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Das Buch In ›Black Boy‹ hat Richard Wright seine armselige Jugend im amerikanischen Süden beschrieben. 1927 geht er ...
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Das Buch In ›Black Boy‹ hat Richard Wright seine armselige Jugend im amerikanischen Süden beschrieben. 1927 geht er in den liberaleren Norden nach Chicago. Im zweiten Teil seiner Autobiographie berichtet er über diese Jahre, in denen er sich zunächst als Tellerwäscher und Verkäufer von Bestattungsversicherungen und mit ähnlichen Jobs durchschlug, in denen er anfing zu schreiben und in denen er schließlich durch die kommunistischen Straßenredner, von denen Chicago voll war, und durch einen Club junger linker Literaten in Kontakt kam mit der KP. Man nimmt ihn als farbigen Intellektuellen mit offenen Armen auf, und er fühlt sich endlich als Mensch und als Autor akzeptiert. Dennoch muß er im Laufe der Zeit feststellen, daß der Anspruch der Partei der Realität nicht entspricht. Er bleibt ein Außenseiter und sieht sich schließlich sogar dem Verdacht ausgesetzt, ein Regierungsspion zu sein. Zum endgültigen Bruch kommt es, als er bei einer Mai-Demonstration von zwei weißen Kommunisten gewaltsam aus dem Glied gedrängt wird und die schwarzen Genossen tatenlos zusehen. »Sie sind blind, sagte ich mir. Ihre Feinde haben sie zu hart unterdrückt und in der Unterdrückung geblendet.«
Der Autor Richard Wright, 1908 im Staate Mississippi als Sohn eines Landarbeiters geboren, wurde durch zahlreiche Veröffentlichungen zum Wegbereiter einer militanten Selbstbesinnung der Schwarzamerikaner. Er starb 1960 in Paris. Wichtige Werke: ›Uncle Tom's Children‹ (1938), Erzählungen; ›Native Son‹ (1940; dt. 1940), ›Black Boy‹ (dt. 1947), ›The Outsider‹ (1953; dt. 1966), ›The Long Dream‹ (1958; dt. 1960), Romane; ›Twelve Million Black Voices‹ (1941; dt. 1952), ›Black Power‹ (1954; dt. 1956), Berichte. ›Schwarzer Hunger‹ wurde 1974 aus dem Nachlaß herausgegeben. 2
Richard Wright: Schwarzer Hunger Deutsch von Kurt Heinrich Hansen
Deutscher Taschenbuch Verlag
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Von Richard Wright ist im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen: Black Boy (1676)
Ungekürzte Ausgabe März 1983 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Verlags Kiepenheuer & Witsch, Köln ©1974 Ellen Wright Titel der amerikanischen Originalausgabe: ›American Hunger‹ © 1980 der deutschsprachigen Ausgabe: Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln ISBN 3-462-01362-9
Umschlaggestaltung: Celestino Piatti Gesamtherstellung: C. H. Beck’sche Buchdruckerei, Nördlingen Printed in Germany • ISBN 3-423-10089-3 maoi n 2003 2003/IV-1.0
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Manchmal wundere ich mich, ah, Frage mich, ob’s auch die anderen tun, Manchmal wundere ich mich, ah, Frage mich, ob’s auch die anderen tun, So wie ich’s tue, o Herr, so wie ich’s tu’. Neger Folksong
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Chicago, als ich diese sich flach hinziehende, schwarze Stadt zum erstenmal sah, war für mich eine große, deprimierende Enttäuschung; diese Stadt entsprach so gar nicht meinen Vorstellungen von ihr. Unwirklich erschien sie mir mit ihren fast schon legendären, wie aus Kohle gebauten und von grauen Rauchschwaden umschwelten Gebäuden, deren Grundmauern langsam in der dumpfigen Prärie versanken. In Abständen stieg Dampf, von der Wintersonne durchschimmert, am gelassenen Horizont auf. Der Lärm der Stadt drang in mich, ohne daß ich in den kommenden Jahren je Ruhe davor fand. Das war im Jahr 1927. Was stand mir bevor? Würde ich das Leben hier durchstehen können? Meine Erwartungen waren nicht hoch. Ich wollte Arbeit, weiter nichts. Hunger begleitete mich seit langem wie der eigene Schatten. Zerstreuungen oder irgendwelche Entspannung außer Lesen kannte ich nicht. Ich war zwar von vielen Leuten umgeben, aber nie bahnte sich irgendeine dauernde, befriedigende Freundschaft an. Da ich eine solche Beziehung nie kennengelernt hatte, entbehrte ich sie auch nicht. Es gab niemanden, von dem ich etwas erwartete. Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Tante Maggie und ich stiegen aus und gingen langsam durch die Menge zur Halle. Ich sah mich nach Schildern FÜR WEISSE – FÜR FARBIGE um, entdeckte aber keine. Schwarze und Weiße, jeder mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, drängten durcheinander. Rassische Vorurteile schien es nicht zu geben. Jeder verhielt sich jedoch so, als existiere nur er allein. Seltsam, dachte ich – hier konnte man also zu einem Zeitungsstand gehen und eine Zeitung kaufen, ohne warten zu müssen, bis der 7
Weiße vor einem bedient worden war. Und doch, gerade weil alles so neu war, spürte ich eine innere Gespanntheit, eine andere freilich als jene, die ich von früher her kannte. Ich wußte, daß in dieser Maschinenstadt fremdartige Gesetze herrschten, und ich fragte mich, ob ich sie je begreifen würde. Während wir auf die Straßenbahn zu Tante Cleo, bei der wir vorübergehend wohnen wollten, warteten, sah ich zu den im Norden hoch aufragenden Gebäuden aus Stahl und Beton. In den Straßen, die nicht in Kurven, sondern rechtwinklig von quadratischen Plätzen abbogen, gab es keine Bäume, nur Stein und Kupferkabel und Drähte. Hin und wieder schwankte der Boden unter mir von irgendwelchen fernen Erschütterungen, und ich hatte das Gefühl, daß diese Welt, so massiv sie sich auch gab, bedroht und zerbrechlich war. Straßenbahnen ratterten kreischend auf stählernen Gleisen vorüber. Hupende Autos und abgerissene Gesprächsfetzen umlärmten mich. Ich wollte in dem eisigen Wind mit Tante Maggie sprechen, sie etwas fragen, aber ich ließ es, als ich ihr verschlossenes Gesicht sah. In dem irren Geglitzer ihrer Augen spiegelte sich für mich der Druck, den die Stadt auf ihre Bewohner ausübte. Zweifel überkamen mich. Hätte ich lieber nicht hierher kommen sollen? Aber umzukehren und zurückzufahren, war unmöglich. Ich war geflohen, vor einem Terror, den ich nur zu gut kennengelernt hatte – vielleicht wurde ich ja mit dem noch unbekannten Terror, der mir hier bevorstand, fertig? Die Straßenbahn kam. Tante Maggie gab mir zu verstehen, ich solle einsteigen, und stieß mich zu einer Bank, auf der ein Mann saß, der mit leerem Blick aus dem Fenster sah. Ich setzte mich und sah vor mich hin. Nach einer Weile blickte ich aus den Augenwinkeln verstohlen zu dem Weißen neben mir; er starrte nach wie vor in Gedanken versunken aus dem Fenster. Für ihn existierte ich gar nicht; ich war weiter von
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ihm entfernt als die steinernen Häuser, die draußen vorüberzogen. Im Süden, wo ich herkam, wäre es gesetzwidrig gewesen, sich neben einen Weißen zu setzen. Die Straßenbahn fuhr an rauchgeschwärzten Gebäuden vorüber, hielt an jeder Straßenecke und setzte sich dann wieder rumpelnd in Bewegung. Der Schaffner rief die Namen der Stationen in einem Akzent aus, den ich nicht verstand. Leute stiegen aus, andere stiegen zu, ohne daß sie sich ansahen. Alle schienen füreinander nur ein Teil dieser städtischen Szenerie zu sein. Der Weiße neben mir erhob sich, und ich drehte die Knie zur Seite, um ihn vorbeizulassen; ein anderer Weißer setzte sich neben mich und vergrub das Gesicht hinter einer Zeitung. Was veranlaßte ihn dazu? War ihm bewußt geworden, daß neben ihm ein Schwarzer saß? Als wir zu Tante Cleo kamen, stellten wir enttäuscht fest, daß sie nicht, wie wir gemeint hatten, in einer Wohnung, sondern in einem gemieteten Einzelzimmer lebte. Ich mietete ein Zimmer von Tante Cleos Hauswirtin, in dem wir wohnen wollten, bis ich Arbeit bekam. Ich war bestürzt. Alles schien so behelfsmäßig, so ohne Bestand. Die Leute um mich, spürte ich, waren von einem Gefühl der Unsicherheit beherrscht. Tante Cleo, fand ich, wirkte älter, als sie es den Jahren nach war. Ihr Mann, der von einer Plantage im Süden stammte, war, wie mein Vater, aus dem Haus gegangen und hatte sie verlassen. Warum? Meine Tante wußte darauf keine Antwort. Das Leben in der Stadt hatte ihr, ebenso wie meiner Mutter schwer zugesetzt. Überall um mich sah ich verängstigte, bedrückte Gesichter von Schwarzen, die sich vergeblich in einer Zivilisation zurechtzufinden versuchten, die sie nicht verstanden. Ich fühlte mich einsam. Ich war aus unsicheren Verhältnissen geflohen und fand hier Verhältnisse vor, die sich kaum davon unterschieden.
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Die Temperatur war, als ich am nächsten Morgen aufstand, unter den Gefrierpunkt gefallen. Im Haus war es so kalt wie im Winter auf den Straßen im Süden. Ich zog mich doppelt dick an. Ich aß in einem Restaurant und fuhr mit der Straßenbahn in südlicher Richtung, so lange, bis ich auf den Bürgersteigen keine Schwarzen mehr sah. Ich befand mich hier jenseits der Grenze des »Schwarzen Gürtels« in einem Gebiet, wo ich vielleicht Arbeit bei Weißen bekam. Ich ging durch die Straßen und sah in die Schaufenster, bis ich in einem Lebensmittelladen ein Schild HILFSKRAFT GESUCHT entdeckte. Ich betrat den Laden, wo eine beleibte weiße Frau auf mich zukam. »Was is? Was woll’n Se?« fragte sie. Die Stimme war mir unangenehm. Eine Jüdin, dachte ich, und erinnerte mich beschämt an die Ladeninhaber in Arkansas, die wir so übel beschimpft hatten. »Sie könnten, dachte ich mir, vielleicht einen Boten brauchen«, sagte ich. »Mista ’Offman, er’s nich hier«, sagte sie. »Woll’n Se wart’n?« »Ja, Mad’m.« »Setz’n sich doch.« »Nein, Mad’m. Ich warte draußen.« »Aber kalt drauß’n«, sagte sie. »Das macht nichts«, sagte ich. Sie zuckte mit den Schultern. Draußen auf dem Bürgersteig wartete ich eine halbe Stunde lang in der bitteren Kälte und bereute, daß ich nicht in dem warmen Laden geblieben war, in den ich nun aber nicht mehr gut zurückgehen konnte. Schließlich kam ein glatzköpfiger, untersetzter weißer Mann, ging in den Laden und zog seinen Mantel aus. Ja, das mußte der Chef sein … Ich betrat den Laden. »Sie woll’n also ’n Job?« fragte er. 10
»Ja, Sir«, antwortete ich und gab mir Mühe, ihn zu verstehen. »Wo ham’ Se vorher gearbeit’?« »In Memphis, Tennessee.« »Da hat mein Schwager mal gearbeit’, in Tennessee«, sagte er. Ich wurde angestellt. Die Arbeit war leicht, aber es machte mir Kummer, daß ich nur ein Drittel von dem verstand, was zu mir gesagt wurde. Meine schwerfälligen Südstaaten-Ohren kamen nicht zurecht mit ihrer undeutlich muffelnden Sprechweise. Eines Morgens bat mich Mrs. Hoffman, im Nachbarladen, der ihrem Vetter gehörte, eine Dose Chicken à la King zu holen. Ich hatte diesen Ausdruck noch nie gehört und bat sie, ihn zu wiederholen. »Sie wiss’n aber auch rein garnix«, sagte sie. »Vielleicht schreiben Sie’s mir auf, dann weiß ich, was ich holen muß«, sagte ich zögernd. »Ich kann nich schrei’m!« brach es aus ihr heraus. »Was sind Sie bloß für einer?« Ich murmelte die verschiedenen Laute, die ich von ihr gehört hatte, vor mich hin, bis ich sie auswendig konnte, und ging zum Nachbarladen. »Mrs. Hoffman möchte eine Dose mit Tschie Kien Ar Lar Kien«, sagte ich langsam in der Hoffnung, den Mann nicht vor den Kopf zu stoßen. »All reit«, sagte er, nachdem er mich kurz angestarrt hatte. Er steckte eine Konservendose in eine Papiertüte und gab sie mir; draußen auf der Straße guckte ich in die Tüte und las das Etikett: Chicken à la King. Ich verwünschte mich wegen meiner Schwerfälligkeit. Die Wörter kannte ich natürlich. Ihr Akzent hatte mich irregeführt. Aber ich verübelte ihr nicht, daß sie gebrochenes Englisch sprach; mein Englisch war auch nicht viel besser. Aber warum hatte sie nicht mehr Geduld
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mit mir gehabt? Darauf schien es nur eine Antwort zu geben. Weil ich ein Schwarzer war, bei dem es sich kaum lohnte. So, jedenfalls, meinte ich … Ich ging nicht davon ab, meine hiesige Umgebung so zu sehen, wie ich es von früher her gewohnt war. Obwohl Englisch meine Muttersprache und Amerika mein Heimatland waren, durfte sie, eine Fremde, ein Geschäft betreiben und ihren Lebensunterhalt in einer Umgebung verdienen, in der ich nicht einmal wohnen durfte. Ich ging noch weiter und sagte mir, daß sie sich dessen sicher bewußt war und sich, ihren gesellschaftlichen Status, gegen mich zu schützen suchte. Erst nachdem ich den Job in dem Lebensmittelgeschäft aufgegeben hatte, begriff ich, wie falsch ich die Haltung und die Beweggründe von Mr. Hoffman und seiner Frau gedeutet hatte. Mir fehlte es an jeder Erfahrung, die mir hätte helfen können, mich in diesen verwirrenden rassischen Verhältnissen zurechtzufinden. Von Emotionen getrieben, blieb ich in meinem Urteil am Äußeren der Dinge hängen und fragte mich fortwährend, was die Schwarzen getan haben mochten, daß sie in diese heillose Situation gekommen waren. Die Trennung von Weiß und Schwarz war ein Faktum, an dem es für mich nichts zu deuteln gab; die davon ausgehende Wirkung auf Wesen und Persönlichkeit der Leute war es, die mich bedrückte und zur Verzweiflung brachte. Ich glaubte nicht, daß ich für irgend jemanden so etwas wie eine Bedrohung sein konnte; doch als ich aufwuchs und selbständig zu denken lernte, mußte ich die Erfahrung machen, daß mein eigentliches Wesen und meine Bestrebungen seit langem unterdrückt worden waren, ja, daß meine Worte, so wie sie gemeint waren, nicht voll verstanden wurden. Und wenn ich das Niemandsland, in das der Neger mit seinem Bewußtsein in Amerika abgeschoben worden war, betrachtete, dann fragte ich mich, ob es in der gesamten
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Menschheitsgeschichte wohl je einen Angriff auf die Person des Menschen gegeben hatte, der so zerstörerisch, so vernichtend gewesen war wie die Idee der Rassendiskriminierung. Um diesem auf den Kern meines Lebens gezielten Angriff zu entgehen, hätte ich mit Freuden jede Art zu leben hingenommen, wenn sie nur anders gewesen wäre. Ich wäre bereit gewesen, in feudalistischer Unterdrückung zu leben, nicht weil ich ein solches System bevorzugt hätte, sondern weil es meiner Meinung nach zumindest einen begrenzten Teil des Menschen nutzbar machte und ihn in seinem Rang und seiner Stellung in der Gesellschaft bestimmte. Auch gegen eine hart durchgreifende Diktatur hätte ich nichts gehabt, weil auch sie, wenn auch unter noch so erniedrigenden Umständen, den Menschen nach seinem Nutzwert beurteilte. Während meiner Zeit in Memphis hatte ich bestürzt mit angesehen, wie Shorty sich von einem Weißen in den Hintern treten ließ; jetzt aber, hier in Chicago, machte ich die Erfahrung, daß ein solcher Tritt vielleicht immer noch besser war als diese Ungewißheit … Von meinem verzweifelten Versuch, mich den amerikanischen Verhältnissen in einiger Ehrenhaftigkeit anzupassen, hatte ich nicht ablassen wollen und so Tag für Tag die ständige Angst, das Grauen, den Druck und die ewige Unruhe hingenommen. Ich begriff jetzt – ohne mich damit jemals einverstanden erklären zu können – die gequälten Schwarzen, die aufgegeben und zu ihren weißen Folterknechten gesagt hatten: »Tretet mich, wenn das alles ist, was ich zu erwarten habe; tretet mich, denn nur so fühle ich mich heimisch, und laßt mir meinen Frieden!« Der Haß auf die Hautfarbe wies den Schwarzen ihren niedrigen Rang unter den Weißen zu, der Schwarze aber, der in sich die gleichen Träume hegte wie jeder Weiße, suchte diese Tatsache aus seinem Bewußtsein zu verdrängen, weil er sich sonst nur vereinsamt und ängstlich fühlte. Vom Haß der
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Weißen verfolgt und gehaßt von einer Kultur, deren Angehöriger er war, begann der Schwarze das in sich zu hassen, was die anderen an ihm haßten. Sein Stolz aber gebot ihm, sich seinen Selbsthaß nicht anmerken zu lassen, um vor den Weißen zu verheimlichen, wie sehr er in ihrer Gewalt war und wie durchgreifend sein Leben von ihrer Haltung bestimmt wurde. Aber dadurch, daß er diesen Selbsthaß verbarg, konnte er nicht umhin, jene, die ihn in ihm geweckt hatten, zu hassen. So verzehrte er sich tagtäglich in einem ständigen Kampf gegen sich selbst, er wendete einen großen Teil seiner Energie darauf, seine störrischen Gefühle zu bändigen, Gefühle, die er sich nicht gewünscht hatte, um die er aber nicht herumkam. In diese Gefühle verstrickt und durch den Haß der anderen in die Enge getrieben, befand er sich unablässig im Konflikt mit der Realität. Er wurde untauglich und verlor zunehmend das Augenmaß für den objektiven Sachverhalt. War es einmal so weit mit ihm gekommen, dann lachten die Weißen über ihn und sagten: »Hab’ ich’s nicht immer gesagt, daß die Nigger so sind?« Um Ordnung in meine verworrenen Gefühle zu bringen und mein Lebensschiff vor dem Umkippen in einem Meer der Sinnlosigkeit zu bewahren, nahm ich gleichsam als Fracht ehrgeizige, von meinen Phantasien getragene Pläne an Bord. Wie jeder Amerikaner hatte ich den Wunsch, im Geschäftsleben tätig zu sein und Geld zu verdienen; ich träumte davon, in einer Firma arbeiten zu können, die mir zu einer bedeutenden Position verhelfen würde, und in meinen Träumen schwebte mir sogar vor, eine Geheimorganisation zur Bekämpfung aller Weißen auf die Beine zu stellen … Und wenn die Schwarzen sich weigerten mitzumachen, dann mußte eben der Kampf gegen sie geführt werden. Aber was daraus resultierte, war wiederum Selbsthaß, der sich jetzt allerdings nach außen gegen andere Schwarze richtete. Bei al-
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lern wußte ich – in jenem Teil meines Verstandes, den ich den Weißen zu verdanken hatte –, daß keiner meiner Träume erfüllbar war. Und Haß gegen mich selbst stieg in mir auf, weil ich mir Unerreichbares vorgegaukelt hatte. So schloß sich wieder einmal der Kreis. Langsam bildete sich in mir eine Art Mechanismus, der automatisch alle durch das Chicagoer Straßentreiben, durch Zeitungen und Kinos geweckten Träume und Wünsche niederhielt. Ich erlebte eine zweite Kindheit; ein Sinn für die Grenzen des Möglichen erwuchs in mir. Wovon konnte ich träumen, wo gab es die geringste Möglichkeit einer Verwirklichung? Mir fiel nichts ein. Und allmählich wurde es genau dieses Nichts, um das mein Denken kreiste, dieses ständige Streben, etwas zu wollen, ohne es zu haben, dieses Gehaßtwerden, ohne daß es einen Grund dafür gab. Vage wurde mir bewußt, was es hieß, als Neger in Amerika zu leben: nicht aufgrund äußerer Ereignisse, der Lynchjustiz, der Existenz als Jim Crow, der unablässigen Gewalttätigkeiten, sondern aufgrund sich widerstreitender Gefühle, psychischer Qual. Mir dämmerte, daß das Leben der Neger einem von unbewußtem Leiden durchwucherten Bereich glich, und daß nur sehr wenige den Sinn ihres Lebens kannten und ihre Geschichte hätten erzählen können.) Ich erfuhr, daß, verbunden mit einer Prüfung, die Stelle eines Postangestellten ausgeschrieben worden war, schickte ein Bewerbungsschreiben hin und wartete ab. Als der Tag, an dem die Prüfung stattfinden sollte, näherrückte, stellte sich mir ein weiteres Problem. Wie kam ich an einen freien Tag, ohne dadurch meinen Job zu verlieren? Im Süden wäre es von einem Neger unklug gewesen, seinem weißen Boß zu eröffnen, er wolle wegen eines anderen Jobs eine Prüfung machen. Daraus ließ sich schließen, daß der Neger nicht gern für den weißen Boß arbeitete und sich vielleicht vernachlässigt fühlte,
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wodurch er, da die meisten Jobs im Süden auf einer persönlichen, patriarchalischen Beziehung beruhen, Gefahr lief, einen Streit heraufzubeschwören, der zu Gewalttätigkeiten führen konnte. Ich versuchte mir darüber klarzuwerden, was für ein Mensch Mr. Hoffman war, und merkte dabei, daß ich so gut wie nichts über ihn wußte, vor allem auch seine Einstellung Negern gegenüber nicht kannte. Würde er mir, wenn ich ihn fragte, großzügig einen Tag freigeben, ohne den Lohn zu streichen? Ich brauchte das Geld. Vielleicht würde er sagen: »Geh und bleib weg, wenn dir der Job hier nicht paßt.« Ich war mir nicht sicher. Ich entschloß mich daher, das Risiko nicht erst einzugehen. Ich verzichtete besser auf das Geld und blieb weg, ohne ihn zu unterrichten: Die Prüfung war auf einen Montag angesetzt; ich hatte ständig gearbeitet und würde bei der Prüfung nicht mein Bestes geben können, wenn ich mich nicht vorher ausruhte. So entschloß ich mich, Samstag, Sonntag und Montag zu Hause zu bleiben. Aber was sollte ich Mr. Hoffman erzählen? Ja, ich würde ihm sagen, ich sei krank gewesen. Nein, das war zu fadenscheinig. Ich würde sagen, meine Mutter in Memphis sei gestorben und ich wäre zur Beerdigung gefahren. Diese Lüge schien mir stichhaltiger. Ich nahm an der Prüfung teil, und Mr. Hoffman, als ich am Dienstag wieder zur Arbeit ging, zeigte sich natürlich überrascht. »Ich hab’ nich geglaubt, du würd’st wiederkomm’«, sagte er. »Es tut mir schrecklich leid, Mr. Hoffman.« »Was war denn?« »Meine Mutter in Memphis ist gestorben, und ich bin zur Beerdigung gefahren«, log ich. Er sah mich an und schüttelte den Kopf.
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»Du lügst, Rick«, sagte er. »Nein, ich lüge nicht«, log ich hartnäckig weiter. »Du hatt’st irgendwas vor, also bliebste weg«, sagte er schulterzuckend. »Nein, Sir. Ich sage die Wahrheit«, kam ich ihm mit einer zweiten Lüge. »Nein. Du lügst. Du enttäuschst mich«, sagte er. »Mehr als die Wahrheit sagen, kann ich nicht«, fuhr ich mit dem Lügen ärgerlich fort. »Hätt’st telefonier’n könn’.« »Daran habe ich einfach nicht gedacht«, tischte ich ihm noch eine Lüge auf. »Wär’ deine Mutter gestorb’n, Rick, du hättst’s mir gesagt.« »Ich hatte keine Zeit. Hätte sonst den Zug nicht mehr bekommen«, log ich weiter. »Und das Fahrgeld? Wo hattest du das her?« »Von meiner Tante«, sagte ich, angewidert, daß ich immer weiter lügen mußte. »Ich will hier kein’ Jung’, der lügt«, sagte er. »Ich lüge nicht«, log ich ihn mit Nachdruck an, um meinen Lügen Rückhalt zu geben. Mrs. Hoffman kam hinzu, und nun drangen sie beide auf mich ein. »Wir wissen es. Du kommst vom Süd’n. Du denkst, du kannst uns nich die Wahrheit erzähl’n. Aber wir hab’n nix geg’n dich. Wir denken nich wie die Leut’ im Süd’n. Wir sind doch nett zu dir, oder?« fragten sie mich. »Ja, Mad’m«, murmelte ich. »Warum also lüg’n?« »Ich lüge nicht«, log ich mit aller Kraft. Ich wurde ungehalten, weil sie, das war mir klar, wußten, daß ich log. Ich hatte gelogen, um mich abzusichern, und jetzt
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mußte ich lügen, um mit meinen Lügen durchzukommen. Ich hatte so viele Weiße kennengelernt, die mir die Teilnahme an einer Prüfung übel vermerkt hätten, daß ich das Risiko, Mr. Hoffman die Wahrheit zu sagen, nicht eingehen konnte. Aber wie sollte ich ihm jetzt erklären, daß ich aus Unsicherheit gelogen hatte? Lügen war schlimm, aber mich in meiner Unsicherheit bloßzustellen, wäre noch schlimmer gewesen. Es wäre beschämend für mich gewesen, und das wollte ich nicht. Wie sie sich mir gegenüber verhielten, war erstaunlich. Sie unterbrachen ihre Arbeit und nahmen sich die Zeit, mit mir zu sprechen – so etwas hatte ich noch nie bei Weißen erlebt. Im Süden hätte ein Weißer gesagt: »Zum Teufel mit dir, hau ab!« oder: »Is gut, Nigger. Mach dich an die Arbeit.« Noch nie hatten Weiße sich herabgelassen, mich auf Herz und Nieren zu prüfen und mich so ausführlich zu befragen. Mir ging auf, daß sie mich als gleichberechtigt zu behandeln versuchten, und das machte es mir um so schwerer, einzugestehen, daß und aus welchem Grunde ich gelogen hatte. Gab ich es zu, dann würde das ihnen, meinte ich, ein für mich unerträgliches moralisches Übergewicht verleihen. »All reit«, sagte Mr. Hoffman, »bleib hier und tu deine Arbeit. Ich weiß, daß du lügst, Rick. Aber macht mir nichts aus.« Ich wollte nicht bleiben. Er hatte mich beleidigt. Aber ich mochte ihn trotzdem. Ja, ich hatte Unrecht getan, aber wie im Himmel sollte ich wissen, was für Leute es waren, bei denen ich arbeitete? Vielleicht hätte Mr. Hoffman mir gern für die Prüfung freigegeben, aber meine Befürchtungen waren stärker gewesen als meine Hoffnung. Täglich bei ihnen zu arbeiten, wo sie doch wußten, daß ich aus Angst gelogen hatte, bedrückte mich schwer. Ich wußte, daß sie mit mir in meiner Angst Mitgefühl hatten. Ich ent-
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schloß mich zu gehen und lieber zu hungern, als bei ihnen zu bleiben. Das tat ich dann am darauffolgenden Samstag, ohne ihnen zu sagen, daß ich nicht wiederkommen würde; ich brachte nicht einmal den Mut auf, ihnen Lebewohl zu sagen. Ich wollte dort rasch fort; sie sollten vergessen, daß ich je bei ihnen gearbeitet hatte. Nach einer Woche ohne Arbeit erhielt ich einen Job als Tellerwäscher in einem North Side-Café, das gerade eröffnet worden war. Die Chefin, eine Weiße, wies mich an, Geschirrkisten auszupacken, neue Tische aufzustellen, anzustreichen und so fort. Meine Aufgabe war es, das Frühstück zu servieren und den Gästen im Hotel, die nicht ins Café herunterkommen wollten, das Essen auf ihre Zimmer zu bringen. Ich bekam pro Woche fünfzehn Dollar; meine Arbeitszeit war lang, aber ich wurde im Café beköstigt. Köchin war eine ältere Frau, eine Finnin, mit einem knochigen, scharfgeschnittenen Gesicht. In dem Café arbeiteten mehrere weiße Kellnerinnen, ich war der einzige Farbige. Die Kellnerinnen waren im Umgang lebhaft und forsch und in ihrer Art, fiel mir auf, so ganz anders als weiße Mädchen im Süden. Ihnen war nicht beigebracht worden, zwischen sich und einem wie mir Abstand zu halten; sie waren relativ unbelastet vom Haß gegen Andersfarbige. Als ich eines Morgens Kaffee machte, drückte sich Cora, vor sich ein beladenes Frühstückstablett, an mich, um Kaffee in eine Tasse zu füllen. »Entschuld’ge, Richard«, sagte sie. »Ah, macht nichts«, sagte ich mit ruhiger Stimme. Aber sie war eine Weiße und hatte sich eng an mich gedrückt – ein Vorfall, wie er mir noch nie im Leben widerfahren war und der in mir schreckliche Erinnerungen wachrief. Aber sie war sich meiner Hautfarbe gar nicht bewußt, und sie ahnte
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auch nicht, was ihr Verhalten im Süden nach sich gezogen hätte. Und wäre ich nicht im Süden geboren worden, dann hätte ich ebensowenig wie sie von diesem winzigen Vorfall Notiz genommen. Ich konnte, während sie neben mir stand, nicht umhin, mir vorzustellen, wie sich ein weißes Mädchen im Süden in diesem Fall verhalten hätte. Sie hätte mich, um sich Kaffee zu nehmen, aufgefordert, beiseitezutreten, damit sie mit mir nicht in Berührung kam. Die Arbeit in der heißen, betriebsamen Küche wäre einen Moment unterbrochen worden, damit ich, der Befleckte, mich so weit entfernen konnte, daß der Weg zur Kaffeemaschine für sie frei war. Ein Gefühl der Geborgenheit teilte sich mir mit, als ich merkte, daß dieses arglos an mich gelehnte Mädchen darin kein Problem sah, daß sie nicht aus einer tiefsitzenden, vagen, irrationalen Furcht vor mir als einer Kreatur zurückschreckte, die es unter allen Umständen zu meiden galt. Eines Morgens im Sommer verspätete sich eins der weißen Mädchen und kam in den Vorratsraum gestürzt, in dem ich zu tun hatte. Sie eilte, um sich umzuziehen, in die Damentoilette; ich hörte die Tür gehen und kurz darauf überrascht ihre Stimme: »Richard, schnell! Knot mir die Schürze zu!« Sie stand mit dem Rücken zu mir, und die Schürzenbänder hingen seitwärts herab. Unschlüssig zögerte ich einen Moment, dann nahm ich die beiden Bänder, schlang sie ihr um den Körper und verknotete sie ungeschickt auf ihrem Rükken. »Tausend Dank«, sagte sie, faßte flüchtig meine Hand und lief davon. Nachdenklich nahm ich die Arbeit wieder auf; ich überlegte mir, was dieser simple, menschliche Vorgang einem Neger im Süden, wo ich den größten Teil meines Hungerlebens verbracht hatte, bedeutet haben mochte.
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Ich bewunderte die Mädchen nicht, ebensowenig wie ich sie haßte. Es war eher ein anhaltendes, freundliches Staunen, das ich ihnen gegenüber empfand. Ich schwieg meistens, obwohl ich ihnen an Lebenserfahrung einiges voraus hatte. Während der Arbeit hörte ich ihnen zu und bemerkte, wie verworren, sprunghaft und oberflächlich sie die Probleme des Lebens angingen. Vieles von dem, was ihnen rätselhaft erschien, hätte ich ihnen erklären können, aber das wagte ich nicht. Während meiner Mittagspause, die ich auf einer Bank in einem benachbarten Park verbrachte, kamen die Mädchen zu mir, setzten sich neben mich und redeten, lachten, machten Scherze und rauchten. Dabei erzählten sie von ihren billigen Träumen, von ihren schlichten Hoffnungen, ihrem häuslichen Leben und auch von ihrer Angst vor tiefer gehenden Gefühlen, von ihren Sexproblemen und ihren Ehepartnern. Sie waren rastlos und voller Eifer in ihrer Gesprächigkeit, ohne Tiefgang in dem, was sie dachten, im ganzen aber freundlich und unaufdringlich. Haß und Angst waren ihnen unbekannt, und instinktiv wehrten sie sich gegen jede Art von Leidenschaft. Ich habe mich oft gefragt, was sie vom Leben erwarten mochten, aber ich bin nie recht dahinter gekommen, und ich bezweifle, daß sie selbst es auch nur ahnten. Sie lebten so an der Oberfläche hin, und ihr Lächeln war ebenso oberflächlich wie ihre Tränen. Das Leben, das Neger führten, war echter, hatte mehr Tiefe, aber ich wünschte, Neger könnten ebenso unbekümmert, ebenso leichthin leben wie sie. Die Mädchen sprachen nie von ihren Gefühlen; keine von ihnen verfügte über genügend Einsicht oder Einfühlungskraft, um sich selbst oder andere zu verstehen. Welten waren es, die uns trennten! Mein Leben lang hatte ich immer nur versucht, meine Gefühle zu kultivieren, sie aber hatten immer nur die billigen Ziele, die schäbigen materiellen Gewinne angestrebt,
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die ihnen das Leben in Amerika bot. Wir sprachen ein und dieselbe Sprache, aber meine Sprache war eine andere als die ihre. Das Negerproblem in seiner ganzen Tiefe lag für mich in der psychologischen Kluft, die die Rassen voneinander trennte. Wollten diese armen, unwissenden weißen Mädchen mich und mein Leben verstehen, so wäre das einer weitgehenden Revolutionierung ihres eigenen Lebens gleichgekommen. Wollten sie aus ihrem Leben ein Ganzes machen und erwachsen werden, dann brauchten sie dazu nach meiner Überzeugung die wirkliche Kenntnis von Schicksalen, wie ich eins durchlebte und fortgesetzt erlitt. (Wenn ich jetzt an diese Mädchen und ihr Leben zurückdenke, dann komme ich zu dem Schluß, daß dieses Amerika, wenn es das Negerproblem in seiner ganzen Tragweite verstehen will, größer und robuster sein müßte, als es das je war. Ich bin der Ansicht, daß die Vergangenheit Amerikas zu seicht, dies Land in seiner Mentalität zu oberflächlich optimistisch und in seiner Moral zu sehr am Rassenhaß durchtränkt ist, als daß es diese ungeheure, diese höchst komplizierte Aufgabe bewältigen könnte. Kulturell ist die Situation des Negers paradox: Obwohl er Angehöriger der Nation ist, wird er von der Kultur dieses Landes ausgeschlossen, und zwar schon von der Tendenz und Stoßrichtung her. Ganz offen hält man es für richtig, ihn auszuschließen, und für falsch, ihn ungehindert teilnehmen zu lassen. Daher wird die Nation, sollte sie in ihren gegenwärtigen kulturellen Grenzen darangehen, sich vom Rassenhaß zu läutern, mit sich selbst in Streit geraten und sich in Anfällen verworrener Gefühle und Moralauffassungen ohnmächtig verkrampfen. Sollte die Nation jemals ihre wirkliche Beziehung zur schwarzen Bevölkerung überprüfen, dann wird sie damit weit mehr vollbringen als nur das; denn die Anti-Neger-Einstellung von Weißen
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stellt nur einen winzigen, wenn auch bedeutsamen Teil der moralischen Gesamteinstellung der Nation dar. Unser zu junges und zu neues Amerika, tatkräftig, weil es einsam, aggressiv, weil es ängstlich ist, besteht darauf, die Welt in Gut und Böse, in Tugendsam und Übel, Hoch und Niedrig und in Weiß und Schwarz einzuteilen; unser Amerika schrickt ängstlich vor Fakten, vor Geschichte, vor Entwicklung und Notwendigkeit zurück. Es wählt den Weg des geringsten Widerstandes, indem es jene verdammt, die es nicht begreift, jene verstößt, die anders aussehen, und es beschwichtigt sein Gewissen, indem es sich den selbstgewebten Mantel der Rechtschaffenheit umhängt. Verdamme ich mein Geburtsland? Nein, denn alle diese Fehler teile ich mit ihm! Und ich bin nicht der Auffassung, daß dieses heranwachsende und selbstsichere Amerika, dem Leiden und Mühsal fremd und Leidenschaft und Opfer ein Greuel sind, bereit ist, seine elementarsten Glaubenssätze zu überprüfen. Ich weiß, daß es nicht allein Rasse und Hautfarbe waren, die zwischen mir und den Mädchen standen, mit denen ich arbeitete, es waren außerdem die ihr tägliches Leben bestimmenden Wertmaßstäbe. Ihre äußerliche Betrachtungsweise, ihre Sucht nach Radios, Autos und tausenderlei sonstigem Flitterkram verleiteten sie zu Traumvorstellungen und zur Überbewertung dieses ganzen Plunders und machten sie unfähig, eine Sprache zu lernen, mit der sie hätten ausdrücken können, was in ihren eigenen und den Herzen anderer vor sich ging. Die Sprache ihrer Seelen war das Vokabular der gerade gängigen Schlager. Die tiefe Ironie, von der das Los des amerikanischen Negers bestimmt wird, liegt für mich darin, daß er zu einem Leben in der Isolation verdammt ist, während jene, die ihm dieses Los aufzwangen, nach den denkbar schäbigsten Zielen an der Oberfläche dieser Erde streben. Vielleicht wäre es möglich,
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den Neger mit seinem Schicksal zu versöhnen, wenn man ihn davon überzeugen könnte, daß seine Leiden ihn am Ende zu einem hohen, all diese Opfer rechtfertigenden Ziel führen würden; aber einer ihn verdammenden Kultur anzugehören und zu sehen, daß die Sucht nach wertlosem Plunder die Nation ihm und seinen Ansprüchen gegenüber blind macht – das allein führt dazu, den Sturm in seiner Seele zu entfesseln.) Ich hatte mich der Unterdrückung im Süden durch die Flucht entzogen, mich aber deswegen nicht in meinem äußeren Verhalten geändert. Mir war eingetrimmt worden, ständig ein Lächeln zur Schau zu tragen, und das tat ich auch jetzt noch, obwohl meine Umgebung mir ein freieres Betragen gestattet hätte. Ich verbarg meine Gefühle und mied jeden Umgang mit Weißen, bei dem ich mich hätte bloßstellen können. Eines Nachmittags ertappte mich die Chefin dabei, wie ich in der Küche, auf einer Kiste sitzend, ein Heft des American Mercury las. »Was, um Himmels willen, liest du denn da?« fragte sie mich. Ich war auf der Hut, obwohl das, wie ich wußte, nicht nötig gewesen wäre. »Ach, nur so ein Magazin«, sagte ich. »Wo hast du das her?« fragte sie. »Oh, ich hab’s gefunden«, log ich; ich hatte es mir gekauft. »Und verstehst du auch, was du liest?« fragte sie. »Ja, Mad’m.« »Sieh mal einer an«, rief sie aus, »der farbige Tellerwäscher liest den American Mercury!« Kopfschüttelnd verließ sie die Küche. Meine Gefühle waren gemischt. Sie wußte nun – und darüber war ich froh – daß ich kein völliger Dummkopf war, ich ärgerte mich aber auch darüber, daß ihr das Lesen von Magazinen für einen Tellerwä-
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scher unangebracht schien. Von da ab an wickelte ich meine Bücher und Zeitschriften in Zeitungspapier, so daß niemand sie sehen konnte, und las sie in meinem Zimmer und auf der Hin- und Rückfahrt in der Straßenbahn. Tillie, die finnische Köchin, war eine große, knochige, alterslose Frau mit rotem Gesicht und langem, schneeweißem Haar, das sie in einem Knoten im Nacken trug. Sie kochte ausgezeichnet und war außerordentlich tüchtig. Eines Morgens, als ich an den auf dem Herd brutzelnden Pfannen vorbeikam, glaubte ich, Tillie husten und ausspucken zu hören. Ich blieb stehen, um nachzuschauen, wohin sie gespuckt hatte, aber ich sah nichts; sie stand mit ihrem vom Dampf verhüllten Gesicht gebeugt vor einem großen Topf. Sie mußte, sagte ich mir, gehustet und in den Topf gespuckt haben, zugleich aber konnte ich mir nicht denken, daß ein Mensch fähig wäre, so etwas Unappetitliches zu tun. Ich nahm mir vor, sie näher zu beobachten. Nach einer Stunde oder so hörte ich Tillie sich laut räuspern und dann husten und sah, wie sie in die kochende Suppe spuckte. Es verschlug mir den Atem; ich konnte einfach nicht glauben, was ich gesehen hatte. Sollte ich es der Chefin sagen? Würde sie mir glauben? Ich beobachtete Tillie auch am nächsten Tag, um mich zu vergewissern, ob sie tatsächlich in die Suppe spuckte. Ja, sie tat’s; daran gab es keinen Zweifel. Aber wer hier würde mir glauben, wenn ich erzählte, was passiert war? Ich war der einzige Schwarze hier im Café. Sie würden mir vielleicht unterstellen, ich hätte etwas gegen die Köchin. Ich hörte auf, dort zu essen, und wartete auf einen günstigen Augenblick. Das Café wurde immer stärker besucht, und so stellte die Chefin ein Negermädchen ein, das die Salate machen sollte. Ich nahm sofort Kontakt mit ihr auf. »Ich hätte dir im Vertrauen etwas zu sagen. Kann ich mich auf dich verlassen?« fragte ich sie.
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»Wovon redest du denn?« sagte sie. »Ich möchte, daß du es für dich behältst – aber achte mal auf die Köchin.« »Wozu?« »Du brauchst keine Angst zu haben. Beobachte sie nur mal.« Sie sah mich an, als ob sie einen Verrückten vor sich hätte, und schon bereute ich es, ihr überhaupt etwas gesagt zu haben. »Was willst du denn eigentlich?« fragte sie mich. »Na schön«, antwortete ich, »ich sag’s dir also. Die Köchin spuckt ins Essen.« »Was sagst du da?« fragte sie mich laut. »Nicht so laut«, sagte ich. »Spuckt ins Essen?« fragte sie mich flüsternd. »Aber warum? Ich verstehe das nicht.« »Ich auch nicht. Aber sieh’s dir mal selber an.« Sie warf mir einen merkwürdigen Blick zu und ging. Nach einer halben Stunde kam sie zu mir hereingestürzt; sie war ganz blaß und ließ sich auf den Stuhl sinken. »O Gott, mir ist ganz schlecht.« »Hast du es gesehen?« »Sie spuckt wirklich ins Essen!« »Was tun wir jetzt?« fragte ich sie. »Wir sagen’s der Chefin.« »Die wird uns nicht glauben«, sagte ich. Sie riß die Augen auf, als sie begriff, was ich meinte. Wir waren schwarz, und die Köchin war eine Weiße. »Ich kann hier nicht arbeiten, wenn sie so etwas tut«, stieß sie hervor. »Dann geh du hin und sag’s ihr«, forderte ich sie auf. »Mir würde sie ebensowenig glauben«, sagte sie.
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Sie stand auf und ging rasch zur Toilette. Als sie zurückkam, starrte sie mich an. Wir waren beide schwarz, und beide fragten wir uns, ob die weiße Chefin uns glauben würde, wenn wir ihr erzählten, daß ihre tüchtige Köchin mehrmals am Tag in das auf dem Herd kochende Essen spuckte. »Ach, ich weiß nicht«, flüsterte sie leise wimmernd und verließ den Raum. Ich überlegte, ob ich das mit der Köchin den Kellnerinnen erzählen sollte, aber ich hatte nicht den Mut dazu. Einige der Mädchen waren mit Tillie befreundet. Aber ich konnte es nicht zulassen, daß die Köchin den ganzen Tag in das Essen spuckte. Das widersprach jeder menschlichen Verhaltensregel. Nachdenklich, ratlos wusch ich das Geschirr ab, nachdenklich servierte ich das Frühstück und die Mahlzeiten für die Gäste auf den Zimmern; nachdenklich, und ohne mir Rat zu wissen. Jedesmal, wenn ich ein Tablett mit Essen hinauftrug, war mir, als müßte ich mich erbrechen. Schließlich kam das Negermädchen zu mir und gab mir ihre Geldbörse und ihren Hut. »Ich erzähl’s ihr und kündige verdammt nochmal«, sagte sie. »Das tu ich auch, wenn sie sie nicht rauswirft«, sagte ich. »Aah, sie wird mir ja doch nicht glauben«, wimmerte sie gequält. »Du sagst es ihr, du bist eine Frau. Vielleicht glaubt sie dir doch.« Tränen standen ihr in den Augen, und lange saß sie da; dann stand sie abrupt auf und ging zum Speisezimmer. Ich stellte mich an die Tür und lugte durch den Spalt. Ja, da vor der Kasse sprach sie mit der Chefin. Sie kam zurück in die Küche und ging in den Vorratsraum, in den ich ihr folgte. »Hast du es ihr erzählt?« fragte ich sie. »Ja.« »Was hat sie gesagt?« 27
»Sie sagte, ich wär’ verrückt.« »Mein Gott«, stieß ich hervor. »Sie sah mich nur aus ihren grauen Augen an«, sagte das Mädchen, »und fragte: ›Aus welchem Grund sollte Tillie das tun?‹« »›Ich weiß nichts erwiderte ich ihr.« Die Chefin kam an die Tür und rief das Mädchen zu sich; beide gingen sie zum Speisezimmer. Tillie kam herein und sah mich mit harten, kalten Augen an. »Was wird hier gespielt?« fragte sie. »Ich weiß nicht«, sagte ich und hatte große Lust, ihr ins Gesicht zu schlagen. Sie raunzte irgend etwas vor sich hin, ging zurück zum Herd und spuckte in den brodelnden Topf. Ich verließ die Küche, um hinten auf dem Hof Luft zu schnappen. Die Chefin kam mir nach. »Richard«, sagte sie. Sie war blaß im Gesicht, ich rauchte eine Zigarette und sah nicht zu ihr hin. »Ist das wirklich wahr?« »Ja, Mad’m.« »Das kann doch einfach nicht sein. Du spinnst.« »Sehn Sie’s sich selbst an«, sagte ich. »Ich weiß nicht«, sagte sie gequält. Es schien sie hart getroffen zu haben. Sie ging zum Speisezimmer, unterwegs aber, stellte ich fest, sah sie durch die Tür. Ich beobachtete beide, die Chefin und die Köchin, und hoffte inständig, daß die Köchin jetzt wieder spucken würde. Wirklich, sie tat’s. Die Chefin ging in die Küche und starrte Tillie an, aber sie schwieg. Sie brach in Tränen aus und lief zurück zum Speisezimmer. »Was geht hier vor?« fragte Tillie. Keiner antwortete ihr. Die Chefin kam aus dem Speisezimmer und warf Tillie ihren Hut, ihren Mantel und Geld hin. 28
»Jetzt aber raus hier, Sie Schwein!« sagte sie. Tillie glotzte sie entgeistert an und nahm dann langsam Hut, Mantel und Geld auf. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und spuckte aus, aber auf den Boden. Sie ging. Niemand hat je in Erfahrung gebracht, warum Tillie ins Essen spuckte. Mich erinnerte dieser Vorfall an jenen Boß in Mississippi, der mir mein Geld vor die Füße geworfen und gesagt hatte: »Raus hier, Nigger! Ich kann dich nicht mehr sehn.« Und ich fragte mich, ob ein Neger, der kein Grinsen zur Schau trug, für Weiße moralisch ebenso verdammenswert war wie eine Köchin, die ins Essen spuckte … Das ganze Frühjahr über arbeitete ich in dem Café und wurde im Juni auf Zeit im Postamt angestellt. Ich machte mir große Hoffnungen; wenn ich fest angestellt würde, hätte ich mindestens fünf Stunden am Tag Zeit zum Schreiben. Ich meldete mich zur Arbeit im Postamt, wo ich siebzig Cent die Stunde verdiente und nun zum erstenmal in meinem Leben jeden Abend mit vollem Magen zu Bett gehen konnte. Wenn ich nachts arbeitete, schrieb ich tagsüber; wenn ich tagsüber arbeitete, schrieb ich in der Nacht. Aber das Glück, einen solchen Job zu haben, hielt anderen Kummer nicht von mir fern. Bevor ich fest angestellt wurde, hatte ich mich einer körperlichen Untersuchung zu unterziehen. Das erforderliche Körpergewicht war einhundertundzwölf Pfund, und nach der jahrelangen Hungerei brachte ich es nur auf knapp neunundneunzig Pfund. Von Panik ergriffen, wendete ich mein ganzes erspartes Geld für Nahrungsmittel auf und aß und aß. Aber nichts schlug an, ich blieb mager wie eh und je. Vielleicht war es nicht das richtige Essen, das ich zu mir nahm? Oder die Angst, von der ich nie frei war, hinderte mich am Zunehmen? Ich trank Milch, aß Steaks,
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aber legte nicht ein einziges Pfund zu. Ich suchte einen Arzt auf, der mir sagte, ich wäre zwar unterernährt, sonst aber gesund und sollte nur tüchtig essen und lange schlafen. Ich tat das auch, aber ohne Erfolg. Ich wußte jetzt, daß aus der festen Anstellung nichts werden würde und daß ich mich wieder auf die Suche nach Arbeit begeben müßte. Nachts las ich Gertrude Steins Drei Leben, Stephen Cranes Das Blutmal und Dostojewskijs Die Dämonen, in denen sich mir neue Gefühlsbereiche erschlossen. Aber noch wichtiger waren für mich die Entdeckungen, die ich machte, als ich von den Romanen zu Büchern über Psychologie und Soziologie überging. Hier wurde versucht, die Ursachen meiner eigenen Verhaltensweise und der meines Volkes zu erklären. Ich studierte Tabellen mit Zahlen und Fußnoten, welche die Bevölkerungsdichte in Beziehung setzten zu Geisteskrankheiten, die Wohnverhältnisse zu Krankheiten, das Schul- und Freizeitwesen zur Kriminalität, und die neurotische Verhaltensweisen als umweltbedingt und rassische Verkümmerungen als Ergebnis aus dem Konflikt zwischen Weißen und Schwarzen erklärten … Ich hatte immer noch keine Freunde, weder auf Dauer noch vorübergehend, und ich spürte auch kein Bedürfnis danach. In mir hatte sich eine Art von Selbstgenügsamkeit entwickelt, die mich gefühlsmäßig und psychologisch von anderen unabhängig machte. Ich nahm gelegentlich an Partys von Arbeiterfamilien teil, auf denen Geld zur Zahlung fälliger Mieten gesammelt wurde und wo man einen halben oder einen Vierteldollar als Eintrittspreis bezahlen mußte. Auf diesen kleinen Festen trank ich selbstgebrautes Bier, aß Spaghetti und Nierenragout, unterhielt mich und lachte viel mit schwarzen Mädchen aus dem Süden, die als Hausmädchen bei Familien des weißen Mittelstandes beschäftigt waren. Aber mit keiner von ihnen ging ich eine tiefere Bindung ein. Ich vertraute
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mich niemandem an und redete auch nicht über das, was ich gelesen hatte. Ich hatte mich, was meine Gefühle anging, aus der äußeren Welt zurückgezogen; meine eigenen Gedanken waren der Raum, in dem sich meine Wünsche und Pläne mehr oder weniger kontrolliert bewegten. Aus Gründen des Selbstschutzes bediente ich mich im Umgang einer knappen, zynischen Ausdrucksweise, durch die ich jene abstieß, die mir zu nahe kamen. Unterhaltung war nichts weiter als meine Art, mich nicht ausdrücken zu müssen; Worte, die etwas ausdrückten, sparte ich mir für die Nacht auf, in der ich allein am Tisch saß und schrieb. Mein Gesicht verbarg ich hinter der Maske der Schafsköpfigkeit und einer gewissen, unverbindlichen Freundlichkeit, und kein Wort, kein Ereignis waren imstande, mir Begeisterung oder einen Ausbruch der Verzweiflung zu entlocken. Auf fast alles, was ich zu Ohren bekam, reagierte ich mit einem langsam, zögernd vorgebrachten »Jääh.« »Na, das ist ja schön«, war die Phrase, mit der ich, langsam mit dem Kopf nickend, meine Zustimmung kundtat. Lehnte ich etwas ab, dann murmelte ich kühl lächelnd »Nee, nee.« Selbst wenn mich etwas wirklich bewegte, tobte sich der Gefühlswirbel unter der Oberfläche aus. Dieses ganze Verhalten war nicht beabsichtigt; eine solche Art der Beziehung zu Menschen lag mir im Grunde gar nicht. Ich wollte ein Leben, das von der inneren Übereinstimmung mit anderen geprägt und in dem die Grundgefühle von allen geteilt wurden, in dem aus der gemeinsamen Erinnerung eine gemeinsame Vergangenheit und aus den gemeinsamen Hoffnungen eine nationale Zukunft erwuchsen. Aber ich wußte, wie unmöglich das in der Umgebung war, in der ich mich befand. Es gab nur eine Möglichkeit, meinen Gefühlen Ausdruck zu verschaffen, ohne verletzende Ablehnung oder tödliche Unterdrückung riskieren zu müssen, und das war, zu
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schreiben und zu lesen und auf diese Weise ein erträgliches Leben zu führen. Tante Maggie hatte inzwischen eine Wohnung gemietet, in der ich ein Hinterzimmer bewohnte. Als meine Mutter und mein Bruder kamen, schliefen wir alle drei in diesem Zimmer, das nur vier Wände und eine Tür, aber kein Fenster hatte. Mein übermäßig vieles Lesen irritierte Tante Maggie; sie spürte, daß ich mich ganz in mich zurückgezogen hatte, und war darüber gar nicht froh. Sie war ihrer Natur nach aufgeschlossen und gesprächig und erklärte mir, ich lebte falsch, und das viele Bücherlesen würde zu nichts führen. Aber das machte auf mich keinen Eindruck. Ich hatte mich selbst längst gegen jede Kritik verhärtet. »Liest du, um einmal Anwalt zu werden, Junge?« fragte sie mich. »Nein.« »Weswegen denn sonst?« »Ich hab’ Freude daran.« »Aber was bringt es dir?« »Sehr viel.« Und ich wußte, daß mir meine Worte als töricht und dumm ausgelegt wurden, denn in meiner Umgebung, in der es als Höchstes um Geld, Jobs oder die Beschaffung einer Wohnung ging, war Lesen eine so gut wie unbekannte Beschäftigung, und wenn jemand überhaupt irgendwelchen beruflichen Ehrgeiz zeigte, dann wünschte er sich, Arzt zu werden, Anwalt, Ladenbesitzer oder Politiker. Nichts schien diesen Leuten erstrebenswerter als ein Auto, nichts begehrenswerter als die Frau eines anderen, und wollten sie sich ein Vergnügen machen, dann lieferte ihnen das eine Flasche Whisky. Ich fühlte mich den Leuten um mich herum nicht unterlegen, hielt mich aber auch nicht für etwas Besseres; ich bedauerte nur, daß sie nie die Chance gehabt hatten, ein anderes Leben
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zu führen. Ich übte weder Kritik an ihnen noch lobte ich sie, aber gerade meine neutrale Haltung empfanden sie als stärkere Ablehnung, als wenn ich sie beschimpft hätte. Ich wagte mich wiederholt ans Schreiben, aber die Ergebnisse waren so erbärmlich, daß ich die Blätter immer wieder zerriß. Ich versuchte stilistisch das Niveau der Romane zu erreichen, die ich gelesen hatte. Aber irgendwie gelang es mir nicht, das, was ich fühlte und dachte, aufs Papier zu bekommen. Da es mir ebensowenig gelang, erzählende Prosa zu schreiben, versuchte ich es mit einzelnen Sätzen. Ich verbrachte unter dem Einfluß von Gertrude Steins Prosa Stunden und Tage damit, Sätze aus purer Lust an der Sprache kontrapunktierend zusammenzustellen. So schrieb ich: »Die weich schmelzende Butter rann golden in den fasrigen Furchen der zerschnittenen Kartoffel hinunter.« Oder: »Die plumpen Finger des Kindes fummelten im Schlaf vergebens nach seinen geträumten Wünschen.« »Der alte Mann kauerte im dunklen Torweg, sein knochiges Gesicht war erhellt vom brennenden Gelb in den Fenstern der fernen Wolkenkratzer.« Mein Ziel war, etwas Gegenständliches oder eine Geste so zu schildern, daß ein subjektiver Eindruck vermittelt wurde; ein Ergebnis, wie mir schien, das zu erreichen jede Mühe wert war. Wenn ich es fertigbrachte, die Aufmerksamkeit des Lesers so zwingend auf bestimmte Wörter zu lenken, daß er diese Wörter vergaß und sich nur noch seiner Reaktion bewußt war, dann, meinte ich, müßte es mir gelingen, erzählende Prosa zu schreiben. Ich strebte danach, die Wörter zu meistern, sie verschwinden zu machen, ihnen Bedeutung zu geben, indem ich sie neu machte, sie einzuschmelzen in eine ansteigende Spirale emotionaler Triebkräfte, von denen jede
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Triebkraft stärker war als die andere, jede die andere belebte und steigerte, bis hin zu einem Höhepunkt, von dem aus den Leser das Gefühl einer neu erstandenen Welt durchströmen würde. Dies war das eine und einzige Ziel, das ich mir gesetzt hatte. Der Herbst kam, und ich wurde zur Untersuchung bestellt, die über meine feste Anstellung bei der Post entscheiden sollte. Ich wußte, daß ich nicht bestehen würde, hatte davon aber weder meiner Mutter noch meinem Bruder oder meiner Tante etwas gesagt. Am Morgen vor der Untersuchung trank ich zwei Liter Buttermilch und aß sechs Bananen, aber dies brachte den roten Pfeil der Behördenwaage nicht auf den erforderlichen Strich von einhundertundzwölf Pfund. Ich ging nach Hause, setzte mich verzweifelt und voller Selbsthaß in mein Hinterzimmer und überlegte, wo sich vielleicht ein anderer Job finden ließe. Fast hätte ich diesen feinen Posten bekommen, aber dann hatte es doch nicht geklappt, und er war mir durch die Lappen gegangen. Zweifel an mir selbst machten mir zu schaffen. Würde ich immer so am Rande des Lebens dahinvegetieren? Was ich gewollt hatte, war bescheiden genug und doch verloren, meine Ernährung, mein ewiges Hungern hatten es mir vor den Augen weggeschnappt. Aber lange hielten diese Selbstbezichtigungen nicht an, ich betäubte den Ärger über den Verlust durch Lesen, Lesen, Schreiben und abermals Schreiben. Daß ich den Posten nicht erhalten hatte, ließ in mir keine Feindseligkeit gegen das System von Vorschriften aufkommen, das meinen ersten Vorstoß in Richtung auf die materiellen Grundlagen des amerikanischen Lebens vereitelt hatte. Ich empfand es zwar als ungerecht, daß ein paar fehlende Pfunde die Chance, einen anständigen Job zu bekommen, zunichte gemacht hatten, aber schon lange hatte ich die Welt, in der ich lebte, verworfen, und so sagte ich mir: Na gut, dies
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also ist das System, nach dem die Leute ihre Welt regiert haben wollen, ganz gleich, ob das zu ihrem Nutzen ist oder nicht. Für mich demonstrierte sich in diesem Mißerfolg nur ein weiteres Mal diese vertrackte, materielle Lebensweise, nach der alles nach konkreten Mengen und Maßen berechnet wird: die Hautfarbe, die Rasse, Pelzmäntel, Radioapparate, Kühlschränke, Autos, Geld … Anscheinend paßte ich einfach nicht in ein solches materialistisches Leben. Das Zusammenleben mit meiner Mutter, meinem Bruder und Tante Maggie – jetzt, da mir die Aussicht auf Anstellung bei der Post genommen war- verschlechterte sich zusehends. In Tante Maggies Augen war ich ein glatter Versager, und sie fürchtete schon, für meinen Lebensunterhalt aufkommen zu müssen. Die Atmosphäre in der überbelegten Wohnung trübte sich, wurde gespannt, kleinliche Zänkereien waren an der Tagesordnung. Schuld daran, daß die Stromrechnung anstieg, waren angeblich mein Lesen und Schreiben. Geld hatte ich nicht gespart, ich entschloß mich aber doch, eine Wohnung zu mieten. Tante Cleo lebte in einem Mietzimmer, und ich bot ihr an, mit mir, meiner Mutter und meinem Bruder zusammenzuwohnen; sie erklärte sich damit einverstanden. Wir zogen in eine winzige, schäbige Bude mit zwei Räumen, in deren Küche nicht weit vom Ofen ein Wandbrett angebracht war. Es wimmelte von Ungeziefer, und Tag und Nacht hing der Geruch vom Kochen in der Luft. Ich ging zu der Chefin in dem Café, die mich auf meine Bitte von neuem einstellte; wieder servierte ich Frühstück, wusch Geschirr ab und trug Tabletts mit Essen zu den Zimmern nach oben. Im Frühjahr sollte eine weitere Untersuchung für den Job bei der Post stattfinden, und ich aß und aß. Ich aß auch dann, wenn ich keinen Appetit hatte, und trank Milch, bis mir übel wurde. Ganz allmählich sprach mein ausgehungerter Körper auf Nahrung an, überwand die mageren Jahre
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von Mississippi, Arkansas und Tennessee und die Nachwirkungen der Angst, die so lange an mir gezehrt hatte. Ich las Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und bewunderte die klare, äußerst zarte aber kraftvolle Prosa, deren verwirrender Zauber mich ebenso gefangennahm wie die weitgespannte, feinsinnige und psychologisch höchst komplizierte Struktur dieses Epos von Tod und Verfall. Aber ich fand mich auch hoffnungslos entmutigt, denn ich wollte mit gleicher Eindringlichkeit über die Menschen um mich schreiben, spürte jedoch, dieses flammende Vorbild vor Augen, daß ich niemals dazu imstande sein würde. Meine Fähigkeit, innere Spannungen zu ertragen, hatte in erstaunlicher Weise zugenommen. Durch den in den Jahren im Süden erlittenen Schmerz, durch die Angst, die ich zu meiden versucht hatte oder die zu ertragen über meine Kräfte ging, hatte ich gelernt, die mir aufgebürdete, anhaltende Gefühlslast zu akzeptieren, und mich daran gewöhnt, aus dem Ganzen meines Wesens heraus zu handeln, hatte gelernt, mich an Lebensbereiche und Situationen zu halten, in denen, wie ich wußte, Ereignisse und Vorfälle meiner inneren Stimmung ergänzend entgegenkamen. Ich war mir dessen, was mit mir geschah, bewußt; ich wußte, daß mein fragendes, staunendes Beobachten eine Haltung war, die alle anderen Empfindungen in sich aufgesogen hatte, und daß in ihr als integrierendem Bestandteil meines Wesens der Sinn meines Lebens lag, nach dem ich leben und an dem ich alle Dinge messen würde. Da ich von niemandem etwas beanspruchte, drehte und wendete ich mich frei nach dem Wind, gab meiner Umgebung, was immer ihr zukam, und nahm, was mir meiner Meinung nach zustand. Es war gefährlich, so zu leben, weit gefährlicher, als wenn ich gegen das Gesetz oder den Sittenkodex verstoßen hätte, aber bedroht von dieser Gefahr war nur ich, ich allein. Wäre ich
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mir nicht dessen, was ich tat, voll bewußt gewesen, dann hätte sich mein Weg leicht im Nebelbereich unwiderstehlicher Phantasien verlieren können. Aber auch so taumelte ich und tappte umher, doch irgendwie fand ich immer zurück auf den Pfad, auf dem ich von einem unsichtbaren Licht her einen Hauch von Wärme verspürte. Hungernd nach Einsicht in mein eigenes Leben und das der Menschen um mich, mir meines nach innen gewendeten Wesens bewußt, suchte ich mehr als meinen Teil an Verantwortung und Verpflichtung zu übernehmen, als eine Art Opfer und Bitte um Vergebung an meine Mitwelt. Je mehr meine Gefühle meine Aufmerksamkeit beanspruchten, um so dringender spürte ich – wenn auch letztlich zur Selbstverteidigung – den Wunsch, die Wirklichkeit der realen Welt zutreffend auszumessen, um den Forderungen, die sie an mich stellte, mehr als nur genügen zu können. Im Alter von zwanzig Jahren stand die Gußform meines Lebens, das Grundmuster lag fest, ein Muster, das weder gut noch schlecht, weder richtig noch falsch war.
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Im Frühjahr fand die zweite Untersuchung für die Anstellung bei der Post statt. Die Zeit hatte irgendwie die durch das Hungern erlittenen Schäden ausgeglichen, und ich brachte das erforderliche Gewicht auf die Waage. Wir zogen in eine größere Wohnung um. Durch meinen höheren Verdienst hatten wir nun auch besseres Essen. Ich war auf meine Weise glücklich. Arbeitete ich nachts, dann schrieb ich am Tage an meiner experimentellen Prosa, füllte Seite um Seite mit inneren Monologen im Negerdialekt und versuchte auf diese Weise, die Bewohner des Schwarzen Gürtels so zu schildern, wie ich sie sah. Durch meine Beschäftigung mit Soziologie war ich nun imstande, die vielen unterschiedlichen Charaktertypen auszumachen und mir ihre Verhaltensweisen zu erklären. Was mich besonders bewegte, waren die häufigen Fälle von Geisteskrankheiten, die in tragischer Weise bei den in die städtische Umgebung versetzten schwarzen Bauern auftraten. Vermutlich war mein Schreiben nicht so sehr Selbstausdruck, sondern eher der Versuch, das Erfahrene zu begreifen. Ich suchte dabei eher unbewußt nach Wörtern, mit denen sich die einzelnen Typen umschreiben ließen – der religiöse Typ, der Kriminelle, der Typ des Verkümmerten, des Verlorenen, des Gehemmten; innere Spannungen, auszehrende Armut und Tod waren die Themen. Aber irgend etwas fehlte bei meinen imaginativen Versuchen; meine Phantasie verharrte im Subjektiven, es fehlte ihr der Bezug zur sozialen Wirklichkeit. Es drängte mich, mir eine tiefere Kenntnis des zeitgenössischen Lebens in seinen vielfältigen Formen anzueignen, die inneren Strukturen der Perso38
nen und die verborgenen Ursachen ihrer Verhaltensweisen kennenzulernen. Beim Sortieren der Post machte ich die Bekanntschaft eines jungen, erstaunlich aufgeschlossenen und sensiblen Iren. Während wir uns leise und monoton tuschelnd miteinander unterhielten, griffen wir uns einen Packen Briefe und ordneten sie korrekt in die dafür bestimmten Fächer, bis unsere Hände leer waren, ohne daß uns auch nur einen Moment bewußt geworden war, daß wir gearbeitet hatten. Die meisten Angestellten arbeiteten so auf diese mechanische Art. Der junge Ire kannte viele Bücher, die auch ich gelesen hatte, und wir lachten über die gleichen, als heilig tabuisierten Dinge. Was Hoffnung und Erbauung anging, war er ebenso zynisch wie ich, und beide waren wir stolz darauf, der, wie wir es nannten, »Kinderkrankheit der metaphysischen Furcht« entronnen zu sein. Er machte mich mit seinen Freunden bekannt, und so fand sich eine »Bande« aus irischen, jüdischen und schwarzhäutigen Skeptikern zusammen, die über Regierung, Staatsmänner, politische Parteien und die Masse ihre Witze rissen. Wir meinten, alle Leute wären bis zu dem Grade gut, wie wir uns über sie lustig machen und sie zum Gegenstand unserer Witze machen konnten. Alle Ideen, die auf Protest, organisierte Rebellion oder Revolution hinausliefen, verwarfen wir als lächerlich. Geschäftsleute waren für uns durch und durch Blödmänner, gegen die aber keine andere, wie auch immer geartete Protestgruppe etwas ausrichten könnte. Wahlen hielten wir für Unfug, weil unserer Ansicht nach der Unterschied zwischen dem einen und dem anderen politischen Hochstapler zu gering war, als daß es sich lohnte, ernsthaft darüber zu diskutieren. Harte Fakten, meinten wir, wären das einzige, wonach der Mensch sein Leben richten sollte, und Gott hatten wir so gründlich aus unseren Überlegungen entfernt, daß wir nicht einmal mehr über Ihn sprachen. 39
Während dieser vom Zynismus beherrschten Phase lernte ich in Chicagos South Side eine literarische Gruppe kennen; sie bestand aus einem Dutzend oder mehr farbigen jungen Männern und Frauen, die alle akademisch gebildet, frei von wirtschaftlichen Sorgen waren und einen vagen Ehrgeiz hatten, Schriftsteller zu werden. Sie waren in ihrem Umgang weniger zwanglos als ihre weißen Kollegen, kleideten sich modisch und achteten peinlich genau auf ihr Äußeres. Ich hatte in meiner Naivität geglaubt, vieles mit ihnen gemein zu haben, aber ich fand sie vorwiegend mit verdrehten Sexproblemen beschäftigt. Sie stammten aus einer Umgebung, die man zweifellos als »Unterschicht« gebrandmarkt hätte, und da verstand ich einfach nicht, wieso sexuelle Leidenschaft sie so ganz und gar beanspruchen konnte. Ich hatte hier zum erstenmal voll ausgewachsen den introvertierten, puritanischen, gefühlsmäßig verkorksten Typ des Negers vor mir und stellte fest, daß es statt Sex nur Ausflüchte, Anspielungen, Anreize und Sex-Ersatz waren, womit sie sich abgaben. In ihrem Verhalten und ihren Reden bemühten sie sich, so wenig negerhaft wie möglich zu erscheinen, verleugneten ihre rassische und soziale Herkunft und verdrängten ihren Stand und rassischen Status so sehr, daß man den Eindruck haben konnte, es existierten für sie nicht die geringsten Schwierigkeiten. Obwohl ich von keinem College-Lehrer angeleitet worden war, hatte ich schon sehr viel länger und ausdauernder als irgendeiner von ihnen versucht, mir schreibend Ausdruck zu verschaffen. Sie schworen auf Liebe statt auf Kunst und gaben sich gern als Bohemiens. Freundlich waren sie, ohne wirklich Freunde zu sein, lasen fortwährend, ohne wirklich zu lernen, und brüsteten sich ihrer Leidenschaftlichkeit, ohne wirklich zu fühlen, und ohne den Mut, auch so zu leben. Eine andere Gruppe, die mich in dieser turbulenten Zeit faszinierte, waren die Garveyiten, eine Vereinigung schwarzer
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Männer und Frauen, die verzweifelt die Rückkehr nach Afrika anstrebten. Sie lehnten Amerika leidenschaftlich ab, weil sie mit einer Direktheit, zu der nur einfache Menschen fähig sind, die Ansicht vertraten, daß ihnen in Amerika ein wirkliches Leben versagt sei. Sie waren nicht von Ideen besessen, an die sie selbst nur zur Hälfte glauben konnten; sie gaben sich nicht der Illusion hin, ihr Leben sei mehr als Lebensersatz; ihr tägliches Leben war zu hart, als daß sie sich mit Beschönigungen hätten begnügen können. Ich verstand ihre Gefühle, waren sie mir zum Teil doch keineswegs fremd. Das bedingungslose Rassenbewußtsein der Garveyiten verlieh ihnen eine Würde, wie ich sie in dieser Form noch nie bei Negern erlebt hatte. An den Wänden ihrer schäbigen Wohnungen hingen Karten von Afrika, Indien und Japan, Bilder von japanischen Generalen und Admiralen, Porträts von Marcus Garvey in voller, ordensgeschmückter Uniform und Photographien von farbigen Männern und Frauen aus allen Teilen der Welt. Ich teilte nicht ihren Glauben an den Garveyismus, es war eher die dynamische Beschwingtheit seiner Anhänger, die meine Bewunderung erregte. Diese Garveyiten konnten nicht begreifen, wieso ich mit ihnen sympathisierte, mich ihnen aber nicht anschloß, und mein Mitgefühl mit ihnen war zu stark, als daß ich ihnen hätte sagen können, daß sie ihr Ziel nie erreichen würden, daß Afrika den imperialistischen Mächten Europas gehörte, daß ihnen die Lebensweise der afrikanischen Eingeborenen fremd sei und sie als Bevölkerungsgruppe zum Westen gehörten, daß sie sich entweder integrieren oder zugrundegehn müßten. Und doch – wenn ich die Garveyiten leidenschaftlich davon sprechen hörte, wie sie sich ein eigenes Land aufbauen und eines Tages innerhalb eines von ihnen selbst geschaffenen Kulturbereichs leben wollten, dann spürte ich die brennende Sehnsucht in ihnen, spürte die dem amerikanischen Neger innewohnende, potentielle Kraft. 41
Gerüchte gingen um nach denen Arbeitslosigkeit drohte, aber ich kümmerte mich nicht darum. Ich hörte von Agitationen der Kommunistischen Partei unter den Negern der South Side, aber solche Dinge lagen mir zu fern, als daß sie mich hätten beeindrucken können. Wenn ich Leuten begegnete, von denen ich annehmen konnte, daß sie Kommunisten waren, unterhielt ich mich freundlich mit ihnen, wahrte aber Distanz. Mir schwante, daß dieser Welt Schreckliches bevorstand, aber ich schottete mich durch Lesen und Schreiben dagegen ab. Als der Zeitpunkt für meine feste Anstellung kam, teilte man mir mit, daß vorläufig an eine solche Anstellung nicht zu denken sei. Der Anfall an Post ging zurück. Meine Arbeitszeit wurde eingeschränkt, der Lohn verringerte sich entsprechend. Schmalhans wurde wieder Küchenmeister bei uns. Der Hunger, den ich hinter mir zu haben glaubte, stellte sich wieder ein. Als ich eines Nachmittags im Winter 1929 auf dem Rückweg von der Bibliothek an einem Zeitungsstand vorbeikam, las ich die Schlagzeile: BÖRSENKRACH – MILLIARDENVERLUSTE Vieles, was ich in den Zeitungen gelesen hatte, ging mich nichts an, warum also sollte es hiermit anders sein? Zeitungen berichteten über Vorgänge, an denen ich nicht teilhatte. Dennoch – die anfallende Post verringerte sich in einem solchen Maße, daß ich wöchentlich nur noch ein oder zwei Nächte zu arbeiten hatte. Die Männer standen in der Kantine der Post herum und redeten. »Die Bullen haben heute Demonstranten verhaftet.« »Die Roten haben ums Rathaus Streikposten aufgestellt.« »Wall Street kracht in allen Fugen.« »Die Überproduktion macht Millionen arbeitslos.« »Wir haben mittlerweile mehr als zwei Millionen Arbeitslose.«
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»Was spielt das für eine Rolle? Ebensoviele sind auch sonst ohne Arbeit.« »Marx solltet ihr lesen. Da findet ihr die Antwort, Jungs.« »Wenn’s so weitergeht, gibt’s eine Revolution.« »Ach was. Amerikaner sind zu stur, um ’ne Revolution zu machen.« Die Arbeit bei der Post war zu Ende und ich wieder ohne Job. Ich konnte mich nicht länger der Tatsache verschließen, daß die Wirtschaftsentwicklung auch mich betraf. Aber wie sollte ich beurteilen können, was möglicherweise in der Welt um mich geschah? Ich war aufgewachsen, ohne jemals darüber belehrt worden zu sein, wie es zur Schaffung von Arbeitsplätzen kam. Da ich wegen meiner Hautfarbe von dieser Welt verstoßen worden war und dies als mein Schicksal hingenommen hatte, hatte ich mich auch nicht dafür interessiert, wie und wodurch diese Welt zustandegekommen war. Im Sommer darauf wurde ich wieder vorübergehend von der Post eingestellt und arbeitete dort bis in den Winter. Tante Cleo erkrankte an einem gefährlichen Herzleiden, und unmittelbar danach traten bei meinem Bruder Magengeschwüre auf. Als wäre es des Elends noch nicht genug, wurde nun auch meine Mutter krank. Die Wohnung war zu einem privaten Krankenhaus geworden. Schließlich war es auch wieder mit der Arbeit bei der Post vorbei, und ich machte mich in der Stadt auf die Suche nach einem Job. Aber was ich dort in den Straßen schon morgens sah, nahm mir jede Hoffnung. Arbeitslose Männer lungerten mit ausdruckslosen Augen in den Hauseingängen, saßen niedergeschlagen in abgerissenem Zeug auf den Stufen, rotteten sich in Gruppen an den Straßenecken zusammen und saßen aneinandergedrängt auf den Bänken in den Parks der South Side.
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Ich konnte von Glück sagen, als ein entfernter Verwandter von mir, der Direktor eines Bestattungsunternehmens für Neger war, mir einen Posten als Agent seiner Firma anbot. Der Gedanke, Versicherungspolicen an unerfahrene Neger verkaufen zu müssen, widerte mich an. »Na schön, wenn du’s nicht willst, dann machen das eben andre«, sagte mein Vetter zu mir. »Essen mußt du schließlich, oder?« Ich arbeitete im Laufe des Jahres für verschiedene Bestattungs- und Versicherungsunternehmen mit Negerkundschaft und machte dabei ganz neue Erfahrungen. Es stellte sich heraus, daß diese Firmen fast ausnahmslos Schwindelunternehmen waren. Einige hielten sich an die gesetzlichen Vorschriften, viele aber beuteten ihre schwarzen Kunden in deren totaler Unwissenheit aus. Pro Dollar Beitragszahlung, die ich einer Firma sicherte, erhielt ich fünfzehn Dollar, und für jeden Beitragsdollar älterer, verfallender Verträge wurde mir ein Strafgeld von ebenfalls fünfzehn Dollar berechnet. Zusätzlich bekam ich zehn Prozent von den Beitragsbeträgen der abgeschlossenen Verträge, aber während der Wirtschaftskrise war es äußerst schwierig, eine schwarze Familie zum Abschluß eines Vertrages zu überreden, der sie auch nur zehn Cent Beitrag kostete. Ich konnte mich schon glücklich preisen, wenn für mich nach Abzug der Verlustgelder fünfzehn Dollar blieben. Diese Art Lotteriespiel bei der Vergütung wurde von einigen Bestattungsunternehmen wegen der enormen Zahl der Abgänge von Vertragspartnern praktiziert, und weil die Firmen, um den Betrieb aufrechterhalten zu können, ständig auf neue Vertragsabschlüsse angewiesen waren. Wenn eine schwarze Familie umzog oder eine auch noch so geringe Einbuße ihrer Einkünfte erfuhr, gab sie den Vertrag gewöhnlich auf und schloß später bei einer anderen Firma eine neue Police ab. Ich besuchte hunderte von schäbigen, kümmerlich möblier44
ten Wohnungen, in denen es von zerlumpt gekleideten Kindern wimmelte, und lernte so die Lebensverhältnisse der Neger in Chicago kennen. Die meisten Versicherten waren Analphabeten und wußten nicht, daß die Policen Klauseln enthielten, nach denen die Versicherungsprämien unter bestimmten Umständen gekürzt wurden, und ich als Versicherungsagent war nicht verpflichtet, sie darüber aufzuklären. Nachdem ich die vielen Straßen abgeklappert hatte und von Tür zu Tür Beiträge kassiert hatte, war ich ausgedörrt und zerschlagen und zu müde, um noch lesen oder schreiben zu können. Ich hatte das heftige Bedürfnis, mich einmal richtig zu entspannen, und da ich als Versicherungsmann auch mit vielen jungen schwarzen Frauen zu tun hatte, bot sich dann auch die Gelegenheit dazu. Es gab eine ganze Reihe von hübschen schwarzen Hausfrauen, die verzweifelt versuchten, die Police nicht verfallen zu lassen, und bereit waren, sich auf einen Handel einzulassen, wenn sie dadurch um den wöchentlichen Zehn-Cent-Beitrag herumkamen. Sie war eine schwarze Analphabetin mit einem Baby, von dem sie nicht wußte, wer der Vater war. Während der ganzen Zeit, in der ich mit ihr verkehrte, hatte sie immer nur eine Bitte an mich: ich sollte sie einmal zu einem Zirkus mitnehmen. Wieso es ihr gerade der Zirkus so angetan hatte, habe ich nie herausbekommen. Nachdem ich eines Morgens – als Entgelt für die erlassenen zehn Cent – mit ihr zusammengewesen war, setzte ich mich auf das Sofa im Vorderzimmer und begann in einem Buch zu lesen, das ich bei mir hatte. Sie kam schüchtern zu mir. »Laß mal sehn«, sagte sie. »Was?« fragte ich. »Das Buch«, sagte sie. Ich gab ihr das Buch, das sie sich aufmerksam ansah. Ich sah, daß sie es verkehrt herum hielt.
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»Was steht da alles zum Lesen drin?« fragte sie. »Du kannst wirklich nicht lesen?« fragte ich sie. »Nee«, sagte sie gickernd. »Das weißt du doch.« »Aber etwas doch«, sagte ich. »Nee, wirklich nich«, sagte sie. Ich starrte sie an und fragte mich, was für einen Sinn aufs Ganze gesehen ein Leben wie ihres haben mochte, und kam zu dem Schluß, daß es absolut keinen Sinn hatte. Wie auch mein Leben. »Warum guckst du mich so an?« »Ah, nichts weiter.« »Reden tust du nicht viel.« »Was gibt’s schon zu reden?« »Ach, wenn doch Jim hier wäre«, sagte sie mit einem Seufzer. »Wer ist Jim?« fragte ich eifersüchtig. Ich wußte, daß sie andere Männer hatte, aber ich hatte es nicht gern, wenn sie in meiner Gegenwart von ihnen sprach. »Ein Freund, weiter nichts«, sagte sie. Haß kam in mir auf, auf sie und auf mich selbst, daß ich mich mit ihr eingelassen hatte. »Gefällt dir Jim besser als ich?« fragte ich sie. »Ah nee. Bloß – er redet gern.« »Warum bist du dann mit mir zusammen, wenn dir Jim lieber ist?« fragte ich, um es zu einer Entscheidung kommen zu lassen, was mich aber zugleich selbst anwiderte. »Du bist schon in Ordnung«, gickerte sie. »Ich mag dich.« »Ich könnte dich mit Leichtigkeit umbringen«, sagte ich. »Was?« schrie sie auf. »Nein, nein, is schon gut«, sagte ich beschämt. »Mich umbringen, sagst du? Bist du verrückt, Mann?« »Vielleicht«, murmelte ich, verstimmt, weil ich hier neben einer Person saß, mit der ich nicht reden konnte, verärgert auch
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über mich selbst, daß ich in meiner wilden, ruhelosen Einsamkeit überhaupt zu ihr gekommen war. »Sollt’st nach Haus gehn und dich ausschlafen«, sagte sie. »Du bist müde.« »Worüber denkst du so den ganzen Tag nach?« fragte ich sie grob. »Oh, über ’ne ganze Menge.« »Was zum Beispiel?« »Über dich«, sagte sie lächelnd. »Ich bedeute dir doch nichts weiter als zehn Cent pro Woche«, sagte ich. »Nee, ich denk viel über dich nach.« »Und was denkst du dann?« »Darüber wie du sprichst, wenn du was sagst. Ich möchte auch so sprechen können wie du«, sagte sie ernst. »Warum?« sagte ich spöttisch. »Wann gehst du mit mir zum Zirkus?« fragte sie plötzlich. »Da gehörst du hin, in einen Zirkus«, sagte ich. »O ja, da war’ ich gern«, sagte sie mit leuchtenden Augen. Ich hätte fast gelacht, konnte es aber nicht, weil ihr ernst war mit dem, was sie sagte. »Im Augenblick ist in der Stadt kein Zirkus«, sagte ich. »Da ist bestimmt einer, du sagst das bloß, weil du mich nicht mitnehmen willst«, sagte sie schmollend. »Da ist im Augenblick keiner, sag’ ich dir!« »Wann kommt denn einer?« »Ich weiß nicht.« »Kannst du nicht mal in der Zeitung nachsehn?« fragte sie. »In den Zeitungen steht nichts über Zirkus.« »Doch«, sagte sie. »Wenn ich lesen könnte, würd’ ich’s schon finden.« Ich lachte, und sie war beleidigt. »Bestimmt ist ein Zirkus in der Stadt«, sagte sie hartnäckig.
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»Nein«, sagte ich. »Aber wenn du lesen lernen willst, ich bringe es dir gern bei.« Sie kuschelte sich gickernd an mich. »Siehst du das Wort hier«, sagte ich und zeigte auf ein »und«. »Ja.« »Das ist ein ›und‹«, sagte ich. Sie krümmte sich kichernd. »Was ist daran so komisch?« fragte ich. Sie ließ sich auf den Boden fallen und wälzte sich kichernd. »Was, bitte?« fragte ich sie. »Du«, gickerte sie. »Du bist so komisch.« Ich stand auf. »Zum Teufel mit dir«, sagte ich. »Beschimpfst mich und gehst«, sagte sie. »Ich hab’ dir nichts getan.« »Tut mir leid«, sagte ich. Ich nahm meinen Hut und ging zur Tür. »Wir sehn uns nächste Woche?« fragte sie. »Vielleicht«, sagte ich. Als ich draußen auf der Straße war, rief sie mir nach: »Du hast mir versprochen, mich zum Zirkus mitzunehmen. Vergiß das nicht.« »Nein, nein.« Ich ging nochmal zu ihr ans Fenster. »Was ist es denn, was dir am Zirkus so gefällt?« »Die Tiere«, sagte sie schlicht. Ich hatte das Gefühl, daß sie noch anderes damit sagen wollte, aber ich wußte nicht, was. Sie lachte und klappte das Fenster zu. Jedesmal, wenn ich bei ihr war, beschloß ich, sie nicht wieder zu besuchen. Ich konnte mich mit ihr nicht unterhalten, hörte mir immer nur ihren leidenschaftlichen Wunsch nach einem Besuch im Zirkus an. Sie war nicht berechnend; wenn ihr ein
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Mann gefiel, dann gefiel er ihr eben. Für sie gab es keine anderen Beziehungen als Sex, weiter reichte ihr Verstand nicht. Die meisten anderen Agenten hatten auch ihre käuflichen Mädchen, und sie achteten scharf darauf, daß andere die Finger von ihnen ließen. Eines Tages wurde mir ein anderer Sektor von South Side als Sammelbezirk zugewiesen, und der Agent, dem dieser Bezirk abgenommen worden war, machte sich mit einem freundschaftlichen Lächeln an mich heran. »Sag mal, Wright«, fragte er mich, »hast du auch bei Ewing in der Champlain Avenue kassiert?« »Ja«, sagte ich, nachdem ich in meinem Heft nachgesehen hatte. »Wie gefällt sie dir?« sagte er und sah mich starr an. »Sieht gut aus, die Puppe«, sagte ich. »Hast du was mit ihr gehabt?« fragte er. »Nein, aber ich hätte schon Lust«, sagte ich lachend. »Glaub mir«, sagte er, »ich bin dein Freund.« »Seit wann?« gab ich zurück. »Nein wirklich, glaub’ mir«, sagte er. »Worauf willst du hinaus?« »Ich sag’ dir, das Mädchen ist krank.« Er machte ein ernstes Gesicht. »Wieso krank?« »Tripper«, sagte er. »Laß die Finger von ihr. Die geht mit jedem ins Bett.« »Danke. Gut, daß ich’s weiß«, sagte ich. »Hattest schon ein Auge auf sie geworfen, was?« »Ja, tatsächlich«, sagte ich. »Laß dich nicht mit ihr ein«, fuhr er fort. »Sie steckt dich sonst noch an.« Am Abend erzählte ich meinem Vetter, was der Agent über Miß Ewing gesagt hatte. Er lachte.
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»Das Mädchen ist sauber«, sagte er. »Der Bursche führt dich bloß an der Nase herum. Macht dir weis, sie wäre geschlechtskrank, um dich abzuschrecken. Um sie vor dir zu schützen.« Das war die Art, wie die schwarzen Frauen von den schwarzen Agenten eingeschätzt wurden. Einige der Agenten trieben es besonders übel; hatten sie einen Anspruch auf Beitragszahlung bei einer kranken schwarzen Frau, und wenn die Frau trotz ihrer Krankheit zum Geschlechtsverkehr fähig war, dann benutzten sie ihren Beitragsanspruch als Köder und lockten sie so ins Bett. Weigerte sie sich, dann meldete der Agent sie der Firma als rückständig in ihren Raten. Im allgemeinen aber ließen die Frauen sich darauf ein, weil sie das Geld dringend brauchten. Bei einem dieser Schwindelunternehmen mußte ich als Versicherungsagent selbst mitmachen. Eine Bestattungsgesellschaft hatte offenbar eine Police ausgegeben, die nach ihrer Meinung zu freizügig in den festgesetzten Leistungen war; man entschloß sich also, die in den Händen der Kunden befindlichen Verträge gegen andere mit strengeren Klauseln auszuwechseln. Dies mußte natürlich so geschehen, daß der Versicherte nichts von dem Vorgang merkte und auch nicht dahinter kam, daß er begaunert wurde. Mir gefiel das gar nicht, aber ausschließen konnte ich mich von dieser Aktion nur, indem ich kündigte und mich von neuem dem Hungern auslieferte. Aber Ehrlichkeit, fand ich, war diesen Preis nicht wert. Das Betrugsmanöver spielte sich folgendermaßen ab. Wenn ich, um die Versicherungsbeiträge zu kassieren, die Vertragspartner in ihren Wohnungen besuchte, wurde ich von dem Direktor der Firma begleitet, der dem Versicherten gegenüber behauptete, er sei zu einer routinemäßig angesetzten Inspektion mitgekommen. Der oder die Versicherte, gewöhnlich eine des Lesens nicht mächtige schwarze Frau, kramte 50
dann ihre Police aus einer Truhe oder einer Kommode hervor und händigte sie dem Direktor aus. Ich machte unterdes Eintragungen in das Beitragsheft der Frau, um sie von der Tätigkeit des Direktors abzulenken. Der wechselte die alte Police gegen eine neue aus, die auf die gleiche Empfängerin mit der gleichen Seriennummer ausgestellt und auch von der gleichen Farbe war, nur daß die in Aussicht gestellten Leistungen erheblich geringer waren. Es war eine Schweinerei, und ich überlegte, wie diesem Treiben ein Riegel vorgeschoben werden könnte. Und als mir keine Lösung einfiel, verwünschte ich mich selbst und die Opfer und versuchte, den ganzen Schwindel zu vergessen. (Die schwarzen Besitzer von Bestattungsunternehmen waren zugleich Vorsteher in den Negergemeinden und wurden als solche von den Weißen respektiert.) Auf meinen Touren von Haus zu Haus sah ich an den Straßenecken Schwarze auf Seifenkisten stehen, die laut brüllend zur Revolution aufforderten und von Brot und Bürgerrechten redeten. Ihr Mut imponierte mir, aber ich bezweifelte, ob sie klug daran taten. Die Redner behaupteten, die Neger würden sich in ihrem Zorn erheben, sich mit ihren weißen Arbeitskollegen zusammentun und Revolution machen. Ich besuchte täglich viele Neger in ihren Heimen und wußte, daß sie ein verlorener Haufen, unwissend und krank an Leib und Seele waren. Mir wurde klar, was für eine weite Kluft die Agitatoren von der Masse trennte, eine Kluft, die es den Agitatoren unmöglich machte, die Massen, die sie führen wollten, auch nur anzusprechen. Ich fand morgens manchmal Flugblätter auf den Treppenstufen, auf denen von China, Rußland und Deutschland die Rede war; an anderen Tagen wiederum sah icn Tausende von arbeitslosen Negern, die in aufrührerischen Haufen von Kommunisten durch die Straßen geführt wurden. Ich beob-
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achtete sie mit Qualen im Herzen, denn ich war fest davon überzeugt, daß sie Opfer von Betrügern waren; aber hätte man mich nach einer anderen Lösung für ihre Probleme gefragt, ich wäre die Antwort schuldig geblieben. Es war mir zur Gewohnheit geworden, nachmittags, wenn ich die Beiträge kassiert hatte, in den Washington Park zu gehen, dort zwischen den arbeitslosen Negern umherzuschlendern, ab und zu stehenzubleiben und mir die Dialektik oder die Wutausbrüche der kommunistischen Redner anzuhören. Was ich sah und hörte, machte mich stutzig und brachte mich auf. Die schwarzen Kommunisten gaben sich in ihrem Äußeren bewußt lässig, ihre Hemdkragen hatten sie zu einem V unterm Kinn hochgeklappt, und ihre Mützen trugen sie – sie trugen Mützen, weil auch Lenin Mützen getragen hatte – mit nach hinten gedrehten Schirmen, die schräg überm Nacken abstanden. Ihre Ausdrucksweise und viele ihrer Gebärden und Redewendungen hatten sie von weißen Kommunisten übernommen, mit denen sie kürzlich zusammengekommen waren. Wenn sie sich unterhielten, steckten sie die Daumen hinter die Hosenträger, schoben die linke Hand in ihr Hemd oder verhakten die Daumen an den Gesäßtaschen, wie sie es auf Photographien von Lenin oder Stalin gesehen hatten. In ihrer Naivität praktizierten sie, ohne es selbst zu wissen, eine Art Zauberei; sie dachten, wenn sie wie Männer handelten, die den Zar gestürzt hatten, dann müßte es ihnen auch gelingen, Freiheit in Amerika zu erringen. Beim Sprechen rollten sie das »r« wie in den europäischen Sprachen, sie sagten »Parrrtei« mit dem Ton auf der zweiten Silbe, wie sie es bei den weißen Kommunisten aufgeschnappt hatten. »Kameraden« wurde bei ihnen »Kammrrraden« und »demonstrieren«, was sie ihr Leben lang richtig ausgesprochen hatten, wurde zu »demonnnstrrie’rn« mit dem Ton auf der zweiten Silbe, wie sie es, falsch ausgesprochen, von
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kommunistischen Einwanderern aus Polen gehört hatten. Viele Neger waren für das Programm der Kommunisten, aber schlossen sich ihnen nicht an wegen der üblen Sorte von Negern, denen die Kommunisten die Mitgliedschaft bereits zugestanden hatten. Wenn sie von einem Podest aus sprachen, vermieden die schwarzen Kommunisten, als ob es ihnen an Kraft zu einem eigenen kommunistischen Predigtstil fehlte, die althergebrachten Gesten der Negerpriester, sie stellten sich aufrecht hin, warfen den Kopf zurück und hämmerten unter zuckenden Bewegungen mit der rechten Handkante auf die ausgestreckte linke Hand ein, um so ihre Thesen in der Manier Lenins wirkungsvoll an den Mann zu bringen. Mit harten Stimmen, aus denen die bäuerliche Schwerfälligkeit ihrer Sprechweise verschwunden war, stießen sie ihre abgerissenen Sätze hervor und gingen dabei mit forschen Schritten auf und ab. Bei Debatten unterbrachen sie ihre Gegner in einem um eine Oktave höher geschraubten Ton, und wenn ihre Gegner ebenfalls die Stimme erhoben, dann schrien die Kommunisten noch lauter, so daß überall im Park ein einziges Gebrüll und Geschrei zu hören war. Daher konnte sich hier an Wahrheit nur das durchsetzen, was laut gebrüllt wurde und rasch zu verstehen war. Ihre Selbstsicherheit schien gestützt durch einen Fundus an Kenntnissen, zu denen dem einfachen Mann der Zugang versperrt war, aber es genügte, sie einen Tag lang bei ihren Aktivitäten zu beobachten, um hinter ihre Schliche zu kommen. Hatte man sie eine Stunde reden gehört, dann offenbarte sich einem die fanatische Intoleranz, mit der sie sich gegen neue Ideen, neue Fakten und Empfindungen und neue Lebensanschauungen verschlossen. Sie lehnten Bücher ab, die sie nie gelesen hatten, und Leute, die sie nicht kannten, und verwarfen Ideen, die sie nicht verstanden, und Lehren, deren Namen
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sie nicht aussprechen konnten. Der Kommunismus, statt sie zu befähigen, das Leben zu meistern und sich mit Feuereifer neuer Ideen anzunehmen, hatte sie noch tiefer in den Sumpf der Ignoranz hineingezogen, als sie es vorher schon gewesen waren. Als Hoover drohte, den Marsch der Arbeiter, die in Washington für Gewinnbeteiligung demonstrieren wollten, auflösen zu lassen, sagte ein schwarzer kommunistischer Redner: »Wenn er gegen die Demonstranten in Washington vorgeht, wird das Volk sich erheben und Revolution machen!« Ich ging zu ihm, um von ihm zu erfahren, wie er das meinte. »Sie wissen genau, daß selbst dann keine Revolution stattfinden wird, wenn die Armee den Demonstrationszug zerschlägt und Blut fließt«, sagte ich. »Sie haben keine Ahnung, wie groß die Empörung der Masse ist!« fuhr er mich wild an. »Sie scheinen nicht zu wissen, was alles es erfordert, eine Revolution zustandezubringen«, erklärte ich ihm. »Revolutionen sind selten.« »Sie unterschätzen die Masse«, belehrte er mich. »Nein, ich kenne die schwarze Bevölkerung sehr genau«, sagte ich. »Und ich glaube nicht, daß eine Revolution in der Luft liegt. Revolutionen setzen eine konkrete geschichtliche Entwicklung voraus …« »Sie sind ein Intellektueller«, sagte er verächtlich. Einige Tage später, als Hoover die Demonstranten mit aufgepflanzten Seitengewehren hatte vertreiben lassen, sprach ich ihn darauf an: »Was ist mit der Revolution, die Sie für diesen Fall vorausgesagt hatten?« »Die Voraussetzungen waren nicht gegeben«, erwiderte er schulterzuckend. 54
Ich ging fort und fragte mich, warum er diese vielen lächerlichen Übertreibungen für notwendig hielt. Ich hatte nichts gegen die Art, wie der Kommunismus die Welt im allgemeinen beurteilte, nur schien mir ihre Weltsicht zu simpel, als daß sie hätte überzeugen können. Daß sie bereit waren, etwas zu unternehmen, hielt ich für richtig, aber sie schienen mir Phantasten und in ihren Ansichten töricht. Für sie gab es kein Gestern und kein Morgen, nur den jetzt gelebten Tag, und ihre Hauptaufgabe sahen sie darin, Gegner, die sich ihnen entgegenstellten, mit allen Mitteln zu vernichten. Nicht selten stießen sie in ihren zügellos rebellischen Reden die einfachen, unterdrückten und Hunger leidenden Neger heftig vor den Kopf. So sagte einmal, gegen die Religion wetternd, einer ihrer Redner: »So etwas wie diesen gottverfluchten Gott gibt’s nicht! Sollte es Ihn doch geben, fordere ich Ihn hiermit auf, mich auf der Stelle zu erschlagen!« Er hielt dramatisch vor seinen zahlreichen schwarzen Zuhörern inne, um Gott eine Chance zu geben, aber Gott regte sich nicht. Daraufhin zog er seine Uhr hervor. »Vielleicht hat Gott mich nicht gehört!« schrie er. »Ich gebe Ihm hiermit zwei Minuten Zeit!« Und dann voller Hohn: »Mister Gott, schlag mich tot!« Er wartete und sah spöttisch auf seine Uhr. Die Zuhörer lachten gezwungen. »Ich will euch sagen, wo ihr Gott findet«, fuhr der Redner mit harter, sich überschlagender Stimme fort. »Nehmt um Mitternacht, wenn’s regnet, euren Hut und stellt ihn in einem dunklen Zimmer umgekehrt auf den Fußboden – dann habt ihr Gott!« Ich mußte zugeben, so militant hatte ich noch keinen Atheisten randalieren hören, aber die Leute schienen eher erschreckt und amüsiert als von seiner Beweisführung überzeugt zu sein. 55
»Wenn es einen Gott da oben in dem leeren Himmel gäbe«, brüllte er, »dann langte ich hoch, packte Ihn an seinem Bart und risse Ihn hier auf die hungernde Erde und schnitt’ Ihm die Kehle durch!« Er wackelte mit dem Kopf. »Gott soll sich ja nicht unterstehn!« Einen Moment schwiegen die Zuhörer schockiert, dann aber johlten sie vor Entzücken. Ich schüttelte den Kopf und ging. Das war nicht die richtige Methode, den leer gewordenen Glauben der Leute zu zerstören … Sie handelten wie verantwortungslose Kinder … Ich war jetzt davon überzeugt, daß sie den Neger in seinem komplizierten Wesen nicht kannten, nicht wußten, wie groß die Aufgabe war, die sie sich vorgenommen hatten. Sie lehnten die herrschenden Zustände ab, und das schien mir in der Tat der erste Schritt, um dem Leben gegenüber zu einer konstruktiven Haltung zu kommen. Ich glaubte, daß man die Welt erst dann richtig sah, wenn man sie verändert haben wollte. Diese Männer aber verwarfen das, was sie vor Augen hatten, ohne zu wissen, was und warum sie es verwarfen. Ich wußte, daß der Neger unter den ihm in Amerika auferlegten Bedingungen kein wirkliches, menschenwürdiges Leben führen konnte und daß dies aus anderen Gründen auch mit Amerika selbst der Fall war. Mir schien darum, daß der Neger, wenn er seine Probleme löste, unendlich viel mehr als nur sein eigenes Problem löste. Ich war der Überzeugung, daß der Neger seine Probleme nur dann lösen konnte, wenn die tiefere Problematik der amerikanischen Zivilisation ins Auge gefaßt und gelöst würde. Und weil der Neger in seinem Ausgestoßensein schlimmer dran war als alle anderen ausgestoßenen Volksgruppen Amerikas, war ich der Ansicht, daß keine dieser Gruppen mit den Problemen, die uns das Leben in Amerika stellte, besser in Angriff nehmen könnte als eben der Neger.
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Aber als ich mir diese schwarzen kommunistischen Redner anhörte, fragte ich mich, ob der Neger, durch dreihundertjährige Unterdrückung zermürbt, jemals Angst und Verkümmerung würde überwinden und sich einer solchen Aufgabe gewachsen zeigen könnte. Würde der Neger je seiner selbst gewahr und sich bewußt werden, was ihm innerhalb der westlichen Gesellschaft und ihrer Bestrebungen angetan worden war? Mir schien, daß der Neger, wollte er sich retten, sich selbst vergessen und versuchen müßte, eine verwirrte, materialistische Nation vor ihrem Abtreiben in die Selbstzerstörung zu retten. Würde der Neger imstande sein, dieses Wunder zu vollbringen? Konnte er sein Bett aufheben und heimgehen? Wahlen standen bevor, und ein schwarzer, republikanischer Wahlkreisleiter bat mich, ihm beim Eintreiben von Wahlstimmen behilflich zu sein. Mich interessierten die Kandidaten nicht, aber ich brauchte das Geld. Ich ging mit dem Mann von Tür zu Tür und entdeckte, daß die ganze Geschichte nichts als ein einziges Bestechungsmanöver war, daß die Leute ihre Stimme für drei Dollar hergaben, wenn sie dafür ihren illegalen Handel mit Alkohol und Sex fortsetzen durften. Am Wahltag ging ich in die Wahlkabine, zog den Vorhang hinter mir zu und entfaltete die Wahlzettel. Während ich dort stand, verwünschte ich die Politik mit ihren schmutzigen Begleiterscheinungen. »Big Bill« Thompson saß am Hebel der örtlichen, republikanischen Wahlapparatur; ich wußte, daß er die Stimmen der Neger brauchte, um die Bezirksverwaltung in die Hand zu bekommen. Er war außerdem an umfassenden politischen Machenschaften beteiligt, von denen die Neger, politisch völlig unbedarft, keine Ahnung hatten. Ich nahm meinen Bleistift und schrieb energisch quer über die Wahlzettel: ICH PROTESTIERE GEGEN DIESEN BETRUG
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Ich wußte, daß es nicht das geringste nützen würde. Aber irgend jemand, das wollte ich, sollte erfahren, daß es in der Masse der Unwissenden und Analphabeten des Schwarzen Gürtels zumindest eine Person gab, die wußte, was hier gespielt wurde. Ich holte mir meine zehn Dollar und ging nach Hause. Die Wirtschaftskrise verschlimmerte sich, und an hungernde Neger konnte ich nun keine Versicherungspolicen mehr verkaufen. Ich versetzte meine Uhr und machte mich auf die Suche nach einer billigeren Bleibe. In einem halb verfallenen Gebäude mietete ich so etwas wie eine Wohnung. Es war trostlos; der Gips bröckelte von den Wänden, die Stufen der Holztreppe waren durchgetreten. Als meine Mutter das sah, fing sie an zu weinen. Mir war elend zumute. Ich hatte nichts von dem erreicht, was ich mir in dieser Stadt vorgenommen hatte. Eines Morgens sagte mir meine Mutter, es sei nichts mehr zu Essen da. Ich wußte, daß in der Stadt Fürsorgestellen eingerichtet worden waren, aber jedesmal, wenn ich zu einer hingehen wollte, hielt mich die brennende Scham zurück. Stundenlang saß ich hungrig da und mied die Augen meiner Mutter. Schließlich stand ich auf, nahm Hut und Mantel und verließ die Wohnung. Als ich, um Brot zu erbetteln, zur Amtsstelle für öffentliche Wohlfahrt in Cook County ging, wußte ich, daß irgend etwas für mich zu Ende gegangen war.
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Als ich zur Fürsorgestelle kam, hatte ich das Gefühl, daß ich nun meinen Hunger in aller Öffentlichkeit beichtete. Ich wartete Stunden, bedrückt von all den hungernden Menschen, die um mich herumsaßen. Schließlich kam ich an die Reihe, und eine Negerin, die dem Mittelstand angehörte, fragte mich über mein Leben aus. Ich hatte dann wieder draußen zu warten und bemerkte, daß hier unter den Leuten irgend etwas vorging. Die schwarzen Männer und Frauen unterhielten sich murmelnd miteinander; keiner hatte den anderen gekannt, als sie hierher gekommen waren, aber jetzt legten sich ihre Schüchternheit und Beschämtheit allmählich, und sie tauschten Erfahrungen aus. Sie hatten vorher als Einzelpersonen gelebt, jeder ein wenig in Furcht vor dem anderen, jeder auf der Suche nach dem bißchen Vergnügen, das ihm, festgelegt wie er war auf ein bestimmtes Maß an Amerikanertum, zugestanden wurde. Aber jetzt hatte das Leben sie zusammengewürfelt und zum erstenmal lernten sie Empfindungen und Denkweise ihrer Nachbarn kennen; ihre Gespräche erweckten in ihnen ein Gefühl der Kollektivität, und so streiften sie etwas von ihrer Furcht voreinander ab. Ahnten die Beamten der Wohlfahrt, was sich hier zutrug? Nein. Hätten sie davon gewußt, dann hätten sie es bestimmt unterbunden. Aber sie sahen ihre »Klienten« mit den Augen von Beamten, sie sahen nur, was ihr »Amt« ihnen vorschrieb. Als ich den Gesprächen zuhörte, erkannte ich, wie viele Illusionen ihnen inzwischen zerronnen waren. Diese Leute wußten jetzt, daß sie schon in der Vergangenheit betrogen, ausgestoßen worden waren, sie wußten nicht, was ihnen in der Zukunft bevorstand, und auch nicht, was sie wollten. Ja, einiges
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von dem, was die Kommunisten sagten, war richtig; sie bestanden darauf, daß es in der Geschichte Zeiten gab, in denen die herrschende Klasse abgelöst werden mußte, und so erlebte ich hier die ersten Ansätze von Anarchie. Daß die Herrschenden die Bildung eines solchen veränderten Bewußtseins bei Leuten wie diesen zuließen, war ein Beweis dafür, daß sie, vorausgesetzt, sie wollten sich und ihren Stand retten, nicht wußten, was sie taten. Hätten sie begriffen, was vorging, dann würden sie es niemals Millionen von verwirrten und unterdrückten Menschen erlaubt haben, stundenlang zusammenzusitzen und sich zu unterhalten, denn aus diesen Gesprächen erwuchs ihnen ein neuer Lebensbegriff. Und hatte sich der erst einmal gebildet, dann konnte ihn keine Macht auf Erden ändern. Ich verließ die Fürsorgestelle mit der Zusage, daß man mich mit Lebensmitteln versorgen würde, aber ich verließ sie auch mit einer Erfahrung, um die man mich dort gewiß nicht hatte bereichern wollen. Ich hatte erfahren, daß es möglich war, in diesen von der Gesellschaft, in der sie lebten, verworfenen Menschen ein neues Lebensverständnis zu wecken; in Menschen also, welche die Chicagoer Daily Tribune verächtlich als »Müßiggänger« abtat – als hätten diese Leute ihr gegenwärtiges Elend absichtlich auf sich gezogen. Wer würde imstande sein, diesen Leuten eine sinnvolle Lebensweise zu ermöglichen? Nach kommunistischer Theorie waren sie die Gestalter der Zukunft der Menschheit, aber die kommunistischen Reden, die ich im Park gehört hatte, sprachen dieser Theorie höhn. Diesen Menschen fehlte natürlich – jede Bereitschaft zur Revolution; sie hatten sich nicht auf eigene Faust von ihrer Vergangenheit abgewandt, sondern weil sie so wie bisher einfach nicht mehr leben konnten. Welchem neuen Glauben würden sie sich zuwenden? Der Tag, an dem ich Brot von den städtischen Beamten erbettelte, war zugleich
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der Tag, an dem ich erlebte, daß ich in meiner Einsamkeit nicht allein war, daß die Gesellschaft Millionen anderen das gleiche Los beschieden hatte. Aber wie kam ich unter ihnen zurecht? Wie viele von ihnen begriffen, was vor sich ging? Mir drängten sich Fragen über Fragen auf, die ich nicht beantworten konnte. Ich begann meine Umwelt allmählich zu verstehen und angesichts der Verhältnisse, unter denen ich lebte, einen Sinn für die einzuschlagende Richtung zu entwickeln. Ich spürte etwas so kraftvoll in mir wirken, daß ich es nicht auszudrücken vermochte. Meine Art zu sprechen und mein Verhalten änderten sich. Der Zynismus fiel von mir ab. Ich schloß mich auf und stellte Fragen. Ich wollte wissen, was vorging. (Wenn ich der herrschenden Schicht angehört hätte, dann hätte ich überall im Lande Posten aufgestellt, nicht um aufsässige Arbeiter zu bespitzeln oder zusammenzuknüppeln, noch um Streiks zu brechen oder Verbände zu zerschlagen, sondern um jene aufzuspüren, die sich nicht mehr in das System fügen, in dem sie leben. Ich würde verkünden, daß die eigentliche Gefahr nicht von jenen droht, die sich ihren Anteil am Wohlstand gewalttätig zu beschaffen suchen, noch von jenen, die ihr Eigentum ebenfalls mit Gewalt zu verteidigen bereit sind, weil nämlich beide Gruppen durch ihre Aktionen die Werte des Systems, in dem sie leben, bestätigen und so das System stützen. Die Millionen, die ich fürchtete, wären jene, welche auf die von der Nation angebotenen Preise keinen Wert legen, denn in ihnen, selbst wenn sie es nicht wissen, hat sich die Revolution vollzogen und wartet nur auf den günstigen Augenblick, um sich in einer neuen, bisher fremden Lebensweise zu offenbaren. Ich glaube, daß in den Beziehungen der Neger zu Amerika eine sinnbildhafte Bedeutung liegt und daß letztendlich aus den Reaktionen der Neger auf ihr Eingepferchtsein eine
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Lehre für die Zukunft Amerikas gezogen werden kann. Den Negern wird in einer Sprache, die sie einfach nicht mißverstehen können, klargemacht, daß ihnen ihr Geburtsland nicht gehört; und wenn sie, getrieben von Impulsen, die sie mit den Weißen gemein haben, versuchen, Anspruch auf ihr Geburtsrecht zu erheben, zahlen die Weißen ihnen das mit Terror heim, wobei sie durchaus die Konsequenzen einkalkulieren, wenn die Neger gänzlich aufgäben. Sie kommen gar nicht auf den Gedanken, daß sie einer weit schlimmeren Situation ausgesetzt wären, wenn sie es statt mit Negern, die von sozialer Aggressivität getrieben werden, mit solchen zu tun hätten, die überhaupt keine Ansprüche mehr stellen. Ich weiß, wie Neger auf ihr Los reagieren, und kann daher behaupten, daß sich ein Mensch allein unmöglich des Landesverrats schuldig machen kann, daß Aufruhr nur die verzweifelte Antwort an jene ist, die seine Umwelt so verzerren, daß er nicht mehr voll teilhaben kann am Geist und Wesen seines Geburtslandes. Landesverrat ist ein vom Staat auferzwungenes Verbrechen.) Weihnachten kam, und wieder wurde ich vorübergehend von der Post eingestellt. Hier traf ich auch den jungen Iren, und wir sprachen über das, was sich inzwischen ereignet hatte, über die Millionenheere von Arbeitslosen und die um sich greifenden radikalen Ausschreitungen. Ich stellte fest, daß sich die Haltung der Weißen, mit denen ich zusammenkam, geändert hatte; auch sie waren von dem allgemeinen Elend betroffen und sahen nun die Neger mit anderen Augen. Zum erstenmal wurde ich von ihnen in ihre Wohnungen eingeladen. Als ich von der Post entlassen wurde, vermittelte mich die Wohlfahrt als Hilfskraft an ein medizinisches Forschungsinstitut in einem der größten und reichsten Krankenhäuser Chicagos. Ich säuberte Operationsräume und die Käfige von
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Hunden, Ratten, Mäusen und Kaninchen und fütterte Meerschweinchen. Mit mir arbeiteten dort noch drei Neger, und in unserer untergeordneten Position hatten wir uns – sofern wir nicht mit irgendeiner Aufgabe beauftragt waren – in den Kellerfluren aufzuhalten, damit wir nicht mit weißen Schwestern, Ärzten oder Besuchern zusammenkamen. Wie strikt man die von der Krankenhausleitung verfügte Rassentrennung durchführte, wurde mir eines Morgens klar, als ich auf einem der unteren Korridore entlangging. Ich sah dort in langen Reihen zwei Gruppen von Frauen auf mich zukommen. Die erste Gruppe bestand aus weißen Mädchen in gestärkten, weißen schimmernden Schwesterntrachten; sie waren schlank und gut gebaut und gingen mit forschen Schritten und erhobenen Schultern vorbei; in ihren hellen, lebhaften Gesichtern drückte sich Zielstrebigkeit aus. Ihnen folgte in lockerer Anordnung eine Gruppe von schwarzen, alt wirkenden und fetten Mädchen in zerlumpten Baumwollkleidern, die Besen, Wischtücher, Staubwedel und Blechdosen mit Seifenpulver mit sich trugen … Ich fragte mich, welches Gesetz dieses Universums hier eine Vermischung nicht erlaubte. Die Sonne hätte nicht aufgehört zu scheinen und die Erde hätte sich nach wie vor um ihre Achse gedreht, wenn einige der schwarzen Mädchen in der ersten und ein paar Weiße in der zweiten Gruppe gegangen wären. Der Statusunterschied, der sich hier zeigte, war allein durch die Rassenzugehörigkeit bestimmt. Unter den drei Negern, mit denen ich arbeitete, war ein junger Mann meines Alters, der Bill hieß und entweder die ganze Zeit schläfrig gähnte oder betrunken war. Ich hatte ihn, der sein Haar glatt trug, in Verdacht, daß er in dem Heu zum Füttern der Meerschweinchen eine Flasche versteckt hielt. Ich mochte ihn ebensowenig wie er mich, wobei ich mir im Unterschied zu ihm einige Mühe gab, meine Abneigung zu ver-
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bergen. Außer unserer Hautfarbe und unserem Los als Schwarze hatten wir nichts gemein. Während ich mich in meiner Niedergeschlagenheit zu beherrschen suchte, meinte er, seinen Unmut in Schnaps ertränken zu können. Ich versuchte ihn oft ins Gespräch zu ziehen und ihm in einfachen Worten die eine oder andere meiner Ideen zu erläutern, wobei er mir dumpf schweigend zuhörte. Und dann eines Tages kam er mit zornigem Gesicht zu mir. »Ich hab’s«, sagte er. »Was?« fragte ich. »Das mit dem Rassenproblem, wovon du dauernd redest«, sagte er. »Und?« »Das ist doch ganz einfach«, erwiderte er ernsthaft. »Soll die Regierung doch jedem Mann ein Gewehr und fünf Patronen geben, und dann exerzier’n wir das ganze nochmal durch. Genau wie es am Anfang gewesen ist. Und wer dabei, ob weiß oder schwarz, den Kürzeren zieht, der wird von den andern regiert.« Seine Primitivität erschreckte mich. Ich war noch nie einem Neger begegnet, der so hoffnungslos brutalisiert war. Ich hörte auf, ihn mit meinen Ideen vollzustopfen, weil ich befürchtete, er könnte sich im Suff zu irgendwelchen idiotischen Bravourtaten hinreißen lassen. Die beiden anderen Neger waren schon älter und seit fünfzehn Jahren oder mehr in dem Institut beschäftigt. Der eine, ein untersetzter, muffiger Junggeselle, hieß Brand; der andere, ein großer, gelbhäutiger Mann mit Brille, hieß Cooke. Er benutzte seine Freizeit dazu, sich über das Weltgeschehen mit Hilfe der Daily Tribüne auf dem Laufenden zu halten. Brand und Cooke konnten sich aus Gründen, die ich nie herausbekommen habe, nicht ausstehen, und so gerieten sie oft miteinander in Streit.
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Als ich in dem Institut zu arbeiten begann, erinnerte ich mich, daß ich in meinen Jugendträumen selbst einmal Arzt und Forscher hatte werden wollen. Jeden Tag sah ich jüdische Jungen und Mädchen, die in Chemie und medizinischen Fächern unterrichtet wurden, eine Ausbildung, die schwarzen Jungen oder Mädchen nie hätte zuteil werden können. Wenn ich allein war, ging ich umher und steckte den Finger in seltsame Chemikalien und beobachtete komplizierte Apparate, die rote und schwarze Linien auf Papier zeichneten. Manchmal blieb ich stehen und sah mich in den Räumen um, schaute zur Decke und auf die Schreibtische der weißen Ärzte und hatte, ohne daß ich mich je ganz daran gewöhnte, das seltsame Gefühl, als blickte ich hier in die Welt einer anderen Rasse. Die drei anderen Neger amüsierten sich über mein Interesse an den Vorgängen dort. Ihnen war »all dieser Kram der Weißen« gleichgültig, während ich wissen wollte, ob der Zustand der auf Diabetes behandelten Hunde sich besserte und wie die mit Krebs infizierten Ratten und Mäuse auf die Behandlung reagierten. Mich interessierte das zugrundeliegende Prinzip bei den Aschheim-Zondek- und den Wassermann-Tests, die an Kaninchen und Meerschweinchen vorgenommen wurden. Aber wenn ich schüchtern fragte, wurde ich nur gewahr, daß selbst jüdische Ärzte die sadistischen, von geborenen Amerikanern geübten Methoden übernommen hatten, mit denen man Neger demütigte. »Wenn du zuviel weißt, Junge, explodiert eines Tages dein Gehirn«, sagte einmal einer der Ärzte. Jeden Samstagmorgen hatte ich einem jungen jüdischen Arzt zu assistieren, der den frisch aus dem städtischen Tierasyl angelieferten Hunden die Stimmbänder durchschnitt. Zweck dieser Übung war, den Hunden die Stimme zu nehmen, damit sie nicht durch ihr Geheul die Patienten in den anderen
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Teilen des Krankenhauses störten. Ich mußte die Hunde halten, während der Arzt ihnen zur Betäubung Nembutal in die Venen spritzte; dann hielt ich den Rachen des Tieres auf, so daß der Arzt die Stimmbänder mit dem Skalpell durchtrennen konnte. Wenn die Hunde später zu sich kamen, hoben sie die Köpfe zur Decke und brachen in ein lautloses Wehgeheul aus. Dieser Anblick prägte sich mir tief ein als Sinnbild stummen Leidens. Nembutal war eine wirkungsvolle, für mich höchst mysteriöse Flüssigkeit, aber wenn ich nach der Zusammensetzung fragte, erhielt ich keine einzige hilfreiche Antwort. Der junge jüdische Arzt ging gar nicht erst auf meine Frage ein, sondern sagte: »Komm, komm. Bring mir den nächsten Hund. Ich kann mich hiermit nicht den ganzen Tag abgeben.« Eines Samstagsmorgens, als der Arzt mit dem Durchschneiden der Stimmbänder fertig war, ging er und ließ das Nembutal auf dem Tisch stehen. Ich nahm das Fläschchen, entkorkte es und roch daran. Die Flüssigkeit war geruchlos. Plötzlich kam Brand mit verzerrtem Gesicht angerannt. »Was tust du da?« fragte er. »Ich hab’ bloß an dem Zeugs gerochen«, sagte ich. »Das hast du wirklich getan?« fragte er aufgeregt. »Ja.« »O Gott!« rief er aus. »Was ist denn?« fragte ich ihn. »Das hätt’st du nicht tun soll’n!« brüllte er mich an. »Aber warum nicht?« Er packte mich am Arm und zog mich hinter sich her. »Komm schnell!« rief er und stieß die Tür auf. »Aber was soll das?« fragte ich. »Ich muß mit dir zum Arzt, eh es zu spät ist«, sagte er keuchend.
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Hatte meine Neugier mich dazu verleitet, etwas Gefährliches einzuatmen? »Aber … Ist das Zeug etwa giftig?« »Los, Junge, lauf!« sagte er, mich hinter sich herziehend. »Du fällst sonst tot um.« Voller Angst stürzte ich hinter Brand aus dem Raum, rannte über einen Lichthof in einen anderen Raum und dann einen langen Korridor hinunter. Ich wollte Brand nach den Symptomen fragen, die sich vielleicht schon zeigten, aber wir liefen zu schnell. Brand blieb schließlich, nach Luft schnappend, stehen. Mein Herz schlug wild, und das Blut pochte mir in den Schläfen. Brand ließ sich auf den Zementboden fallen, rollte sich auf den Rücken und schüttete sich kreischend vor Lachen aus. Er hämmerte mit den Fäusten auf den Zement, stöhnte und gickerte. »Werd nun bloß nicht böse auf mich«, lachte er keuchend. »Zum Teufel mit dir«, sagte ich. »Ich konnte einfach nicht anders«, kicherte er. »Du gucktest mich so blöd an, als würd’st du mir alles glauben. Mann, hast du Schiß gehabt …« Er lehnte sich gegen die Wand, lachte wieder los und stampfte mit den Füßen. Ich war wütend, weil er die Geschichte bestimmt rumerzählen würde. Bill und Cooke, wußte ich, würden sich nie in Bereiche wagen, wo es für Neger mulmig werden konnte, also würden sie auch auf so eine Sache nicht reinfallen. Und erfuhren sie davon, dann hätten sie noch monatelang etwas zu lachen. »Brand, wenn du das erzählst, bring’ ich dich um«, versicherte ich ihm. »Bist doch nicht etwa böse, was?« sagte er lachend und starrte mich durch Tränen an. Schniefend tappste Brand vor mir her. Ich folgte ihm zu dem Raum, in dem die Hunde untergebracht waren. Den ganzen
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Tag hielt er in seiner Arbeit immer wieder inne und gickerte los, verbarg sein Lächeln dann hinter der vorgehaltenen Hand und sah mich kopfschüttelnd von der Seite an. Eine Woche lang konnte er sich immer wieder vor Lachen nicht halten. Ich hielt an mich und gönnte ihm den Spaß. In medizinischen Büchern fand ich schließlich heraus, woraus Nembutal zusammengesetzt war, aber ich habe es Brand nie erzählt. Eines Morgens im Sommer kam bei Arbeitsbeginn ein junger Jude mit einer Stoppuhr zu mir. »Der Doktor will, daß ich die Zeit nehme, um zu sehen, wie lange du zum Saubermachen eines Zimmers brauchst«, sagte er. »Wir versuchen, die Leistungsfähigkeit des Instituts so effektiv wie möglich zu gestalten.« »Ich tu’ meine Arbeit in angemessener Zeit«, sagte ich. »Der Chef hat’s so angeordnet«, sagte er. »Warum arbeiten zur Abwechslung nicht mal Sie ?« fuhr ich ihn verärgert an. »Hör zu«, sagte er und zeigte auf seine Uhr. »Dies hier ist meine Arbeit. So, und jetzt arbeitest du.« Ich holte mir Eimer und Besen, besprühte den Raum mit einem Desinfektionsmittel und schrubbte das geronnene Blut und die verkrusteten Exkremente von Hunden, Ratten und Kaninchen weg. Die Normaltemperatur lag in diesem Raum bei dreißig Grad, steigerte sich aber bei Sonneneinstrahlung auf fast vierzig. Mit nacktem Oberkörper schrubbte ich stetig wie eine Maschine und hörte, als ich mit dem Raum fertig war, den jungen Mann auf den Knopf seiner Stoppuhr drükken. Ich arbeitete von sieben Uhr morgens bis Mittag und war schlapp und wie ausgewrungen. »Na, wie ist es?« fragte ich. »Du hast für den letzten Raum siebzehn Minuten gebraucht«, sagte er. »Das sollte auch für alle anderen Räume die Norm sein.« 68
»Aber dieser letzte war nicht sehr schmutzig«, sagte ich. »Du hast siebzehn Räume sauberzumachen«, fuhr er fort, als hätte ich nichts gesagt. »Siebzehn mal siebzehn macht vier Stunden und neunundvierzig Minuten.« Er schrieb etwas auf einen Block. »Nach dem Essen schrubbst du die fünf Steintreppen. Ich habe bei einem Jungen die Zeit genommen, die er für eine Stufe brauchte, und sie mit der Zahl der Stufen multipliziert. Bis sechs müßtest du fertig sein.« »Und wenn ich mich zwischendrin ausruhen muß?« fragte ich. »Du wirst das schon schaffen«, sagte er und ging. Nie habe ich mich so sehr als Sklave gefühlt wie an den Nachmittagen, an denen ich die Steintreppen schrubbte. Um es in der Zeit zu schaffen, besprengte ich gleich fünf Stufen und streute Seifenpulver darauf, und dann kam ein weißer Arzt oder eine Schwester und, statt die eingeseiften Stufen zu umgehen, traten sie darauf und beschmutzten mit dreckigem Wasser die Stufen, die ich schon saubergemacht hatte. Um das zu vermeiden, schrubbte ich nur zwei Stufen auf einmal; eine Höhe, die ein zehnjähriges Kind mit einem Schritt leicht überwunden hätte. Aber das nützte mir nichts. Die Weißen stapften weiter mit ihren Schuhen in das dreckige Wasser und beschmutzten damit die sauberen Stufen. Wenn ich jemals Wut auf gedankenlose Weiße gehabt habe, dann war das in diesem Moment. Kein einziges Mal während meiner Zeit in dem Institut zeigte sich ein Weißer einsichtig genug, die nassen Stufen zu meiden. Ich lag auf den Knien, schrubbte, schwitzte, setzte voll das bißchen Kraft ein, das ich aus meiner mageren Kost gewonnen hatte, und dann hörte ich sich Füße nähern. Ich hielt inne und fluchte mit zusammengebissenen Zähnen: »Diese Scheißkerle machen mir jetzt wieder die Stufen drekkig, soll der Teufel sie holen!«
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Manchmal bemerkte ein Weißer, daß er mit Schmutzwasser an den Schuhen auf die Stufen getreten war, und sah dann sadistisch lächelnd auf mich herab und sagte: »Mann, wir halten dich hier ganz schön in Trab, was?« Und zum Antworten fehlten mir einfach die Worte. Der Streit zwischen Brand und Cooke ging unentwegt weiter. Obwohl sie tagtäglich in einem Gebäude arbeiteten, in dem auf wissenschaftlichem Gebiet Geschichte gemacht wurde, glomm nicht ein einziges Mal der Funke der Neugier in ihren Augen. Sie waren auf dem durch ihre Rasse bestimmten »Platz« wie festgepflockt und hatten gelernt, nur einen Teil der Weißen und deren Welt zu sehen, ebenso wie die Weißen sich angewöhnt hatten, nur einen Teil vom Leben der Schwarzen und ihrer Welt zu sehen. Vielleicht bildeten sich Brand und Cooke in ihrer abgrundtiefen Interesselosigkeit und ihren kindisch übertriebenen, kleinlichen Streitereien ihren Haß aufeinander nur ein, um überhaupt irgend etwas zu fühlen. Oder vielleicht wühlte in ihnen ein vager, durch die ewige Frustration ihres Lebens verursachter Schmerz, dessen Herkunft ihnen unbekannt war; und, durchzuckte er sie, dann wirbelten sie herum und schnappten ins Leere wie jene ihrer Stimme beraubten Hunde. Sie stritten sich über das Wetter, über Sport, Sex, Krieg, Rasse, Politik und Religion, wobei keiner von den beiden sich bei diesen Themen wirklich auskannte, aber je weniger sie wußten, desto heißer ging es zwischen ihnen her. Eines Mittags im Winter erreichte dieses aufeinander Herumhacken seinen Höhepunkt. Es war unvorstellbar kalt, und eisige Schneeböen fegten mit Blizzardstärke durch die Straßen Chicagos. Die Tür zum Raum mit den Tieren war geschlossen, denn wir hatten gefordert, daß man uns eine Stunde zum Essen und Ausruhen zustand. Bill und ich saßen auf Holzkisten und aßen unseren Lunch aus Papiertüten.
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Brand wusch sich die Hände am Wasserbecken. Cooke saß auf einem wackeligen Stuhl, kaute auf einem Apfel herum und las die Daily Tribüne. Hin und wieder hob einer der stimmlosen Hunde die Schnauze zur Decke und heulte sie stumm an. Der Raum war vollgestellt mit vielen Reihen hoher Metallgestelle. Auf diesen Gestellen standen die Käfige mit den Hunden, Ratten, Mäusen, Kaninchen und Meerschweinchen. An jedem Käfig war ein Anhänger mit einer unleserlichen wissenschaftlichen Aufschrift befestigt. An den Wänden zogen sich Karten mit roten und schwarzen, im Zickzack verlaufenden Linien hin, an denen der Erfolg oder Mißerfolg der verschiedenen Experimente abzulesen war. Unbeachtet tönte das einsame Piepen von Meerschweinchen zu uns herüber. Heu raschelte unter den rastlos in ihren Käfigen herumhüpfenden Kaninchen. Eine Ratte huschte in ihrem Metallgefängnis umher. Cooke, um uns aufmerksam zu machen, tippte auf seine Zeitung. »Es heißt hier«, murmelte er, einen zerkauten Apfel im Mund, »daß dies der kälteste Tag seit 1888 ist.« Bill und ich schwiegen desinteressiert. Brand kicherte leise. »Was lachst du so blöd?« wandte sich Cooke an Brand. »Wer glaubt schon, was in der Tribune steht?« sagte Brand. »Was redest du da?« sagte Cooke. »Das ist immerhin die größte Zeitung der Welt.« Brand antwortete nicht; er schüttelte mitleidig den Kopf und gluckste vor sich hin. »Hör auf mit dem dämlichen Lachen!« sagte Cooke wütend. »Ich lach’ soviel ich will«, sagte Brand. »Das ist Unsinn, was du sagst. Der Herald-Examiner schreibt, es ist der kälteste Tag seit 1873.« »Was die Trib sagt, stimmt«, konterte Cooke. »Sie ist älter als der Examiner.«
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»Nichts stimmt, was die Trib sagt«, brüllte Brand, um Cooke zu übertönen. »Wie kommst du dazu, das zu behaupten!« fuhr ihn Cooke wütend an. Der Streit wurde immer heftiger, bis Cooke schließlich schrie, er würde Brand, wenn der nicht das Maul hielte, die »schwarze Kehle« durchschneiden. Brand, von dessen Händen das seifige Wasser auf den Boden tropfte, fuhr mit wildfunkelnden Augen herum. »Nimm das zurück«, sagte er. »Nichts nehm’ ich zurück!« Und wenn du dich auf den Kopf stellst!« forderte Cooke ihn höhnisch heraus. Die beiden älteren Männer starrten einander an. Ich fragte mich, ob sie es wirklich ernst meinten, oder ob sich die Sache, wie so oft zwischen ihnen, harmlos im Sande verlaufen würde. Plötzlich ließ Cooke dieDaily Tribüne fallen und zog ein langes Messer aus der Tasche; er drückte auf einen Knopf am Griff, und eine blitzende Stahlklinge sprang heraus. Brand fuhr zurück und packte eine Eishacke, die in einem Brett über dem Waschbecken steckte. »Steck’ das Messer weg«, sagte Brand. »Komm’ mir nicht zu nah, oder ich schneid’ dir die Kehle durch«, warnte ihn Cooke. Brand sprang mit der Eishacke vor, und Cooke wich außer Reichweite zurück. Sie umkreisten einander wie Kämpfer im Ring. Die mit Krebs und Tuberkulose infizierten Ratten und Mäuse sprangen in ihren Käfigen herum. Die Meerschweinchen quietschten verschreckt. Die diabetischen Hunde fletschten die Zähne und bellten lautlos zu uns herüber. Die Versuchskaninchen legten die Löffel an und versuchten sich in ihren Käfigen zu verstecken. Cooke duckte sich und machte einen Ausfall mit seinem Messer. Sprachlos vor Über-
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raschung sprangen Bill und ich auf. Brand wich zurück. Die beiden Männer, die Augen starr und blicklos aufeinander gerichtet, atmeten schwer. »Schluß jetzt, hört auf!« rief ich alarmiert. »Diese gottverdammten Blödlinge kämpfen richtig«, sagte Bill erstaunt. Aufeinander einschlagend jagten sich Brand und Cooke durch die Gänge zwischen den Käfiggestellen. Plötzlich stieß Brand ein Gebrüll aus, sprang auf Cooke los und drängte ihn mit aller Gewalt zurück. Cooke packte Brands Hand mit der Eishacke, um am Zuschlagen zu hindern. Brand riß sich los, griff wieder an und stieß Cooke wuchtig gegen ein Gestell mit Tierkäfigen. Das Gestell schwankte einen Moment, dann kippte es vornüber. Wie Kegel, von der Kugel getroffen, rammten sich die Gestelle ineinander und krachten mit einem Getöse, als bräche das Dach ein, zu Boden, und rasch breitete sich unvorstellbares Chaos aus. Brand und Cooke, vor sich die aufeinander gerichteten Waffen, erstarrten; stocksteif standen sie da und wurden gewahr, was für eine Verwüstung sie angerichtet hatten. Die Gestelle lagen durcheinander am Boden, die Türen der Käfige waren aufgeklappt. In wildem Gewimmel sprangen überall Ratten und Mäuse, Hunde und Kaninchen herum. Die Meerschweinchen quietschten, als stünde der Jüngste Tag bevor. Unter manchen Käfigen lagen eingeklemmte, zerquetschte Tiere. Wir vier sahen einander an. Wir wußten, was das zu bedeuten hatte. Unsere Jobs würden wir wahrscheinlich verlieren. Man hielt uns hier sowieso schon für Schwachköpfe, und wenn die Ärzte sahen, was hier passiert war, würden sie ihre Meinung endgültig bestätigt finden. Bill lief zur Tür und vergewisserte sich, daß sie verschlossen war. Ich sah auf die Uhr
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und stellte fest, daß es halb eins war. Wir hatten noch eine Gnadenfrist von einer halben Stunde. »Kommt jetzt«, sagte Bill kleinmütig, »wir müssen hier sofort aufräumen.« Brand und Cooke starrten einander mißtrauisch an. »Gib mir dein Messer, Cooke«, sagte ich. »Nee! Nimm Brand erst die Eishacke weg«, sagte Cooke. »Das könnt’ dir so passen!« sagte Brand. »Nehmt ihm erst das Messer ab!« Es klopfte an die Tür. »Psssch«, sagte Bill. Wir horchten. Schritte entfernten sich. Wir verlieren alle unseren Job, sagte ich mir. Die Streithähne zu überreden, ihre Waffen abzugeben, war nicht einfach, aber schließlich schafften wir es und konnten anfangen, Ordnung zu machen. Schwerfällig beugte sich Brand herab und zog an einem der Metallgestelle. Cooke bückte sich ebenfalls und half ihm. Sie schienen wie im Traum zu handeln. Kurz darauf jedoch kam die Arbeit in Gang, und alle vier schufteten wir wie wild mit dem Blick auf die Uhr. Während der Arbeit verabredeten wir, die Sache geheimzuhalten. Wir vereinbarten, wir würden den Ärzten – falls einer fragte – erzählen, wir wären in der Mittagspause nicht in diesem Raum gewesen. Das würde auch erklären, warum die Tür nach dem Klopfen nicht aufgemacht worden war. Wir rückten die Gestelle an ihren Platz und stellten die Käfige wieder hinein; dann aber standen wir vor der unlösbaren Aufgabe, die diabetischen Hunde, die Versuchskaninchen und die infizierten Meerschweinchen in den richtigen Käfigen unterzubringen. Ob wir unseren Job behielten, hing davon ab, wie geschickt wir alle Kampfspuren beseitigten. Wir waren auf Vermutungen angewiesen, mußten aber trotzdem versuchen, die Tiere wieder in die richtigen Käfige zu stek-
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ken. Wir wußten, daß bestimmte Ratten oder Mäuse in bestimmte Käfige gehörten, aber welche Ratten oder Mäuse in welche Käfige gehörten, wußten wir nicht. Eine tuberkulöse Maus konnten wir nicht von einer mit Krebs infizierten unterscheiden; die weißen Ärzte hatten dafür gesorgt, daß wir uns nicht auskannten. Sie hatten sich nie die Zeit genommen, Fragen zu beantworten; obwohl wir hier im Institut arbeiteten, wußten wir vom Sinn der Experimente so wenig, als ob wir fernab in einer anderen Welt lebten. Die Ärzte lachten nur über unser, wie sie meinten, kindisches Interesse am Schicksal der Tiere. Zuerst sortierten wir die Hunde, was ziemlich einfach war, denn wir kannten die meisten nach Größe und Farbe des Fells. Bei den Ratten, Mäusen und Meerschweinchen aber standen wir vor einem Rätsel. Wir, die am wenigsten geachteten Personen in diesem großen wissenschaftlichen Institut, steckten die Köpfe zusammen und überlegten. Es war eine höchst seltsame, wissenschaftliche Konferenz; das Schicksal des gesamten medizinischen Forschungsinstituts lag in unseren unwissenden schwarzen Händen. Da die Tiere täglich mehrmals durch unsere Hände gingen, entsannen wir uns, wie viele Ratten, Mäuse oder Meerschweinchen in die einzelnen Käfige gehörten, und wir füllten diese Hals über Kopf mit den wild auf dem Fußboden durcheinanderlaufenden Tieren. Wir stellten dabei fest, daß viele Ratten, Mäuse und Meerschweinchen in dem Tohuwabohu umgekommen waren und nun fehlten. Wir lösten dieses Problem, indem wir die Käfige mit kranken Tieren aus denen mit gesunden, nicht infizierten Tieren auffüllten, und zwar so lange, bis zumindest zahlenmäßig so viele Tiere vorhanden waren, wie die Ärzte sie zu ihren Experimenten brauchten. Als letzte kamen die Kaninchen dran. Wir teilten sie in zwei
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Gruppen, in solche, die Fell auf ihren Bäuchen hatten, und die anderen, die auf der Unterseite kahl waren. Wir wußten, daß alle Kaninchen mit rasierten Bäuchen – so weit immerhin, waren wir wissenschaftlich im Bilde, weil das Rasieren unsere Aufgabe war – Aschheim-Zondek-Tests unterzogen wurden. Aber in welchen Käfig gehörten die einzelnen Tiere? Das wußten wir nicht. Ich löste das Problem auf sehr einfache Weise. Ich zählte die rasierten Kaninchen; es waren siebzehn. Dann zählte ich die Käfige mit dem Anhänger »AschheimZondek« und stellte wahllos in jeden ein rasiertes Kaninchen. So stimmte auch hier zumindest die Zahl. Das Zählen, immerhin, hatte uns das weiße Amerika beigebracht … Als letztes wickelten wir die toten Tiere sorgfältig in Zeitungspapier und versteckten sie in einem Mülleimer. Wenige Minuten vor eins war der Raum in Ordnung, oder es herrschte dort wenigstens das, was wir vier Neger uns als Ordnung vorstellten. Ich schloß die Tür auf, und flüsternd saßen wir abwartend da, schworen uns gegenseitig Geheimhaltung und fragten uns, wie die Ärzte reagieren würden. Schließlich erschien ein grauhaariger, weiß bekittelter, ernst dreinblickender, ebenso schweigsamer wie geflissentlicher Doktor mit Brille, der ein Tablett trug, auf dem sich eine Flasche mit einer geheimnisvollen Flüssigkeit und eine Injektionsspritze befanden. »Meine Ratten, bitte.« Cooke schlurfte heran, um ihn zu bedienen. Wir hielten die Luft an. Cooke nahm den Käfig, von dem er wußte, daß der Arzt ihn sich immer um diese Zeit bringen ließ. Er nahm eine Ratte nach der anderen heraus und reichte sie dem Doktor, der die Flüssigkeit mit ernstem Gesicht subkutan injizierte. »Danke, Cooke«, murmelte er. »Nix zu danken, Sir«, muffelte Cooke, ein Stöhnen unterdrückend.
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Als der Arzt gegangen war, sahen wir einander erstaunt an und wagten kaum zu glauben, daß unser Geheimnis tatsächlich unter uns blieb. Wir waren so aufgeregt, daß wir nicht wußten, ob wir nun lachen oder fluchen sollten. Ein zweiter Arzt erschien. »Ich brauch’ das A-Z-Kaninchen Nummer 14.« »Ja, Sir«, sagte ich. Ich brachte ihm das Kaninchen, und er nahm es mit zum Operationsraum einen Stock höher. Wir waren auf einen Wutausbruch gefaßt. Aber nichts dergleichen geschah. Den ganzen Nachmittag kamen und gingen die Ärzte. Ich unterbrach immer wieder mein Schrubben auf der Treppe, lief in den Raum zu den anderen, um mich nach dem Fortgang der Sache zu erkundigen, erfuhr aber immer nur, daß kein Arzt etwas entdeckt hatte. Bei Arbeitsschluß hatten wir ein Gefühl des Triumphes. »Sie kriegen das nie heraus«, prahlte Cooke flüsternd. Ich merkte, wie Brand erstarrte. Es wühlte in ihm, das sah ich ihm an, gegen Cookes Optimismus anzustreiten, aber der Kampf, den er hinter sich hatte, stand ihm noch so lebhaft vor Augen, daß er kein Wort herausbekam. Wieder verging ein Tag, ohne daß etwas passierte, und am dritten Tag war es nicht anders. Die Ärzte untersuchten die Tiere und machten Notizen in ihren kleinen schwarzen Büchern, in ihren großen schwarzen Büchern und fuhren fort, die roten und schwarzen Linien auf den Karten zu überprüfen. Nach einer Woche glaubten wir jede Gefahr überstanden zu haben. Keine einzige Frage war uns gestellt worden. Natürlich waren wir vier Schwarzen viel zu bescheiden, um unseren Beitrag bekanntzugeben, aber wir haben uns oft gefragt, was nach dieser geheimgehaltenen Katastrophe in den Laboratorien vorgegangen sein mochte. Hatte man irgend-
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eine wissenschaftliche These, die schon halbwegs anerkannt worden war und demnächst in die Praxis umgesetzt werden sollte, verworfen, weil man an jenem kalten Wintertag auf unerwartete Befunde gestoßen war? Waren durch solche neuen, bemerkenswerten Befunde bisher unbekannte, verfeinerte Testergebnisse erzielt worden? Waren dem einen oder anderen dieser tief nachdenkenden Forscher – einem jener Leute, die mit Stoppuhren hantierten und mit ihren Schuhen Schmutzwasser auf den Stufen verspritzten, die ich so verzweifelt sauberzuhalten versuchte – blitzartig Einblicke in neue wissenschaftliche Zusammenhänge gelungen? Nun ja, wir haben davon nie etwas erfahren … Ich zerbrach mir natürlich den Kopf, ob ich nicht doch zum Büro des Direktors gehen und ihm erzählen sollte, was geschehen war, aber jedesmal, wenn ich mich aufraffen wollte, mußte ich daran denken, daß er es gewesen war, der jenen jungen Mann angewiesen hatte, mit seiner Stoppuhr die Zeit zu nehmen, während ich mich beim Saubermachen der Räume abschuftete. Für ihn war ich kein menschliches Wesen. Seine Welt war nicht meine Welt. Ich verdiente dreizehn Dollar die Woche und hatte damit vier Menschen zu versorgen, sollte ich als Idealist handeln und diese dreizehn Dollar aufs Spiel setzen? Brand und Cooke wären mit ihrem Haß über mich hergefallen und hätte mich, wenn ich sie verpfiff, aus meinem Job verdrängt. Das Krankenhaus hielt uns vier Neger, als wären wir den Tieren, die wir beaufsichtigten, verwandt, zusammengekauert in seinen unteren Korridoren gefangen, wo wir durch eine weite psychologische Kluft von den wichtigen Vorgängen im übrigen Krankenhaus getrennt waren – ebenso wie Amerika uns dreihundert Jahre lang ins Dunkel seines Untergrunds gesperrt hatte –, und so halten wir uns unseren eigenen, Gesinnung und sittliche Werte bestimmenden Kodex zurechtgemacht.
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Eines Abends, es war an einem Donnerstag, erhielt ich von einer Gruppe junger Weißer, die ich bei der Arbeit in der Post kennengelernt hatte, eine Einladung zu einem Treffen in einem Hotel der South Side, wo über die gegenwärtige Weltlage diskutiert werden sollte. Es kamen etwa zehn Leute zusammen, und wir aßen Salami-Sandwiches, tranken Bier und unterhielten uns. Ich war erstaunt zu erfahren, daß sich viele von ihnen der Kommunistischen Partei angeschlossen hatten. Ich forderte sie heraus, indem ich einiges aus den närrischen Reden der kommunistischen Neger im Park zitierte, aber sie erklärten mir, dieses Getue wäre »Taktik« und ganz in Ordnung. Ich hatte meine Zweifel. An einem dieser Donnerstagabende überraschte uns Sol, ein junger Jude, mit der Nachricht, daß eine Short story von ihm von Anvil, einer kleinen, von Jack Conroy herausgegebenen Zeitschrift, angenommen worden war und daß er einem revolutionären Künstlerbund, dem John-Reed-Club, beigetreten sei. Sol bat mich wiederholt, an den Zusammenkünften des Clubs teilzunehmen, aber ich fand immer irgendwelche Ausflüchte und folgte der Einladung nicht. »Die Leute würden dir gefallen«, sagte Sol. »Ich hab’ was gegen jede Art von Organisation«, sagte ich. »Sie würden dir bei deinen schriftstellerischen Versuchen helfen«, sagte er. »Niemand kann mir beim Schreiben helfen oder mir sagen, was ich zu schreiben habe«, erwiderte ich. »Komm und sieh’s dir doch mal an«, drängte er mich. »Schaden hast du davon bestimmt nicht.«
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Ich war der Ansicht, daß Kommunisten nicht aufrichtig an Negern interessiert sein könnten. Skeptisch wie ich war, kam mir ein Weißer, der zugab, daß er Neger haßte, glaubwürdiger vor als einer, der behauptete, er respektiere die Neger. Ich glaubte nicht, daß es viele Weiße gab, die sich kraft ihrer Vernunft von den althergebrachten Ansichten freimachen und den Neger objektiv sehen könnten. Als ich eines Samstagabends gelangweilt herumsaß, nicht lesen mochte und auch keine Lust hatte, Mädchen zu besuchen, die ich aus meiner Zeit als Versicherungsagent kannte, entschloß ich mich, als mehr oder weniger amüsierter Besucher zum John-Reed-Club zu gehen. Ich fuhr zum Loop und fand dort das wenig einladend wirkende Haus, in dem eine dunkle Treppe nach oben führte. Was von Bedeutsames konnte sich in einem so schäbigen Gebäude abspielen? Durch die Fenster über mir sah ich undeutlich irgendwelche Wandbilder. Ich stieg die Treppen hinauf und kam zu einer Tür mit der Aufschrift: JOHN-REED-CLUB, CHICAGO Ich öffnete die Tür und betrat den seltsamsten Raum, den ich je gesehen hatte. Der Fußboden war übersät mit Papier und Zigarettenstummeln. An den Wänden standen Bänke, über denen in grellen Farben riesige Figuren an die Wand gemalt waren – Arbeiter, die wehende Fahnen vor sich hertrugen. Die Arbeiter, das sah man an ihren offenen Mündern, stießen wilde Schreie aus und mit den Füßen standen sie in einem Panorama von Städten. »Hallo.« Ich drehte mich um und sah einen Weißen, der mir zulächelte. »Ein Freund von mir, der Mitglied des Clubs ist, hat mich zu einem Besuch eingeladen. Er heißt Sol –« sagte ich zu ihm. »Wir freuen uns über Ihren Besuch«, sagte der Weiße.
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»Heute abend ist hier nichts Besonderes los. Nur eine Redaktionssitzung. Sind Sie Maler?« Er hatte angegrautes Haar und trug einen Schnurrbart. »Nein«, sagte ich. »Ich versuche zu schreiben.« »Dann nehmen Sie doch an der Redaktionssitzung unserer Zeitschrift Left Front teil«, schlug er vor. »Ich verstehe davon nichts«, sagte ich. »Dann lernen Sie es«, sagte er. Ich sah ihn zweifelnd an. »Ich möchte nicht stören«, sagte ich. »Mein Name ist Grimm«, sagte er. Ich stellte mich vor, und wir gaben uns die Hand. Er holte aus einem Schrank einen Stapel Zeitschriften und kam damit zu mir. »Hier sind einige Nummern der Zeitschrift Masses«, sagte er. »Haben Sie sie schon mal gelesen?« »Nein«, sagte ich. »Einige der besten amerikanischen Schriftsteller schreiben darin«, erklärte er mir. Er gab mir auch Exemplare einer Zeitschrift, die International Literature hieß. »Hier sind Aufsätze drin von Gide, Gorki …« Ich versicherte ihm, daß ich sie lesen würde. Er führte mich in ein Büro, wo er mich einem jungen Juden vorstellte, der einmal der bedeutendste Maler Amerikas sein würde; und einem anderen jungen Mann, der im Begriff war, ein hervorragender Komponist zu werden, dann einem Schriftsteller, der an den besten Romanen der Gegenwart schrieb, und einem anderen jungen Juden, der ausersehen war, einen Film über die Besetzung der Tschechoslowakei durch die Nazis zu machen. Ich begegnete hier Männern und Frauen, die ich lange Jahre kennen und durch die ich zum erstenmal in meinem Leben dauernde Freundschaften erleben würde. Ich setzte mich in eine Ecke und hörte zu, während sie über ihre Zeitschrift Left Front diskutierten. Behandelten sie mich 81
so höflich, weil ich Neger war? Ich mußte mich beim Umgang mit diesen Leuten von Vernunft und Sachlichkeit leiten lassen, sagte ich mir. Man bat mich um einen Beitrag für die Zeitschrift, und ich sagte ausweichend, ich würde es mir überlegen. Nachdem die Sitzung beendet war, lernte ich eine junge Irin kennen, die für eine Werbeagentur arbeitete, ein Mädchen, das als Sozialhelferin tätig war, eine Lehrerin, und die Frau eines angesehenen Universitätsprofessors. Ich hatte früher bei Leuten wie diesen gearbeitet und war höchst skeptisch. Ich versuchte hinter ihre Beweggründe zu kommen, aber leutselige Herablassung entdeckte ich nicht bei ihnen. Ich ging nachdenklich nach Hause, bezweifelte die Aufrichtigkeit dieser eigenartigen Weißen und fragte mich, wie sie wohl wirklich Negern gegenüber eingestellt sein mochten. Ich legte mich auf mein Bett und las die Zeitschriften und stellte überrascht fest, daß in dieser Welt tatsächlich im Rahmen einer Organisation nach der Wahrheit über das Leben der Unterdrückten und Ausgestoßenen gefragt wurde. Als ich mir seinerzeit Brot bei der Wohlfahrt erbettelte, hatte sich mir dunkel die Frage gestellt, ob sich die Ausgestoßenen wohl einmal vereinigen und aus der Gemeinsamkeit ihres Denkens und Fühlens heraus handeln würden. Jetzt wußte ich es. In einem Sechstel der Welt geschah das bereits. Die revolutionären Sätze, die ich las, sprangen mich buchstäblich an und trafen mich mit unheimlicher Wucht. Weder die Wirtschaftsplanung des Kommunismus, noch die gewaltige Macht der Gewerkschaften oder die aufregende Politik im Untergrund waren es, die mich beeindruckten, es war vielmehr die Tatsache, daß die Arbeiter in anderen Ländern sehr ähnliche Erfahrungen machten, und die damit gegebene Möglichkeit, verstreute, aber untereinander verwandte Bevölkerungsgruppen zu einem Ganzen zusammenzufassen. Mein Zynismus – der eine Schutzmaßnahme gegen ein Arne-
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rika war, das mich zum Ausgestoßenen gemacht hatte – fiel von mir ab und zaghaft begann ich mich zu fragen, ob eine solche Vereinigung als Lösung denkbar wäre. Meine Erfahrungen als Neger in Amerika hatten mich – wenn ich dies auch in meiner Hilflosigkeit vor mir selbst zu verbergen suchte – gelehrt, daß eine solche Einigkeit wichtiger ist als Brot, wichtiger als das physische Leben selbst. Mir wurde deutlich, daß es ohne ein gemeinsames, alle vereinendes Band, ohne den ständigen Austausch von Gedanken und Gefühlen, die, wie das Blut den menschlichen Körper, das gesellschaftliche System durchströmen, kein menschenwürdiges Dasein geben kann. Es drängte mich danach, an den entscheidenden Voraussetzungen der Zeit, in der ich lebte, teilzuhaben und aus ihnen heraus zu handeln. Ich wehrte mich gegen das Gefühl, wie ein Tier im Dschungel die Welt als etwas Fremdes, Feindliches empfinden zu müssen. Ich wollte nicht als einzelner Krieg, nicht als einzelner Frieden machen. Bis jetzt hatte ich es, durch geistige Transfusionen aus Büchern, geschafft, ein einigermaßen menschliches Leben zu führen. Nichts, was ich in meinen konkreten Beziehungen zu anderen erlebte, hatte mir Mut gemacht, an meine Gefühle zu glauben. Ich lehnte ab, was ich mit Augen sah, und zog in Zweifel, was ich körperlich spürte, und hatte es so fertiggebracht, meine Identität zu wahren. Nun aber schien mir, daß sich hier am Ende, hier, im Bereich des revolutionären Ausdrucks, eine Heimstatt fand, in der die Erfahrungen des Negers einen eigenen Wert und eine Funktion gewannen. In den Zeitschriften, die ich las, wurden die Erfahrungen der Enterbten leidenschaftlich und frei von jedem missionarischen Gelispel beschworen. Da hieß es nicht: »Seid wie wir, und wir werden euch, vielleicht, mögen«, sondern: »Wenn ihr den Mut findet auszusprechen, wer ihr seid, dann werdet ihr sehen, daß ihr nicht allein seid.« Hier wurde vom Leben Glaube ans Leben gefordert. 83
Ich las bis tief in die Nacht; und dann, als es schon dämmerte, schwang ich mich vom Bett auf und setzte mich an die Schreibmaschine. Zum erstenmal, spürte ich, sprach ich für Ohren, die mir zuhören würden, und ich schrieb ein wildes Gedicht in freien, ungeschliffenen Versen, in deren Bildern ich die Hände von Schwarzen schilderte – spielende, arbeitende, nach Bajonetten greifende, im Todeskampf erstarrende Hände … Ich las es und hatte das Empfinden, daß sich hier, wie unbeholfen auch immer, das Leben der Weißen mit dem der Schwarzen verband, daß hier die beiden Ströme gemeinsamer Erfahrungen ineinanderflossen. Ich hörte, wie sich jemand in der Küche zu schaffen machte. »Richard, bist du krank?« rief meine Mutter. »Nein. Ich lese.« Meine Mutter öffnete die Tür und blickte neugierig zu dem Stapel von Zeitschriften auf meinem Bett. »Verschwendest dein Geld, um dir solche Zeitschriften zu kaufen, hm?« fragte sie. »Nein. Sie sind mir mitgegeben worden.« Sie humpelte auf ihren verkrüppelten Beinen zum Bett und nahm ein Exemplar von Masses hoch, auf dem sich eine düstere Karikatur zum 1. Mai befand. Sie rückte ihre Brille zurecht und betrachtete nachdenklich die Zeichnung. »Mein Gott«, hauchte sie entsetzt. »Was ist denn, Mama?« »Was hat das zu bedeuten?« fragte sie, zeigte auf das Bild und streckte mir die Zeitschrift hin. »Was ist mit dem Mann?« Meine Mutter neben mir, betrachtete sich mit ihren Augen die von einem kommunistischen Zeichner gemachte Karikatur; sie stellte einen Arbeiter in zerrissenem Overall dar, der vor sich eine rote Fahne trug. Seine Augen traten aus den Höhlen, der Mund mit den entblößten Zähnen klaffte weit
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auf und seine Nackenmuskel glichen dicken Seilen. Ihm folgte eine Horde von zerlumpten Männern, Frauen und Kindern, die in ihren Fäusten Knüppel, Steine und Mistgabeln schwangen. »Was haben diese Leute vor?« fragte meine Mutter. »Ich weiß nicht«, sagte ich ausweichend. »Sind das kommunistische Zeitschriften?« »Ja.« »Und die wollen, daß die Leute sich so aufführen?« »Na ja …« sagte ich zögernd. In ihrem Gesicht drückten sich Abscheu und moralische Entrüstung aus. Sie war eine sanftmütige Frau. Ihr Leitbild war Christus am Kreuz. Wie sollte ich ihr erklären, daß sie, ginge es nach der Kommunistischen Partei, laut rufend und singend an Straßenmärschen teilzunehmen hätte? »Wofür halten die Kommunisten die Leute?« fragte sie. »Na, ganz so, wie es da gezeichnet ist, meinen sie es nicht«, sagte ich, nach Worten suchend. »Wie meinen sie es denn?« »Das ist symbolisch zu verstehen«, sagte ich. »Aber warum sprechen sie nicht offen aus, was sie meinen?« »Vielleicht wissen sie es nicht so genau.« »Und warum druckt man dann dieses Zeugs?« »Sie sind sich noch nicht sicher, wie man die Leute am besten anspricht«, räumte ich ein und fragte mich, wie ich irgendwen hiervon überzeugen sollte, wenn ich das nicht einmal bei meiner Mutter fertigbrachte. »Ich kann mich richtig aufregen überdies Bild«, sagte sie, ließ die Zeitschrift fallen und wandte sich zum Gehen. An der Tür blieb sie nochmal stehen. »Du steckst mit diesen Leuten hoffentlich nicht unter einer Decke?« »Ich les’ diese Sachen bloß, Mama«, druckste ich herum.
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Meine Mutter ging, und ich grübelte darüber nach, daß ich nicht einmal ihren schlichten Einwänden gewachsen war. Ich warf einen Blick auf den Umschlag der Zeitschrift und gestand mir ein, daß diese wilde Karikatur nicht die Gefühle des einfachen Volkes widerspiegelte. Ich las die Zeitschrift noch einmal und kam zu der Überzeugung, daß vieles darin enthalten war, wovon die Verfasser lediglich glaubten, daß es andere ansprechen und ihnen den Zulauf von Anhängern sichern müsse. Sie hatten ein Programm und gewisse Ideen, aber eine Sprache hatten sie noch nicht gefunden. Hier, also, stellte sich mir eine Aufgabe, ich konnte, sagen wir, aufklärend wirken. Die Kommunisten hatten meiner Meinung nach die Lebenserfahrungen derer, die sie führen wollten, übermäßig simplifiziert. In ihren Bemühungen, die Masse auf ihre Seite zu bringen, hatten sie den Sinn des von der Masse gelebten Lebens verfehlt; die Auffassung, die sie sich vom Volk gemacht hatten, war zu abstrakt. Ich würde forschen, würde Entdeckungsreisen in der Sprache unternehmen und versuchen, etwas von diesem Sinn zurückzugewinnen, und mich mit meinen Worten an zwei Gruppen wenden: den Kommunisten würde ich erklären, wie das einfache Volk empfand, und dem Volk selbst würde ich erläutern, mit welcher Opferbereitschaft die Kommunisten die Einigkeit innerhalb der Bevölkerung anstrebten. Als ich mich am Donnerstagabend wieder zum Biertrinken mit meinen Freunden im Hotel einfand, zog ich den Zettel mit meinen ungehobelten Versen hervor und legte ihn auf den Tisch. Sol las sie. »Das bringen wir«, sagte er. »Darum geht es nicht«, erwiderte ich. »Sagen Ihnen diese Verse etwas?« »Sie schildern das Los der Entrechteten«, sagte er.
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»Wollen Sie das Gedicht veröffentlichen, um mich zum Eintritt in die Partei zu bewegen? Daraus wird nichts«, sagte ich. »Wir bringen es, ob Sie nun eintreten oder nicht«, sagte er. Ich berichtete der Gruppe von der Reaktion meiner Mutter auf die Karikatur zum 1. Mai. »Sie wird lernen müssen, daß sich die Revolution in Symbolen ausdrückt«, sagte jemand. »Aber warum drückt sich der Kommunismus nicht in einer Sprache aus, die sie versteht?« fragte ich. Es folgte eine lebhafte Diskussion, die zu nichts führte. Ich legte auch beim nächsten Treffen mein Mißtrauen nicht ab und beobachtete aufmerksam, ob sich irgendwelche gegen Neger gerichtete Reaktionen entdecken ließen. Alles in allem aber mußte ich zugeben, daß sie froh waren, mich als Gast bei sich zu haben. Dennoch schienen mir ihre Beweggründe fragwürdig. Lag ihnen daran, daß ich als Streikposten zusammengeknüppelt wurde, um daraus für ihr öffentliches Ansehen Kapital zu schlagen? Oder verlangte es einfach die Klubdisziplin, daß sie sich mir gegenüber freundlich verhielten? Wenn das stimmte, mußten diejenigen, die keinen Neger in ihren Reihen haben wollten, austreten. Aber keiner machte Anstalten dazu. Wie war es diesen Leuten, die jeden Profit, ihr Heimatland und Gott ablehnten, gelungen, eine Hürde zu nehmen, welche selbst die Kirchen Amerikas nicht hatten überwinden können? Der Herausgeber der Left Front nahm zwei meiner ungehobelten Gedichte an, schickte zwei an Jack Conroys Anvil und ein weiteres an New Masses, Nachfolgerin von Masses. Ich hatte weiterhin meine Zweifel. »Schicken Sie die Verse nicht, wenn Sie sie nicht für gut genug halten«, sagte ich. »Sie sind gut genug«, sagte er. »Tun Sie das, damit ich in die Partei eintrete?« fragte ich. 87
»Nein«, sagte er. »Ihre Gedichte sind nicht ausgefeilt, aber wir können sie gut brauchen. Das ist doch alles neu für uns. Wir schreiben Aufsätze über Neger, aber kommen nie mit Negern zusammen. Wir brauchen das, was Sie schreiben.« Ich nahm an weiteren Zusammenkünften teil und war beeindruckt vom Ernst der Mitglieder und der Vielseitigkeit ihres Wirkens. Der Klub forderte von der Regierung die Beschaffung von Arbeitsplätzen für arbeitslose Künstler, er plante und veranstaltete Ausstellungen, brachte die Geldmittel für die Veröffentlichung der Left Front auf und schickte Redner zu den Versammlungen der Gewerkschaften. Die in ihrer Grundhaltung demokratischen Mitglieder waren rastlos und mit Begeisterung tätig und zu Opfern bereit. Das alles überzeugte mich, und ich reagierte darauf, indem ich mir vornahm, Neger darüber aufzuklären, was für Leute die Kommunisten waren. Während ich die Operationsräume des medizinischen Forschungsinstituts saubermachte, kam mir die Idee, eine Reihe von biografischen Skizzen über kommunistische Neger zu schreiben. Ich erzählte niemandem von meinem Plan, wußte allerdings auch nicht, wie phantastisch naiv dieses ehrgeizige Vorhaben war. Schon nach wenigen Zusammenkünften wurde mir klar, daß es unter den Klubmitgliedern zwei Gruppen gab, zwischen denen heftige Machtkämpfe ausgetragen wurden. Wenn ich Fragen stellte, worum es bei diesem Zwist ging, erhielt ich von niemandem Auskunft. Bei jedem Treffen gerieten die Gruppen hart aneinander. Es war, wie ich feststellte, eine kleine Gruppe von Malern, die den Klub leitete und auch seine politische Linie bestimmte. Die Gruppe der Schriftsteller um die Left Front widersetzte sich dem Führungsanspruch der Maler. Weil mich vorwiegend die Zeitschrift interessierte, hielt ich zu den Schriftstellern. Bald darauf bahnte sich eine seltsame Entwicklung an. Die Gruppe um die Left Front er-
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klärte, daß die gegenwärtige Führung nicht den Wünschen der Klubmitglieder entsprach. Eine außerplanmäßige Zusammenkunft wurde anberaumt, bei der eine Neuwahl des Klubsekretärs vorgeschlagen wurde. Als Kandidat für diesen Posten stellte man auch mich auf. Ich lehnte die Nominierung ab, indem ich erklärte, ich wüßte zu wenig von den Zielen des Klubs, als daß ich ernsthaft für diesen Posten in Betracht käme. Die Diskussion dauerte die ganze Nacht. Gegen Morgen fand die Wahl durch Handaufheben statt, und gewählt wurde ich. Ich war erst knapp zwei Monate Mitglied und mir über Zweck und Zielsetzung dieser Organisation nur unvollständig im klaren. Später erfuhr ich, wie das zustandegekommen war: die Schriftsteller des Klubs hatten beschlossen, mich zu »benutzen«, um die Maler, die zugleich Parteimitglieder waren, aus der Klubführung zu verdrängen. Ohne mein Wissen und meine Einwilligung stellten sie den Parteimitgliedern einen Neger entgegen, wohlwissend, daß es für die Kommunisten schwierig war, ihre Stimme einem Mann zu verweigern, der die zahlenmäßig größte, rassische Minderheit im Lande vertrat, und das besonders deswegen, weil die Gleichberechtigung der Neger eine der Hauptforderungen des Kommunismus war. Obwohl kein Kommunist, war ich durch diesen Machtkampf zynischerweise an die Spitze einer der führenden kulturellen Parteiorganisationen gestellt worden. Ich bot sofort meinen Rücktritt an, aber davon wollten die Mitglieder nichts wissen. Es blieb mir verborgen, ob sie es aufrichtig meinten. Ich befürchtete, daß der bisherige Sekretär, ein Weißer, mir, einem Neger, diese Niederlage verübeln würde, aber er legte mir gegenüber nichts als Freundlichkeit an den Tag. Als Leiter des Klubs erfuhr ich bald, wie die Sache gelaufen war. Die Kommunisten hatten insgeheim eine »Fraktion« in-
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nerhalb des Klubs gebildet, das heißt, eine kleine Gruppe von Mitgliedern gehörte heimlich der Kommunistischen Partei an. Sie trafen sich außerhalb des Klubs und legten dabei den zu verfolgenden politischen Kurs des Klubs fest, und wenn sie dann ihre Vorschläge bei den öffentlichen Zusammenkünften vortrugen, dann brachten sie gewöhnlich durch die schiere Schlagkraft ihrer Argumente die Nicht-Parteimitglieder dazu, mit ihnen zu stimmen. Sie hatten dabei mit der Schwierigkeit zu kämpfen, daß die Nicht-Parteimitglieder sich den übermäßigen Forderungen widersetzten, die von den örtlichen Parteistellen durch Vermittlung der Fraktion an den Klub gestellt wurden. So verlangte zum Beispiel die Fraktion, daß der Daily Worker und die New Masses, die offiziellen Organe der Kommunistischen Partei, bei allen Zusammenkünften zum Verkauf ausliegen sollten. Die Nicht-Parteimitglieder erklärten, daß eine solche Maßnahme die Mitgliedschaft des Klubs auf solche Leute beschränken würde, die bereits überzeugte Kommunisten seien. Die örtlichen Parteistellen forderten nicht nur Geld, sondern auch Redner und Plakatzeichner, und das in so großer Zahl, daß die Herausgabe der Left Front ernstlich in Gefahr geriet. Viele junge Schriftsteller waren dem Klub beigetreten, weil sie auf Veröffentlichung ihrer Arbeiten in der Left Front hofften, und als die Kommunistische Partei durch die Fraktion bekanntgeben ließ, daß die Zeitschrift einzustellen sei, widersetzten sich die Schriftsteller dieser Entscheidung, was ihnen als Feindseligkeit gegenüber der Parteileitung ausgelegt wurde. Ich trat gemeinsam mit den Parteimitgliedern für ein liberaleres Klubprogramm ein. Es kam zu verbitterten Gefühlsausbrüchen. Und dann wurde die Katze aus dem Sack gelassen. Mir wurde mitgeteilt, daß ich, wenn ich Klubsekretär bleiben wollte, der Kommunistischen Partei beizutreten habe. Ich
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verkündete, daß ich eine Politik befürwortete, deren Ziel die Förderung von Schriftstellern und bildenden Künstlern sei. Mein Vorschlag wurde akzeptiert. Ich unterschrieb die Mitgliedskarte. Als Klubleiter suchte ich die Streitereien durch eine Reihe von Kompromissen in Grenzen zu halten. So wurde zum Beispiel der Verkauf des Daily Worker eingestellt, während New Masses weiterhin auslag. Ich nahm eine Position in der »Mitte« ein; die Fraktion drängte mich, von den Mitgliedern Geld für die Kommunistische Partei zu fordern, und die Mitglieder drängten mich, mich für die weitere Herausgabe der Left Front einzusetzen, die von der Kommunistischen Partei als »unnütz« gebrandmarkt worden war. Weil ich es allen recht machen wollte, machte ich es keinem recht. Der Klub rieb sich durch die kräftezehrenden, inneren Kämpfe auf. Die Rechnungen stapelten sich. Die fällige Miete konnte nicht bezahlt werden. Ich wollte um jeden Preis die Auflösung des Klubs verhindern. Aus persönlichen Motiven, hatte ich hier doch zum erstenmal Kontakt mit der modernen Welt gefunden. Ich hatte in äußerster Isolation gelebt, so daß der Klub in mir ein Bedürfnis stillte, das sich die weißen Mitglieder, wenn sie ihn jetzt satt hatten, überhaupt nicht vorstellen konnten. Ihnen hatte ihr normales Leben schon reichlich gegeben, worum ich mich jetzt verzweifelt bemühte. Eines Abends erschien ein junger Jude bei einem unserer Treffen und stellte sich als Genosse Young aus Detroit vor. Er erzählte, daß er Mitglied der Kommunistischen Partei und des Detroiter John-Reed-Clubs sei und vorhabe, sich in Chicago eine Wohnung zu suchen. Er war klein, hatte vortretende Augen, etwas herabgezogene Lippen und schwarzes Haar und war freundlich und belesen. Da bei uns Leute, die den Forderungen der Kommunistischen Partei entsprachen, knapp waren, hießen wir ihn willkommen. Aber ich bin nie
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so recht aus ihm schlau geworden; immer wenn ich ihm eine noch so schlichte Frage stellte, sah er weg und stammelte irgend etwas Verworrenes. Ich schickte seine Papiere zur Überprüfung an die Partei und registrierte ihn als Bewerber für die Mitgliedschaft im Klub. Er ist in Ordnung, dachte ich. Ein etwas verrückter Künstler … Als die Zusammenkunft zu Ende war, kam Genosse Young mit einem Problem zu mir. Er hätte kein Geld, sagte er und fragte, ob er vorübergehend in einem der Klubräume schlafen könne. Da ich von seiner Redlichkeit überzeugt war, gab ich ihm die Erlaubnis. Young wurde auch tatsächlich eines der eifrigsten Mitglieder unseres Vereins, und alle schätzten ihn sehr. Seine Gemälde – von denen ich nichts verstand – machten selbst auf unsere besten Maler Eindruck. Von der Kommunistischen Partei kam kein Bericht über Young, aber da er gewissenhaft seine Pflicht tat, machte ich mir über dieses Versäumnis keine Gedanken. Bei einem unserer Treffen ließ sich Young auf die Rednerliste setzen, und als er an der Reihe war, stand er auf und ließ eine politische Rede vom Stapel, in der er Swann, einen unserer fähigsten Künstler, verbittert und mit großer Heftigkeit angriff. Young warf Swann vor, ein Verräter an den Arbeitern, ein Opportunist, Polizeispitzel und Anhänger von Trotzki zu sein. Entgeistert hörten wir uns das an. Selbstverständlich nahmen die meisten Klubmitglieder an, daß Young, selbst Parteimitglied, als Sprachrohr der Partei fungierte. Überrascht und verstört schlug ich vor, Youngs Behauptungen sollten vor das Exekutivkomitee zur Entscheidung gebracht werden. Swann protestierte mit vollem Recht; er erklärte, er sei öffentlich angegriffen worden und wolle folglich auch öffentlich Rede und Antwort stehen. Es wurde abgestimmt, und Swann erhielt das Wort. Er wies Youngs heftige Beschuldigungen zurück, aber die Mehrzahl
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der Klubmitglieder blieb bestürzt; niemand wußte, ob man ihm nun glauben könne oder nicht. Swann war bei allen sehr beliebt, keiner glaubte, daß er sich irgendwelcher Machenschaften schuldig gemacht haben könnte, zugleich aber wollten wir die Partei nicht gegen uns aufbringen. Es entspann sich eine wahre Wortschlacht. Schließlich standen die Mitglieder, die aus Respekt vor der Partei geschwiegen hatten, auf und forderten von mir, ich solle die törichten Angriffe auf Swann zurückweisen. Wieder schlug ich vor, die Angelegenheit solle dem Komitee zur Entscheidung vorgelegt werden, aber mein Vorschlag wurde niedergestimmt. Die Mitglieder bezweifelten mittlerweile die Stichhaltigkeit der Motive der Partei. Ein Exekutivkomitee, dem überwiegend Parteimitglieder angehören würden, wollten sie nicht über die Beschuldigungen des ’Parteimitglieds Young entscheiden lassen. Auch die beiden folgenden Zusammenkünfte waren total von den Debatten über diese Sache beherrscht. Zwischen den Sitzungen drängten wir Young, uns zu sagen, wer ihn ermächtigt hätte, dermaßen scharf gegen Swann vorzugehen, und Young machte dunkle Andeutungen, daß er dazu vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei oder auch von der Kommunistischen Internationale beauftragt worden sei. Was natürlich auf uns großen Eindruck machte. Wer waren wir schon, daß wir die Entscheidungen so hochgestellter politischer Körperschaften hätten in Zweifel ziehen dürfen? Ich sympathisierte mit Swann, befürchtete aber, selbst in die Schußlinie zu geraten, wenn ich mich für ihn einsetzte. Eine Abordnung der Mitglieder befragte mich, ob ich irgendwie an Youngs Vorgehen beteiligt sei. Ich fühlte mich so verletzt und gedemütigt, daß ich alle Beziehungen zu Young ableugnete. Um die Farce zu beenden, stellte ich Young und fragte, in wessen Auftrag er nun wirklich handelte.
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»Ich bin aufgefordert worden, den Klub von Verrätern zu säubern«, sagte er. »Aber Swann ist kein Verräter«, sagte ich. »Eine Säuberungsaktion tut uns not«, sagte er mit vorquellenden Augen und vor leidenschaftlicher Erregung zitternd. Ich befürwortete seinen revolutionären Schwung, aber ich fand, daß er in seinem Eifer zu weit ging. Die Situation verschlimmerte sich noch. Eine Abordnung von Mitgliedern teilte mir mit, daß sie, falls die Anschuldigungen gegen Swann nicht zurückgenommen werden sollten, geschlossen austreten würden. Ich regte mich sehr darüber auf und schrieb an die Kommunstische Partei und fragte an, warum Anweisungen ergangen seien, Swann zu maßregeln, und sie schrieben zurück, Anweisungen dieser Art seien nicht gegeben worden. Worauf also war Young aus? Was steckte bei ihm dahinter? Ich schlug dem Klub schließlich vor, ich wolle die Angelegenheit der Parteiführung zur Entscheidung übergeben. Nach einer hitzigen Debatte wurde mein Vorschlag angenommen. Eines Abends fanden sich zehn von uns im Büro eines Parteiführers ein, wo Young wiederholen sollte, was er an Anschuldigungen gegen Swann vorgebracht hatte. Überlegen lächelnd gab der Parteiführer Young ein Zeichen, er solle jetzt anfangen damit. Young zog ein Bündel von Papieren hervor und las von einer Liste eine Reihe von politischen Vergehen ab, die in noch schwereren Beschuldigungen gegen Swann gipfelten. Ich hatte instinktiv das Gefühl, daß hier irgend etwas nicht stimmte, aber was es sein konnte, war mir nicht klar. Ich starrte zu Young hin, der, spürte ich, einen verhängnisvollen Fehler beging, hatte aber zugleich Angst vor ihm, weil er nach seinen eigenen Worten im Auftrag hoher Parteistellen handelte. Als Young seinen Vortrag beendet hatte, fragte ihn der Parteiführer: 94
»Hast du etwas dagegen, wenn ich die Liste einmal selbst lese?« »Natürlich nicht«, sagte Young und reichte ihm das Papier. »Du kannst diese Kopie behalten. Ich habe zehn Durchschläge.« »Warum hast du soviele Durchschläge gemacht?« fragte der Parteiführer. »Ich wollte sichergehen, falls mir welche gestohlen würden«, sagte Young. »Wenn man die Anschuldigungen dieses Mannes gegen mich ernst nimmt«, sagte Swann, »dann trete ich aus und werde den Klub öffentlich anprangern.« »Da habt ihr’s!« schrie Young. »Er steckt mit der Polizei unter einer Decke!« Mir war ganz elend. Die Sitzung endete damit, daß der Parteiführer versprach, die Liste der Anschuldigungen sorgfältig zu prüfen und dann zu entscheiden, ob Swann verhört werden solle oder nicht. Ich war davon überzeugt, daß an der Sache irgend etwas faul war, aber ich kam nicht dahinter. Eines Nachmittags ging ich zum Klub, um mich eingehend mit Young zu unterhalten, aber er war nicht da. Er kam auch am nächsten Tag nicht. Eine Woche lang versuchte ich vergebens, ihn irgendwo aufzutreiben. Was war mit dem Mann? Wo immer ich nach ihm fragte, niemand konnte mir Auskunft geben. Jetzt fragten mich auch die Klubmitglieder nach dem Verbleib des Mannes und glaubten mir nicht, als ich sagte, daß ich es nicht wüßte. War er krank? Hatte die Polizei ihn verhaftet? Irgend jemand machte den Vorschlag, wir sollten Youngs Gepäck durchsuchen, das sich in einem Hinterzimmer befand. Eines Nachmittags schlichen sich Genosse Grimm und ich in den Klub und öffneten Youngs Koffer. Was wir da entdeckten, überraschte uns und stellte uns vor neue Rätsel. Als
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erstes fanden wir eine fast zwanzig Meter lange Papierrolle – ein Blatt an das andere geklebt – bedeckt mit Zeichnungen, die die Geschichte der Menschheit nach marxistischer Theorie darstellten. Die Überschrift der ersten Seite lautete: DER WIRTSCHAFTLICHE FORTSCHRITT DER MENSCHHEIT IN BILDERN »Eine enorme Fleißarbeit«, sagte ich. »Scheint wissenschaftlich ziemlich versiert zu sein«, sagte Grimm. Wir fanden lange, handschriftliche Abhandlungen über Politik und Kunstgeschichte und schließlich einen Brief mit Detroiter Absenderadresse, an die ich sofort schrieb, um mich über unser geschätztes Mitglied zu erkundigen. Wenige Tage darauf traf die Antwort ein, in der es unter anderem hieß: Sehr geehrter Herr: In Erwiderung Ihres Briefes vom … teilen wir Ihnen mit, daß Mr. Young, der Patient in unserer Anstalt war und sich vor einigen Monaten unserer Obhut entzogen hat, festgenommen worden ist und sich jetzt wieder wegen Geistesgestörtheit bei uns in Behandlung befindet. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. War das wahr? Ganz ohne Zweifel. Was für ein Klub, um Himmels willen, waren wir dann, wenn ein Irrer beitreten und sogar in der Leitung tätig sein konnte? Waren wir selbst Verrückte, denen nicht auffiel, daß einer von uns ein Irrer war? Ich rief einige der vertrauenswürdigsten Mitglieder zusammen und informierte sie über die Sache. Sie waren wie vom Schlag gerührt. Wir beschlossen, die Angelegenheit geheimzuhalten und sie als erledigt zu betrachten. Wir waren uns einig, daß uns ein schlimmer Fehler unterlaufen war. Aber natürlich konnten wir die anderen Mitglieder nicht daran hindern, Fragen zu stellen. Swann hämmerte bei jeder Zusammenkunft erneut auf uns ein.
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»Wo ist Genosse Young? Ist er krank? Ist er vielleicht gestorben? Oder ist er im Gefängnis gelandet? Hat die Kommunistische Partei ihm befohlen, den Klub zu meiden?« Mir blieb nichts anderes übrig als zu lügen: »Ich habe keine Nachricht von Genosse Young. Sobald ich etwas höre, werde ich den Klub informieren.« Ich machte unterdes eine Eingabe, daß alle Anschuldigungen gegen Swann als nichtig fallengelassen werden sollten, was dann auch geschah. Ich bot Swann eine Entschuldigung an, war im übrigen aber als Leiter des Chicagoer John-ReedClubs der unbescholtene und lautere Kommunist.
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Ich hatte mich ausgiebig mit der revolutionären Literatur befaßt, hatte inzwischen viele Kommunisten, weiße und schwarze, beobachtet und die Risiken kennengelernt, denen sie täglich ausgesetzt waren, und kannte auch die Opfer, die sie brachten. Ich wollte mir jetzt die Zeit nehmen, die geplanten biographischen Skizzen zu schreiben. Ich kannte die kommunistischen Neger nicht so gut, wie ich wünschte, denn wenn ich sie bei vielen Gelegenheiten nach ihren Gefühlen, ihrer Arbeit und ihren sonstigen Tätigkeiten befragt hatte, dann hatten sie sich zurückhaltend gezeigt. Es fiel mir in meinem Eifer nicht schwer, diese Rückschläge zu vergessen, ich war vielmehr davon überzeugt, daß sich, sobald ich ihnen meinen Plan erläuterte, eine Atmosphäre des Vertrauens einstellen würde. Die Fraktion der Kommunistischen Partei im John-ReedClub forderte mich auf, meine Parteizelle – oder »Einheit«, wie sie es nannten – zu bitten, mir volle Pflichten bei der Arbeit des Klubs zu übertragen. Ich sollte dazu der Einheit einen Bericht über meine verschiedenen Tätigkeiten, mein Schreiben, meine Organisationsarbeit und meine Vorträge vorlegen. Ich erklärte mich dazu bereit und schrieb einen Bericht. Die Einheit, der anzugehören jeder Kommunist verpflichtet ist, stellt die organisatorische Grundform der Partei dar. Ihre an bestimmten Abenden stattfindenden Versammlungen werden aus Furcht vor Polizeirazzien geheimgehalten. Bei diesen Zusammenkünften geschieht nichts Verräterisches, aber ist man einmal Kommunist, dann braucht man sich nicht noch sonstwie verdächtig zu machen, um die Aufmerksam-
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keit der Polizei auf sich zu ziehen. Auf diesen Versammlungen zahlen die Mitglieder ihre Beiträge, außerdem werden sie mit parteipolitischen Aufgaben betraut und über die Haltung der Partei zu den Ereignissen in der Welt instruiert. Als ich zum erstenmal an einem solchen Treffen im Schwarzen Gürtel der South Side teilnahm, stellte ich mich dem schwarzen Versammlungsleiter vor. »Willkommen, Genosse«, sagte er grinsend. »Wir freuen uns, in dir einen Schriftsteller unter uns zu haben.« »Na, Schriftsteller ist ein bißchen viel gesagt«, gab ich zur Antwort. Die Versammlung wurde eröffnet. Es waren etwa zwanzig Neger anwesend. Als ich mit meinem Bericht an die Reihe kam, holte ich meine Notizen hervor und erzählte, wie ich Parteimitglied wurde, was ich an kleineren Arbeiten veröffentlicht hatte und worin meine Pflichten beim John-ReedClub bestanden. Als ich meinen Bericht beendet hatte, sah ich in Erwartung eines Kommentars auf. Aber keiner sagte etwas. Ich blickte umher. Die meisten Genossen saßen mit gesenkten Köpfen da. Überrascht bemerkte ich ein kleines zukkendes Lächeln um den Mund einer Negerin. Es vergingen einige Minuten. Die Negerin hob den Kopf und blickte zum Versammlungsleiter, der ein Lächeln unterdrückte. Darauf begann die Frau hemmungslos zu lachen und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Ich erstarrte. Hatte ich etwas Komisches gesagt? »Was ist denn eigentlich?« fragte ich. Das Gickern pflanzte sich.von einem zum anderen fort. Der Versammlungsleiter, der mit seinem Bleistift herumspielte, sah hoch. »Es ist schon alles in Ordnung, Genosse«, sagte er. »Wir freuen uns, einen Schriftsteller in der Partei zu haben.«
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Wieder lachten einige unterdrückt. Die Intelligenteren unter den Zuhörern suchten sich zu beherrschen und sahen ausdruckslos vor sich hin. Was für Leute waren das hier? Ich hatte ernsthaft berichtet, und die Antwort war allgemeines Gekicher. »Ich habe es so gut gemacht, wie ich konnte«, sagte ich unsicher. »Ich sehe ein, daß Schreiben nicht grundlegend wichtig ist. Aber wenn man mir Zeit läßt, kann ich, glaube ich, doch einen Beitrag leisten.« »Das glauben wir auch, Genosse«, sagte der Versammlungsleiter. Er gab sich dabei noch gönnerhafter als ein Weißer im Süden. Ich war verärgert. Ich glaubte, diese Leute zu kennen, aber das schien doch nicht der Fall zu sein. Ich wollte aus ihrem Verhalten meine Konsequenzen ziehen, aber Vorsicht mahnte mich, vorher mit anderen darüber zu sprechen. Bestürzt verließ ich die Versammlung. In den folgenden Tagen erfuhr ich durch Fragen, die ich diskret stellte, daß ich den schwarzen Kommunisten offenbar als eine Art Fabelwesen vorkam. Schockiert mußte ich hören, daß man mich, der ich nur die Volksschule besucht hatte, als Intellektuellen einstufte. Was war ein Intellektueller? Ich hatte das Wort nie in dem Sinne benutzen hören, in dem man es auf mich anwandte. Ich hatte gedacht, sie würden mich ablehnen, weil ich politisch zu unerfahren war; ich hatte gedacht, sie würden mich einer Bewährungsprobe unterziehen; ich hatte gedacht, sie würden sagen, ich müßte erst noch auf Herz und Nieren geprüft werden. Aber sie hatten nur gelacht. Und mir wurde klar, warum nur so wenige sensible Neger den Mut aufbrachten, sich ihnen so weit zu nähern, wie ich es getan hatte. Ich erfuhr auch zu meiner Verzweiflung, daß sich die Kommunisten in meiner Einheit über meine geputzten Schuhe, mein sauberes Hemd und über die Krawatte, die ich trug, 100
aufgehalten hatten. Vor allem aber schien meine Art zu reden, sie befremdet zu haben. »Er redet wie ein Buch«, hatte einer von ihnen gesagt. Und das reichte aus, um mich als Bourgeois zu verdammen. Je näher ich die kommunistischen Neger kennenlernte, desto deutlicher erkannte ich, daß sie nicht böswillig waren und niemanden zu verletzen beabsichtigten. Es fehlte ihnen einfach an Wissen, und sie hatten nicht das Bedürfnis, irgend etwas zu lernen. Sie meinten, alle Fragen seien längst beantwortet und jeder, der neue stellte oder alte neu zu beantworten suchte, wäre gefährlich. Einem Chicagoer Kommunisten genügte das Wort »Schriftsteller«, um einen Mann, auf den diese Bezeichnung zutraf, als Irrgänger zu betrachten. Ich stellte fest, daß es unklug war, sich beim Lesen von Büchern überraschen zu lassen, die der Kommunistischen Partei nicht genehm waren. Einmal ließ sich ein Genosse ein Buch, das ich unter dem Arm trug, zeigen. Er warf einen Blick darauf und schüttelte den Kopf. »Weswegen liest du das?« fragte er. »Es interessiert mich«, sagte ich. »Bücher der Bourgeois’ zu lesen, bringt dich nur in Verwirrung, Genosse«, sagte er und gab mir das Buch zurück. »Du scheinst überzeugt zu sein, daß ich leicht zu verwirren bin«, erwiderte ich. »Viele Genossen, weißt du, werden durch solche Bücher in die Irre geführt«, sagte er und mit vertraulich gesenkter Stimme. »In der Sowjetunion hatte die Partei ziemlichen Ärger mit diesen Leuten.« »Hat nicht auch Lenin Bücher der Bourgeoisie gelesen?« fragte ich ihn. »Aber du bist nicht Lenin«, fuhr er mich an. »Gibt es Bücher, die nur für bestimmte Leute reserviert sind, während andere sie nicht lesen dürfen?« fragte ich. 101
»Ah, davon verstehst du nichts, Genosse«, sagte er. Eine unsichtbare Mauer wuchs langsam zwischen mir und den Leuten, deren Schicksal ich teilte. Aber ich würde ihnen schon beweisen, daß jemand, der Bücher schrieb, nicht auch ihr Feind war. Ich würde ihr Schicksal Menschen nahebringen, mit denen sie keine Verbindung hatten, und sie würden sehen, daß ich ihr Vertrauen verdiente. Die Warnung, daß die Sowjetunion mit den Intellektuellen Ärger habe, schlug ich in den Wind. Das hatte nun wirklich nichts mit mir und meiner Situation zu tun. Das Problem, um das es bei mir ging, schien sehr viel einfacher zu sein. Ich hatte das Vertrauen von Leuten zu gewinnen, die so häufig in die Irre geführt worden waren, daß sie jedem, der anders war als sie selbst, mißtrauten. Und doch machte mir ihre aggressive Unwissenheit tief innen angst. Während meiner Parteiarbeit lernte ich einen schwarzen Kommunisten kennen, der Ross hieß und unter der Anklage stand, »zum Aufruhr anzustiften«. Ich beschloß, ihn in die Reihe meiner biographischen Skizzen aufzunehmen. Sein Verhör stand bevor, und er suchte Anhänger zu mobilisieren, die zu seinen Gunsten aussagen würden. Ross war der typische Straßenagitator, der die Menge zu fassen wußte. Er war im Süden geboren und in den Norden ausgewandert; sein Leben wurde bestimmt von den unausgegorenen Hoffnungen und den Enttäuschungen des in die Stadt verschlagenen Bauern. In ihm, der mißtrauisch und zugleich aggressiv war, verbanden sich die Schwächen und Vorzüge eines Mannes, der sich blindlings zwischen zwei Gesellschaftsformen herumplagt, der am Rande des kulturellen Lebens lebt. Ich glaubte, ich würde, wenn ich seine Lebensgeschichte erführe, auf einige der Schwierigkeiten aufmerksam machen können, mit denen die ländliche Bevölkerung bei der Anpassung an das
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städtische Leben zu kämpfen hat, und ich wollte seine Lebenssituation anderen verständlicher machen, als sie es ihm selbst war. Dazu hatte ich seinen ungeordneten Lebenslauf in eine Form zu bringen, die ihn den Leuten sichtbar, begreifbar und möglichst klar vor Augen stellen würde. Ich ging zu Ross und erklärte ihm mein Vorhaben. Entgegenkommend lud er mich zu sich ein und stellte mich seiner jüdischen Frau, seinem heranwachsenden Sohn und seinen Freunden vor. Ich sprach stundenlang mit Ross, erläuterte ihm meine Ansichten und riet ihm, mir nur solche Dinge zu erzählen, gegen deren Veröffentlichung er nichts einzuwenden habe. »Mich interessieren die Gründe, die dich zum Kommunisten gemacht haben«, sagte ich.. Wir verabredeten, daß ich jeden Morgen auf zwei Stunden käme und mir während dieser Zeit Notizen machte. Endlich, dachte ich, würde ich Gelegenheit finden, das dramatische Ineinander von Hoffnung, Angst, Liebe und Haß zu schildern, das sich im Leben dieser einfachen Menschen vollzog. Und dies wollte ich auf dem Hintergrund vom Leben der Massen in aller Welt darstellen. Ich wußte, ich konnte das. Mein eigenes Leben war die Schule, durch die ich gegangen war. Es sprach sich in der Kommunistischen Partei herum, daß ich mir zum Zusammensein mit Ross Notizen machte, und seltsame Dinge ereigneten sich. Ein schwarzer Kommunist, ein an sich ruhiger Mann, kam eines Abends zu mir und bat mich auf die Straße hinaus, wo er vertraulich mit mir sprechen wolle. Er warnte mich so eindringlich vor dem, was auf mich zukam, daß ich erschrak. »Intellektuelle haben in der Partei nichts zu suchen, Wright«, sagte er ernst.
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»Aber ich bin kein Intellektueller«, protestierte ich. »Ich verdiene mir meinen Lebensunterhalt als Straßenfeger.« Für dreizehn Dollar die Woche war ich von der Wohlfahrt gerade als Straßenfeger eingesetzt worden. »Das spielt keine Rolle«, sagte er. »Wir haben eine Akte über alle die ärgerlichen Vorkommnisse angelegt, die wir im Laufe der Zeit mit Intellektuellen hatten. Von ihnen bleiben schätzungsweise nur 13 Prozent in der Partei.« »Warum treten diese Intellektuellen, zu denen du mich auch zählst, aus?« fragte ich. »Die meisten tun es aus eigenem Entschluß«, sagte er. »Das, jedenfalls, habe ich nicht vor«, sagte ich. »Manche werden auch ausgeschlossen«, warnte er mich mit ernstem Gesicht. »Weshalb?« »Weil sie sich der Partei widersetzen und nicht linientreu sind«, sagte er. »Ich habe nichts an der Partei auszusetzen.« »Aber du mußt erst den Beweis antreten.« »Was meinst du damit?« »Du mußt beweisen, daß du treu zu den revolutionären Zielen stehst.« »Das versuche ich ja durch das, was ich schreibe.« »Das ist der falsche Weg«, sagte er. »Du mußt handeln.« »Wie das?« »Die Partei prüft die Leute auf bestimmte Weise.« »Erzähl mir. Wie geht das?« »Wie ist deine Einstellung zur Polizei?« »Ich hab’ keine«, sagte ich. »Ich habe nie Ärger mit ihr gehabt.« »Kennst du Evans?« fragte er und meinte damit einen militanten, kommunistischen Neger aus der Nachbarschaft. »Ja. Ich kenne ihn vom sehen, war auch mal mit ihm zusammen.« 104
»Dann weißt du auch, daß er schwer verletzt wurde?« »Ja. Sein Kopf war bandagiert.« »Er ist bei einer Demonstration von der Polizei zusammengeschlagen worden«, erklärte er. »Damit hat er seine revolutionäre Treue bewiesen.« »Du meinst, ich müßte mich von Bullen verprügeln lassen, um meine Aufrichtigkeit zu beweisen?« fragte ich. »Ich meine gar nichts«, sagte er. »Ich erklär’s dir nur.« »Sehr primitiv, auf diese Weise zu testen, ob es einer ehrlich meint«, sagte ich mit einem Seufzer. »Aber sehr praktisch«, sagte er. »Stell’ dir vor, ich werde von der Polizei geschlagen und kriege eine schwere Gehirnerschütterung. Werde vielleicht sogar verrückt und kann nicht mehr schreiben. Was hätte ich damit bewiesen?« Er schwieg, schüttelte nur den Kopf. »In der Sowjetunion mußten eine ganze Menge Intellektuelle erschossen werden«, sagte er. »Mein Gott!« rief ich. »Weißt du, was du da sagst? Du bist nicht in Rußland. Du stehst hier auf der Straße mitten in Chicago. Du redest, als wärst du nicht ganz bei Trost.« Er antwortete darauf nicht. Ich wußte nicht, daß meine Pläne mit Ross bereits von der Parteiführern unter die Lupe genommen und die Aufrichtigkeit meiner Motive in Zweifel gezogen worden war; und natürlich, meine unvorsichtigen Bemerkungen halfen keinem. »Von Trotzki hast du gehört?« fragte er. »Ja.« »Weißt du auch, was mit ihm geschehen ist?« »Er wurde aus der Sowjetunion verbannt«,’ sagte ich. »Und weißt du, warum?« »Na ja«, stotterte ich und versuchte, meinen Mangel an politischer Bildung zu verbergen, hatte ich doch die Ereignisse
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um den Kampf Trotzkis gegen die Kommunistische Partei in der Sowjetunion nicht im einzelnen verfolgt, »- es scheint so, als habe er eine getroffene Entscheidung angefochten und sich gegen die Partei gestellt.« »Wegen seiner konterrevolutionären Machenschaften«, fauchte er mich gereizt an; ich erfuhr später, daß meine Antwort ihn aufgebracht hatte, weil ich mich darin nicht mit den gängigen, Trotzki verdammenden Phrasen ausgedrückt hatte. »Ich verstehe«, sagte ich. »Aber ich habe Trotzki nie gelesen. Was für einen Standpunkt vertritt er bezüglich der Minderheiten?« »Was fragst du mich«, sagte er. »Ich habe Trotzki nicht gelesen.« »Wenn ich nun doch Trotzki gelesen hätte – was für einen Schluß hättest du daraus gezogen?« »Es ist für dich nicht notwendig, Trotzki zu lesen«, sagte er. »Meinst du nicht, ich könnte Trotzki ruhig lesen, ohne von ihm beeinflußt oder sein Anhänger zu werden?« fragte ich. »Ah, du verstehst nichts davon, Genosse«, sagte er ärgerlich. Damit war das Gespräch beendet. Aber dies war nicht das letzte Mal, daß ich den Satz: »Davon verstehst du nichts, Genosse«, zu hören bekam. Ich war mir nicht bewußt, irgendwelche falschen Ideen zu vertreten. Ich hatte keins von Trotzkis Büchern gelesen; tatsächlich war genau das Gegenteil der Fall. Das Buch, das mich wirklich interessiert hatte,war Stalins Nationalismus und Kolonialismus gewesen. Stalins Buch zeigte, wie verschiedenartige Minderheiten zu einer Einheit verschmolzen werden konnten, und ich hielt es für ein Werk mit politischem Tiefblick, das eine neue Sicht von unterdrückten und machtlosen Völkerschaften ermög-
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lichte. An der Entwicklung der Sowjetunion faszinierte mich die Art, wie eine große Zahl von rückständigen Bevölkerungsgruppen auf nationaler Ebene zur Einheit geführt wurde. Ich hatte mit Bewunderung gelesen, daß die Kommunisten Phonetiker in die weiten Gebiete Rußlands schickten, die dort die ungelenken Dialekte der seit Jahrhunderten von den Zaren unterdrückten Völker aufzeichneten. Zum erstenmal in meinem Leben hatte ich eine starke innere Verbundenheit gefühlt, als ich las, daß die Wissenschaftler diesen ausdrucksarmen Völkern eine Sprache brachten, Zeitschriften, die entsprechenden Einrichtungen. Ich hatte gelesen, daß diese vergessenen Völkerschaften ermutigt worden waren, ihre alte Kultur beizubehalten und ihre eigenen Sitten und Gebräuche in ihrer Bedeutung ebenso hoch einzuschätzen wie jene, die in angeblich überlegenen Kulturen herrschten. Und war mir aufgegangen, wie sehr sich das alles von der Art unterschied, in der man die Neger in Amerika hohnlächelnd abtat. Was also hatte die Warnung zu bedeuten, mit der mir dieser kommunistische Schwarze gekommen war? Verdächtigte man mich deshalb, weil ich die ungeheuerlichen körperlichen und geistigen Verwüstungen im Leben des Negers, die tiefgründigen Probleme dieses verworfenen Volkes bloßlegen und die tragischen Zusammenhänge, alt wie der Mensch selbst, wie Sonne, Berge und Meere, aufzeigen wollte, in denen sich das verarmte schwarze Amerika quälte? Worin lag die Gefahr, wenn einer sich daran machte, auf die Verwandtschaft zwischen den Leiden der Neger und den Leiden anderer Völker hinzudeuten? Als ich eines Morgens mit Ross, seiner Frau und ihrem Sohn in deren Wohnung zusammensaß und hitzig meine gelben Notizzettel vollkritzelte, klingelte es an der Tür, und Ross’
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Frau ließ einen schwarzen Kommunisten herein, einen gewissen Ed Green. Er war hochgewachsen, breitschultrig und hielt sich wie ein Soldat. Ich wurde ihm vorgestellt, und er nickte steif. »Was geht hier vor?« fragte er plötzlich. Ross erklärte ihm die Zusammenhänge, und ich sah, wie sich Ed Greens Gesicht verfinsterte. Er hatte nicht Platz genommen, und als Ross’ Frau ihm einen Stuhl anbot, hörte er nicht hin. »Was hast du mit diesen Notizen vor?« fragte er mich. »Ich will sie in Storys, die ich schreibe, verwenden«, sagte ich. »Was sind das für Fragen, die du Parteimitgliedern stellst?« »Ganz allgemein über ihr Leben.« »Wer hat dich darauf gebracht?« fragte er. »Keiner. Ich bin selbst auf die Idee gekommen.« »Warst du Mitglied bei irgendwelchen anderen politischen Gruppen?« »Ich habe eine Zeitlang für die Republikaner gearbeitet«, sagte ich. »Revolutionäre Organisationen meine ich«, sagte er. »Nein. Warum fragst du?« »Was machst du beruflich?« »Ich verdiene mein Geld als Straßenfeger.« »Wie lange bist du zur Schule gegangen?« »Bis zum Abschluß der Volksschule.« »Du sprichst wie einer, der länger auf der Schule war«, sagte er. »Warum sollte ich die Unwahrheit sagen?« fragte ich. »Ich weiß nicht«, sagte er und sah mir voll ins Gesicht. »Ich habe Bücher gelesen und mich selbst weitergebildet.« »Du weißt, daß Ross unter Anklage steht?« fragte er. »Ja.«
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»Ich weiß nicht«, sagte er und sah weg. »Was weißt du nicht?« fragte ich. »Ist irgendwas nicht in Ordnung?« »Wem hast du dieses Material bis jetzt gezeigt?« »Keinem.« Was wollte er mit seinen Fragen? Naiv dachte ich, daß dieser Mann auch ein gutes Modell für meine biographischen Skizzen wäre. »Ich würde dir als nächstem auch gerne Fragen stellen«, sagte ich. »Danke. Kein Interesse«, sagte er gepreßt. Er benahm sich so abweisend, daß ich nicht weiter in ihn drang. Er nahm Ross mit sich ins hintere Zimmer. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich irgend etwas verbrochen. Wenige Minuten darauf kam Ed Green zurück, warf mir wortlos einen Blick zu und zog ab. »Wofür hält der sich eigentlich?« fragte ich Ross. »Er gehört dem Zentralkomitee an«, sagte Ross. »Aber warum führt er sich so auf?« »O, das ist so seine Art«, sagte Ross unruhig. Beide schwiegen wir lange. »Er macht sich Gedanken darüber, was du mit dem Material vor hast«, sagte Ross schließlich. Ich sah ihn an. Auch er schien mißtrauisch geworden zu sein. Er versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. »Was du für dich behalten willst, brauchst du mir nicht zu erzählen«, sagte ich. Das schien ihn für einen Moment zu beruhigen. Aber die Saat des Argwohns ging bereits auf. Mir wurde schwindlig. War ich verrückt? Oder waren diese Leute verrückt? »Du mußt das verstehn, Dick«, sagte Ross’ Frau. »Ross steht unter Anklage. Ed Green ist Vertreter des Internationalen Arbeiterschutzes auf der South Side. Es ist seine Pflicht, Leu-
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ten, die Schutz brauchen, zur Seite zu stehen. Er wollte wissen, ob Ross irgend etwas preisgegeben hat, das vor Gericht gegen ihn verwendet werden könnte.« Ich war sprachlos. »Wofür hält er mich, um Himmels willen?« fragte ich. Keine Antwort. »Oh, ihr Verlorenen!« rief ich und schlug mit der Faust auf den Tisch. Ross war erschüttert und beschämt. »Ah, dieser Ed Green ist eben übervorsichtig«, murmelte er. »Ross«, fragte ich, »hast du Vertrauen zu mir?« »O ja«, sagte er unsicher. Da saßen also wir beiden Schwarzen im Raum und sahen einander ängstlich fragend an. Beide litten wir Hunger. Beide waren wir abhängig von der öffentlichen Wohlfahrt, von ihr wurden wir ernährt und bekamen wir einen Platz zum Schlafen. Und doch hegten wir im Herzen tiefere Zweifel gegeneinander als gegen die Männer, denen wir diese Art von Leben verdankten. Wir waren befangen, als wir jetzt wieder an die Arbeit gingen; irgend etwas war zerstört. Glaubten sie wirklich, daß ich hier Material für die Polizei sammelte? Wie konnte ich ihnen verständlich machen, was ich hier vorhatte? Ich hatte festgestellt, daß sie meine Ideen nicht begriffen, wenn ich mich ihnen gegenüber abstrakt ausdrückte. Paradox an der Sache war, daß ich, der ich fast auf das Stehlen von Büchern angewiesen war, von der Gruppe als Intellektueller gebrandmarkt wurde, die Anspruch darauf erhob, als Erzieher der Unterdrückten zu gelten und ihnen eine neue Lebensauffassung zu vermitteln. Zweifel wurden mir von denen entgegengebracht, deren Schicksal ich intensiver als das irgendwelcher anderer Menschen teilte.
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Ich hatte keinen Grund, an der Aufrichtigkeit Ed Greens zu zweifeln. Er war ein Mann, der sich seit langem als Aktivist und Kämpfer in der Kommunistischen Partei bewährt hatte. Aber warum verdächtigte er mich? Und wem konnte ich, wenn er Zweifel an mir hatte, überhaupt noch trauen? Wenn ich schon ein Intellektueller war, was waren dann schwarze Ärzte, Anwälte, Lehrer? Ich wurde aus dem allen nicht schlau. Aber es war nun mal so … Ed Green fiel später in Spanien, wo er auf der Seite der Republikaner kämpfte. So wenig er zu leben wußte – er verstand es zu sterben. Er war innerlich ungelenk und nur zu den elementarsten Reaktionen fähig. Von Ängsten verfolgt, war er mißtrauisch gegenüber Andersartigen, gegen jeden, der anders handelte, anders redete oder anders fühlte als er. Sein Wesen begeisterte und erschreckte mich. Mich freute seine kämpferische Bereitschaft, aber ich erschrak, wenn ich mir überlegte, wozu er seine Kampfbereitschaft einsetzen könnte. An ihn glauben konnten nur jene, die seine Welt der Angst mit ihm teilten, und alles, was sich jenseits dieses entsetzlich begrenzten Sichtfeldes erstreckte, war für ihn feindliches Land. Ich wollte die Existenz dieser Männer durch Bilder bekanntmachen, die bereits allgemein als Verständigungsmittel akzeptiert waren. Sie sollten durch mich erfahren, daß sie Verbündete hatten, daß mehr Leute, als sie wußten, und auf eine Weise, die sie nicht verstanden, ihre Freunde waren und daß auch ich ihr Freund war. Ich wollte in Worte fassen, was sie nicht artikulieren konnten, Zeugnis für ihr Leben geben. Und sie verdächtigten mich, daß ich mit der Polizei gemeinsame Sache machte! Ich stimmte ihren Zielen aus vollem Herzen in einem Maße zu, wie ich es noch nie zuvor getan hatte. Ich, der zurückhaltende Skeptiker, der das Gefühl gehabt hatte, daß keine einzige Idee es wert war, sich dafür aufzuopfern, hatte mich öf-
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fentlich zu ihnen bekannt, und so traf mich ihr Mißtrauen mit niederschmetternder Wucht, und ich erstarrte innerlich. Ich tappte unter der Mittagssonne umher. Worauf ich aus war, wollten sie wissen. Und wenn ich es ihnen erklärte, benutzte ich dazu, wie es schien, immer die falschen Worte. Handfeste Vorwürfe konnten sie mir nicht machen. Sie fürchteten an mir nur das ihnen nicht Vertraute. Meine Ideen schienen ihnen bedrohlicher, als wenn ich mit einer Pistole auf sie gezielt hätte; die Pistole hätten sie mir wegnehmen und mich damit erschießen können, mit meinen Ideen aber wußten sie nichts anzufangen. Ich sprach mit weißen Kommunisten über meine Erfahrungen mit kommunistischen Negern, und sie begriffen einfach nicht, wovon ich redete. Die weißen Kommunisten hatten die Neger derart idealisiert, daß sie in ihnen andere Menschen sahen, als ich es tat. Und je eingehender ich ihnen meine Ideen zu erklären suchte, um so heftiger begannen nun auch sie, mich und meine Ansichten in Zweifel zu ziehen. Die Wörter verloren ihren herkömmlichen Sinn. Schlichte Beweggründe bekamen einen düsteren Anstrich. Verhaltensweisen änderten sich schlagartig. Während man mit Leuten sprach, die man zu kennen glaubte, kehrten Ideen sich in ihr Gegenteil um. Ich fühlte mich so total isoliert, wie ich es selbst in dem vom Haß besessenen Süden nicht erlebt hatte. Ich setzte mich weiterhin mit Ross zusammen und machte Notizen, aber von Tag zu Tag wurde er zurückhaltender. Er tat mir leid, und ich drang nicht auf ihn ein, denn ich wußte, daß Überreden ihm seine Angst nicht nehmen würde. So saß ich nur da, hörte mir an, was er und seine Freunde über ihr Leben im Süden zu erzählen hatten, und notierte es im Gedächtnis und stellte auch keine Fragen, aus Angst, daß ich sie dadurch beunruhigen könnte. Trotz ihrer ängstlichen Zu-
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rückhaltung kamen zahlreiche Einzelheiten aus ihrem Leben zusammen. Ich gab die Idee, biographische Skizzen zu verfassen, auf und entschloß mich, eine Reihe von Short Storys zu schreiben, in denen ich das von Ross und seinen Freunden zusammengetragene Material verwenden, darauf aufbauen und Eigenes hinzutun wollte. Ich erfand eine Geschichte von einer Gruppe junger Neger, die sich am Eigentum eines Weißen vergehen, was schließlich auf Lynchjustiz hinausläuft. Die Story erschien unter dem Titel Big Boy Leaves Home in einer Anthologie, aber sie kam zu spät, um die Kommunisten zu überzeugen, die meine Absicht, mich ihrer Schicksale anzunehmen, in Frage stellten. Mit der von der Wohlfahrt in unregelmäßigen Abständen veranlaßten Zuweisung von Arbeitsplätzen hörte es auf, und ich machte mich auf die Suche nach Jobs, die nicht existierten. Für die Fahrten zum Klub mußte ich mir Geld leihen. Für meine Mutter, meine Tante und meinen Bruder fand ich eine enge Dachwohnung in der Nähe von Eisenbahngleisen. Schließlich brachte mich die Wohlfahrt dann doch in einem Jungenklub an der South Side unter, und mein Lohn reichte gerade für die kargen Mahlzeiten. Dann waren es wieder politische Probleme, mit denen ich es zu tun bekam. Ross, dessen Leben ich hatte schildern wollen, wurden von der Kommunistischen Partei »oppositionelle Tendenzen«, »Klassen-Kollaboration« und »ideologisches Cliquentum« vorgeworfen, Phrasen, die mir so phantastisch schienen, daß ich aufstöhnte, als ich sie hörte. Und es ging das Gerücht, daß ich ähnlicher Vergehen bezichtigt würde. Daß ich Ross besucht und dort Notizen gemacht hatte, wußte man und glaubte, daß ich durch ihn politisch beeinflußt worden war- wie und in welcher Richtung wurde nicht erwähnt. Es war das alte Lied: je ausgiebiger ich etwas zu erklären suchte, desto schuldiger machte ich mich in den Augen meiner Ge-
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nossen. Ich hatte an keinen die politische Linie der Kommunistischen Partei bestimmenden Beratungen teilgenommen, keinerlei Meinung geäußert, was Führung und Arbeit der Partei anging. Aber die Gerüchte über meine Unzuverlässigkeit hielten sich. Eines Abends kam eine Gruppe von Genossen zu mir und warnte mich vor den Ideen, die Ross verbreitete. Als ich versicherte, daß ich die Ansichten von Ross nicht teilte, gab man mir Order, mich von ihm fernzuhalten. »Aber warum?« fragte ich. »Er übt einen unheilvollen Einfluß aus«, sagten sie. »Fällt es dir so schwer, dich einer Entscheidung zu beugen?« »Hat die Kommunistische Partei diese Entscheidung getroffen?« »Ja«, sagten sie. »Wäre ich mir einer Schuld bewußt, dann würde ich mich an diese Entscheidung halten«, sagte ich. »Aber ich habe nichts getan.« »Das verstehst du nicht, Genosse«, sagten sie. »Parteimitglieder widersetzen sich nicht den Entscheidungen der Partei.« »Aber diese Entscheidung trifft nicht auf mich zu«, sagte ich. »Der Teufel soll mich holen, wenn ich mich danach richte.« »Mit der Haltung, die du einnimmst, verdienst du dir nicht unser Vertrauen«, sagten sie. Mir kam die Wut. »Woher, zum Teufel, habt ihr so eine Heidenangst?« platzte es aus mir heraus, und ich schwenkte die Arme zu den kahlen vier Wänden hin, in denen ich lebte. »Ihr wißt, wo ich arbeite! Ihrwißt, was ich verdiene! Ihr kennt meine Freunde! Was, in Gottes Namen, ist daran falsch?« Sie entfernten sich mit humorlosem Lächeln, woraus sich schließen ließ, daß ich bald erfahren würde, was falsch war. 114
Aber es gab auch Erfreulicheres als diese düsteren politischen Scherereien. Die Arbeit in dem South Side-Jugendklub erfüllte mich immer mehr. Täglich kamen schwarze Jungen im Alter zwischen acht und fünfundzwanzig, um hier zu schwimmen, zu zeichnen und zu lesen. Sie waren ein wilder, heimatloser Haufen, abgeschnitten vom kulturellen Leben, geistig vernachlässigt, Kandidaten für Kliniken, Gefängnisse, Besserungsanstalten, Leichenhallen und den elektrischen Stuhl des staatlichen Totenhauses. Stundenlang hörte ich ihnen zu, wenn sie von Flugzeugen, Mädchen, Waffen, Politik und Verbrechen erzählten. Ihre Ausdrucksweise war so bildhaft und kraftvoll, wie es im Englischen nur möglich ist. Ich hatte immer Bleistift und Papier bei mir, um ihre Wortrhythmen und Redewendungen zu notieren. Diese Jungen hatten nicht diese Angst vor Leuten, daß sie in jedem einen Spitzel gesehen hätten. Die Kommunisten, die meine Aufrichtigkeit bezweifelten, kannten diese Jungen, ihre verworrenen Träume und ihr nur allzu offenkundiges Schicksal nicht, und ich hatte meine Zweifel, ob ich ihnen jemals die tragischen Zusammenhänge nahebringen könnte, die sich mir hier erschlossen. Beim Ringen um Worte erlebte ich Augenblicke, die für mich sinnvoller waren als alles andere. In der Short Story Big Boy Leaves Home wurde die Frage nach der Willenskraft aufgeworfen, die ein Neger aufbringen mußte, um in einem Lande, das ihn nicht als Menschen achtete, leben und mit Würde sterben zu können. In mir wuchs – als suchte sich tief innen aus mir eine Antwort einen Weg ins Bewußtsein zu bahnen – die Erzählung von einer Überschwemmung: Down by the Riverside. Ich überließ mich dieser Erzählung und tastete mich vor, um eine Antwort auf meine Frage zu finden. Aber die Story befriedigte mich nicht, als ich sie beendet hatte; ich tat sie beiseite und versuchte das Gleiche in anderer Weise in
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Long Black Song auszudrücken. Aber auch die blieb hinter der Wirklichkeit der Erfahrungen zurück, die ich darstellen wollte. Parteipflichten unterbrachen mich in meinen Bemühungen um Ausdruck. Der Klub wollte eine Tagung aller linksgerichteten Schriftsteller im Mittelwesten veranstalten. Ich sprach mich dafür aus und vertrat den Standpunkt, daß auf der Tagung die handwerklichen Probleme des Schriftstellers erörtert werden sollten. Mein Vorschlag wurde abgelehnt. Es sollten, entschied der Klub, politische Fragen zur Sprache kommen. Ich verlangte Auskunft darüber, was man von Schriftstellern erwarte, Bücher oder politische Aktivität? Beides, war die Antwort. Einige Stunden am Tag schreiben und im übrigen in den Reihen der Streikenden marschieren. Ich wies darauf hin, daß es das Hauptziel eines revolutionären Künstlers sein müsse, revolutionäre Kunst zu produzieren, und daß die Zukunft des Klubs in Frage gestellt sei, wenn es nicht gelänge, sich auf eine klare Linie zu einigen. Der Tagung wohnte ein führender Kommunist als Berater bei. Die zur Debatte stehende Frage war: Was erwartet die Kommunistische Partei vom Klub? In seiner Antwort nannte der kommunistische Führer als Ziel organisatorische Mitarbeit wie auch Schreiben von Romanen. Ich hielt dagegen, daß man entweder organisatorisch tätig sein oder Romane schreiben könne. Der kommunistische Führer blieb dabei, daß beides geleistet werden müsse. Er setzte sich mit seiner Einstellung durch, und die Left Front, für die ich so lange gearbeitet hatte, hörte unter dem Druck der Stimmenmehrheit auf zu existieren. Der Parteimann bezeichnete es als Aufgabe der Schriftsteller, Flugschriften für den Gebrauch der Gewerkschaften zu verfassen. Ich widersprach dem und sagte, es wäre falsch, wenn die Kommunistische Partei die Schriftsteller aufforderte, ihre
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schöpferische Arbeit liegenzulassen und statt dessen Flugschriften zu schreiben. Ich wies auf die Vorteile hin, die langfristig das künstlerische Schaffen der Schriftsteller im Klub mitsichbrächten, und erklärte, daß diese weniger zeitgebundenen Produkte mehr Gewicht hätten als Flugschriften. Diese Thesen wurden ebenfalls durch Abstimmung zurückgewiesen. Ich plädierte dann für ein organisatorisches System, in dem die Unterstützung jeder Art von künstlerischer Arbeit vorgesehen war, und hoffte damit die ewigen Streitereien über das taktische und organisatorische Vorgehen aus der Welt zu schaffen. Aber alle meine Vorschläge wurden niedergestimmt. Ich wußte jetzt, daß das Weiterbestehen des Klubs nur noch eine Frage der Zeit war, und stand auf und faßte meine düsteren Vermutungen dahingehend zusammen, daß ich die Auflösung des Klubs empfahl. Durch diesen meinen »Defaitismus«, wie man es nannte, zog ich mir die schärfste Mißbilligung des kommunistischen Führers zu. Die Tagung endete mit der Verabschiedung einer Unzahl von Resolutionen, die China, Japan, Indien, Deutschland und die mißlichen Verhältnisse in verschiedenen Teilen der Welt zum Gegenstand hatten. Von den Schriftstellern und ihrem Los war in keinem dieser Beschlüsse die Rede. Die Überlegungen, die ich auf der Tagung vorgetragen hatte, bestärkten die schwarzen Kommunisten der South Side nur in ihren gegen mich erhobenen Verdächtigungen, und die Partei kam jetzt zu der festen Überzeugung, daß sie mit mir einen gefährlichen Feind in ihren Reihen habe. Gerüchte gingen flüsternd von Mund zu Mund, daß ich insgeheim beabsichtigte, eine Oppositionsgruppe innerhalb der Partei zu organisieren. Ich hatte inzwischen gelernt, daß Widerstand gegen solche Anschuldigungen zwecklos war. Es war von jetzt an qualvoll für mich, mit irgendwelchen Kommunisten zusam-
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menzukommen, denn ich wußte nie, was für eine Haltung sie einnahmen. Im Anschluß an diese Tagung wurde ein Nationalkongreß der John-Reed-Clubs veranstaltet. Er fand unter der Teilnahme von linksgerichteten Schriftstellern aus allen Staaten im Sommer 1934 statt. Auf den Sitzungen aber herrschten Unzufriedenheit, Verwirrung und Ratlosigkeit bei den einzelnen Schriftstellern, von denen die meisten jung und zielstrebig und im Begriff waren, ihre besten Arbeiten zu schreiben. Niemand wußte, was eigentlich von ihm erwartet wurde, und so kam es auf dem Kongreß zu keinerlei einigenden Beschlüssen. Aus Gesprächen erfuhr ich, daß die Mitglieder des New Yorker John-Reed-Clubs über die allgemeine Unschlüssigkeit verzweifelt, zugleich aber nicht bereit waren, ihrer Mißbilligung offen Ausdruck zu geben. Mir war das ein Rätsel, denn meiner Meinung nach hätte doch gerade dieses Problem freimütig diskutiert werden müssen. Andererseits hörte ich mit Genugtuung, wie empört die New Yorker Kommunisten über die Brutalität waren, mit der die Chicagoer Kommunisten ihre Forderungen an die Mitglieder des Chicagoer John-Reed-Clubs stellten. Ein New Yorker Kommunist erklärte überrascht: »Chicagoer Kommunisten sind der wandelnde Terror!« Gegen Ende des Kongresses nahm ich an einer Ausschußsitzung teil, bei der über die Zukunft des Klubs beraten werden sollte. Zehn von uns trafen sich in einem Hotel im Loop, und zu meiner Überraschung pflichteten die Leiter der nationalen Klubkommission meiner Kritik an der Art bei, wie der Klub bisher geführt worden war. Das war sehr aufregend für mich. Jetzt, dachte ich, kommt wieder Leben in die Klubs. Die schöpferische Arbeit der Schriftsteller würde als ihr Beitrag zur Politik anerkannt werden.
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Und dann mußte ich tief bestürzt mit anhören, wie ein allgemein bekannter Kommunist einen Beschluß zur Auflösung der Klubs verkündete. Warum? fragte ich. Weil die Klubs nicht im Sinne der Volksfrontpolitik arbeiten, wurde mir gesagt. Dem kann abgeholfen werden, meinte ich; die Klubs könnten innerlich erneuert und ihre Breitenwirkung verstärkt werden. Nein; eine größere und bessere Vereinigung müßte unter Einbeziehung aller führenden Schriftsteller gegründet werden, sagten sie. Man informierte mich, daß die Volksfrontpolitik genau der kommunistischen Lebensauffassung entspräche und daß damit die Klubs überflüssig geworden seien. Ich fragte, was denn aus den jungen Schriftstellern würde, denen die Kommunistische Partei nahegelegt hatte, den Klubs beizutreten, und die für die neue Vereinigung nicht wählbar seien; ich erhielt keine Antwort. Das ist ’n Ding! murmelte ich vor mich hin. Um rasch einen Wechsel in der Politik zu erzielen, ließ die Kommunistische Partei eine Organisation fallen, so daß sich deren Mitglieder in alle Winde verstreuten, und organisierte eine neue Gruppe mit ganz anderen Leuten! Ich hatte große Energie aufgewandt, Schriftsteller heranzuziehen, die sich revolutionären Ideen verschrieben, und jetzt stand ich vor einem Trümmerhaufen, an den ich meine Kräfte sinnlos verschwendet hatte. Es war das erste Mal, daß ich mit einem die politischen Richtlinien bestimmenden, kommunistischen Gremium zusammensaß. Ich hatte einfältig genug die Illusion, daß hier jeder zu Wort kommen und anhand der vorgebrachten Fakten ein Beschluß gefaßt werden würde. Ich war hier lediglich aufgefordert worden, eine Entscheidung zu billigen, die vorher getroffen worden war. Das fuchste mich. Ich stand hier allein mit meiner Meinung gegen eine Mehrheit; und dann machte ich eine weitere überraschende Erfahrung. Ich stellte fest, daß selbst diejenigen, die mir zuge119
stimmt hatten, mich nicht unterstützten. Bei dieser Sitzung wurde mir klar, daß Leute sich selbst dann dem ihnen bekanntgegebenen Willen der Partei beugten, wenn sie wußten, daß es unklug war und die Partei sich damit am Ende selbst schaden würde. Ich hatte Kommunisten über Disziplin theoretisieren hören, aber als ich sie hier in der Praxis erlebte, lief es mir kalt über den Rücken. Nicht aus Mut bezog ich Stellung gegen die Partei. Es verstand sich für mich einfach von selbst. Ich konnte mir, wenngleich in dem vom Haß aufgewühlten Süden aufgewachsen, einfach nicht vorstellen, daß es einem Mann untersagt war, seine Meinung zu sagen. Ich hatte ein Drittel meines Lebens damit verbracht, von meinem Geburtsort in den Norden zu kommen, nur um frei reden zu können, der drückenden Angst zu entrinnen. Und jetzt stand ich hier wieder vor dem Gespenst der Angst, ohne allerdings vorläufig zu ahnen, daß ich bereits ein Feuer schürte, das bald ebenso verheerend über mich hereinbrechen würde wie jene Gewalttätigkeiten in Mississippi, als ich dort einfältig genug gemeint hatte, eine Ausbildung als Optiker stünde mir offen. (Der Künstler und der Politiker nehmen entgegengesetzte Positionen ein. Der Künstler konzentriert sich auf das Leben und sucht es in seinem Wert zu erhöhen, während der Politiker es bei seinem Versuch, Menschen zu Gruppen zu ordnen, mit den sachlichen Aspekten des Lebens zu tun hat. Der Künstler kann durch Vertiefung des Lebens diese dem Politiker nützlichen Aspekte zu gewissen Zeiten unterstützen. Zu anderen Zeiten aber mag der auf das Wohl der Menschen bedachte Politiker den Künstler auslachen, weil er dessen Produkte nicht gebrauchen kann. Daher finden sich diese beiden in die gleiche Richtung zielenden, dem gleichen Leitbild folgenden Gruppen oft zu einem erbitterten Kampf miteinander, als sie es selbst beabsichtigen, während ihre gemeinsamen Feinde das Schauspiel erstaunt betrachten. 120
Warum überließen wir Schriftsteller die Politik nicht anderen und organisierten uns selbst? Wir wußten einfach nicht, wie das zu bewerkstelligen war. Wir standen unserer Umwelt feindlich gegenüber und wußten nicht, wie andere amerikanische Schriftsteller mit diesen Problemen fertig geworden waren. Völlig mit der Kultur, in der wir lebten, überworfen, waren wir nur bestrebt, es neu und anders zu machen, und wir suchten nach Vorbildern in Rußland, Deutschland und Frankreich. Da wir mit unserer Zeit nicht im Einklang waren, schien es nur natürlich, daß wir auf den Appell der Kommunistischen Partei reagierten, der lautete: »Eure Rebellion ist berechtigt. Kommt zu uns, und wir werden eure Vorstellungen kampfbereit unterstützen.« Wir waren darüber glücklich. Warum in Elfenbeintürmen hocken und uns in privater Sprache ergehen, wo wir uns doch nur nach draußen zu wenden hatten und dann von Millionen gehört wurden? Unsere Bücher wurden ins Französische, Deutsche, Russische, Chinesische, Spanische, Japanische übersetzt … Wann je in der Geschichte der Menschheit war jungen Schriftstellern eine so riesige Zuhörerschaft erschlossen worden? Zwar waren die Honorare gering oder noch weniger als das, aber das spielte keine Rolle. Wir schrieben nieder, was wir fühlten. Mit dem Bild einer revolutionären, sich wandelnden Welt konfrontiert, flossen unsere Herzen über von Reaktionen auf diese Welt, von unseren Hoffnungen, unserer Wut gegen Unterdrückung, unseren Träumen von einem neuen Leben; sie flossen über, ohne daß Zwang ausgeübt oder uns hineingeredet wurde.) Vor der Vertagung des Kongresses wurde beschlossen, einen weiteren Kongreß amerikanischer Schriftsteller in New York einzuberufen, der im Sommer 1935 stattfinden sollte. Mich ließ dieser Plan kalt, ich stellte mich vielmehr darauf ein, allein zu bleiben und ganz auf mich selbst gestellt zu schrei-
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ben. Ich mußte jetzt befürchten, daß die Geschichten, die ich geschrieben hatte, nicht der neuen offiziellen Auffassung entsprachen. Mußte ich aufgeben, was ich mir zu schreiben vorgenommen hatte, und neu planen? Nein. Das konnte ich nicht. In meinem Schreiben drückte sich aus, wie ich die Dinge sah, wie ich fühlte und was ich unter Leben verstand; und wer konnte schon seine Sicht der Dinge, seine Empfindungen und die Richtung, die er eingeschlagen hatte, ändern? Meine Beziehungen zu den Kommunisten waren eingefroren. Ich mied sie, und sie mieden mich. Buddy Nealson, ein Mitglied der Kommunistischen Internationale, war nach Chicago gekommen, um die Parteiarbeit unter die Lupe zu nehmen. Dieser Mann, hieß es, war der führende Theoretiker in der Negerfrage und im Begriff, eine Kampagne gegen die »trotzkistischen Elemente« unter den Negern der Kommunistischen Partei aufzuziehen. Ich überlegte mir, wer von den Negern, die ich kannte, als Trotzkist eingestuft werden könnte, und mir fiel nicht ein einziger ein. Keiner der mir bekannten kommunistischen Neger verfügte über die intellektuelle Fähigkeit, den trotzkistischen Standpunkt in der Politik zu definieren. Die meisten waren zugewanderte Analphabeten von den Plantagen im Süden und politisch überhaupt erst interessiert,, seit sie der Kommunistischen Partei angehörten. Trotzdem nahm das Kesseltreiben gegen die Trotzkisten unter den Negern seinen Lauf. Wie das vor sich ging, bekam ich nicht mit, weil ich mich abseits hielt. ImnFrühjahr 1935 liefen die Vorbereitungen für den Schriftstellerkongreß an. Aus irgendwelchen dunklen Gründen – vielleicht um mich zu »retten« – wurde ich von der örtlichen Parteiführung aufgefordert teilzunehmen und sogar als Abgeordneter aufgestellt. Ich wurde von der Leitung des South
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Side-Jungenclub beurlaubt und fuhr mit einigen anderen Abgeordneten per Anhalter nach New York. An die weiten, flachen Prärien des Westens gewöhnt, staunte ich, als ich New York zum erstenmal sah. Wir kamen über den Hudson River in die Stadt, und ich starrte fasziniert auf die langen Reihen sauberer Häuser und gepflegter Grundstücke. Wo waren der rauchige Dunst, der Ruß, die Getreidekräne, Fabriken, Schornsteine und der am Horizont aufquellende Dampf? Die Leute in den Straßen schienen besser gekleidet als die Bevölkerung in Chicago. Sie blickten zielstrebig und nüchtern geradeaus und gingen schneller, als wollten sie ihre Ziele so rasch wie möglich erreichen. Wir kamen am frühen Abend an und ließen uns für die Sitzungen des Kongresses eintragen. Die Eröffnungsversammlung fand in der Carnegie Hall statt. Ich erkundigte mich nach Unterbringungsmöglichkeiten, und die New Yorker Mitglieder des John-Reed-Clubs, alles Weiße und Angehörige der Kommunistischen Partei, schwiegen verlegen. Ich sah, wie ein weißer Kommunist einen Kollegen beiseite nahm und sich mit ihm darüber beriet, wie ich, ein schwarzer Chicagoer Kommunist, untergebracht werden könnte. Während der Reise hatte ich mir nicht groß Gedanken darüber gemacht, daß ich als Neger Schwierigkeiten haben könnte; ich war innerlich mit den Problemen der mir bekannten jungen linksgerichteten Schriftsteller beschäftigt gewesen. Ich fühlte mich angewiedert, als ich jetzt die beiden Weißen hitzig über meine Hautfarbe diskutieren hörte. Einer der beiden weißen Genossen kam schließlich zu mir. »Einen Moment, Genosse«, sagte er. »Ich will mal sehen, daß ich eine Unterkunft für dich besorge.« »Aber ist das nicht längst geregelt?« fragte ich. »So etwas wird doch im voraus arrangiert.« »Ja«, gab er in vertraulichem Ton zu, »wir haben auch einige Adressen, aber wir kennen die Leute nicht. Verstehst du?« 123
»Ja, ja«, sagte ich zähneknirschend. »Hab einen Moment Geduld«, sagte er und faßte beruhigend meinen Arm. »Ich werde schon etwas finden.« »Nein, mach dir keine Mühe«, sagte ich und versuchte, mir meinen Ärger nicht anmerken zu lassen. »Doch, doch«, sagte er und nickte energisch mit dem Kopf. »Es ist ein Problem, aber ich werd’s schon schaffen.« »Aber wieso ist das ein Problem?« konnte ich nicht umhin zu bemerken. »Nein, nein, so hab’ ich es nicht gemeint«, sagte er und faßte sich rasch. Verdammt, fluchte ich mit zusammengebissenen Zähnen. Einige in der Nähe stehende Leute hatten mitbekommen, daß sich hier ein weißer Kommunist um eine Schlafstelle für einen schwarzen Kommunisten zu bemühen schien. Die Schamröte stieg mir ins Gesicht. Der Weiße war gegangen und kam nach wenigen Minuten mit irrem Blick, Schweiß auf der Stirn, zurück. »Hast du etwas gefunden?« fragte ich. »Noch nicht«, sagte er keuchend. »Einen Moment noch. Ich rufe eben einen Bekannten an. Hast du einen Nickel fürs Telefon?« »Nein, laß man«, sagte ich. Ich fühlte mich schwach in den Knien. »Ich werd’schon was finden. Aber ich möchte meinen Koffer irgendwo abstellen, bis zum Ende der Sitzung heute abend.« »Meinst du wirklich, du findest ein Zimmer?« sagte er und versuchte, einen Anklang von verzweifelter Hoffnung zu unterdrücken. »Aber natürlich finde ich was«, sagte ich. Er war weiter unsicher. Er wollte mir helfen, aber er wußte nicht wie. Erschloß meinen Koffer in einem Schrank ein, und ich ging auf die Straße und fragte mich, wo Harlem sei und wo
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ich wohl heute nacht unterkäme. Bevor ich Chicago verließ, hatte ich mir alle möglichen Argumente gegen die Auflösung der John-Reed-Clubs zurechtgelegt, die ich hier vortragen wollte, aber jetzt schien mir die Aufrechterhaltung dieser Institution nicht mehr wichtig. Ich, schwarzhäutig und fast ohne Geld, stand hier in New York auf der Straße und war nicht mit den brennenden Problemen einer linken literarischen Bewegung in den Vereinigten Staaten, sondern mit der Frage beschäftigt, wie ich in dieser Nacht zu einem Bad käme. Ich legte meine Beglaubigungspapiere in der Carnegie Hall vor. Das Gebäude war gerammelt voll. Während ich mir die militanten Reden anhörte, fragte ich mich, warum, zum Teufel, ich hergekommen war. Ich ging auf die Straße und sah mir die Gesichter der Leute um mich herum an. Der weiße Kommunist, der sich um ein Zimmer zum Schlafen für mich bemüht hatte, kam angelaufen. »Hast du schon eine Unterkunft?« »Nein«, erwiderte ich. »Hier, ich hab’ eine Adresse«, sagte er stolz. »Dort wird man dich für heute Nacht aufnehmen.« »Danke«, sagte ich, froh, daß ich mich irgendwo aufs Ohr legen konnte. Als die Veranstaltung zu Ende war, holte ich meinen Koffer vom Klub und fand die Adresse in einer engen, dunklen Straße in Greenwich Village. Ich klopfte an die Tür. Ein Weißer öffnete, warf mir flüchtig einen Blick zu und zog die Tür zu, als müßte er seine Wohnung vor einem Einbrecher verrammeln. »Was wollen Sie?« fragte er aufgeregt durch den Spalt. Ich fragte nach der Person, deren Name auf meinem Zettel stand. »Die sind nicht hier«, sagte er.
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»Wann kommen sie wieder?« fragte ich. »Ich weiß nicht«, stieß er hervor und schlug die Tür zu. Ich ging. Wie konnte ich bei Leuten schlafen, denen mein Anblick Angst einjagte? Ich kehrte zum Klub zurück und sah dort auf dem Bürgersteig einige weiße Genossen. Ich überquerte die Straße, um nicht mit ihnen zusammenzukommen. Ich trat an einen Zeitungsstand. Es ging auf drei Uhr. »Wo geht es nach Harlem?« fragte ich. Der Verkäufer starrte mich entgeistert an. Ich verlor die Geduld. »Herrgott nochmal!« platzte es aus mir heraus. »Ich bin hier fremd. Ich habe Sie nach Harlem gefragt!« Er blinzelte mich an und hob die Hand. »Da lang«, sagte er. Seine Auskunft half mir wenig. Als ich die Straße entlangging, traf ich jemand aus dem Chicagoer Klub. »Hast du noch keine Unterkunft gefunden?« fragte er. »Nein«, sagte ich. »Ich hätte es ja in einem Hotel versucht, aber ich bin weiß Gott nicht in der Stimmung, mich mit dem Portier wegen meiner Hautfarbe einzulassen.« »Ja, verdammt. Warte einen Moment«, sagte er. Er zog ab und kam .kurz darauf mit einer großen, beleibten weißen Frau zurück. Er stellte mich ihr vor. »Sie können heute nacht bei mir in der Wohnung schlafen«, sagte sie. Ich ging mit zu ihrer Wohnung, und sie stellte mich ihrem Mann vor. Ich dankte ihnen für ihre Gastfreundschaft und legte mich dann auf einer Bettstelle in der Küche zum Schlafen hin. Ich stand um sechs auf, zog mich an, klopfte bei ihnen an und verabschiedete mich. Draußen an der Straße setzte ich mich auf eine Bank, holte Bleistift und Papier hervor und notierte mir einiges, was ich zugunsten einer Weiterführung der John-Reed-Clubs vorbringen wollte. Aber wieder schie-
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nen mir diese Probleme unwichtig geworden zu sein. Wichtiger schien mir: Würden Neger jemals in diesem gottverdammten Land halbwegs als Menschen leben können? Ich nahm den Tag über an den verschiedenen Sitzungen teil, aber was ich hörte, bewegte mich nicht. Am Abend fragte ich mich nach Harlem durch und ging dort durch die von Schwarzen wimmelnden Straßen. Ich fragte Passanten und erfuhr zu meiner Überraschung, daß es in Harlem so gut wie keine Hotels für Neger gab. Ich ging weiter und stieß schließlich auf ein großes, gepflegtes Hotel. Schwarze gingen hier ein und aus, Weiße waren nirgends in Sicht. Ich trat voller Selbstvertrauen ein und stellte erstaunt fest, daß der Angestellte im Empfang ein Weißer war. Ich blieb verdutzt stehen. »Ich hätte gern ein Zimmer«, sagte ich. »Hier nicht«, sagte er. »Aber ich bin hier doch in Harlem?« fragte ich. »Ja, aber dies Hotel ist nur für Weiße«, erklärte er. »Und wo ist eins für Farbige?« »Versuchen Sie’s beim YMCA«, sagte er. »Wie komm’ ich dahin?« »Gehn Sie nur hier auf der Straße weiter«, sagte er und zeigte nach draußen. Eine halbe Stunde später war ich beim Verein Christlicher Junger Männer für Schwarze, jenem Bollwerk gegen Jim Crow-Tendenzen, bekam ein Zimmer, nahm ein Bad und schlief zwölf Stunden. Als ich aufwachte, spürte ich nicht die geringste Lust, zum Kongreß zu gehen. Ich lag im Bett und dachte: Ich muß meinen Weg allein gehen … ich muß wieder lernen, wie ich das schaffe … Ich zog mich an und nahm an der Sitzung teil, die über die Auflösung der Klubs entscheiden sollte. Es ging von Anfang an hoch her. Ein New Yorker kommunistischer Schriftsteller
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faßte die geschichtliche Entwicklung der Klubs zusammen und brachte einen Antrag zur Auflösung ein. Während der Debatte erhob ich mich, erklärte, welche Bedeutung die Klubs für junge Schriftsteller hätten und plädierte für ihre Fortführung. Ringsum herrschte Schweigen, als ich mich setzte. Die Debatte war beendet, man schritt zur Abstimmung. Als gefragt wurde, wer für die Auflösung sei, hoben sich fast alle Hände. Ich war der einzige, der dagegen stimmte. Ich wußte, daß mir das als Widerstand gegen die Kommunistische Partei ausgelegt werden würde, aber ich dachte: Zum Teufel mit dem Verein … New York interessierte mich nicht weiter, und ich fuhr am nächsten Morgen zurück. Mit der Auflösung der Klubs war ich frei von jeder Bindung an die Partei. Ich ließ mich bei den Zusammenkünften der Einheit nicht sehen, weil ich fürchtete, erneut dem Zwang der Parteidisziplin unterworfen zu werden. Unter Umgehung des Verbots, sich mit verdächtigen Elementen in Verbindung zu setzen, kam ein kommunistischer Neger zu mir in die Wohnung und erzählte mir von den Anschuldigungen, die die Kommunisten laufend gegeneinander vorbrachten. Erstaunt mußte ich erfahren, daß Buddy Nealson mich als »Schleichhändler der Reaktion« abgestempelt hatte. »Warum nennt er mich so?« fragte ich. »Er sagt, daß du ein kleiner, degenerierter Bourgeois bist«, erklärte er mir. »Was meint er damit?« »Er sagt, du korrumpierst die Partei mit deinen Ideen«, berichtete er mir. »Und wie?« Darauf wußte er keine Antwort. Damit waren meine Beziehungen zur Partei beendet, ich entschloß mich, auszutreten.
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Die Angriffe wurden immer schärfer, und da ich darauf nicht reagierte, verstieg sich Nealson zu noch absurderen Beschimpfungen. Er nannte mich einen »intellektuellen Wechselbalg« und einen »angehenden Trotzkisten«; es wurde behauptet, ich leiste »Widerstand gegen die Parteiführung« und gefiele mir in einer »seraphischen Haltung«, womit gemeint war, ich hätte mich dem Kampf ums Dasein entzogen und hielte mich für einen unfehlbaren Engel. Ich nahm diese Angriffe nicht auf die leichte Schulter, denn inzwischen war in den Reihen der Partei eine wilde, hysterische Jagd auf Trotzkisten ausgebrochen. In der Sowjetunion wurden Trotzkisten erschossen. Ich lag nachts wach und fragte mich, was mir wohl passieren würde, wenn ich in der Sowjetunion lebte. Ich arbeitete den ganzen Tag und schrieb die halbe Nacht und wurde krank. Ich hatte ständige Schmerzen in der Brust und konnte kaum atmen. Ich lag im Bett und dachte über das Leben, das ich in der Partei geführt hatte, nach und war angewidert. Ich sah ein, daß ich bei meinem wirklichkeitsfernen Kampf zur Rettung der Klubs nicht objektiv vorgegangen war. Bei diesem Kampf hatte ich wohl an die Klubs aber ebensosehr auch an mich selbst gedacht. Aber war das ein Fehler gewesen? Wieder nahm ich mir vor, aus der Partei auszutreten, denn der emotionale Preis, den mir die Mitgliedschaft abverlangte, war zu hoch. Eines Morgens, als ich krank im Bett lag, klopfte es an die Tür. Meine Mutter ließ Ed Green ein, den Mann, der von mir hatte wissen wollen, was ich mit dem bei den Genossen gesammelten Material beabsichtigte. Ich starrte ihn vom Bett aus an und wußte sehr wohl, daß er mich für einen eingeschworenen, ernstzunehmenden Feind der Partei hielt. Bitterkeit überkam mich. »Was willst du hier?« fragte ich grob. »Du siehst, ich bin krank.« 129
»Ich habe dir von der Partei etwas mitzuteilen«, sagte er. Ich hatte nicht Guten Tag zu ihm gesagt, und er hatte auch keine Anstalten dazu gemacht. Wir lächelten nicht, weder er noch ich. Er sah sich in meinem kahlen Zimmer um. »Dies ist die Wohnung eines intellektuellen Wechselbalgs‹«, stieß ich zwischen den Zähnen hervor. Er sah mich mit starrem Blick an. Ich konnte es nicht ertragen, ihn so steif dastehen zu sehen. Um wenigstens die primitivsten Regeln der Höflichkeit zu wahren, sagte ich: »Setz dich.« Seine Haltung wurde noch steifer. »Ich bin in Eile.« Er sprach wie ein Armeeoffizier. »Was hast du mir zu sagen?« »Kennst du Buddy Nealson?« fragte er. »Nein«, sagte ich. »Aber ich habe von ihm gehört.« Ich schöpfte Verdacht. Stellte man mir eine politische Falle? Sie hatten mich mit grundlosen Anschuldigungen überschüttet, so daß es zwischen uns keine Vertrauensbasis geben konnte. Wollte er herausfinden, ob ich jemanden kannte, zu dem ich politisch keine Verbindung haben durfte? Aber Buddy Nealson gehörte immerhin der Kommunistischen Internationale an. Aber was, wenn Buddy Nealson plötzlich in Ungnade gefallen war, und Ed Green nun herauszubekommen versuchte, ob ich ihn kannte? »Was ist mit Buddy Nealson?« fragte ich abwartend, um erstmal Näheres über die konkreten Zusammenhänge zu erfahren . »Er will mit dir sprechen«, sagte Ed Green. Ich holte Luft. Wenn ich jetzt mit Kommunisten zusammentraf, konnte ich mich eines gewissen Angstgefühls nicht erwehren. »Worüber?« fragte ich mißtrauisch. »Über deine Parteiarbeit«, sagte er.
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»Ich bin krank und kann mich erst mit ihm treffen, wenn ich wieder gesund bin«, sagte ich. Ed Green stand den Bruchteil einer Sekunde steif da, dann drehte er sich auf den Hacken um und marschierte aus dem Raum. Sollte ich mich auf ein Treffen mit Buddy Nealson einlassen? Er war es, der den kommunistischen Standpunkt für den amerikanischen Neger formuliert hatte; er hatte im Kreml und sogar vor Stalin gesprochen. Vielleicht konnte er mir einige Aspekte des Kommunismus erklären, die mir Kopfzerbrechen bereiteten. Ja, ich würde mich ihm stellen und ihm einige direkte, einfache Fragen vorlegen, um zu hören, was er darauf sagte. Als meine Brustbeschwerden überwunden waren, traf ich eine Verabredung mit Buddy Nealson. Er war untersetzt, hatte dicke, immer zum Lächeln bereite Lippen, wirkte verschwitzt, wenn nicht gar speckig und hatte etwas Verschlagenes. Seine fahrigen Bewegungen zeugten von einer gewissen Unsicherheit, und tatsächlich schien er fortwährend eine tiefsitzende Irritation verbergen zu wollen. Er sprach in kurzen, abgehackten Sätzen und war in seiner Gedankenführung sprunghaft, als arbeitete sein Geist in Assoziationen. Erlitt an Asthma und schnaufte immer wieder in unerwarteten Momenten. Hin und wieder hielt er den Fluß seiner Worte durch einen Schluck aus der Whiskyflasche in Gang. Er war um die halbe Welt gereist und spickte seine Reden gern mit vagen Anspielungen auf europäische Städte. Ich traf mich mit ihm in seiner Wohnung, hörte ihm aufmerksam zu und beobachtete ihn genau, denn ich wußte, ich hatte in ihm einen der Führer des Weltkommunismus vor mir. »Hallo, Wright«, sagte er schnaufend. »Habe von dir gehört.«
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Als wir uns die Hände schüttelten, brach er in ein lautes, anscheinend grundloses Gelächter aus, wobei ich nicht wußte, ob er mit seiner Fröhlichkeit mich meinte oder damit sein Unbehagen zu verbergen suchte. »Ich hoffe, du hast nur Gutes über mich gehört«, sagte ich darauf eingehend. »Setz dich«, sagte er, wiederum lachend, und schwenkte den Arm auf einen Stuhl zu, »Ja, ich habe gehört, du schreibst …« »Ich versuche es«, sagte ich. »Du kannst schreiben«, brachte er schnaufend vor. »Ich habe deinen Artikel über Joe Louis in New Masses gelesen. War gut … Sport, zum erstenmal politisch gesehen, ha ha …« »Ich versuche, die Lebenserfahrungen von Negern begreiflich zu machen«, sagte ich. »Wir brauchen einen Mann wie dich«, äußerte er schmeichelnd. Ich nahm eine abwartende Haltung ein. Ich hatte gedacht, mit einem Mann der Ideen zusammenzukommen, aber das war er nicht. Also vielleicht ein Mann der Tat? Aber auch darauf deutete nichts hin. Ich versuchte das Bezugssystem zu begreifen, in dem sich seine Gedanken bewegten, um herauszufinden, wie ich am besten mit ihm sprach. »Mir wurde gesagt, daß du mit Ross befreundet bist.« Das war ein Pfeil, den er auf mich abschoß. Ich antwortete nicht gleich. Es war keine direkte Frage, eher eine neutrale, etwas kitzlige Andeutung. Ich zwang mich, nicht zu vergessen, daß ich hier mit einem Mitglied der Kommunistischen Internationale sprach. Ross, hatte ich erfahren, stand wegen »parteiwidrigen Verhaltens« der Ausschluß aus der Partei bevor. Wenn sich ein Mitglied der Kommunistischen Internationale erkundigte, ob ich mit einem vor dem Ausschluß stehenden Mann befreundet war, 132
dann fragte er mich damit indirekt, ob ich der Partei gegenüber loyal sei oder nicht. »Ich kann nicht sagen, daß ich mit Ross besonders befreundet bin«, sagte ich offen. »Aber ich kenne ihn gut, recht gut sogar.« »Wieso kennst du ihn so gut, wenn er nicht dein Freund ist?« fragte er lachend, um seiner Frage die bedrohliche Spitze zu nehmen. »Ich habe einen Bericht über sein Leben geschrieben; ihn dadurch genau so gut kennengelernt, wie andere ihn auch kennen«, erwiderte ich. »Ich habe davon gehört«, sagte er. »Wright … Ha, ha … Ich nenne dich der Einfachheit halber Dick, hm?« »Natürlich«, sagte ich. »Ross ist Nationalist, Dick«, sagte er. Er machte eine Pause, damit diese Beschuldigung voll ankam. Er meinte damit die extreme, militante Haltung von Ross. »Wir Kommunisten dramatisieren den schwarzen Nationalismus nicht«, sagte er gedehnt lachend, dennoch anklagend. »Wie meinst du das?«, fragte ich. »Wir machen um einen Mann wie Ross keine Schau.« Er redete jetzt direkt. »Wir sprechen über zwei verschiedene Dinge«, sagte ich. »Du scheinst etwas dagegen zu haben, daß ich Ross populär mache, weil er dein politischer Gegner ist. Aber mich interessieren Ross’ politische Ansichten nicht im geringsten. Der Mann ist mir wichtig, weil er in gewisser Weise der Typ des in den Norden eingewanderten Negers ist. Eine Geschichte, die auf einem Vorfall in seinem Leben basiert, habe ich bereits verkauft.« Das fand Nealson aufregend. »Was für ein Vorfall war das?« fragte er. »Eine unangenehme Sache, in die er mit dreizehn Jahren verwickelt war«, sagte ich. 133
Er starrte einen Moment ausdruckslos vor sich hin, dann lachte er. »Oh«, sagte er schulterzuckend, »ich dachte, es wäre politisch.« »Aber ich sage dir doch, du irrst dich mit deinen Vermutungen«, erklärte ich ihm. »Es ist nicht meine Absicht, mit dem, was ich schreibe, gegen euch zu kämpfen. Ich habe keinen politischen Ehrgeiz. Ich will weder irgendwelchen Genossen helfen noch sie verletzen. Glaub mir. Ich will das Leben der Neger schildern, nichts weiter.« »Bist du fertig mit deiner Sache über Ross?« fragte er. »Nein«, sagte ich. »Ich habe den Plan fallen lassen. Die Parteimitglieder wurden mißtrauisch und hatten Angst, mir noch mehr zu erzählen.« Er lachte. »Du solltest uns besser kennen, Dick«, sagte er grinsend. »Ich habe eine hohe Stellung in der Partei. Ich werde dieses Mißverständnis ausräumen.« »Ich brauche niemanden, der die Hand schützend über mich hält«, sagte ich. »So meine ich das nicht«, sagte er grinsend und schnaufte dann wieder. »Hier, Dick, trink.« »Nein danke.« »Du trinkst nicht?« »Selten.« Es gibt Männer, mit denen man trinken kann, und andere, mit denen man nicht trinken kann. Nealson gehörte zu denen, mit denen man nicht trinken kann. Er trank und stellte die Flasche wieder ab; er warf mir einen scharfen, einschüchternden Blick zu. Ich saß angespannt da, war aber eisern beherrscht. »Dick«, sagte er, »uns fehlt es an guten Leuten. Eine sehr ernste Krise kommt auf uns zu.«
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»Wann ist die Partei je ohne Krise?« sagte ich. Sein Lächeln erstarb, und er sah mich starr an. »Du meinst das ironisch, Dick, wie?« sagte er. »Nein«, sagte ich. »Es ist doch wahr. »Jede Woche, jeden Monat gibt es eine Krise.« »Du bist ein komischer Kerl«, sagte er, halb lachend, halb schnaufend. »Wir haben eine wichtige Aufgabe vor uns. Die Arbeit in der Partei ändert sich. Die Gefahr, mit der wir zu tun haben, ist der Faschismus, eine Gefahr für alle.« »Das ist mir klar«, sagte ich. »Du warst kürzlich in New York«, sagte er unvermittelt. »Ja.« »Hast du dort mit irgendwelchen Parteiführern gesprochen?« »Nein.« »Du hast dort mit niemandem über deine Arbeit hier gesprochen?« Ich starrte ihn an. Wollte er herausbekommen, ob ich irgendwelche seiner Anschuldigungen mit Parteiführern auf nationaler Ebene besprochen hatte? Wollte er wissen, ob ich Beziehungen zu politisch einflußreichen Stellen hatte, so daß ihm durch mich Schwierigkeiten entstehen könnten? »Ich habe dir gesagt, daß ich keinen politischen Ehrgeiz habe«, gab ich zur Antwort. »Ja«, meinte er. »Es wird erzählt, daß du gegen die Auflösung der Klubs warst.« »Das stimmt«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Meiner Meinung nach wurde auf diese Weise den besten Schriftstellern in der Partei der Boden unter den Füßen entzogen.« »Unser Ziel muß es sein, den Faschismus niederzuringen«, sagte er das Thema wechselnd, während ihn gleichzeitig ein Asthmaanfall packte. »Wir haben lange über dich und deine Begabung geredet. Wir wollen, daß du für uns arbeitest. Wir
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müssen die enge Bahn unserer Parteiarbeit sprengen und unsere Botschaft im Kirchenvolk, unter Studenten, Klubangehörigen, Berufstätigen und im Mittelstand verbreiten …« »Ich bin heftig beschimpft worden«, sagte ich ohne Spitze. »Ist das schon ein erstes ›Sprengen der engen Bahn‹?« »Vergiß das«, sagte er lachend. Er sagte damit nichts gegen diese Beschimpfungen. Das hieß, daß die Beschimpfungen, wenn ich mich ihm nicht beugte, wieder einsetzen würden. »Ich weiß nicht, ob ich der passende Mann bin«, sagte ich freimütig. »Wir haben beschlossen, dich mit einer wichtigen Aufgabe zu betrauen«, sagte er. »Was wollt ihr von mir?« »Du sollst eine Kommission zur Bekämpfung der hohen Lebenskosten auf die Beine stellen …« »Der hohen Lebenskosten?« rief ich aus. »Von diesen Dingen verstehe ich nichts.« »Es ist ganz einfach. Du lernst das schnell«, sagte er. Ich war dabei, einen Roman zu schreiben, und er wollte mich anstellen, die Preise von Lebensmittelgeschäften zu registrieren. Eine besonders hohe Meinung von dem, was ich tue, hat er nicht, sagte ich mir. »Genosse Nealson«, sagte ich, »ein Schriftsteller, der noch nichts Nennenswertes geschrieben hat, ist eine höchst fragwürdige Person. Das trifft genau auf mich zu. Aber ich glaube, ich kann schreiben. Ich habe nicht vor, um irgendwelche Vergünstigungen zu bitten, aber ich bin mitten in der Arbeit an einem Buch, das ich in sechs Monaten oder so fertigzuhaben hoffe. Komme ich dabei zu der Überzeugung, daß ich mich über meine Begabung zu schreiben geirrt habe, dann werde ich mich euch voll und ganz zur Verfügung stellen.« »Die Partei kann nicht so lange warten«, sagte er. »Du wirst schon Zeit zum Schreiben finden.« 136
»Ich muß tagaus tagein für meinen Lebensunterhalt arbeiten« , sagte ich und mit dem Hintergedanken, daß er schließlich von der Partei dafür bezahlt wurde, daß er hier saß und mit mir redete. »Weißt du, wir wollen einen Führer der Massen aus dir machen«, sagte er. »Aber angenommen, ich eigne mich nicht dazu?« Er lachte. Bisher hatte er kein einziges Wort von mir ernstgenommen. Sein Gespräch war eine reine Spielerei, er wollte mich überlisten. Die Gefühle anderer bedeuteten ihm nichts. »Dick«, sagte er und fuhr mit der Hand durch die Luft, als wischte er ein lästiges Insekt weg, »du mußt mit der Masse des Volkes in Berührung kommen …« »Du kennst einiges von meinen Arbeiten«, sagte ich. »Ist es nicht gut genug, um mir wenigstens eine Chance zuzugestehen?« »Es ist nicht die Aufgabe der Partei, sich mit deinen Gefühlen auseinanderzusetzen«, sagte er. »Vielleicht bin ich in der Partei fehl am Platze«, erklärte ich rundheraus. »O nein! Sag das nicht«, sagte er schnaufend. Er sah mich an. »Das klingt ziemlich grob, nicht wahr?« »Ich drück’ mich so aus, wie mirs ums Herz ist«, sagte ich. »Ich möchte reinen Tisch zwischen dir und mir. Ich habe verdammt zuviel Ärger mit der Partei gehabt.« Er lachte und steckte sich eine Zigarette an. »Dick«, sagte er kopfschüttelnd, »das Ärgerliche an dir ist, daß du dich zu sehr mit diesen weißen Künstlern auf der North Side eingelassen hast … Du redest sogar wie sie. Du mußt erstmal deine eigenen Landsleute kennenlernen …« »Ich glaube, ich kenne sie«, sagte ich und merkte nun, daß es unmöglich war, mit ihm zu reden. »Ich bin in Dreiviertel der Wohnungen der Neger auf der South Side gewesen …« 137
»Aber du mußt mit ihnen arbeiten«, sagte er. »Ich habe mit Ross gearbeitet und wurde als Spitzel verdächtigt«, sagte ich. Schweigen trat ein. Es klingelte an der Wohnungstür, und er ließ seine Frau ein, eine dunkle, attraktive weiße Europäerin, die ein Buch unter dem Arm hatte. Sie kam mit einem offenen Lächeln herein. Nealson stellte mich ihr vor. »Was für ein Buch lesen Sie da?« fragte ich. »Ein Dracula-Roman«, sagte sie und hielt mir das Buch bereitwillig hin. »Weißt du, Dick, du und ich, wir sollten auf der South Side das kulturelle Leben der Neger fördern.« »Ich bitte Nealson gerade, mir die Chance dazu zu geben«, sagte ich und fragte mich, in was für einer Beziehung Negerkultur und Draculageschichten zueinander stehen mochten. »Ich möchte ihn dazu bringen, eine Aktion gegen die hohen Lebenskosten zu starten«, erklärte Nealson seiner Frau. »Aber er schreibt an einem Buch …« »Aber das braucht ihn doch nicht am Schreiben zu hindern«, sagte sie und glaubte damit mein Problem leichthin gelöst zu haben. »Tagsüber arbeite ich«, sagte ich. »Oh, du wirst schon Zeit zum Schreiben finden«, sagte sie obenhin. Sie verließ das Zimmer, und wieder herrschte Schweigen. Als nächstes war es an dem Mitglied der Kommunistischen Internationale, etwas zu sagen. »Dick«, sagte er ernst, »die Partei hat entschieden, daß du diese Aufgabe zu übernehmen hast.« Ich schwieg. Mir war klar, was das zu bedeuten hatte. Ein Beschluß war die höchste Forderung, die von der Partei an einen Kommunisten ergehen konnte, und sich einem solchen Beschluß zu widersetzen, bedeutete, die Partei in ihrer Hand-
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lungsfähigkeit lahmzulegen. Im Prinzip stimmte ich dem voll und ganz bei, denn ich wußte, daß die arbeitende Bevölkerung erst dann in den Besitz der politischen Macht kam, wenn sie einig vorging. Seit Jahrhunderten unterdrückt, geteilt, jeder Hoffnung beraubt, korrumpiert und in die Irre geführt, waren sie zynisch, – wie ich es selbst einmal gewesen war – und der Versuch der Kommunisten, Einigkeit zu schaffen, hatte sich historisch als die einzige Möglichkeit erwiesen, Disziplin durchzusetzen. Kurz, Nealsons Frage an mich war, ob ich nun Kommunist sei oder nicht. Ich war es, aber ich wollte es auf meine Weise sein. Ich wollte den Gefühlen des Volkes Ausdruck und Gestalt geben, ich wollte ihre Herzen erwecken. Aber das konnte ich Nealson nicht sagen, er hätte dann nur geschnauft. »Ich werde die Kommission aufstellen und sie dann einem anderen übergeben«, schlug ich vor. »Du willst also nicht tun, was von dir erwartet wird?« fragte er mich. »Nein«, sagte ich entschieden. »Du hast aber nur zu gern weiße Schriftsteller organisiert«, fuhr er mich an. »Ich habe Leute organisiert, die ich verstand«, sagte ich. »Was würdest du dann gern in der South Side tun?« »Ich möchte gern schwarze Künstler organisieren«, sagte ich. »Aber so etwas braucht die Partei jetzt nicht«, sagte er. Ich stand auf. Ich wußte, daß er nicht beabsichtigte, mich, wenn ich die Kommission aufgestellt hatte, gehen zu lassen. Ich wollte ihm sagen, daß ich mit der Partei fertig war, scheute aber noch vor einer solchen Entscheidung zurück. Ich ging, wütend auf mich selbst, wütend auf ihn, wütend auf die Partei. Nun ja, ich hatte den Beschluß nicht abgelehnt, ihn aber auch nicht voll akzeptiert. Ich hatte halbwegs gekniffen,
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um Zeit zum Schreiben herauszuschlagen, Zeit zum Denken. Wieder drängte es mich, auszutreten, aber ich brachte es nicht fertig. Ich wußte nun, daß Nealson nicht der Typ des Führers war. Er war geistig zu begrenzt, zu starr. Verständnis für das Leben selbst oder für Politik hatte ich nicht bei ihm entdeckt. Mich hatte er anzusprechen versucht, indem er mir einen Drink anbot, und als er damit keinen Erfolg hatte, war er zu Drohungen übergegangen; er hatte mir zu schmeicheln versucht, und war mir, als auch das fehlschlug, mit Ausschluß gekommen. Und wenn ich noch so sehr im Unrecht war, er hatte mich gewiß nicht vom Gegenteil überzeugen können. Ich entschloß mich, einen Monat an der Sache zu arbeiten, um ihm dann erneut einen Kompromiß vorzuschlagen. Meine Aufgabe war es, Zusammenkünften und Diskussionen bis spät nachts beizuwohnen und mich mit anderen Kommunisten zusammenzutun, um die Bevölkerung in der South Side anzuführen. Wir berieten über die Wohnverhältnisse und darüber, wie man die Stadt zwingen könne, öffentliche Anhörungen über die Lebensbedingungen der Neger zu veranstalten. Zähneknirschend nahm ich an den täglichen Notierungen der Preise von Schweinekoteletts teil und sehnte mich nach Hause, um schreiben zu können. Ich sah ein, daß Schweinekoteletts ein lebenserhaltendes Nahrungsmittel waren, aber bei der Registrierung ihrer steigenden und fallenden Preise hätte ich gern einem anderen den Vortritt gegeben. Nealson war geschickter als ich und stellte mich, bevor ich Gelegenheit hatte, ihn zu stellen. Ich wurde zu einem Treffen mit ihm und einem »Freund« aufgefordert. Als ich am Abend in das genannte South Side-Hotel kam, wurde ich einem untersetzten, gelbhäutigen Mann vorgestellt, der sich wie ein Napoleon gab. Er trug eine Brille und spitzte seine üppigen Lippen, als wäre er ständig in Gedanken. Er stolperte leicht,
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wenn er ging. Er sprach langsam, korrekt und versuchte seine Worte mit mehr Bedeutung zu befrachten, als sie zu tragen vermochten. Er sprach hochtrabend von nebensächlichen Dingen. Er sagte, sein Name sei Smith, er käme aus Washington und plane die Gründung einer Negerorganisation auf nationaler Ebene, in der alle vorhandenen Negerinstitutionen zentral zusammengefaßt und zu gemeinsamem Handeln vereinigt werden sollten. Wir drei saßen einander gegenüber am Tisch. Keiner lächelte. Ich wußte, daß sie ein weiteres und letztes Angebot an mich hatten, und daß es, wenn ich nicht akzeptierte, zum offenen Ausbruch von Feindseligkeiten kommen würde. »Wright, hättest du Lust, in die Schweiz zu gehen?« fragte Smith plötzlich mit dramatischer Geste. »Schon«, sagte ich. »Aber ich stecke hier bis über die Ohren in Arbeit.« »Die kannst du anderen überlassen«, sagte Nealson. »Dies ist wichtig.« »Was gäbe es für mich in der Schweiz zu tun?« fragte ich. »Du reist als Delegierter der Parteijugend«, sagte Smith. »Von dort kannst du in die Sowjetunion reisen.« »So gern ich das täte, ich fürchte, ich kann nicht«, sagte ich ehrlich. »Ich kann einfach von dem Buch nicht weg, an dem ich schreibe.« Schweigend saßen wir da und sahen uns Zigaretten rauchend an. »Hat Nealson dich über meine Situation informiert?« fragte ich Smith. Smith gab keine Antwort. Er sah mich lange an, dann fuhr es aus ihm heraus: »Du bist ein Narr, Wright!« »Ich stand auf. Smith kehrte mir den Rücken. Noch ein Wort, und ich hätte ihm mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Nealson schnaufte und lachte dümmlich.
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»Mußte das sein?« fragte ich zitternd. Ich erinnerte mich an meine Kindheit, wo ich mich mit jedem, der mich so beschimpfte, herumgeschlagen hatte, bis Blut floß. Aber ich war mittlerweile erwachsen, hatte mich in der Hand und gelernt, aufwallende Gefühle zu unterdrücken. Ich nahm meinen Hut und ging zur Tür. Laß dich nicht hinreißen mahnte ich mich. Nicht die Kontrolle verlieren … »Ich verabschiede mich«, sagte ich. Ich ging nach Hause. Mein Entschluß war gefaßt. Bei der nächsten Zusammenkunft der Einheit würde ich meinen Austritt verkünden und den Genossen mitteilen, daß ich weiterhin ideologisch mit der Partei übereinstimmte, mich aber nicht mehr an ihre Entscheidungen gebunden fühlte. Beim nächsten Treffen bat ich, mich auf die Rednerliste zu setzen, was man bereitwillig tat. Nealson war anwesend. Ebenso Evans und auch Ed Green. Als ich an der Reihe war, erhob ich mich und sagte: »Genossen, ich habe in den vergangenen zwei Jahren täglich mit den meisten von euch gearbeitet. Trotzdem sehe ich mich seit einiger Zeit in einer schwierigen Situation in der Partei. Wie es dazu kam, ist eine lange Geschichte, die ich hier nicht vortragen will; es würde zu nichts führen. Aber ich will in aller Offenheit sagen, daß ich glaube, eine Lösung gefunden zu haben. Ich mache hier heute abend den Vorschlag, daß mein Name aus der Mitgliedsliste der Partei gestrichen wird. Ich fühle mich zu diesem Vorschlag nicht verpflichtet, weil es zwischen uns irgendwelche ideologischen Differenzen gäbe. Ich möchte nur nicht mehr an die von der Partei getroffenen Entscheidungen gebunden sein. Ich habe nicht vor, meine Mitgliedschaft in Organisationen aufzugeben, in denen die Partei Einfluß hat, und ich werde mich in diesen Organisationen voll an das Parteiprogramm halten. Ich hoffe, meine Worte werden in dem Sinne aufgenommen, in dem sie ge-
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meint sind. Vielleicht spreche ich in Zukunft gern einmal wieder mit den Parteiführern, um sie nach Aufgaben zu fragen, für die ich geeignet wäre.« Ich nahm unter den schweigenden Zuhörern Platz. Der anwesende Parteisekretär blickte ängstlich zu Nealson, Evans und Ed Green. »Ist eine Diskussion um den Antrag des Genossen Wright vorgesehen?« fragte er schließlich. »Ich beantrage, daß eine solche Diskussion vertagt wird«, sagte Nealson. In einer rasch vorgenommenen Abstimmung wurde Nealsons Antrag angenommen. Ich sah mich in dem Raum, in dem es wieder still geworden war, um, langte nach meinem Hut und stand auf. »Ich möchte jetzt gehen«, sagte ich. Keiner äußerte sich. Ich ging hinaus in die Nacht und spürte, daß mir eine schwere Last von den Schultern genommen war. Ich war frei. Und ich hatte es auf anständige Weise und auf gradem Wege geschafft. Ich hatte keine Bitterkeit aufkommen lassen, nichts abgeleugnet und niemanden angegriffen oder beschuldigt. Ich mußte, während ich nun durch die nächtlichen Straßen schlenderte, daran denken, wie ich in dem Kino in Jackson Geld gestohlen, wie ich das Fenster aufgestemmt und den Revolver gestohlen hatte, wie ich in den Lagerschuppen eingebrochen war und die Obstkonserven gestohlen hatte, und ich erinnerte mich daran, wie ich meinen Boß in Memphis angelogen hatte, um von der Firma freizukommen und nach Chicago reisen zu können, wie ich Mr. Hoffman angelogen und in Memphis Leihzettel gefälscht hatte, um mir in der Bibliothek Bücher zu beschaffen …Nein, ich hatte mich geändert, ich war nicht mehr all diesen wilden Impulsen ausgeliefert. Ich hatte mich meinen Genossen gestellt, weiter nichts zum Ausdruck gebracht, was ich empfand, und es dabei bewenden lassen. 143
Die Partei konnte nicht behaupten, daß ich mich feindselig verhalten und sie attackiert hätte. Ein Trotzkist oder ein Mann, der die Arbeit der Partei hätte stören oder untergraben wollen, wäre Mitglied geblieben, um sie um so wirkungsvoller bekämpfen und lahmlegen zu können. Aber ich hatte nur um meine Freiheit gebeten, hatte niemanden angeklagt oder Kritik geübt. Eines Tages, dachte ich, wenn die Partei gereift sein und gelernt haben mochte, ohne terroristische Taktiken, ohne Einschüchterung, Drohungen, Verdächtigungen und Beschimpfungen auszukommen – vielleicht würde ich mich dann wieder bei ihr sehen lassen … Ach Gott… wie naiv ich war! Ich war jung und voller Vertrauen. Ich fühlte mich stark, meine Kraft war ungebrochen. Ich hatte geschickt ein Problem gelöst, das mir seit langer Zeit auf der Seele gelegen hatte, und konnte mich jetzt ganz auf mein Schreiben konzentrieren und mich vor mir selbst rechtfertigen. Ich wußte damals noch nicht, wie wenig ich die politische Partei kannte, der ich angehörte. Aber ich mußte bald erfahren, wie allzu simpel meine Beweggründe, wie allzu vertrauensselig meine Haltung und wie weit geöffnet und unschuldig meine wie von morgendlichem Tau genetzten Augen waren … Am nächsten Abend kamen zwei kommunistische Neger zu mir in die Wohnung. Sie stellten sich unwissend, als wäre ihnen nicht bekannt, was am Abend vorher auf dem Treffen der Einheit geschehen war. Geduldig berichtete ich es ihnen. »Was du erzählst, widerspricht dem, was Nealson sagt«, erklärten sie und verrieten damit, aus welchem Grunde sie gekommen waren. »Was sagt denn Nealson?« fragte ich. »Er sagt, daß du mit einer Gruppe von Trotzkisten unter einer Decke steckst und andere Parteimitglieder aufgefordert hast, deinem Beispiel zu folgen und auszutreten …« 144
»Was?« stieß ich hervor. »Das ist einfach nicht wahr. Ich habe gebeten, mich von der Mitgliedsliste zu streichen. Irgendwelche politischen Probleme habe ich nicht zur Sprache gebracht.« Was hatte das zu bedeuten? fragte ich mich. »Vielleicht, was meint ihr, sollte ich klar herausstellen, daß ich mit der Partei gebrochen habe. Wenn Nealson sich so verhält, trete ich auf der Stelle aus …« »Das kannst du gar nicht«, erklärten sie. »Wieso?« fragte ich. »Niemand kann aus der Kommunistischen Partei austreten«, sagten sie. Ich sah sie an und lachte. »Was ist das für ein Unsinn!« sagte ich. »Nealson würde dich in aller Öffentlichkeit ausstoßen, dir dann den Boden unter den Füßen wegziehen«, sagten sie. »Die Leute würden meinen, irgend etwas wäre faul, wenn jemand wie du in der South Side austritt.« Mir kam die Wut. War die Partei so schwach, so wenig ihrer selbst sicher, daß sie, was ich bei der Zusammenkunft gesagt hatte, nicht hinnehmen konnte? Wer dachte sich solche taktischen Maßnahmen aus? Und dann, plötzlich, ging mir ein Licht auf. Dies war die geheime, im Untergrund übliche Taktik der kommunistischen Bewegung unter den russischen Zaren im alten Rußland! Die Partei meinte, mich moralisch vernichten zu müssen, nur weil ich es ablehnte, mich ihren Entscheidungen zu beugen. Ich erkannte, daß meine Genossen sich ein Phantasiegebilde zurechtbastelten, das mit den tatsächlichen Verhältnissen nicht das geringste zu tun hatte. »Sagt Nealson: wenn er mich bekämpft, dann werde ich, so wahr mir Gott helfe, auch kämpfen!« sagte ich. »Wenn er an diese verdammte Geschichte nicht rührt, dann ist alles in Ordnung. Wenn er allerdings meint, daß ich es nicht wagen würde, ihn öffentlich anzugreifen, dann ist er auf dem Holzweg!« 145
Ich erfuhr nicht, ob meine Herausforderung Nealson zu Ohren kam, stellte nur fest, daß allgemeines Wutgeschrei gegen mich nicht erfolgte. In den Reihen der Partei selbst aber brach ein Sturm los, und ich wurde als Verräter gebrandmarkt, als wankelmütig und als jemand, der seinen Glauben verleugnet hatte. Was für eine vertrackte Erfahrung hatte ich da machen müssen! Nie hatte ich mich in der Kommunistischen Partei wirklich heimisch gefühlt. Die Möglichkeit dazu war vielleicht gegeben, aber ich war mir nie der Beweggründe der Leute, mit denen ich arbeitete, sicher gewesen, und umgekehrt schien es ihnen mit mir genauso gegangen zu sein. Meine Genossen kannten mich, meine Familie, meine Freunde, und sie wußten weiß Gott von meiner erbärmlichen Armut, aber sie hatten nie die Furcht vor meiner persönlichen Lebens- und Verhaltensweise, vor einer individuellen Lebensauffassung überwinden können, mit der ich geboren worden war. Ich mied jetzt so weit wie möglich den Umgang mit Genossen und verlor den Kontakt zur Partei, der in dieser Zeit viele junge Neger der South Side beitraten. Die Partei hatte ihre Breitenarbeit im Sinne der Volksfrontpolitik verstärkt, und so boten sich jungen Negern, die bisher aufgrund ihrer Rasse und ihrer gesellschaftlichen Stellung ein jämmerliches Leben geführt hatten, viele Möglichkeiten. Der von mir abgelehnten Einladung, als Jugenddelegierter in die Schweiz zu gehen, folgte ein junger Neger, der bis zu dem Zeitpunkt, zu dem ihm eine Reise nach Europa in Aussicht gestellt wurde, ein Gegner der Kommunistischen Partei und ihrer Ideen gewesen war. Das Wohlfahrtsamt überwies mich vom South Side-Jungenklub zum Federal Negro Theatre, wo ich die Öffentlichkeitsarbeit übernehmen sollte. Es gab Tage, an denen ich mich re-
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gelrecht nach den unter den Genossen stattfindenden Diskussionen und Lagebesprechungen sehnte, aber immer, wenn mir vom internen Parteibetrieb berichtet wurde, hörte ich nur von Anschuldigungen und Gegenbeschuldigungen, von Drohungen und Erpressungen. Ich war froh, daß ich nichts mehr damit zu tun hatte. Alle Energien, schien es, wurden bei inneren Streitereien und politischen Haarspaltereien verbraucht. Das Federal Negro Theatre, an dem ich die Öffentlichkeitsarbeit machte, brachte eine Reihe von mittelmäßigen Stücken, die alle mit Dschungelszenen und Spirituals im »Neger-Stil« aufgeputzt worden waren. So nahm sich zum Beispiel die Direktorin, eine hagere Weiße, Typ der ältlichen Missionarin, ein im Mittelalter mit weißen Charakteren spielendes Stück vor, transponierte es sprachlich unter Südstaatenneger und ließ es vor einem afrikanischen Hintergrund spielen. Zeitgenössische Stücke, die sich realistisch mit dem Leben der Neger auseinandersetzten, wurden als umstritten abgelehnt. Das Ensemble bestand aus etwa vierzig schwarzen Schauspielern und Schauspielerinnen, die mißgelaunt herumlungerten, sich langweilten und nichts mit sich anzufangen wußten. Was für eine Verschwendung an Talenten, dachte ich. Hier war die Möglichkeit, ein lohnendes Negerschauspiel auf die Beine zu stellen, und niemand kam auf diesen Gedanken. Ich machte mich mit der Situation vertraut und besprach die Sache mit weißen Freunden, die einflußreiche Ämter in der Behörde für Arbeitsförderung hatten. Ich bat sie, die weiße Direktorin mitsamt ihrer verschrobenen ästhetischen Anschauungen durch jemanden zu ersetzen, der Theatermann war und sich mit Negern auskannte. Sie versprachen mir ihre Hilfe. Innerhalb eines Monats wurde die weiße Theaterleiterin versetzt. Wir zogen von der South Side um zum Loop, wo wir in
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einem erstklassigen Theater untergebracht wurden. Als Direktor empfahl ich mit Erfolg Charles DeSheim, einen hochbegabten Juden. DeSheim und ich hatten lange Gespräche miteinander, in denen ich umriß, was ich mir als Programm vorstellte. Als erste Aufführung schlug ich drei Einakter vor, darunter Paul Greens Hymn to the Rising Sun, ein unbarmherziges, poetisch starkes Stück über das Los der Kettensträflinge im Süden. Ich war glücklich. Endlich war ich in der Position, Vorschläge zu machen, die auch ausgeführt wurden. Ich war überzeugt, daß sich hier die einmalige Chance bot, ein wirkliches Negertheater aufzuziehen. Ich setzte ein gemeinsames Treffen an, stellte dem Ensemble DeSheim vor und sagte, daß er ein Theaterfachmann sei und mit ihnen ernsthafte Stücke aufführen würde. DeSheim hielt einen Vortrag und sagte, daß er nicht als Regisseur an dem Theater sei, sondern den Negern helfen wolle, selbst Regie zu führen. Er sprach so schlicht und überzeugend, daß sie aufstanden und Beifall klatschten. Stolz übergab ich dann allen Mitgliedern des Ensembles Exemplare von Paul Greens Hymn to the Rising Sun. DeSheim teilte den Schauspielern die Rollen zu, und ich nahm Platz, um den dramatischen Vortrag reifer Negerschauspieler zu genießen. Aber irgendwie klappte es nicht. Die Neger kamen ins Stottern und versagten dem Text gegenüber. Schließlich hörten sie ganz auf vorzulesen. DeSheim war ratlos. Einer der Schauspieler erhob sich. »Mr. DeSheim«, sagte er, »wir finden das Stück abstoßend, und wir sind nicht bereit, es vor einem amerikanischen Publikum zu spielen. Ich glaube nicht, daß im Süden solche Verhältnisse herrschen. Ich habe im Süden gelebt und dort nie Kettensträflinge gesehen. Wir wollen etwas spielen, Mr. DeSheim, wodurch wir beim Publikum Zustimmung finden.«
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Ich traute meinen Ohren nicht. Ich hatte geglaubt, daß die Negerschauspieler darauf brannten, sich ernsthaft auf dem amerikanischen Theater zu artikulieren, daß sie sich schämten, weiter die stereotypen Clowns, Mammies, Scherenschleifer und Würfelspieler mit Wassermelonen in Baumwollfeldern zu spielen … Und jetzt protestierten sie gegen dramatischen Realismus! Ich versuchte das Stück zu verteidigen und wurde ausgebuht. »Was für ein Stück wollen Sie denn spielen?« fragte DeSheim sie. Sie wußten es nicht. Ich ging ins Büro, sah ihre Papiere durch und stellte fest, daß die meisten während ihrer Karriere nur Klamauktheater gespielt hatten. Ich hatte gemeint, sie hätten sich notgedrungen damit begnügt, weil ihnen das ernste, wirkliche Theater verschlossen war, und jetzt stellte sich heraus, daß sie mit ernstem Theater nichts im Sinn hatten und ängstlich davor zurückscheuten, in einem Stück aufzutreten, das dem Publikum womöglich nicht gefiel, und das, obwohl sie das Publikum gar nicht kannten und nicht wußten, was ihm gefiel oder nicht. Ich dachte – wenn auch nur vorübergehend – daß die Weißen vielleicht doch recht hätten, wenn sie behaupteten, die Neger seien Kinder und würden nie erwachsen. DeSheim teilte dem Ensemble mit, daß er jedes von ihnen gewünschte Stück bringen würde, und sie saßen wie die verschreckten Mäuse und fanden nicht die Worte, ihren unbestimmten Vorstellungen Ausdruck zu geben. Als ich einige Tage darauf morgens ins Theater kam, erfuhr ich zu meinem Entsetzen, daß die Schauspieler einen Antrag auf Entlassung von DeSheim vorgelegt hatten. Ich wurde aufgefordert, zu unterzeichnen, und lehnte ab. »Wissen Sie nicht, daß wir Ihre Freunde sind?« fragte ich sie.
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Sie sahen mich mit funkelnden Augen an. Ich bestellte DeSheim ins Theater, und wir berieten erregt. »Was soll ich tun?« fragte er. »Ziehen Sie sie ins Vertrauen«, sagte ich. »Sagen Sie ihnen, daß sie ein Recht darauf haben, daß Mißstände behoben werden.« DeSheim folgte meinem Rat, rief das Ensemble zusammen und sagte, daß sie ein Recht darauf hätten, sich über ihn zu beschweren, er jedoch meinte, daß Mißverständnisse auf gütlichem Wege beigelegt werden könnten. »Von wem wissen Sie denn, daß wir einen Beschwerdeantrag gestellt haben?« wollte einer der Neger wissen. DeSheim sah mich hilflos an und stammelte irgend etwas. »Hier im Theater gibt’s einen Onkel Tom!« schrie eine junge Negerin. Nach dieser Zusammenkunft kam eine Delegation von Negern in mein Büro, von denen einige ihre Messer zogen und mir damit vorm Gesicht herumfuchtelten. »Mach, daß du hier wegkommst, oder wir machen dir die Hölle heiß!« sagten sie. Ich wollte mit ihnen sprechen, aber es gelang mir nicht. An diesem Tag suchte eine riesige, fette Schwarze, eine Bluessängerin, Gelegenheit, so oft wie möglich an mir vorbeizugehen, und dann zischte sie mich im Singsang drohend an: »Lord, oh haß’ ich eines Weißen Nigger.« Ich rief meine Freunde in der Behörde für Arbeitsförderung an: »Sorgt dafür, daß ich einen anderen Job bekomme. Die bringen mich sonst noch um.« Schon am nächsten Tag hatten DeSheim und ich unsere Papiere. Wir verabschiedeten uns voneinander und gingen unserer Wege.
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Ich bekam die Stelle für Öffentlichkeitsarbeit an einem Experimentiertheater mit weißen Schauspielern und behielt von Anfang an meine Ideen für mich, notierte sie mir und hütete mich davor, sie in die Tat umsetzen zu wollen. Mit der Theaterwelt der Neger wollte ich ebensowenig zu tun haben wie mit irgendwelchen Mitgliedern der Kommunistischen Partei. Wenn ich ehemalige Genossen traf, dann behandelten sie mich wie Luft und hielten sich damit an das Parteiprinzip, das der Arbeiterklasse zur Pflicht machte, »jeden Kontakt mit Verrätern zu meiden«. Eines Abends kam eine Gruppe von kommunistischen Negern zu mir in die Wohnung, sie wollten ein streng geheimes Gespräch mit mir führen. Ich nahm sie in mein Zimmer und schloß die Tür ab. »Dick«, sagten sie unvermittelt, »die Partei möchte, daß du am Sonntag an einer Zusammenkunft teilnimmst.« »Warum?« fragte ich. »Ich bin nicht mehr Mitglied.« »Das macht nichts. Sie wollen nur, daß du dabei bist«, sagten sie. »Treffe ich Kommunisten auf der Straße, dann sprechen sie nicht mit mir«, sagte ich. »Warum wollt ihr also, daß ich am Sonntag komme?« Sie drucksten herum. Sie wollten es mir nicht sagen. »Wenn ihr es mir nicht sagt, kann ich auch nicht kommen«, erklärte ich. Sie unterhielten sich flüsternd und beschlossen, mich ins Vertrauen zu ziehen. »Ross wird verhört, Dick«, sagten sie. »Weswegen?« Sie zählten eine ganze Reihe von politischen Vergehen auf, deren er sich, behaupteten sie, schuldig gemacht habe. »Aber was hat das mit mir zu tun?« »Wenn du hinkommst, wirst du schon sehen«, sagten sie.
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»So naiv bin ich nun auch wieder nicht«, sagte ich lächelnd. Ich war mißtrauisch geworden. Wollten sie versuchen, mich in ein Verhör zu verwickeln, um mich dann auszustoßen? »Dies Verhör könnte sich auch auf mich erstrecken …« Sie versicherten mir, daß keine Absicht bestünde, mich zu verhören, die Partei wolle mich nur als Beobachter dabeihaben, damit ich sähe, was mit »Feinden der Arbeiterklasse« geschieht. »Aber ich bin nicht euer Feind«, sagte ich. »Wir wollen dich retten«, sagten sie. »Mich retten? Wovor?« fragte ich. »Ich brauch’ nicht gerettet zu werden.« »Dein Wohlergehen liegt uns am Herzen«, sagten sie. »Warum habt ihr dann alle gelogen und mich als Trotzkisten beschimpft?« »Es ist mit Nealson durchgegangen«, sagten sie. »Als du aus der Partei ausgetreten bist, mußte er dir irgendwie eins verpassen.« »Warum vertut ihr eure Zeit mit diesen verrückten Hexenjagden?« fragte ich sie. »Ihr behauptet, gegen Unterdrückung zu kämpfen, aber ihr verwendet mehr Zeit darauf, euch untereinander zu bekämpfen, als gegen eure eingeschworenen Feinde vorzugehen.« Während ich mit ihnen redete, mußte ich daran denken, wie mich meine Mutter damals in Arkansas geohrfeigt hatte, als ich sie gefragt hatte, warum mein »Onkel« vor den Weißen weggelaufen war, statt sich zu wehren – aus Angst hatte sie mir eine geknallt. Und es war die Angst, fühlte ich, vor ihren Feinden, die die Kommunisten – unbewußt, eben um diese Angst zu kompensieren – dazu brachte, sich untereinander so beharrlich und verbissen zu bekämpfen. Aber das erzählte ich ihnen nicht, sie hätten es nicht begriffen. »Ross, das wißt ihr doch, ist ein kleiner Straßenagitator, weiter nichts. Ihr könnt ihn und seinen Fall getrost vergessen. In vierzehn Tagen ist Gras darüber gewachsen.« 152
»Ross soll den andern ein warnendes Beispiel sein«, erklärten sie mir. »Aus seinem Fall wird die Arbeiterklasse lernen, und du auch, wenn du an dem Verhör teilnimmst.« Während sie redeten, überkam mich die alte Lust, Zeuge bei einem Fall zu sein, der Neues versprach. Ich wollte bei dieser Verhandlung dabei sein, es aber nicht riskieren, selbst in das Verhör hineingezogen zu werden. »Hört zu«, sagte ich. »Die Anschuldigungen, die Nealson gegen mich erhebt, sind aus der Luft gegriffen. Wenn ich bei dem Verhör erscheine, sieht es so aus, als wäre ich doch schuldig.« »Nein, ganz gewiß nicht. Bitte, komm.« »Gut. Aber merkt euch … wenn das alles bloß eine Finte ist, werde ich zurückschlagen. Habt ihr gehört? Ich traue Nealson nicht. Ich bin kein Politiker und habe keine Ahnung, was ein Mann alles so ausheckt, der den ganzen Tag nur intrigiert.« Ross1 Verhör fand am darauffolgenden Sonntagnachmittag statt. Vor den Türen des Versammlungsraumes, auf der Straße und in den Hauseingängen – überall standen Genossen unauffällig Wache. Als ich hinkam, wurde ich rasch eingelassen. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Es war Vorschrift, daß man, wenn man an solch einer Versammlung teilnahm, bis zum Ende zu bleiben hatte, weil befürchtet wurde, einer, der vorzeitig aufbrach, könne zur Polizei gehen und Anzeige erstatten. Wenn die Kommunisten aus den edelsten Motiven handelten, erfüllt waren von Liebe zu den Leidenden, aufsehen der Rebellierenden standen und zu jedem Opfer bereit waren – warum herrschte dann unter ihnen so viel Haß und Bitterkeit, warum verdächtigten sie einander und rieben sich in internen Streitereien auf? Ich stand mitten unter Leuten, die ich liebte, und ich ängstigte mich vor ihnen. Ich war zutiefst davon
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überzeugt, daß sie sich auf dem richtigen Wege befanden, doch wenn ich sie nur durch Heben meiner rechten Hand zur Macht hätte bringen können, ich wäre davor zurückgeschreckt. Mein Herz klopfte, und ich flüsterte vor mich hin: Mein Gott, ich liebe diese Leute, aber ich bin froh, daß sie nicht an der Macht sind, sie würden mich dann erschießen! Keiner sprach mit mir. Einige der Parteiführer warfen mir feindselige Blicke zu und sahen dann weg. Warum war ich als Zeuge hierher bestellt worden? Ich saß angespannt da und wartete ungeduldig auf den Beginn des Verhörs. Meine Neugier, so sehr mir die Angst zusetzte, war groß. Aber ich war entschlossen, mich in keiner Weise hineinziehen zu lassen, weil ich mich dadurch in ein Netz von Schuld verstrickt hätte, von der ich im Grunde frei war. Der Angeklagte Ross saß mit bestürztem Gesicht an einem Tisch vorn in der Halle. Er tat mir leid, zugleich aber hatte ich das Gefühl, daß er dieses Schauspiel genoß. Für ihn war dies vielleicht ein Höhepunkt in seinem sonst so trostlosen Dasein. Ich war aufsehen dieser Leute. Wie sollte es, da ich Neger war, anders sein? Sie haßten Neger nicht. Sie hatten keine rassischen Vorurteile. Viele der anwesenden Weißen waren mit Negerinnen, viele der Neger mit weißen Frauen verheiratet. Juden, Deutsche, Russen, Spanier, alle Rassen und Nationalitäten waren vertreten, ohne daß zwischen ihnen Unterschiede gemacht wurden. Rassenhaß war der Fluch, unter dem mein Leben gestanden hatte, und hier vor meinen Augen hatte ich den Beweis, daß er ausgemerzt werden konnte. Doch eine neue Art von Haß hatte sich anstelle des quälenden Rassenhasses eingeschlichen. Gegen jede Vernunft haßten die Kommunisten Leute, die selbständig zu denken versuchten und die sie »Intellektuelle« nannten. Ich war vor Leuten geflohen, denen meine
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Hautfarbe zuwider war, und jetzt befand ich mich unter Menschen, denen meine Art zu denken zuwider war. Als ich herauszufinden versuchte, warum Kommunisten Intellektuelle haßten, entsann ich mich der Berichte, die ich über die russische Revolution gelesen hatte. Im alten Rußland hatte es Millionen von Armen und Ungebildeten gegeben, die von wenigen gebildeten und arroganten Edelleuten ausgebeutet worden waren, und so hatte es sich unter den russischen Kommunisten eingebürgert, Intellektualismus mit Ausbeutung und Betrug gleichzusetzen. In der westlichen Welt nun gab es ein Phänomen, das die Kommunistische Partei bestürzte und ihr ernstlich zusetzte: die aus eigener Kraft erworbene Bildung. Sogar ein ausgebeuteter und in Unwissenheit gehaltener Negerjunge – wie ich es gewesen war – konnte, wenn er willens war und Lust dazu hatte, lesen und so die Welt, in der er lebte, verstehen lernen. Und diese Leute waren es, die von den Kommunisten nicht verstanden wurden. Die amerikanischen Kommunisten, Angehörige einer legalen Partei, benutzten Waffen, die in der Untergrundbewegung der russischen Bolschewisten geschmiedet worden waren, und forderten daher von ihren Anhängern die Bereitschaft, jede Erklärung der realen Verhältnisse auch dann zu akzeptieren, wenn sie der tatsächlichen Situation nicht entsprach. Die Freiheit des Denkens – ein Erbe, das jedem, wenn er nur las, mitgegeben wurde, der Geist der protestantischen Ethik, den man sinnbildlich, mit der Muttermilch einsog, jene das Ich schaffende Kraft, die dem Menschen, ob er sich dessen bewußt wurde oder nicht, eingab, daß er zu arbeiten und sich durch sein eigenes Handeln zu erlösen habe, dies alles war verboten, tabu. Und doch war es der Kern jenes kulturellen Erbes, das die Kommunistische Partei heil und intakt an die Zukunft weiterzugeben geschworen hatte. Aber die Kommunistische Partei erkannte den Wert dessen, was sie zu ret-
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ten angetreten war, nicht, wenn sie es vor sich sah; das geringste Anzeichen geistiger oder gefühlsmäßiger Unabhängigkeit, selbst wenn es der Parteiarbeit hätte dienlich sein können, genügte, den Betreffenden als verdächtig, als gefährlichen Verräter abzustempeln. Das Verhör begann ruhig und zwanglos. Die Genossen verhielten sich wie eine Gruppe von Nachbarn, die über einen von ihnen, einen Hühnerdieb, zu Gericht saßen. Jeder konnte sich zu Wort melden und Fragen stellen. Es herrschte absolute Redefreiheit. Doch lag dem Treffen eine erstaunlich systematische, einmütige Denkstruktur zugrunde, die so tief verwurzelt war wie der Wunsch des Menschen nach Zusammenleben. Ein Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei erhob sich und berichtete über die Weltsituation. Der Mann redete äußerst sachlich und führte lediglich Tatsachen an. Er zeichnete ein grauenerregendes, aber meisterhaft skizziertes Bild der faschistischen Aggression in Deutschland, Italien und Japan. Mir leuchtete ein, warum das Verhör auf diese Weise begann. Es war notwendig, klar herauszustellen, gegen was oder wen sich Ross’ Verbrechen richteten. Deswegen mußte den Anwesenden ein Bild der unterdrückten Menschheit so lebendig wie möglich vor Augen geführt werden. Und dieses Bild stimmte. Keine Weltorganisation, außer eben der Kommunistischen Partei, verfügte über eine so detaillierte Kenntnis der Verhältnisse, unter denen Arbeiter lebten, denn sie bezog ihre Informationen von den Arbeitern selbst. Der nächste Sprecher schilderte die Rolle der Sowjetunion als dem einzigen Arbeiterstaat der Welt, er führte an, wie die von Feinden eingekreiste Sowjetunion die Industrialisierung voranzutreiben suchte und welche Opfer sie auf sich nahm, um den Arbeitern durch kollektive Sicherheit den Weg zum Frieden zu bahnen. 156
Die bisher vorgebrachten Fakten waren so stichhaltig, wie es Fakten in dieser unsicheren Welt nur sein konnten. Noch war kein einziges Wort über den Angeklagten gesagt worden, der wie alle anderen dasaß und zuhörte. Es war noch nicht an der Zeit, ihn und seine Verbrechen in dieses Bild weltweiten Ringens einzuordnen. Den Genossen mußte zunächst ein vollständiger Überblick ermöglicht werden, an dessen Konturen sie den Erfolg oder Mißerfolg ihres Handelns messen konnten. Mystizistisches kam nicht zur Sprache, Gott wurde nicht angerufen, es ging nur um die Einhelligkeit aller Anwesenden in dem leidenschaftlichen Willen, Unrecht aus der Welt zu schaffen. Simple, elementare Moralgrundsätze waren hier am Werk. Der Kommunismus hatte einen Sittenkodex aufgestellt, an dem das Verhalten gemessen wurde, aber es war ein Kodex, der sich nicht vom Übernatürlichen, sondern aus der Praxis der Lebenserfahrung herleitete. Ein weiterer Sprecher erhob sich und schilderte die innenpolitische Lage der Vereinigten Staaten, die er mit der Weltsituation in Beziehung setzte. Das geschah umständlich und gewissenhaft, während die Anwesenden mittlerweile leidenschaftlich bewegt und von einem Gefühl für die Schicksalshaftigkeit und Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz durchdrungen waren. Schließlich kam ein Sprecher an die Reihe, der die Verhältnisse in der Chicagoer South Side schilderte, die Negerbevölkerung dort und die Leiden und Benachteiligungen, denen sie ausgesetzt war, und dies alles in Verbindung gebracht zu den Mißständen in der Welt. Ihm folgte ein Redner, der sich mit den Aufgaben der Kommunistischen Partei in der South Side befaßte. So wurden im ganzen die Situation in der Welt, im Lande und die örtlichen Verhältnisse zu einem dramatischen, wahrhaft überwältigenden Bild von dem moralischen Ringen zusammengefaßt, an dem jeder der in der Halle Anwesenden
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teilhatte. Diese Ausführungen hatten mehr als drei Stunden in Anspruch genommen, aber in den Herzen der Zuhörer ein Gefühl für die Realität, für das menschliche Dasein auf dieser Erde geweckt. Mit Ausnahme der Kirche mit ihren Mythen und Legenden gab es auf der Welt keine Vereinigung, die ihren Anhängern die ganze Welt und ihre Bevölkerung so nahezubringen imstande war wie die Kommunistische Partei. Ich wußte, daß ich das alles hörte, daß ich hier einen Blick in die Zukunft der Menschheit tat, daß sich diese Art zu leben auf die Dauer durchsetzen würde. Ich wußte, daß nur auf diese Weise die Empfindungskraft, die begeisterungsfähige Natur des Menschen so tief angerührt werden konnten. In keinem anderen, bisher entworfenen System konnte der Mensch seine Bestimmung hier auf Erden so deutlich wahrnehmbar machen, seine Bestimmung, sich mit der Welt, in der er lebte, auseinanderzusetzen, sich mit ihr zu erheben und ihr so die Erfüllung zu entringen, die er zuinnerst anstrebte. Ich wußte, während ich die Anwesenden beobachtete und zuhörte, daß nur wenige den Kommunismus in seiner Dynamik und Leidenschaftlichkeit verstanden, aber einige wenige hatten doch erkannt, daß der Kommunismus in seinem Kern wichtiger war als alle einzelnen Parteiorganisationen, als die Summe seiner Theorien, seiner Taktiken, Fehler und seines tragischen Versagens. Ich wußte, daß sich dieses System eines Tages so oder so auf der Erde durchsetzen und Erfolg haben würde, daß ganz Europa und seine Armeen die Sowjetunion nicht vernichten konnten und daß der Geist der Opferbereitschaft, den der Kommunismus im Menschen weckte, die Welt in Erstaunen versetzen würde. Und diese Leute hatten mich aufgefordert zu kommen und dem Verhör eines anderen Mannes beizuwohnen, damit ich erfuhr, was mich erwartete, wenn ich mich falsch verhielt. Ich war auf ihrer Seite. Konnte ich nicht aufstehen und ihnen das
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sagen? Aber schon bei dem Gedanken daran wurde mir klar, daß sie mich, wenn ich die Wahrheit sagte, nicht begreifen würden. Meine Art von Hilfsbereitschaft war etwas, das sie verstörte. Wenn ich redete, würde ich mich nur noch mehr belasten. Ich hatte anderen erklären wollen, was in diesen Männern vorging. Ich wußte, was sie antrieb, kannte die Not und die langen Jahre der Erniedrigungen, aus denen heraus sie zu Kommunisten geworden waren. Ich wußte, daß ich nicht so viel von Politik verstand wie Buddy Nealson, wie die Mitglieder des Zentralkomitees oder der Kommunistischen Internationale. Politik war nicht mein Gebiet; mein Gebiet war das menschliche Herz, aber nur im Bereich der Politik offenbarte sich mir die Tiefe des menschlichen Herzens. Ich hatte anderen helfen wollen, den Kommunisten ins Herz zu sehen, zu verstehen, worauf die Kommunisten hinauswollten; aber ich nahm stellvertretend an einem Verhör teil, sie hatten mich verdammt. Gegen Abend wurden die Anschuldigungen gegen Ross vorgebracht, nicht von den Parteiführern, sondern von Ross’ Freunden, von denen, die ihn am besten kannten! Es war niederschmetternd. Es zermürbte Ross. Der moralische Druck, der auf ihn ausgeübt wurde, zwang ihn in die Knie. Keiner wurde erpreßt; was sie gegen ihn anzuführen hatten, brachten sie freiwillig vor, indem sie Daten und Gespräche zitierten und Szenen schilderten. Düster traten Ross’ Vergehen unwiderlegbar und erdrückend zutage. Er konnte sie nicht ableugnen. Keiner konnte es. Mich nahmen sie nicht ins Verhör, weil sie das, was ihnen an mir Angst machte, nicht zu benennen wußten. Ich hatte mich ihnen nicht handgreiflich widersetzt, wie Ross; ich hatte keine ihrer politischen Maßnahmen verurteilt. Sie fürchteten mein Denken und Fühlen. Die Bedingungen, unter denen ich
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arbeiten mußte, waren etwas, das sie vor den Kopf stieß. Schreiben war nur möglich, wenn man allein war, und dem menschlichen Alleinsein hatte der Kommunismus den Krieg erklärt. Allein, sagten sie, war der Mensch schwach; stark war er nur in der Gemeinschaft. Daher fürchteten sie gewohnheitsgemäß einen Mann, der auf sich selbst gestellt war. Der Kommunismus verkündete die Einheit des menschlichen Lebens, und wenn ein Kommunist, freigekommen aus der ihn isolierenden Unterdrückung, in der er sich fremd und einsam gefühlt hatte, sah, daß ein anderer Abgeschlossenheit anstrebte, dann bekam er es mit der Angst. Der Kommunismus, wie ich ihn erlebte, wurde ungeduldig, wenn sich Verfahren lange hinzogen, wenn Ergebnisse nicht über Nacht erreicht und Vorgänge nicht innerhalb eines Tages erledigt werden konnten. Dies war die Art, wie Amerika sich auf den Kommunismus auswirkte; dies war die erste auf Amerikas Boden gewachsene Frucht der materialistischen Rebellion. Ross bekam jetzt Gelegenheit, sich zu verteidigen. Mir war gesagt worden, er hätte Freunde aufgeboten, die für ihn aussagen sollten, aber er hatte offenbar darauf verzichtet. Zitternd stand er da, versuchte zu reden, bekam aber kein Wort heraus. In der Halle war es totenstill. Die Schuld stand ihm sichtbar auf die schwarze Stirn geschrieben. Seine Hände zuckten. Um sich aufrecht halten zu können, mußte er sich am Rand des Tisches festklammern. Seine Persönlichkeit, sein Selbstgefühl waren ausgelöscht. Aber so tief hätte er nicht gedemütigt werden können, wäre nicht auch er von der ihn vernichtenden, politischen Vision überzeugt gewesen, die uns alle verband. »Genossen«, sagte er mit leiser, belegter Stimme, »ich bekenne mich schuldig, an allem, was mir zur Last gelegt wird …«
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Er brach in Schluchzen aus. Niemand drängte ihn. Niemand bedrohte oder quälte ihn. Es stand ihm frei, die Halle zu verlassen und nie wieder mit Kommunisten zusammenzukommen. Aber er wollte nicht. Er konnte es nicht. Die Vision einer vereinten Welt war ihm tief in die Seele gedrungen und würde ihn nie freigeben, bis ans Ende seines Lebens nicht. Er redete weiter, schilderte, wie er in die Irre geraten war, wie er sich bessern wollte. Ich wußte, als ich da unter den Leuten saß, daß viele von ihnen, die das Leben zu kennen glaubten, den Moskauer Verhören skeptisch gegenüberstanden. Aber angesichts dieses erstaunlichen Verhörs mußten sie ihre Skepsis fahren lassen. Ross war nicht unterjocht, er war erweckt worden. Nicht die Furcht vor der Kommunistischen Partei hatte ihm sein Bekenntnis abgerungen, es war vielmehr die Furcht vor der ihm unweigerlich aus sich selbst aufgezwungenen Strafe, die ihn dazu gebracht hatte, seine Vergehen zu beichten. Die Kommunisten hatten zu ihm gesprochen und bewirkt, daß er sein Verbrechen mit anderen, mit neuen Augen sah. Und dann setzten sie sich zurück und hörten ihm zu, wie er seinen Irrtum bekannte. Er war eins mit allen Anwesenden, ohne Ansehen von Rasse oder Hautfarbe; sein Herz gehörte ihnen, wie ihres ihm gehörte; und wenn ein Mann einen solchen Grad der Verwandtschaft, des Einsseins mit anderen erreicht oder wenn er ihnen, nachdem er sich durch ein Vergehen abgesondert hatte, durch ein Verhör zum Anverwandten wird, dann muß er sich erheben und aus innerstem Moralgefühl heraus sagen: »Ich bin schuldig. Vergebt mir.« Dies war für mich ein glanzvolles Schauspiel; und doch spürte ich, daß es, da es mich auf dem gleichen Wege in Ignoranz und Blindheit verdammte, ein Schauspiel des Schreckens war. Ihre Blindheit, ihr eng begrenztes Leben – verstümmelt und ausgezehrt durch die bereits lange vorm Auftreten des Kom161
munismus erlittene Unterdrückung – hatten sie glauben gemacht, daß ich auf der Seite ihrer Feinde stand. Das Leben in Amerika hatte ihr Bewußtsein so verzerrt, daß sie außerstande waren, ihre Freunde zu erkennen. Wären sie an der Macht gewesen, das wußte ich, dann hätten sie mich des Verrats bezichtigt, und meine Hinrichtung wäre die Folge gewesen. Und ich wußte, daß sie sich kraft ihrer schwarzen Blindheit im Recht fühlten. Ich konnte nicht bis zum Ende bleiben. Es drängte mich aus der Halle, hinaus auf die Straße, wo ich die ungeheure Spannung abschütteln mußte, die mich gepackt hatte. Ich stand auf und ging zur Tür; ein Genosse trat mir in den Weg und warnte mich, ich dürfe den Raum nicht vor Beendigung des Verhörs verlassen. »Du kommst hier jetzt nicht raus«, sagte er. »Ich gehe aber«, sagte ich und konnte die in mir aufsteigende Wut nicht ganz unterdrücken. Wir starrten einander an. Ein zweiter Genosse stieß zu uns. Ich machte einen Schritt auf die Tür zu. Der Genosse, der hinzugekommen war, machte ein Zeichen und gab mir damit die Erlaubnis zu gehen. Sie wollten keine Handgreiflichkeiten, die auch mir fernlagen. Sie traten beiseite. Ich ging durch die kalten, dunklen Straßen Chicagos nach Hause. Von Trauer erfüllt, sagte ich mir – nicht zum erstenmal- daß ich eben lernen müsse, auf mich selbst gestellt allein zu sein. Daß sie mich ablehnten, schmerzte mich nicht so sehr, als daß es von jetzt an qualvoll an mir genagt hätte. Wahrscheinlich hatte ich bereits in meiner Kindheit gelernt, mich vor einem solchen zu nichtsführenden Verhalten zu hüten. Als ich im Bett lag, sagte ich vor mich hin: Ich stehe zu ihnen, selbst wenn sie nicht zu mir stehen. Am nächsten Morgen, als ich noch im Bett lag, kam ein schwarzer Kommunist zu mir. Er setzte sich, ohne mich anzusehen. 162
»Was willst, du Harold?« fragte ich. »Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll«, sagte er. »Sag’s irgendwie. Ich kann mittlerweile einiges ertragen.« »Aah, mir ist in meinem ganzen Leben noch nicht so elend gewesen«, rief er aus. »Ich wußte nicht, was sie vorhatten …« »Ist das dein Ernst?« fragte ich. »Weiß Gott, ja!« »Danke. Ich bin kein Feind der Partei.« »Es war grauenhaft«, sagte er. »Aber es hatte auch Größe«, sagte ich. »Wieso?« »Ah, nichts weiter«, sagte ich. Er ging. Er war der einzige Kommunist, der den Mut aufbrachte, mit mir zu sprechen.
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Vom Experimentiertheater wurde ich zum Bundes-Schriftstellerverband versetzt und hatte meinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Leitfäden zu verdienen. Viele der Schriftsteller waren Mitglieder der Kommunistischen Partei, und sie hielten sich an ihren revolutionären Schwur, der ihnen untersagte, mit »Verrätern der Arbeiterklasse« zu sprechen. Ich saß neben ihnen im Büro, aß mit ihnen in Restaurants und fuhr mit ihnen im Lift, aber immer sahen sie wortlos geradeaus. Nachdem ich dort einige Monate gearbeitet hatte, wurde ich Begutachter und Vorsitzender in der Sparte Essays und geriet prompt in politische Schwierigkeiten. Eines Morgens rief mich der Verwaltungsleiter in sein Büro. »Wright, wer hier im Verband sind Ihre Freunde?« fragte er. »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Warum?« »Na ja, Sie sollten sich bald einmal danach umsehen«, sagte er. »Wie meinen Sie das?« »Einige verlangen Ihre Entlassung, weil es Ihnen an Kompetenz fehle«, sagte er. »Wer ist das?« Er nannte einige meiner früheren Genossen. Ja, so weit war es gekommen. Sie versuchten mir mein Brot zu nehmen, und ich stimmte zu sehr mit ihnen überein, als daß ich hätte zurückschlagen wollen. »Was werden Sie wegen Ihrer Beschwerden unternehmen?« fragte ich.
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»Nichts«, sagte er lachend. »Ich glaube, ich weiß, was hier vor sich geht. Ich werde es nicht zulassen, daß man Sie von diesem Arbeitsplatz verdrängt.« Ich dankte ihm, stand auf und wandte mich zum Gehen. Was er gesagt hatte, stimmte mich irgendwie nachdenklich. Ich drehte mich um und sah ihn an. »Von diesem Arbeitsplatz?« fragte ich. »Wie meinen Sie das?« »Wollen Sie damit sagen, Sie wüßten es nicht?« fragte er. »Was sollte ich nicht wissen? Wovon reden Sie?« »Warum sind Sie von dem Negertheater weggegangen?« »Ich hatte da Ärger. Sie haben mich dort rausgedrängt, die Neger.« »Und Sie meinen, die wären dazu nicht von irgendwoher veranlaßt worden?« fragte er mich spöttisch. Ich setzte mich wieder. Das war mörderisch. Ich starrte ihn an. »Hier brauchen Sie keine Angst zu haben«, sagte er. »Sie arbeiten hier, Sie schreiben …« »Ich kann es kaum glauben«, murmelte ich. »Vergessen Sie’s«, sagte er. Ich ging zurück an meinen Schreibtisch und sah zu den Kommunisten hinüber, die in der Nähe saßen. Ich war ihnen nicht böse. Ich war traurig. Wie weit würden sie es noch treiben, fragte ich mich. Sollte es ihnen gelingen, meine Entlassung durchzusetzen, dann würden sie das als einen Triumph der proletarischen Taktik betrachten. Warum ließen sie mich nicht in Ruhe? Ich verurteilte ihre Politik nicht und wandte mich nicht gegen sie, weder in Worten noch in dem, was ich schrieb. Aber das Schlimmste kam noch. Als ich eines Mittags, nachdem ich meinen Schreibtisch verschlossen hatte, mit dem Lift zum Erdgeschoß fuhr, sah ich draußen auf der Straße Streikposten auf- und abgehen. Viele der Männer und Frauen, die Plakate trugen und im Singsang 165
von der Behörde für Arbeitsförderung höhere Löhne für bildende Künstler und Schriftsteller verlangten, waren alte Freunde von mir. Sie bildeten nicht jene Art von Streikpostenkette, die man nicht passieren darf, und so ging ich über die Straße und hörte plötzlich jemanden meinen Namen rufen: »Da ist Wright, dieser gottverdammte Trotzkist!« »Wright, dieser Hundsfott, ist auch einer von ihnen!« »Wir kennen dich, du Schweinehund!« »Wright, auch ein Verräter wie die andern!« Einen Augenblick war es, als bliebe mir das Herz stehen. Jetzt war es mit mir so weit gekommen, daß ich in den belebten Straßen von Amerikas zweitgrößter Stadt laut beschimpft wurde. Noch nie zuvor hatte mich etwas so heftig erschüttert. Um dieser Jagd auf mich ein Ende zu machen, entschloß ich mich zu einem kühnen Schritt. Ich wollte direkt zum Leiter der örtlichen Parteistelle gehen, mit ihm reden und ihm die Sache freundlich und in aller Offenheit erklären. Inständig bat ich einen Freund von mir, seinen ganzen Einfluß aufzubieten, um ein Treffen zwischen mir und dem Parteisekretär zustandezubringen. Wochen vergingen, bis ich schließlich Nachricht erhielt daß ich erwartet würde, nicht, allerdings, vom Sekretär, sondern von dessen Sekretärin, einer Frau namens Alma Zetkin. Ich seufzte, aber sagte zu. Als ich zum Sitz der Kommunistischen Partei kam, wurde ich bei Alma Zetkin vorgelassen. Sie hatte eine plumpe Figur, war blauäugig und trug das blonde Haar in dicken Zöpfen um den Kopf. Sie kramte in einem Stapel von Papieren herum und sah nicht auf. »Ich bin mit dir verabredet«, sagte ich, »aber ich möchte gern mit dem Parteisekretär Bernard sprechen.«
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»Was willst du von ihm?« fragte sie, den Blick auf die Papiere vor sich geheftet, ohne den Kopf zu heben. »Ich möchte mit ihm über meine Parteizugehörigkeit reden«, sagte ich. »Er kann dich nicht in einer solchen Angelegenheit empfangen«, sagte sie. »Mit wem kann ich dann sprechen?« »Ich kann mir anhören, was du zu sagen hast«, erwiderte sie. Sie verhielt sich kühl und distanziert; ich wußte, daß sie ihre Meinung bereits gefaßt hatte, daß eine Entscheidung über mich schon getroffen war. »Es geht um eine ganze Reihe von Mißverständnissen, die ich klären möchte«, zwang ich mich zu sagen, da ich wußte, daß mein Ansuchen zwecklos war. »Worum handelt es sich dabei?« fragte sie, ohne mich anzusehen. Ruhig schilderte ich ihr die Sache, hielt mich an die bloßen Fakten und hatte dabei doch das Gefühl, als spräche ich gegen eine Wand. Als ich damit fertig war, sagte sie: »Das ist ein Problem, bei dem wir dir nicht helfen können.« »Wie meinst du das?« »Was sollen wir tun, wenn du mit deinen Genossen in der South Side nicht zurechtkommst?« fauchte sie mich mit kaltfunkelnden, harten Augen an. »Das sind Leute, mit denen man nicht reden kann«, sagte ich. »Ich bin von ihnen Trotzkist genannt worden. WARUM?« »Bist du Trotzkist?« sagte sie und sah mich voll an. »Nein. Wie kommst du auf den Gedanken?« fragte ich sie. Sie lachte lautlos und wandte sich wieder den Papieren zu. »Was hast du sonst noch zu sagen?« fragte ich. »Wir hier können nichts für dich tun«, sagte sie.
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Ich stand einen Moment schweigend da. Das also war die Antwort. Eine Antwort, die weder vernünftig noch verständlich schien. Gelöst war damit nichts. Ich sah sie an; sie schien immer noch ganz auf die Papiere konzentriert. »Lebwohl«, sagte ich und wandte mich zum Gehen. Sie gab keine Antwort. Ich blieb an der Tür stehen und blickte wieder zu ihr hin; sie war voll von den Papieren beansprucht. Ich verließ das Zimmer. In dieser Nacht wälzte ich mich schlaflos im Bett, suchte mir auszumalen, was in Alma Zetkins Kopf vorgegangen, was ihr erzählt worden sein mochte, von was für Motiven sie sich hatte leiten lassen? Aber ich konnte nur vage Antworten finden. Hatte man ihr eingeschärft, daß mir unter keinen Umständen Mut gemacht werden dürfe? Wenn ja, warum? Selbst Ross, der die Partei aus ihren eigenen Reihen heraus bekämpft hatte, war noch wohlgelittenes Mitglied. Doch ich, der ich offiziell nicht angeklagt worden war, galt in ihren Augen als Feind. Ich fand nichts, womit ich mir den gegebenen Sachverhalt hätte erklären können. Mein Kopf schmerzte wie eine offene Wunde, wann immer ich darüber nachdachte, was aus meiner Beziehung zur Partei geworden war. Ich fragte mich das wieder und wieder, aber ich fand keine Antwort. Tage vergingen. Ich war weiterhin in dem Verband, bei dessen Aufbau ich mitgeholfen hatte, tätig, und zwar als Vertrauensmann, obwohl sich die Partei meiner Wahl zum Vertrauensmann erbittert widersetzt hatte. In ihrem Bestreben, meinen Einfluß im Verband auszuschalten, waren meine früheren Genossen bereit, den Verband selbst zu opfern. Als der 1. Mai 1936 heranrückte, wurde durch Abstimmung der Verbandsmitglieder entschieden, daß wir bei den Paraden mitmarschieren sollten. Am Morgen des 1. Mai erhielt ich
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schriftliche Anweisungen über Zeit und Ort, wo wir uns zu versammeln und uns der Parade anzuschließen hätten. Ich fand mich dort am Vormittag ein und stellte fest, daß die Parade schon begonnen hatte. Vergebens hielt ich nach den Fahnen der Verbandsgruppe Ausschau. Wo waren sie? Ich ging in den Straßen auf und ab und erkundigte mich nach der Gruppe. »Oh, die sind schon vor einer Viertelstunde abmarschiert«, erklärte mir ein Neger. »Wenn du auch marschieren willst, dann schließ’ dich doch irgendwo an.« Ich dankte ihm und drängte mich durch die dichte Menge. Plötzlich hörte ich jemanden meinen Namen rufen. Ich drehte mich um. Links von mir stand angetreten und abmarschbereit die South Side-Sektion der Kommunistischen Partei. »Komm her!« rief einer meiner alten Parteifreunde. Ich ging zu ihm. »Marschierst du nicht mit?« fragte er mich. »Ich habe meine Verbandsgruppe verpaßt«, erwiderte ich. »Na, was macht das schon?« sagte er. »Dann marschierst du eben mit uns.« »Ich weiß nicht recht«, sagte ich und dachte an meinen Besuch in der Dienststelle der Partei, an meinen Status als »Feind«. »Heute ist Erster Mai«, sagte er. »Schließ’ dich bei uns an.« »Du weißt, was für Ärger ich gehabt habe«, sagte ich. »Is’ doch egal«, sagte er. »Alle marschier’n heute.« »Nein, ich laß’ es lieber«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Hast du etwa Angst, Mann?« fragte er. »Heut’ ist Erster Mai.« Er faßte mich am Arm und zog mich neben sich ins Glied. Wir standen zusammen und unterhielten uns, ich fragte ihn nach seiner Arbeit, nach gemeinsamen Freunden. 169
»Raus hier aus dem Glied!« bölkte mir eine Stimme ins Ohr. Ich drehte mich um. Ein weißer Kommunist, Leiter eines Parteidistrikts, funkelte mich an. Es war Cy Perry, ein schlanker Mann mit kurz geschnittenem Haar. »Ich … Es ist Erster Mai, und ich möchte mitmarschieren«, sagte ich. »Weg hier!« brüllte er. »Ich bin aufgefordert worden, mitzumachen«, sagte ich. Ich wandte mich dem Neger zu, der mich in den Trupp hereingeholt hatte. Ich wollte nicht, daß es hier in aller Öffentlichkeit zu Gewalttätigkeiten kam. Ich sah meinen Freund an. Er sah weg. Er hatte Angst. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. »Du hast mich aufgefordert mitzumarschieren«, sagte ich zu ihm. Er gab keine Antwort. »Sag ihm, daß du mich aufgefordert hast«, bat ich ihn und zog ihn am Ärmel. »Ich fordere dich jetzt zum letztenmal auf, aus dem Glied herauszutreten!« schrie Cy Perry. Ich bewegte mich nicht vom Fleck. Ich wollte es, aber ich war innerlich so hin- und hergerissen, daß ich nicht handeln konnte. Ein zweiter weißer Kommunist kam Perry zu Hilfe. Perry packte mich am Kragen und zerrte an mir. Ich wehrte mich. Sie packten mich noch fester. Ich kämpfte, um freizukommen. »Laß mich los!« sagte ich. Arme umschlangen mich, hoben mich hoch, und ich fühlte, wie ich kopfüber durch die Luft geschleudert wurde. Um nicht mit dem Kopf aufs Pflaster zu schlagen, griff ich mit den Händen nach einem Bordstein. Langsam erhob ich mich und kam wieder auf die Beine. Perry und sein Helfer starrten zu
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mir herüber. Die Reihen der weißen und schwarzen Kommunisten blickten mich mit kalten Augen an, als kennten sie mich nicht. Meine Hände waren blutig und schmerzten, trotzdem konnte ich nicht glauben, was passiert war. Schwarze Kommunisten hatten mit angesehen, wie ich von zwei weißen Kommunisten handgreiflich in der Öffentlichkeit angegriffen worden war. Ich war nicht fähig, mich vom Fleck zu rühren. Mein Kopf war leer, mir fiel nichts ein, was ich hätte tun können. Aber zum Kämpfen war ich nicht aufgelegt. Den Kinderschuhen war ich entwachsen. Ich weiß nicht, wie lange ich staunend und wie betäubt dastand; plötzlich aber setzten sich die Reihen der Kommunistischen Partei in Bewegung. Die roten Banner mit Hammer und Sichel, dem Symbol der Weltrevolution, erhoben sich und flatterten in der Maibrise. Trommeln dröhnten. Gesang erhob sich. Die Erde erzitterte unter den Schritten. Weiße und schwarze Männer und Frauen strömten mit entschlossenen Gesichtern in langen Reihen an mir vorüber. Ich folgte dem Umzug bis zum Loop und ging in den Grant Park und setzte mich auf eine Bank. Ich dachte nichts, konnte nicht denken. Aber ein klar umrissenes Bild stieg vor mir auf. Tausend Einzeldinge und Fetzen wogten vor mir auf und ab und schoben sich geordnet ineinander. Sie sind blind, sagte ich mir. Ihre Feinde haben sie zu hart unterdrückt und in der Unterdrückung geblendet. Ich steckte mir eine Zigarette an und hörte Gesang durch die von der Sonne glitzernde Luft herüberklingen. Erhebt euch, ihr Gefang’nen von Hunger und Not! Ich dachte an die Geschichten, die ich geschrieben hatte, Geschichten, in denen die Kommunistische Partei in Glanz und Ehren erstand, und ich war froh, daß ich sie Schwarz auf Weiß fertig hatte. Denn im Herzen wußte ich, daß ich nie wieder so zu schreiben imstande sein würde; nie wieder
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würde ich das Leben so schlicht und genau empfinden, nie wieder die Hoffnung so leidenschaftlich ausdrücken und mich nie wieder so rückhaltlos dem Glauben hingeben können. Erhebt euch, ihr Elenden dieser Erde … Meine Vergangenheit, meine Jugend zogen sich von mir zurück wie verebbendes Wasser, ließen mich auf hohem, trokkenem Grund mit vertieftem, zur Ruhe gekommenen Bewußtsein allein. Denn Gerechtigkeit kommt im Donner der Verdammnis daher … Meine Gedanken, wie aus eigener Kraft getrieben, stiegen von irgendwoher in mir auf: Einen langen und blutigen Marsch haben sie vor sich, und straucheln werden sie, straucheln und fallen, bis sie den richtigen Weg gefunden haben. Blind werden sie unter der Sonne einhertappen, werden sich die Schädel an Irrtümern rammen, werden sich wundrennen an Illusion um Illusion, Fehler über Fehler machen und bluten und leiden dafür, bis, dachte ich, sie am Ende lernen, wie sie zu leben haben. Irgendwie war der Mensch vom Menschen getrennt worden, und auf der Suche nach einer neuen Einheit, einer neuen Ganzheit und dem erneuten Einssein würde er immer wieder gegen Mauern anrennen, nur um zu lernen, daß er in bestimmte Richtungen nicht gehen kann. Niemand konnte ihm raten. Lernen würde er nur, indem er den blutigen Marsch durch die Geschichte antrat. Die Weisheit des Lebens würde er nur mit geheiligtem Tod erkaufen können. Für das Wenige, das er lernte, würde er einen hohen Preis zahlen müssen. Aber vielleicht ist das der Weg, den der Mensch schon immer gegangen ist … Eine bessere Welt kommt herauf…
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Immer noch kamen die Marschierenden vorüber. Die Banner wehten. Hoffnung klang in den Gesängen auf. Ich ging allein nach Haus, wirklich allein jetzt, und ich dachte: Das, wovon wir in der ungeheuren Weite dieses mächtigen Kontinentes am wenigsten wissen, ist das menschliche Herz, und um nichts bemühen wir uns so wenig wie um die Schaffung eines menschenwürdigen Daseins. Vielleicht, dachte ich, könnte ich aus der Qual meines Inneren heraus einen Funken in diese Finsternis schleudern. Ich würde es versuchen, nicht weil ich es wollte, sondern weil ich es mußte, wenn ich leben wollte. Ich setzte mich allein in mein enges Zimmer, sah die Sonne langsam am kühlen Maihimmel sinken. Unruhe überkam mich. Ich stand auf und griff nach meinem Hut; ich wollte Freunde besuchen, ihnen erzählen, was in mir vorging. Aber dann setzte ich mich wieder. Warum fortgehen? Das Problem, mit dem ich zu tun hatte, war hier, hier in diesem Zimmer, und hier allein würde ich es lösen können, nirgends sonst. Und doch scheute ich davor zurück, es schreckte mich. Wieder stand ich auf und ging hinaus auf die Straße. Noch vor dem Ende des Häuserblocks blieb ich unschlüssig stehen. Geh zurück … Ich kehrte zurück und setzte mich wieder in mein Zimmer, entschlossen, meinem Leben voll ins Gesicht zu sehen. Was hatte mir das Leben in der Stadt gebracht? Und das Leben im Süden, das Leben in Amerika, was hatte es mir gebracht? Ich ging auf und ab, wußte, daß Worte alles waren, was ich besaß, und daneben die vage Erkenntnis, daß mein Land mir nicht beigebracht hatte, wie ein menschenwürdiges Dasein zu leben sei. Mein Leben lang hatte ich gehungert, gehungert nach einer neuen, einer anderen Art zu leben … Ich hörte eine Straßenbahn in der frühen Dämmerung über die Schienen rumpeln und wußte, daß unterbezahlte, ver-
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störte schwarze Männer und Frauen von ihrem Dienst bei Weißen nach Hause fuhren. Im Vorderzimmer spielte das Radio, die Stimme eines Weißen durchtönte meine Wohnung, er sprach von einem bevorstehenden Krieg, der Millionen Menschen das Leben kosten würde. Ja, die Weißen waren ebenso schlimm wie ihre schwarzen Opfer, dachte ich. Wenn dieses Land keinen menschlichen Weg findet, wenn es sein Verhalten nicht mit einer tiefen Lebensachtung zu erfüllen imstande ist, dann bedeutet das den Untergang von allen, Schwarzen und Weißen … Ich nahm einen Bleistift und hielt ihn über ein weißes Blatt Papier, aber meine Gefühle standen meinen Worten im Wege. Warten also, dachte ich, Tag und Nacht warten, bis ich weiß, was ich zu sagen habe. In Demut, ohne hochfliegende Träume auf ein weit gestecktes Ziel zu, wollte ich eine Brücke aus Worten zwischen mir und der Welt draußen bauen, jener Welt, die so fern, so unfaßlich war, daß sie unwirklich schien. Ich würde Worte ins Dunkel schleudern und auf ein Echo warten, und falls es, wenn auch noch so schwach, ertönte, würde ich mehr Worte folgen lassen, die vordringen und kämpfen und der in uns allen nagenden Sehnsucht nach Leben Gestalt geben, und die das Menschliche, unausdrückbar wie es ist, in unseren Herzen wachhalten sollen.
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