formeller; sie hielten sich einfach für verpflichtet, ihn zur Schau zu tragen. Indessen hätten Kalugin und der Oberst, an sich beides ausgezeichnete Menschen, es sogar gern gesehen, wenn es jeden Tag zu solchen Kämpfen gekommen wäre, sofern sie dabei jedesmal zu so etwas wie einem goldenen Säbel und dem Generalmajorsrang gelangen würden. Ich freue mich, wenn man einen Eroberer, der um seines Ehrgeizes willen Millionen -76-
Menschenleben vernichtet, als Unhold bezeichnet. Doch man befrage den Fähnrich Petruschow, den Leutnant Antonow und andere nach ihrer ehrlichen Meinung: jeder von ihnen ist ein kleiner Napoleon, ein kleiner Unhold und ohne weiteres bereit, allein deshalb eine Schlacht zu entfesseln und hundert Menschen zu töten, um sich ein weiteres Sternchen und ein zusätzliches Drittel des Gehalts zu verschaffen. „Nein, entschuldigen Sie“, sagte der Oberst, „angefangen hat es auf dem linken Flügel. Ich bin doch dabeigewesen.“ „Mag sein, ich habe mich sehr auf dem rechten Flügel aufgehalten. Ich bin zweimal dort gewesen: das eine Mal habe ich den General aufgesucht, und das zweite Mal wollte ich mir nur mal die Verschanzungen ansehen. Ja, dort ging es heiß her.“ „Ja, das ist sicher, Kalugin hat es miterlebt“, sagte Fürst Galzin zu dem Oberst. „Weißt du übrigens, W. sagte mir heute, du seist ein wahrer Held.“ „Aber die Verluste, die furchtbaren Verluste“, sagte der Oberst in erkünstelt traurigem Ton. „In meinem Regiment wurden vierhundert Mann außer Gefecht gesetzt. Es ist geradezu ein Wunder, daß ich selbst mit dem Leben davongekommen bin.“ Da tauchte am andern Ende des Boulevards im lila schimmernden Mantel Michailow auf, der den Herren in seinen schiefgetretenen Stiefeln und mit einem Verband um den Kopf entgegenkam. Er wurde sehr verlegen, als er die Herren bemerkte: ihm fiel ein, wie er sich gestern im Beisein Kalugins geduckt hatte, und er fürchtete, sie könnten womöglich annehmen, daß er seine Verwundung nur vorspiegele. Die Herren hatten ihn schon erkannt, sonst wäre er am liebsten nach unten abgebogen und nach Hause gegangen, um sich nicht wieder sehen zu lassen, bevor er nicht den Verband los war. „Il fallait voir dans quel état je l'ai rencontré hier sous le feu“, sagte Kalugin, als sich Michailow ihnen näherte. „Sind Sie verwundet, Hauptmann?“ wandte er sich dann an ihn mit einem Lächeln, in dem sich die Frage ausdrückte: Nun, haben Sie mich gestern gesehen? Was für ein Kerl bin ich? -77-
„Ja, ein Stein hat mich leicht verletzt“, antwortete Michailow errötend und mit einem Gesichtsausdruck, der besagte: Ja, ich habe es gesehen und gebe zu, daß Sie ein Held sind und daß ich nichts, gar nichts tauge. „Est-ce que le pavillon est baissé déjà?“ fragte Fürst Galzin jetzt wieder in seinem anmaßenden Ton, ohne sich an jemand im besonderen zu wenden, und fixierte die Mütze des Stabshauptmanns. „Non, pas encore“, antwortete Michailow, der zeigen wollte, daß er sich auch französisch unterhalten konnte. „Dauert der Waffenstillstand wirklich noch an?“ wandte sich Galzin höflich auf russisch an ihn und wollte damit, so schien es dem Stabshauptmann, offenbar sagen: Das Französische bereitet Ihnen doch sicherlich Schwierigkeiten, wollen wir da nicht lieber einfach russisch sprechen? — Und damit ließen ihn die Adjutanten stehen. Der Stabshauptmann fühlte sich, ebenso wie gestern, sehr vereinsamt, und nachdem er an verschiedenen Herren grüßend vorübergegangen war — den einen wollte er sich nicht anschließen, und an die anderen traute er sich nicht heranzutreten —, setzte er sich neben dem Kasarski-Denkmal auf eine Bank und zündete sich eine Zigarette an. Auch Baron Pest erschien auf dem Boulevard. Er berichtete, daß er an den Waffenstillstandsverhandlungen teilgenommen und mit den französischen Offizieren gesprochen habe; unter anderem erzählte er, ein französischer Offizier habe zu ihm gesagt: „S'il n'avait pas fait clair encore pendant une demi- heure, les embuscades auraient été reprises“, worauf er ihm sehr schlagfertig geantwortet habe: „Monsieur! Je ne dis pas non, pour ne pas vous donner une démenti.“ In Wirklichkeit war er zwar bei den Verhandlungen zugegen gewesen, aber gar nicht dazu gekommen, irgendwelche sehr klugen Bemerkungen zu machen, obwohl er große Lust gehabt hatte, mit den Franzosen ins Gespräch zu kommen (denn es ist doch furchtbar amüsant, sich mit Franzosen zu unterhalten). Der -78-
Junker Baron Pest war eine ganze Weile an der Frontlinie entlanggegangen und hatte jeden erreichbaren Franzosen gefragt: „De quel régiment êtes-vous?“ Man hatte ihm Bescheid gegeben — das war alles. Und als er sich zu weit über die Linie hinausgewagt hatte, da hatte der französische Posten, der nicht vermutete, daß dieser Soldat Französisch verstehe, ihn in der dritten Person beschimpft: „Il vient regarder nos travaux ce sacré c...“ Da der Junker Baron Pest hierauf jedes Interesse am Waffenstillstand verloren hatte, war er nach Hause geritten und hatte unterwegs all die französischen Phrasen erfunden, die er jetzt zum besten gab. Auf dem Boulevard sah man ferner den Hauptmann Sobow, der sich lauthals unterhielt, den Hauptmann Obshogow mit seinem schlampigen Äußeren, den Artilleriehauptmann, der niemandem nach dem Munde redete, den Fahnenjunker, der Glück in der Liebe hatte, und all die anderen Personen von gestern mit ihren stets gleichbleibenden, von Lug, Eitelkeit und Leichtfertigkeit eingegebenen Bestrebungen. Es fehlten nur Praskuchin, Neferdow und etliche andere, an die hier, obwohl ihre Leichen noch nicht gewaschen, hergerichtet und in die Erde gebettet waren, niemand mehr dachte und die binnen eines Monats genauso von ihren Vätern, Müttern, Frauen, und Kindern vergessen sein würden, soweit sie welche besessen hatten und von ihnen nicht schon früher vergessen worden waren. „Den Alten da hätte ich fast nicht erkannt“, sagte ein mit dem Bergen der Leichen beschäftigter Soldat, als er einen Toten mit zerschmetterter Brust, unheimlich aufgedunsenem Kopf, schwarz angelaufenem glänzendem Gesicht und verdrehten Augen an den Schultern aufrichtete. „Faß ihn unter den Rücken, Moroska, sonst fällt er womöglich noch auseinander. Pfui, ein ekelhafter Geruch!“ „Ein ekelhafter Geruch!“ - das war alles, was dieser Mensch unter seinen Mitmenschen zurückgelassen hatte...
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16 Auf unserer Bastion und über dem französischen Laufgraben sind weiße Fahnen gehißt, und dazwischen liegen im blühenden Tal ohne Stiefel, in grauen und in blauen Uniformen, Haufen verstümmelter Leichname, die von Arbeitern weggetrage n und auf Wagen geladen werden. Die Luft ist von widerwärtigem, penetrantem Leichengeruch erfüllt. Aus Sewastopol und aus dem französischen Lager kommen Massen von Menschen, die sich dieses Schauspiel ansehen wollen, und streben mit brennender, gutmütiger Neugier einander zu. Hören wir, worüber diese Menschen miteinander sprechen. In einem Kreise von Russen und Franzosen steht ein junger Offizier und sieht sich eine Patronentasche der französischen Garde an. Er spricht zwar nur mangelhaft, aber immerhin ausreichend gut Französisch, um sich verständlich zu machen. „Eh sessi, purkwoa set oaso issi?“ fragt er. „Parce que c'est une giberne d'un régiment de la garde, monsieur, qui porte l'aigle impérial.“ „Eh wu de la gard?“ „Pardon, monsieur, du 6érne de ligne.“ „Eh sessi u aschtee?“ fragt der Offizier und zeigt auf eine Zigarettenspitze aus gelbem Holz, in der der Franzose seine Zigarette stecken hat. „A Balaclave, monsieur! C'est tout simple - en bois de palme.“ „Joli!“ sagt der Offizier, der sich bei dem Gespräch nicht so sehr von seinem Belieben als vielmehr von dem ihm geläufigen Wortschatz leiten läßt. „Si vous voulez bien garder cela comme souvenir de cette rencontre, vous m'obligerez.“ Und der höfliche Franzose bläst die Zigarette aus der Spitze und überreicht diese dem Offizier mit einer leichten Verbeugung. Der Offizier gibt ihm die seinige, und alle in der Gruppe, die Franzosen sowohl als auch die Russen, scheinen sehr zufrieden zu sein und lächeln. Ein kecker Infanterist in rosa Hemd und über die Schultern geworfenem Mantel tritt in Begleitung anderer Soldaten, die -80-
sich, die Hände auf dem Rücken, mit fröhlichen, neugierigen Blicken hinter ihm halten, auf einen Franzosen zu und bittet ihn um Feuer für seine Pfeife. Der Franzose facht seine Pfeife an, stochert in ihr herum und schüttet etwas Glut in die Pfeife des Russen. „Tabak bong“, sagt der Soldat im rosa Hemd, und die Zuschauer lächeln. „Qui, bon tabac, tabac turc“, sagt der Franzose. „Et chez vous tabac russe? bon?“ „Russ bong“, sagt der Soldat im rosa Hemd, und die Anwesenden schütteln sich vor Lachen. „Frangs nicht bong, bongschur, mussjöh“, sagt der Soldat im rosa Hemd, auf einmal sein ganzes französisches Vokabularium hervorsprudelnd, und klopft dem Franzosen lachend auf den Bauch. Auch die Franzosen lachen. „Ils ne sont pas jolis ces bêtes de russes“, sagt ein Zuave aus der Menge der Franzosen. „De quoi de ce qu'ils rient donc?“ fragt ein anderer Schwarzer mit italienischer Aussprache und kommt auf unsere Soldaten zu. „Kaftan bong“, sagt der kecke Soldat, während er sich die bestickten Rockschöße des Zuaven ansieht. Und wieder gibt es Gelächter. „Ne sortez pas de la ligne, à vos places, sacré nom ...“, ruft ein französischer Korporal, und die Soldaten gehen mit sichtlichem Widerstreben auseinander. An einer anderen Stelle brilliert einer unserer jungen Kavallerieoffiziere in einer Gruppe französischer Offiziere mit seinem französischen Figarojargon. Es ist die Rede von einem „Comte Sazonoff, que j'ai beaucoup connu, monsieur“, wie ein französischer Offizier mit Achselband sagt. „C'est un de ces vrais comtes russes, comme nous les aimons.“ „Il y a un Sazonoff que j'ai connu“, sagt der Kavallerist, „mais il n'est pas comte, à moins que je sache, un petit brun de votre âge à peu près.“ -81-
„C'est ça, monsieur, c'est lui. Oh, que je voudrais le voir ce eher comte. Sie vous le voyez, je vous pris bien de lui faire mes compliments. Capitaine Latour“, erwiderte der Franzose mit einer Verbeugung. „N'est-ce pas terrible la triste besogne, que nous faisons? Ça chauffait cette nuit, n'est-ce pas?“ sagt der Kavallerist in dem Wunsch, das Gespräch aufrechtzuerhalten, und zeigt auf die Gefallenen. „Oh, monsieur, c'est affreux! Mais quels gaillards vos soldats, quels gaillards! C'est un plaisier que de se battre contre des gaillards comme eux.“ „Il faut avouer que les vôtres ne se mouchent pas du pied non plus“, entgegnet der Kavallerist mit einer Verbeugung und bildet sich ein, ungemein nett zu sein. Doch genug davon. Sehen wir uns lieber den etwa zehnjährigen Bengel an, der mit einer alten, wahrscheinlich seinem Vater gehörenden Mütze auf dem Kopf, die Schuhe an den bloßen Füßen und in Nankinghosen, die nur auf einer Seite von einem Hosenträger gehalten werden, gleich zu Beginn des Waffenstillstandes über den Wall herübergekommen und die ganze Zeit durch das Tal geschlendert ist, mit stumpfer Neugier die Franzosen und die auf der Erde liegenden Leichname betrachtet und ein paar von den blauen Feldblumen gepflückt hat, mit denen diese unheilvolle Ebene übersät ist. Als er jetzt mit einem großen Strauß den Heimweg antritt, bleibt er, die Nase wegen des Geruches, der ihm entgegenschlägt, zuhaltend, vor einem Haufen zusammengetragener Leichen stehen und betrachtet den entsetzlich verstümmelten, kopflosen Leichnam, der ihm am nächsten liegt. Nachdem er eine ganze Weile bewegungslos dagestanden hat, geht er näher heran und berührt mit dem Fuß den ausgestreckten erstarrten Arm des Leichnams. Der Arm gerät ein wenig ins Schwanken. Er stößt ihn noch einmal und jetzt etwas fester an. Der Arm schwankt abermals und sinkt in seine frühere Stellung zurück. Da schreit der Junge plötzlich auf, -82-
steckt das Gesicht in die Blumen und läuft Hals über Kopf davon und in die Festung zurück. Ja, auf der Bastion und über den Gräben sind weiße Fahnen gehißt, das blühende Tal ist mit verwesenden Leichen bedeckt, die wundervolle Sonne senkt sich am klaren Himmel dem blauen Meere zu, und das blaue Meer glitzert wogend in den goldenen Sonnenstrahlen. Tausende von Menschen drängen sich, blicken um sich, sprechen miteinander, lächeln einander zu. Und diese Menschen, alles Christen, die sich zu ein und demselben erhabenen Gesetz der Liebe und Selbstlosigkeit bekennen, sollten angesichts dessen, was sie angerichtet haben, nicht von Reue ergriffen werden und impulsiv vor demjenigen auf die Knie sinken, der, als er ihnen das Leben schenkte, in die Seele eines jeden zugleich mit der Furcht vor dem Tode auch die Liebe zum Guten und Schönen gelegt hat? Sie sollten sich nicht unter Tränen der Freude und des Glücks in die Arme fallen wie Brüder? Nein! Die weißen Fetzen werden heruntergeholt, und aufs neue beginnen die Tod und Leiden bringenden Geschosse zu pfeifen, aufs neue fließt das Blut rechtschaffener, unschuldiger Menschen, werden Gestöhn und Verwünschungen laut. So habe ich nun gesagt, was ich diesmal sagen wollte. Aber schwere Bedenken steigen in mir auf. Vielleicht hätte ich es lieber nicht sagen sollen. Vielleicht gehört das, was ich gesagt habe, zu einer jener tückischen Wahrheiten, die, heimlich in der Seele eines jeden schlummernd, nicht ausgesprochen werden sollen, damit sie nicht Schaden anrichten - wie man auch den Bodensatz eines Weines nicht aufschütteln soll, um nicht den ganzen Wein zu verderben. Wo ist in meiner Erzählung das Böse dargestellt, das abschreckend wirken soll? Wo das Gute, das zur Nacheiferung anspornen könnte? Wer ist in ihr der Bösewicht, wer der Held? Alle sind gut, und alle sind schlecht. Weder Kalugin mit seiner blendenden Tapferkeit - bravoure de gentilhomme - und seiner Eitelkeit, der Triebfeder alles Tuns -83-
und Lassens, noch Praskuchin, ein hohler, harmloser Mensch, obwohl er im Kampf für Glauben, Kaiser und Vaterland gefallen ist, noch Michailow mit seiner Schüchternheit und seinen beschränkten Anschauungen, noch Pest, ein Kind ohne feste Überzeugungen und Grundsätze, können als die Bösewichter oder die Helden meiner Erzählung angesprochen werden. Nein, der Held meiner Erzählung, den ich mit allen Fibern meiner Seele liebe, den ich in seiner ganzen Schönheit nachzubilden trachte und der immer schön war, schön ist und schön bleiben wird, das ist - die Wahrheit.
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Sewastopol im August 1855 1 Auf der großen schluchtenreichen Sewastopoler Straße, zwischen Duwankoi* und Bachtschissarai, fuhr Ende August durch den dichten heißen Staub langsam ein Offizierswägelchen — eines jener eigentümlichen, sonst nirgendwo anzutreffenden Vehikel, die eine Art Mittelding zwischen einer jüdischen Britschka, einem russischen Reisewagen und einem Korb darstellen. Vorn im Wagen hockte ein Offiziersbursche in einem Nankingrock und einer ehemaligen, völlig formlosen Offiziersmütze und zerrte an den Zügeln; hinten, auf den unter einer Pferdedecke verstauten Bündeln und Packen, saß ein Infanterieoffizier im Sommermantel. Der Offizier war, soweit seine sitzende Stellung es erkennen ließ, nicht sehr groß, aber von außerordentlich breiter Statur — nicht so sehr von Schulter zu Schulter als im Durchmesser zwischen Brust und Rücken. Breit und stämmig gebaut, hatte er einen sehr starken, kräftigen Hals und Nacken. Eine sogenannte Taille — die Verengung zwischen Oberkörper und Hüften — fehlte bei ihm, doch war er auch nicht dickbäuchig; im Gegenteil, man konnte ihn eher mager nennen, namentlich im Gesicht, das eine krankhafte gelblichbraune Färbung aufwies. Sein Gesicht hätte für hübsch gelten können, wenn es nicht aufgedunsen und zugleich schlaff gewesen wäre und wenn nicht für sein Alter zu tiefe und ineinander übergehende Furchen die Züge verschärft und dem Gesicht im ganzen einen unfrischen und derben Ausdruck verliehen hätten. Seine kleinen braunen Augen blickten ungemein lebhaft, ja sogar herausfordernd; sein Schnurrbart war sehr dicht, aber nicht lang und an den Enden abgenagt, während *
Die letzte Station vor Sewastopol (Anm. d. Verf.)
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das Kinn und die Wangen von einem außergewöhnlich dichten und starken, seit zwei Tage n nicht rasierten schwarzen Bartansatz bedeckt waren. Der Offizier war am zehnten Mai durch einen Granatsplitter am Kopf verwundet worden, und er trug noch einen Verband; aber da er sich seit ungefähr einer Woche wieder völlig gesund fühlte, kehrte er nun, aus dem Simferopoler Lazarett kommend, zu seinem Regiment zurück, das sich irgendwo in der Gegend aufhalten mußte, aus der jetzt Schüsse herüberschallten. Ob es nun in Sewastopol selbst, auf der Nordseite oder in Inkerman stationiert war, darüber hatte ihm bis jetzt niemand eine genaue Auskunft geben können. Die Schüsse waren, besonders wenn der Schall nicht von Bergen aufgehalten oder vom Wind abgetrieben wurde, mitunter schon sehr deutlich und in kurzen Abständen zu hören und schienen aus geringer Entfernung zu kommen. Bald wurde die Luft gleichsam von einer Explosion erschüttert, wobei man unwillkürlich zusammenzuckte, bald ertönten schnell nacheinander weniger starke Laute, die wie Trommelwirbel klangen und ab und zu von einem ungeheuren Getöse unterbrochen wurden, dann wieder ging alles in ein rollendes Krachen über, ähnlich den Donnerschlägen eines Gewitters, das seinen Höhepunkt erreicht hat und sich gerade in einem Regenguß entlädt. Es wurde allgemein erzählt — und man hörte es auch —, daß ein furchtbares Bombardement im Gange war. Der Offizier trieb den Burschen zur Eile an; es schien ihm darum zu tun zu sein, möglichst schnell sein Ziel zu erreichen. Ihnen entgegen kam ein langer Wagenzug, mit dem russische Bauern Proviant nach Sewastopol gebracht hatten und jetzt, von dort zurückkehrend, Kranke und Verwundete abtransportierten: Soldaten in grauen und Matrosen in schwarzen Mänteln, griechische Freiwillige mit rotem Fes und bärtige Landsturmmänner. Das Offizierswägelchen mußte halten, und der Offizier, der das Gesicht verzog und die Augen zusammenkniff, um sich des Staubs zu erwehren, der wie eine dichte unbewegliche Wolke über der Straße aufstieg, ihm in -86-
Augen und Ohren drang und sich auf sein schweißbedecktes Gesicht legte, blickte mit verbissenem Gleichmut auf die Gesichter der an ihm vorüberfahrenden Kranken und Verwundeten. „Da ist ja ein Verwundeter von unserer Kompanie“, sagte der Bursche, sich zu seinem Herrn umwendend, und zeigte auf einen mit Verwundeten besetzten Wagen, der gerade an ihnen vorüberfuhr. Seitlings auf dem Bock des Wagens saß, einen Filzhut auf dem Kopf, ein bärtiger Russe, der den Stiel seiner Peitsche unter den Arm geklemmt hatte und ihre Enden zusammenflocht. Hinter ihm im holpernden Wagen befanden sich fünf Soldaten in verschiedenen Stellungen. Einer von ihnen, der einen Arm in der Schlinge einer einfachen Schnur trug und den Mantel über das völlig verschmutzte Hemd geworfen hatte, saß, obwohl er blaß war und elend aussah, in forscher Haltung in der Mitte des Wagens und war, als er den Offizier erblickte, schon im Begriff, an die Mütze zu greifen, als er sich wohl auf seine Verwundung besann und nun so tat, als habe er sich nur den Kopf kratzen wollen. Ein anderer lag neben ihm auf dem bloßen Boden des Wagens; man sah von ihm nur die abgemagerten Hände, mit denen er sich am Wagenrand festhielt, und seine hochgezogenen Knie, die wie zwei Bastwische hin und her schwankten. Ein dritter, mit aufgedunsenem Gesicht und verbundenem Kopf, auf den über den Verband eine Soldatenmütze gestülpt war, saß seitlings am Wagenrand und ließ die Beine herunterhängen; er hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und schien eingeschlummert zu sein. An diesen wandte sich der reisende Offizier. „Dolshnikow!“ rief er ihn an. „Hier!“ antwortete der Soldat, schlug die Augen auf und zog seine Mütze. Er sprach in einem so tiefen und schmetternden Baß, als hätten zwanzig Soldaten gleichzeitig gerufen. „Wann bist du denn verwundet worden, mein Lieber?“ -87-
Die bleiernen, verschwommenen Augen des Soldaten belebten sich; er hatte offenbar seinen Offizier erkannt. „Guten Tag wünsch ich, Euer Wohlgeboren!“ rief er in demselben schmetternden Baß. „Wo hält sich jetzt das Regiment auf?“ „In Sewastopol waren wir; am Mittwoch sollten wir abrücken, Euer Wohlgeboren.“ „Wohin?“ „Das hat man nicht gesagt... wahrscheinlich nach Norden, Euer Wohlgeboren! Heute, Euer Wohlgeboren“, fügte er in langgezogenem Ton hinzu und setzte seine Mütze wieder auf, „da feuert er ganz toll und meist mit Bomben, sogar bis in die Bucht fliegen sie; heute haut er so furchtbar drein, daß sogar...“ Was der Soldat weiter sagte, war nicht mehr zu verstehen; aber aus seinem Gesichtsausdruck und seinen Gebärden ließ sich schließen, daß er, ein geprüfter Mensch, mit einer gewissen Verbitterung nicht eben tröstliche Dinge sagte. Der Offizier im Reisewagen, Leutnant Koselzow, war kein Durchschnittsoffizier. Er gehörte nicht zu denen, die dieses tun und jenes lassen, weil andere es ebenso machen, sondern er tat alles nach eigenem Gutdünken, und andere richteten sich in ihren Handlungen nach ihm und waren überzeugt, damit das Rechte zu tun. Von Natur aus mit einigem Verstand und allerlei Gaben ausgestattet, sang er gut, spielte Gitarre, war redegewandt und wußte sich schriftlich auszudrücken — namentlich wenn es sich um amtliche Schriftstücke handelte, in deren Abfassung er während seines Dienstes als Regimentsadjutant eine große Fertigkeit erworben hatte. Am bemerkenswertesten aber war sein von Ehrgeiz eingegebenes Geltungsbedürfnis, das zwar in der Hauptsache auf den genannten Fähigkeiten beruhte, darüber hinaus jedoch ein selbständiger, ungemein scharf ausgeprägter Charakterzug bei ihm war. Sein Geltungsbedürfnis, wie man es in dieser Art am häufigsten bei Männern und vornehmlich in Militärkreisen antrifft, war so hochgradig mit seinem ganzen Sein verquickt, daß es für ihn keine andere Wahl gab, als -88-
entweder den ersten Platz einzunehmen oder mit dem Leben abzuschließen, und daß sein Ehrgeiz sogar seine Gedankenwelt beherrschte: er verglich sich im stillen gern mit anderen, um seine Überlegenheit über sie festzustellen. „Das fehlte noch, daß ich etwas darauf geben sollte, was so ein Moskau* schwatzt!“ brummte der Leutnant, der einen auf dem Herzen lastenden Druck und eine gewisse Verschwommenheit seiner Gedanken verspürte, hervorgerufen durch den Anblick des Verwundetentransports und die Worte des Soldaten, deren Bedeutung und Berechtigung durch das Dröhnen des Bombardements unterstrichen wurde. „Lächerlich ist dieses Moskau! Los, Nikolajew, treib die Pferde an! Schla f nicht!“ rief er in etwas nörgelndem Ton dem Burschen zu und zog die Schöße seines Mantels zurecht. Nikolajew straffte die Zügel, schnalzte mit der Zunge, und das Wägelchen rollte im Trab dahin. „Nur zum Füttern werden wir ein paar Minuten halten, dann fahren wir sofort weiter, noch heute“, sagte der Offizier. 2 Als Leutnant Koselzow mit seinem Wagen bereits in die von den Steinruinen der Tatarenhäuser eingesäumte Straße Duwankois einbog, wurde er von einem Transport, der Bomben und Munidon nach Sewastopol schaffte und der sich in der Straße staute, erneut aufgehalten. Zwei Infanteriesoldaten saßen am Wege im dichten Staub auf den Steinen einer eingestürzten Mauer und aßen eine Wassermelone mit Brot dazu. „Wohin geht's, Landsmann?“ wandte sich einer von ihnen, sein Brot kauend, an einen Soldaten, der mit einem kleinen Sack auf dem Rücken vor ihnen stehengeblieben war.
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In vielen Linienregimentern nennen die Offiziere den einfachen Soldaten halb verächtlich, halb gutmütig «Moskau» oder auch «Fahneneid». (Anm. d. Verf.)
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„Zur Kompanie geht's“, antwortete der Soldat, den Blick von der Wassermelone abwendend, und rückte den Sack auf seinem Rücken zurecht. „An die drei Wochen wohl sind wir im Gouvernement bei der Kompaniefurage gewesen, aber jetzt, siehst du, hat man uns alle angefordert. Dabei wissen wir nicht mal, wo jetzt das Regiment steht. Es heißt ja, daß unsere Leute vorige Woche in Korabelnaja einmarschiert sind. Habt ihr etwas davon gehört, Herrschaften?“ „In der Stadt steht es, Bruder, in der Stadt“, sagte der zweite Infanterist, ein alter Trainsoldat, während er mit seinem Klappmesser genießerisch in der unreifen, weißlichen Wassermelone herumbohrte. „Wir sind erst um die Mittagszeit von dort losgezogen. Dort ist eine solche Hölle, sag ich dir, mein Lieber, daß du besser erst mal wegbleibst; wirf dich hier irgendwo ins Heu und bleibe einen oder zwei Tage liegen, das wird besser sein.“ „Was ist denn dort los, Herrschaften?“ „Hörst du denn nicht, wie er heute von allen Seiten reinhaut? Kein Stein ist mehr auf dem anderen. Wie viele da von unseren Brüdern umgekommen sind, ist gar nicht zu sagen!“ Und der Sprechende machte eine resignierte Handbewegung und rückte seine Mütze zurecht. Der hinzugekommene Soldat schüttelte nachdenklich den Kopf, schmatzte ein paarmal mit der Zunge, holte dann aus dem Stiefelschaft seine Pfeife hervor, lockerte in ihr, ohne sie neu zu stopfen, den angebrannten Tabak und setzte ein Endchen Zunder an der Pfeife des anderen Soldaten in Brand. „Alles liegt in Gottes Hand, Herrschaften! Entschuldigt schon“, sagte er, seine Mütze ziehend, worauf er den Sack auf seinem Rücken zurechtrückte und seines Weges ging. „Na, na, du solltest lieber abwarten!“ rief ihm der mit seiner Wassermelone beschäftigte Soldat gedehnt und in eindringlichem Ton nach. „Es kommt doch, wie es soll“, murmelte der Soldat mit dem Sack, während er sich zwischen den Rädern der sich stauenden -90-
Fuhren hindurchschlängelte. „Zum Abendessen werde ich mir wohl auch eine Melone kaufen. Allerhand, was die Leute da erzählen!“ 3 Als Koselzow am Stationsgebäude vorfuhr, war es brechend voll von Menschen. Der erste, auf den sein Blick schon am Eingang fiel, war der Vorsteher, ein hagerer, noch sehr junger Mensch, der sich mit zwei ihm nachfolgenden Offizieren in einem heftigen Wortwechsel befand. „Nicht nur drei Tage, auch zehn Tage werden Sie vielleicht warten! Selbst Generäle warten, bester Herr!“ sagte der Vorsteher, der den Durchreisenden offenbar einen Stich versetzen wollte. „Ich selbst werde mich doch nicht vor Ihren Wagen spannen.“ „Wenn keine Pferde da sind, hat niemand welche zu bekommen! Aber wie sind denn vorhin die Pferde für den Diener mit dem vielen Gepäck beschafft worden?“ schrie der ältere der beiden Offiziere, der mit einem Glas Tee in der Hand dastand und den Vorsteher offensichtlich mit Absicht nicht direkt anredete, um ihm zu verstehen zu geben, daß er auch zum Du übergehen könnte. „Bedenken Sie doch selbst, Herr Vorsteher“, mischte sich zaghaft der andere, noch sehr jugendliche Offizier ein, „wir müssen nicht zu unserem Vergnügen weiter. Wir werden doch auch gebraucht, wenn man uns angefordert hat. Sonst müßte ich es wirklich Herrn General Kramper melden. Das ist doch keine Art, den Offiziersstand so zu mißachten...“ „Sie verderben immer alles!“ unterbrach ihn der ältere Offizier gereizt. „Sie stören mich nur; man muß wissen, wie man mit diesen Leuten zu reden hat. So verliert er alle Achtung vor uns... Auf der Stelle werden Pferde beschafft, sage ich!“ „Herzlich gern, bester Herr, aber woher soll ich sie nehmen?“ Der Vorsteher schwieg eine Weile, geriet dann unvermittelt in Erregung und fuhr, mit den Händen fuchtelnd, fort: „Ich -91-
verstehe und weiß selbst alles, bester Herr, aber was kann ich machen? Lassen Sie mich nur...“ — auf den Gesichtern der Offiziere zeigte sich ein Hoffnungsschimmer —, „... lassen Sie mich hier nur noch das Ende des Monats überleben — und ich bin hier nicht mehr zu sehen! Lieber will ich auf den MalachowHügel gehen als länger hierbleiben. Bei Gott! Dann soll man hier machen, was man will, bei solchen Anordnungen. Auf der ganzen Station gibt es jetzt nicht einen einzigen festen Wagen, und die Pferde haben schon seit drei Tagen keine Handvoll Heu zu sehen bekommen.“ Nach diesen Worten verschwand der Vorsteher hinter der Eingangstür. Koselzow begab sich mit den beiden Offizieren ins Stationsgebäude. „Nun“, sagte der ältere Offizier, der sich eben noch so ereifert hatte, jetzt in ganz ruhigem Ton zu dem jüngeren, „wenn wir schon drei Monate unterwegs sind, können wir auch noch etwas warten. Es ist kein Unglück, wir kommen noch früh genug hin!“ Das vollgerauchte, schmutzige Zimmer war so mit Offizieren und Koffern überfüllt, daß Koselzow nur mit Mühe ein Plätzchen auf dem Fensterbrett fand; er setzte sich, und während er sich eine Zigarette drehte, musterte er die Gesichter der Anwesenden und hörte zu, was sie sprachen. Rechts von der Tür, an einem schiefen, schmierigen Tisch, auf dem zwei stellenweise mit Grünspan bedeckte Kupfersamoware standen und in verschiedenen Tüten Zucker herumlag, saß die Hauptgruppe, in der ein junger bartloser Offizier in einer neuen, offenbar aus einem Frauenmorgenrock angefertigten Steppjacke gerade die Teekanne auffüllte. Vier ebenso junge Offiziere hielten sich in verschiedenen Ecken des Zimmers auf: einer lag auf einem Diwan, hatte sich ein pelzartiges Kleidungsstück unter den Kopf geschoben und schlief; ein anderer stand am Tisch und war dabei, einem dort sitzenden armamputierten Offizier den Hammelbraten in Stücke zu schneiden. Zwei Offiziere, der eine in Adjutantenuniform und der andere in einem gewöhnlichen, aber aus feinem Tuch gefertigten Infanteriemantel und mit einer -92-
Tasche über der Schulter, saßen auf der Ofenbank; und allein schon daraus, wie sie auf die anderen blickten und wie der mit der Tasche seine Zigarre rauchte, ließ sich schließen, daß es nicht Offiziere der Frontinfanterie waren und daß sie Genugtuung darüber empfanden. Nicht etwa, daß ihr Verhalten Geringschätzung ausgedrückt hätte; aber eine gewisse selbstgefällige Ruhe — die sich gewöhnlich teils auf Reichtum, teils auf nahe Beziehungen zu Generälen stützt —, das Bewußtsein ihrer Überlegenheit war so unverkennbar, daß sie es sogar zu verbergen trachteten. Ferner waren ein junger Arzt mit auffallend dicken Lippen und ein Artillerist mit deutschem Gesichtsschnitt anwesend, die auf dem Sofa fast auf den Beinen des dort schlafenden jungen Offiziers saßen und Geld zählten. Ein paar Offiziersburschen schlummerten, ein paar andere machten sich an der Tür mit Koffern und Bündeln zu schaffen. Koselzow entdeckte unter den Anwesenden kein einziges bekanntes Gesicht, hörte jedoch interessiert ihren Gesprächen zu. Die jungen Offiziere, die, wie er schon an ihrem Äußeren erkannte, direkt aus der Kadettenanstalt kamen, gefielen ihm und erinnerten ihn vor allem daran, daß auch sein Bruder in diesen Tagen aus der Kadettenanstalt bei einer der Sewastopoler Batterien eintreffen mußte. An dem Offizier mit der Tasche dagegen, den er schon irgendwo gesehen zu haben glaubte, fand er alles abstoßend und herausfordernd. Mit der Absicht, ihm eine gehörige Abfuhr zu erteilen, falls er sich etwas herausnehmen sollte, verließ er sogar seinen Platz am Fenster, ging zur Ofenbank hinüber und setzte sich dorthin. Koselzow, einem echten und tüchtigen Frontoffizier, waren Stabsoffiziere, als die er die beiden auf den ersten Blick erkannt hatte, allgemein nicht nur unsympathisch, sondern geradezu verhaßt. 4 „Es ist doch furchtbar ärgerlich, daß man so nahe am Ziel ist und hier jetzt festsitzt“, sagte einer der jungen Offiziere. „Vielleicht kommt es heute zu Kämpfen, und wir sind nicht dabei.“ -93-
In dem unsicheren Ton seiner dünnen Stimme und den rosigen Flecken, die beim Sprechen auf dem jugendfr ischen Gesicht des Offiziers erschienen waren, äußerte sich jene reizende jugendliche Befangenheit eines Menschen, der ständig fürchtet, für seine Gedanken nicht die richtigen Worte gewählt zu haben. Der armamputierte Offizier sah ihn lächelnd an. „Sie werden noch früh genug hinkommen, glauben Sie es mir“, sagte er. Der junge Offizier blickte ehrerbietig in das eingefallene Gesicht des Einarmigen, das unversehens durch sein Lächeln erhellt worden war, sagte nichts mehr und wandte sich wieder seinem Tee zu. In der Tat, im Gesicht des einarmigen Offiziers, in seiner Haltung und vornehmlich in dem leeren Ärmel drückte sich viel von jenem gelassenen Gleichmut aus, der sich so deuten läßt, als wollte er bei jeder Handlung und jedem Gespräch sagen: Das ist alles sehr schön, das weiß ich alles, und ich kann alles vollbringen, wenn ich nur will. „Was wollen wir nun beschließen?“ wandte sich der junge Offizier wieder an seinen Kameraden in der Steppjacke. „Sollen wir hier übernachten oder mit unserem eigenen Pferd weiterfahren?“ Der Kamerad lehnte die Weiterfahrt ab. „Stellen Sie sich vor, Herr Hauptmann“, fuhr der den Tee ausschenkende Offizier, zu dem Einarmigen gewandt, fort und hob dabei das Messer auf, das dieser fallen gelassen hatte, „stellen Sie sich vor, man hat uns gesagt, daß Pferde in Sewastopol ungeheuer teuer seien, und da haben wir uns gemeinsam eins in Simferopol gekauft.“ „Da wird man Sie wohl tüchtig gerupft haben, denke ich mir.“ „Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Herr Hauptmann, wir haben zusammen mit dem Fuhrwerk neunzig Rubel bezahlt. Ist das sehr teuer?“ fügte er hinzu, sich jetzt an alle und auch an Koselzow wendend, der zu ihm herüberblickte. „Nicht zu teuer, falls es ein junges Pferd ist“, sagte Koselzow. -94-
„Nicht wahr? Und uns sagte man, es sei teuer... Es lahmt allerdings etwas, aber das soll vergehen, wurde uns versichert. Sonst ist es sehr kräftig.“ „Aus welcher Kadettenanstalt kommen Sie?“ fragte Koselzow, dem daran lag, etwas über seinen Bruder zu erfahren. „Wir kommen jetzt vom Adelsregiment, im ganzen sechs Mann; wir sind alle auf eigenen Wunsch nach Sewastopol abkommandiert worden“, erzählte der redselige junge Offizier, „nur wissen wir noch gar nicht, wo unsere Batterien stehen: die einen sagen, in Sewastopol, aber hier hörten wir nun, daß sie in Odessa sein sollen.“ „Ließ sich das denn nicht in Simferopol feststellen?“ fragte Koselzow. „Man wußte es nicht... Stellen Sie sich nur vor, einer der Kameraden wollte sich dort in einer Kanzlei erkundigen — er hat nur Grobheiten zu hören bekommen. Stellen Sie sich vor, wie unangenehm das ist... Darf ich Ihnen eine fertige Zigarette anbieten?“ wandte er sich an den einarmigen Offizier, der sich anschickte, sein Zigarettenetui hervorzuholen. Er bemühte sich mit geradezu überschwenglichem Eifer, ihm behilflich zu sein. „Waren Sie auch in Sewastopol?“ sagte er dann und wandte sich wieder zu Koselzow um. „Ach, mein Gott, wie bewunderungswürdig das alles ist! Wie oft haben wir in Petersburg an Sie, an alle Helden gedacht!“ fügte er in ehrerbietigem, treuherzig- freundlichem Ton hinzu. „Nun werden Sie womöglich gar zurückfahren müssen?“ meinte der Leutnant. „Das ist es eben, was wir befürchten. Stellen Sie sich vor, nachdem wir das Pferd gekauft und uns mit allem Nötigen eingedeckt haben — einer Spiritus-Kaffeemaschine und noch verschiedenen unentbehrlichen Kleinigkeiten —, ist uns gar kein Geld mehr geblieben“, sagte er leise mit einem Seitenblick auf seinen Kameraden. „Wenn wir wirklich zurückfahren müssen, dann wissen wir gar nicht, was werden soll.“ -95-
„Haben Sie denn kein Reisegeld bekommen?“ fragte Koselzow. „Nein“, antwortete er flüsternd, „man hat uns nur versprochen, daß wir das Geld hier bekämen.“ „Hat man Ihnen denn eine Bescheinigung gegeben?“ „Ich weiß, daß eine Bescheinigung die Hauptsache ist; aber ein Senator in Moskau, ein Onkel von mir, sagte mir, als ich zu ihm kam, man werde das Geld hier ohne weiteres auszahlen, sonst hätte er es mir gegeben. Ob man es nun wohl auch so auszahlen wird?“ „Zweifellos wird man es auszahlen.“ „Ich glaube auch“, sagte er in einem Ton, aus dem man heraushörte, daß er jetzt, nachdem er auf dreißig Stationen die gleiche Frage gestellt und jedesmal eine andere Antwort erhalten hatte, niemandem mehr recht glauben wollte. 5 „Wie könnte man denn die Auszahlung verweigern?“ mischte sich plötzlich jener Offizier ein, der vor der Tür die Auseinandersetzung mit dem Vorsteher gehabt hatte und sich nun zu den diskutierenden Offizieren gesellte, wobei er sich auch an die etwas abseits sitzenden Stabsoffiziere als besonders maßgebende Zuhörer wandte. „Ich habe mich ja ebenso wie diese Herren hier für die aktive Armee und sogar direkt nach Sewastopol gemeldet, obwohl ich einen sehr guten Posten hatte; aber außer hundertsechsunddreißig Rubel in Silber für das Fahrgeld ab P. habe ich nichts bekommen und schon über hundertfünfzig Rubel aus meiner eigenen Tasche zulegen müssen. Man bedenke nur: achthundert Werst habe ich zurückgelegt und bin schon den dritten Monat unterwegs. Mit diesen Herren hier reise ich seit über einem Monat zusammen. Nur gut, daß ich eigenes Geld hatte. Aber wenn ich nun keins gehabt hätte?“ „Sind Sie wirklich schon den dritten Monat unterwegs?“ fragte einer der Anwesenden. -96-
„Ja, was meinen Sie denn, was ich hätte machen sollen?“ fuhr der Offizier fort. „Wenn es nicht mein Wunsch gewesen wäre, an die Front zu kommen, hätte ich nicht meinen guten Posten aufgegeben; mir lag also nichts daran, die Reise zu meinem Vergnügen oder gar aus Furcht vor der Front in die Länge zu ziehen, aber es gab einfach keine Möglichkeit weiterzukommen. In Perekop zum Beispiel habe ich zwei Wochen festgesessen; der Stationsvorsteher ließ sich überhaupt auf nichts ein: ,Sehen Sie zu, wie Sie weiterkommen — allein an Reisescheinen für Kuriere habe ich noch diesen Stapel liegen!' Das Schicksal muß es wohl so wollen... Ich habe ja den besten Willen, aber es ist eben Schicksalsfügung; ich warte hier ja nicht, weil jetzt ein Bombardement im Gange ist — aber ob man sich nun beeilt oder nicht, es ändert nichts an der Sache. Ich würde ja gern...“ Dieser Offizier war so darauf bedacht, die Gründe seines langsamen Weiterkommens zu erklären und sich zu rechtfertigen, daß man unwillkürlich auf den Gedanken kam, er habe Angst. Bestärkt wurde man hierin noch, als er sich nach dem Standort seines Regiments erkundigte und dabei fragte, ob dort heiß gekämpft werde. Er wurde sogar blaß, und es benahm ihm den Atem, als der armamputierte Offizier, der zum selben Regiment gehörte, antwortete, daß allein bei ihnen in den letzten beiden Tagen siebzehn Offiziere gefallen seien. Und wirklich war dieser Offizier im gegenwärtigen Augenblick ausgesprochen feige, obwohl er es sechs Monate zuvor keineswegs gewesen war. In ihm hatte sich ein Umschwung vollzogen, wie ihn vor ihm und nach ihm auch viele andere erlebt haben. Er war in einem unserer Gouvernements zu Hause, in dem sich Kadettenanstalten befinden, und hatte dort einen guten, geruhsamen Posten bekleidet; doch als er in Zeitungen und Privatbriefen von den Taten der Sewastopoler Helden, seiner früheren Kameraden, gelesen hatte, war in ihm plötzlich der Ehrgeiz und, mehr noch, eine patriotische Begeisterung entflammt. -97-
Dieser Aufwallung hatte er außerordentlich viel geopfert: seine gute Stellung, in der er sich eingelebt hatte, eine nette kleine Wohnung mit Polstermöbeln, die durch achtjährige Arbeit erworben waren, seine Bekanntschaften und Aussichten auf eine gute Partie — alles dies hatte er aufgegeben und sich in der Hoffnung auf unvergänglichen Ruhm und Generalsepauletten schon im Februar zur aktiven Armee gemeldet. Zwei Monate nach der Einreichung seines Gesuches war von der Militärverwaltung eine Anfrage gekommen, ob er eine Unterstützung seitens der Regierung beanspruche. Er hatte verneinend geantwortet und weiter geduldig auf seine Einberufung gewartet, obwohl seine patriotische Begeisterung im Laufe dieser beiden Monate erheblich abgeflaut war. Nach abermals zwei Monaten wurde bei ihm wegen einer etwaigen Zugehörigkeit zu einer Freimaurerloge und ähnlichen Formsachen angefragt, und nachdem er wiederum verneinend geantwortet hatte, war nach fast fünf Monaten endlich seine Einberufung erfolgt. Im Laufe dieser Zeit hatten seine Freunde und vor allem jene heimliche Unzufriedenheit mit dem Neuen, die sich bei jeder Änderung der Lebensverhältnisse einzustellen pflegt, in ihm die Überzeugung gefestigt, daß er mit seiner Meldung zur aktiven Armee eine ungeheure Dummheit begangen habe. Und als er dann, sich selber überlassen, auf der fünften Station mit Sodbrennen und staubbedecktem Gesicht zwölf Stunden lang auf Pferde warten mußte und dort einem aus Sewastopol kommenden Kurier begegnete, der ihm von den Schrecken des Krieges erzählte, da bereute er vollends seine leichtfertige Handlungsweise, dachte mit dumpfem Grauen an das, was ihm bevorstand, und fuhr apathisch weiter wie zu einer Hinrichtung. Während seiner dreimonatigen Fahrt von einer Station zur anderen, wobei er fast auf jeder warten mußte und aus Sewastopol kommende Offiziere traf, die schauerliche Dinge erzählten, hatte sich dieser Gemütszustand bei dem bedauernswerten Offizier so weit verschärft, daß der zu den verwegensten Taten bereite Held, der zu sein er in P. geglaubt -98-
hatte, in Duwankoi als erbärmlicher Hasenfuß ankam. Seitdem er sich vor einem Monat den aus der Kadettenanstalt kommenden jungen Offizieren angeschlossen hatte, war er darauf bedacht, die Reise möglichst langsam fortzusetzen, weil er glaubte, daß diese Tage die letzten seines Lebens seien. Er schlug auf jeder Station sein Feldbett auf, packte den Koffer aus, arrangierte eine Partie Preference, betrachtete das Beschwerdebuch als Mittel zum Zeitvertreib und freute sich, wenn ihm keine Pferde gegeben wurden. Er hätte wirklich ein Held werden können, wenn er aus P. unverzüglich auf die Bastionen gekommen wäre; nun jedoch mußte er noch viele seelische Qualen erdulden, um es zu jener bei Arbeit und Gefahr stets gleichbleibenden Ruhe und Geduld zu bringen, die wir an den russischen Offizieren gewohnt sind. Seine Begeisterung neu zu beleben wird allerdings kaum möglich sein. 6 „Wer hat den Borstsch bestellt?“ rief die Wirtin, eine dicke, nicht sonderlich sauber aussehende Frau von etwa vierzig Jahren, die mit einer Terrine voll Kohlsuppe ins Zimmer trat. Die Unterhaltung brach sogleich ab, und alle Anwesenden richteten die Augen auf die Gastwirtin. Der aus P. kommende Offizier zwinkerte sogar, auf die Frau deutend, einem der jungen Offiziere zu. „Ach ja, den hat Koselzow bestellt, wir müssen ihn wecken“, sagte ein junger Offizier. „Steh auf, das Essen ist da!“ rief er und trat an den auf dem Diwan schlafenden Kameraden heran und rüttelte ihn an der Schulter. Dieser, ein Jüngling von etwa siebzehn Jahren mit fröhlich blickenden Augen und ganz roten Wangen, sprang behende auf und blieb, sich die Augen reibend, in der Mitte des Zimmers stehen. „Ach, entschuldigen Sie bitte“, wandte er sich mit silberheller Stimme an den Arzt, den er beim Aufstehen angestoßen hatte. -99-
Leutnant Koselzow erkannte sofort seinen Bruder und trat auf ihn zu. „Erkennst du mich nicht?“ fragte er lächelnd. „Aaach! Das ist ja wundervoll!“ rief der jüngere Bruder und umarmte den. älteren. Sie wechselten dreimal Küsse, zauderten jedoch beim drittenmal, als wäre ihnen beiden der Gedanke gekommen: Warum muß es unbedingt dreimal sein? „Wie ich mich freue!“ sagte der Ältere und betrachtete den Bruder. „Komm, wir plaudern draußen ein wenig.“ „Ja, gehen wir, gehen wir! — Den Borstsch mag ich nicht, iß du ihn, Federson“, rief er einem Kameraden zu. „Aber du hattest doch Hunger?“ „Nein, ich mag nichts.“ Als sie auf dem Vorplatz waren, drang der Jüngere immer wieder in den Bruder: „Wie ist es dir denn ergangen, erzähle doch!“ und versicherte dauernd, wie sehr er sich über das Wiedersehen freue, ohne jedoch etwas von sich selbst zu berichten. Nachdem fünf Minuten vergangen waren und sie eine Weile geschwiegen hatten, fragte der Ältere den Bruder, warum er nicht zur Garde gegangen sei, wie man es doch zu Hause allgemein erwartet habe. „Ach ja, diese Sache!“ antwortete der Jüngere und wurde allein bei der Erinnerung daran rot. „Das hat mir einen furchtbaren Schlag versetzt, und ich hätte nie erwartet, daß es so kommen würde. Stell dir nur vor, unmittelbar vor der Entlassung hatten wir uns, drei Mann, zum Rauchen zurückgezogen — weißt du, in das kleine Zimmer hinter der Portiersloge, wie man es gewiß auch zu deiner Zeit gemacht hat —, na ja, das hat der Wächter gesehen, und da ist dieser Halunke — wie oft hat er von uns Trinkgelder eingesteckt! — zum diensthabenden Offizier gelaufen und hat es ihm gemeldet, worauf sich dieser heranschlich. Als wir ihn bemerkten, warfen die beiden anderen die Zigaretten weg und machten sich durch die Seitentür aus -100-
dem Staube, ich aber schaffte es nicht mehr; er zog über mich her, ich blieb ihm natürlich die Antwort nicht schuldig, er meldete es dem Inspektor, und der Skandal war groß. Dafür nun bekam ich eine schlechtere Zensur im Betragen, und obwohl ich sonst in allen Fächern die besten Zensuren hatte, nur in Mechanik eine Zwölf, wurde ich der Linienarmee zugeteilt. Sie versprachen, mich später in die Garde zu versetzen, aber da wollte ich es selbst nicht mehr und bat um Abkommandierung an die Front.“ „So, so!“ „Wirklich, ich sage es in vollem Ernst, mir war das Ganze so zuwider geworden, daß ich nur noch den Wunsch hatte, so schnell wie möglich nach Sewastopol zu kommen. Übrigens, wenn alles gut geht, hat man dabei sogar bessere Aussichten als bei der Garde: dort wird man in zehn Jahren Oberst, während Totleben es hier in anderthalb Jahren vom Oberstleutnant zum General gebracht hat. Nun, und wenn ich fallen sollte, dann ist das auch nicht zu ändern!“ „Sieh mal an!“ sagte der Bruder lächelnd. „Und vor allem muß ich dir sagen“, fuhr der Jüngere fort und wurde dabei so rot, als schicke er sich an, etwas sehr Beschämendes einzugestehen, „das alles hat nichts zu sagen. Ich habe mich vor allem deshalb zur Front gemeldet, weil es immerhin das Gewissen bedrückt, in Petersburg zu leben, während hier Menschen für das Vaterland sterben. Und außerdem lag mir daran, mit dir zusammen zu sein“, fügte er hinzu und errötete noch mehr. „Du bist ja komisch“, sagte der ältere Bruder, ohne ihn anzusehen, und griff nach seinem Zigarettenetui. „Nur schade, daß wir gar nicht zusammen sein werden“. „Nun sag mir aber aufrichtig: Ist es sehr schlimm auf den Bastionen?“ fragte da unvermittelt der Jüngere. „Zuerst kommt es einem schlimm vor, doch dann gewöhnt man sich daran und empfindet es nicht mehr so. Du wirst ja selbst sehen!“ -101-
„Was ich noch fragen wollte: Meinst du, daß sie Sewastopol nehmen werden? Ich glaube, wir werden es um keinen Preis hergeben.“ „Das mag Gott wissen.“ „Eins nur ist ärgerlich... Stell dir bloß vor, man hat uns unterwegs ein ganzes Bündel gestohlen, in dem sich auch mein Tschako befand, so daß ich jetzt in einer entsetzlichen Lage bin und gar nicht weiß, wie ich zur Meldung antreten soll. Du weißt doch, wir haben jetzt neue Tschakos, und überhaupt gibt es eine Menge Änderungen — alles ist besser geworden. Ich kann dir das alles erzählen... Ich bin in Moskau überall herumgekommen...“ Wladimir, der jüngere Koselzow, sah seinem Bruder Michail sehr ähnlich, freilich nur insoweit, wie eine sich eben entfaltende Rosenknospe einer verblühten Heckenrose gleicht. Sein Haar, blond wie das des Bruders, war dichter und wellte sich an den Schläfen. Auf seinem zarten weißen Nacken wuchs ein kleiner blonder Haarschopf — ein Glückszeichen, wie die Kinderfrauen zu sagen pflegen. Sein zartes, blasses Gesicht flammte mitunter in einem vollblütigen jugendlichen Rot auf und verriet dann alle Regungen seiner Seele. Die Augen glichen denen des Bruders, blickten aber offener und heller, was besonders deshalb so schien, weil sie häufig feucht glänzten. Ein blonder Flaum sproß auf den Wangen und über den roten Lippen, die sehr oft von einem verlegenen Lächeln umspielt wurden, das die blendendweißen Zähne sichtbar werden ließ. Schlank, breitschultrig, in aufgeknöpftem Mantel, unter dem sein rotes Russenhemd hervorlugte, mit einer Zigarette in der Hand — wie er so, auf das Treppengeländer gestützt, mit naiver Freude in Gesicht und Haltung vor dem Bruder stand, stellte er einen so reizenden lieben Kerl dar, daß man ihn hätte immerzu ansehen mögen. Er freute sich unsagbar über das Wiedersehen mit dem Bruder, der ihm Achtung und Stolz einflößte und als ein Held erschien; doch in mancher Hinsicht, was den gesellschaftlichen Schliff betraf — die Beherrschung der französischen Sprache, -102-
die Fähigkeit, sich in guter Gesellschaft zu bewegen, zu tanzen und dergleichen mehr —, da schämte er sich ein wenig für ihn, blickte er auf ihn herab, und er hoffte sogar, erzieherisch auf ihn einzuwirken, obwohl er im Grunde auf diesem Gebiet selbst nicht allzugut beschlagen war. Seine ganze Erfahrung hierin stammte noch aus Petersburg, aus dem Hause einer Dame, die hübsche junge Leute gut leiden mochte und ihn zu den Feiertagen bei sich aufgenommen hatte, und aus dem Hause eines Senators in Moskau, bei dem er einmal zu einem großen Ball eingeladen gewesen war. 7 Nachdem sich die Brüder erschöpfend ausgesprochen hatten und beide schließlich zu der sich in solchen Fällen häufig einstellenden Empfindung gekommen waren, daß man trotz aller gegenseitigen Liebe wenig Gemeinsames habe, verharrten sie eine ganze Weile in Schweigen. „Nimm also deine Sachen, wir wollen gleich weiterfahren“, sagte endlich der Ältere. Der Jüngere errötete jählings und wurde verle gen. „Direkt nach Sewastopol?“ fragte er nach kurzem Zögern. „Gewiß, du hast ja nicht viel Gepäck; ich werde es wohl unterbringen können.“. „Ausgezeichnet! Dann können wir gleich fahren“, sagte der Jüngere mit einem Seufzer und ging auf das Zimmer zu. Doch bevor er die Tür öffnete, blieb er im Flur stehen, ließ den Kopf hängen und dachte: Auf der Stelle nach Sewastopol, in diese Hölle — das ist ja furchtbar! Nun, gleichviel, einmal muß es ja doch sein. Jetzt habe ich wenigstens meinen Bruder bei mir... Die Sache war die, daß er sich erst jetzt, als er daran dachte, daß er den Wagen, den er besteigen sollte, nicht vor der Ankunft in Sewastopol verlassen würde und daß ihn kein Zufall mehr aufhalten könne, mit voller Klarheit die Gefahr vorstellte, die er gesucht hatte — und er geriet in Verwirrung und schauderte -103-
schon bei dem Gedanken an ihre Nähe. Nachdem er sich einigermaßen gefaßt hatte, begab er sich ins Zimmer. Doch es verging eine Viertelstunde, ohne daß er zum Bruder zurückgekehrt wäre, so daß dieser schließlich die Tür öffnete, um ihn zu rufen. Der junge Koselzow stand in der Haltung eines bei einem Streich ertappten Schuljungen vor dem Offizier aus P., mit dem er über etwas sprach. Als der Bruder die Tür öffnete, verlor er völlig die Fassung. „Sofort, ich komme sofort!“ rief er mit einer abwehrenden Handbewegung dem Bruder zu. „Warte bitte draußen auf mich.“ Nach Verlauf einer Minute kam er auch wirklich heraus und ging mit einem tiefen Seufzer auf den Bruder zu. „Stell dir vor, Mischa, ich kann nicht mit dir fahren“, sagte er. „Wie? Was für ein Unsinn!“ „Ich will dir die ganze Wahrheit sagen, Mischa! Von uns hatte niemand mehr Geld, und wir haben allesamt Schulden bei dem Stabshauptmann, der aus P. kommt. Es ist furchtbar peinlich.“ Der ältere Bruder runzelte die Stirn und brach das eingetretene Schweigen lange nicht. „Schuldest du ihm viel?“ fragte er mit einem finsteren Blick auf den Bruder. „Viel... nein, nicht sehr viel; aber es ist doch furchtbar unangenehm. Er hat auf drei Stationen für mich bezahlt, und von seinem Zucker haben wir auch immer genommen, so daß ich nicht weiß... ja, wir haben auch Preference gespielt... da bin ich ihm etwas schuldig geblieben.“ „Das ist nicht schön, Wolodja! Was würdest du nun gemacht haben, wenn du mich nicht getroffe n hättest?“ sagte der Ältere in strengem Ton, ohne den Bruder anzusehen. „Ich hatte vor, alles zu bezahlen, sobald ich in Sewastopol das Reisegeld bekommen würde. Das läßt sich doch machen, Mischa, und ich werde deshalb lieber morgen mit ihm zusammen weiterfahren.“
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Der ältere Bruder zog seinen Geldbeutel hervor und entnahm ihm mit ein wenig zitternden Fingern zwei Zehnrubel- und einen Dreirubelschein. „Das ist meine ganze Barschaft“, sagte er. „Wieviel schuldest du ihm also?“ Koselzows Worte, daß dies seine ganze Barschaft sei, entsprachen nicht ganz der Wahrheit; er besaß außerdem noch vier Goldstücke, die für alle Fälle im Mantelaufschlag eingenäht waren und die er, wie er sich geschworen hatte, unter keinen Umständen angreifen wollte. Es stellte sich heraus, daß der jüngere Koselzow dem Offizier aus P., einschließlich der Spielschulden und des Zuckers, alles in allem nur acht Rubel schuldete. Der ältere Bruder gab ihm das Geld und fügte nur die Bemerkung hinzu, daß es nicht angehe, auch noch Karten zu spielen, wenn man kein Geld hat. „Woraufhin hast du denn gespielt?“ Der Jüngere erwiderte kein Wort. Aus der Frage des Bruders glaubte er einen Zweifel an seiner Ehrlichkeit herauszuhören. Der Ärger über sich selbst, die Scham wegen seiner Handlungsweise, die ein solches Mißtrauen hervorrufen konnte, und die Kränkung durch den Bruder, den er so liebte, übten auf sein empfindsames Gemüt einen so tiefen schmerzlichen Eindruck aus, daß er nichts antwortete, weil er fühlte, daß er nicht fähig sein würde, ein Aufschluchzen zu unterdrücken, wenn er etwas gesagt hätte. Er nahm, ohne hinzusehen, das Geld und ging zu seinen Kameraden. 8 Nikolajew, gestärkt durch zwei Viertelchen Schnaps, die er in Duwankoi bei einem Soldaten erstanden hatte, der dort auf der Brücke Branntwein verkaufte, zog die Zügel an, und das Wägelchen fuhr holpernd über den steinigen, nur stellenweise schattigen Weg, der den Belbek entlang nach Sewastopol führte. Die beiden Brüder, die in einem fort mit den Beinen -105-
aneinanderstießen, schwiegen beharrlich, obwohl sie sich in Gedanken unablässig miteinander beschäftigten. Warum hat er mich gekränkt? fragte sich der Jüngere. Mußte er das alles sagen? Es sah ja beinah so aus, als halte er mich für einen Dieb; und auch jetzt scheint er noch böse zu sein, so daß es mit unserer Eintracht ein für allemal aus ist. Und wie schön hätte sich in Sewastopol alles gestalten können! Zwei Brüder, die einander gut verstehen, kämpfen beide gegen den Feind; der eine ist schon ein alter, zwar nicht sehr gebildeter, aber tapferer Krieger, während der andere noch jung ist, aber auch seinen Mann steht. In einer Woche werde ich es schon allen bewiesen haben, daß ich kein grüner Junge mehr bin! Ich werde auch nicht mehr erröten, mein Gesicht wird Männlichkeit ausdrücken, und auch mein Schnurrbart wird bis dahin, wenn auch nicht sehr dicht, so doch ganz ansehnlich sein, dachte er und zupfte an dem Flaum, der an seinen Mundwinkeln sproß. Vielleicht kommen wir noch heute an und müssen beide gleich an einem Kampf teilnehmen. Der Bruder muß wohl sehr hartnäckig und tapfer sein — ein Mann, der nicht viel spricht, aber alles besser macht als die anderen. Ich möchte bloß wissen, überlegte er, ob er mich absichtlich so an den Wagenrand drückt oder ob er es gar nicht merkt. Sicherlich sieht er, wie unbequem ich sitze, und tut nur so, als merke er es nicht. Wenn wir heute ankommen, setzte er seinen Gedanken fort, während er sich eng an den Wagenrand schmiegte und ängstlich bemüht war, jede Bewegung zu vermeiden, die dem Bruder seine unbequeme Lage verraten könnte, dann ist es gut möglich, daß wir sofort auf die Bastion müssen: ich mit der Artillerie, der Bruder mit seiner Kompanie — so rücken wir gemeinsam aus. Doch plötzlich kommen uns Franzosen entgegengestürmt. Ich lasse schießen, pausenlos schießen und mache eine Unmenge Feinde nieder; aber sie rennen immer wieder direkt gegen mich an. Zu schießen ist nicht mehr möglich, alles ist aus — ich bin verloren. Aber da stürzt plötzlich der Bruder mit gezogenem Säbel vor, ich greife nach dem Gewehr, wir stürmen zusammen mit den Soldaten vorwärts. -106-
Die Franzosen fallen über den Bruder her. Ich laufe hinzu, töte einen Franzosen, noch einen und rette den Bruder. Eine Kugel trifft mich in den Arm, ich nehme das Gewehr in die. andere Hand und laufe trotz Verwundung weiter. Doch nun wird der Bruder getroffen und sinkt neben mir tot zu Boden. Ich bleibe einen Augenblick stehen, blicke mit gebrochenem Herzen auf ihn herab, richte mich dann auf und rufe: „Mir nach, wir müssen ihn rächen! Ich habe meinen Bruder über alles in der Welt geliebt“, werde ich sagen, „und habe ihn verloren. Wir wollen Rache nehmen, wollen die Feinde vernichten oder alle hier sterben!“ Alle brechen in laute Rufe aus und stürmen hinter mir her. Jetzt rückt, von Pélissier persönlich angeführt, die ganze französische Streitmacht vor. Wir machen sie alle nieder; doch zu guter Letzt werde ich ein zweites, ein drittes Mal verwundet und sinke zu Tode getroffen nieder. Nun kommen alle auf mich zugelaufen; auch Gortschakow kommt und fragt, ob ich einen Wunsch habe. Ich antworte, daß ich nichts weiter wünsche, als neben meinen Bruder gelegt zu werden, um an seiner Seite zu sterben. Man trägt mich weg und legt mich neben den blutüberströmten Leichnam des Bruders. Ich richte mich auf und sage nur: „Ihr habt zwei Männer, die das Vaterland wahrhaft liebten, nicht zu schätzen gewußt; jetzt sind beide gefallen... Gott verzeih euch!“ sage ich und sterbe. Wer weiß, inwieweit diese Traumgespinste einmal Wirklichkeit werden sollten! „Hast du eigentlich schon ma l an einem Nahkampf teilgenommen?“ fragte der junge Koselzow unvermittelt seinen Bruder; daß er nicht mit ihm sprechen wollte, hatte er völlig vergessen, „Nein, kein einziges Mal“, antwortete der Ältere. „Unser Regiment hat zweitausend Mann verloren, aber ausnahmslos bei den Befestigungsarbeiten; ich selbst bin auch bei den Befestigungsarbeiten verwundet worden. Der Krieg spielt sich ganz anders ab, als du es dir vorstellst, Wolodja.“ -107-
Der Kosename Wolodja rührte den Jüngeren; er wollte sich mit dem Bruder aussprechen, der sich gar nicht bewußt war, ihn gekränkt zu haben. „Bist du mir böse, Mischa?“ fragte er nach kurzem Zögern. „Weswegen?“ „Nun, so. Wegen der Sache von vorhin. Ich meinte nur...“ „Keine Spur“, antwortete der Ältere und klopfte ihm, sich zu ihm umdrehend, aufs Knie. „Entschuldige, Mischa, wenn ich dir Verdruß gemacht habe“, sagte der jüngere Bruder und wandte sich ab, um die Tränen zu verbergen, die ihm unversehens in die Augen getreten waren. 9 „Ist das wirklich schon Sewastopol?“ fragte der jüngere Bruder, als sie einen Berg hinaufgefahren waren und sich vor ihnen eine weite Aussicht auf die Bucht mit den vielen Schiffsmasten eröffnete, auf das Meer mit der sich in der Ferne abzeichnenden feindlichen Flotte, die weißen Küstenbatterien, Kaserne n, Aquädukte, Docks und Gebäude der Stadt und auf die weißen, lila schimmernden Rauchwolken, die unaufhörlich über den gelben, die Stadt umgebenden Bergen emporstiegen und über den blauen Himmel hinzogen, beschienen von den rosa leuchtenden Strahlen der Sonne, die sich funkelnd in dem dunklen Meer spiegelte und sich bereits dem Horizont zuneigte. Der Anblick dieses schrecklichen Schauplatzes, der in seinen Gedanken einen so weiten Raum eingenommen hatte, erfüllte Wolodja keineswegs mit Schauder; im Gegenteil, er blickte mit ästhetischem Genuß und heldenmütiger Genugtuung darüber, daß nun auch er in einer halben Stunde dort sein würde, auf dieses in der Tat eigenartig prächtige Panorama und wandte seine gespannte Aufmerksamkeit erst davon ab, als sie die Nordseite und den Train des Regiments seines Bruders erreichten, wo sie eine zuverlässige Auskunft über den Standort des Regiments und der Batterie bekommen mußten. -108-
Der Offizier, dem der Train unterstand, hauste neben dem sogenannten Neuen Städtchen — von Matrosenfamilien errichteten Bretterbaracken — in einem Zelt, das mit einem verhältnismäßig großen Schuppen verbunden war, dessen Wände und Dach aus einem Geflecht von grünen, noch nicht ganz verdorrten Eichenzweigen bestanden. Als die Brüder eintraten, saß der Offizier ohne Rock, in einem schmutziggelben Hemd an einem zusammenklappbaren Tisch, auf dem ein Glas kalter Tee mit Zigarettenasche auf der Untertasse sowie ein Tablett mit Schnaps und Resten von trockenem Kaviar und Brot standen, und war damit beschäft igt, mit Hilfe eines großen Rechenbretts einen riesigen Stapel von Geldscheinen zu zählen. Doch bevor wir uns mit der Person des Offiziers und dem, was er zu sagen hatte, befassen, müssen wir uns etwas eingehender das Innere des Schuppens ansehen und wenigstens oberflächlich die Lebensweise und Beschäftigung des Offiziers kennenlernen. Der funkelnagelneue Schuppen war so groß, so solide hergerichtet und behaglich mit kleinen Tischen und Bänken aus Rohrgeflecht und Rasenstücken ausgestattet, wie es gewöhnlich nur bei Generälen oder Regimentskommandeuren der Fall ist; die Seitenwände und die Decke waren zum Schutz gegen abfallende Blätter mit drei Teppichen versehen, die zwar scheußlich aussahen, aber neu und sicherlich teuer waren. Über das Metallbett, das unter dem größten Teppich stand, auf dem eine Amazone dargestellt war, war eine grellrote Plüschdecke gebreitet, und darauf lagen ein schmutziges, zerrissenes Lederkissen und ein Waschbärpelz. Auf dem Tisch sah man einen Spiegel mit silbernem Rahmen, eine silberne, unglaublich schmutzige Bürste, einen lückenhaften Hornkamm, in dem fettige Haare steckten, einen silbernen Leuchter, eine Flasche Likör mit einem riesigen in Gold und Rot gehaltenen Etikett, eine goldene Taschenuhr mit dem Bildnis Peters L, zwei go ldene Ringe, eine Schachtel mit irgendwelchen Kapseln, eine Brotrinde und verstreut hingeworfene alte Karten; unter dem Bett standen teils volle, -109-
teils leere Porterflaschen. Dieser Offizier verwaltete den Train des Regiments und die Furage der Pferde. Mit ihm zusammen wohnte sein guter Freund, ein Kommissionär, der sich auch sonst noch mit allen möglichen Geschäften abgab. Beim Eintritt der Brüder schlief er im Zelt, während der Trainoffizier dabei war, die monatliche Abrechnung der Staatsgelder vorzunehmen. Äußerlich machte der Trainoffizier eine sehr gute und kriegerische Figur: groß von Wuchs, mit mächtigem Schnurrbart und vornehmer Kompaktheit. Unangenehm wirkten an ihm nur das schweißfeuchte und aufgedunsene Gesicht, in dem seine kleinen grauen Augen fast gänzlich verschwanden (er schien bis oben hinauf mit Porter angefüllt zu sein), sowie die außergewöhnliche Unsauberkeit — angefangen von dem dünnen, fetten Haar bis hinab zu den Hermelinpantoffeln, in denen seine großen nackten Füße steckten. „So ein Haufen Geld, so ein Haufen!“ sagte der ältere Koselzow, als er den Schuppen betrat und unwillkürlich einen begehrlichen Blick auf den Stapel Banknoten richtete. „Wenn Sie mir wenigstens die Hälfte davon pumpen wollten, Wassili Michailytsch!“ Als der Trainoffizier den Gast bemerkte, erschrak er heftig wie ein ertappter Dieb, raffte das Geld zusammen und verbeugte sich, ohne sich von seinem Platz zu erheben. „Ach ja, wenn es mein eigenes wäre... Staatsgelder sind es, guter Freund! Aber wen bringen Sie denn da mit?“ fragte er, während er die Scheine in eine neben ihm stehende Schatulle verstaute und auf Wolodja blickte. „Es ist mein Bruder, eben aus der Kadettenanstalt eingetroffen. Wir sind nur mal zu Ihnen hereingekommen, um zu hören, wo das Regiment steht.“ „Nehmen Sie Platz, meine Herren“, sagte der Offizier, stand auf und ging, ohne die Gäste weiter zu beachten, ins Zelt. „Möchten Sie etwas trinken? Ein Gläschen Porter vielleicht?“ fragte er von dort aus. „Ich bin nicht abgeneigt, Wassili Michailytsch!“ -110-
Wolodja war von dem großspurigen Auftreten des Trainoffiziers, von seinen formlosen Manieren sowie von der respektvollen Art, in der sein Bruder mit ihm umging, überrascht. Es muß wohl ein sehr tüchtiger Offizier sein, der bei allen Achtung genießt; er gibt sic h natürlich und ist sicher sehr tapfer und gastfreundlich, dachte er, als er sich bescheiden und schüchtern auf den Diwan setzte. „Wo also steht denn unser Regiment?“ rief der ältere Bruder ins Zelt hinüber. „Wie?“ Er wiederholte die Frage. „Heute hat mich Seifer aufgesucht; er erzählte, daß sie gestern zur fünften Bastion übergewechselt seien.“ „Ist das gewiß?“ „Wenn ich es sage, ist es auch gewiß; aber der Teufel kenne sich mit ihm aus! Er bringt es wohl auch fertig, einem was aufzubinden. Wie ist es nun? Mögen Sie Porter?“ fragte der Trainoffizier, immer noch vom Zelt aus. „Ich trinke ganz gern ein Glas“, sagte Koselzow. „Trinken Sie mit, Ossip Ignatjitsch?“ hörte man hierauf im Zelt den Trainoffizier fragen, offenbar an den dort schlafenden Kommissionär gewandt. „Genug geschlafen; es geht schon auf acht.“ „Warum setzen Sie mir zu, ich schlafe ja gar nicht“, antwortete in trägem Ton, das L und das R angenehm schnarrend, eine dünne Stimme. „Nun, dann stehen Sie auf! Ich langweile mich ohne Sie.“ Und der Trainoffizier kehrte zu den Gästen zurück. „Bring uns mal Porter! Vom Simferopoler!“ rief er. Der Bursche kam mit hochmütiger Miene, wie es Wolodja schien, in den Schuppen und stieß ihn — einen Offizier! — einfach beiseite, um unter dem Diwan eine Flasche Porter hervorzuholen. -111-
„Ja, guter Freund“, sagte der Trainoffizier, während er die Gläser füllte, „jetzt haben wir einen neuen Regimentskommandeur. Da werden Gelderchen gebraucht, alles wird neu angeschafft.“ „Nun, der scheint ja von ganz besonderer Eigenart zu sein. Es ist eben die neue Generation“, sagte Koselzow und nahm mit verbindlicher Miene sein Glas entgegen. „Ja, die neue Generation! Er wird ein ebensolcher Geizhals werden. Als er noch Bataillonskommandeur war, da konnte er gut schreien; aber jetzt stößt er in ein anderes Horn. So geht es nicht, guter Freund.“ „Das stimmt.“ Der jüngere Bruder verstand nichts von dem, was die beiden sprachen; aber er hatte das dunkle Gefühl, daß sein Bruder nicht das sagte, was er dachte, sondern nur so sprach, weil er sich von dem Trainoffizier mit Porter bewirten ließ. Die Flasche war leer, und das Gespräch hatte schon ziemlich lange in ähnlicher Weise angedauert, als der Türvorhang des Zeltes auseinandergeschlagen wurde und ein mittelgroßer, frisch aussehender Mann in einem Morgenrock aus blauem Atlas mit Quasten und einer rotgeränderten Mütze mit Kokarde eintrat. Er strich sich beim Hereinkommen sein schwarzes Schnurrbärtchen zurecht, blickte zerstreut auf einen der Teppiche und beantwortete mit einer kaum merklichen Schulterbewegung den Gruß der Offiziere. „Nun, schenk ein, ich trinke auch ein Gläschen!“ sagte er und nahm am Tisch Platz. „Sie kommen wohl aus Petersburg, junger Mann?“ wandte er sich dann freundlich an Wolodja. „Jawohl, ich bin auf dem Wege nach Sewastopol.“ „Auf eigenen Wunsch?“ „Jawohl.“ „Ich verstehe nicht, was Sie dazu treibt, meine Herren!“ fuhr der Kommissionär fort. „Was mich betrifft, so würde ich, glaube ich, auf der Stelle bereit sein, auch zu Fuß bis Petersburg zu -112-
laufen, wenn man mich fortließe. Dieses Hundeleben hängt einem wahrhaftig zum Halse heraus.“ „Worüber haben Sie sich denn zu beklagen?“ wandte sich der ältere Koselzow an ihn. „Bei einem Leben, wie Sie es hier führen!“ Der Kommissionär warf einen Blick auf ihn und wandte sich ab. „Diese Gefahr“ (von welcher Gefahr spricht er denn, wenn er hier an der Nordseite sitzt? dachte Koselzow), „diese Entbehrungen, nichts ist zu haben — mir ist wirklich unbegreiflich, was Sie hierhertreibt, meine Herren“, fuhr er, zu Wolodja gewandt, fort. „Wenn wenigstens irgendwelche Vorteile damit verbunden wären, aber unter diesen Umständen... Nun, ist es vielleicht schön, wenn Sie in Ihrem Alter fürs ganze Leben zum Krüppel werden?“ „Dem einen ist es um Einkünfte zu tun, ein anderer tut seinen Dienst um der Ehre willen“, mischte sich in gereiztem Ton wieder der ältere Koselzow ein. „Was ist das schon für eine Ehre, wenn man nichts zu essen hat!“ wandte sich der Kommissionär verächtlich lachend zum Trainoffizier um, der hierauf ebenfalls lachte. „Zieh mal die Arie aus der, Lucia' auf, wir wollen sie uns anhören“, sagte er, auf eine kleine Musiktruhe deutend. „Die hab ich so gern...“ „Ist dieser Wassili Michailytsch eigentlich ein guter Mensch?“ fragte Wolodja seinen Bruder, als beide den Schuppen verlassen hatten und in der inzwischen eingetretenen Dämmerung die Fahrt nach Sewastopol fortsetzten. „Nicht gerade schlecht, aber ein Geizhals, wie er im Buche steht. Er hat ja, gering gerechnet, seine dreihundert Rubel im Monat und haust dabei wie ein Schwein, wie du selbst gesehen hast. Aber diesen Kommissionär kann ich nicht ausstehen, ich werde ihn noch mal verprügeln. Dieser Halunke hat doch in der Türkei zwölf tausend Rubel eingeheimst...“ Und Koselzow erging sich in Erörterungen über den Wucher, zum Teil allerdings (um die Wahrheit zu sagen) mit der Erbitterung eines Menschen, der den Wucher nicht deshalb verurteilt, weil er ein Übel ist, sondern -113-
weil er sich ärgert, daß es Menschen gibt, die sich dadurch zu bereichern wissen. 10 Wolodja war nicht gerade verstimmt, als sich der Wagen kurz vor Anbruch der Nacht der großen, über die Bucht führenden Brücke näherte, aber er verspürte eine gewisse Beklommenheit im Herzen. Alles, was er gesehen und gehört hatte, entsprach so wenig seinen Eindrücken aus der jüngsten Verga ngenheit; fern waren der parkettgedielte, große und helle Saal, in dem die Prüfungen stattgefunden hatten, die fröhlichen, gutmütigen Stimmen und das Gelächter der Kameraden, die neue Uniform, der vergötterte Zar, dessen Anblick er sieben Jahre gewohnt gewesen war und der sie bei der Verabschiedung mit Tränen in den Augen seine Kinder genannt hatte — alles, was er hier sah, war so wenig mit seinen schönen, erhebenden, hochsinnigen Träumen in Einklang zu bringen. „So, nun sind wir da!“ sagte der ältere Bruder, als sie vor der Michailow-Batterie ankamen und aus dem Wagen stiegen. „Falls man uns über die Brücke läßt, gehen wir gleich in die Nikolai-Kasernen. Du kannst bis morgen früh dort bleiben, und ich suche noch das Regiment auf; dort erfahre ich auch, wo deine Batterie steht. Morgen hole ich dich dann ab.“ „Warum denn das? Wir wollen lieber zusammenbleiben“, wandte Wolodja ein. „Ich werde gleich mit dir auf die Bastion gehen. Ich muß mich ja doch daran gewöhnen. Wenn du gehst, kann ich es auch.“ „Du solltest es lieber lassen.“ „Nein, nimm mich mit; dann sehe ich gleich, wie...“ „Ich rate dir ab, aber wenn du unbedingt willst...“ Der Himmel war klar und dunkel; die Sterne und der Feuerschein der unaufhörlich durch die Luft fliegenden Bomben und der Schüsse hoben sich jetzt bereits grell vom finsteren Hintergrund ab. Das große weiße Gebäude der Batterie und der Brückenkopf traten plastisch aus dem Dunkel hervor. -114-
Buchstäblich jede Sekunde ertönten schnell nacheinander oder gleichzeitig mehrere Kanonenschüsse und Explosionen, die die Luft immer lauter und spürbarer erschütterten. In dieses Getöse mischte sich, es gleichsam begleitend, das dumpfe Grollen des Meeres. Von der Bucht her wehte ein leichter Wind, der den Geruch nach Feuchtigkeit herübertrug. Die Brüder traten an die Brücke heran. Ein Landsturmmann brachte unbeholfen sein Gewehr in Anschlag und rief: „Wer da?“ „Militär!“ „Der Durchlaß ist verboten!“ „Ach was! Wir müssen hinüber.“ „Wenden Sie sich an den Offizier.“ Der Offizier, der schlummernd auf einem Anker saß, stand auf und befahl, sie passieren zu lassen. „Hinüber können Sie, aber nicht zurück... Was drängt ihr euch alle auf einmal vor!“ schrie er die hoch mit Schanzkörben beladenen Regimentsfuhren an, die sich vor dem Brückenzugang stauten. Als die Brüder zum ersten Ponton hinunterstiegen, begegneten ihnen Soldaten, die, laut miteinander sprechend, von der anderen Seite kamen. „Wenn er die Ausrüstungsgelder gekriegt hat, ist es mit ihm auch in Ordnung, sage ich...“ „Ach, Brüder!“ hörte man eine andere Stimme. „Sobald man auf die Nordseite kommt, atmet man ordentlich auf, bei Gott! Eine ganz andere Luft ist hier.“ „Du kannst viel erzählen!“ sagte der erste Soldat. „Erst vor ein paar Tagen kam hier so ein Biest hereingefegt und hat zwei Matrosen die Beine weggerissen. Rede also lieber nicht...“ Die Brüder überschritten den ersten Ponton und blieben, auf ihren Wagen wartend, auf dem zweiten stehen, der stellenweise schon von Wasser überschwemmt wurde. Der Wind, der auf dem Lande nur schwach geweht hatte, blies hier überaus heftig und stoßweise: die Brücke schwankte, und die Wellen, die -115-
krachend gegen die Balken schlugen und sich an den Ankern und Tauen brachen, ergossen sich über die Bretter. Zur Rechten toste nebelverhangen und drohend das dunkle Meer, das am mattgrau schimmernden Horizont in einer endlosen geraden Linie mit dem Sternenhimmel verschmolz, und in der Ferne glitzerten die Lichter der feindlichen Flotte. Linker Hand zeichnete sich dunkel das Massiv eines unserer Schiffe ab, und man hörte, wie die Wellen gegen seine Seitenwände schlugen; ein Dampfer wurde sichtbar, der sich schnell und geräuschvoll aus der Bucht fortbewegte; der Feuerschein einer in seiner Nähe explodierenden Bombe beleuchtete für einen kurzen Moment die auf dem Deck hoch aufgestapelten Schanzkörbe, zwei dort stehende Männer und den weißen Schaum und die Spritzer der vom Dampfer durchschnittenen grünlichen Wellen. Am Rande der Brücke saß in Hemdsärmeln ein Matrose, der die Beine ins Wasser baumeln ließ und etwas an dem Ponton ausbesserte. Im Vordergrund, über Sewastopol, blitzte es ebenfalls unaufhörlich auf, und lauter und lauter schallten von dort furchtbare Detonationen herüber. Eine vom Meer heranflutende Welle ergoß sich über die rechte Seite der Brücke und über die Füße Wolodjas; zwei Soldaten kamen, durch das Wasser watend, an ihm vorüber. Plötzlich flammte mit lautem Knall ein Feuerschein auf, beleuchtete die Brücke vor ihnen, einen Wagen, der auf ihr fuhr, und einen Reiter — und Granatsplitter fielen pfeifend und Spritzer aufwerfend ins Wasser. „Ach, Michail Semjonytsch!“ sagte der Reiter und hielt sein Pferd neben dem älteren Koselzow an. „Sind Sie schon ganz wiederhergestellt?“ „Wie Sie sehen. Wohin des Weges?“ „Zur Nordseite, Patronen holen; ich vertrete zur Zeit den Regimentsadjutanten... Wir erwarten von Stunde zu Stunde einen Angriff und haben kaum fünf Patronen in der Tasche. Feine Organisation!“ „Wo ist denn Marzow?“ -116-
„Dem hat's gestern ein Bein weggerissen — in der Stadt, er schlief in seinem Zimmer. Vielleicht treffen Sie ihn, er liegt in der Verbandstation.“ „Unser Regiment steht doch auf der fünften, nicht wahr?“ „Ja, wir sind als Ersatz für das M. sehe Regiment hingekommen. Gehen Sie doch zur Verbandstation: dort finden Sie Leute von uns, die werden Sie begleiten.“ „Ist denn mein Quartier in der Morskaja-Straße noch heil?“ „Ach wo, mein Lieber! Das ganze Haus ist längst von Bomben zertrümmert. Sie werden Sewastopol nicht wiedererkennen; Frauen sind überhaupt nicht mehr da, keine Musik, keine Restaurants gibt es mehr — das letzte ist gestern weggezogen. Es ist jetzt furchtbar trübselig geworden... Auf Wiedersehen!“ Und der Offizier ritt im Trab weiter. Wolodja wurde plötzlich von Grauen gepackt; er meinte, jeden Augenblick werde ein Geschoß oder ein Granatsplitter angeflogen kommen und ihn am Kopf treffen. Diese feuchte Finsternis, diese verschiedenen Geräusche, besonders das griesgrämige Plätschern der Wellen — alles schien ihm zu sagen, daß er nicht weitergehen solle, seiner harre hier nichts Gutes, daß sein Fuß nie wieder russische Erde diesseits der Bucht betreten werde und daß er sofort zurückkehren und irgendwohin eilen müsse, möglichst weit weg von dieser furchtbaren Stätte des Todes. Aber vielleicht ist es schon zu spät, ist alles schon entschieden, dachte er und schauerte, teils infolge dieses Gedankens, teils deshalb, weil Wasser durch seine Stiefel drang und seine Füße naß wurden. Wolodja seufzte tief und entfernte sich ein wenig von seinem Bruder. „O Gott! Ob ich wirklich falle, ist es gerade mir bestimmt? Gott, sei mir gnädig!“ flüsterte er und bekreuzigte sich. „So, nun komm!“ sagte der ältere Bruder, als ihr Wägelchen auf die Brücke gefahren kam. „Hast du die Bombe gesehen?“ Auf der Brücke begegneten den Brüdern Fuhrwerke mit Verwundeten, mit Schanzkörben und auch ein Wagen mit -117-
Möbeln, der von einer Frau kutschiert wurde. Am anderen Ufer wurden sie von niemand mehr aufgehalten. Sie gingen schweigend weiter, hielten sich instinktiv dicht an die Mauer der Nikolai-Batterie, und während sie dauernd auf das Krachen der jetzt unmittelbar über ihren Köpfen explodierenden Bomben und auf das Heulen der herunterfallenden Splitter horchten, erreichten sie die Stelle in der Batterie, wo das Heiligenbild stand. Hier erfuhren sie, daß die fünfte leichte Batterie, bei der sich Wolodja zum Dienstantritt melden mußte, in Korabelnaja stationiert sei, und sie beschlossen nun, sich ungeachtet der Gefahr zusammen zur fünften Bastion zu begeben und dort beim älteren Koselzow zu übernachten, von wo Wolodja am nächsten Morgen seine Batterie aufsuchen sollte. Sie gingen durch einen Korridor und langten schließlich, über die Beine der schlafenden Soldaten hinwegsteigend, die längs der ganzen Mauer der Batterie lagen, bei der Verbandstation an. 11 Als sie den ersten Raum betraten, der mit Betten vollgestellt war, in denen Verwundete lagen, und in dem jener drückende, widerwärtige, in Lazaretten übliche Geruch herrschte, kamen ihnen dort zwei Krankenschwestern entgegen. Die eine, etwa fünfzigjährig, mit schwarzen Augen und strengem Gesichtsausdruck, hatte Binden und Scharpie in der Hand und erteilte einem ihr nachfolgenden, noch jungenhaft aussehenden Feldscher Anweisungen; die andere, ein blondes, ausnehmend hübsches junges Mädchen von etwa zwanzig Jahren, dessen blasses, zartes Gesichtche n mit rührender Hilflosigkeit aus der es umrahmenden Haube hervorblickte, ging, die Hände in den Schürzentaschen, mit gesenkten Augen an der Seite der älteren Krankenschwester und war offenbar bemüht, nicht hinter ihr zurückzubleiben. Koselzow fragte die Schwestern, ob sie wüßten, wo Marzow liege, dem eine Bombe gestern ein Bein weggerissen habe. -118-
„Vom P. schen Regiment?“ erkundigte sich die Ältere. „Ist er ein Verwandter von Ihnen?“ „Nein, ein Regimentskamerad.“ „Hm! Führen Sie die Herren hin“, sagte sie zu der jungen Schwester auf französisch und trat selbst mit dem Feldscher an einen Verwundeten heran. „So komm doch, was hast du?“ wandte sich Koselzow an Wolodja, der mit hochgezogenen Brauen und schmerzverzerrtem Gesicht auf die Verwundeten starrte und sich nicht losreißen konnte. „Komm doch!“ Wolodja folgte dem Bruder, sah sich jedoch immer wieder um und wiederholte unbewußt ein um das andere Mal: „O mein Gott! O mein Gott!“ „Er ist wohl noch nicht lange hier?“ fragte die Schwester Koselzow, während sie auf Wolodja deutete, der ihnen auf dem Korridor, seufzend und „Ach, ach!“ stammelnd, folgte. „Er ist eben erst angekommen.“ Die hübsche Schwester blickte sich zu Wolodja um und brach plötzlich in Tränen aus. „Mein Gott, mein Gott! Wann wird das alles enden!“ rief sie verzweifelt. Sie betraten die Abteilung für Offiziere. Marzow lag, die sehnigen, bis zum Ellenbogen entblößten Arme unter dem Kopf verschränkt, auf dem Rücken, und seinem gelben Gesicht war anzumerken, daß er die Zähne zusammenbiß, um nicht vor Schmerzen zu schreien. Sein unversehrtes Bein, das mit einem Strumpf bekleidet war, ragte unter der Bettdecke hervor, und es war zu sehen, wie sich die Zehen krampfhaft bewegten. „Nun, wie fühlen Sie sich?“ fragte die Schwester, während sie mit ihren zarten schmalen Fingern — an einem hatte Wolodja einen goldenen Ring entdeckt - seinen Kopf, auf dem sich das Haar schon zu lichten begann, ein wenig anhob und das Kissen zurechtrückte. „Hier sind Kameraden von Ihnen gekommen, die Sie besuchen wollen.“ -119-
„Ich habe selbstverständlich Schmerzen“, antwortete er schroff. „Lassen Sie nur, ich liege gut!“ Die Zehen unter dem Strumpf bewegten sich noch schneller. „Guten Tag! Verzeihung, wie war doch Ihr Name?“ wandte er sich an Koselzow. „Ach ja, entschuldigen Sie, hier versagt einem ganz das Gedächtnis“, sagte er, als Koselzow ihm seinen Namen nannte. „Wir haben ja zusammen gewohnt“, fügte er ohne jedes Anzeichen von Freude hinzu und blickte fragend auf Wolodja. „Das ist mein Bruder — heute aus Petersburg angekommen.“ „Hm! Was mich betrifft, so habe ich mir jetzt wohl' die volle Pension verdient“, sagte er mit verzerrtem Gesicht. „Ach, diese Schmerzen! Wenn es bloß schneller zu Ende gehen wollte.“ Er zog das Bein hoch, murmelte etwas und bedeckte das Gesicht mit den Händen. „Lassen wir ihn allein“, sagte die Schwester leise mit Tränen in den Augen. „Es steht sehr schlecht um ihn...“ Auf der Nordseite hatten die Brüder noch beschlossen, zusammen zur fünften Bastion zu gehen; doch jetzt, als sie die Nikolai-Batterie verließen, waren sie gleichsam stillschweigend übereingekommen, sich nicht unnötig der Gefahr auszusetzen und jeder für sich seinem Ziel zuzustreben. „Wirst du aber auch hinfinden, Wolodja?“ fragte der Ältere. „Übrigens kann Nikolajew dich bis nach Korabelnaja begleiten, und ich gehe allein zur Bastion und komme morgen zu dir.“ Mehr wurde bei diesem letzten Abschied der beiden Brüder nicht gesprochen. 12 Das Dröhnen der Geschütze hielt mit unverminderter Stärke an, doch die Jekaterininskaja-Straße, durch die Wolodja, gefolgt von dem wortkargen Nikolajew, seinen Weg nahm, war völlig menschenleer und still. In der Dunkelheit sah Wolodja nichts weiter als die breite Straße, die weißen, vielfach zerstörten Fassaden der großen Häuser und das Steinpflaster der Gehsteige, über das er ging; nur ab und zu begegneten ihm Soldaten und -120-
Offiziere. Als sie, auf der linken Straßenseite gehend, an der Admiralität vorbeikamen, wurden im Schein der hell erleuchteten Fenster die längs der Gehsteige gepflanzten Akazien mit ihren grünen Stützpfählen und verkümmerten, staubbedeckten Blättern sichtbar. Das Geräusch seiner eigenen Schritte und der Nikolajews, der schwer atmend hinter ihm herkam, schlug deutlich an sein Ohr. Er dachte an nichts Bestimmtes: die Gedanken an die hübsche Krankenschwester, an das Bein Marzows und seine sich unter dem Strumpf bewegenden Zehen, an die Finsternis, das Bombardement und die verschiedenen Möglichkeiten, den Tod zu finden, schwirrten ihm unklar durch den Kopf. Seine ganze empfängliche junge Seele krampfte sich zusammen und litt in dem Bewußtsein der Einsamkeit und der allgemeinen Gleichgültigkeit gegenüber seinem Schicksal in dieser Stunde der Gefahr. Ich werde fallen, werde leiden, einen qualvollen Tod sterben — und niemand wird darum eine Träne vergießen! Und alles dies anstatt des heldenmütigen, von Energie und Tatendrang erfüllten Lebens, von dem er sich so erhebende Vorstellungen gemacht hatte! Die Bomben explodierten und pfiffen in immer geringerer Entfernung. Nikolajew stieß immer häufiger einen Seufzer aus, brach aber das Schweigen nicht. Als sie über die Brücke gingen, die nach Korabelnaja führte, sah Wolodja, wie nicht weit von ihm irgend etwas pfeifend in die Bucht flog, die violetten Wellen für einen Augenblick in purpurnes Licht tauchte, dann verschwand und gleich wieder aus dem aufsprühenden Wasser emporschnellte. „Ha, die ist nicht krepiert!“ sagte Nikolajew. „Nein“, antwortete Wolodja kleinlaut in einem wehleidigweinerlichen Ton, der ihn selbst in Erstaunen setzte. Wieder begegneten ihnen Tragbahren mit Verwundeten und Regimentsfahrzeuge mit Schanzkörben; in Korabelnaja marschierte ein ganzes Regiment an ihnen vorüber, Reiter kamen vorbei. Einer von ihnen, ein Offizier, wurde von einem Kosaken begleitet. Er ritt im Trab, hielt aber, als er Wolodja -121-
bemerkte, das Pferd neben ihm an, blickte ihm ins Gesicht, wandte sich dann ab und ritt, das Pferd mit der Peitsche antreibend, wieder weiter. Ich bin allein, ganz allein! Allen ist es gleichgültig, ob ich existiere oder nicht, dachte der arme Junge mit Entsetzen, und er war jetzt wirklich nahe daran, in Tränen auszubrechen. Nachdem sie an einer hohen weißen Mauer entlang eine Anhöhe hinaufgegangen waren, kamen sie in eine Straße mit kleinen zerstörten Häusern, die alle Augenblicke von explodierenden Bomben erhellt wurden. Aus einer niedrigen Pforte trat eine betrunkene zerlumpte Frau mit einem Matrosen auf die Straße. „Denn wenn er ein ananständiger Mensch wäre ...“, lallte sie und stieß dabei mit Wolodja zusammen. „Pardon, Herr Offizier!“ Das Herz des armen Jungen krampfte sich noch schmerzhafter zusammen. Am dunklen Horizont flammten immer häufiger Blitze auf, und immer häufiger kamen pfeifend Bomben geflogen und explodierten in „einer Nähe. Nikolajew stieß einen schweren Seufzer aus und begann plötzlich mit Grabesstimme, wie es Wolodja schien, zu sprechen: „Da hat er es so eilig gehabt, aus dem Gouvernement fortzukommen! ,Ich muß fahren, ich muß fahren!' Als ob ihn hier weiß Gott was Schönes erwartete. Andere Herren, die klug sind, bleiben, wenn sie auch nur ein ganz klein bißchen verwundet sind, ruhig im Lazarett. Dort lassen sie sich's gut sein und brauchen nichts Besseres.“ „Ja, aber wenn mein Bruder doch wieder ganz gesund war“, wandte Wolodja ein, der hoffte, durch ein Gespräch die Stimmung zu zerstreuen, die sich seiner bemächtigt hatte. „Gesund! Was ist denn das für eine Gesundheit, wenn er noch ganz krank ist! Andere, wirklich Gesunde, sind klug und bleiben im Lazarett in solchen Zeiten. Was gibt es denn hier schon Erfreuliches? Im Nu wird einem ein Arm weggerissen oder ein Bein — das ist alles! Das Unglück liegt immer auf der Lauer. Schon hier in der Stadt ist es furchtbar, und nun erst auf der Bastion! Keinen Schritt macht man, ohne zu beten. Ha, dieses -122-
Biest, wie es da an einem vorbeisaust!“ fügte er hinzu, als er plötzlich in nächster Nähe einen Granatsplitter summen hörte. „Da habe ich jetzt den Befehl, Euer Wohlgeboren zu begleiten“, fuhr er fort. „Unsereins hat ja nichts zu sagen: was befohlen ist, wird gemacht. Das Fuhrwerk aber wird irgendeinem fremden Soldaten überlassen, und das Bündel war aufgeschnürt. Geh nur, geh nur! Aber was dabei von den Sachen verschwindet, dafür muß Nikolajew geradestehen.“ Nach einigen weiteren Schritten kamen sie auf einen freien Platz. Nikolajew schwieg eine Weile und seufzte. „Dort drüben steht Ihre Artillerie, Euer Wohlgeboren“, sagte er dann plötzlich. „Fragen Sie den Posten, er wird Ihnen den Weg zeigen.“ Und nachdem Wolodja ein paar Schritte weitergegangen war, hörte er das Seufzen Nikolajews nicht mehr hinter sich. Er fühlte sich jetzt vollends und endgültig verlassen. Das Bewußtsein seiner Einsamkeit in der Gefahr — vor dem Tode, wie es ihm schien — lastete wie ein schwerer kalter Stein auf seinem Herzen. Er blieb in der Mitte des Platzes stehen, blickte sich um, ob ihn niemand beobachtete, griff sich an den Kopf und stammelte entsetzt: „O mein Gott! Bin ich wirklich ein Feigling, ein gemeiner, elender, nichtswürdiger Feigling? Bin ich wirklich nicht fähig, für das Vaterland, für den Zaren, für den ich noch vor kurzem freudigen Herzens mein Leben hingeben wollte, mit hocherhobenem Kopf in den Tod zu gehen? Nein, ich bin ein unglückliches, jämmerliches Geschöpf!“ Und von Verzweiflung und ehrlicher Enttäuschung über sich selbst ergriffen, erkundigte sich Wolodja beim Posten nach dem Quartier des Batteriekommandeurs und ging auf das bezeichnete Haus zu. 13 Das Quartier des Batteriekommandeurs befand sich in einem kleinen einstöckigen Hause mit dem Eingang vom Hof. Aus einem Fenster, das mit Papier verklebt war, schimmerte der matte Schein einer Kerze. Der Bursche saß auf den Stufen vor -123-
der Haustür und rauchte Pfeife. Er ging ins Haus, um Wolodja dem Batteriekommandeur zu melden, und führte ihn dann in ein Zimmer. Die Einrichtung des Zimmers bestand aus einem mit dienstlichen Schriftstücken bepackten Tisch, der zwischen den beiden Fenstern unter einem zerbrochenen Spiegel stand, mehreren Stühlen und einem Metallbett mit sauberem Bettzeug und einem kleinen Teppich davor. An der Tür des Zimmers stand ein Feldwebel, ein gutaussehender Mann mit großem Schnurrbart, kurzem Säbel und einem Ordenskreuz nebst einer ungarischen Medaille am Mantel. In der Mitte des Zimmers ging, bekleidet mit einem leichten, abgetragenen Mantel, einen Verband um die geschwollene Backe, ein mittelgroßer, etwa vierzigjähriger Stabsoffizier auf und ab. „Habe die Ehre, mich zu melden: Fähnrich Koselzow II, abkommandiert zur fünften leichten“, sagte Wolodja bei seinem Eintritt ins Zimmer die eingeübte Phrase her. Der Batteriekommandeur erwiderte flüchtig seinen Gruß und forderte ihn, ohne ihm die Hand zu reichen, auf, Platz zu nehmen. Wolodja setzte sich bescheiden auf einen Stuhl am Schreibtisch und griff nach einer darauf liegenden Schere, während der Batteriekommandeur, die Hände auf dem Rücken und mit gesenktem Kopf, nur hin und wieder auf die mit der Schere spielenden Hände blickend, im Zimmer weiterhin schweigend auf und ab ging und über etwas nachzudenken schien. Der Batteriekommandeur war ziemlich korpulent; er hatte eine große Glatze am Hinterkopf, einen dichten, herunterhängenden Schnurrbart, der den Mund verdeckte, und große, angenehm wirkende braune Augen. Seine schönen, rundlichen Hände waren gepflegt, und mit seinen kleinen, stark nach außen gekehrten Füßen trat er selbstsicher und mit einer gewissen Affektiertheit auf, die erkennen ließ, daß der Batteriekommandeur nicht ein Mann war, der sein Licht unter den Scheffel stellte. -124-
„Ja“, sagte er und blieb vor dem Feldwebel stehen, „den Pferden der Munitionswagen werden wir von morgen an je ein Achtelmaß zulegen müssen; sie sind sehr abgemagert. Was meinst du?“ „Sehr wohl, man kann ihnen ja was zulegen, Euer Hochwohlgeboren! Der Hafer ist billiger geworden“, antwortete der Feldwebel und setzte dabei seine Finger in Bewegung, die er zwar an der Hosennaht ließ, aber offenbar gern dazu genutzt hätte, seine Worte zu unterstreichen. „Und dann hat mir auch noch unser Furier Franstschuk gestern vom Depot einen Zettel geschickt, und er schreibt, wir müssen die Achsen unbedingt dort kaufen — sie sollen dort billig sein. Was befehlen Sie also?“ „Nun, soll er welche kaufen, Geld hat er ja“, sagte der Batteriekommandeur und nahm wieder sein Hinundherwandern im Zimmer auf. „Wo haben Sie Ihre Sachen?“ wandte er sich nach einer Weile unvermittelt an Wolodja und blieb vor ihm stehen. Der arme Wolodja war dermaßen von dem Gedanken befangen, ein Feigling zu sein, daß er in jedem Blick, in jedem Wort eine ihm als jämmerlichem Feigling entgegengebrachte Verachtung zu erkennen glaubte. Es schien ihm, als habe der Batteriekommandeur sein Geheimnis bereits durchschaut und treibe seinen Spott mit ihm. Er antwortete verlegen, seine Sachen befänden sich auf der Grafskaja und sein Bruder habe versprochen, sie ihm morgen zuzustellen. Doch der Oberstleutnant hörte ihn gar nicht bis zu Ende an und wandte sich wieder an den Feldwebel: „Wo bringen wir den Fähnrich am besten unter?“ „Den Fähnrich?“ wiederholte der Feldwebel und versetzte Wolodja noch mehr in Verwirrung, indem er ihn flüchtig mit einem Blick streifte, der die Frage auszudrücken schien: Was ist das schon für ein Fähnrich, und lohnt es sich überhaupt, ihn irgendwo unterzubringen? „Nun, im Erdgeschoß, Euer Hochwohlgeboren, bei dem Herrn Stabshauptmann kann Seine -125-
Wohlgeboren wohnen“, fuhr er nach kurzem Nachdenken fort. „Der Herr Stabshauptmann ist jetzt auf der Bastion, so daß sein Bett leer steht.“ „Also, wenn Sie vorläufig vorliebnehmen wollen“, sagte der Batteriekommandeur. „Sie werden müde sein, nehme ich an, und morgen sehen wir dann weiter.“ Wolodja stand auf und verbeugte sich. „Möchten Sie ein Glas Tee trinken?“ fragte der Batteriekommandeur, als Wolodja bereits an der Tür war. „Ich kann den Samowar in Gang bringen lassen.“ Wolodja verbeugte sich und ging hinaus. Der Bursche des Oberstleutnants geleitete ihn ins Erdgeschoß und führte ihn in ein kahles, schmutziges Zimmer, in dem alles mögliche Gerumpel herumlag und ein Metallbett ohne Laken und ohne Decke stand. Auf dem Bett schlief, mit einem dicken Mantel zugedeckt, ein Mann in einem rosa Hemd. Wolodja hielt ihn für einen einfachen Soldaten. „Pjotr Nikolajitsch!“ Der Bursche rüttelte den Schlafenden an der Schulter. „Hier soll der Fähnrich schlafen! Dies ist unser Junker“, fügte er, sich an Wolodja wendend, erklärend hinzu. „Ach, lassen Sie sich bitte nicht stören!“ sagte Wolodja; doch der Junker, ein hochgewachsener, stämmiger junger Mann mit einem hübschen, doch ungemein dummen Gesicht stand auf, warf sich den Mantel um die Schultern und verließ, offenbar noch nicht ganz wach geworden, das Zimmer. „Macht nichts, ich werde mich auf dem Hof hinlegen“, murmelte er. 14 Das erste, was Wolodja, mit seinen Gedanken allein geblieben, empfand, war der Widerwillen, mit dem ihn sein gegenwärtiger, so verworrener und deprimierender Gemütszustand erfüllte. Er hatte das Bedürfnis einzuschlafen, alles ringsum und vor allem sich selbst zu vergessen. Nachdem er den Mantel abgelegt hatte, löschte er die Kerze, legte sich aufs Bett und zog den Mantel, -126-
der ihm als Decke diente, bis über den Kopf, um die Angst vor der Dunkelheit zu unterdrücken, die er noch von der Kindheit her empfand. Da ging ihm plötzlich der Gedanke durch den Kopf, daß eine Bombe das Haus treffen, das Dach durchschlagen und ihn töten könnte. Er horchte: unmittelbar über ihm waren die Schritte des Batteriekommandeurs zu hören. Nun, wenn eine trifft, werden zuerst die da oben getötet und dann erst ich — wenigstens nicht ich allein, sagte er sich. Dieser Gedanke beruhigte ihn ein wenig, und er war schon im Begriff einzuschlummern, als er erneut aufschreckte: Aber wenn nun Sewastopol in der Nacht plötzlich genommen wird und die Franzosen hier eindringen? Womit kann ich mich zur Wehr setzen? Er stand wieder auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Die geheime Angst vor der Dunkelheit wurde durch die Furcht vor einer wirklichen Gefahr unterdrückt. Außer einem Sattel und dem Samowar befanden sich im Zimmer keine handfesten Gegenstände. Ich bin ein gemeiner Mensch, bin ein Feigling, ein jämmerlicher Feigling! dachte er plötzlich und wurde aufs neue von einem bedrückenden Gefühl der Verachtung, ja des Ekels vor sich selbst ergriffen. Dann legte er sich wieder hin und versuchte angestrengt, an nichts zu denken. Aber bei den unaufhörlichen Detonationen des Bombardements, von denen die Scheiben des einzigen im Zimmer vorhandenen Fensters zu klirren begannen, wurden die Eindrücke des Tages in seiner Phantasie ganz von selbst wieder wach und erinnerten ihn erneut an die Gefahr. Bald glaubte er Verwundete und Blut zu sehen, bald Bomben und Granatsplitter, die ins Zimmer geflogen kamen, bald die hübsche Krankenschwester, die ihm, dem Sterbenden, einen Verband anlegte und um ihn weinte, bald seine Mutter, die ihm in der heimatlichen Kreisstadt das Geleit gegeben hatte und nun inbrünstig unter Tränen vor einem wundertätigen Heiligenbild betete — und wiederum schien es ihm unmöglich, Schlaf zu finden. Doch da besann er sich plötzlich mit voller Klarheit auf den allmächtigen, gütigen Gott, -127-
der alles vermag und jedes Gebet hörte. Er kniete nieder, bekreuzigte sich und faltete die Hände zum Gebet, wie man es ihn in der Kindheit gelehrt hatte. Diese Geste versetzte ihn sogleich in einen Zustand längst vergessener Glückseligkeit. Wenn ich sterben muß, wenn es sein muß, daß ich zu existieren aufhöre, dann laß es geschehen, Herr, betete er in Gedanken, und möglichst schnell; und wenn dazu Tapferkeit und Standhaftigkeit nötig sind, die mir fehlen, so gib sie mir, stürze mich nicht in Schmach und Schande, die ich nicht ertragen kann, sondern lehre mich, was ich tun soll, um deinen Willen zu erfüllen. Seine verschüchterte, kindlich beschränkte Seele war unversehens mannbar geworden, hatte sich erhellt und nahm neue, weite und lichte Horizonte wahr. Noch vieles durchdachte und empfand er in den wenigen Minuten, in denen er von diesem Gefühl beherrscht war; doch dann schlief er unter den andauernden Detonationen, dem Getöse des Bombardements und dem Klirren der Fensterscheiben bald ruhig und sorglos ein. Großer Gott! Du allein hast sie gehört und weißt von jenen einfältigen, doch so heißen und verzweifelten Gebeten, die, eingegeben von Unwissenheit, verworrener Reue und Leiden, zu dir von dieser furchtbaren Stätte des Todes emporgestiegen sind — angefangen vom General, der eine Sekunde zuvor noch an sein Frühstück und das Georgskreuz am Halse dachte und nun mit Schrecken deine Nähe spürt, bis hinab zum erschöpften, hungrigen und von Läusen geplagten einfachen Soldaten, der auf dem nackten Fußboden in der Nikolai-Batterie niedergesunken ist und dich von dort anfleht, ihn möglichst schnell der unbewußt erwarteten Belohnung für alle seine unverdienten Leiden teilhaftig werden zu lassen! Nein, du bist nicht müde geworden, die flehentlichen Gebete deiner Kinder anzuhören, und hast zu ihnen stets einen tröstenden Engel entsandt, der ihre Herzen mit Geduld, Pflichtgefühl und beglückender Hoffnung erfüllte. -128-
15 Nachdem der ältere Koselzow auf der Straße einen Soldaten seines Regiments getroffen hatte, setzte er gemeinsam mit ihm den Weg zur fünften Bastion fort. „Halten Sie sich an die Mauer, Euer 'Wohlgeboren!“ sagte der Soldat. „Warum?“ „Es ist gefährlich, Euer Wohlgeboren; da kommt schon wieder eine angesaust“, antwortete der Soldat, während er auf das Pfeifen eines Geschosses horchte, das über sie hinwegflog und auf der anderen Seite der Straße auf den trockenen Boden prallte. Koselzow ließ die Mahnung des Soldaten unbeachtet und ging mutig auf der Straße weiter. Es war alles so, wie er es von seinem Aufenthalt in Sewastopol im Frühjahr her kannte: es waren dieselben Straßen; wie damals, nur viel häufiger flammte ein Feuerschein auf, hörte man Detonationen, Gestöhn, begegnete man Verwundeten, sah man ringsum Batterien, Brustwehren und Gräben. Aber alles das wirkte jetzt bedrückender und zugleich erregender: die Häuser waren noch mehr zerstört, erleuchtete Fenster sah man — außer im Hause Kustschins, dem Lazarett — überhaupt nicht mehr, Frauen waren gänzlich aus dem Straßenbild verschwunden — alles hatte nicht mehr den früheren Charakter von Gewohnheit und Sorglosigkeit, sondern trug den Stempel banger Erwartung, Müdigkeit und Spannung. Doch nun war der letzte Graben erreicht, und da ertönte bereits die Stimme eines Soldaten des P. schen Regiments, der seinen früheren Kompaniechef erkannt hatte. Hier stand, an die Mauer gedrückt, nur für Augenblicke von dem Aufblitzen der Schüsse beleuchtet, das dritte Bataillon, aus dem Koselzow verhaltenes Sprechen und das Klirren von Gewehren entgegenschallte. „Wo ist der Regimentskommandeur?“ erkundigte sich Koselzow. -129-
„In der Blindage der Matrosen, Euer Wohlgeboren!“ antwortete der Soldat dienstbeflissen. „Kommen Sie bitte, ich werde Sie hinführen.“ Er führte Koselzow aus einem Graben in den anderen und kam mit ihm schließlich zu einem kleinen Seitengraben. Dort saß ein Matrose und rauchte seine Pfeife; hinter ihm sah man eine Tür, durch deren Ritzen Licht schimmerte. „Darf man eintreten?“ „Ich werde Sie gleich melden“, antwortete der Matrose und ging hinein. Hinter der Tür hörte man zwei Stimmen sprechen. „Wenn Preußen weiterhin neutral bleibt“, sagte die Stimme, „wird auch Österreich...“ „Was liegt schon an Österreich“, warf die andere Stimme ein, „wenn die slawischen Länder... Also, bitte ihn herein.“ Koselzow war noch nie in dieser Blindage gewesen. Sie überraschte ihn durch ihre prächtige Ausstattung. Der Fußboden war parkettiert, ein Wandschirm verdeckte die Tür; an den Wänden standen zwei Betten, und in der Ecke hing ein großes Muttergottesbild in goldener Einfassung, vor dem ein rosa Öllämpchen brannte. Auf dem einen Bett schlief in voller Kleidung ein Marineoffizier, und auf dem anderen, vor dem ein Tisch mit zwei angebrochenen Flaschen Wein stand, saßen der neue Regimentskommandeur und ein Adjutant, deren Stimmen Koselzow von draußen gehört hatte. Obwohl Koselzow nichts weniger als feige war und sich weder der Regierung noch dem Regimentskommandeur gegenüber auch nur das geringste hatte zuschulden kommen lassen, fuhr ihm doch ein Schreck in alle Glieder, als er den Oberst, der vor kurzem noch sein Kamerad gewesen war, nun vor sich sah, wie er mit überheblicher Miene aufstand und ihn lässig anhörte. Überdies verwirrte ihn auch der daneben sitzende Adjutant durch Haltung und Blick, die zu besagen schienen: Ich bin lediglich ein Freund Ihres Regimentskommandeurs. Sie melden sich nicht bei mir, und ich kann und will von Ihnen keine Ehrerbietung fordern. -130-
Wie merkwürdig, dachte Koselzow beim Anblick seines Kommandeurs, erst vor sieben Wochen hat er das Regiment übernommen, und schon äußert sich in allem, was ihn umgibt, in Kleidung, Haltung und Gesichtsausdruck, die Macht des Regimentskommandeurs, eine Macht, die weniger auf seinen Jahren, dem Dienstalter und militärischer Tüchtigkeit beruht als auf seinem Reichtum. Wie lange ist es her, dachte er weiter, daß derselbe Batristschew mit uns gezecht hat, wochenlang ein und dasselbe dunkle, nicht schmutzende Kattunhemd trug und, ohne jemals einen Menschen zu sich einzuladen, ewig seine Fleischklöße und Quarkknödel aß! Und jetzt? Schon blickt ein Hemd aus holländischem Leinen unter dem breitärmeligen Tuchrock hervor, schon hat er eine Zehnrubelzigarre in der Hand und Lafitte zu sechs Rubel die Flasche auf dem Tisch stehen — alles zu unglaublichen Preisen durch den Quartiermeister in Simferopol eingekauft; und dazu in den Augen dieser Ausdruck kalten Stolzes eines Geldaristokraten, der dir sagt: Wenn ich mich auch kameradschaftlich gebe, weil ich ein Regimentskommandeur der neuen Schule bin, darfst du nicht vergessen, daß dein Gehaltsdrittel sechzig Rubel beträgt, während durch meine Hände Zehntausende gehen und ich, glaube mir, genau weiß, daß du bereit wärst, die Hälfte deines Lebens hinzugeben, könntest du dafür an meiner Stelle sein. „Ihre Genesung hat sich ziemlich in die Länge gezogen“, sagte der Oberst zu Koselzow und maß ihn mit einem kalten Blick. „Ich war verwundet, Herr Oberst; auch jetzt ist die Wunde noch nicht ganz verheilt.“ „Dann hätten Sie gar nicht erst herkommen sollen“, bemerkte der Oberst mit einem ungläubigen Blick auf die stämmige Figur Koselzows. „Können Sie denn Ihren Dienst versehen?“ „Gewiß, das kann ich.“ „Nun, das freut mich sehr. Sie werden also die neunte Kompanie — das war ja Ihre — vom Fähnrich Saizow übernehmen. Der Befehl wird Ihnen unverzüglich zugestellt werden.“ — „Zu Befehl!“ -131-
„Seien Sie so gut und schicken Sie den Regimentsadjutanten zu mir, wenn Sie dort vorbeigehen“, schloß der Regimentskommandeur und gab durch eine leichte Verbeugung zu verstehen, daß die Audienz beendet sei. Als Koselzow die Blindage verließ, brummte er etwas vor sich hin und zuckte mit den Schultern, als empfinde er einen Schmerz, ein Unbehagen oder einen Ärger, und zwar nicht Ärger über den Regimentskommandeur — dazu lag kein Grund vor —, sondern Unzufriedenheit mit sich selbst und seiner ganzen Umgebung. Die Disziplin mit ihrer Grundbedingung — Unterordnung — ist wie jede durch Gesetze verankerte Ordnung nur dann etwas Gutes, wenn ihr außer der beiderseitigen Erkenntnis ihrer Notwendigkeit die Überzeugung des Untergebenen zugrunde liegt, daß der Vorgesetzte ihm an Erfahrung, militärischer Tüchtigkeit oder einfach moralisch überlegen ist; beruht hingegen die Disziplin, wie es bei uns häufig der Fall ist, nur auf Zufällen und finanziellen Umständen, dann wird sie stets zu Wichtigtuerei auf der einen und zu verstecktem Neid und Ärger auf der anderen Seite führen, und anstatt die erstrebenswerte Vereinigung der Massen zu einem Ganzen herzustellen, wird sie eine völlig gegenteilige Wirkung ausüben. Jemand, der nicht die Kraft in sich fühlt, durch innere Würde Achtung einzuflößen, fürchtet instinktiv die Annäherung an Untergebene und ist bemüht, sich durch äußerlich zur Schau getragene Wichtigkeit jede Kritik fernzuhalten. Untergebene, die lediglich diese äußerliche, für sie verletzende Seite sehen, kommen — zum größten Teil ungerechterweise — zu der Meinung, daß hinter ihr überhaupt nichts Gutes zu finden sei. 16 Bevor Koselzow zu seinen Offizieren ging, suchte er seine Kompanie auf, um sie zu begrüßen und ihren Standplatz zu erkunden. Die aus Schanzkörben gebildeten Brustwehren, die Umrisse der Gräben und Kanonen, an denen er vorbeikam, ja -132-
selbst die Granatsplitter und Bomben, über die er auf seinem Weg stolperte — dieses ganze, ständig vom Feuerschein der Geschütze beleuchtete Bild war ihm wohlbekannt. Alles dies hatte sich vor drei Monaten, als er zwei Wochen ununterbrochen auf dieser Bastion zugebracht hatte, seinem Gedächtnis deutlich eingeprägt. Und wenn der Erinnerung daran auch viel Grauenhaftes anhaftete, so war das Gedenken vergangener Tage doch auch mit einem gewissen Reiz verbunden, und, fast als wären die hier zugebrachten zwei Wochen sehr angenehm gewesen, freute er sich, die vertrauten Stätten und Gegenstände wiederzuerkennen... Seine Kompanie lag am Verteidigungsgürtel der sechsten Bastion. Koselzow betrat eine langgestreckte, an der Eingangsseite völlig offene Blindage, in der, wie man ihm gesagt hatte, die neunte Kompanie liegen sollte. Die Blindage war so mit Soldaten überfüllt, daß man vom Eingang aus buchstäblich keinen Schritt weiter tun konnte. An der einen Seite glimmte eine schiefgebrannte Talgkerze, die ein auf dem Boden liegender Soldat in der Hand hielt. Ein anderer Soldat las Silbe für Silbe aus einem Buch vor, mit dem er dicht an die Kerze herangerückt war. In dem stickigen Halbdunkel der Blindage sah man erhobene Köpfe, die dem Vorlesenden gespannt lauschten. Das Buch war eine Fibel, und als Koselzow die Blindage betrat, las der Soldat gerade: „Die Angst vor dem To-de ist den Men-schen an-ge-bo-ren...“ „Richte den Docht auf!“ ertönte eine Stimme. „Ein interessantes Buch?“ „Mein... Gott...“, las der Soldat weiter. Als sich Koselzow nach dem Feldwebel erkundigte, unterbrach der Soldat das Lesen, und die übrigen kamen in Bewegung, husteten oder schneuzten sich, wie es gewöhnlich nach einem gespannten Schweigen geschieht. Der Feldwebel, der sich aus der Gruppe der Zuhörer erhob, knöpfte seinen Rock zu und arbeitete sich über die Beine der Soldaten hinweg, die keinen Platz hatten, sie zurückzuziehen, zum Offizier durch. -133-
„Guten Tag, mein Lieber! Ist das hier unsere ganze Kompanie?“ „Guten Tag und viel Glück zur Rückkehr, Euer Wohlgeboren!“ erwiderte der Feldwebel und blickte Koselzow erfreut und freundlich ins Gesicht. „Haben sich Euer Wohlgeboren gut erholt? Nun, dann Gott sei Dank! Wir hatten schon richtig Sehnsucht nach Ihnen.“ Man sah gleich, daß Koselzow bei der Kompanie beliebt war. Im Innern der Blindage wurden Bemerkungen laut: „Der frühere Kommandeur ist gekommen, der verwundet war, Koselzow, Michail Semjonytsch!“ und ähnliche; einige Soldaten rückten sogar an ihn heran, der Trommler begrüßte ihn. „Guten Tag, Obantschuk! Noch wohlbehalten?“ sagte Koselzow und wandte sich dann mit erhobener Stimme an die Mannschaft: „Guten Tag, Leute!“ „Guten Tag, Euer Wohlgeboren!“ schallte es durch die Blindage. „Wie geht es denn, Jungens?“ „Schlecht, Euer Wohlgeboren! Der Franzma nn zwiebelt uns furchtbar; und immer nur von den Schanzen feuert er herüber, der Halunke, im Freien läßt er sich nicht blicken.“ „Nun, vielleicht gibt es Gott, daß ich Glück mitgebracht habe und daß er auch mal ins Freie herauskommt!“ sagte Koselzow. „Es wäre ja nicht das erstemal, daß ich euch in den Kampf führe. Wir würden ihn wieder zusammenhauen!“ „Wir wollen uns Mühe geben, Euer Wohlgeboren!“ sagten mehrere Stimmen. „Ja, er ist wirklich tapfer, er hat sehr viel Mut, der Herr Leutnant“, sagte der Trommler leise, aber immerhin laut genug, daß es zu hören war, zu einem anderen Soldaten; er schien die Worte des Kompaniechefs rechtfertigen und den anderen davon überzeugen zu wollen, daß sie ernst gemeint und nicht bloße Prahlerei seien. Von den Soldaten begab sich Koselzow in die Festungskaserne zu seinen Kameraden, den Offizieren. -134-
17 Der große Raum der Kaserne war brechend voll von Marine-, Artillerie- und Infanterieoffizieren. Einige schliefen, andere, die teils auf einer Kiste, teils auf der Lafette eines Festungsgeschützes saßen, unterhielten sich; wieder andere, die die größte und lauteste Gruppe bildeten, saßen hinter dem Gewölbebogen auf zwei über den Fußboden ausgebreiteten Burkas, tranken Porter und spielten Karten. „Ah! Koselzow, Koselzow! Schön, daß du zurückkommst, bist ein tüchtiger Kerl! Was macht die Wunde?“ wurde von verschiedenen Seiten gerufen. Auch hier war zu sehen, daß er beliebt war und daß man sich über seine Ankunft freute. Nachdem er den ihm bekannten Offizieren die Hand geschüttelt hatte, gesellte sich Koselzow jener lauten Gruppe von Offizieren zu, die Karten spielten und unter denen sich die meisten seiner Regimentskameraden befanden. Ein hagerer, gutaussehender Offizier mit dunklem Haar, langer, schmaler Nase, starkem, sich über die Wangen fortsetzendem Schnurrbart und schönen weißen Händen, an deren einem Finger ein massiver goldener Siegelring steckte, hielt die Bank und warf die Karten hastig und unordentlich hin; er war offenbar über irgend etwas erregt und bemühte sich, es durch vorgetäuschten Gleichmut zu verbergen. Rechts von ihm lag, auf den Ellbogen gestützt, ein grauhaariger, schon stark angetrunkener Major, der mit affektierter Kaltblütigkeit jedesmal einen halben Rubel setzte und sofort auf den Tisch legte. Zur Linken des Bankhalters hockte ein junger Offizier mit rotem, verschwitztem Gesicht, der gezwungen lächelte und scherzte, wenn seine Karten geschlagen wurden; mit der einen Hand unaufhörlich in seiner leeren Hosentasche wühlend, spielte er mit großen Einsätzen, aber offenbar bereits ohne Deckung, was auch der Grund für die Erregung des hübschen Bankhalters war. Ein hagerer, blasser Offizier mit Glatze und bartlosem, ungewöhnlich breitem und bösem Mund, der einen großen Stoß Banknoten in der Hand hielt, ging im -135-
Zimmer auf und ab, spielte jedesmal va banque um bares Geld und gewann dauernd. Koselzow trank einen Schnaps und nahm bei den Spielern Platz. „Setzen Sie mal, Michail Semjonytsch!“ forderte ihn der Bankhalter auf. „Geld, nehme ich an, werden Sie doch wohl eine Unmenge mitgebracht haben.“ „Woher sollte ich Geld haben? Im Gegenteil, das letzte bin ich in der Stadt losgeworden.“ „Nanu? In Simferopol werden Sie doch sicherlich den einen oder anderen gerupft haben?“ „Ich habe wirklich nicht viel“, erwiderte Koselzow, wünschte aber offenbar gar nicht, daß man es ihm glaubte; er knöpfte seinen Rock auf und nahm die abgegriffenen Karten in die Hand. „Versuchen kann ich's ja mal! Das Glück ist launisch, und selbst ein blindes Huhn findet bekanntlich einmal ein Korn. Man muß sich nur Mut antrinken.“ Und nachdem er drei Schnäpse und etliche Glas Porter getrunken hatte, war er innerhalb kurzer Zeit völlig in die Geistesverfassung der ganzen Gesellschaft, das heißt in einen Zustand umnebelter Selbstvergessenheit versetzt und verlor seine letzten drei Rubel. Der kleine, immer mehr in Schweiß geratene Offizier stand indes bereits mit hundertfünfzig Rubel in der Kreide. „Nein, ich habe kein Glück“, sagte er und griff lässig nach einer neuen Karte. „Ich bitte um Kasse“, sagte der Bankhalter, der für einen Augenblick das Auswerfen der Karten unterbrach und zu ihm hinsah. „Gestatten Sie, daß ich morgen abrechne“, erwiderte der schwitzende Offizier, während er aufstand und mit der Hand immer nervöser in seiner leeren Tasche herumwühlte. „Hm!“ brummte der Bankhalter und schleuderte gereizt nach rechts und links die noch zum Spiel erforderlichen Karten auf den Tisch. „So geht es nicht“, sagte er dann und legte die Karten hin. „Ich mache Schluß. So geht es wirklich nicht, Sachar -136-
Iwanytsch“, fuhr er fort. „Wir haben hier gegen Bargeld gespielt und nicht auf Pump.“ „Trauen Sie mir etwa nicht? Das ist ja wirklich komisch!“ „Wer zahlt denn nun?“ lallte der Major, der schon stark betrunken war und einen Gewinn von etwa acht Rubel zu bekommen hatte. „Ich habe schon über zwanzig Rubel eingezahlt, habe jetzt dauernd gewonnen, aber ausgezahlt wird mir nichts.“ „Womit soll ich denn auszahlen, wenn kein Geld auf dem Tisch liegt?“ sagte der Bankhalter. „Das geht mich nichts an!“ schrie der Major und stand auf. „Ich spiele mit Ihnen, mit anständigen Leuten, und nicht mit dem da.“ Der schwitzende Offizier geriet plötzlich in Rage: „Ich erkläre doch, daß ich morgen alles begleichen werde; wie können Sie sich da unterstehen, mir Unverschämtheiten zu sagen?“ „Ich sage, was mir paßt! So handelt kein anständiger Mensch, Punktum!“ brüllte der Major. „Lassen Sie's gut sein, Fjodor Fjodorytsch!“ Alle versuchten den Major zu beschwichtigen. „Beruhigen Sie sich!“ Aber der Major schien nur auf diese Beschwichtigungsversuche gewartet zu haben, um vollends in Wut zu geraten. Er sprang plötzlich auf und ging torkelnd auf den schwitzenden Offizier zu. „Ich sage Unverschämtheiten? Ein Mann, der älter ist als Sie und seit zwanzig Jahren seinem Zaren dient, sagt Unverschämtheiten? Grünschnabel, du!“ kreischte er, durch den Klang seiner Stimme immer mehr aufgestachelt. „Gemeiner Kerl!“ Doch lassen wir über diese tiefbetrübliche Szene schleunigst den Vorhang fallen. Morgen, vielleicht schon heute, wird jeder dieser Männer frohgemut und stolz dem Tode entgegengehen und standhaft und ruhig sterben. Angesichts dieser selbst die nüchternste Phantasie mit Entsetzen erfüllenden, alles Menschlichen baren Verhältnisse und der Hoffnungslosigkeit, -137-
ihnen zu entrinnen, besteht eben die einzige Freude des Lebens in Selbstvergessenheit, in der Betäubung des Bewußtseins. Auf dem Grunde des Herzens eines jeden ruht indessen jener edle Funke, der ihn zum Helden machen wird: dieser Funke kann verblassen, an Leuchtkraft verlieren — bis dann der vom Schicksal bestimmte Augenblick kommt, an dem er zu einer Flamme auflodert, in deren Schein große Taten vollbracht werden. 18 Am folgenden Tage hielt das Bombardement mit unverminderter Heftigkeit an. Gegen elf Uhr morgens saß Wolodja Koselzow im Kreise der Batterieoffiziere, mit denen er sich bereits etwas angefreundet hatte, studierte die ihm neuen Gesichter, beobachtete, stellte Fragen und erzählte selbst. Die bescheidene, ein wenig Gelehrtheit hervorkehrende Unterhaltung der Artillerieoffiziere flößte ihm Achtung ein und sagte ihm zu. Das schüchterne, harmlose Wesen Wolodjas und sein hübsches Äußeres nahmen andererseits die Offiziere für ihn ein. Der älteste Offizier der Batterie, ein mittelgroßer Hauptmann mit rotem Schöpf und an den Schläfen glatt anliegendem Haar, der nach den alten Traditionen der Artillerie ausgebildet war und im Rufe eines Kavaliers und Gelehrten stand, fragte Wolodja nach seinen artilleristischen Kenntnissen und den neuen Erfindungen, hänselte ihn gutmütig wegen seines jugendlichen Alters und seines hübschen Gesichts und ging mit ihm überhaupt wie ein Vater mit seinem Sohn um, was Wolodja sehr angenehm berührte. Auch an dem Unterleutnant Djadenko, einem jungen Mann, der mit ukrainischem Akzent sprach, in einem zerschlissenen Mantel und mit zerzaustem Haar umherging, ein ungewöhnlich lautes Organ und schroffe Bewegungen hatte und jede Gelegenheit ergriff, um sich über alles mögliche in bissiger Weise zu entrüsten, fand Wolodja Gefallen, weil er erkannte, daß in dieser rauhen Schale ein sehr anständiger und äußerst gutmütiger Mensch steckte. Djadenko -138-
bot Wolodja ständig seine Dienste an und wies ihm nach, daß sämtliche Geschütze Sewastopols ordnungswidrig aufgestellt seien. Lediglich für den Leutnant Tschernowizki, der stets mit hochgezogene n Brauen einherging, einen verhältnismäßig sauberen, wenn auch nicht neuen, so doch immerhin sorgfältig geflickten Rock anhatte und über seiner Atlasweste eine goldene Uhrkette zur Schau trug, konnte sich Wolodja nicht erwärmen, obwohl Tschernowizki von allen am höflichsten war. Er erkundigte sich bei Wolodja immer wieder nach dem Zaren und dem Kriegsminister, erzählte mit unnatürlich wirkender Begeisterung von den in Sewastopol vollbrachten Heldentaten, klagte, daß man so wenig Patriotismus finde, daß so unvernünftige Verfügungen erlassen würden, und offenbarte an sich vielseitige Kenntnisse, Verstand und edle Gesinnung; aber aus irgendeinem Grunde hatte Wolodja den Eindruck, daß dies alles einstudiert und unnatürlich sei. Vor allem aber bemerkte er, daß die übrigen Offiziere so gut wie gar nicht mit Tschernowizki sprachen. Der Junker Wlang, den er gestern im Schlaf gestört hatte, war ebenfalls zugegen. Er sagte nichts, sondern saß bescheiden in einer Ecke, lachte, wenn es etwas zum Lachen gab, machte darauf aufmerksam, wenn jemand etwas vergessen hatte, bestellte den Schnaps und drehte für sämtliche Offiziere die Zigaretten. Ob es nun an dem bescheidenen, höflichen Benehmen Wolodjas lag, der ihn wie einen Offizier behandelte und nicht schurigelte wie einen dummen Jungen, oder ob der Junker Wlanga — so nannten ihn die Soldaten, und sie deklinierten seinen Namen aus irgendeinem Grunde wie ein Wort weiblichen Geschlechts — von Wolodjas sympathischem Äußeren fasziniert war, er wandte jedenfalls seine großen, gutmütig-stupiden Augen keinen Moment von dem Gesicht des neuen Offiziers ab, erriet und erfüllte alle seine Wünsche im voraus und befand sich die ganze Zeit in einer Art schwärmerischen Verzückung, was natürlich seitens der Offiziere bemerkt und bespöttelt wurde. -139-
Vor dem Mittagessen gesellte sich der auf der Bastion abgelöste Stabshauptmann zu der Gruppe. Stabshauptmann Kraut war ein blonder, gutaussehender und schneidiger Offizier mit großem rotem Schnurrbart und Backenbart; er sprach ausgezeichnet Russisch, aber etwas allzu korrekt und gewählt für einen echten Russen. Im Dienst und im täglichen Leben verhielt es sich mit ihm ebenso wie mit der Sprache: er erfüllte vorbildlich seine Pflicht, war ein ausgezeichneter Kamerad und überaus gewissenhaft in Geldangelegenheiten; aber einfach als Mensch ging ihm gerade deshalb etwas ab, weil alles an ihm allzu korrekt war. Wie alle Deutschen in Rußland war er — in seltsamem Gegensatz zu den idealistischen Deutschen in Deutschland — im höchsten Grade praktisch. „Da kommt er ja, unser Held!“ sagte der Hauptmann, als Kraut, die Arme schwenkend und sporenklirrend, mit strahlendem Gesicht das Zimmer betrat. „Was trinken Sie, Friedrich Krestjanytsch, Tee oder Schnaps?“ „Ich habe mir schon Tee bestellt, kann mir aber vorher auc h ein Schnäpschen zu Gemüte führen“, antwortete er. „Stabshauptmann Kraut...“, wandte er sich dann an Wolodja, der aufgestanden war und sich vor ihm verbeugte. „Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, hoffe auf gute Kameradschaft. Ich hörte bereits auf der Bastion von unserem Feuerwerker, daß Sie gestern angekommen seien.“ „Ich muß Ihnen für Ihr Bett danken: darauf habe ich diese Nacht geschlafen.“ „Konnten Sie denn auch gut schlafen? Ein Bein wackelt nämlich, und niemand kommt dazu, es in Ordnung zu bringen — jetzt, bei dem Belagerungszustand. Man muß etwas darunterschieben.“ „Nun, ist Ihre Wachzeit glücklich abgelaufen?“ fragte Djadenko. „Es ging. Nur Skworzow hat was abbekommen, und gestern mußte eine der Lafetten repariert werden. Das Gestell war völlig zertrümmert.“ -140-
Er stand auf und begann auf und ab zu gehen. Man sah ihm an, daß er noch ganz von dem wohligen Gefühl durchdrungen war, das derjenige empfindet, der eben erst eine Gefahr überstanden hat. „Nun, Dmitri Gawrilytsch, wie geht's, alter Freund?“ wandte er sich an den Hauptmann und schlug ihm auf die Knie. „Wie steht's mit Ihrer Beförderung? Noch nichts zu hören?“ „Es ist noch nichts raus.“ „Es wird auch nichts draus werden“, mischte sich Djadenko ein. „Das habe ich Ihnen ja gleich erklärt.“ „Warum denn nicht?“ „Weil die Eingabe nicht entsprechend abgefaßt ist.“ „Ach, Sie Streithahn, Sie Streithahn“, sagte Kraut mit einem vergnügten Lächeln. „Ein echter starrköpfiger Chochol! Nun, passen Sie auf, trotz allem wird für Sie dabei der Leutnant herausspringen!“ „Nein, das wird er nicht.“ „Wlang, bringen Sie mir doch mal meine Pfeife und stopfen Sie sie“, wandte er sich an den Junker, der sofort bereitwillig losstürzte, die Pfeife zu holen. Kraut hatte alle aufgemuntert. Er erzählte vom Bombardement, erkundigte sich, was sich in seiner Abwesenheit zugetragen habe, und zog jeden ins Gespräch. 19 „Wie ist es, haben Sie sich bei uns schon ein bißchen eingelebt?“ wandte sich Kraut an Wolodja. „Verzeihen Sie, wie ist doch Ihr Vor- und Vatersname? Bei uns, in der Artillerie, wissen Sie, ist das schon so Brauch. Haben Sie sich auch bereits ein Reitpferdchen angeschafft?“ „Nein, ich weiß gar nicht, wie das werden soll“, antwortete Wolodja. „Ich sprach schon mit dem Hauptmann darüber. Ich besitze kein Pferd, habe aber auch kein Geld, bevor ich nicht die Furage- und Reisegelder ausbezahlt bekomme. Ich will mir -141-
vorläufig ein Pferd beim Batteriekommandeur ausbitten, fürchte jedoch, daß er es ablehnen wird.“ „Apollon Sergejitsch?“ Kraut stieß mit den Lippen einen Laut aus, der starken Zweifel ausdrückte, und sah den Hauptmann an. „Das wird er kaum bewilligen.“ „Nun, wenn er es ablehnt, ist es auch kein Unglück“, meinte der Hauptmann. „Im Grunde genommen braucht man hier gar kein Pferd; aber wir können es ja versuchen, ich werde ihn heute fragen.“ „Was sagen Sie? Sie kennen ihn nicht“, mischte sich Djadenko ein. „Vieles mag er ablehnen, aber ein Pferd für den Fähnrich bewilligt er bestimmt. Wollen wir wetten?“ „Na ja, das kennen wir schon, daß Sie stets widersprechen müssen.“ „Ich widerspreche, weil ich Bescheid weiß. In anderen Dingen ist er geizig, aber das Pferd wird er bewilligen, denn eine Ablehnung bringt ihm keinen Vorteil.“ „Wieso keinen Vorteil, wo er doch hier acht Rubel für den Hafer zahlen muß?“ entgegnete Kraut. „Er hat schon ein Interesse daran, kein überflüssiges Pferd zu halten.“ „Bitten Sie sich den Skworez aus, Wladimir Semjonytsch“, sagte Wlang, der mit Krauts Pfeife zurückkam. „Es ist ein feines Pferd!“ „Mit dem Sie in Soroki in einen Graben gestürzt sind, nicht wahr, Wlanga?“ sagte der Stabshauptmann lachend. „Was macht es schon aus, daß der Hafer, wie Sie sagen, acht Rubel kostet“, ereiferte sich Djadenko weiter, „wenn er dafür zehneinhalb Rubel anrechnen darf; natürlich hat er davon nur Vorteil.“ „Wie sollte man auch annehmen, daß er für sich gar nichts erübrigt! Aber wenn Sie erst einmal Batteriekommandeur sind, wird es wahrscheinlich nicht einmal Pferde geben, um in die Stadt zu reiten!“
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„Wenn ich Batteriekommandeur bin, Verehrtester, wird jedes Pferd vier Achtelmaß täglich zu fressen bekommen; ich werde mich nicht bereichern, verlassen Sie sich darauf.“ „Warten wir ab, dann wird es sich zeigen!“ sagte der Stabshauptmann. „Auch Sie werden Ihr Schäfchen ins trockene bringen; und auch er“, fügte er, auf Wolodja ze igend, hinzu, „wird, wenn er einst Batteriekommandeur ist, die Überschüsse in die eigene Tasche wandern lassen.“ „Warum nehmen Sie an, daß auch der Fähnrich geneigt sein würde, daraus Nutzen zu ziehen?“ mischte sich Tschernowizki ein. „Vielleicht ist er vermögend; weshalb sollte ihm dann daran liegen?“ „Nein, ich... entschuldigen Sie, Herr Hauptmann“, sagte Wolodja und wurde bis über die Ohren rot, „aber ich würde das wirklich für unehrenhaft halten.“ „Oho! Nicht so stürmisch!“ sagte Kraut. „Bringen Sie es erst mal bis zum Hauptmann, dann werden Sie anders reden.“ „Nein, das spielt keine Rolle; ich meine nur, daß ich kein Geld nehmen darf, das mir nicht zukommt.“ „Ich will Ihnen mal was sagen, junger Mann“, fuhr Kraut nunmehr in ernsthaftem Ton fort. „Wissen Sie auch, daß Sie als Batteriekommandeur, falls Sie gut wirtschaften, in Friedenszeiten mindestens fünfhundert und im Krieg sogar sieben- bis achttausend Rubel allein an den Pferden übrigbehalten? Also schön. Was die Mannschaftsverpflegung betrifft, so mischt sich der Batteriekommandeur nicht ein: das wird bei der Artillerie von jeher so gehalten; wenn Sie schlecht wirtschaften, erübrigen Sie nichts dabei. Ferner: Sie haben über den Etat hinaus Unkosten für das Beschlagen der Pferde — zum ersten“, er bog einen Finger ein, „für die Apotheke — zum zweiten“, er bog einen weiteren Finger ein, „für die Kanzlei — zum dritten; und für ein Handpferd werden ja fünf Hunderter verlangt und gezahlt, mein Bester, während der Remontepreis fünfzig Rubel beträgt — das zum vierten. Sie sind genötigt, für die Soldaten außer Etat die Kragen auszuwechseln, haben -143-
Mehrausgaben für Kohlen, bestreiten die Beköstigung der Offiziere. Ein Batteriekommandeur ist zu einem gewissen Aufwand gezwungen: er braucht einen Wagen, einen Pelz, braucht dies und das und noch hunderterlei andere Dinge... was ist da noch viel zu reden!“ „Und vor allem, Wladimir Semjonytsch“, fiel der Hauptmann ein, der bis dahin geschwiegen hatte, „ist dies zu bedenken: Wenn ein Mann wie ich zum Beispiel zwanzig Jahre hindurch seinen Dienst bei einem Gehalt von zweihundert Rubel versehen und die ganze Zeit ein kümmerliches Leben geführt hat, sollte man ihm da nicht die Gelegenheit gönne“, sich für seine alten Tage ein Stück Brot zu sichern, wo die Kommissionäre in einer Woche Zehntausende einheimsen?“ „Ach, das bedarf keiner Worte!“ mischte sich wieder der Stabshauptmann ein. „Übereilen Sie sich nicht mir Ihrem Urteil, werden Sie erst einmal warm hier, lernen Sie den Dienst kennen.“ Wolodja, der seine unbedachten Äußerungen jetzt sehr bereute und beschämt war, murmelte irgend etwas und hörte dann schweigend zu, wie Djadenko aufs eifrigste zu widersprechen und das Gegenteil nachzuweisen begann. Die Debatte wurde durch den Eintritt des Burschen des Obersten unterbrochen, der zum Essen bat. „Sagen Sie Apollon Sergejitsch doch diesmal, daß er Wein auftischen lassen soll“, wandte sich Tschernowizki, während er seinen Rock zuknöpfte, an den Hauptmann. „Warum geizt er damit? Wenn wir umkommen, hat niemand was davon!“ „Sagen Sie es ihm doch selbst“, erwiderte der Hauptmann. „Nein, Sie sind der älteste Offizier; alles muß seine Ordnung haben.“ 20 In demselben Zimmer, in dem sich Wolodja gestern beim Obersten gemeidet hatte, war der Tisch jetzt von der Wand abgerückt und mit eine m nicht gerade sauberen Tischtuch -144-
bedeckt. Der Batteriekommandeur reichte ihm heute die Hand und fragte ihn nach Petersburg und seiner Reise. „So, meine Herren, wer einen Schnaps mag, greife gefälligst zu! Fähnriche trinken ja nicht“, fügte er mit einem Blick auf Wolodja lächelnd hinzu. Überhaupt wirkte der Batteriekommandeur jetzt gar nicht so schroff wie tags zuvor; im Gegenteil, er machte den Eindruck eines gutmütigen, gastfreundlichen Hausherrn und älteren Kameraden. Nichtsdestoweniger erkannte man scho n an der Art, wie alle Offiziere, vom alten Hauptmann bis hinab zum Streithahn Djadenko, mit ihm sprachen und ihm dabei respektvoll in die Augen blickten, wie sie bescheiden, einer nach dem anderen, von der Wand an den Tisch herantraten, um einen Schnaps zu trinken, daß der Kommandeur bei ihnen große Achtung genoß. Das Mittagessen bestand aus einer großen Schüssel Kohlsuppe, in der Stücke fetten Rindfleisches und eine Unmenge von Pfefferkörnern und Lorbeerblättern schwammen, aus polnischen Klopsen mit Senf und Fleischpasteten mit nicht ganz frischer Butter. Servietten gab es keine, gegessen wurde mit einfachen Blech- oder Holzlöffeln; nur zwei Gläser waren vorhanden, und an der auf dem Tisch stehenden grauen Wasserkaraffe war der obere Teil des Halses abgeschlagen. Aber beim Essen herrschte keine Langeweile, die Unterhaltung brach keinen Augenblick ab. Zuerst kam die Rede auf die Schlacht bei Inkerman, an der die Batterie teilgenommen hatte; jeder trug seine Eindrücke und Erwägungen über die Gründe der Niederlage vor, verstummte aber sofort, sobald der Batteriekommandeur das Wort ergriff. Anschließend ging das Gespräch ganz von selbst zu dem unzulänglichen Kaliber der leichten Geschütze und zu den neuen, handlicheren Kanonen über, wobei Wolodja Gelegenheit hatte, seine artilleristischen Kenntnisse anzubringen. Auf die gegenwärtige entsetzliche Lage Sewastopols kam hingegen niemand zu sprechen — als ob jeder in Gedanken allzusehr mit diesem Punkt beschäftigt gewesen wäre, um hierüber noch viele -145-
Worte zu verlieren. Auch die Einzelheiten des Dienstes, den Wolodja hier versehen sollte, blieben zu seinem Erstaunen und Verdruß bei der Unterhaltung gänzlich unberührt, als sei er nur zu dem Zweck nach Sewastopol gekommen, von der größeren Handlichkeit der neuen Geschütze zu erzählen und beim Regimentskommandeur zu Mittag zu essen. Während der Mahlzeit detonierte irgendwo in der Nähe des Hauses, in dem sie sich aufhielten, eine Bombe. Der Fußboden und die Wände erzitterten wie bei einem Erdbeben, und die Fenster wurden von Pulverrauch verdunkelt. „In Petersburg werden Sie so etwas wohl nicht erlebt haben, nehme ich an“, wandte sich der Batteriekommandeur an Wolodja. „Hier jedoch gibt es häufig derartige Überraschungen... Sehen Sie doch mal nach, Wlang, wo sie explodiert ist!“ Wlang ging hinaus und kam mit dem Bescheid zurück, daß die Bombe auf dem freien Platz krepiert sei, worauf hiervon nicht mehr die Rede war. Als man mit dem Essen fast fertig war, kam der Batterieschreiber, ein altes Männchen, mit drei versiegelten Briefen ins Zimmer und händigte sie dem Batteriekommandeur aus. „Dieser hier pressiert sehr, ein Kosak hat ihn eben vom Chef der Artillerie gebracht.“ Unwillkürlich blickten alle Offiziere mit gespannter Erwartung auf die Hände des Batteriekommandeurs, dessen hierin schon geübte Finger das Siegel des Umschlags erbrachen und diesem das „sehr pressierende“ Schriftstück entnahmen. Was kann es sein? fragte sich ein jeder in Gedanken. Es konnte der Befehl sein, zur Erholung aus Sewastopol abzuziehen, aber ebensogut, die ganze Batterie auf die Bastionen zu schicken. „Schon wieder!“ Der Batteriekommandeur warf das Schriftstück wütend auf den Tisch. „Worum handelt es sich denn, Apollon Sergejitsch?“ fragte der älteste Offizier. -146-
„Da wird ein Offizier nebst Bedienungsmannschaft für irgendeine Mörserbatterie angefordert. Mir stehen ohnehin nur noch vier Offiziere zur Verfügung, und die Mannschaft reicht nicht mehr zu einer vollen Besetzung aus — da soll ich jetzt noch weitere hergeben“, brummte der Batteriekommandeur. „Immerhin, meine Herren, einer von Ihnen wird gehen müssen“, fuhr er nach kurzem Schweigen fort; „Der Befehl lautet: Um sieben Uhr am Schlagbaum... Lassen Sie doch den Feldwebel rufen! Und wer von Ihnen sich aufmachen soll, das entscheiden Sie selbst, meine Herren“, fügte er hinzu. „Der Fähnrich hat ja bis jetzt noch nichts mitgemacht“, meinte Tschernowizki und zeigte dabei auf Wolodja. Der Batteriekommandeur antwortete hierauf nichts. „Ich bin gern bereit“, erklärte Wolodja und fühlte zugleich, wie ihm kalter Schweiß auf Rücken und Nacken trat. „Nein, warum denn so?“ fiel der Hauptmann ein. „Selbstverständlich wird sich niemand weigern, aber sich aufzudrängen hat auch keinen Sinn; wenn Apollon Sergejitsch es uns überläßt, dann wollen wir doch losen, wie wir es auch das letztemal gemacht haben.“ Alle stimmten zu. Kraut schnitt kleine Zettel zurecht, rollte sie zusammen und schüttete sie in seine Mütze. Der Hauptmann scherzte und entschloß sich sogar, den Oberst bei dieser Gelegenheit um Wein anzugehen — um sich Mut anzutrinken, wie er sagte. Djadenko saß mit finsterem Gesicht da, Wolodja lächelte gezwungen, Tschernowizki versicherte, das Los werde bestimmt auf ihn fallen, Kraut war vollkommen ruhig. Wolodja wurde es überlassen, als erster ein Los zu ziehen. Er griff bereits nach einem Röllchen, das etwas länger als die übrigen war, besann sich jedoch im letzten Augenblick, nahm ein anderes, das kürzer und dicker war, faltete es auseinander und las: Gehen. „Ich“, sagte er und seufzte auf. „Nun, dann mit Gott! So werden Sie also gleich Ihre Feuertaufe bekommen“, sagte der Batteriekommandeur und blickte mit -147-
einem gutmütigen Lächeln in das betretene Gesicht des Fähnrichs. „Sie müssen sich jedoch beeilen. Und damit Sie ein bißchen Unterhaltung haben, wird Wlang Sie als Geschützfeuerwerker begleiten.“ 21 Wlang, der über die ihm zugewiesene Aufgabe höchst erfreut war, lief eiligst hinaus, sich fertigzumachen, und kam marschmäßig angezogen zu Wolodja, um ihm behilflich zu sein; er wollte ihn absolut überreden, sein Feldbett, den Pelz, alte Exemplare der „Otetschestwennyje sapiski“, einen Spirituskocher und andere unnötige Dinge mitzunehmen. Der Hauptmann riet Wolodja, erst einmal im „Leitfaden“* über das Schießen aus Mörsern nachzulesen und sich daraus die Tabelle der Elevatio nswinkel abzuschreiben. Wolodja machte sich auf der Stelle ans Werk und merkte dabei zu seiner Verwunderung und Freude, daß die Angst vor der Gefahr und vor allem die Angst, sich als Feigling zu erweisen, ihn zwar noch ein wenig beunruhigte, aber längst nicht mehr in dem Grade wie tags zuvor. Das war zum Teil auf den Einfluß des Tageslichts und sein Beschäftigtsein zurückzuführen, zum Teil und in der Hauptsache aber auch darauf, daß Angst, wie jedes starke Gefühl, nicht lange Zeit in unverändertem Maße anha lten kann. Kurzum, er hatte dieses Stadium von Angst bereits hinter sich. Gegen sieben Uhr, als sich die Sonne gerade hinter der NikolaiKaserne zu verbergen begann, erschien der Feldwebel bei ihm und erklärte, daß die Truppe abmarschbereit warte. „Das Verzeichnis habe ich Wlanga ausgehändigt. Euer Wohlgeboren wollen es sich von ihm geben lassen“, sagte er. Etwa zwanzig Artilleristen standen, nur mit Seitengewehren ausgerüstet, an einer Seitenwand des Hauses. Wolodja ging zusammen mit dem Junker auf sie zu. Er überlegte, ob er sie durch eine kleine Ansprache begrüßen oder sich einfach mit *
«Leitfaden für Artillerieoffiziere», herausgegeben von Besak. (Anm. d. Verf.)
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einem: „Guten Abend, Leute!“ begnügen solle oder ob er vielleicht am besten gar nichts sagte. Nein, warum soll ich ihnen nicht: „Guten Abend; Leute!“ sagen —das muß ich sogar, dachte er und rief laut mit seiner hellen Stimme: „Guten Abend, Leute!“ Die Soldaten erwiderten den Gruß fröhlich: seine jugendliche, frische Stimme hatte jedem angenehm in den Ohren geklungen. Wolodja marschierte frohgemut an der Spitze der Soldaten, und obschon sein Herz so heftig schlug, als sei er mehrere Werst in schnellstem Tempo gelaufen, waren seine Schritte beschwingt und sein Gesichtsausdruck heiter. Als der Trupp bereits am Malachow-Hügel angelangt war und der Aufstieg begann, bemerkte Wolodja, daß Wlang, der sich dicht an seine Fersen hielt und zu Hause so großen Mut bekundet hatte, alle Augenblicke zur Seite auswich und den Kopf einzog, als kämen sämtliche Bomben und Kugeln, die hier allerdings schon in großer Zahl durch die Luft schwirrten, gerade auf ihn zugeflogen. Einige Soldaten taten desgleichen; überhaupt sprach aus den Gesichtern der meisten, wenn nicht Angst, so doch Unruhe. Dieser Umstand tat ein übriges, Wolodja vollends zu beruhigen und zu ermutigen. Nun bin also auch ich auf dem Malachow-Hügel, den ich mir ganz ohne Grund so ungeheuer schrecklich vorgestellt habe! Ich gehe ruhig weiter, ohne vor den Geschossen eine Verbeugung zu machen, und fürchte mich weit weniger als die anderen. Demnach bin ich also gar kein Feigling, dachte er befriedigt und sogar mit einer gewissen begeisterten Selbstgefälligkeit. Dieses Gefühl der Furchtlosigkeit und Selbstzufriedenheit wurde freilich bald durch ein Bild erschüttert, das sich ihm darbot, als er in der Dämmerung bei der Kornilowschen Batterie ankam und den Kommandeur der Bastion aufsuchen wollte. Vor der Brustwehr hatten vier Matrosen einen blutbesudelten Leichnam ohne Mantel und Stiefel an Füßen und Armen gefaßt und schwenkten ihn, um ihn über die Brustwehr zu schleudern. (Am zweiten Tage eines Bombardements kam man gewöhnlich nicht mehr dazu, die Leichen der Gefallenen von den Bastionen -149-
fortzuschaffen, und warf sie in den Festungsgraben hinüber, damit sie auf den Batterien nicht hinderlich waren.) Wolodja blieb einen Augenblick wie versteinert stehen, als er sah, wie der Leichnam auf den oberen Rand der Brustwehr aufschlug und von dort langsam in den Graben hinunterrollte. Doch zu seinem Glück traf er hier den Chef der Bastion, der ihm Anweisungen erteilte und zwei Begleiter mitgab, die ihn zur Batterie und zu der für die Bedienungsmannschaft bestimmten Blindage führen sollten. Ich will nicht davon erzählen, wie viele Schrecken, Gefahren und Enttäuschungen unser Held noch am gleichen Abend zu erleben hatte; wie er anstatt der nach allen Regeln für Genauigkeit und Ordnung ausgestatteten Geschütze, die er bei den Schießübungen auf dem Wolkowo-Feld kennengelernt und auch hier vorzufinden gehofft hatte, zwei ramponierte Mörser ohne Visier vorfand, von denen bei einem die Mündung durch ein Geschoß eingedrückt war und der andere auf den Splittern einer zertrümmerten Plattform stand; wie er bis zum Morgen keine Arbeiter zur Ausbesserung der Plattform auftreiben konnte; wie das Gewicht keines einzigen Geschosses mit den Angaben des „Leitfadens“ übereinstimmte; wie zwei Soldaten seines Kommandos verwundet wurden und wie er selbst an die zwanzigmal nur um ein Haar dem Tode entging. Glücklicherweise wurde ihm als Konstabelsmaat ein hünenhafter Matrose zugeteilt, der seit Beginn der Belagerung die Mörser bediente und ihm versicherte, daß die beiden noch gebrauchsfähig seien, der ihn dann des Nachts mit einer Laterne so gelassen auf der ganzen Bastion umherführte, als ginge er zu Hause durch seinen Gemüsegarten, und ihm versprach, bis zum Morgen alles in Ordnung zu bringen. Die Blindage, zu der ihn sein Begleiter führte, bestand aus einer länglichen, zwei Kubiksashen großen Grube, die in dem steinigen Boden ausgeworfen und von oben mit arschindicken Eichenstämmen gedeckt war. Hier ließ sich Wolodja mit seinem ga nzen Trupp nieder. Sobald Wlang die nur einen Arschin hohe Tür der Blindage erblickt hatte, war er allen voraus schnurstracks -150-
hineingelaufen und hatte sich, auf dem steinigen Boden beinahe Hals und Beine brechend, in einen Winkel verkrochen, aus dem er dann nicht mehr hervorkam. Nachdem alle Soldaten längs der Wände Platz gefunden und einige ihre Pfeifen angesteckt hatten, schlug Wolodja in einer Ecke sein Bett auf, zündete eine Kerze an, nahm eine Zigarette und legte sich hin. Über die Blindage waren unausgesetzt Schüsse zu hören, allerdings nicht sehr laute, ausgenommen diejenigen aus einer in nächster Nähe stehenden Kanone, durch die die Blindage so erschüttert wurde, daß von der Decke Erde herunterrieselte. Im Innern der Blindage hingegen herrschte Stille. Die Soldaten, die in Gegenwart des neuen Offiziers noch befangen waren, tauschten nur hin und wieder ein paar Worte aus, wenn einer den anderen bat, ein wenig zur Seite zu rücken, oder sich Feuer für seine Pfeife geben ließ; irgendwo zwischen den Steine n hörte man eine Ratte scharren, oder Wlang, der seine Fassung noch nicht wiedergewonnen hatte und sich verstört nach allen Seiten umsah, stieß plötzlich einen lauten Seufzer aus. Während Wolodja in der Ecke des von Menschen überfüllten und nur von einer einzigen Kerze erleuchteten Raumes auf seinem Bett lag, ergriff ihn ein ähnlich wohliges Gefühl, wie er es einst als Kind empfunden hatte, wenn er sich beim Versteckspiel in einen Schrank oder unter dem Rock seiner Mutter verkrochen, mit angehaltenem Atem gelauscht, die Dunkelheit gefürchtet und einen eigentümlichen Reiz daran gefunden hatte. Es war ihm ein wenig unheimlich, aber zugleich fröhlich zumute. 22 Nach zehn Minuten legten die Soldaten ihre Befangenheit allmählich ab und begannen sich miteinander zu unterhalten. Am nächsten bei dem Lichtschein und dem Bett des Offiziers hatten sich die Leute in etwas gehobener Stellung niedergelassen — zwei Feuerwerker, von denen der eine, ein alter, grauhaariger Mann, bereits sämtliche Medaillen und Auszeichnungen, mit Ausnahme des Georgskreuzes, besaß; der andere, ein Kantonist, -151-
war noch jung und rauchte selbstgedrehte Zigaretten. Der Trommler hatte wie gewöhnlich die Betreuung des Offiziers übernommen. Hinter diesen saßen die Bombardiere sowie die mit Orden ausgezeichneten Soldaten, und noch weiter hinten, im Halbdunkel neben dem Eingang, hatten sich die „Untergebenen“ gruppiert. Sie begannen als erste ein Gespräch. Den Anlaß dazu bot ein Soldat, der mit Gepolter in die Blindage gestürzt kam. „Na, Bruder, hast du es draußen nicht mehr ausgehalten? Ist's denn nicht schön, wie die Mädels singen?“ fragte einer der Soldaten. „So seltsame Lieder singen sie, wie man's im Dorf nie zu hören gekriegt hat“, antwortete der Hinzugekommene lachend. „Nein, die Bomben kann Wassin nicht ausstehen, ganz und gar nicht“, bemerkte jemand aus der aristokratischen Ecke. „Na, wenn's drauf ankommt, sieht die Sache ganz anders aus“, sagte der in gedehntem Ton sprechende Wassin, bei dessen Worten alle anderen stets aufhorchten. „Am Vierundzwanzigsten, da haben wir wenigstens zurückgefeuert; aber so, wie es jetzt ist, kann man in dem Dreck hier sinnlos draufgehen, ohne daß die Obrigkeit jemandem dafür Dank sagen wird.“ Bei diesen Worten Wassins brachen alle in Gelächter aus. „Melnikow sitzt wohl immer noch draußen“, sagte jemand. „Ja, schickt ihn mal herein, den Melnikow“, fügte der alte Feuerwerker hinzu. „Sonst kommt er wirklich noch für nichts und wieder nichts ums Leben.“ „Wer ist dieser Melnikow?“ erkundigte sich Wolodja. „Ach, so ein alberner Soldat von unserer Truppe, Euer Wohlgeboren. Es gibt nichts, wovor er Angst hat, und da schlendert er nun dauernd draußen herum. Belieben Sie, ihn sich mal anzusehen: wie ein richtiger Bär sieht er aus.“ „Er kennt einen Zauberspruch“, ertönte aus der anderen Ecke die gedehnte Stimme Wassins. Melnikow betrat die Blindage. Er war dick (was bei Soldaten höchst selten vorkommt), rothaarig und hatte ein rotes Gesicht -152-
mit einer mächtigen gewölbten Stirn und vorstehenden hellblauen Augen. „Hast du denn keine Angst vor den Bomben?“ fragte Wolodja. „Warum soll ich vor den Bomben Angst haben?“ antwortete Melnikow achselzuckend und kratzte sich. „Mich wird keine Bombe umbringen, das weiß ich.“ „Möchtest du denn dauernd auf der Bastion bleiben?“ „Natürlich möchte ich das. Hier ist es lustig“, antwortete er und brach plötzlich in Gelächter aus. „Nun, dann sollte man dich doch mal zu einem Ausfall mitnehmen. Willst du, daß ich es dem General sage?“ fragte Wolodja, obgleich er hier keinen einzigen General kannte. „Wie sollte ich nicht wollen? Natürlich will ich!“ Und Melnikow verkroch sich hinter den übrigen. „Wollen wir, Nasenstüber' spielen, Kinder? Wer hat Karten mit?“ hörte man seine sich überstürzende Stimme. In der hinteren Ecke kam auch wirklich bald ein Spiel zustande: man hörte Schläge auf die Nase, Gelächter und das Ausrufen von Trümpfen. Wolodja, für den der Trommler im Samowar Tee aufgesetzt hatte, trank selbst und bewirtete die Feuerwerker, scherzte und unterhielt sich mit ihnen; er wollte sich bei den Soldaten beliebt machen und freute sich sehr über die Achtung, die ihm entgegengebracht wurde. Die Soldaten ihrerseits gingen, nachdem sie bemerkt hatten, daß der Offizier nicht stolz war, ebenfalls aus sich heraus. Einer erzählte, daß die Belagerung von Sewastopol, wie ihm ein glaubwürdiger Matrose gesagt habe, bald beendet sein werde, weil Konstantin, des Zaren Bruder, mit der „merikanischen“ Flotte zur Befreiung unterwegs sei, daß außerdem bald eine Vereinbarung getroffen werden solle, zwei Wochen lang nicht zu schießen, um sich zu erholen, und daß derjenige, der dennoch schießen würde, für jeden Schuß fünfundsiebzig Kopeken Strafe zu zahlen hätte, Wassin, den sich Wolodja inzwischen genauer angesehen hatte, ein Mann von kleinem Wuchs, mit großen gutmütigen Augen und stattlichem Backenbart, erzählte unter anfänglichem -153-
Schweigen und nachfolgendem allgemeinem Gelächter davon, wie er auf Urlaub nach Hause gekommen sei: zuerst hätten sich alle gefreut, dann aber sei er vom Vater zur Arbeit geschickt worden; und der Forstmeister habe seine Frau täglich in einem Wagen abholen lassen. Alles dies bereitete Wolodja großes Vergnügen. Er verspürte jetzt nicht im geringsten Angst oder Unbehagen in der Enge und der stickigen Luft der Blindage, sondern fühlte sich ungemein wohl und erleichtert. Viele der Soldaten schnarchten bereits. Auch Wlang hatte sich auf dem Fußboden ausgestreckt, und der alte Feuerwerker, der zum Schlafen seinen Mantel ausgebreitet hatte, war gerade dabei, sich zu bekreuzigen und sein Nachtgebet zu murmeln, als Wolodja auf den Gedanken kam, einmal hinauszugehen und sich draußen umzusehen. „Die Beine weg!“ riefen die Soldaten einander zu, sobald er aufgestanden war; und jeder zog seine Beine ein, um ihm Platz zu machen. Wlang, der schon geschlafen zu haben schien, hob auf einmal den Kopf und hielt Wolodja am Mantelsaum fest. „Um Himmels willen, gehen Sie nicht hinaus!“ redete er in weinerlich- inständigem Ton auf Wolodja ein. „Sie kennen das noch nicht, dort gehen ununterbrochen Geschosse nieder; hier ist es sicherer...“ Doch ungeachtet aller Bitten Wlangs verließ Wolodja die Blindage und setzte sich auf die Türschwelle, auf der schon Melnikow saß, der gerade seine Fußlappen neu wickelte. Die Luft war rein und frisch, was man besonders nach dem Aufenthalt in der Blindage empfand; es war eine klare, windstille Nacht. Zwischen dem Dröhnen der Schüsse hörte man das Rädergerassel der Wagen, die neue Schanzkörbe brachten, sowie die Stimmen der im Pulverbunker arbeitenden Leute. Hoch oben wölbte sich der Sternenhimmel, an dem die Bomben unaufhörlich ihre feurige Bahn zogen; linker Hand führte eine kleine, etwa einen Arschin breite Öffnung (durch die man Beine und Rücken der dort hausenden Matrosen sah und ihre -154-
trunkenen Stimmen hörte) in eine andere Blindage; geradeaus zeichnete sich die Erhöhung des Pulverbunkers ab, an der in gebückter Haltung menschliche Gestalten vorüberhuschten, während oben auf ihr, umschwirrt von den hier pausenlos vorüberfliegenden Kugeln und Bomben, eine hohe Gestalt in schwarzem Mantel stand und, die Hände in den Taschen, mit den Füßen die Erde feststampfte, die von den Leuten in Säcken hinaufgebracht wurde. Oftmals explodierte eine Bombe in unmittelbarer Nähe des Bunkers. Die Soldaten, die die Erde trugen, bückten sich oder wichen zur Seite aus; die schwarze Gestalt hingegen rührte sich nicht, stampfte mit den Füßen ruhig weiter auf die Erde und verharrte dort in unveränderter Haltung. „Wer ist die schwarze Gestalt?“ wandte sich Wolodja an Melnikow. „Das weiß ich nicht; ich werde mal nachsehen.“ „Nein, bleib hier, es ist nicht nötig.“ Doch Melnikow ließ sich nicht halten; er stand auf und begab sich zu der schwarzen Gestalt, neben der er dann ziemlich lange, ebenso gleichmütig und unbeweglich, auf der Erhöhung stehenblieb. „Es ist der Bunkeraufseher, Euer Wohlgeboren“, berichtete er, als er dann zurückkam. „Eine Bombe hat das Bunkerdach durchschlagen, da bringen die Infanteristen Erde angeschleppt.“ Hin und wieder schien es, als flöge eine Bombe unmittelbar auf die Tür der Blindage zu. Dann zog sich Wolodja hinter eine Ecke zurück, beugte sich aber wieder vor, um zu sehen, ob noch weitere Bomben ankämen. Obwohl Wlang ihn von drinnen mehrmals beschwor, wieder hereinzukommen, blieb Wolodja drei Stunden lang auf der Schwelle sitzen; es bereitete ihm einen gewissen Genuß, das Schicksal auf die Probe zu stellen und den Flug der Bomben zu beobachten. Gegen Ende des Abends hatte er schon herausbekommen, wie viele Geschütze von den einzelnen Standorten feuerten und wo ihre Geschosse aufzuprallen pflegten.
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23 Am nächsten Tage, dem Siebenundzwanzigsten, trat Wolodja nach zehnstündigem Schlaf frühmorgens frisch und munter auf die Schwelle der Blindage. Wlang hatte sich zugleich mit ihm hinausgewagt, aber bei dem ersten Pfiff einer Kugel machte er schnurstracks kehrt und stürzte unter dem Gelächter der Soldaten, die zum größten Teil ebenfalls ins Freie hinausgetreten waren, Hals über Kopf in die Blindage zurück. Lediglich Wassin, der alte Feuerwerker und ein paar andere Soldaten begaben sich nur selten in die Gräben; die übrigen waren nicht zurückzuhalten, sondern strömten aus der stickigen Blindage in die frische Morgenluft hinaus und lagerten sich ungeachtet des mit unverminderter Heftigkeit anhaltenden Bombardements teils vor der Schwelle, teils im Schütze der Brustwehr. Melnikow stolzierte bereits seit der Morgendämmerung an den Batterien herum und blickte ab und zu gleichmütig zum Himmel empor. Vor dem Eingang saßen zwei alte und ein junger kraushaariger Soldat — wohl ein Jude, seinem Äußeren nach zu urteilen. Er hob eine der auf dem Boden herumliegenden Bleikugeln auf, schlug sie mit einem Granatsplitter auf einem Stein platt und begann mit seinem Messer ein Kreuz in der Art des Georgskreuzes auszuschneiden; die beiden anderen unterhielten sich und beobachteten ihn bei seiner Arbeit. Das Kreuz gelang ihm wirklich sehr schön. „Wenn wir hier noch eine Zeitlang bleiben“, sagte der eine Soldat, „dann ist bei Friedensschluß für uns alle die Entlassung fällig.“ „Natürlich! Bis zu meiner Entlassung waren es sowieso nur noch vier Jahre, und jetzt bin ich schon fünf Monate in Sewastopol.“ „Für die Entlassung zählt das nicht, heißt es“, sagte der andere. In diesem Augenblick flog pfeifend eine Kugel über sie hinweg und schlug einen Arschin weit von Melnikow ein, der aus dem Graben auf sie zukam. „Beinahe hätte sie Melnikow den Garaus gemacht“, sagte der eine Soldat. -156-
„Mir macht keine den Garaus“, erwiderte Melnikow. „Hier hast du einen Orden für deine Tapferkeit!“ sagte der junge Soldat, der das Kreuz ausgeschnitten hatte, und reichte es Melnikow. „Nein, Bruder, hier rechnet jeder Monat für ein ganzes Jahr, darüber ist ein Befehl herausgekommen.“ Das abgebrochene Gespräch wurde wiederaufgenommen. „So oder so, nach Friedensschluß wird der Zar in Warschau eine Truppenschau abhalten, und wer da nicht entlassen wird, der wird einen Urlaubspaß ohne Frist bekommen.“ Da ertönte unmittelbar über ihren Köpfen der vibrierende Pfiff einer irgendwo abgeprallten Kugel, die über sie hinwegflog und auf einen Stein aufschlug. „Sieh zu, daß du nicht noch vor dem Abend einen Urlaubspaß fürs Jenseits kriegst“, bemerkte einer der Soldaten. Alle lachten. Aber es dauerte gar nicht erst bis zum Abend, sondern schon nach zwei Stunden hatten zwei von ihnen ihren Urlaubspaß für das Jenseits, und fünf weitere waren verwundet worden; doch die übrigen scherzten unverdrossen weiter. Am Morgen waren die beiden Mörser tatsächlich wieder so weit in Ordnung gebracht, daß man mit ihnen schießen konnte. Gegen zehn Uhr ließ Wolodja gemäß dem ihm vom Chef der Bastion erteilten Befehl seinen Trupp antreten und begab sich mit ihm zusammen zur Batterie. Sobald sich die Leute an ihre Arbeit machten, war von der Angst, die man ihnen gestern angemerkt hatte, keine Spur mehr übriggeblieben. Einzig Wlang konnte seine Furcht nicht überwinden und verkroch und duckte sich nach wie vor; auch Wassin verlor seine Ruhe ein wenig, hastete und hockte sich alle Augenblicke nieder. Wolodja hingegen war in heller Begeisterung und dachte keinen Augenblick an die Gefahr. Die Freude darüber, daß er seine Pflicht erfüllte, daß er kein Feigling, sondern sogar tapfer war, das Bewußtsein, das Kommando zu führen, und die Gegenwart von zwanzig Menschen, die ihn, wie er wußte, aufmerksam beobachteten — -157-
all das trug dazu bei, ihn zu einem ganzen Mann zu machen. Er kokettierte sogar mit seiner Tapferkeit und wollte den Soldaten imponieren, indem er auf den Wall hinausstieg und mit Absicht seinen Mantel aufknöpfte, um noch mehr aufzufallen. Selbst der Chef der Bastion, der zu dieser Stunde durch seine „Wirtschaft“ ging, wie er sich auszudrücken pflegte, und der im Laufe von acht Monaten zur Genüge an alle möglichen Formen von Tapferkeit gewöhnt war, auch er konnte nicht umhin, mit Wohlgefallen auf diesen hübschen Jüngling zu blicken, der im offenen Mantel und in einem seinen zarten weißen Hals umschließenden roten Hemd mit erhitztem Gesicht und blitzenden Augen dastand, in die Hände klatschte und mit heller Stimme kommandierte: „Das erste! Das zweite!“, um dann fröhlich auf die Brustwehr zu eilen und zu sehen, wohin die Bomben seiner Geschütze gefallen waren. Um halb zwölf ließ das Feuer auf beiden Seiten nach, und genau um zwölf Uhr begann der Sturm auf den Malachow-Hügel und die zweite, dritte und fünfte Bastion. 24 Diesseits der Bucht, zwischen Inkerman und der Nordseite, hielten sich um die Mittagszeit auf dem Telegraphenhügel zwei Offiziere auf, von denen der eine, eine Marineoffizier, durch ein Fernglas auf Sewastopol blickte, während der andere eben erst in Begleitung eines Kosaken an die große Signalstange herangeritten war. Die Sonne stand hell und hoch über der Bucht, die mit ihren vor Anker liegenden Schiffen und den sich bewegenden Segeln und Booten von einem heiteren, warmen Glanz umspielt war. Ein leichter Windhauch bewegte kaum merklich das verdorrte Laub des am Telegraphengebäude wuchernden Eichengebüschs, bauschte die Segel der Boote und kräuselte die Wellen. Sewastopol mit seinem unvollendeten Kirchenbau, der schlanken Säule, dem Kai, dem sich auf der Anhöhe grün abzeichnenden Boulevard und dem schmucken -158-
Bibliotheksgebäude, mit seinen hellblauen, von Masten angefüllten kleinen Buchten, den malerischen Bogen der Aquädukte und den blauen Wolken von Pulverrauch, die ab und zu glutrot vom Feuerschein der Schüsse beleuchtet wurden — dieses unverändert schöne, feierliche, stolze Sewastopol, zur einen Seite von gelben, rauchenden Bergen und zur anderen von dem tiefblauen, in der Sonne schillernden Meer eingefaßt, bot sich an der jenseitigen Küste der Bucht dem Auge dar. Am Horizont des Meeres, über dem sich der schwarze Rauchstreifen eines Dampfers abzeichnete, zogen längliche weiße Wolken hin und verhießen Wind. Längs der ganzen Linie der Befestigungen, namentlich linker Hand über den Bergen, erschienen unaufhörlich und oft mehrere zugleich, begleitet von selbst am hellichten Tag grelleuchtenden Blitzen, kleine geballte weiße Rauchwölkchen; sie wuchsen an und färbten sich dunkler, wenn sie zum Himmel aufstiegen. Diese Rauchwölkchen tauchten bald hier, bald dort über den Bergen, den feindlichen Batterien, der Stadt und hoch am Himmel auf. Die Detonationen verstummten keinen Augenblick und erschütterten, ineinander übergehend, die Luft... Gegen zwölf Uhr mittags begannen die Rauchwölkchen immer seltener zu erscheinen, und die Luft wurde nicht mehr so stark von Geschützdonner erschüttert. „Die zweite Bastion erwidert ja das Feuer gar nicht mehr“, sagte der Husarenoffizier, der auf seinem Pferd sitzen geblieben war, „sie scheint völlig zerstört zu sein. Wie schrecklich!“ „Ja, und auch vom Malachow-Hügel erwidert man drei Schüsse merkwürdigerweise nur mit einem“, antwortete der andere, der durch das Fernglas sah. „Das bringt mich in Rage, daß sie schweigen. Da ist schon wieder ein Treffer mitten in der KornilowBatterie gelandet, und von dort kommt nichts.“ „Das liegt daran, wie ich schon gesagt habe, daß sie das Bombardement um zwölf immer einstellen. So ist es auch heute. Laß uns ruhig zurückreiten... man erwartet uns schon beim Frühstück. Es gibt doch nichts zu sehen.“ -159-
„Warte, stör mich nicht!“ antwortete der Offizier, der mit erhöhter Spannung durch das Fernglas nach Sewastopol hinüberblickte. „Was gibt es? Siehst du etwas?“ „Ja, von den Gräben her nähern sich dichte Kolonnen.“ „Ja, man sieht es auch schon so, sie kommen in Massen“, sagte der Marineoffizier. „Wir müssen ein Signal geben.“ „Sieh nur! Sieh nur! Sie sind aus den Gräben herausgekommen.“ Wirklich, man konnte jetzt mit bloßem Auge sehen, wie sich von den französischen Batterien zahllose dunkle Punkte den Berg hinab und durch die Schlucht auf unsere Bastion zubewegten. Ganz vorn zeichneten sich bereits geschlossene Reihen dieser Punkte dicht vor unseren Linien ab. Auf den Bastionen stiegen an verschiedenen Stellen kleine weiße Rauchwölkchen auf, die sich gleichsam sprungweise fortpflanzten. Der Wind übertrug den Schall eines heftigen Gewehrfeuers, das an gegen Fensterscheiben prasselnden Regen erinnerte. Eingehüllt von Rauch, rückten die schwarzen Streifen immer näher und näher. Die Detonationen der Schüsse verstärkten sich immer mehr und gingen in ein anhaltendes rollendes Getöse über. Der immer häufiger aufsteigende Rauch breitete sich schnell über die ganze Front aus und verschmolz schließlich zu einer einzigen lila schimmernden, sich windenden und anwachsenden Wolke, in der die Feuerblitze und die schwarzen Punkte kaum noch zu sehen waren; alle Laute vereinigten sich zu einem einzigen dumpfen Dröhnen. „Sie stürmen!“ sagte der Offizier erbleichend und übergab das Fernrohr dem anderen. Kosaken und berittene Offiziere sprengten über den Weg, und in einem Wagen fuhr, begleitet von seinem Gefolge, der Oberkommandierende vorüber. „Es ist doch nicht denkbar, daß sie ihn genommen haben!“ sagte der eine Offizier.
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„Wahrhaftiger Gott, eine Fahne! Sieh selbst, sieh selbst!“ erwiderte, nach Atem ringend, der andere und trat vom Fernrohr zurück. „Eine französische Fahne auf dem Malachow-Hügel!“ „Unmöglich!“ 25 Koselzow der Ältere, der im Laufe der Nacht seinen Spielverlust ausgeglichen und dann aufs neue seine gesamte Barschaft sogar einschließlich der im Mantelaufschlag eingenähten Goldstücke verloren hatte, lag in der Festungskaserne der fünften Bastion gegen Morgen noch in unruhigem, doch tiefem Schlaf, als der unheilschwere, von verschiedenen Stimmen wiederholte Ruf ertönte: „Alarm!“ „Wachen Sie auf, Michail Semjonytsch! Die Franzosen stürmen!“ rief ihm jemand zu. „Das wird wohl irgendein Schuljunge gewesen sein“, sagte er und schlug, das Gehörte noch nicht recht glaubend, die Augen auf. Doch nun fiel sein Blick auf einen Offizier, der mit bleichem, verstörtem Gesicht ohne sichtlichen Grund aus einer Ecke in die andere lief, und ihm wurde alles klar. Der Gedanke, daß man ihn für einen Feigling halten könnte, der seine Kompanie im kritischen Augenblick im Stich ließ, erfüllte ihn mit Entsetzen. Er lief im Sturmschritt hinaus, um zu seinen Leuten zu stoßen. Der Geschützdonner hatte aufgehört, aber das Gewehrfeuer war in vollem Gange. Die Kugeln kamen nicht einzeln, wie aus Stutzbüchsen abgefeuert, sondern sie flogen wie ein herbstlicher Schwärm von Zugvögeln über die Köpfe hinweg. Der ganze Platz, den gestern das Bataillon eingenommen hatte, war in dichten Rauch gehüllt, aus dem ein Durcheinander von Ausrufen und Geschrei schallte. Ihm entgegen kamen in Massen sowohl verwundete als auch nicht verwundete Soldaten. Nachdem er noch etwa dreißig Schritte weitergelaufen war, stieß er auf seine Kompanie, die sich an eine Mauer drückte, und erkannte das -161-
kreideweiße verstörte Gesicht eines seiner Soldaten. Die Gesichter der anderen sahen ebenso aus. Das Angstgefühl der Soldaten teilte sich unwillkürlich auch Koselzow mit, und es lief ihm kalt über den Rücken. „Sie haben die Schwarz-Redoute genommen“, sagte zähneklappernd ein junger Offizier. „Alles ist verloren!“ „Unsinn!“ erwiderte Koselzow wütend und zog, in dem Wunsche, sich selbst auf diese Weise anzufeuern, seinen kurzen, stumpfen eisernen Säbel und rief: „Vorwärts, Leute! Hurra!“ Seine kräftige, schallende Stimme brachte ihn in Schwung. Er lief längs der Traverse vorwärts, und an die fünfzig Soldaten folgten ihm unter lauten Rufen nach. Als sie aus der Traverse ins Freie kamen, prasselten dort die Kugeln buchstäblich wie Hagel nieder. Zwei prallten gegen ihn; aber wo und inwieweit sie ihn verwundet, ob sie ihn nur gestreift hatten oder ins Fleisch gedrungen waren, das festzustellen, hatte er keine Zeit. Vor ihm waren in dem Rauch bereits blaue Uniformen und rote Hosen zu sehen und fremdsprachige Ausrufe zu hören; ein Franzose stand auf der Brustwehr, schwenkte seine Mütze und rief etwas. Koselzow war überzeugt, daß er fa llen würde, und gerade diese Überzeugung verlieh ihm Mut. Er stürmte unentwegt vorwärts. Einige Soldaten überholten ihn, andere tauchten seitlich von ihm auf und liefen ebenfalls vorwärts. Die blauen Uniformen der vor ihm zu ihren Gräben zurückweichenden Franzosen hielten sich immer in der gleichen Entfernung, und er stolperte über Verwundete und Tote. Als er bereits den äußersten Graben erreicht hatte, verschwamm alles vor seinen Augen, und er verspürte Schmerzen in der Brust; er setzte sich hinter dem Wall nieder und sah nun zu seiner unbeschreiblichen Freude durch eine Schießscharte, daß die blauen Uniformen in ungeordneten Scharen zu ihren Gräben zurückfluteten und daß über das ganze Feld verstreut Tote lagen und Verwundete in blauen Uniformröcken und roten Hosen mühsam weiterkrochen. Eine halbe Stunde später lag er auf einer neben der NikolaiKaserne abgesetzten Tragbahre; er wußte, daß er verwundet war, -162-
empfand aber kaum Schmerzen und hatte lediglich das Bedürfnis, etwas Kaltes zu trinken und sich beque mer hinzulegen. Der Arzt, ein kleiner, dicker Mann mit starkem schwarzem Backenbart, trat an ihn heran und knöpfte ihm den Mantel auf. Koselzow beobachtete über das Kinn hinweg das Gesicht des Arztes und was dieser mit seiner Wunde machte, ohne die geringsten Schmerzen zu spüren. Der Arzt bedeckte die Wunde mit dem Hemd, wischte sich die Hände am Rand seines Mantels ab und ging wortlos, ohne den Verwundeten anzusehen, zu einem anderen hinüber. Unbewußt verfolgte Koselzow mit den Augen alles, was um ihn herum vor sich ging. Als er sich der Ereignisse auf der fünften Bastion erinnerte, empfand er ein unsagbar beglückendes Gefühl bei dem Gedanken, daß er vorbildlich seine Pflicht erfüllt und zum erstenmal während seiner ganzen Dienstzeit sein bestmöglichstes getan hatte, so daß er sich keinerlei Vorwürfe zu machen brauchte. Während der Arzt einem anderen verwundeten Offizier einen Verband anlegte, sagte er, auf Koselzow deutend, etwas zu dem rotbärtigen Priester, der mit einem Kreuz in der Hand in der Nähe stand. „Muß ich denn sterben?“ fragte Koselzow den Priester, als dieser zu ihm trat. Der Priester überging die Frage, sprach ein Gebet und reichte dem Verwundeten das Kreuz. Der Tod schreckte Koselzow nicht. Er nahm mit zitternden Händen das Kreuz, drückte es an seine Lippen und weinte. „Sind die Franzosen überall zurückgeschlagen?“ fragte er mit fester Stimme den Priester. „Wir haben auf der ganzen Linie gesiegt“, antwortete der Priester mit ukrainischem Akzent und verschwieg, um den Verwundeten nicht zu betrüben, daß auf dem Malachow-Hügel bereits die französische Fahne flatterte. „Gott sei Dank, Gott sei Dank!“ murmelte der Verwundete, ohne zu fühlen, wie ihm die Tränen über die Wangen rannen, und -163-
empfand eine unbeschreibliche Glückseligkeit in dem Bewußtsein, eine heldenmütige Tat vollbracht zu haben. Einen Augenblick ging ihm der Gedanke an seinen Bruder durch den Kopf. Gott gebe ihm ein ebensolches Glück! dachte er.
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26 Wolodjas harrte indessen ein anderes Schicksal. Er hörte gerade einem Märchen zu, das ihm Wassin erzählte, als der Ruf ertönte: „Die Franzosen kommen!“ Alles Blut strömte ihm sofort zum Herzen, und er fühlte, wie er erblaßte und seine Wangen kalt wurden. Einen Augenblick blieb er regungslos stehen; doch als er dann um sich blickte, sah er, daß die nacheinander herauskommenden Soldaten ziemlich gelassen ihre Mäntel zuknöpften, wobei einer von ihnen — wohl Melnikow — sogar scherzte: „Geht ihnen mit Brot und Salz entgegen, Kinder!“ Wolodja verließ die Blindage zusammen mit Wlang, der keinen Schritt von seiner Seite wich, und lief zur Batterie. Das Artilleriefeuer war von beiden Seiten gänzlich eingestellt. Noch mehr als die äußerliche Ruhe der Soldaten wirkte die erbärmliche, unverhohlene Ängstlichkeit des Junkers anfeuernd auf den Mut Wolodjas. Ist es denn möglich, daß ich ihm ähnlich sein könnte? dachte er und lief frohen Muts zu der Brustwehr hinüber, an der seine kleinen Mörser standen. Er konnte von hier aus deutlich sehen, wie die Franzosen über das freie Feld auf die Bastionen zugestürmt kamen und wie sich ihre Kolonnen mit in der Sonne glänzenden Bajonetten in den nächstliegenden Gräben fortbewegten. Einer von ihnen, ein kleiner, breitschultriger Mann in Zuavenuniform, sprang mit gezogenem Degen über die Gräben und lief den anderen voran. „Feuer mit Kartätschen!“ rief Wolodja und sprang vom Wall herunter. Aber die Soldaten waren seinem Befehl schon zuvorgekommen, und über seinem Kopf erklang das metallene Pfeifen der zuerst aus dem einen und dann aus dem zweiten Geschütz abgefeuerten Kartätschen. „Das erste! Das zweite!“ kommandierte Wolodja und lief, keinen Augenblick an die Gefahr denkend, durch den Rauch von einem Mörser zum anderen. Seitwärts hörte man in nächster Nähe das Gewehrfeuer unserer in Deckung liegenden Truppe und aufgeregte Rufe. -165-
Plötzlich ertönte links von ihm ein entsetzter, gleich von mehreren Stimmen aufgegriffener Schrei: „Sie umgehen uns! Sie umgehen uns'.“ Wolodja sah sich in Richtung der Rufe um. Hinter ihm kamen etwa zwanzig Franzosen angelaufen. Einer von ihnen, ein gutaussehender schwarzbärtiger Mann mit rotem Fez, der den anderen vorauslief, blieb, als er sich der Batterie bis auf zehn Schritt genähert hatte, einen Augenblick stehen, gab einen Schuß ab und stürmte dann weiter vor. Einen Moment war Wolodja wie versteinert und traute seinen Augen nicht. Als er sich gefaßt hatte und um sich blickte, wimmelte es auf dem Wall von blauen Uniformen, und ein Franzose war sogar herübergesprungen und gerade im Begriff, eine der Kanonen zu verstopfen. Außer Melnikow, den eine Kuge l neben ihm niedergestreckt hatte, und Wlang, der plötzlich eine Spake ergriff und mit grimmiger Miene und gesenkten Augen vorwärts stürmte, war von seinen Leuten niemand mehr da. „Mir nach, Wladimir Semjonytsch! Mir nach! Wir sind verloren!“ schrie Wlang verzweifelt und schwenkte die Spake gegen die von hinten eingedrungenen Franzosen. Die wilde Erscheinung des Junkers machte diese stutzig. Nachdem er dem einen, der sich am weitesten vorgewagt hatte, einen Hieb auf den Kopf versetzt hatte und die anderen einen Augenblick zaudernd stehengeblieben waren, lief Wlang, sich immer wieder umsehend und verzweifelt schreiend: „Mir nach, Wladimir Semjonytsch! Worauf warten Sie? Kommen Sie doch!“, auf den Graben zu, in dem unsere Infanterie lag und die Franzosen beschoß. Als er in den Graben gesprungen war, steckte er noch einmal den Kopf heraus, um zu sehen, was mit seinem vergötterten Fähnrich war. An der Stelle, wo Wolodja vorher gestanden hatte, lag, im Mantel, mit Gesicht nach unten, eine dunkle Gestalt, und das ganze Gelände war bereits von den Franzosen besetzt, die schießend gegen unsere Truppen vordrangen.
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27 Wlang fand seine Batterie auf der zweiten Verteidigungslinie. Von den zwanzig Soldaten, die bei der Mörserbatterie gewesen waren, hatten sich nur acht retten können. Gegen neun Uhr abends trat Wlang mit seiner Batterie auf einem mit Soldaten, Geschützen, Pferden und Verwundeten angefüllten Dampfer die Überfahrt zur Nordseite an. Geschossen wurde nirgends mehr. Die Sterne leuchteten ebenso hell am Himmel wie in der Nacht zuvor, aber das Meer wurde von einem starken Wind bewegt. Auf der ersten und zweiten Bastion flammten zu ebener Erde Blitze auf; Explosionen erschütterten die Luft und beleuchteten in ihrem Umkreis alle möglichen in die Höhe fliegenden dunklen Gegenstände und Steine. Neben den Docks war ein Feuer ausgebrochen, dessen Flammen sich rötlich im, Wasser spiegelten. Die dicht mit Menschen besetzte Brücke war von einem Feuerschein erhellt, der von der Nikolai-Batterie herüberfiel. Weiter entfernt flackerte über dem Wasser eine große, anscheinend von der Landzunge der Alexander-Batterie ausgehende Flamme, die die untere Schicht des über ihr schwebenden Rauches beleuchtete, und in der Ferne glitzerten auf dem Meer ebenso ruhig und herausfordernd wie gestern die Lichter der feindlichen Flotte. Ein frischer Wind bewegte die Bucht. Im Schein der Brände sah man die Masten unserer untergehenden Schiffe, die langsam tiefer und tiefer im Wasser versanken. Auf dem Deck des Dampfers wurde nicht gesprochen; außer dem gleichmäßigen Plätschern der durchschnittenen Wellen und dem Auspuffen des Dampfers hörte man nur das Schnaufen der Pferde und ihr Stampfen, die Kommandorufe des Kapitäns und das Stöhnen der Verwundeten. Wlang, der den ganzen Tag nichts gegessen hatte, zog ein Stück Brot aus der Tasche und begann zu essen, schluchzte jedoch, als er sich dabei Wolodjas erinnerte, so laut auf, daß die in der Nähe befindlichen Soldaten aufmerksam wurden. „Seht mal, da ißt er sein Brot und weint, unser Wlanga“, sagte Wassin. -167-
„Komisch!“ bemerkte ein anderer. „Seht nur, auch unsere Kasernen haben sie in Brand gesteckt“, fuhr er seufzend fort. „Wie viele von unseren Leuten sind dort umgekommen, und der Franzose hat alles für nichts und wieder nichts gekriegt.“ „Wenigstens sind wir selber mit dem Leben davongekommen: auch dafür schon müssen wir Gott danken“, meinte Wassin. „Aber es ist doch ärgerlich.“ „Warum ärgerlich? Wird er denn dort Fuß fassen? Das ist unmöglich! Paß nur auf, wir erobern alles zurück. So viele auch umgekommen sind von unseren Brüdern, aber so wahr Gott lebt, wenn der Zar es befiehlt, erobern wir alles zurück. Werden wir ihn etwa dort lassen? Das ist unmöglich! Vorläufig hat er die kahlen Mauern, und die Schanzen sind alle gesprengt. Auf dem Hügel hat er wohl sein Fähnchen gehißt, aber in die Stadt herein traut er sich nicht. Warte nur, laß uns bloß Zeit, die richtige Abrechnung mit dir kommt noch!“ sagte er abschließend, an die Franzosen gewandt. „Natürlich kommt sie noch“, pflichtete der andere im Brustton der Überzeugung bei. Auf der ganzen Linie der Sewastopoler Bastionen, auf denen so viele Monate hindurch ein ungewöhnlich intensives Leben pulsiert hatte, auf denen nacheinander so viele Helden ihr Leben gelassen und durch andere abgelöst worden waren und die während all dieser Monate den Schrecken, den Haß und schließlich die Bewunderung der Feinde erregt hatten — auf den Sewastopoler Bastionen war jetzt nirgends mehr ein menschliches Wesen zu sehen. Auf ihnen war alles ausgestorben, verwüstet und schreckenerregend, aber es war keineswegs Ruhe eingetreten: die Zerstörungen nahmen ihren Fortgang. Auf der immer wieder von Explosionen aufgewühlten Erde lagen überall zertrümmerte Lafetten, zwischen denen Leichen russischer und feindlicher Krieger eingeklemmt waren, lagen schwere gußeiserne, für immer verstummte Kanonen, die mit ungeheurer Gewalt in die Gräben geschleudert worden und bis zur Hälfte mit Erde verschüttet waren, sah man überall -168-
Erdlöcher, Bomben, Kugeln, abermals Leichen, Balkensplitter, zerstörte Blindagen und dazwischen immer wieder stumme Leichen in grauen und blauen Soldatenmänteln. Alles ringsum erbebte alle Augenblicke und wurde von dem Feuerschein der Explosionen, die immer noch die Luft erschütterten, in ein glutrotes Licht getaucht. Die Feinde sahen, daß sich in dem unheimlichen Sewastopol unerklärliche Vorgänge abspielten. Die Explosionen und die Totenstille auf den Bastionen versetzten sie in Unruhe; doch eingedenk des heftigen, unbeirrbaren Widerstandes, dem sie am Tage begegnet waren, wagten sie noch nicht an den Abzug ihres standhaften Feindes zu glauben und sahen wortlos, ohne sich zu rühren, mit Bangen dem Ende der finsteren Nacht entgegen. Das Heer von Sewastopol bewegte sich gleich einem in stürmischer, dunkler Nacht wogenden Meer, zusammen- und wieder auseinanderflutend und in seiner ganzen Masse unruhig bebend, an der Küste entlang und über die zur Nordbucht führende Brücke durch die undurchdringliche Finsternis langsam von der Stätte weg, an der es so viele tapfere Brüder zurückgelassen hatte, von der Stätte, die von seinem Blut durchtränkt war, an der es elf Monate lang einem doppelt so starken Feind getrotzt hatte und die es nun laut Befehl kampflos räumen mußte. Dieser Befehl wirkte auf jeden Russen im ersten Augenblick unsagbar niederdrückend. Hinzu kam die Furcht, verfolgt zu werden. Die Leute fühlten sich schutzlos, sobald sie das Gelände verlassen hatten, auf dem sie zu kämpfen gewohnt waren, und drängten sich in der Finsternis aufgeregt vor dem Zugang der unter starken Windstößen schwankenden Brücke. Hier stauten sich, mit den Bajonetten zusammenstoßend, ganze Infanterieregimenter, Landsturmformationen und Fuhrwerke; berittene Offiziere mit Befehlen bahnten sich einen Weg durch die Menge, Einwohner und Offiziersburschen mit Gepäck, denen man den Zutritt zur Brücke verwehrte, jammerten und flehten, und unter lautem Rädergerassel kämpfte sich die -169-
Artillerie, die darauf bedacht war, sich rasch in Sicherheit zu bringen, zur Bucht durch. Obwohl alle von verschiedenartigen kleinen Sorgen m Anspruch genommen waren, rief der Selbsterhaltungstrieb im Herzen eines jeden den Wunsch hervor, so schnell wie irgend möglich dieser grauenvollen Stätte des Todes zu entkommen. Von diesem Verlangen waren alle beherrscht: der zu Tode verwundete Soldat, der neben fünfhundert anderen ebenso schwer verwundeten Soldaten auf den Steinen des Paul-Kais lag und Gott um den Tod anflehte; der Landsturmmann, der sich unter Aufbietung seiner letzten Kraft in die dichte Menge drückte, um einem vorüberreitenden General auszuweichen; der General, der beim Überqueren der Bucht ein strenges Kommando führte und die vorwärts hastenden Soldaten zurückhielt; der Matrose, der in ein marschierendes Bataillon hineingeraten war und von der wogenden Menge fast erdrückt wurde; der verwundete Offizier, der von den vier Soldaten, die ihn auf einer Tragbahre gebracht hatten, vor der Nikolai-Batterie auf die Erde abgesetzt wurde, weil die sich stauende Menge ihnen den Weg versperrte; der Artillerist, der nach sechzehnjährigem Dienst an seinem Geschütz dabei war, dieses auf einen ihm unbegreiflichen Befehl seiner Vorgesetzten mit Hilfe seiner Kameraden vom steilen Ufer in die Bucht hinunterzustoßen, und die Seeleute, die eben ein Leck in den Rumpf der Schiffe geschlagen hatten und nun hastig rudernd von ihnen abstießen. Fast jeder Soldat, der die Brücke am anderen Ufer verließ, nahm die Mütze ab und bekreuzigte sich. Doch hinter diesem Gefühl barg sich ein anderes, bedrückendes, nagendes und tieferes, ein Gefühl, das aus einem Gemisch vo n Selbstvorwürfen, Scham und Verbitterung bestand. Es gab kaum einen Soldaten, der, von der Nordseite auf das verlassene Sewastopol zurückblickend, nicht mit unaussprechlichem Gram im Herzen aufgeseufzt und eine Drohung gegen die Feinde ausgestoßen hätte.
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NACHWORT Die Sewastopoler Erzählungen wurden 1855/56 in der literarischen Zeitschrift «Sowremennik» veröffentlicht. Nach dem Erscheinen von Sewastopol im Mai schrieb der berühmte revolutionär-demokratische Dichter Nekrassow, Redakteur des «Sowremennik», dem 28jährigen Tolstoi: «Ich will nicht davon sprechen, wie hoch ich diese Erzählung schätze und überhaupt die Richtung Ihres Talents und das, wodurch es stark und neu ist. Gerade das ist es, was die russische Gesellschaft jetzt braucht: die Wahrheit — die Wahrheit, die seit dem Tode Gogols so wenig in der russischen Literatur zu finden ist. » Der starke Realismusgehalt der fixierten Lebensbilder und das sich abzeichnende Vermögen Tolstois, die Dialektik der Seele aufzuspüren, führten zu einer überaus wohlwo llenden Reaktion durch die literarische Öffentlichkeit. Tschernyschewski, Schriftsteller, Kritiker und geistiges Haupt der revolutionären Demokraten jener Jahre, würdigte den hohen Grad künstlerischer Meisterschaft, den Tolstoi bei der Widerspiegelung des Krieges entwickelte. Bereits vor der Niederschrift der Sewastopoler Erzählungen und parallel zu ihr konnte der am 9. September 1828 auf dem Gut Jasnaja Poljana geborene Graf Lew Nikolajewitsch Tolstoi wertvolle literarische Erfahrungen sammeln. 1852 veröffentlichte er die Erzählung Kindheit, der sich mit Knabenjahre (1854) und Jugendzeit (1857) die nächsten beiden Teile seiner autobiographischen Trilogie anschlossen. Fiktive und authentische Elemente verschmelzen bei der Schilderung des Lebensabschnittes, den die Trilogie umfaßt: die standesgemäße Erziehung, der frühe Tod der Eltern, die Übersiedlung von Jasnaja Poljana nach Moskau und später nach Kasan, ferner die Immatrikulation an der Kasaner Universität und das Ausscheiden aus der Universität 1847, nachdem Tolstoi bereits von der Fakultät für orientalische Sprachen zur juristischen Fakultät übergewechselt war. Während der Arbeit an diesem Werk befand sich Tolstoi als Soldat im Kaukasus, wo Rußland seit Jahrzehnten in Kämpfe mit Bergvölkern verwickelt war. -171-
Dem Entschluß, freiwillig der Kaukasusarmee beizutreten, gingen erfolglose Versuche voraus, durch Reformen die Lage seiner leibeigenen Bauern auf dem väterlichen Gut in Jasnaja Poljana zu verbessern. Schon der junge Tolstoi wurde stark von der Sehnsucht nach einem sinnvollen Leben beherrscht. Er konnte in den rauschenden Bällen und dem Treiben der Petersburger Adelswelt keine Erfüllung finden. Der Kaukasus war bereits für Leben und Werk Puschkins und Lermontows bedeutsam geworden, die dort allerdings nicht freiwillig, sondern in der Verbannung gelebt hatten. Die Jahre, die Tolstoi bis 1854 vor seiner Versetzung zur Donauarmee im Kaukasus verbrachte, waren eine Zeit der persönlichen Reifung und des ersten literarischen Ruhms. Hier schrieb er 1852 die Erzählung Der Überfall. Ihr liegen Erlebnisse aus der Dienstzeit im Kaukasus zugrunde wie der Erzählung Der Holzschlag, mit der Tolstoi im darauffolgenden Jahr begann. 1853 entstanden die Aufzeichnungen eines Markörs, deren autobiographischer Charakter offensicht lich ist, und in denen Tolstoi den ökonomischen Niedergang und die moralische Degeneration bestimmter Adelskreise aufdeckt. Schließlich begann Tolstoi 1853 mit seiner Erzählung Die Kosaken, in der er sich zu den Lebensnormen und Lebensformen der urwüchsigen, kosakischen Bergbewohner bekennt. Wie recht häufig in seinem Frühwerk greift Tolstoi in den Sewastopoler Erzählungen auf eigenes Erleben zurück. Immerhin hatte er selbst im April 1855 nach seiner Versetzung von der Donauarmee für sechs Wochen auf der le gendären 4. Bastion die belagerte Stadt verteidigt und sich durch Mut und Tapferkeit ausgezeichnet. Die politischen Voraussetzungen, die zum Krimkrieg von 1853—1856 führten, konnte der junge Autor freilich nicht durchschauen. Deshalb werden wir in den Sewastopoler Erzählungen selbst vergeblich nach dem historischen Hintergrund für die blutigen Auseinandersetzungen suchen. Der Krimkrieg oder der orientalische Krieg, wie er auch genannt wird, hatte eine seiner Ursachen in der wachsenden Aggressivität der Außenpolitik Nikolaus I., die mit der Verschärfung der Widersprüche im Landesinneren, der Krise des feudalen Wirtschaftssystems und der Leibeigenschaft als ihrer Basis, immer stärker wurde. Das zaristische Rußland regte wiederholt eine Aufteilung des Osmanischen Reiches an, -172-
das die wichtigsten Wege zum Orient beherrschte, um einen Teil der nahöstlichen Märkte in die Hand zu bekommen, die bereits zu einer Domäne Englands und Frankreichs geworden waren. Diese Bestrebungen stießen auf den Widerstand der europäischen Großmächte. Im Sommer 1853 besetzten russische Truppen die unter der Oberhoheit des türkischen Sultans stehenden Fürstentümer Moldau und die Walachei. Im sich anschließenden Krieg zwischen Rußland und der Türkei — der Zar hatte sich geweigert, die besetzten Donaufürstentümer zu räumen — konnten das russische Landheer und die Flotte große Erfolge über die türkische Armee erzielen. Damit schwanden die Hoffnungen Englands und Frankreichs auf einen langwierigen Krieg, in dessen Ergebnis beide auf Kosten des geschwächten Rußlands ihre politischen und ökonomischen Positionen im Vorderen Orient stärken wollten. Als am 30. November 1853 ein türkisches Geschwader bei Sinope, an der Südküste des Schwarzen Meeres, durch ein Geschwader des russischen Flottenchefs Admiral Nachimow vernichtet wurde, sahen England und Frankreich darin eine Herausforderung und antworteten im März 1854 mit einer Kriegserklärung an Rußland. Der direkte Eintritt der zwei Großmächte in den Krieg im Frühjahr 1854 begann mit einer Blockade russischer Seehäfen, der sich mißglückte Landungsversuche anschlössen. Erst im September landete eine Armee aus englischen, französischen und türkischen Truppen an der Westküste der Krim und drang bis Sewastopol vor. Sewastopol konnte als kampfstarke Kriegsflo ttenbasis Angriffe von der See abwehren, zur Landseite hin besaß die Stadt jedoch keine Befestigungen. Ein Teil der russischen Schwarzmeerflotte wurde von den Admiralen Kornilow und Nachimow in der Bucht von Sewastopol versenkt, um damit den Zugang zur Stadt vom Meer abzuriegeln. Die in das Landheer eingegliederten Matrosen, Soldaten und Einwohner der Stadt errichteten acht mit schwerer Artillerie bestückte Bastionen, die Sewastopol zu einer starken Festung werden ließen. Angesichts dieses Befestigungswerkes entschlossen sich die Verbündeten zu einer Belagerung, die über elf Monate dauern sollte. Die aufopferungsvoll kämpfenden russischen Truppen konnten nur ungenügend durch die gesamte Armee entlastet werden, -173-
weil durch die Bedrohungen von Österreich, Preußen und Schweden ein großer Teil des russischen Heeres für die Sicherung der Landesgrenzen benötigt wurde. Mit dem Fall Sewastopols im Spätsommer 1855 war der Ausgang des Krieges, trotz späterer Teilerfolge der russischen Armee, faktisch entschieden. Die eigene wirtschaftliche Ohnmacht, der drohende Eintritt anderer europäischer Mächte in den Krieg und das Anwachsen der Widersprüche im Landesinneren zwangen Rußland 1856 zur Annahme eines Präliminarfriedens, dem im März des gleichen Jahres der Friede zu Paris folgte. Im Ergebnis der Niederlage wurden die außenpolitischen Positionen Rußlands geschwächt. Die sich vertiefende Krise des Leibeigenschaftssystems führte zum verstärkten Heranreifen einer revolutionären Situation. Tolstoi besticht in den Sewastopoler Erzählungen durch seinen Realismus. Den heutigen Leser, der etwa 125 Jahre nach dem Krimkrieg kaum noch eine Beziehung zu diesem historischen Ereignis hat, beeindruckt die Aussagekraft der verschiedenen Kriegsbilder, die Patriotismus, Opferbereitschaft, Heldentum und grauenvolles sinnloses Sterben in sich vereinen. Der Dichter zeigt «den Krieg nicht in seinem geordneten, schönen und glänzenden Gewände, mit Musik, Trommelwirbel, wehenden Fahnen und auf ihren Pferden paradierenden Generälen, sondern in seiner wirklichen Gestalt — mit Blut, Qualen und Tod... ». Diese Wirklichkeitstreue ist allen Erzählungen eigen, während sie sich von ihrer künstlerischen Anlage her unterscheiden. Beim Vergleich der Kompositionen der einzelnen Erzählungen fällt auf, daß die Intensität der Fabelführung und der Grad der Individualisierung einzelner Gestalten von Geschichte zu Geschichte ansteigen. Sewastopol im Dezember, gleichsam eine Art Reportage, trägt den Charakter von Impressionen, die ein Beobachter dem Leser mitteilt. Der Erzähler führt den Leser erst zum Hafen, dann in die belagerte Stadt und macht ihn auf Streifzügen durch das überfüllte Lazarett und auf die heiß umkämpfte, legendäre 4. Bastion mit den Verteidigern Sewastopols bekannt. Der Autor bedient sich hierbei eines sachlichen Berichterstatterstils, hinter dem sich jedoch eine leidenschaftliche Anteilnahme und Sympathie für den heldenhaft kämpfenden Soldaten verbirgt. -174-
In Sewastopol im Mai werden vorwiegend Offiziere dargestellt, Vertreter einer militärischen Rangstufe, der Tolstoi selbst angehörte. Aber nicht in jedem Falle besaßen sie seine uneingeschränkte Sympathie, wie die Betrachtung ihrer individuellen Charakteristika, ihres unterschiedlichen Verhaltens in einzelnen Gefechten, ihrer hierarchischen Beziehungen untereinander und zu den Soldaten beweist. Die Darstellung der beiden jungen Offiziere und Brüder Koselzow in Sewastopol im August korrespondiert mit dem Ziel Tolstois, den Heldenmut der Verteidiger Sewastopols künstlerisch festzuhalten. Der Leser erfährt in dieser Erzählung, wie die Brüder in der Festung eintreffen, kämpfen und schließlich beim Sturm der Franzosen auf den Malachowhügel sterben. Alle Teile des Zyklus sind durch den Erzähler in sich geschlossen, der mit psychologischem Feingefühl den Heroismus der Verteidiger von Sewastopol differenziert darstellt. Dabei strebt der Autor über eingeschobene Kommentare und direkte Hinwendungen an den Leser nach einer Verständigung über menschheitsgeschichtliche Fragen wie Wesen und Vermeidbarkeit von Kriegen überhaupt. Nach Lermontow mit seinem Gedicht Borodino (1837), das die Kämpfer in dieser Schlacht gegen Napoleon besingt, ist Tolstoi der zweite große Autor, der das schlichte Heldentum des einfachen, aus dem Volke kommenden Soldaten für die russische Literatur schon in seiner Erzählung Der Holzschlag erschließt. In den Sewastopoler Erzählungen ist der Erzähler bei der Ankunft offensichtlich von den Menschen in Sewastopol überrascht, die in der Verteidigung der Stadt ihr Tagewerk sehen und gelassen und gleichmütig ihre Pflicht erfüllen. Der Realist Tolstoi wendet sich hier gegen romantische Schwärmereien unwissender Salondamen und jugendlich- träumerischer Feuerköpfe im Hinterland, die, ausgestattet mit üppig wuchernder Phantasie, die Kämpfer aus einer verklärten Sicht betrachteten. Im Zusammenhang damit steht die Meinung des Autors, daß Heldentum nicht an ein ästhetisches Erscheinungskleid gebunden ist. So läßt Tolstoi die hochmütig- dümmliche Ansicht eines Offiziers, seine Vorstellungen von Tapferkeit ließen sich nicht mit Menschen vereinbaren, die verlaust sind, ungewaschene Hände haben und schmutzige Wäsche tragen, durch die schroffe Entgegnung -175-
einer anderen Gestalt ad absurdum führen. Heldentum ist stets mit Pflichterfüllung verbunden, erfahren wir, und so darf sicher die junge Matrosenfrau aus Sewastopol im Dezember, der eine Bombe das Bein abriß, als sie ihrem Mann das Mittagessen auf die Bastion brachte, zu den Helden Sewastopols gezählt werden. Die ganze Welt staunte seinerzeit über die Opferbereitschaft der russischen Matrosen und Soldaten, die im Kugel- und Granatenhagel ohne ausreichende Bewaffnung 349 Tage lang heroischen Widerstand leisteten, bis sie, innerlich mit dem Rückzugsbefehl hadernd, dem Feind die Stellung überlassen mußten. Tolstoi stellt am Ende der ersten Erzählung die Frage nach den Motiven, die den russischen Soldaten bewegten, unter widrigsten Umständen dem Feind mutig die Stirn zu bieten. Er fragt nach den Quellen für den Geist, der in dieser Festung herrschte und sie lange Zeit unbezwingb ar machte: «Um einer Auszeichnung, einer Beförderung willen oder infolge von Drohungen können sich die Menschen solchen Bedingungen nicht unterwerfen: es muß einen anderen, höheren Beweggrund geben. Dieser Beweggrund liegt in einer Empfindung, die bei Russen selten offen zutage tritt und schamhaft verborgen bleibt, aber in der Tiefe der Seele eines jeden ruht: in der Liebe zur Heimat. » In dieser Passage aus Sewastopol im Dezember schreibt Tolstoi — sicher auch unter dem ersten Eindruck des Erlebten — pauschal allen Verteidigern der Stadt aufrechten Patriotismus zu, aus der Gesamtheit aller Erzählungen jedoch ergibt sich ein differenziertes Bild über die individuellen Motive, die den einzelnen zum Teilnehmer am Krieg werden ließen. Das betrifft vor allem die Offiziersdienstgrade. Für Wolodja Koselzow aus Sewastopol im August, der, wie Romain Rolland in seiner Studie Das Leben Tolstois feststellt, «einige Züge von Tolstoi aufweist», ist die innere Stimme des Gewissens entscheidend, die ihn kein beschauliches Leben im sicheren Hinterland führen läßt. Identifiziert sich Tolstoi mit dieser Motivation, lehnt er andererseits Beweggründe ab wie Lebensüberdruß, Langeweile, aber auch passives Mitschwimmen in einer allgemeinen patriotischen Woge und vor allem Karrierismus. Ohne daß Tolstoi es ausdrücklich nennt, wird der Zusammenhang zwischen den Motiven für die Verteidigung der Stadt und dem Verhalten im Kampf augenscheinlich. Wolodja Koselzows romantische -176-
Vorstellungen vom Kriege korrigiert die grausame Realität selbst; der moralische Kern dieses jungen Menschen läßt ihn indes zu einem tapferen, initiativreichen Offizier werden. Bei einer völlig anders gearteten Gruppe von Offizieren werden wir Zeuge von Feigheit, die, etwa wie in Sewastopol im Mai, beklemmend auf den Leser wirkt. Ohne am Kampf teilgenommen zu haben, verbergen einige Angehörige des Offizierskorps die eigene Feigheit und Unentschlossenheit, indem sie verwundeten, sich zurückziehenden Soldaten gegenüber mit besonderer Forschheit ihre Vorgesetztenrolle spielen. Tolstoi verurteilt aber auch sinnlose Demonstrationen persönlichen Mutes, die letztlich in Großmannssucht und Eitelkeit wurzeln. Und gerade gegen die Eitelkeit zieht der Moralist Tolstoi zu Felde. Bei der Gestaltung einzelner Figuren erkennen wir den großartigen Psychologen Tolstoi. Unter meisterhafter Verwendung des inneren Monologs zeigt er die Konflikte, die sich bei der Konfrontation irrealer Vorstellungen über den Krieg mit der Wirklichkeit selbst ergaben; er kennzeichnet den Kontrast zwischen dem Nervenkitzel, den die Teilnahme an der Schlacht hervorrufen konnte, und der Möglichkeit, entsetzlich verstümmelt oder getötet zu werden. Gerade die Passagen, in denen Tolstoi mit der ihm eigenen epischen Breite Seelenvorgänge widerspiegelt - etwa die Gedanken Praskuchins und Michailows angesichts der drohenden Bombenexplosion — verdeutlichen die Verwandtschaft dieser Erzählungen mit dem Romanepos Krieg und frieden (1868/69). Tolstoi hat sie selbst als Vorarbeiten zu seinem künstlerischen Entwurf des Vaterländischen Krieges bezeichnet. Die Nähe zu diesem Roman wird auch dort erkennbar, wo der Humanist Tolstoi auf die Sinnlosigkeit des gegenseitigen Tötens hinweist: Ähnlich wie in Krieg und frieden zeigt er, wie bei einem zeitweiligen Waffenstillstand Russen und Franzosen, eben noch erbitterte Feinde, friedlich miteinander plaudern, um später wieder grimmig aufeinander loszuschlagen. Um seine humanistischen Positionen darzulegen, greift Tolstoi häufig zum direkten Appell an den Leser. Indes rufen einige Gedanken, wie übrigens auch die an manchen Stellen durchbrechende Religiosität des Autors, den Widerspruch des heutigen Lesers hervor. Sicher basiert Tolstois Verurteilung des Krieges nicht in dem Maße auf pazifistischem Gedankengut, wie die Erzählungen Vier Tage -177-
(1877) von Garschin oder Das rote Lachen (1904) von Andrejew. Aber einige Betrachtungen des jungen Tolstoi verraten wenig Einsicht in den Charakter historischer Prozesse. Entweder, so meint er in Sewastopol im Mai, sind Kriege Irrsinn, oder die Menschen sind unvernünftig. Aus diesem mechanistisch-kategorischen Schluß leitet sich jene Auffassung ab, daß jede Gewalt und damit auch Revolutionen zu verurteilen wären, die für Tolstois spätere geistige Haltung kennzeichnend ist. Und aus heutiger Sicht mutet der Vorschlag ein wenig naiv an, im Falle der Unvermeidbarkeit militärischer Konfrontationen diese durch einen Zweikampf auszutragen. Das Entscheidende aber ist die Erkenntnis, daß es notwendig ist, die menschlichen Beziehungen zu verändern, und daß Tolstoi fähig ist, diese, seine Umwelt mit tiefem sozialem Engagement, großartiger Menschengestaltung und in schonungslosem Realismus darzustellen. Nekrassows eingangs zitierte Zeilen an Tolstoi sind eine Antwort auf die Bedenken, die dem Dichter beim Schreiben seiner nichts beschönigenden Kriegsschilderungen kamen, Bedenken, daß er hier Dinge aussprach, die vielleicht besser ungesagt geblieben wären. Aber er kommt zu dem Schluß: «Nein, der Held meiner Erzählung, den ich mit allen Fibern meiner Seele liebe, den ich in seiner ganzen Schönheit nachzubilden trachtete und der immer schön war, schön ist und schön bleiben wird, das ist — die Wahrheit. » Dieser Grundsatz blieb bestimmend für sein Leben und sein Werk. Was sich hier in den Sewastopoler Erzählungen abzeichnet, ist bereits kennzeichnend für die künftigen monumentalen Romane Krieg und Frieden, Anna Karenina (1878) und Auferstehung (1899), die er neben Erzählungen, Dramen, kunsttheoretischen Arbeiten und moralphilosophischen Schriften bis zu seinem Tode am 20. 11. 1910 schaffen sollte. Sie sichern ihm mit seinen Vorgängern Puschkin, Lermontow, Gogol und Turgenjew, gemeinsam mit Dostojewski und Tschechow einen hervorragenden Platz in der Weltliteratur. Leipzig, Mai 1977
Michael Fahrentholz
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ANMERKUNGEN 8
Kornilow — Wladimir Alexejewitsch Kornilow (1806 bis 1854), russischer Vizeadmiral; leitete 1854, im Krim- krieg, die Verteidigung Sewastopols, wo er im Okto- ber desselben Jahres beim ersten Bombardement töd- lich verwundet wurde. 8 Sbiten — Getränk aus Wasser, Honig und Gewürzen. 16 Gefecht am Vierundzwanzigsten — In dem Gefecht am 24. Oktober 1854 bei Inkerman erlitten die russischen Truppen durch die Unfähigkeit des Generals P. A. Dannenberg (1792—1872) eine schwere Niederlage. 17 Gefecht an der Alma — Das blutige Gefecht an der Alma am 8. September 1854 war der erste Zusammen- stoß der russischen Armee mit den Heeren der Alliier- ten. 21 Bombardement am Fünften — die erste Bombardie- rung Sewastopols durch die Alliierten am 5. Okt ober 1854. 30 der «Invalide» — «Der russische Invalide» hieß eine offiziöse Zeitung, die über Kriegsereignisse berichtete. Rissurs — richtig: ressource = (franz. ) hier: Erholung, Abwechslung. 31 bete — (franz. ) Verlierer im Spiel. 36 Geschichte der «Snobs» und der «Eitelkeit» — An- spielung auf das «Snobsbuch» und «Jahrmarkt der Eitelkeit», zwei bedeutende Romane des englischen Schriftstellers William Makepeace Thackeray (1811 bis 1863), der in Rußland bereits zu seinen Lebzeiten viel gelesen wurde und den Tolstoi ständig unter seinen Lieblingsschriftstellern aufgeführt hat. 43 ]e vous dis... — (franz. ) Ich sage Ihnen, es gab eine Zeit, da man in Petersburg von nichts anderem gesprochen hat. 44 Borstsch — Gemüsesuppe mit Fleisch oder Fisch. cette belle bravoure 45 de gentilhomme — (franz. ) diese schöne Tapferkeit des Adligen. Eh bien, messieurs, je crois que cela chauffera cette nuit — (franz. ) Nun, meine Herren, ich glaube, heute nacht wird es heiß hergehen. 46 Non, dites-moi... — (franz. ) Nein, sagen Sie mir, wird es heute nacht wirklich etwas geben? 47 Quel charmant coup d'œil! — (franz. ) Welch reizender Blick! 51 Pójde? na uliçe zobaczyæ, co tarn nowego— (poln. ) Ich gehe mal auf die Straße, um zu sehen, was es dort Neues gibt. A my tymczasem napijmy siê wódki... — (poln. ) Und wir werden hier inzwischen einen Schnaps trinken, weil uns schon das Herz in die Hosen rutscht. 55 fractura femoris complicata — (lat. ) komplizierter Oberschenkelbruch.
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Perforatio capitis — (lat. ) hier: Kopfschuß. Perforatio pectoris — (lat.) hier: Brustschuß. moritur—(lat. ) er stirbt. 56 Vous êtes blessé? — (franz. ) Sind Sie verwundet? Je vous demande pardon, Sire, je suis tué — (franz. ) Ich bitte um Verzeihung, Majestät, ich wurde getötet. 64 cbair à canon — (franz. ) Kanonenfutter. 67 A moi camarades!... — (franz. ) Zu mir, Kameraden! Verflucht! Oh, mein Gott! 68 Splendeur et misères des courtisanes» — Obwohl Tolstoi zu dieser Zeit die Beliebtheit von Honoré de Balzacs (1799—1850) Romanen, hier von «Glanz und Elend der Kurtisanen», als verwunderlich an merkt, muß er sich im Tagebuch ab 1855 selbst als eifriger Leser bekennen, und schon 1857 nennt er den Franzosen unumschränkt «ein riesiges Talent». 77 Il fallait voir ... — (franz. ) Man hätte sehen sollen, in welchem Zustand ich ihn gestern im Feuer getroffen habe. Est-ce que le pavillon est baissé déjà? — (franz. ) Ist denn die Flagge schon eingeholt worden? Non, pas encore — (franz. ) Nein, noch nicht. 78 Kasarski-Denkmal — Alexander Iwanowitsch Kasarski (1798—1833), Kommandeur der Schwarzmeerflotte; hatte 1829 mit seiner Brigg «Merkur» zwei türkische Linienschiffe versenkt, wofür ihm auf dem Hauptboulevard in Sewastopol ein Denkmal in Form eines antiken Dreiruderers errichtet worden war. S'il n'avait pas fait clair encore pendant une demi- heure ... (franz. ) Wäre es eine halbe Stunde später hell geworden, wären die Schanzen zurückerobert worden. Monsieur! ]e ne dis pas non... — (franz. ) Mein Herr, ich sage nicht nein, um Ihnen nicht zu widersprechen. De quel régiment êtes-vous? — (franz. ) Von welchem Regiment seid ihr? 79 Il vient regarder nos travaux ce sacre c... — (franz. ) Er kommt, sich unsere Schanzarbeiten anzusehen, dieser verfluchte Seh... 80 Eh sessi, purkwoa set oaso issi? — richtig: Et ceci, pourquoi cet oiseau ici = (franz. ) Und warum ist dieser Vogel hier? Parce que c'est une giberne... — (franz. ) Weil diese Tasche einem Garderegiment gehört, mein Herr, dessen Abzeichen der kaiserliche Adler ist. Eh wu de la gard? — richtig: Et vous — de la garde? = (franz. ) Sind Sie von der Garde? Pardon, monsieur, de 6éme de ligne — (franz. ) Nein, mein Herr, vom 6. Linienregiment. Eh sessi u aschtee? — richtig: Et ceci — où acheté? = (franz. ) Und wo haben Sie das gekauft?
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A Balaclave, monsieur!... — (franz. ) In Balaklawa, mein Herr! Es ist nur aus Palmenholz, Joli! — (franz. ) Hübsch! Si vous voulez... — (franz. ) Ich wäre Ihnen verpflichtet, wenn Sie dies als Andenken an unsere Begegnung behalten wollten. 81 Qui, bon tabac... — (franz. ) Ja, guter Tabak, türkischer Tabak. Und ihr habt russischen Tabak? Guten? Ils ne sont pas jolis ces bêtes de russes— (franz. ) Hübsch sind sie nicht, diese ungehobelten Russen. De quoi de ce qu'ils rient donc? — (franz. ) Worüber lachen Sie denn? Ne sortez pas de la ligne... — (franz. ) Nicht über die Linie gehen, an eure Plätze, verdammt. 81Comte Sazonoff... — (franz. ) Grafen Sasonow, den ich gut kannte, mein Herr.. Das ist einer der echten russischen Grafen, wie wir sie gern haben. Il y a un Sazonoff... — (franz. ) Ich kenne einen Sasonow, aber er ist, soviel ich weiß, kein Graf: ein kleiner Schwarzer, etwa in Ihrem Alter. C'est ça... — (franz. ) Es stimmt, mein Herr, das ist er. Oh, wie gern möchte ich diesen lieben Grafen wiedersehen. Ich bitte Sie, ihm, falls Sie ihn sehen sollten, meine Grüße zu bestellen, Hauptmann Latour. N'est-ce pas terrible la triste besogne... — (franz. ) Ist das traurige Geschäft, das wir hier verrichten, nicht furchtbar? Heute nacht ging es heiß her, nicht wahr? Oh, monsieur... — (franz. ) Oh, mein Herr, das war schrecklich! Aber was für lustige Kerle Ihre Soldaten sind, was für Kerle. Es ist ein Vergnügen, gegen solche Kerle wie sie zu kämpfen. U faut avouer... — (franz. ) Man muß gestehen, daß auch die Ihrigen nicht von Pappe sind. 83 bravoure de gentilhomme — (franz. ) Tapferkeit des Adligen. 92 Malachow-Hügel — Eine der am stärksten befestigten Positionen im Osten Sewastopols, eine Schlüsselstellung im Verteidigungssystem der Stadt; wurde deshalb besonders h eftig attackiert. 101 eine Zwölf — Note aus einer alten Zensurskala, etwa der heutigen deutschen Zwei entsprechend. Totleben — Eduard Iwanowitsch Graf Totleben (1818 bis 1884), russischer Militäringenieur und Festungs- bauer; errichtete die russischen Verteidigungsanlagen am Schwarzen Meer und verfaßte u. a. eine «Beschrei- bung der Verteidigung Sewastopols». Tolstoi wurde im Januar 1855 mit dem tüchtigen Offizier bekannt. 107 Pélissier — Jean-Jacques-Aimable Pélissier, Herzog von Malakoff (1794—1864), im Krimkrieg Oberkommandierender der französischen Truppen. Unter seiner Führung wurde am 8. September 1855 der Malachow-Hügel von den Franzosen gestürmt.
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Gortschakow — Michail Dmitrijewitsch Fürst Gortschakow (1793— 1861), Oberbefehlshaber der Krimarmee, später Statthalter in dem von den Russen besetzten Polen; war ein Onkel zweiten Grades von Tolstoi, der ihn in Sewastopol mehrfach aufsuchte. Einige Mitglieder dieser Familie sind schon in «Kindheit, Knabenjahre, Jugendzeit» unter dem Namen Kornakow beschrieben. Lafitte — roter Bordeauxwein, bekannt unter dem Namen ChâteauLafitte. Chochol — Spottname für die Ukrainer. «Otetschestwennyje sapiski» — «Vaterländische Annalen»; 1818 gegründete literarische Zeitschrift; erlebte unter Wissarion Grigorjewitsch Belinski (um 1840), Nikolai Alexejewitsch Nekrassow und Michail Jewgrafowitsch Saltykow-Stschedrin (ab 1870) ihre Blütezeit; wurde zum führenden Organ der Volks- tümler und mußte 1884 ihr Erscheinen einstellen. Besak — Alexander Pawlowitsch Besak (1800—1868), im Krimkrieg Chef des Artilleriestabes. Wolkowo-Feld — Schießplatz in Petersburg. Kantonist— im zaristischen Rußland der laut Gesetz für den Militärdienst bestimmte Sohn eines niederen Beamten. Konstantin, des Zaren Bruder — Großfürst Kon - stantin Nikolajewitsch (1827—1892), im Krimkrieg Oberbefehlshaber der russischen Flotte in Kronstadt; war ein eifriger Befürworter der Reformen, die unter seinem Bruder, Alexander II. (1818—1881, Zar ab 1855), durchgeführt wurden. Spake — im Seewesen Bezeichnung für eine als Hebebaum benutzte hölzerne Speiche.
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