JAMES COBB
SCHLACHT DER
DRACHEN
USS CUNNINGHAM
Roman
Aus dem Amerikanischen von Norbert Jakober
WILHELM HEYNE VE...
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JAMES COBB
SCHLACHT DER
DRACHEN
USS CUNNINGHAM
Roman
Aus dem Amerikanischen von Norbert Jakober
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
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Über der Formosastraße 16. Juli 2006, 02:45 Uhr Ortszeit Moondog 505 glitt in fast 7000 Metern Höhe elegant über die grauen, von den Sternen beleuchteten Wolken hinweg. Unter der Cockpithaube des Jagdbombers vom Typ F/A-22-SeaRaptor saßen der Pilot und seine Waffensystem-Offizierin eher entspannt in ihren Schleudersitzen. Es war ein Routine einsatz, zu dem man sie heute Nacht losgeschickt hatte, so dass sie ihre Aufmerksamkeit auch anderen Dingen widmen konnten. Was eine günstige Gelegenheit für sie bedeutete, ein Thema aufzugreifen, über das sie schon des öfteren diskutiert hatten. »Verdammt! Du bist eine Frau, du solltest mir doch ein paar Tipps dazu geben können.« »Ich bin eine Frau, das stimmt. Ich bin aber auch ein er wachsener Mensch mit der Fähigkeit vernünftig zu denken. Deine Frau dagegen ist völlig unberechenbar, wie ein boshaf tes kleines Kind.« »Jetzt übertreibst du aber, Bubbles.« »Ich bin’s ja nicht, die dich zum Wahnsinn treibt. – Wir errei chen Waypoint Echo in zehn Sekunden. Kurs Backbord, nulleins-null, in fünf Sekunden … drei… zwei… eins … jetzt.« »GPU-Bestätigung für Waypoint Echo. Kurs null-eins-null auf Waypoint Foxtrot. – Die Sache ist die: Sie sagt, sie hat nichts dagegen, wenn ich in der Navy bleibe.« Lieutenant Alan ›Digger‹ Graves war in letzter Zeit vor al lem damit beschäftigt gewesen, seine angeschlagene Ehe doch noch zu retten. Seine Waffensystemoffizierin Lieutenant J.G. Beverly ›Bubbles‹ Zellerman wiederum hatte mit ganz ande ren Dingen zu kämpfen: Sie hatte nämlich einige Mühe, das in der Navy vorgeschriebene Verhältnis von Gewicht und Kör pergröße einzuhalten. Die beiden flogen jetzt seit fast zwei Jahren miteinander. In dieser Zeit waren sie nicht nur Freunde
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geworden – sie verstanden sich auch als Fliegerteam nahezu blind. Einmal, während eines feuchtfröhlichen Aufenthaltes in Singapur, waren sie so weit gegangen, miteinander zu schla fen. Danach waren sie jedoch übereinstimmend zur Auffas sung gelangt, dass es kein wirklich weltbewegendes Ereignis gewesen wäre, und kehrten fast erleichtert zu ihrer früheren rein freundschaftlichen Beziehung zurück. Der Vorfall hatte jedoch zur Folge, dass sie nun noch mehr Verständnis für die Schwächen des anderen aufbrachten. »Dig, sie kann sagen, was sie will – du weißt verdammt gut, dass sie eine Woche lang ungenießbar ist, wenn du das Thema aufs Tapet bringst.« »Aber was zum Kuckuck will sie denn dann?« »Sie will, dass du die Navy verlässt – und dass du es völlig freiwillig tust. In fünf Jahren, wenn’s dir dann Leid tut, dass du deine Karriere hingeschmissen hast, wird sie dich an lächeln und sagen: ›Du hast es selbst so gewollt.‹« Graves seufzte, »Ja, das traue ich ihr durchaus zu.« Während er antwortete, betätigte er die Ruderpedale und vollführte mit dem Steuerknüppel ein leichtes Pendel manöver. Dabei drehte er sich in den Gurten um und blickte nach hinten, um einen eventuellen Verfolger entdecken zu können. Er hatte jedoch nicht wirklich erwartet, etwas zu sichten. Seine Instrumente zeigten keinerlei Bedrohung an – außer dem befand die Sea Raptor auf dem neuesten Stand der Stealth-Technologie, und es war nicht zu erwarten, dass die hiesigen Luftabwehrsysteme in der Lage waren, die Maschine unter ihrer ›Tarnkappe‹ zu entdecken. Doch auch wenn es sich um einen Routineeinsatz handelte, war es sicher kein Fehler, vorsichtig zu sein – besonders da in unmittelbarer Nähe ein Krieg tobte. Für eine bewaffnete Auseinandersetzung, die sich im Zeit alter der Telekommunikation abspielte, hörte man weltweit erstaunlich wenig darüber – vor allem, wenn man bedachte, dass dieser Krieg einer der blutigsten in der gesamten Menschheitsgeschichte zu werden drohte.
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Die Medien berichteten nur sehr spärlich über das Ereignis; es gab keine Journalisten, die ins Kampfgebiet geschickt wur den, um von dort ihre Live -Berichte in alle Welt zu schicken. Auch in den Zeitungen war nur wenig darüber zu lesen, wenn man einmal von den Artikeln in politischen oder mi litärischen Fachzeitschriften absah. Man hatte sich noch nicht einmal auf einen Namen für die sen Konflikt geeinigt, was ebenfalls bewies, wie wenig präsent er in der internationalen Öffentlichkeit war. Der einzige Punkt, in dem allgemeine Übereinstimmung herrschte, war, dass alles auf dem Tienanmen-Platz in Peking begonnen hatte. Die Weltöffentlichkeit war auf die Unruhen erst aufmerksam ge worden, als die Volksrepublik China einige Provinzen für aus ländische Touristen sperrte. Man erklärte diese Maßnahme mit einem ›Programm zur staatlichen Neuorganisation‹. Dann ka men nach und nach die sorgfältig formulierten Presseaussen dungen aus Peking, in denen von der Bekämpfung von ›Ban diten‹ und ›Konterrevolutionären‹ die Rede war. Den Satelliten jedoch blieb die Wahrheit nicht verborgen. Auf ihren Bahnen hoch über dem asiatischen Kontinent beob achteten die Aufklärungssatelliten der anderen Großmächte die Dörfer, die nachts in Flammen aufgingen, und die wach sende Zahl an Todesopfern in den Städten. Im Sommer des Jahres 2006 war es dann offensichtlich, dass das letzte große kommunistische Reich im Begriff war, auseinander zu fallen. Doch die Machthaber würden sich nicht so ohne weiteres in ihr Schicksal ergeben. Sie hatten den Untergang des War schauer Paktes und der Sowjetunion miterlebt und daraus ihre Lehren gezogen. Und jetzt, wo der Augenblick der Ent scheidung nahte, waren sie bereit, all ihre Macht einzusetzen, um ihre Gegner zu besiegen. Die Opferbilanz dieses zweiten chinesischen Bürgerkrieges drohte sogar jene des Zweiten Weltkrieges zu übersteigen. Genaue Zahlen waren jedoch nicht einmal im Land selbst bekannt. Moondog 505 hatte in dieser Nacht wieder einmal die Auf gabe erhalten, einen Blick über die Mauer des Schweigens zu werfen, um dem Westen bessere Informationen hinsichtlich des tobenden Krieg zu vermitteln.
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Digger und Bubbles waren vor einer Stunde von ihrem Flugzeugträger, der U.S.S. Enterprise, gestartet, der etwa 800 Kilometer weiter südöstlich stand. Sie hatten in der Nähe von Shantou erstmals Festland gesichtet und waren dann nach Norden in den Luftraum über der Formosastraße einge schwenkt, jenen schmalen Meeresstreifen, der das chinesische Festland von der Insel Taiwan trennte. In einer Entfernung von gut 30 Kilometern flogen sie die Küste entlang, um ihre Aufklärungsmission zu erfüllen. Da bei setzten sie vor allem ihre ELINT (Electronic Intelligence)und SIGINT (Signal Intelligence)-Systeme ein, mit denen sie jede Funk- und Radarsendeanlage in der Umgebung auf spüren konnten. Nach der Rückkehr der Maschine zum Flugzeugträger würde das Datenmaterial an verschiedene Stellen weitergelei tet werden, insbesondere an das Office of Naval Intelligence, die Defense Intelligence Agency und die CIA, wo man es dann mit den bereits gesammelten Informationen vergleichen konnte. Auf diese Weise hoffte man, ein weiteres Teil in das riesige Puzzle einfügen zu können, das China für die restliche Welt darstellte. »Also, was schlägst du vor, soll ich tun, Bub?« »Gesteh dir endlich ein, dass du nichts mehr tun kannst, und beende das Ganze, bevor es zu spät ist. Warte nicht so lange, bis ein Kind da ist und die Sache noch komplizierter wird.« »Ach, Scheiße, das alles!« »Ganz meine Meinung!« Sie schwiegen eine Minute, und Graves starrte in die Nacht hinaus. »Das Problem ist, dass ich sie immer noch irgendwie liebe.« »Na und – ich liebe zum Beispiel Nougateis mit Schoko streusel, aber ich bin nicht abhängig davon«, erwiderte Bub bles und fügte in nachsichtigem Ton hinzu: »Dig, sieh es doch ein – es klappt einfach nicht mehr zwischen euch.« Lieutenant Zellerman wollte ihren Gedanken noch weiter ausführen, als sie sich plötzlich vorbeugte und auf ihren Bild schirm starrte.
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Graves sah es in seinem Rückspiegel. »Was ist denn los?«, fragte er in plötzlicher Anspannung. »Keine Ahnung.« Ihre Finger glitten rasch über die Tasta tur, um die Anzeige des in Flugrichtung blickenden InfrarotSensors (FLIR) aufzurufen. »Ich glaube, wir sind soeben über einen Schwarm CruiseMissiles hinweggeflogen.« »Bist du sicher?« »Ziemlich … Es hat ausgesehen wie drei kleine Mantel stromtriebwerke … Sie schießen im Abstand von eineinhalb Kilometern über den Wellen dahin. Geschwindigkeit etwa 600 Knoten … Verdammt … da kommt noch ein Schwarm! Diesmal sind es vier Stück! Sie fliegen von Ost nach West, wie die anderen zuvor.« »Wer schießt da auf wen?«, fragte Graves. »Keine Ahnung. Es müssen Chinesen sein – aber welche Seite, das kann ich dir nicht sagen. Schwer vorstellbar, dass die Rebellen oder die Rotchinesen von da draußen auf das Festland feuern. Achtung! Kontakt in der Luft!« »Wo denn?« Graves drückte den Steuerknüppel instinktiv nach vorn und ließ die Maschine abtauchen wie ein Untersee boot. »Unter uns. Es sind zwei Gruppen zu je vier Maschinen. Zweimotorige Fighter, Typ noch unbekannt. Sie fliegen mit 550 Knoten von Ost nach West. Das ist ein Luftangriff, Dig ger!« »Wer sind die Kerle? Ich dachte, weder die Rotchinesen noch die Rebellen hätten nachtflugtaugliche Jagdflugzeuge.« »Nun, irgendjemand hat wohl welche!«, erwiderte Lt. Zel lerman und ließ ihre Hände über die Konsole gleiten, um mit dem zunehmenden Datenstrom fertig zu werden, der über die Sensoren hereinkam. »Diverse Feuerleitradare entlang der Küste! Außerdem Artillerie und SAM-Systeme!« »Hat uns jemand entdeckt?« »Negativ! Aber da sind vier oder fünf Störsender aktiv!« Im vorderen Cockpit ertönte ein Warnsignal. »Jetzt scheint’s ernst zu werden!«, rief Digger. »Schon gesehen. Sie haben uns aber immer noch nicht er fasst. Es scheint ein Flugzeug mit Frühwarnsystem zu sein, das die Gegend von Osten her mit seinen Radarsystemen ab sucht. Vielleicht eine E2D, aber ich glaube nicht, dass es eine von uns ist.«
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»Was bekommst du vom Festland rein?« »Das FLIR zeigt große Aktivität rund um Xiamen an, und auf dem Signal-Intelligence-Monitor sehe ich aktive Störsen der; sieht aus wie die herkömmlichen ECM-Systeme der NATO. Da bewegt sich außerdem eine Gruppierung von Über wasserschiffen in der Formosastraße. Mann, ich wünschte, wir könnten nur für eine Sekunde das Radar einschalten!« »Bist du verrückt geworden?«, erwiderte Graves. »Da draußen hat möglicherweise gerade jemand den Dritten Welt krieg vom Zaun gebrochen! Wenn wir unser Radar einschal ten, sind wir geliefert. Halt die Augen offen, ich fliege uns hier raus.« »Warte noch!«, entgegnete Lt. Zellerman. »Wir wissen ja noch gar nicht, was eigentlich los ist.« »Das müssen wir auch nicht wissen! Wir müssen jetzt vor allem lange genug am Leben bleiben, damit wir das Ganze melden können.« »Werfen wir wenigstens noch einen kurzen Blick auf die Schiffe da unten. Komm schon, Dig, das ist eine ganz große Sache, die da läuft!« »Na schön. Graves drosselte die Triebwerksleistung und fuhr die Lan deklappen aus, während er die Maschine durch die Wolken decke sinken ließ. Lt. Zellerman berichtete ihm währenddes sen, was der Infrarot-Scanner ihr auf dem Bildschirm zeigte. »Sieht aus wie ein Konvoi … zwei parallele Kolonnen … mit je drei mittelgroßen Kontakten und einem großen … die großen laufen am Ende … Dann sind da noch vier … nein, sechs Eskorter.« »Okay«, sagte Graves und machte die Düppel- und Wär mescheinzielwerfer bereit. »Im Moment sehe ich keine Bedro hung. Kannst du das bestätigen?« »Bestätigt. Die Überwasserschiffe laufen unter totaler EM CON.«
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»Ich sag’ dir jetzt, wie wir’s machen. Wir stoßen etwa zehn Kilometer vom Ziel entfernt durch die Wolkendecke und ge hen auf 2000 Fuß runter. Dann schwenken wir nach Osten, fliegen die Flanke des Konvois entlang und drehen schließlich nach Süden ab. So lange hast du Zeit, dein Material zu sam meln – wir werden nämlich nicht noch einmal umkehren.« »Aye, aye. Kameras sind ans FLIR gekoppelt. Recorder lau fen.« »Also los.« Sie stießen durch die Wolkendecke nach unten, und das lei stungsstarke thermographische System durchdrang die Dun kelheit und begann alles abzubilden, was sich unter ihnen ab spielte. Es war tatsächlich ein Konvoi. Eine Flottille von Lenkwaf fenschnellbooten deckte die Flanken der sechs Landungs schiffe für Panzerfahrzeuge und der beiden riesigen Bärge Carrier. Angeführt wurde die nach Westen laufende Forma tion von einer Fregatte der Oliver-Hazard-Perry-Klasse. Während er wie gebannt auf den Bildschirm starrte, fragte sich Graves in seiner Bestürzung, warum sein Land plötzlich einen Überraschungsangriff auf die Volksrepublik China ge startet haben mochte. Dann fiel ihm ein, dass die Flotte der U.S. Navy nicht die einzige in diesen Gewässern war, die über Perry-Fregatten verfügte. »Du lieber Himmel! Wenn Tschiang Kai-schek das noch er lebt hätte«, murmelte er betroffen und vergaß seinen Vorsatz, so rasch wie möglich aus dem Kampfgebiet zu verschwinden. »Oh, mein Gott, sie tun’s.« »Wer tut was?«, wollte Lt. Zellerman wissen. »Das ist eine Invasionsflotte, Bub – eine taiwanesische In vasionsflotte. Nach sechzig Jahren kehren die Nationalchine sen nach Hause zurück.«
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Die Küste von Jinjiang 16. Juli 2006, 03:31 Uhr Ortszeit Donner grollte an der chinesischen Küste, und Flammen reg neten vom Himmel. Die GA hatten die MLRS-Raketenwerfer ihrer Artillerie-Regimenter auf den Oberdecks ihrer Lan dungsschiffe in Stellung gebracht. Nun eröffneten sie das Sperrfeuer auf die Küstenverteidigungsanlagen Rotchinas. Unter diesen Bedingungen war absolute Präzision unmög lich. Da aber ein einziger Raketenwerfer mit jeder Salve ein Gebiet von der Größe mehrerer Wohnblocks vernichten konnte, war Genauigkeit auch nicht unbedingt nötig. Tränen des Zorns und der Enttäuschung liefen Oberst Yuan Kai von der Volksbefreiungsarmee über die Wangen. Was er vom Beobachtungsposten seines Kommandobunkers, einen knappen Kilometer von der Küste entfernt, mitansehen muss te, kam einem Albtraum gleich. Dabei hatte er sie noch gewarnt. Alle hatte er sie gewarnt, dass die Kuomintang-Partei und ihre Anhänger immer noch die eigentlichen Feinde waren. Doch sie hatten nicht auf ihn gehört. Die Generale waren so sehr auf ihren anderen Gegner konzentriert, die Rebellen im Süden, dass sie die Küstenver teidigung völlig vernachlässigt hatten. Und die Nationalisten hatten das alles beobachtet, um im richtigen Augenblick zu zuschlagen und China in ihre Gewalt zu bekommen. »Leutnant!«, knurrte Kai über die Schulter zurück. »Haben Sie die Verbindung zum Hauptquartier schon hergestellt?« »Nein, Genosse Oberst. Die Telefonleitungen scheinen un terbrochen zu sein.« Kais Adjutant, ein groß gewachsener, stoisch-ruhiger junger Offizier im Kampfanzug, stand am an deren Ende des Raumes, direkt neben den beiden Fernmel dern, die vor ihren Konsolen saßen. »Und was ist mit der Funkverbindung?« »Da sind einige Störsender aktiv, Genosse Oberst. Alle Kanäle sind blockiert.« »Verdammt! Versuchen Sie es weiter! Ich brauche unbe dingt eine Verbindung!«
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Er murmelte einige Kraftausdrücke und wandte sich wie der der Beobachtung der feindlichen Truppen zu. Das Nacht glas an den Augen ließ er den Blick über den Verteidigungs sektor seines Regiments schweifen, um sich einen Eindruck vom Ausmaß der Katastrophe zu verschaffen. Der Angriff hatte überfallartig eingesetzt; begonnen hatte alles mit den Cruise-Missiles, die die Radaranlage sowie die Luftabwehrsysteme außer Gefecht gesetzt hatten. Damit war der Weg für den nachfolgenden Luftangriff frei. Als seine Männer dann aus ihren Bunkern gestürmt waren, wurden sie von Schüttbomben niedergemäht und von Na palm verbrannt. Die wenigen Soldaten, die es geschafft hat ten, in den zweifelhaften Schutz der Blockhäuser zu gelangen, waren nun dem gnadenlosen Beschuss der Schiffsartillerie ausgesetzt. Doch das war noch nicht alles, was der Feind aufgeboten hatte. Der Boden erbebte, während sich vor der Küste eine Was serfontäne nach der anderen in die Luft erhob. Jede der Fontä nen bezeichnete die Stelle, wo sich eine der Küstenbarrieren befunden hatte. Die lange Reihe von Beton- und Stahlblöcken, die die Landung von ungebetenen Schiffen verhindern sollte, war soeben zerstört worden – zweifellos durch Sprengladun gen, die Kampfschwimmer angebracht hatten. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern, bis sie an Land ka men. »Leutnant! Haben Sie schon irgendjemand erreicht?« »Nein, Genosse Oberst«, antwortete der Adjutant mit ruhi ger Stimme. »Die Verbindungen sind immer noch unterbro chen.« »Dann schicken Sie einen Melder los! Er soll den Lastwagen des Hauptquartiers nehmen, wenn er noch funktioniert. Ge ben Sie ihm eine Nachricht an das Hauptquartier mit, dass in Zone zwölf eine Landungsoperation im Gange ist. Wir brau chen so schnell wie möglich Verstärkung! Die Situation ist kri tisch!« Sein Adjutant nickte wortlos. Er trat an den Eingang des Bunkers, reichte den beiden Wachposten eine rasch auf ein
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Blatt Papier gekritzelte Botschaft und schickte sie mit einem knappen Befehl los. Im nächsten Augenblick stürmten die bei den Männer davon. Plötzlich verebbte das Heulen und Donnern des feindli chen Artilleriefeuers. Die Stille, die nun folgte, war in gewis ser Weise genauso beunruhigend wie das pausenlose Dröh nen davor. Kai richtete seine Aufmerksamkeit wieder in die Nacht hinaus. Jetzt kamen sie. Es waren niedrige Schatten, die sich unauf haltsam der Küste näherten. Wie eine Horde Krokodile glitten die Amphibienfahrzeuge durch das Wasser auf den Strand zu. Aus einem der Blockhäuser, die noch nicht dem feindlichen Beschuss zum Opfer gefallen waren, ertönte das Rasseln eines Maschinengewehrs, das gegen die Übermacht ankämpfte. Das mächtige Donnern eines Geschützes war die Antwort. Dann tauchte noch ein anderer, viel größerer Schatten auf, der sich ebenfalls der Küste näherte – eine Fregatte der national chinesischen Marine. Die mächtigen Fünfzoll-Geschütze des Schiffes waren durchaus geeignet, den letzten Rest des Wider stands an der Küste zu brechen. Diese Ignoranten im Oberkommando der Volksbefreiungs armee sollte der Teufel holen! Wo war nur die Luftunterstüt zung, die man ihm versprochen hatte? Wo blieb die Artillerie? Und die Torpedoboote? Die ersten Landungsfahrzeuge hatten bereits die Küste er reicht, Die Raketenwerfer, die sie mit sich trugen, flammten auf und schickten ihre Geschosse über den Strand hinweg. Kai erkannte die Waffe, die der Feind nun einsetzte. Die Rake ten zogen Schläuche hinter sich her, die mit flüssigem Spreng stoff gefüllt waren und anschließend gezündet wurden. In kurzer Zeit würden die Schläuche lange Schneisen durch das Minenfeld am Strand schlagen. Ihre Explosion würde auch die Minen detonieren lassen, so dass der Weg über den Strand frei wurde. Die Pioniere der GA zündeten die Schläuche, und eine Kette von blauweißen Blitzen erhellte den Strand, auf die klei nere Explosionen im Sandboden folgten. Damit war auch die letzte Barriere gefallen.
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Der erste der amphibischen Schützenpanzer amerikani scher Bauart wälzte sich an Land. Das Fahrzeug wechselte nahtlos vom Schrauben- auf den Kettenantrieb um und rollte langsam einen der Gräben entlang, die von Minen gesäubert worden waren. Wie sehr hätte sich Kai jetzt gewünscht, das Aufblitzen ei nes eigenen Raketenwerfers zu sehen, dessen Projektil das Amphibienfahrzeug in Flammen aufgehen ließ. Doch das passierte nicht – im Gegenteil, aus dem Meer wälzte sich noch ein zweites und ein drittes Fahrzeug an Land. Die Fregatte feuerte nun über die eigenen Amphibienfahr zeuge hinweg; mit ihrem Hauptgeschützturm nahm sie syste matisch die Küstenbefestigungsanlagen unter Beschuss. Kai dachte in seiner Niedergeschlagenheit, dass der Trup penmangel, den er so bedauerte, auch sein Gutes hatte: Auf diese Weise hatte er seine Leute auf eine große Zahl von Befe stigungsanlagen verteilen können. Tschiangs Söhne würden viel Zeit und Munition darauf verschwenden, leere Bunker zu zerstören. Doch da erkannte Kai etwas, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Die feindliche Fregatte nahm die Küstenbefesti gungen ganz gezielt unter Beschuss. Anscheinend verfügten sie über GPS und feuerten systematisch auf ganz bestimmte Gebäude. Es waren genau die Bunker, die bemannt waren. »Verrat!«, flüsterte Kai entsetzt. Es gab nur eine Möglichkeit, wie die GA erfahren haben konnten, wo seine Truppen postiert waren: Jemand aus dem eigenen Hauptquartier musste es an sie weitergegeben haben. »Verrat!«, stieß er erneut hervor. »Genosse Oberst?« Kai schlug mit der Faust gegen die Wand. »Diese ver dammten GA haben uns unterwandert, Leutnant! Nur so kön nen sie erfahren haben, wo unsere Männer postiert sind! Ir gend so ein dreckiger Verräter in unserem Regiment hat uns dem Feind ausgeliefert!« »Nein, Genosse Oberst«, erwiderte der Adjutant mit ruhi ger Stimme. »Hier gibt es keine Verräter.«
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»O, doch – da bin ich mir völlig sicher! Sie haben genau ge wusst, wo unsere Schwachstelle liegt! Sie wussten auch von den Sperren vor der Küste. Und sie wissen sogar, wo unsere Männer postiert sind. Wir haben einen Verräter unter uns, Leutnant, und wenn wir hier lebend herauskommen, werde ich ihn aufspüren und dafür sorgen, dass er an den Galgen kommt!« Der Adjutant antwortete nicht; stattdessen war zu hören, wie eine Waffe durchgeladen wurde. Kai drehte sich um und seine Hand fuhr instinktiv zu der Pistole an seinem Gürtel. Doch bevor er eine weitere Bewe gung machen konnte, wurde er von seinem Beobachtungs posten heruntergeschleudert. Oberst Yuan Kai erlebte nur ei nen kurzen Moment des Schmerzes und sah nur noch undeutlich seinen Adjutanten im Bunkereingang stehen und in den Raum hinein feuern. Als Kai zu Boden sank, drehte sich der Adjutant herum und richtete sein Sturmgewehr auf die beiden Fernmelder. Der eine der beiden wollte aufspringen und nach seiner Waffe greifen, während der andere die Arme hob, um sich zu erge ben. Der Leutnant feuerte auf die beiden Männer, die sofort tot zu Boden sanken. Dann hob er die Waffe und zerstörte mit sei nen letzten Patronen die Kommunikationskonsole des Bun kers. Er nahm das leere Magazin heraus und ersetzte es rasch durch ein neues, bevor er durch die Tür nach draußen blickte, um zu sehen, ob vielleicht jemand die Schüsse gehört hatte. Doch es kam niemand. Das Chaos draußen in der Nacht hatte das Gemetzel hier drinnen übertönt. Der Adjutant at mete tief durch. »Nein, mein Oberst«, sagte er fast entschuldigend in den Raum hinein, der mit Blutspritzern übersät war. »Es gibt keine Verräter unter uns. Nur Patrioten.« Er schlüpfte durch die niedrige Tür des Bunkers und eilte den Korridor entlang. Seine Arbeit hier war erledigt. Doch um den Politoffizier des Regiments und den Stabschef unten im Befehlsstand würde er sich noch kümmern müssen.
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U.S.S. Cunningham, DDG-79 15. Juli 2006, 13:32 Uhr Ortszeit Commander Amanda Lee Garrett blickte über die Schulter des Chefingenieurs und verfolgte die roten und gelben Anzei gen auf dem Bildschirm, die sich ständig veränderten. Es sah nicht gut aus, was den Zustand der Systeme betraf. Der feind liche Raketenschlag hatte die Cunningham empfindlich getrof fen. »Mr. McKelsie? Status der Stealth-Systeme?« »Totalausfall. Außer den Düppel-Raketen steht im Moment nichts zur Verfügung.« Der hagere, stets etwas mürrisch wirkende Stealth-SystemOffizier hatte sein Khakihemd wegen der Hitze aufgeknöpft. Die Klimaanlage war schon kurz nach Beginn des Gefechts ausgefallen, und im Inneren des Schiffes breitete sich nun dichter Rauch aus. Die Temperatur im CIC, dem Gefechtsleit stand war mittlerweile so hoch, dass die üblichen Uniform vorschriften stillschweigend außer Kraft gesetzt wurden, da mit man die Hitze einigermaßen ertragen konnte. McKelsie fuhr sich mit der Hand durch die schon etwas schütteren nas sen Haare und setzte seinen Schadensbericht fort. »Wir haben außerdem Schäden an der Beplankung, und es ist zu befürchten, dass uns das Feuer die RAM-Beschichtung vom Rumpf wegfrisst. Wir stehen also ziemlich nackt da.« »Verdammt! Dix, die taktische Situation!« Lieutenant Dixon Lovejoy Beltrain, der Gefechtstaktik-Offizier der Duke, saß über seine Konsole gebeugt; sein Hemd hatte er ausgezogen und sein athletischer Oberkörper war mittlerweile schweißüberströmt. »Der feindliche Luftangriff ist vorbei«, berichtete er. »Die restlichen Projektile konnten abgewehrt werden. Keine un mittelbare Bedrohung.« Es war ein kleines Wunder, dass die SPY-2A-Radarantennen des Aegis-Systems den Angriff unbeschadet überstanden harten und nach wie vor ihre Bilder auf dem Large-ScreenDisplay erzeugten, das am vorderen Schott des Gefechtsleit standes angebracht war.
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»Das ist immerhin etwas«, murmelte Amanda. Sie hatten zumindest etwas Zeit gewonnen. Vielleicht sogar genug, um die notwendigen Reparaturen durchzuführen und sich aus dem Staub zu machen. »Raven’s Roost, wissen wir schon, mit welcher Waffe sie uns erwischt haben?« ›Raven’s Roost‹ war die Zentrale für elektronische Auf klärung – eine der vier Abteilungen, die in den Winkeln des achteckigen CIC (Combat-Information-Center) untergebracht waren. Eine jungenhaft-schlanke Frau erhob sich von ihrer Konsole und kam auf die Kommandantin zu. »Mit einer einzelnen Otomat-Mark-Three, Ma’am«, ant wortete Lieutenant Christine Rendino. »In der Luft gestartet« Das war ein weiterer kleiner Pluspunkt. Die italienische Otomat verfügte über einen Jetantrieb, so dass man sich we nigstens nicht mit überschüssigem Raketentreibstoff herum schlagen musste, der die Brandbekämpfung noch viel schwie riger gestaltet hätte. »Wie schlimm sieht es eigentlich aus?«, fragte Christine und betrat die Kommandozentrale des Gefechtsstandes. Die klein gewachsene Intel-Offizierin hatte auf die Hitze in sofern reagiert, ab sie ihr Khaki-Hemd unter der Brust zu sammengeknotet und sich ein Schweißband rund um das kurzgeschnittene aschblonde Haar gebunden hatte. »Schlimm. Der Treffer hat genau im Maschinenraum drei eingeschlagen. Die schiffstechnische Zentrale steht im Mo ment ebenfalls nicht zur Verfügung, und wir haben da hinten überall mit Bränden zu kämpfen.« Der Schweiß brannte Amanda in den Augen und sie wischte ihn sich ungeduldig mit dem Handrücken ab. Sie litt genauso unter der Hitze wie ihre Untergebenen, doch als Kommandantin gestattete sie es sich lediglich, die Hemdsär mel aufzurollen und ihr rotbraunes Haar mit einem Gummi band zu einem Pferdeschwanz zusammenzubinden. »Capt’n!«, meldete sich der Matrose, der als Gefechtsruder gänger Dienst tat. »Wir haben keine Kontrolle mehr über das Ruder und die Maschinen. Das Schiff lässt sich nicht mehr steuern.«
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»Verdammt!«, stieß Amanda hervor und wandte sich den Schadenkontrollanzeigen zu, Chief Thomson war gerade dabei, anhand der grafischen Darstellung des Schiffes die unteren Decks zu überprüfen. Es war ein kleines Wunder, dass der Chefingenieur zum Zeit punkt des Treffers nicht auf seinem Posten in der schiffstech nischen Zentrale gewesen war. »Beide Hauptleitungsstränge sind außer Funktion. Der Backbord-Strang wurde gleich durch die Explosion durch trennt, und die Steuerbordleitungen sind soeben durchge brannt.« Seine Worte bedeuteten nichts anderes, als dass das Rückenmark der Cunningham durchschnitten war. »Was ist mit dem Hangar?« »Er ist noch nicht unmittelbar betroffen, aber sie haben mit einem Brand direkt unter ihrem Deck zu kämpfen. Das große Problem sind die Treibstoffbunker und die Munitionsdepots. Sie liegen ganz in der Nähe des Feuers.« »Ist die Flutungsanlage noch funktionstüchtig?« »Im Moment ja.« »Dann bereiten Sie alles zum Fluten vor.« »Aye aye, Capt’n.« Das achterliche Luk ging auf und ein Matrose mit Gas maske trat ein. Mit ihm strömte dichter weißer Rauch herein. Amanda schlug die Tür hinter ihm zu, während der Matrose seine Gasmaske abnahm. »Meldung von Schadenkontrolle Alpha Delta«, berichtete er atemlos. »Alle Offiziere der technischen Abteilung sind tot oder vermisst, Ma’am. Sie waren alle in Maschinenraum drei oder in der schiffstechnischen Zentrale, als wir den Treffer be kamen. Chief Nelson berichtet, dass sich das Feuer nicht über Spant neunzehn hinaus ausgebreitet hat; wir haben es aber noch nicht wirklich unter Kontrolle.« »Wie schlimm sind die Schäden am Rumpf?«, fragte Amanda. »Ein Loch an Backbord bei Spant zwanzig, Ma’am. Unge fähr eineinhalb Meter Durchmesser. Direkt über der Wasser linie.«
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»Wie sieht es auf der anderen Seite des Feuers aus?« »Kein Kontakt mit Delta Fox. Sie dürften noch alles unter Kontrolle haben, aber die Kommunikation ist zusammenge brochen.« Amanda murmelte einen Fluch. Jetzt, wo auch noch die Bordsprechanlage ausgefallen war, wussten sie über die Si tuation an Bord des Schiffs weniger gut Bescheid als über das, was sich 300 Kilometer entfernt abspielte. »Capt’n!«, rief Thomson von seinem Platz an den Schadenkontroll-Anzeigen. »Wir haben eine Temperaturüberschrei tung für das Hubschrauber-Munitionsmagazin auf der An zeige!« »Fluten Sie den Bereich!« »Durch das zusätzliche Gewicht könnte aber das Ein schlagsloch unter die Wasserlinie sinken, Capt’n. Eine Über flutung wäre dann nicht mehr unter Kontrolle zu halten.« »Das ist mir bewusst. Aber das bisschen Wasser bringt uns nicht um, Chief. Das Feuer ist zehnmal gefährlicher.« »Capt’n«, warf der Matrose ein, der die Meldung über bracht hatte. »Chief Nelson hat immer noch eine Rettungs mannschaft im Einsatz, die nach Überlebenden sucht.« »Noch nicht fluten!«, rief Amanda und wandte sich dem Matrosen zu. »Laufen Sie zu Chief Nelson zurück und sagen Sie ihm, er hat …« – denk nach, Amanda, wie lange darf die Munition dem Feuer ausgesetzt sein, bevor sie hochgeht? Drei Minuten? …? – »zwei Minuten, um seine Aufgabe auszu führen und sein Team in Sicherheit zu bringen. Anschließend gehen Sie an Deck und informieren auch den Leiter von DeltaFox. Alles klar? Dann los!« »Aye aye!« Er setzte die Gasmaske auf und stürmte in den dichten Qualm hinaus. Auch die Luft in der Gefechtszentrale verschlechterte sich spürbar. Bald würde man auch hier drinnen zu den Gasmas ken greifen müssen. Doch Amanda achtete nicht weiter auf die stickige Luft und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Bildschirmen der Schadenkontrolle zu. Sie musste ihr Schiff irgendwie wieder flottbekommen. Diese Aufgabe sollte nicht unlösbar sein. Die Cunningham ver
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fügte über einen integrierten Elektroantrieb, dessen Hauptmo toren sich außen am Heck in speziellen ›Gondeln‹ befanden, wie sie auch die Luftschiffe früherer Tage aufwiesen. Dieses System war nicht sehr anfällig für Schäden, wie sie bei anderen Schiffsantrieben vorkommen konnten. Man müsste nur dafür sorgen, dass die Kraft von Punkt A nach Punkt B gelangte. Amanda zeigte auf das Hauptdisplay und sagte: »Wir brau chen eine Leitung von der Transformatorabteilung in Genera torraum zwei zum Anschlusskasten des Hauptantriebs bei Spant zweiundzwanzig. Dann brauchen wir noch Starkstrom kabel und eine neue Leitung zum Steuermaschinenraum.« »Ein Problem ist dabei nur der Anschlusskasten«, wandte Thomson ein. »Er steht direkt an dem Schott, wo auf der an deren Seite das Feuer wütet. Und jetzt kommt noch Wasser dazu. Gott weiß, in was für einem Zustand der Kasten ist, Ich geh’ gleich los und seh’ nach.« »Ich kümmere mich schon darum, Chief«, erwiderte Amanda. »Benachrichtigen Sie Commander Hiro auf der Brücke, dass er das Kommando hat.« »Verzeihen Sie, Ma’am, aber ich würde davon abraten.« »Chief, Sie sind der letzte Ingenieur, den wir noch haben. Ich brauche Sie hier, also bleibe nur noch ich übrig. Ich habe bei der Konstruktion des Schiffsantriebs mitgearbeitet, also müsste ich herausfinden können, was noch funktioniert und was nicht. Ich muss mir sowieso einen Überblick über die Lage verschaffen.« »Zu Befehl, Ma’am.« »Ich schicke dann einen Läufer, der Ihnen mitteilt, was hin ten im Heck los ist. Beginnen Sie jetzt mit dem Fluten.« Sie holte eine Gasmaske aus dem Schrank neben der Tür, entfernte die Kunststoffkappen von den Filtern und setzte sie auf. Dann nahm sie eine Gefechtslaterne vom Regal, öffnete das wasserdichte Schott und eilte in den dichten Rauch hi naus, der den Gang erfüllte. Inmitten der hektischen Betriebsamkeit der Gefechtszen trale hatten sich zwei Marineoffiziere untätig im Hintergrund gehalten. Die beiden – ein Captain und ein Lieutenant Com mander – hatten bisher nur zugesehen, wie die Frauen und
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Männer der Schiffsbesatzung gegen die Katastrophe ankämpften. Nun setzte der Ranghöhere der beiden seine Gasmaske auf und folgte Amanda hinaus. Die Gefechtslaterne war unter diesen Bedingungen völlig wertlos. Der Lichtstrahl vermochte kaum einen Meter in den dichten Rauch einzudringen. Doch das war noch kein allzu großes Problem; Amanda Lee Garrett kannte das Innere der ›Duke‹ – so nannte die Besatzung ihr Schiff – wie ihre eigene Hosentasche. Von irgendwoher ertönte das Dröhnen von kleinen Motoren, und aus einer anderen Richtung war zu hören, wie Stützbalken gegen Metall schlugen und verkeilt wurden. Unter gemurmel ten Flüchen gingen die Männer und Frauen des Schadensiche rungstrupps in fieberhafter Eile ihrer Arbeit nach. Amanda zögerte einen Augenblick und wandte sich dann dem Aufgang zu, der zum nächsten Deck nach oben führte. Die Offiziersmesse der Cunningham war in ein Notlazarett umgewandelt worden. Der Raum war voll mit Verletzten, die auf Tragen lagen. Die Chefsanitäterin der Cunningham, Bonnie Robinson, kümmerte sich zusammen mit Doc Golden um die vielen Verwundeten. Lieutenant Commander Daniel ›Doc‹ Golden war der jüngste Neuzugang auf der Duke. Es war nicht üblich, dass sich unter der Besatzung eines Zerstörers auch ein Marinearzt befand. Normalerweise mussten kleinere Kriegsschiffe mit ei nem Sanitäter auskommen; ansonsten blieb nur die Hoffnung, dass man eventuelle Verwundete rasch zu einem in der Nähe befindlichen Flugzeugträger bzw. Versorger transportieren konnte. Doch die Cunningham war für unabhängige Einsätze vorge sehen, so dass Amanda nicht lockergelassen hatte, bis man ihr schließlich einen eigenen Arzt bewilligte. Sie hatte bei ihrem letzten Einsatz einen Mann verloren, weil kein Arzt an Bord gewesen war. Das sollte ihr nicht noch einmal passieren. »Wie sieht’s mit den Verletzten aus, Doc?«, fragte Amanda, nachdem sie die Gasmaske abgenommen hatte. »Es mussten eigentlich viel mehr sein«, antwortete Golden, der gerade einem Verletzten eine Infusion legte. »Wir haben
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viele Vermisste unten in den Maschinenräumen.« Golden war ein Mann Ende dreißig, dessen fast schon kahler Kopf nichts daran änderte, dass er sich mit einer jugendlichen Leichtigkeit bewegte. Er strahlte üblicherweise eine gewisse Nonchalance aus, die jedoch im Augenblick der absoluten Konzentration auf seine Aufgabe gewichen war. »Wie sieht es mit denen aus, die wir bisher bergen konn ten?« »Vor allem Verbrennungen und Knochenbrüche. Auch Rauchvergiftungen werden immer häufiger.« Wie als Bestätigung seiner Worte ging die Tür auf, und zwei Männer von der Schadenssicherung trugen eine re gungslose Frau herein. »Rauch?«, fragte Golden. »Ja, Sir. Die Maske war defekt.« »Legt sie dort in die Ecke und gebt ihr Sauerstoff. Robinson, wir haben neue Kundschaft!« »Aye, Sir.« Golden wandte sich wieder seiner Kommandantin zu. »Weil wir gerade davon sprechen, Capt’n, der Raum hier erin nert mich schon langsam an ein Hotel, in dem ich einmal in Miami Beach abgestiegen bin. Die Klimaanlage funktioniert nicht und die Fenster kann man auch nicht öffnen. Ich ersuche um Erlaubnis, die Verletzten auf das Oberdeck verlegen zu dürfen. Die Leute brauchen frische Luft.« Amanda überlegte einige Augenblicke. »Abgelehnt. Wir befinden uns immer noch auf Gefechtsstation. Es kann jeder zeit passieren, dass wir Lenkwaffen starten müssen. Ich möchte die Besatzung nicht unnötig in Gefahr bringen.« »Capt’n…« »Halten Sie die Stellung, so lange es geht. Wenn Sie unbe dingt evakuieren müssen, sagen Sie mir Bescheid. Das wäre alles, Doc.« »Zu Befehl, Capt’n.« Amanda Garrett setzte die Maske wieder auf und verließ die Messe. Der hochrangige Offizier, der sie beobachtet und ihrem Gespräch mit Doc Golden gelauscht hatte, folgte ihr hinaus.
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Amanda machten sich wieder auf den Weg ein Deck tiefer und wandte sich nach achtern. Sie bewegte sich erstaunlich flink und sicher durch den dichten Rauch. Dabei stieg sie über Schläuche und Kabel hinweg, die sie nicht sehen konnte und von denen sie einfach annahm, dass sie unter den gegebenen Umständen dort sein mussten. Als sie durch ein Luk trat, spürte sie, dass sie sich in einem vergleichsweise großen freien Raum befand – dem Hubschrauber-Hangar der Cunningham. Sie wandte sich nach links und ging zehn Schritte nach Steuerbord, wobei sie sich behalf, indem sie eine Hand am Schott entlanggleiten ließ. Schließlich tauchte undeutlich die Gestalt vor ihr auf, die sie genau hier erwartet hatte. »Arkady?« »Ja, hier, Capt’n.« Amanda konnte ihn in dem Rauch zwar nur sehr undeut lich erkennen, doch sie wusste, dass er seinen grauen FliegerOverall trug. Ebenso war ihr bekannt, dass er nur einige Zenti meter größer war als sie und dass seine Augen hinter der Maske von einem außergewöhnlichen Blau waren. Kurz ge sagt, sie kannte Lieutenant Vince Arkady genauso gut wie die Decks ihres Schiffes. »Wie sieht’s hier aus?« »Das Feuer ist immer noch ein großes Problem, Capt’n. Wir versuchen es so gut wie möglich unter Kontrolle zu halten.« »Okay, wir sind gerade dabei, eine neue Leihung zu verle gen, damit wir Strom für die Motoren bekommen. Ihre Leute sollen sich bereithalten, dabei mitzuhelfen.« »Wird erledigt.« »Und wir müssen den Hangar entlüften. Lassen Sie den Hubschrauber-Aufzug herunter und sehen Sie zu, dass Sie den Rauch wenigstens teilweise hier rausbekommen.« »Haben wir schon versucht, Captain. Kein Strom. Wir küm mern uns gerade darum.« »Das reicht nicht. Wir müssen sofort entlüften. Knacken Sie die Sicherheitsschlösser mit einer Brechstange und lassen Sie den Druck aus den Hydrauliktanks. Das sollte klappen.« »Aye, aye.«
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Er drückte kurz ihre Schulter und war auch schon fort, um den irgendwo im Rauch verborgenen Leuten im Hangar An weisungen zuzurufen. Amanda ging weiter am Schott entlang und zwängte sich dabei an Retailer Zero One vorbei, einem der beiden SAH-66Sea-Comanche-Hubschrauber an Bord der Cunningham. Vor ihr tauchte schließlich ein ovaler gelblicher Lichtschein auf, und im nächsten Augenblick trat sie durch die offene Tür auf das kleine achterliche Welldeck hinaus. Sie nahm die Maske ab und gönnte sich den Luxus eines tiefen Atemzuges. Die Meeresbrise, die durch ihre ver schwitzten Kleider wehte, fühlte sich angenehm kühl an, doch es war ihr nicht vergönnt, länger hier draußen zu ver weilen. Sie beachtete den ernst dreinblickenden Mann nicht weiter, der ihr ins Freie gefolgt war, und kehrte durch ein an deres Luk ins Innere des Schiffes zurück. Die Luft kam ihr jetzt bedeutend reiner als in anderen Be reichen des Schiffes vor, doch in der Dunkelheit, die hier un ten herrschte, war es dennoch nicht so leicht, sich zu orientie ren. Amanda brauchte einige Augenblicke, um die Chefin des Schadensicherungstrupps und ihre Mannschaft wahrzuneh men, als sie drei Decks tiefer ankam. »Alles dicht, Ma’am«, berichtete der weibliche Chief Petty Officer (CPO). »Die Schotts von Spant dreiundzwanzig hal ten Stand. Der Steuerungsmotor ist okay, und ich habe ein Team losgeschickt, um die Zugangstunnel zu den Antriebs gondeln zu überprüfen. Die Hauptmotoren sind unbeschä digt. Wir brauchen nur noch Saft, um alles wieder zum Laufen zubringen.« »Ist bald so weit. Wir richten eine neue Leitung ein.« »Okay! He, Wheeler! Öffnen Sie die Luken am Hauptvertei lerkasten. Reichsbower, Sie machen das Gleiche beim Steue rungsmotor. Die anderen verteilen sich und prüfen die Anzei gen. Wir haben bald wieder Strom. Also los!« »Chief!«, ertönte die Stimme des Mannes, der zum An schlusskasten geschickt worden war, aus der Dunkelheit. »Kommen Sie schnell!« Amanda folgte der Truppführerin, die sofort loslief.
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Seaman Wheeler kniete vor der in Kniehöhe angebrachten Luke und richtete die Taschenlampe auf das doppelte X aus blauem Klebeband. »Oh, Scheiße!«, stieß die CPO hervor. »Wassereinbruch!« Amanda nickte mit grimmiger Miene. »Ein Riss im Schott. Ich hatte mir denken können, dass sie es uns nicht so leicht machen. Okay, wir ändern den Plan. Wir müssen eine zweite Leitung von Maschinenraum eins legen. Der Steuerbord-Antrieb wird von Maschinenraum eins gespeist, der Backbord antrieb von Nummer zwei. Wir steuern die Leistung direkt über den Generator.« Sie drehte sich um und eilte zum Zwischendecknieder gang. »Ich gebe gleich den anderen Bescheid. Sagen Sie Ihren Leuten, dass sie die Zugangstunnels öffnen sollen, und halten Sie sich bereit, damit wir die Sache durchziehen können.« »Belege das, Capt’n Garrett. Wir wollen Ihre Zeit nicht län ger in Anspruch nehmen, und unsere auch nicht«, wandte der Offizier ein, der ihr überallhin gefolgt war. »Ich glaube, wir können das Ganze beenden.« Amanda atmete tief durch. »Aye aye, Sir«, antwortete sie und wandte sich der ›toten‹ Sprechanlage zu. »Brücke!« »Brücke, aye«, ertönte die Stimme ihres Ersten Offiziers, Lieutenant Commander Kenneth Hiro. »Hier spricht die Kommandantin, Ken. Es ist vorbei. Been den Sie die Gefechtsübung. Gute Arbeit, geben Sie das an die anderen weiter.« Einige Augenblicke später lauschte man im ganzen Schiff den Worten des Ersten Offiziers, der die Nachricht durch sagte. »Gefechtsübung beenden! Ich wiederhole, Gefechtsübung beenden. Schiffstechnische Zentrale, Systeme aktivieren. Scha denkontrolle, Rauchgeneratoren abschalten. Condition X-Ray in Kraft. Schiff durchlüften. Übrigens, die Lady meint, dass die ganze Besatzung gute Arbeit geleistet hat.« Die Deckenbeleuchtung ging so abrupt an, dass man mo mentan geblendet war. Die Lüfter begannen ebenfalls zu ar beiten und erzeugte ein leises Dröhnen, das darauf hinwies,
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dass auf dem Kriegsschiff auch unter Deck alles wieder in ge wohnten Bahnen verlief. Der Rauch begann langsam abzuzie hen. »Ich hoffe, ich habe die Besatzung nicht voreilig gelobt, Captain Johannson«, sagte Amanda, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte. »Ganz und gar nicht«, antwortete der Flottenbereitschafts offizier. »Natürlich muss ich mit den anderen Mitgliedern des Inspektionsteams erst eine Analyse und eine offizielle Beurtei lung vornehmen, aber nachdem Ihre Crew sich heute genauso gut geschlagen hat wie schon die ganze Woche, sehe ich da überhaupt kein Problem.« Er reichte Amanda die Hand. »Gratuliere, Capt’n. Ihr Schiff ist bestens gerüstet, würde ich sagen.« Einige Meter entfernt stieß ein heimlicher Zuhörer einen gedämpften Jubelruf aus. Binnen Sekunden würde sich die freudige Nachricht vom Bug bis zum Heck verbreitet haben. Amanda machte sich auf den Weg an Deck, vorbei an den Leuten der Schadensicherungstrupps, die mit den Aufräu mungsarbeiten begannen. Als sie diesmal am Welldeck an kam, konnte sie die frische Pazifikluft in vollen Zügen ge nießen. Die U.S.S. Cunningham lag in Pearl Harbor vor Anker. Hier war sie während der vergangenen Woche vor der Aufgabe ge standen, sich ihre Sporen aufs Neue zu verdienen. Der riesige Zerstörer hatte eben erst längere Reparaturar beiten über sich ergehen lassen müssen, nachdem er von ei nem schwierigen Einsatz im Südatlantik zurückgekehrt war. Dort war die Cunningham das einzige amerikanische Kriegs schiff gewesen, das in der jüngsten militärischen Auseinan dersetzung mit Argentinien zum Einsatz gekommen war. Obwohl die Duke aus diesem Kampf um die Antarktis sieg reich hervorgegangen war und ihre Besatzung mit höchsten militärischen Ehren bedacht wurde, musste das Schiff nun aufs Neue seine Einsatztauglichkeit unter Beweis stellen. Während des vergangenen Monats hatten sich Schiff und Besatzung einer ganzen Reihe von härtesten Tests und Übun gen unterziehen müssen. Der Höhepunkt war die soeben be
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endete einwöchige Feuer- und Schadensicherungsübung ge wesen. Nachdem diese letzte Hürde genommen war, hatten Schiff und Crew ihre Eignung bewiesen, zu ihrem vorgesehe nen Einsatz im Westpazifik aufzubrechen. Amanda blickte nach vorn und sah, dass der Hubschrau beraufzug nach unten gefahren war, wie sie es angeordnet hatte. Einige letzte Schwaden des geruchlosen, ungiftigen Rauchs drangen noch ins Freie hinaus. Noch weiter vorne, am Ende der stromlinienförmigen Decksaufbauten, erhob sich der flossenartig angeordnete, frei stehende Mastaufbau. Er wirkte aus der Ferne wie ein giganti scher Dolch, dessen Spitze ein unsichtbares Muster in den blauen Himmel über Hawaii ritzte. Hier und dort strömten kleine Grüppchen von abgekämpf ten, aber frohen Besatzungsmitgliedern aus den Luken auf die Decks heraus, unter ihnen auch solche, die eben noch Doc Goldens ›Patienten‹ gewesen waren. Die Crew hatte immer noch einiges an Aufräumungsarbeiten vor sich, doch nach al lem, was sie mitgemacht hatte, konnte sie sich sehr wohl eine kleine Verschnaufpause gönnen und den Erfolg genießen. Auf der Hubschrauberlandeplattform tauchte Vince Ar kady auf. Amanda sah schon von weitem sein strahlendes Lächeln, als er sie erblickte. In einer triumphierenden Geste hob er beide Arme hoch. Amanda erwiderte sein Lächeln. Sie entfernte das Gummi band, mit dem sie ihre Haare im Zaum gehalten hatte, und ließ ihre rotbraune Mähne über die Schultern fallen. Dann lehnte sie sich gegen die Reling und atmete tief durch.
Weißes Haus, Washington D.C. 15. Juli 2006, 20:32 Uhr Ortszeit Es war die schönste Tageszeit in Washington – immer noch angenehm warm, ohne dass man sich jedoch wie in einem Dampfbad vorkam. Außenminister Harrison Van Lynden
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hatte jedoch nicht die Zeit, den Abend zu genießen. Sein Wa gen passierte den Sicherheits-Checkpoint und näherte sich der Südseite des Weißen Hauses. Ein Stück weiter vorne leuchteten Bremslichter auf; ein an deres Mitglied des Krisenstabs war ebenfalls gerade einge troffen. Als Van Lyndens Wagen sein Ziel erreichte und an hielt, erkannte der Außenminister Lane Ashley, die Direktorin der National Security Agency, die soeben aus der Limousine stieg, ihre Aktentasche in der Hand. Sie blieb kurz stehen, um auf ihn zu warten. »Viel Glück, Sir«, sagte sein Fahrer vom Geheimdienst, »was auch immer es diesmal ist.« »Schauen Sie sich CNN an, Frank. Wahrscheinlich wissen die mehr darüber als wir.« »Wo hat man Sie denn heute erreicht?«, fragte Lane Ashley, während sie die stillen Korridore des Weißen Hauses entlang gingen. »Ich habe mich gerade auf einen langen Tag mit dem belgi schen Premierminister vorbereitet. Wahrscheinlich einer der zehn langweiligsten Menschen in ganz Westeuropa.« »Da hatten Sie aber Glück«, sagte die groß gewachsene, leicht ergrauende blonde Frau mit einem Seufzer. »Brian und ich wollten an die Westküste fliegen. Mein Sohn heiratet mor gen.« »Es ist für uns alle nicht gerade lustig, Lane. Die Sache ist ziemlich unangenehm.« Sie wurden in ihrem Gespräch unterbrochen, als sie bei den Sicherheitsleuten ankamen, die links und rechts des Aufzugs standen, der zum Briefing-Room des Weißen Hauses führte. Obwohl er im Laufe seiner Amtszeit sicher schon viele Dut zend Male hier gewesen war, verglichen die Männer vom Secret Service sorgfältig Van Lyndens hageres Gesicht mit dem Bild auf seinem Ausweis. Dann fuhr einer der Männer mit einem I.D.-Scanner über den Magnetstreifen des Auswei ses. Der Ton, der im nächsten Augenblick zu hören war, be kräftigte, dass es sich bei dem Besucher wirklich um den Außenminister handelte. Derselben Prüfung musste sich auch
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die Direktorin der NSA unterziehen, ehe die beiden den Auf zug betreten konnten, der in die gut abgesicherten unterirdi schen Gefilde des Weißen Hauses führte. »Sind Sie in der Sache schon einen Schritt weitergekom men?«, fragte Lane Ashley, während sie im Lift hinunterfuh ren. »Einen Schritt vielleicht, aber der Chef wird trotzdem nicht begeistert sein.« Benton Childress war ein Mann in den mittleren Jahren. Er war von schwarzer Hautfarbe und kräftigem Körperbau mit einem gewissen Hang zur Beleibtheit. Mit seinem Tweedan zug und seiner Brille mit goldfarbener Fassung sah er aus wie der typische College-Geschichtslehrer – nicht ohne Grund, denn schließlich hatte er sich früher tatsächlich als solcher betätigt. Er war außerdem Bürgermeister einer bedeutenden Stadt im mittleren Westen gewesen und darüber hinaus noch Lieutenant Colonel bei der Missouri Air National Guard. Ge genwärtig war er der 44. Präsident der Vereinigten Staaten. Er blickte über die Brillenfassung hinweg und betrachtete die drei Mitglieder seines rasch zusammengetrommelten Kri senstabs so, als hätte er es mit drei Schülern zu tun, die ihm Probleme machten. »Mrs. Lane, Gentlemen«, sagte er. »Wie zum Teufel konnte das passieren, ohne dass wir es bemerkt haben?« Wie ein anderer ehemaliger Angehöriger der National Guard, der einst das Amt des Präsidenten bekleidet hatte, zeichnete sich Childress dadurch aus, dass er nicht lange um den heißen Brei herumredete. »Zu viele verschiedene Aufgabengebiete und zu wenig Leute«, antwortete Lane Ashley mit ruhiger Stimme. Genauso wie der Präsident war auch sie in der Lage, Klartext zu reden – eine Fähigkeit, ohne die sie es kaum geschafft hätte, sich im durch und durch männlich dominierten Bereich der CIA hochzuarbeiten. »Die Kräfte, die wir im Westpazifik im Einsatz hatten, wa ren vor allem auf das chinesische Festland konzentriert. An Taiwan hat ganz einfach niemand gedacht.«
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Das Besprechungszimmer des Präsidenten war ganz in Kirschholz gehalten – der massive Konferenztisch ebenso wie die Stühle und die Wandtäfelung. Das Einzige, was sich von der traditionellen Eleganz des Raumes abhob, waren die Work-Station in einer Ecke und die überdimensionalen Bild schirme, die an jeder der vier Wände angebracht waren. Die ausgezeichnete Klimaanlage hätte niemanden vermuten las sen, dass man sich sechs Meter unter der Erde befand. »Da kommt noch etwas dazu«, meldete sich Van Lynden zu Wort. »Als in China der Bürgerkrieg zu wüten begann, musste Taiwan immer wieder militärische Provokationen durch Rot china hinnehmen. Funk und Radar wurden massiv gestört; außerdem wurden Küstenwachboote und Flugzeuge beschos sen. Taiwan antwortete mit einer Teilmobilmachung seiner Truppen – angesichts der unsicheren Lage in der Umgebung eine verständliche Maßnahme. Aber so konnten sie die Vorbe reitung zur Invasion sehr gut hinter den allgemeinen Trup penübungen verbergen.« »Ich bin mir sicher, dass das manchen Leuten gerade recht gekommen ist.« Mit seiner kerzengeraden Haltung und seinem Bürsten haarschnitt sah der Sicherheitsberater des Präsidenten, Sam Hanson, immer noch wie der Angehörige der Marines aus, der er dreißig Jahre lang gewesen war. Als Benton Childress Präsident der USA wurde, wechselte Hanson vom Vorsitz der Stabschefs auf den Posten des Sicherheitsberaters. »Es wäre vielleicht ganz interessant wenn wir uns diese ›Provokationen‹ etwas näher ansehen könnten.« »Ich glaube nicht, dass uns das allzu viel bringen würde, Sam«, wandte Lane Ashley ein. »Wir wissen ja, dass Teile der Volksbefreiungsarmee mit den Rebellen sympathisieren. Es wäre ihnen also sicher nicht schwer gefallen, solche Vorfälle zu arrangieren.« »Vielleicht waren die Provokationen aber auch echt«, warf Van Lynden ein. »Rotchina hat schließlich immer wieder ver sucht, die Taiwaner einzuschüchtern. Vielleicht wollten sie Taiwan zu verstehen geben, dass es sich aus dem innerchine sischen Konflikt heraushalten solle. Nur ist diesmal der
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Schuss nach hinten losgegangen. Aber wie es auch war – ich glaube, das macht jetzt keinen großen Unterschied mehr.« »Da haben Sie wohl Recht«, stimmte Childress zu. »Ich glaube auch nicht, dass es uns weiterbringt, wenn wir uns lange mit der Vergangenheit aufhalten. Wir sollten uns auf das konzentrieren, was jetzt passiert, und überlegen, was wir für Möglichkeiten haben, um einzugreifen. Mrs. Ashley, ich schätze, Sie haben einen aktuellen Lagebericht für uns?« »Ja, Sir.« Sie nickte dem Systemoperator zu, der an der Work-Station saß. »Erstes Bild, bitte.« Die Beleuchtung des Konferenzzimmers wurde gedämpft. Am anderen Ende des Zimmers fuhr das Large-Screen-Display hoch, und nach einer Weile erschien eine Computerkarte von China und seiner Umgebung. Entlang der Küste von Shantou bis zur vietnamesischen Grenze und landeinwärts bis zur Provinz Sichuan leuchtete die Karte gelb. Die Mandschurei und ein Teil des Nordens wa ren ebenso rot gefärbt wie die Insel Hainan. Die westlichen Provinzen erschienen in beiden Farben gesprenkelt. »So stellt sich uns im Moment die Lage dar. Wir wissen, dass die Rebellen – oder die Vereinigten Demokraten Chinas, wie sie sich selbst bezeichnen – den Südosten in ihrer Hand haben, also vor allem die Gegend um Kanton und Hongkong. Die Kommunisten kontrollieren nach wie vor Peking und den Nordosten.« »Das ist die alte kulturelle Trennlinie zwischen Brot- und Reisessern«, warf Van Lynden ein. »Im Wesentlichen ja«, stimmte Lane Ashley zu. »In den westlichen Provinzen ist die Lage nicht so eindeutig. Während im Osten ein richtiggehender Bürgerkrieg vom Zaun gebrochen wurde, haben wir es im Westen mit einer Vielzahl kleinerer Konflikte und Revolten zu tun, in denen sich nicht nur politische Gegner, sondern auch verschiedene Volksgruppen gegenüberstehen. Die meisten dieser Gruppen schlagen sich zwar auf eine der beiden Seiten, aber sie verfol gen durchaus auch ihre eigenen Ziele. Wahrscheinlich weiß man nicht einmal in China selbst so genau, was da in man
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chen Gegenden vor sich geht, In der Region jenseits der Wüste Gobi ist der Kontakt mit einigen Provinzen völlig abgerissen. Es handelt sich um Gebiete in der Größenordnung von Hun derttausenden von Quadratkilometern; es dürfte also Jahre dauern, bis dort wieder ein ordentliches Kommunikations netz installiert ist. Bis dahin könnten sich einige ganz neue Staaten herausgebildet haben.« »Die, mit denen wir es heute zu hin haben, reichen mir fürs Erste, würde ich sagen«, brummte Präsident Childress. »Fah ren Sie fort, Mrs. Ashley.« »So richtig ausgebrochen ist der Bürgerkrieg vor etwa zwei Jahren mit großangelegten Protesten in der Region um Kan ton und Hongkong. Ausgelöst wurden sie dadurch, dass Pe king seine eigenen Leute in die politische Führungsspitze die ser Gegend brachte, um seinen Einfluss zu verstärken. Außerdem wehrten sich die Leute dagegen, dass ein großer Teil der wirtschaftlichen Gewinne nach Peking wanderte. Als die dort stationierten Truppen der Volksbefreiungsar mee den Befehl bekamen, den Aufruhr niederzuschlagen, kam es in den Führungsspitzen der Armee zur Meuterei, in deren Folge sich der Großteil der Truppen auf die Seite der Aufständischen schlug. Wenig später bildeten die Vereinigten Demokraten Chinas eine lokale Regierung in der Gegend. Von dort breitete sich der Aufstand rasch aus. Große Teile der Armee liefen zu den Rebellen über, darunter auch An gehörige der Luftstreitkräfte und der Marine. So ist es zu einer Art Pattsituation zwischen den beiden Lagern gekommen. Die Aufständischen sind zwar zahlenmäßig überlegen, dafür sind die Kommunisten besser ausgerüstet. In den Östlichen Provinzen sind deshalb die Fronten seit sechs Monaten ziem lich festgefahren. Vergangene Nacht hat sich das geändert. Nächstes Bild, bitte.« Die Karte änderte sich; an der Ostküste, direkt gegenüber von Taiwan, erschien ein orangefarbener Fleck innerhalb der roten Zone. »Ich schätze, Mr. Hanson kann uns näher erläutern, was da genau vor sich gegangen ist.« Hanson nickte und griff den Faden auf. »Es begann in den
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frühen Morgenstunden mit Flugzeug- und Cruise-MissileAngriffen. Dabei wurden vor allem Flugplätze, Flugabwehr einrichtungen und Kommandozentralen unter Beschuss ge nommen. Wir haben da etwas, auf dem Sie erkennen können, wie sich das Ganze abgespielt hat. Die Filmaufnahmen des Aufklärungsflugzeugs, bitte.« Ein zweiter Bildschirm erwachte zum Leben und zeigte er staunlich scharfe Bilder von hügeligem Ackerland. Man hatte den Eindruck, dass das Video aus nicht mehr als 300 Metern Höhe angefertigt worden war. Van Lynden erkannte, dass es sich um die chinesische Küste handelte. »Wie sind wir zu diesen Aufnahmen gekommen, Sam?«, wollte er wissen. »Über eine Mikrowellenverbindung mit einem unserer strategischen Aurora-Aufklärungsflugzeuge. Sie versorgen uns regelmäßig mit neuen Aufnahmen – in diesem Fall von der Provinz Fujian. Ziel dieser Mission war der Militärstütz punkt von Fuzhou, der gleich ins Bild kommen wird.« Im nächsten Augenblick drehte das Flugzeug auf das Ziel ein. Hanson holte einen Laser-Pointer aus der Innentasche sei nes Jacketts hervor und begann damit die Punkte zu markie ren, an denen der Flugplatz von Fuzhou unter Beschuss ge nommen worden war. »Sehen Sie die hellen Streifen auf der Rollbahn? Sie stam men eindeutig von heftigem Beschuss aus der Luft. Ich wette, sie haben auch Landminen abgeworfen. Da drüben, neben der Rollbahn, das ist ein Bombentrichter … zumindest jetzt. Nach den Trümmern zu schließen, gab es da zuvor eine Luft abwehrstellung. Die Hangars sind ebenso vernichtet wie der Tower und alles andere. Sämtliche ihrer F-8-Maschinen … zer stört. Wahrscheinlich durch lasergelenkte Gleitbomben.« »Dass sie einen solchen Präzisionsangriff in der Nacht flie gen können«, warf Präsident Childress ein, »das zeigt, dass sie über modernste Technologie verfügen.« »Genau, Sir. Sie haben sich ihre Waffen aus allen Teilen der Welt beschafft – aus Israel, Brasilien und Südafrika. Außer dem scheinen auch einige hausgemachte taiwanesische Waf fen im Einsatz zu sein, wie wir sie noch nie gesehen haben.«
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»Irgendwie hat es den Anschein, als wären die Rotchinesen nicht einmal dazu gekommen, die Triebwerke ihrer Jagdflug zeuge starten.« »So ist es auch, Mr. President. Die Luftabwehr scheint völ lig zusammengebrochen zu sein, kaum dass die GA ihren An griff gestartet hatten. Das lässt auf Sabotage im Inneren schließen. Die ganze Sache war minuziös geplant.« Das Video ging zu Ende, wo rauf wieder die ursprüngliche Landkarte auf dem Bildschirm erschien. »Bis Tagesanbruch«, fuhr der Sicherheitsberater fort, »hat ten sich die GA’s jedenfalls die Luftmacht über der Provinz gesichert. Danach brachten sie eine ganze Division von Ma rineinfanteristen bei Jinjiang an Land, gefolgt von Luftlande einheiten. Inzwischen treffen immer neue Kräfte an der Küste ein, die sich hauptsächlich nach Süden orientieren. Meiner persönlichen Einschätzung nach haben sie es auf den Hafen von Amoy abgesehen.« »Und was haben die Rotchinesen seither getan?« »Sie waren völlig überrumpelt. Fujian galt eigentlich als völlig sicher gegen jeden Angriff.« Ben Childress ließ die Fülle der Informationen erst einmal auf sich wirken, ehe er fragte: »Und was ist mit den Aufstän dischen? Wie sind sie in die ganze Sache verwickelt?« »Es ist ganz offensichtlich, dass die Rebellen mit den GA zusammenarbeiten«, antwortete Lane Ashley. »Als die An griffe einsetzten, kam es überall in der Provinz zu Sabotageak ten und Guerilla-Attacken. Außerdem dürften nicht wenige Angehörige der kommunistischen Streitkräfte zu den Rebel len übergelaufen sein. Gleichzeitig starteten die Vereinigten Demokraten eine Großoffensive von ihrem Stützpunkt in Hunan aus. Die ganze Operation muss von langer Hand vor bereitet gewesen sein.« Van Lynden hatte diesem Augenblick mit einem etwas mulmigen Gefühl entgegengesehen. Präsident Childress wandte sich dem Außenminister zu. »Was sagen Sie dazu, Harry? Ihre Leute sind stets davon ausgegangen, dass keine Verbindungen zwischen Taiwan und den Rebellen bestehen. Es hieß, die Aufständischen trauten den GA’s genauso wenig
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wie den Kommunisten, und Taiwan hätte kein Interesse, sich in die Vorgänge auf dem Festland einzumischen. Was ist da passiert?« »Wir wurden hinters Licht geführt, Sir. Offensichtlich ha ben GA und Rebellen ein geheimes Netzwerk errichtet, von dem wir keine Ahnung hatten. Sie scheinen sich über viele po litische und militärische Fragen geeinigt zu haben. Ich über nehme natürlich die volle Verantwortung für die Versäum nisse in meinem Ministerium, und finde selbst keine Entschuldigung dafür – außer vielleicht, dass die GA sich während der vergangenen fünfzig Jahre kontinuierlich auf diesen Moment vorbereitet haben – und ich muss sagen, sie haben hervorragende Arbeit geleistet. Wie Sam schon gesagt hat, die ganze Sache war bis ins letzte Detail geplant.« Childress nickte und nahm die Brille ab. Er holte ein zu sammengefaltetes weißes Taschentuch aus seiner Jackettta sche hervor und begann die Gläser sorgfältig zu reinigen. Je der der Anwesenden wusste, dass der Präsident diese Geste benützte, um nachzudenken. Schließlich setzte er die Brille mit einer abrupten Bewegung wieder auf. »Nun, Leute«, begann er, »sehen wir den Tatsachen ins Auge. Sie haben uns ordentlich in den Arsch getreten. Aber ich glaube nicht, dass uns Selbstvorwürfe jetzt viel weiterhel fen. Wir sollten uns darauf konzentrieren, wie sich die Sache entwickeln könnte und was zu unternehmen ist. Also, womit müssen wir rechnen?« »Mit einer weiteren Destabilisierung der Lage«, meldete sich Lane Ashley zu Wort. »Wie wir gesehen haben, verfügt die GA über allerneueste Waffentechnologie. Zahlenmäßig können sie sich zwar nicht mit den Kommunisten messen – aber sie können den Rebellen wichtige Waffenunterstützung zu Wasser, zu Land und aus der Luft liefern. Ich muss sagen, dass die Aussichten des Regimes in Peking dadurch empfind lich verschlechtert werden.« »Ich glaube nicht, dass irgendjemand unter den Anwesen den besonders traurig über diese Tatsache ist«, bemerkte der Präsident trocken. Sam Hanson richtete sich in seinem Stuhl auf. »Die Frage
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ist, was werden die Roten unternehmen, um den Spieß umzu drehen?« »Welche Möglichkeiten hätten sie denn?« »Wenn man einmal von der Möglichkeit absieht, dass sie Unterstützung von außen bekommen«, antwortete Sam Han son, »was bei einem kommunistischen Regime nicht sehr wahrscheinlich ist – so bleibt ihnen nur eine Möglichkeit: ein Atomschlag.« Mit einem Mal wurde es still im Konferenzzimmer, und ei nen Hauch kälter. In Beratungen wie dieser wurde das Wort ›Atomschlag‹ niemals leichtfertig ausgesprochen. »General Hanson«, sagte Childress und wandte sich sei nem Sicherheitsberater zu, »ich habe die Studien gelesen, die sich damals, während des Zusammenbruchs der Sowjet union, mit der Möglichkeit eines nuklear geführten Bürger krieges beschäftigten. Ehrlich gesagt, habe ich mit einem sol chen Szenario nie viel anfangen können. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ein Staatschef Atomwaffen gegen das ei gene Volk einsetzen würde.« »Sir, wir haben es hier mit asiatischer Mentalität zu tun. Ich weiß, es gilt heutzutage als politisch inkorrekt, solche Ein schätzungen über andere Kulturen zu treffen – aber das Ganze erinnert mich an eine Geschichte aus dem Koreakrieg, die ich einmal gehört habe. Offenbar fürchteten einige Mitglieder der chinesischen Regierung, dass die Vereinigten Staaten die Atombombe gegen China einsetzen könnten. Als diese Frage vor das Oberkommando der Volksbefreiungsarmee gebracht wurde, sagte einer der Generäle mit einem Schulterzucken: ›Dann verlieren wir eben ein paar Millionen Leute. Na und?‹ Mit so einer Mentalität dürften wir hier zu rechnen haben.« »Aber, verdammt noch mal, sie würden ihr eigenes Land in eine radioaktiv verseuchte Wüste verwandeln. Und was könnten sie damit schon gewinnen?« »Die Frage ist eher, was sie zu verlieren haben, Mr. Presi dent«, warf Van Lynden ein. »Es gilt seit 1947 als fester Grundsatz in der internationalen Politik, dass man eine Nu klearmacht niemals in eine ausweglose Situation bringen sollte. Das könnte in unserem Fall drohen.«
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»Wie kommen Sie darauf, Harry?« »In einem solchen Bürgerkrieg hat die Regierung nichts zu gewinnen, aber sehr viel zu verlieren. Die kommunistische Führung weiß, dass sie sich im Falle eines Sieges der Rebellen auf einiges gefasst machen muss. Günstigstenfalls droht den Kommunisten das Exil, wahrscheinlicher ist aber, dass sie vor Gericht gestellt werden. Sie könnten leicht zu dem Schluss kommen, dass ein halbes Land immer noch besser ist als gar keines.« »Verdammt.« Diesmal beschäftigte sich Childress nicht mit seiner Brille, als er sich eine Nachdenkpause nahm. »Wir müssen davon ausgehen«, sagte er schließlich, »dass die GA auch eine solche Möglichkeit berücksichtigt haben. Warum sollten sie also das Risiko eingehen, dass es zu einer nuklearen Katastrophe kommt?« »Vielleicht glauben sie, dass sie auf dem festeren Ast sit zen«, warf Hanson ein. »Möglicherweise setzen sie darauf, dass sie über die höhere Zerstörungskraft verfügen«, stimmte Van Lynden zu. Childress wandte sich der NSA-Direktorin zu. »Was halten Sie davon, Mrs. Ashley? Könnte es sein, dass die GA oder die Rebellen über Atomwaffen verfügen?« »Diese Frage ist völlig offen, Mr. President«, antwortete s ie. »Natürlich, die Volksrepublik China war schon lange vor dem Bürgerkrieg eine Atommacht. Was wir nicht wissen, ist, wie viel von ihrem Arsenal die Kommunisten noch unter ihrer Kontrolle beziehungsweise einsatzbereit haben. Wir wissen zum Beispiel, dass alle drei chinesischen Unterseeboote der Xia-Klasse vergangenes Jahr außer Dienst gestellt wurden, of fensichtlich weil die Mittel zur Instandhaltung fehlten. Außerdem brachten wir in Erfahrung, dass die Rebellen zu mindest zweimal versucht haben, einen Teil des Atomarsenals in ihre Hand zu bekommen. Es kam zu schweren Gefechten um die beiden Raketenabschussbasen in Tongdao und Luoning.« »Und das Ergebnis?« »Da sind wir nicht sicher. Wir wissen nur, dass die Armee in beiden Fällen die Anlagen in die Luft jagte, bevor sie sich
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zurückzog. Unsere Einschätzung ist, dass die Rebellen höch stens über kleinere taktische Atomwaffen verfügen – Artille riegranaten, Bomben und Sprengköpfe für FROG- und ScudRaketen. Keine strategischen Waffen, aber doch geeignet, ein ziemliches Chaos anzurichten.« »Und wie steht es mit den GA?« Die drei Berater des Präsidenten wechselten ernste Blicke. »Das ist eine gute Frage, Sir«, sagte Lane Ashley schließlich. »Eine, auf die wir selbst schon seit geraumer Zeit eine Ant wort suchen.« »Wir brauchen aber eine Antwort, und zwar rasch«, erwi derte der Präsident. »Die können wir Ihnen im Moment aber nicht liefern«, ent gegnete Van Lynden. »Schon seit den späten siebziger Jahren rätselt man, ob Taiwan nun eine Atommacht ist oder nicht.« »Das stimmt, Sir«, pflichtete Hanson ihm bei. »Sie haben schon seit längerem die Reaktoren und auch die Technologie dafür. Und dass sie ein Motiv hätten, wird ja wohl keiner bezweifeln. Es ist auch bekannt, dass sie ein gemeinsames Forschungs- und Entwicklungsprogramm mit Israel und Süd afrika betreiben – beides Staaten mit erwiesener Nuklearka pazität. Wir wissen zum Beispiel, dass Taiwan seine eigenen Varianten der israelischen Jericho-Rakete sowie des MasadaCruise-Missile besitzt. Nebenbei bemerkt, können beide mit Atomsprengköpfen versehen werden.« »Aber immerhin hat Taiwan den Atomwaffensperrvertrag unterschrieben und nicht nur uns, sondern auch den Verein ten Nationen gegenüber versichert, dass sie keine Atomwaf fen besitzen. Sie meinen also, dass sie lügen?« »Wie man’s nimmt«, antwortete Van Lynden. »Israel hat ja auch immer wieder betont, dass es keine Atomwaffen besitzt – und rein technisch gesehen stimmt das auch. Sie haben aber sehr wohl die nötigen Einzelteile, die man jederzeit zu funkti onstüchtigen Waffen zusammenfügen kann. So könnte es auch in diesem Fall sein.« »Du lieber Himmel«, flüsterte Childress. »Da hat also viel leicht auf allen drei Seiten irgendjemand den Finger am Knopf. Die Kubakrise damals war ja fast harmlos dagegen.«
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»So sind nun mal die Fakten, Sir. Wahrscheinlich entschei det sich in den nächsten Monaten, welchen Weg China, also ein Viertel der Menschheit, im 21. Jahrhundert gehen wird. Wir müssen nun entscheiden, was für eine Rolle wir dabei spielen wollen.« »Gut gesagt, Harry. Nun, hat jemand einen Vorschlag dazu?« Van Lynden nickte. »Ja, Sir. Wir können die Situation aus nützen.« Der Außenminister legte seine Aktentasche auf den Tisch und holte eine dünne Mappe hervor. »Ich habe hier einen Vorschlag ausgearbeitet«, sagte er und legte dem Präsidenten seinen Plan vor. »Meiner Ansicht nach sollten wir unverzüglich versuchen, eine Friedenskonferenz einzuberufen, an der alle drei Parteien teilnehmen. Sie müsste auf neutralem Boden stattfinden. Wir sollten auch alle Staaten aus der Region dazu einladen: Japan, die Philippinen, Korea – kurz gesagt, alle, die unter einem Atomkrieg zu leiden hätten. Wir versuchen, sie für den Friedensprozess zu gewinnen, da mit sie möglichst großen diplomatischen Druck auf die Kon fliktparteien ausüben können.« »Wenn ich mich recht erinnere«, erwiderte der Präsident, »hat sich sowohl die Regierung in Peking als auch die Führung der Rebellen vehement gegen jede Einmischung von außen ausgesprochen. Sie betrachten das als eine rein inner chinesische Angelegenheit. Wie kommen Sie darauf, dass die GA da vielleicht anderer Ansicht sind oder dass sich irgendet was an der Haltung Chinas geändert haben könnte?« »Immerhin ist die Gefahr eines Atomkrieges schon ziem lich groß. Trotz der Geschichte, die Sam uns vorhin erzählt hat, glaube ich, dass die Angst vor einem nuklearen Krieg auf allen Seiten vorhanden ist. Vielleicht ist diese Angst der Punkt, wo ein Hebel anzusetzen wäre. Wenn wir erst einmal einen Krisengipfel zustande bringen könnten …« Van Lynden sprach den Satz nicht zu Ende. Der Präsident ließ seinen Blick in die Runde schweifen. »Mrs. Ashley?« Sie legte ihren ausgearbeiteten Plan neben das Papier des Außenministers.
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»Wenn wir immer auf dem neuesten Stand der Ereignisse bleiben wollen, müssen wir unsere Mittel im Hinblick auf Aufklärung und Geheimdienst völlig neu organisieren. Ich würde gern mit TR-2, Darkstar und RC-10 in Korea, den Phi lippinen und Singapur arbeiten. Natürlich sollten wir auch Taiwan mit einschließen, aber das wäre vielleicht in der ge genwärtigen Situation nicht allzu klug. Dafür könnte ja die Siebte Flotte einige Schiffe in das süd- und ostchinesische Meer schicken.« »Sam, wie sieht’s mit einer militärischen Reaktion aus?« »Da würde ich gleichzeitig zu Zurückhaltung und Wach samkeit raten«, antwortete Hanson und legte dem Präsiden ten ebenfalls ein Papier vor. »Wir sollten alle Einheiten im Westpazifik in erhöhte Alarmbereitschaft versetzen. Außer dem sollten wir die Siebte Flotte mit allem verstärken, was wir entbehren können. Es empfiehlt sich auch, das 366. Figh ter Wing auf einen möglichen Einsatz im Fernen Osten vorzu bereiten und CENTCOM mitzuteilen, dass wir China ab so fort besonderes Augenmerk schenken müssen.« Childress nickte nachdenklich. »Da wäre noch etwas, Sir«, fuhr Hanson fort. »Ich wäre dafür, dass wir unsere nukleare Reaktionskapazität erweitern. Das heißt nicht, dass wir unsere DEFCON-Stufe ändern müs sen, aber wir sollten STRATCOM anweisen, die Dienstpläne für die Minuteman- und Trident-Truppen so zu ändern, dass sie jederzeit verfügbar sind. Außerdem sollte das Air Combat Command dafür sorgen, dass ab sofort Übungen für den Ein satz von Atomwaffen abgehalten werden.« »Sind Sie sicher, dass das notwendig ist, General?« »Ich hoffe nicht, Mr. President. Aber es wäre andererseits ziemlich unangenehm, wenn wir uns mit völlig untauglichen Mitteln auf diese Sache einlassen würden.« Childress nickte. »Das hat was für sich«, sagte er. »Ich danke Ihnen allen für Ihren Rat und dafür, dass Sie so rasch auf die Situation reagiert haben. Ich denke, wir haben jetzt zu mindest eine Grundlage für unser weiteres Vorgehen. Übri gens – da ist noch eine Sache, bei der Sie mir helfen können.« Er zeigte auf die drei Mappen, die vor ihm lagen. »Wenn
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wir diese Maßnahmen starten, wird es eine ganze Reihe von Kongressabgeordneten geben, die mich fragen, warum wir uns in die Streitigkeiten eines Landes am anderen Ende des Pazifiks einmischen. Irgendwelche Vorschläge, was ich ihnen antworten soll?« Einen Augenblick herrschte allgemeine Stille. Dann sagte Van Lynden: »Vielleicht könnten Sie ihnen klar machen, dass zumindest zwei Dutzend Atombomben in der Erdatmosphäre detonieren werden wenn wirklich Nuklearwaffen zum Ein satz kommen –, noch dazu ziemlich alte Modelle. Wenn das passiert, könnte jedes Lebewesen auf diesem Planeten betrof fen sein.«
Pearl Harbor, Hawaii 15. Juli 2006, 29:30 Uhr Ortszeit Auf dem riesigen Schiff war alles ruhig; die Korridore waren menschenleer, die Crew fast ausnahmslos dabei, das Nachtle ben von Honolulu zu genießen. Nach der Gefechtsübung war die Cunningham wieder zu ihrem Liegeplatz im Flottenstützpunkt von Pearl Harbor ge bracht worden. Die aufreibenden Wochen der verschiedenen Übungen waren vorbei – bereits morgen würde man mit den Vorbereitungen auf den Einsatz im Westpazifik beginnen. Doch für diesen Abend hatte Amanda Garrett der gesamten Besatzung einen wohlverdienten freien Abend gegönnt. In ihrer engen Schlafkajüte betrachtete sich Amanda in dem kleinen Spiegel am vorderen Schott, so gut dies eben möglich war. Die Näherin aus Hongkong, bei der sie Stammkundin war, hatte Recht gehabt. Der azurblaue ägyptische Baumwoll stoff brachte das Haselnussbraun ihrer Augen besonders gut zur Geltung. Das ärmellose Kleid passte, wie nur ein maßgeschneidertes Kleid passen konnte. Der hohe Kragen verstärkte noch ihre aufrechte, beherrschte Haltung. Amanda nickte anerkennend
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und ging in ihren Arbeitsraum hinüber. Sie überprüfte die Batterien in ihrem Handy und steckte es in ihre Handtasche. Dann nahm sie ihren kleinen Koffer und ging zur Tür. Die Offiziersmesse der Cunningham wies vier Details auf, die für das Schiff und seine Besatzung von besonderer Bedeutung waren. Das erste war am vorderen Schott angebracht, wo man es sogleich sah, wenn man den Raum durch den Hauptein gang betrat. Es handelte sich um ein etwa dreißig Zentimeter hohes E aus weißem emailliertem Metall, das für ›Excellence‹ stand – ein Gütesiegel, das sich der Zerstörer im vergangenen Jahr verdient hatte. Es bedeutete, dass die Duke im Verlauf der Eignungsprüfungen über 90 Prozent der möglichen Punkte erreicht hatte. Darunter prangte das Band, mit dem die Duke für ihren er folgreichen Einsatz in der Antarktis ausgezeichnet worden war. Es war dies eine außergewöhnliche Ehre. Nur die U.S.S, Cunningham hatte dieses blau-weiß-graue Band inne. Auf einem konventionellen Schiff hätte man solche Aus zeichnungen gut sichtbar draußen auf der Brückennock ange bracht. Auf einem Stealth-Schiff hingegen, wo Tarnung ober stes Gebot war, musste man auf alles verzichten, was dem feindlichen Radar einen Ansatzpunkt bot. Steuerbords der Tür prangte an dem mit Rotholz getäfelten Schott ein prächtiges Gemälde, das die Cunningham darstellte. Es stammte von Amandas Vater Wilson Garrett, Rear-Admiral i.R., der sich nunmehr als Maler von viel beachteten Bildern rund um die Seefahrt hervortat und der dieses Werk der Duke an dem Tag überreicht hatte, als sie in Dienst gestellt wurde. Schließlich befand sich an der Backbordseite in einer Glas vitrine so etwas wie das Herz des Schiffes – das Pilotenabzei chen eines weiteren Rear-Admirals, nämlich Randy ›Duke‹ Cunningham, jenes waghalsigen Piloten aus der VietnamÄra, nach dem das Schiff benannt war. An diesem Abend hielten sich auch einige der Offiziere der Cunningham in der Messe auf. Doc Golden und Dix Beltrain in ihren weißen Uniformen hatten offensichtlich vor, an Land zu gehen. Ken Hiro dagegen trug immer noch seine Khaki-Ar-
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beitskleidung. Er saß allein an dem großen Tisch, mit allerlei Schreibarbeiten eingedeckt. Als Amanda den Raum betrat, verstummten die Männer und erhoben sich – eine Geste der Höflichkeit, die älter war als alle militärische Tradition. »Guten Abend, Gentlemen«, sagte Amanda. »Sie schmie den wohl gerade Ihre Pläne für heute Abend, nehme ich an?« »Das stimmt, Capt’n«, antwortete Beltrain gut gelaunt. »Der Doc und ich werden heute Nacht die Stadt unsicher ma chen. Es ist das erste Mal, das er in Hawaii an Land geht.« »Sie waren noch nie in Honolulu an Land, Doc?«, fragte Amanda erstaunt. »Genau genommen schon – ich war einmal mit meiner Exfrau Marilyn im Urlaub hier. Dabei habe ich so gut wie jede teure Boutique und jede billige Touristenshow auf der Insel kennen gelernt.« »Keine sehr schöne Erinnerung?« »Sagen wir mal so«, antwortete Doc und tippte sich mit der Fingerspitze an die hohe Stirn, »ich habe einen Teil meiner Haare eingebüßt, als einem echten polynesischen Feuertänzer die Fackel entglitt.« Doc Golden ertrug das schallende Gelächter mit Würde. Amanda balancierte ihren Handkoffer auf der Tischkante, als sie sich ihrem Ersten Offizier zuwandte. »Und was ist mit Ihnen, Ken? Was machen Sie noch an Bord?« »Ich kümmere mich um den üblichen Kram, Capt’n«, ant wortete Hiro und blickte etwas zerstreut auf. »Übrigens, Sie sehen gut aus, Ma’am.« »Danke«, sagte sie lächelnd. »Aber das ändert auch nichts an der Tatsache, dass Sie Ihre Familie diese Woche noch kaum gesehen haben. Wir brechen in einem knappen Monat in den Westpazifik auf. Wenn Sie bis dahin nicht noch etwas Zeit mit Ihrer Frau und den Kindern verbringen, wird mich Misa ver giften, wenn Sie mich nächstes Mal zu sich nach Hause zum Essen einladen. Das Zeug hier kann wirklich warten. Gehen Sie heim!« Hiro lächelte ein wenig unschlüssig und sagte schließlich: »Okay, Capt’n. Nur noch eine halbe Stunde, dann bin ich weg.«
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»Abgemacht, eine halbe Stunde, nicht länger. In fünfund dreißig Minuten kommen die Sicherheitsleute rein und wer fen Sie, wenn es sein muss, über Bord.« »Ich bin gewarnt, Ma’am.« »Also in Ordnung, Ken. Wenn es etwas gibt, können Sie mich ja übers Handy erreichen. Auf Wiedersehen, Gentlemen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, aber dass mir nie mand im Krankenhaus oder im Knast landet – wir haben schließlich morgen eine Menge zu tun.« Amanda war sich nicht bewusst, dass alle Blicke ihr folg ten, als sie die Messe verließ. Schließlich sagte Doc Golden fast ehrerbietig: »Ich habe gar nicht gewusst, dass die Navy heutzutage Commander hervorbringt, die so aussehen.« »Ja«, stimmte Dix zu. »Obwohl wir diese Seite unseres Skippers nicht sehr oft zu sehen bekommen. Genießen Sie den Anblick, solange Sie Gelegenheit dazu haben, Doc.« »Wir sollten trotzdem nicht ganz vergessen, dass sie der Kommandant ist, Gentlemen«, warf der Erste Offizier der Duke vom Tisch her ein. Hiro nahm den Kugelschreiber zur Hand und zögerte ei nen Augenblick, ehe er hinzufügte: »Obwohl ich zugeben muss, dass es wahrscheinlich heute Abend da draußen auf der Insel einen Kerl gibt, der noch gar nicht weiß, was für ein Glückspilz er ist.« Am westlichen Himmel breitete sich bereits das prächtige feuerrot-goldene Farbenspiel des Sonnenuntergangs aus. Auf dem gesamten Flottenstützpunkt ging hier und dort die Ar beitsbeleuchtung an. Der Verkehr im Inneren des Stützpunktes strömte fast aus schließlich auf ein Ziel zu: den Checkpoint am Nimitz Gate. Die Arbeiter, die tagsüber hier beschäftigt waren, hatten Dienstschluss, und das militärische Personal machte sich auf den Weg, um einen Kurzurlaub zu genießen. In den frühen Morgenstunden würde sich der Strom wieder in die entge gengesetzte Richtung bewegen – einem natürlichen Ablauf folgend, der wie ein Ein- und Ausatmen war, das den Stütz punkt am Leben erhielt.
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Draußen am Pier blickte Amanda noch einmal zurück, um die eleganten Linien ihres Schiffes zu bewundern. Aufgrund der auslegerartigen Antriebsgondeln und der re lativ empfindlichen radarabsorbierenden (RAM) Beschich tung des Rumpfes musste der Zerstörer ›römisch-katholisch‹, zwischen zwei Landungsstegen mit dem Heck, das mit luftge füllten Tendern gepolstert war, zum Land und seewärts ge richtetem Bug anlegen. Die Hafenmeister hatten keine große Freude damit, wenn ein Schiff auf diese Weise festgemacht wurde, weil die Cun ningham dadurch doppelt so viel Platz beanspruchte wie ein herkömmliches Schiff von 8000 Tonnen Verdrängung. Schiffs kapitäne teilten diese Vorbehalte, weil dafür ein ziemlich kniffliges Manöver notwendig war. Doch daran wollte Amanda in diesem Augenblick nicht denken, als sie nicht ohne Stolz ihr Schiff betrachtete. Mit sei nem schnittigen, flossenartig angelegten Mastaufbau, dem langen, offenen Vordeck und den niedrigen stromlinienförmi gen Decksaufbauten wirkte die Cunningham eher wie eine besonders fantasievoll konstruierte Jacht und nicht wie ein klassisches Kriegsschiff. Die beiden kleinen Oto-Melara-Geschütztürme vorne und achtern waren kein wirklicher Beleg für die geballte Feuerkraft, die sich unter den eleganten For men verbarg. Das exotische Äußere war von dem Streben nach möglichst weitgehender Tarnung bestimmt. Die Cunningham war das Führungsschiff der ersten Klasse von Stealth-Überwasserschiffen, die die U.S. Navy ins Rennen schickte; es handelte sich dabei um Schiffe, die für eventuelles feindliches Radar nur schwer erfassbar waren. Die Tarneigenschaften der Duke machten sich auch im op tischen Bereich bemerkbar. Die einzigen echten Farben an Bord der Cunningham waren die Stars and Stripes der Flagge, die leicht im Wind hin und her wehte wie der Schwanz einer zufriedenen Katze. Statt dem traditionellen Grau der Marine war die Duke in jenem unauffällig dunkleren grauen Farbton gehalten, wie er auch für die jüngste Generation von Kampfflugzeugen auf
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U.S.-Flugzeugträgern verwendet wurde. Den Name des Schiffes am Heck sowie die Nummer am Clipperbug hatte man in schwer lesbarer Konturschrift gestaltet. Über der Grundfarbe war noch ein tigerartiges Muster auf getragen worden, das am Rumpf vertikal und an den Masten horizontal verlief und an den Tarnanstrich aus dem Ersten Weltkrieg erinnerte. Dies diente dazu, die elektro-optischen Systeme eines potenziellen Feindes zu verwirren und die Um risse der Duke noch schwerer erkennbar zu machen. Selbst hier am Pier schien die Duke irgendwie mit dem Hintergrund zu verschmelzen – als wäre sie eine geisterhafte Erscheinung, die jeden Augenblick in der Dunkelheit ver schwinden könnte. Die Kommandantin des Schiffes jedenfalls war drauf und dran, in der hawaiianischen Nacht unterzutauchen. Amanda lächelte, als sie die Tür des Mietwagens öffnete, dem sogleich die tagsüber gespeicherte Hitze entströmte. Ei nige Minuten später hatte sie sich in den Verkehrsstrom einge reiht, der sich auf das Haupttor des Flottenstützpunktes zube wegte. Sie fuhr auf dem Nimitz Highway nach Osten und näherte sich anschließend auf der Kalakaua Avenue dem pulsieren den Zentrum von Honolulu. Ihr Weg führte sie die Küste von Mamala Bay entlang, vorbei an Waikiki mit seinem für die Touristen gedachten Kitsch, und schließlich nach Sans Souci und den anderen stillen Stränden unterhalb von Diamond Head. Es war eine relativ lange Autofahrt von Pearl Harbor, doch das war es ihr wert, wenn sie dafür ein wenig Privatle ben genießen durfte. Amanda bog zu dem kleinen Restaurant am Meer ab, das auch einige Tische draußen im Schatten eines riesigen HauBaumes platziert hatte. Sie sah sofort das Pontiac-Sportcoupé, das bereits hier parkte. Der Fahrer stand lässig an die Wa gentür gelehnt und wartete auf sie. Einige Augenblicke später gab sie Vince Arkady ihren er sten Kuss an diesem Abend. Während des Einsatzes in der Antarktis waren sie zu Ka meraden und Vertrauten geworden. Dass sie auch zu einem
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Liebespaar werden sollten, hatte sich schon angebahnt, als sie sich zum ersten Mal sahen. Amanda hatte sich seither oft gesagt, dass es vielleicht die größte Dummheit war, die sie je begangen hatte, sich mit ei nem ihrer Offiziere einzulassen. Doch andererseits kam sie immer wieder zu dem Schluss, dass es noch viel dümmer ge wesen wäre, es nicht zu tun.
Honolulu, Hawaii 15. Juli 2006, 21:20 Uhr Ortszeit Das Hau-Tree-Lanai war ein herausragendes und gleichzeitig angenehm unaufdringlich wirkendes Restaurant. Man bekam dort ausgezeichnete Steaks und Meeresfrüchte, verbunden mit der erfrischenden Meeresluft und einem atemberauben den Ausblick auf Mamala Bay und die weiten Strände von Honolulu. Es war ein wunderbarer Ort, um an einem warmen Abend bei einem kühlen Drink einfach nur dazusitzen und die Lich ter der Stadt zu betrachten. Vor allem, wenn man dabei in an genehmer Gesellschaft war. Amanda nahm einen Schluck von ihrem Sherry-Soda, den sie nach dem Essen bestellt hatte, und drückte Arkadys Hand unter dem Tisch ganz leicht an ihren Schenkel. »Gratuliere«, sagte er. »Hmm? Wofür denn?« »Man munkelt, dass wir unsere Tests bestanden haben. Wir werden unser ›E‹ behalten.« »Das ist noch lange nicht offiziell …, aber ich glaube auch, dass wir unsere Sache recht gut gemacht haben«, gestattete sich Amanda, ihm beizupflichten. »Als ob es da noch irgendwelche Zweifel gäbe«, erwiderte Arkady lächelnd. Er sah wirklich gut aus mit seinem dunklen Haar, das eine Spur länger war, als in der Navy üblich. An die sem Abend wirkte der Hubschrauberpilot fast ein wenig wie
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ein Pirat und nicht wie ein Marineoffizier, was durch das be queme Safarihemd und die Jeans noch unterstrichen wurde. »Ich mag es nicht, wenn man sich seiner Sache allzu sicher ist, Arkady«, entgegnete sie. »Da fällt mir etwas ein, was ich ohnehin mit dir besprechen wollte.« »Okay, schieß los, Liebling.« Amanda stellte ihr Glas nieder und seufzte. »Es ist nur eine Kleinigkeit, aber mir ist aufgefallen, dass du auf dem Schiff manchmal ein wenig zu unvorsichtig bist.« »Unvorsichtig?«, fragte er stirnrunzelnd. »Hat es irgendein Problem mit dem Hubschrauberteam gegeben?« »Nein, nein«, antwortete Amanda und schüttelte heftig den Kopf. »Ihr habt eure Sache genauso gut gemacht wie alle an deren. Was ich meine, ist, dass du hie und da ein wenig zu vertraulich mit mir gesprochen hast. Einmal hast du mir auf die Schulter geklopft. Es war, wie gesagt, nur eine Kleinigkeit – und ich persönlich habe damit auch kein Problem, aber hin ter mir stand die ganze Zeit dieser Inspektionsoffizier. Es wäre nicht so gut gewesen, wenn er es gesehen hätte.« »Himmel, das weiß ich doch, Liebling. Aber ich bin mir ab solut sicher, dass uns niemand gesehen hat.« »Hoffentlich hast du Recht. Wir können es uns jedenfalls nicht erlauben, unvorsichtig zu sein. Vor allem nicht an Bord. Du weißt ja, was die Navy von solchen Beziehungen auf ei nem Schiff hält. Ich könnte dich da in große Schwierigkeiten bringen…« Arkady unterbrach sie, indem er laut auflachte. Er beugte sich über den Tisch und bemühte sich, seinen Heiterkeitsaus bruch im Zaum zu halten. »Es freut mich, dass du das drohende Ende deiner Lauf bahn so amüsant findest«, wandte Amanda ein. »Nein, es ist etwas anderes. Es ist einfach so typisch, wie du manchmal reagierst.« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Was meinst du damit?« Der Pilot zog ihre Hand auf den Tisch und drückte sie sanft. »Es ist doch so: es gehören immer zwei zu einer Liebesbezie hung, und wenn ich mich recht erinnere, war ich es doch, der auf dich zuging, als wir uns in Rio kennen lernten. Außerdem
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pflegt die Navy den Ranghöheren einer solchen Beziehung immer härter zu bestrafen. Also gehst du von uns beiden das höhere Risiko ein. Und trotzdem nimmst du die ganze Schuld auf dich. Um Himmels willen, kannst du dich nicht einmal zurücklehnen und diese verbotene Beziehung genießen, ohne gleich das Gewicht der ganzen Welt auf deine Schultern zu la den?« Amanda schüttelte ganz leicht den Kopf. »Nein.« Es tat im mer wieder gut, mit ihrem jüngeren Geliebten zu reden und zu lachen. In ihren nachdenklicheren Momenten versuchte Amanda manchmal zu ergründen, welche Rolle Vince Arkady tatsächlich in ihrem Leben spielte. Möglicherweise erinnerte er sie daran, dass es auch eine Welt jenseits der Marine und ih rer Regeln gab. Natürlich waren da auch noch einige andere Dinge. Amanda zog seine Hand zu sich und drückte sie kurz an ihr Gesicht. Es war eine gute Hand – stark, wenn es nötig war, aber gleichzeitig sanft, und von der Arbeit ein wenig rau. »Liebling, es gibt da etwas, was ich dich schon länger fra gen wollte.« »Was?« »Wie bist du zu dem Entschluss gekommen, dass du Offi zierin in der Navy werden willst?« Eine durchaus interessante Frage. Amanda griff nach ihrem Drink und nahm nachdenklich einen Schluck. »Das kann ich dir wirklich nicht genau sagen«, antwortete sie. »Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass ich ganz be wusst eine Entscheidung getroffen hätte. Ich habe die See im mer schon mehr geliebt als alles andere. Und bei uns daheim war man ständig mit der Navy konfrontiert.« »Dein Vater, der Rear-Admiral?« »Ja«, antwortete Amanda. »Dreißig Jahre im Dienst, ein schließlich Desert Shield und Golfkrieg. Und dann war da noch mein Großpapa Marshall. Er hat auf so gut wie allem ge dient, was auf dem Wasser schwimmt – vom Kanonenboot bis zur U.S.S. Missouri. Ich wünschte, du hättest ihn kennen ler nen können, Arkady. Mein Großpapa hat noch Neutrality-Patrol-Duty im Atlantik geleistet, damals vor dem Zweiten Welt
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krieg, er war auf den Salomon-Inseln, auf den Philippinen und in Korea. Er hat alles gesehen und erlebt, und er stand für mich kaum eine Stufe unter dem lieben Gott, als ich ein Kind war. Ich konnte ihm und Dad stundenlang zuhören, wenn sie ihr Seemannsgarn spannen. Irgendwann wurde mir wohl klar, dass ich vorhatte, ge nauso wie sie zu werden. Und dass ich eines Tages mein eige nes Schiff haben wollte.« Sie blickte auf den Strand hinaus, der sich unter der Terrasse erstreckte, und sah zu, wie die Wellen über den Sand liefen. »Ich schätze«, fuhr sie nach einer Weile fort, »es muss für meinen Vater ein ziemlicher Schock gewesen sein, als er fest stellen musste, dass sein kleines Mädchen so wie er den Plan gefasst hatte, zur See zu fahren.« Arkadys Mundwinkel zuckten amüsiert. »Ich weiß nicht, aber er schien mir recht stolz zu sein, als er seinem ›kleinen Mädchen‹ in Norfolk das Navy Cross überreichen durfte.« »Ja«, sagte sie lächelnd. »Das war er wohl.« Im nächsten Augenblick ertönte ein schriller, elektronisch erzeugter Ton. Zerstreut griff Amanda nach ihrer Umhängeta sche und holte das Handy hervor. Als sie sich meldete, klang ihre Stimme bereits wieder sachlich und professionell. »Garrett.« »Hallo, Boss. Hier spricht Chris. Tut mir Leid, dass ich stören muss, aber ich glaube, da braut sich irgendwas zusam men.« »Worum geht’s, Chris?«, fragte Amanda und überlegte, worum es sich bei der eigenartigen Geräuschkulisse handelte, die außer der Stimme ihrer Nachrichtendienst-Offizierin im Hintergrund zu hören war. »Haben Sie die Verschlüsselung eingeschaltet?« Amanda blickte auf ihr Handy hinunter und antwortete: »Ja, alles klar, schießen Sie los.« »Also schön, es ist Folgendes: Es handelt sich um irgend eine wichtige Sache im Operationsgebiet der Siebten Flotte. Wie es aussieht, kann auch die Duke damit rechnen, dass sie sich schon bald zum Auslaufen bereithalten muss.« Wieder ertönte das seltsame Rauschen im Hintergrund.
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»Chris, wo sind Sie gerade? An Bord der Duke?« »Äh, nein … Genau genommen bin ich gerade im Da menklo von Haole Joe’s Sports Bar.« Amanda wusste, dass Christine Rendino zwar ein absolut unkonventioneller Mensch war, dass sie sich aber andererseits niemals irgendwelche Scherze mit vorgesetzten Offizieren er lauben würde. Auch neigte sie nicht dazu, sich so zu betrinken, dass sie nicht mehr wusste, was sie sagte. Es musste wohl eine Erklärung für ihren Anruf geben, also wartete Amanda ab. »Es sind ein ganzer Haufen Baseballfans da, die sich die Übertragung von dem Spiel heute Abend ansehen. Die Mari ners kriechen im siebten Inning auf dem Zahnfleisch dahin, falls es Sie interessiert…« »Tut es nicht. Worum geht’s, Chris?« »Nun, vor etwa einer Dreiviertelstunde gingen auf einmal überall hier die Piepser und Handys los. Wenig später stürmte ein Haufen Leute aus dem Schuppen raus, darunter vier Män ner von der Operationszentrale der Siebten Flotte, einige Leute von NAVSPECFORCE, sogar zwei Mitarbeiter in Zivil vom ONI. Sagen wir mal so: Das Ganze hat meine Neugier geweckt. Ich zog mich auf die Damentoilette zurück und habe von hier aus ein paar Nachforschungen angestellt. Mittlerweile kann ich bestätigen, dass es sich nicht um ein lokales Ereignis han delt. Auf der ganzen Insel wird Kommando- und Operations personal zusammengetrommelt.« Während sie Christines Bericht lauschte, bedeutete Amanda Arkady mit einer Handbewegung, herüberzukom men und mitzuhören. Rasch kam er zu ihr, hockte sich neben ihrem Korbsessel nieder und beugte sich nahe zu ihr, um das Gespräch verfolgen zu können. »Dann rief ich einen Freund von mir an, der heute an Bord der Yellowstone Wache schiebt«, fuhr Christine fort. »Sie kön nen von ihrem Liegeplatz aus sowohl die Operationszentrale der Siebten Flotte als auch das Hauptquartier vo n NAVSPEC FORCE sehen. Dort ist alles beleuchtet wie ein Tanzschuppen am Samstagabend und es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Da braut sich ganz bestimmt etwas zusammen.«
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Amanda nickte langsam. »Besteht die Möglichkeit, dass es sich nur um eine Übung handelt?« »Nein«, antwortete Christine entschieden. »Das glaube ich nicht, Ma’am. Mein Gefühl sagt mir, dass es etwas Ernstes ist.« Amanda nickte erneut. Ihrer Erfahrung nach konnte man sich auf Christines Instinkt zumeist verlassen. Die schrullige kleine Nachrichtendienst-Offizierin war dabei, sich zu einem Star auf ihrem Gebiet zu entwickeln. Sie gab sich wie das Mädchen vom Land, doch ihr Verstand war messerscharf. Ein Blick in die persönlichen Akten der Crew-Mitglieder der Duke hätte gezeigt, dass Christine Rendino den höchsten IQ von allen an Bord der Cunningham besaß – einschließlich des Captains, wie Amanda sich eingestehen musste, »Haben Sie schon eine Vermutung, worum es gehen könnte?« »Ich brauche nichts vermuten, ich weiß es. Während des siebten Innings habe ich den Leuten hier gesagt, sie sollen mal kurz auf CNN umschalten. Gerade haben sie gemeldet, dass sich die Taiwaner in den chinesischen Bürgerkrieg eingeschal tet haben. Sie sind in China einmarschiert.« »Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen!« »Ganz und gar nicht. Heute früh sind sie an der Küste ge landet. Da ist es klar, dass einige Leute ganz schön nervös werden.« »Und Sie glauben, dass wir uns irgendwie an der Sache be teiligen müssen?« »Unsere neuen Herren und Gebieter von NAVSPECFORCE sind schon eingeschaltet. Wir sind das einzige Stealth-Schiff, das sich im Moment im Pazifik aufhält. Außerdem haben wir soeben unsere Prüfungen bestanden. Da braucht man doch nur zwei und zwei zusammenzuzählen, Ma’am.« »Verstehe, Chris.« »Ich dachte mir, dass Sie das Ganze interessieren dürfte. Soll ich weiter an der Sache dranbleiben?« Amanda starrte vor sich hin und dachte angestrengt nach. Wie immer, war Christines Logik unanfechtbar. Wenn es tatsächlich zu massiven Unruhen im Pazifik kam, würde man gewiss die Cunningham losschicken. Auf jeden Fall blieben ihr
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aber ein paar Stunden, vielleicht ein Tag, bis der Auslaufbe fehl kommen würde. Wie sollte sie die Zeit am besten nutzen? »Negativ, Chris. Sehen Sie sich das Baseballspiel an. Die werden sich schon bei mir melden, wenn es so weit ist.« »Okay, Capt’n.« Und mit unverhohlener Neugier fügte Christine hinzu: »Ich hoffe, ich habe Sie nicht bei etwas allzu Wichtigem gestört?« »Nein«, erwiderte Amanda und wurde im nächsten Augen blick der Wärme gewahr, die von Arkady neben ihr ausging. »Noch nicht.« Sie beendete das Gespräch. Neben ihr schaukelte Arkady auf den Fersen vor und zurück. »Nun, wie gehen wir vor, Capt’n?« »Ach, wir warten mal ab«, antwortete sie nachdenklich. »Mal sehen, was da auf uns zukommt.« Sie registrierte seinen etwas überraschten Blick und fügte hinzu: »Selbst wenn wir die Crew sofort zusammentrommeln, brächten wir bis morgen früh nicht mehr allzu viel zustande. Falls die Duke tatsächlich noch in den nächsten Tagen auslau fen muss, dann ist es ohnehin das Beste, wenn wir den Leuten noch diese paar Stunden Urlaub gönnen. Es könnte der letzte für eine ganze Weile sein.« »Klingt vernünftig«, stimmte Arkady zu. »Also gut«, meinte Amanda und steckte das Telefon in die Tasche. »Verdammt! Wir hatten schon den Plan für den näch sten Einsatz fertig, aber das wird jetzt alles über den Haufen geworfen. Tut mir Leid, Arkady, aber ich gehe jetzt wohl bes ser auf das Schiff zurück und sehe, was ich tun kann.« »Okay, Liebling. Aber könntest du mir vorher noch einen kleinen Gefallen tun?« »Natürlich. Was?« Sie blickte ihn fragend an. Er hockte im mer noch, neben ihrem Stuhl und blickte sie an, ein gewisses Funkeln in seinen unglaublich blauen Augen. »Würdest du das Ganze wiederholen, was du gerade eben hinsichtlich der paar Stunden Urlaub für die Crew erklärt hast? Nur dass du diesmal zum Spaß statt ›Crew‹ ›Amanda Garrett‹ sagst. Ich würde nur gerne hören, wie es klingt.« Sie war einen Moment lang so zerstreut und verwirrt, dass
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sie es fast schon getan hätte, als ihr plötzlich bewusst wurde, worauf er hinauswollte. Im nächsten Augenblick lachte sie auf und ließ sich in ihren Stuhl zurücksinken. Sie streichelte zärtlich über seine Wange und sagte: »Vincent Arkady, du bist schon ein richtiges Laster. Mein ganz persönliches Las ter.« »Wie du schon gesagt hast, Liebling. Es könnte das letzte Mal für eine ganze Weile sein.« »Ja«, sagte sie, »das könnte schon sein.«
Honolulu, Hawaii 16. Juli 2006, 7:45 Uhr Ortszeit Wieder drang das Klingeln von Amandas Telefon in Vince Ar kadys Bewusstsein, wenn es ihn auch diesmal im Schlaf er reichte. Etwas bewegte sich neben ihm im Bett, und im näch sten Augenblick war das Warme verschwunden, das sich so angenehm an seinen Rücken geschmiegt hatte. Als er sich umgedreht und die Augen geöffnet hatte, war Amanda bereits auf den Beinen und nahm den Anruf entge gen. »Garrett.« Vergangene Nacht hatte sie die Vorhänge aufgezogen und die Balkontür geöffnet, um die Seeluft ins Hotelzimmer he reinzulassen. Jetzt war sie so in das Telefongespräch vertieft, dass sie sich ihrer Nacktheit gar nicht bewusst wurde, so wie sie da stand – vor dem leuchtend blauen Hintergrund von Meeresbucht und Himmel. Für Arkady war sie in diesem Au genblick ganz besonders schön und begehrenswert. Sie hatte das Gewicht auf eines ihrer langen Tänzerinnen beine verlagert, während das andere entspannt und ganz leicht gebeugt war. Ihr zerzaustes rötlich braunes Haar um spielte ihre sonnengebräunten Schultern; nur die Narbe ober halb des linken Schlüsselbeins bildete eine etwas blassere Stelle. Wo sie sich wohl verletzt haben mochte, dachte er. Es
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war eines der vielen Dinge, die er sie noch nicht hatte fragen können. Er brauchte einige Augenblicke, ehe er in der Lage war, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. »Okay, Ken. Haben sie uns schon einen fixen Termin zum Auslaufen gegeben …? Und das Ziel der Reise?« Er sah, wie sie langsam nickte. »Okay … sonst noch etwas …? Zehn Uhr? Verdammt, wie spät ist es jetzt?« Sie blickte sich im Zimmer um, auf der Suche nach einer Uhr. Ihre alte Lady-Admiral-Armbanduhr war zusammen mit den Ohrringen und der Strumpfhose auf Arkadys Seite neben dem Bett gelandet. Er hob die Uhr rasch auf und brachte sie ihr, wofür sie ihm ein dankbares Lächeln schenkte. Während sie die Uhrzeit ablas, ließ er seine Hand als zärtli chen Gutenmorgengruß über ihren Rücken wandern, worauf sie seine Lippen kurz mit den ihren streifte. »Okay, Ken«, sagte sie schließlich. »Es ist jetzt acht Uhr fünfzehn. Wir machen es folgendermaßen: Heute Nachmittag um ein Uhr tritt unsere Einsatzplanungsgruppe zusammen. Bis dahin sollte ich vom Admiral wieder zurück sein. Dann kann ich Ihnen auch schon Genaueres sagen. Inzwischen tref fen Sie die nötigen Vorkehrungen. Rufen sie unsere Leute aufs Schiff zurück und sagen Sie ihnen, dass wir … irgendwann in der näheren Zukunft auslaufen werden. Dann sorgen Sie dafür, dass wir nachbunkern und unsere Ausrüstung und Er satzteile ergänzen, so weit dies notwendig ist. Stellen Sie außerdem fest, welche Wartungsarbeiten unbedingt noch vor dem Auslaufen erledigt werden müssen. Ich nehme an, dass alle Offiziere bereits benachrichtigt sind …? Lieutenant Ar kady? Haben Sie ihn nicht erreicht?« Amanda blickte kurz über ihre Schulter zurück. »Lassen Sie nur«, sagte sie und lehnte sich gegen ihn. »Ich glaube, ich weiß, wo er sich aufhält. Ist Chris schon an Bord …? Okay, so bald sie da ist, soll sie einen ihrer berühmten Lageberichte über den Konflikt in China erstellen. Ich möchte wissen, was uns da draußen erwartet … Also gut. Ich bin zurück, sobald ich bei MacIntyre fertig bin.«
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Amanda klappte das Telefon zu und starrte vor sich hin. »Arkady«, sagte sie, »Chris hatte Recht. Es geht um China. Wie lange braucht deine Abteilung, um bereit zu sein?« »Das geht im Handumdrehen, Capt’n. Wir haben unsere Wartungsarbeiten abgeschlossen, und heute Nachmittag lau fen die letzten RAM-Tests in Schofield. Wir sind so gut wie fertig.« Die Verwandlung war in vollem Gange. Obwohl sie beide nackt waren und der Duft ihrer gemeinsamen Nacht noch an ihnen haftete, schlüpften sie bereits wieder in ihre alte, profes sionelle Identität zurück. An Bord der Cunningham würde es nur noch die Kommandantin und den Lieutenant geben. Es war dies eine unabdingbare Voraussetzung für die berufliche Laufbahn, die sie beide eingeschlagen hatten, auch wenn sie es als Mann und Frau bedauern mochten. »Zeit zum Aufbrechen«, sagte Amanda schließlich. »Ich muss in knapp zwei Stunden im Stützpunkt sein.« »Kannst du wenigstens noch irgendwo frühstücken, bevor du aufs Schiff zurückkehrst?« »Ich glaube schon.« Sie ließen sich Arm in Arm am Fußende des Bettes nieder sinken. Noch weigerten sie sich für eine oder zwei Minuten in die reale Welt zurückzukehren. »Danke, Arkady«, murmelte sie. Er küsste ihr Haar und ihre Stirn. »Ich danke dir. Bis zum nächsten Mal, Liebling.« »Bis zum nächsten Mal.« Das Hauptquartier von NAVSPECFORCE roch nach frischer Farbe. Das Naval Special Portes Command war das jüngste Kind im Flottenstützpunkt von Pearl Harbor, und dement sprechend war es in einen der ältesten Gebäudekomplexe ein gezogen, eine Reihe von einstöckigen Bauten, die zur Zeit des Baubooms der Vietnam-Ära errichtet worden waren. Eine Menge Umbau- und Renovierungsarbeiten hatten sich als notwendig erwiesen – man sah immer noch den einen oder anderen Arbeiter, der da und dort Hand anlegte. NAVSPECFORCE war in gewisser Weise der Nachfolger
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des alten Special Warfare Commander der Navy und sollte all jene Einrichtungen der Flotte unter einem Dach vereinen, die nicht der konventionellen Gefechtsführung oder Nachrich tenbeschaffung dienten, also die SEALS-Kommandoeinheiten, Flugzeugträger im Spezialeinsatz, Raven-Unterseeboote sowie die speziellen Flugzeug-, Unterseeboot- und Küstenwachboot-Geschwader. Dank des unermüdlichen Einsatzes von Vice-Admiral El liot MacIntyre, dem neu ernannten CINCNAVSPECFORCE, hatte das neue Kommando auch alle Stealth-Schiffe der Navy in seine Obhut genommen, darunter die U.S.S. Cunningham. Diese Maßnahme war durchaus umstritten; während von außen der Einwand kam, dass andere Flottenteile dadurch Schiffe verloren, befürchteten innerhalb von NAVSPEC FORCE einige Kommandanten, dass sie Handlungsspielraum einbüßen würden. Amanda konnte der neuen Strategie positive und negative Seiten abgewinnen. Die konservativ geschulte Annapolis-Absolventin in ihr war eher gegen allzu viel Spezialisierung – doch auf der anderen Seite sah sie durchaus auch eine interes sante Herausforderung in den Sondereinsätzen, wie man sie jetzt zunehmend einplante. »Morgen, Capt’n«, sagte Christine Rendino in fröhlichem Ton, als sie sich ihr auf dem Korridor anschloss. »Guten Morgen, Chris. Was machen denn Sie hier?« Christine trug ebenso wie Amanda ihre weiße Sommeruni form, die jedoch an ihr ein klein wenig anders wirkte als an ih rer Kommandantin; Christines Haltung haftete etwas an, das ihre Uniform wie ganz normale Kleidung aussehen ließ. Die Intel-Offizierin der Duke hatte überhaupt etwas an sich, was konventionelleren Navy-Angehörigen ein gewisses Unbeha gen verursachte. Man hatte irgendwie den Eindruck, dass sie sich nur mit einem amüsierten Augenzwinkern an die heili gen Traditionen hielt, ohne sie jedoch tierisch ernst zu neh men. »Sie haben mich gerufen, um mir ein paar Dinge über das brandneue Spielzeug mitzuteilen, das sie uns mitgeben wol len«, antwortete Christine.
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»Und das wäre?« »Ein taktisches Sensornetz für Küstenoperationen.« »Die Hydrophon-Bojen?«, fragte Amanda, die bereits eini ges über dieses System gelesen hatte. »Genau. Eine richtige SOSUS-Sperre. Es wäre der erste tak tische Einsatz für dieses System. Aber sie werden uns noch mit einigen anderen hübschen Dingen ausstatten.« »Gibt es irgendetwas Besonderes, das ich wissen sollte?« »Hmm, auf jeden Fall können wir davon ausgehen, dass wir ganz nah an der Küste operieren werden. Das Ganze scheint wirklich interessant zu werden.« Um Punkt zehn Uhr führte MacIntyres Adjutant Amanda in das Dienstzimmer des Admirals. Sie hatte erst vor wenigen Monaten unter dem Kommando von Vice-Admiral Elliot Edward ›Eddie Mao MacIntyre ge dient. Er hatte damals noch das Oberkommando über die At lantikflotte innegehabt, als sie die Cunningham in den Antarktis-Einsatz geführt hatte. Seit damals war sie mit MacIntyre einige Male bei offiziellen Anlässen zusammengetroffen. Dies jedoch war ihr erstes Treffen mit ihm auf seinem eige nen Terrain, Während Amanda auf seinen Schreibtisch zu ging, schaute sie sich rasch und unauffällig im Zimmer um; indem sie seine Umgebung studierte, wollte sie gern mehr über den Menschen erfahren. An einer Wand hing ein kühnes abstraktes Bild, das die See darstellte, umgeben von einer Reihe von Drucken, auf denen verschiedene amerikanische Kriegsschiffe zu sehen waren. Ob es sich dabei um diejenigen handelte, auf denen er gedient harte? Durchaus möglich. In der Ecke stand ein Hifi-Schrank, vom Fell eines exotisch wirkenden Tieres bedeckt, möglicherweise eines Känguruhs. Der Schrank enthielt eine bunt gemischte Sammlung von CDs, Kassetten und sogar einige abgegriffene LP-Hüllen. An einer Wand stand ein gut gefülltes Bücherregal mit dem hölzernen Modell einer arabischen Dhau auf dem obersten Brett. Amanda erkannte, dass es sich um eine echte Handar beit aus der Gegend um das Rote Meer handelte.
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In einer Ecke des Schreibtisches waren mehrere Fotos auf gestellt: Zwei Jungen im College-Alter, und daneben ein et was jüngeres Mädchen; eine ältere Aufnahme zeigte eine schöne Frau mit schwarzem Haar. Elliot MacIntyre selbst war ein Mann von überdurch schnittlicher Größe und stattlichem, breitschultrigem Körper bau, Sein braunes Haar ergraute allmählich und in seinem Ge sicht zeigten sich Furchen, die sich in den langen Jahren auf See eingegraben hatten. Doch in der Art, wie er sich bewegte, erkannte Amanda die Vitalität eines viel jüngeren Mannes, und auch seine dunklen Augen strahlten eine jugendliche In tensität aus. »Commander Garrett meldet sich zur Stelle, Sir«, sagte sie militärisch grüßend. »Guten Morgen, Capt’n«, antwortete MacIntyre und erwi derte ihren Gruß. »Setzen Sie sich doch. Kaffee?« Seine Stimme klang angenehm ruhig und tief und hatte ganz und gar nichts Herablassendes an sich. »Ja, Sir. Danke«, antwortete sie und nahm auf einem der Stühle am Schreibtisch Platz. MacIntyre nickte seinem Adjutanten zu und setzte sich ebenfalls, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder der Komman dantin der Duke zuwandte. »Zuerst einmal, Capt’n, möchte ich Ihnen mitteilen, dass ich heute Morgen Ihre Testergebnisse bekommen habe.« Amandas Haltung straffte sich ein klein wenig. »Der Leiter unseres Beobachtungsteams hat mir mitgeteilt, dass er mit un serer Leistung zufrieden war. Ich hoffe, Sie sind es auch, Sir.« MacIntyre nickte. »Das ist noch ziemlich untertrieben, Capt’n. Die Cunningham behält ihr ›E‹. Sie haben in allen Ab teilungen über 90 Prozent erreicht, in den meisten sogar über 98. Wirklich ausgezeichnete Arbeit. Aber etwas anderes habe ich von der Duke ohnehin nicht erwartet.« Amanda spürte, dass ihr die Röte in die Wangen stieg. »Danke, Sir.« »Warten Sie mit ihrem Dankeschön, bis unser Gespräch vorbei ist. Wie lange würde die Duke brauchen, um einsatzbe reit zu sein?«
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Oje, jetzt kommt’s, dachte Amanda. Es würde nicht leicht sein, das Schiff nach den vielen Übungen so rasch wieder seeklar melden zu können. Zuerst einmal musste nachge bunkert werden. Dann gab es bestimmt noch einige drin gende Wartungsarbeiten zu erledigen. Denjenigen in ihrer Mannschaft, die Angehörige in Hawaii hatten, musste man noch Gelegenheit geben, ein paar Stunden mit ihrer Familie zu verbringen … Dennoch gab es nur eine Antwort, die sie für die Duke ge ben konnte. »Wenn wir etwas Hilfe beim Ergänzen der Vorräte bekom men, könnten wir heute Nachmittag um sechzehn Uhr aus laufen, Sir.« MacIntyre nickte und lächelte. Amanda vermutete, dass er ihre Antwort positiv aufnahm. »Sehr gut, Capt’n, aber ganz so dringend ist es zum Glück nicht. Ich kann Ihnen etwas weniger als 48 Stunden geben. Sie werden übermorgen um sechs Uhr früh auslaufen.« Amanda atmete erleichtert auf. »Kein Problem, Sir.« »Freut mich zu hören. Also, die Sache ist die: Sie werden in das ostchinesische Meer aufbrechen und dort unabhängig operieren, um nachrichtendienstliches Material zu sammeln. Sie sollen beobachten, wie sich der chinesische Bürgerkrieg entwickelt – und zwar sowohl mit Hilfe Ihrer eigenen Sys teme als auch mit den taktischen Sensoren, die wir Ihnen mit geben. Die Defense Intelligence Agency wird Ihnen später über uns spezielle Anweisungen zukommen lassen.« Der Admiral hielt inne, als der Adjutant mit einem Tablett mit zwei Tassen dampfend heißem Kaffee zurückkam, das er vorsichtig auf den Schreibtisch stellte. »Danke, Simons«, sagte MacIntyre. »Milch und Zucker, Capt’n?« »Ja, Sir. Beides.« MacIntyre führte ihren Wunsch persönlich aus. Er hatte durchaus etwas von einem Kavalier der alten Schule an sich, was Amanda auch zuvor schon aufgefallen war – an der Art, wie er sich bei ihrem Eintritt erhoben hatte. Sie nahm seine Aufmerksamkeit ohne Verlegenheit entgegen.
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MacIntyre nahm wieder auf seinem Sessel Platz und fuhr mit seinen Instruktionen fort: »Die grundsätzliche Aufgabe ist leicht zu umschreiben«, sagte er und nahm einen Schluck Kaf fee. »Das Heikle daran ist die Arbeit in unmittelbarer Nähe der chinesischen Küste. Wie nahe Sie dabei der Küste kom men, bleibt Ihrer Einschätzung überlassen und hängt natür lich von der taktischen Situation ab. Aber die klugen und hoch bezahlten Leute, die die ganze technische Ausrüstung konstruieren, lassen durchblicken, dass es nicht schlecht wäre, möglichst nahe ranzugehen. Ihr Nachrichtendienst-Offizier wird Ihnen Genaueres dazu mitteilen können.« MacIntyre stellte die Kaffeetasse nieder, »Es könnte auch notwendig werden, dass Sie mit Ihren Helikoptern Auf klärungsflüge über dem Festland durchführen. Auch dazu wird Ihnen Ihr Intel-Offizier Näheres sagen können.« Amanda vergaß ihren langsam auskühlenden Kaffee und dachte über das Einsatzprofil nach, das er ihr soeben gegeben hatte. »An wen habe ich mich zu wenden, wenn ich vor Ort bin?«, fragte sie schließlich. »Sie werden im Einsatzgebiet von Task Force 7.1 operieren. Von ihr erhalten sie Nachschub, und wenn es zu Auseinander setzungen kommen sollte, unterstehen Sie ihrem taktischen Kommando. Ansonsten operieren Sie jedoch völlig nach eige nem Ermessen.« Ein unabhängiges Kommando. Die Chance, sich vom Gän gelband des Flugzeugträgers loszureißen und niemand ande rem als dem lieben Gott verantwortlich zu sein? »Die Sache ist nur so«, fügte MacIntyre in ruhigem Ton hinzu, »Sie müssen da draußen eine gute Kooperation mit Ad miral Tallman aufbauen. Ich kenne Jake. Er ist in Ordnung. Aber wir Leute von der Flottenführung nehmen es manchmal ein wenig krumm, wenn jemand daherkommt und sich in dem Territorium herumtreibt, das wir als das unsere ansehen. Tech nisch betrachtet stehen Sie nicht unter seinem Kommando, aber Sie müssen nun mal mit ihm zusammenarbeiten.« »Verstehe, Sir«, sagte Amanda mit einem Kopfnicken. »Ich werde mein Bestes tun.«
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»Davon bin ich überzeugt, Commander. Deshalb betraue ich ja auch eine vergleichsweise junge Offizierin mit so einer Aufgabe – weil ich weiß, dass sie die Sache richtig anpacken wird.« Er brauchte nicht erst hinzuzufügen, dass er seinen persön lichen Ruf und die Autorität seines neuen Kommandos einge setzt hatte, um sie mit der Mission zu betrauen. Amanda wusste, dass MacIntyre sich gegen gar nicht so we nige Leute hatte durchsetzen müssen, während er NAV SPECFORCE genau so aufbaute, wie er es sich vorstellte. Diese Leute wären gewiss nicht unglücklich, wenn MacIntyres Werk schon beim ersten Einsatz Schiffbruch erleiden würde. »Die Cunningham wird Sie nicht im Stich lassen, Sir.« »Das kann ich mir auch gar nicht vorstellen, Capt’n.« »Hat dieser Einsatz schon einen Namen, unter dem er läuft?« MacIntyre nickte. »Ja, ich habe ihn selbst ausgesucht. Ope ration Uriah. Erinnern Sie sich an die Bibel?« Sie erinnerte sich sehr wohl und lächelte über den Zusam menhang. »Das passt gut, Sir. Uriah, der Hethiter. Er kämpfte in der Schlacht an vorderster Front.« Amanda nahm Christine im Auto mit, als sie von ihrer Ein satzbesprechung zum Schiff zurückfuhr. Oje! Sie musste ja auch noch den Mietwagen zurückbringen, bevor die Duke auslief. Als gäbe es nicht schon genug, um das sie sich zu kümmern hatte. Wenigstens blieben ihr 48 – nein, 42 Stunden Zeit. Die Vor bereitungsarbeiten, die normalerweise einen Monat in An spruch nahmen, mussten in knapp zwei Tagen durchgezogen werden. Aber ihre Leute würden das schon schaffen. »Interessante Nacht?« »Kann man wohl sagen, Chris. Wer hätte gedacht, dass Tai wan sich auf eine solche Aktion einlässt.« »Ah, das war eigentlich eine Frage, keine Feststellung. Ich meinte; War es eine interessante Nacht?« »Es war ganz okay«, antwortete Amanda in dem Bemühen, möglichst beiläufig zu klingen. »Nur ein nettes Abendessen.«
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»Warum fällt’s mir so schwer, das zu glauben?«, erwiderte Christine und wandte sich Amanda zu. »Man erzählte sich, dass Sie Ihr neues blaues Kleid getragen haben. Ich habe es schon mal gesehen, Skipper, und das ist sicher kein Kleid, dass Sie zu einem nur ›netten Abendessen‹ anziehen würden.« Die blonde Intel-Offizierin fixierte Amanda mit ihren großen graublauen Augen, so als hätte sie es mit einer beson ders kniffligen dienstlichen Frage zu tun. »Chris, was soll das Ganze?« »Ach, ich bin einfach von Berufs wegen neugierig. Also, wer ist der Neue?« Amanda musste sich zusammennehmen, um möglichst ge lassen zu bleiben. »Chris, Sie wissen ja, wie ich bin. Ich finde, meine Angele genheiten gehen nun mal nur mich etwas an.« Das stimmte nicht ganz; immerhin hatte sie mit Chris auch früher schon die eine oder andere private Geschichte ausge tauscht. Aber, verdammt, was sollte sie ihr diesmal sagen? »Außerdem, Lieutenant«, fuhr Amanda fort, »haben wir im Moment an wichtigere Dinge zu denken.« Den kleinen Rangunterschied zwischen ihnen beiden ins Treffen zu führen, bot bei Chris nicht unbedingt Gewähr für Zurückhaltung – aber etwas Besseres fiel ihr im Augenblick nicht ein. »Wie Sie wünschen, Capt’n«, erwiderte Christine trocken, während der Hauch eines Lächelns ihre Mundwinkel um spielte. Sie kamen in Sichtweite des Liegeplatzes der Duke und Amanda vergaß ihr immer komplizierter werdendes Privatle ben. Die Ladearbeiten hatten begonnen; mehrere Zweiein halbtonner der Navy waren an der Gangway vorgefahren, und die Besatzung war dabei, Kisten an Deck zu scharfen, die dann durch eine der wasserdichten Luken in den Hangar be fördert wurden. Außerdem wurde noch einmal Treibstoff nachgebunkert. Ein schwerer Tankschlauch schlängelte sich vom Kai herüber und verschwand in einer Luke an Deck, um die Tanks des Zerstörers mit Kerosin in Flugzeugqualität zu füllen.
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Als Amanda und Christine vom Parkplatz zum Schiff hinü bergingen, fiel ihnen eine kleine Gruppe auf, die sich direkt an der Gangway versammelt harte. Drei von ihnen waren CrewMitglieder der Cunningham, der Offizier vom Dienst und zwei Leute vom Sicherheitsteam, bekleidet mit Overalls. Die bei den anderen Matrosen trugen die typischen Navy-Arbeitsanzüge und hatten Seesäcke neben sich am Boden liegen. Sie alle hielten im Gespräch inne, als Amanda zu ihnen trat. »Guten Morgen, Mr. Selkirk«, sagte sie und erwiderte den militärischen Gruß der Männer. »Was gibt’s Neues?« »Zwei neue Matrosen melden sich an Bord, Ma’am«, be richtete der Offizier vom Deck. »Sehr gut.« Sie wandte sich den beiden neuen Besatzungs mitgliedern zu, blickte auf ihre Namensschilder und sagte: »Matrose Kirby … Matrose Langdon, ich bin Capt’n Garrett, Ihre Kommandantin. Sie steigen genau in dem Augenblick, wo uns ziemlich überraschend die Order zum Auslaufen er reicht hat. Wir werden also für eine Weile sehr viel zu tun ha ben. Melden Sie sich beim Ersten Offizier, Commander Hiro. Er wird Ihnen Ihre Station und auch ein Quartier zuweisen. Wenn wir erst auf See sind und die Wogen sich ein wenig ge glättet haben, werden wir ja Gelegenheit haben, ein wenig zu plaudern. Bis dahin, Gentlemen, willkommen an Bord der Duke.« Amanda und ihre Offiziere gingen an Bord, und die vier Matrosen blieben allein zurück und sahen einander einen Mo ment lang schweigend an. Schließlich sagte einer der Neuen: »Hey, wir sind noch nie mit einer Frau als Capt’n gefahren. Wie ist sie denn so?« Die beiden alteingesessenen Seeleute sahen einander mit dem gelangweilten Blick von älteren Schülern an, die sich mit zwei Neuen abgeben müssen. »Die Lady ist okay«, antwortete die weibliche Hälfte des Si cherheitsteams. »Sie hält zur Crew und sie macht einem we gen Kleinigkeiten nicht gleich die Hölle heiß. Aber sie ver langt, dass man seinen Job hundertprozentig macht.« »Ja«, stimmte ihr Kollege mit finsterer Miene zu. »Wer das Schiff im Stich lässt, den lässt sie an den Eiern aufhängen.‹‹
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In den Gewässern vor Pearl Harbor 18. Juli 2006, 05:45 Uhr Ortszeit Mit ihrem abgetragenen Khaki-Arbeitsanzug und einer Cunningham-Baseballkappe auf dem geflochtenen Haar saß Amanda auf dem Kommandosessel der Brücke. Sie hatte sich bequem zurückgelehnt und einen Fuß auf den Handlauf hochgelegt. Die Duke war dabei, in die tieferen Gewässer von Mamala Bay vorzudringen. Amanda konnte bereits erkennen, wie das Blau des Wassers allmählich dunkler wurde. Gleich zeitig spürte sie, wie die ersten größeren Wellen der offenen See unter dem Schiff hinwegrauschten. »Maschinen halbe Kraft voraus. Umdrehungen für zwan zig Knoten.« »Aye aye, Ma’am«, antwortete der Zweite Rudergänger von seiner Konsole aus. Er griff nach dem Leistungshebel und drückte ihn nach vor. Das Heulen der riesigen Turbinengene ratoren wurde stärker. Man spürte förmlich, wie die Duke Fahrt aufnahm, während draußen vor dem Bug weißer Schaum in einem breiten V nach hinten strömte. »Maschinen halbe Kraft voraus. Zwanzig Knoten Fahrt.« Amanda genoss das Gefühl der Beschleunigung, so wie ein Reiter den Moment genießt, wenn er sein Pferd zu einem leichten Galopp anspornt. An Steuerbord zog einer der riesigen Touristenschoner vorüber, der dem Wind mit seinen Dieselmotoren trotzte. An der Reling drängten sich die Reisenden mit ihren Kame ras und Ferngläsern, um das mächtige Kriegsschiff vorüber ziehen zu sehen. Das Segelschiff dippte die Flagge zum Gruß. »Quartermaster, antworten sie mit dem Horn.« Das Zweiton-Horn der Duke ließ sein durchdringendes Signal ertönen, dessen schwaches Echo von der Küste zurück geworfen wurde. Der Schoner driftete achtern vorüber, und Amanda wandte ihre Aufmerksamkeit den Monitoren zu, die über den Fens tern der Brücke angebracht waren. Sie begutachtete das Bild
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des Navigationsradars und überprüfte den Abstand zu dem Kreuzfahrtschiff. Okay, sieht gut aus. »Navicom-Status, bitte.« »Wir sind am Ausgangspunkt, Capt’n«, meldete der Dienst habende Quartermaster von seiner Werk-Station aus. »SINS und GPU sind überprüft. Kurs ist fixiert und Navicom ein satzbereit.« Ein anderer Bildschirm zeigte eine Computergrafik-Karte der umliegenden Gewässer, und im nächsten Augenblick er schien auch der Kurs in westlicher Richtung, den das Schiff einschlagen würde. »Sehr gut. Rudergänger, Autopilot einschalten und auf Na vicom gehen.« Der Rudergänger tippte die entsprechenden Befehle auf seiner Tastatur ein. Sanft drehte der Bug der Duke auf den neuen Kurs ein. »Kurs zwei-sechs-fünf, Capt’n. Autopilot folgt vorgegebe nem Kurs.« »Sehr gut. An alle Abteilungen weitergeben: Zustand Zebra beenden. Weitermachen nach Plan.« Dies war für die Brückenbesatzung das Signal, sich zu ent spannen. Sie hatten den Hafen hinter sich gelassen, und von da an würde die Cunningham den vereinbarten Treffpunkt vor der chinesischen Küste, wenn nötig, auch allein finden, ob wohl die Fahrt dahin zehn Tage in Anspruch nahm. Amanda erhob sich aus dem Stuhl und streckte sich. »Okay, Mr. Freeman«, sagte sie, zum O.O.D gewandt. »Sie überneh men das Kommando und dürfen uns an diesem wunderschö nen Morgen auf See hinausführen. Viel Spaß.« Sie ging nach achtern zur Teemaschine im Kartenraum und bereitete sich eine Tasse aus ihrem privaten Earl-Grey-Vorrat zu. Entgegen allen Grundsätzen der Tee-Puristen gab sie et was Milch und zwei Stück Zucker in das heiße Getränk. Sie nahm einen genießerischen Schluck und ging wieder nach vom, um auf die steuerbordseitige Brückennock hinauszutre ten. Direkt neben Ken Hiro lehnte sie sich gegen die Reling. Es war ihr aufgefallen, dass ihr Erster Offizier sich während des
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Auslaufens die meiste Zeit über hier draußen aufgehalten hatte. »Misa und die Kinder waren heute Morgen nicht am Kai«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ist alles in Ordnung?« Etwas schuldbewusst richtete sich Ken auf. Er legte norma lerweise die stoische Ruhe an den Tag, die wohl ein Erbteil sei ner japanischen Vorfahren war, doch in diesem Moment hatte Amanda ihn ein wenig aus der Fassung gebracht. »Äh … ja, klar, Capt’n, alles in Ordnung. Sie kommen nicht mehr an den Landungssteg, wenn wir so früh auslaufen. Ich sage ihnen schon am Abend zuvor auf Wiedersehen, und am nächsten Morgen schleiche ich mich aus dem Haus, bevor sie wach sind. Nachdem ich gegangen bin, weckt Misa die Kin der und fahrt mit ihnen nach Keahi hinaus.« Er nickte in Richtung des Hafens zurück, den sie soeben verlassen hatten. »Von dort sehen sie uns zu, wie wir auslau fen. So funktioniert das am besten bei uns.« »Verstehe«, sagte Amanda kopfnickend. Sie blickte nach achtern und stellte fest, dass Ken nicht der Einzige war, der sich hier draußen von zu Hause verabschie dete. Kleine Gruppen von Matrosen hatten sich an der Reling versammelt und sahen zu, wie Oahu allmählich in der Ferne verschwand. Es war dies ein Phänomen, das für die Navy die ser Tage typisch war. Die Besatzungsmitglieder waren im Schnitt etwas älter und karrierebewusster als früher, was natürlich bedeutete, dass ein größerer Teil von ihnen An gehörige zurückließ. Das nahm man allerdings gern in Kauf, weil die Leute andererseits auch mehr Erfahrung und eine professionellere Einstellung mitbrachten. Amanda verstand ihre Gefühle, wenn sie sie auch nicht teilte. Für sie war das Auslaufen stets ein Moment der Erneue rung gewesen – egal, ob mit einem 8000-Tonnen-Kriegsschiff oder an Bord einer kaum acht Meter langen Fahrtenyacht. Es war für sie eine Chance, den Staub des Festlandes von sich ab zuschütteln und neuen Herausforderungen entgegenzufah ren. Sie wusste, dass diese Einstellung teilweise durch die Tatsa che bedingt war, dass sie nichts wirklich Wichtiges an Land
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zurückließ. Schon zu Beginn ihrer militärischen Laufbahn hatte für Amanda festgestanden, dass sie, wenn sie eines Ta ges ein eigenes Schiff bekommen sollte, mit möglichst leich tem Gepäck reisen musste; je weniger es gab, das sie zurück hielt, umso besser. Dementsprechend hatte sie ihr Leben so eingerichtet, dass sie alles Wesentliche in zwei Koffern mitnehmen konnte. Sie hatte es bewusst vermieden, Beziehungen einzugehen, durch die sie entweder körperlich oder emotional in irgendeiner Weise gebunden gewesen wäre. Diese völlige Unabhängigkeit hatte sich über die Jahre als sehr nützlich erwiesen. Doch in letzter Zeit hatte sie sich des Öfteren gefragt, ob sie sich ihre Welt nicht ein wenig zu stromlinienförmig zusam mengezimmert hatte. Für gewöhnlich wischte sie solche Ge danken rasch wieder beiseite und sagte sich, dass das wohl ein Vorbote des mittleren Alters war, das langsam näher rückte. Manchmal jedoch, wenn sie Ken zusammen mit seiner Familie sah, begann sie zu überlegen, ob es nicht vielleicht doch seine guten Seiten hatte, wenn es jemanden gab, der zu Hause auf einen wartete. »Capt’n«, rief der O.O.D. von der Luke des Ruderhauses. »Retailer Zero One und Zero Two sind im Landeanflug.« Vince Arkady und seine Flügelfrau, Lieutenant J.G. Nancy Delany, kamen zurück ins Nest, »Danke, Mr. Freeman!«, rief Amanda zurück. »Gehen Sie auf Flugstation und bringen Sie die Helis an Deck.« »Aye aye, Ma’am.« Das vibrierende Brummen der Rotoren erfüllte die Luft, während die beiden SAH-66-Sea-Comanche hinter dem Heck der Cunningham auftauchten. Mit ihrem eingebauten Fenestron-Heckrotor und ihrem leichten Buckel verfügten die bei den Helikopter über ausgezeichnete Tarneigenschaften. Es handelte sich um einen Vertreter der neuesten Generation von Scout-Helikoptern der U.S. Army, die mit ihrer Stealth-Technologie eine logische Ergänzung zu ihrem Mutterschiff bilde ten. Dicht nebeneinander schwebten sie von Steuerbord heran, kaum mehr als 15 Meter über den Wellen. Völlig synchron, so
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als wären sie aneinandergekettet, wurden sie langsamer und verharrten in der Nähe der Brückennock. Amanda blickte ins Cockpit von Retailer Zero One und sah, wie Arkadys Helm sich ihr zuwandte. Selbst durch das getönte Visier sah sie sein vertrautes jungenhaftes Lächeln. Sie hob eine Hand zum Gruß, und er nickte ihr zu. Dann senkten sich die Nasen der beiden Helis, und sie beschleunigten wie der und überholten das Schiff. Amanda und Hiro beobachte ten, wie die beiden Maschinen den Bug der Cunningham um kurvten und die Hubschrauberlandeplattform ansteuerten. Amanda nahm einen Schluck von ihrem Tee und lehnte sich zufrieden gegen die Reling. Es hatte durchaus auch sein Gutes, wenn man in der Lage war, alles, was einem wichtig war, mit auf die Reise zu nehmen.
Shanghai, Volksrepublik China 17. Juli 2006, 23:20 Uhr Ortszeit Das Schnellbootgeschwader zog seine Bahn in der Mitte des breiten Huangpu-Flusses. Die Boote hatten allesamt ihre Trag flächen eingezogen, und ihr blaugrauer Anstrich machte sie so gut wie unsichtbar. Die Luft um sie herum war von dem tiefen Brummen der Dieselmotoren erfüllt, und auch von dem Ge stank, den die Abwässer aus Shanghai und die Meeresalgen hier im Mündungsdelta des Jangtse erzeugten. Dazu mischten sich die Erdöldämpfe aus der Raffinerie von Zhongxing und der stickige Dunst unzähliger kleiner Holzkohlefeuer. Im Westen erhob sich die geisterhafte Silhouette der Stadt, die nun, kurz nach Sonnenuntergang, allerlei Schatten zu werfen begann. Etwas weiter flussaufwärts zeichneten sich halb verfallene Wolkenkratzer aus den dreißiger Jahren vor dem Himmel ab, die wie Ruinen aus dem Zweiten Weltkrieg wirkten. Trotz der mehreren Millionen Einwohner waren nur hier und dort ein paar Lichter zu erkennen. Es gab nicht mehr genug Strom, um die Straßen zu beleuchten, und selbst einfa
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che Glühbirnen waren mittlerweile zu kostbaren Gütern ge worden, mit denen es galt, hauszuhalten. Leutnant Zhou Shan konnte sich noch gut an die Zeit erin nern, als man die Lichter von Shanghai schon aus einer Ent fernung von 70 Kilometern vor der Küste erkennen konnte. Das war erst ein paar Jahre her, doch jetzt fragte sich der junge Leutnant, ob die Nacht nun die Stadt für immer verdunkeln würde. Das Boot mit der Nummer 5-19 war das letzte in der Ko lonne, und Zhous Rudergänger orientierte sich an dem Kiel wasser, das das Boot vor ihnen erzeugte. Sie verfügten nicht über die Nachtsichtausrüstung, mit denen einige der größe ren und moderneren Schiffe der Flotte ausgestattet waren, und selbst ihr Radar war in diesen engen Gewässern so gut wie nutzlos. Die 5-19 war die alte Version einer noch älteren Konstruk tion, des altehrwürdigen Torpedobootes der Hushuan-Klasse. Es verfügte über keine Defensivwaffen außer den beiden 14mm-Maschinengewehren vorn und achtern. Die einzigen Lenkwaffen waren die beiden mächtigen 53VA-AntischiffTorpedos. Auch mit Sensorsystemen sah es traurig aus. Ganz zu schweigen von wirksamen Systemen für Gegenmaßnah men. Gegen einen Feind, der über moderne Technologie ver fügte, würde man wohl kaum eine Chance haben. Zhou war nicht so sehr darüber besorgt, dass sein Boot be reits ziemlich alt war. Wenn man der VolksbefreiungsarmeeMarine angehörte, lernte man, mit dem auszukommen, was man zur Verfügung hatte. Wirklich schlimm war, dass man nicht einmal das, was man hatte, in einem ordentlichen Zu stand erhalten konnte. Er musste zusehen, wie der Rost sich in die Cockpit-Reling fraß, und auch der Motor ließ bereits ein leichtes Stottern vernehmen. Die Versorgung mit notwendigen Gütern und Ersatzteilen war auch unter den günstigsten Umständen stets sehr karg gewesen, doch in den letzten Monaten hatte man fast über haupt nichts mehr bekommen. Noch schlimmer war, dass das Geschwader seit dem Beginn des Bürgerkriegs untätig in sei nem Heimatstützpunkt von Changshandau festsaß und lang
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sam vor sich hin rostete, während Banditen und Konterrevo lutionäre die Volksrepublik allmählich zugrunde richteten. Als das Geschwader schließlich nach Süden beordert wor den war, hatte Zhou gehofft, dass sie nun endlich den Kampf würden aufnehmen können. Vielleicht würden sie sogar ge gen die Kuomintang-Banditen eingesetzt werden, die es ge wagt hatten, von der Insel aus die Volksrepublik anzugreifen. Doch stattdessen hatte man sie hierher geschickt, nach Shang hai, ohne ihnen den Grund dafür zu nennen. Hinter ihm hörte der junge Offizier das Geklapper von Werkzeug und die wüsten Flüche, die Bootsmann Hung in seinem breiten Nordküsten-Dialekt ausstieß. Der Bootsmann mühte sich gerade zusammen mit zwei Matrosen der 5-19 mit einem offensichtlich eingerosteten Bolzen am Fuß des Radar masts ab. Auch das war eines der Dinge, die man ihnen ohne Erklärung befohlen hatte, nämlich dass sie den Radar- und Funkmast zusammenklappen sollten. Zhou vermutete, dass sie bald zu der zweiten Flussbiegung nach rechts kommen würden, als er plötzlich ganz in der Nähe einen Schatten aus der Dunkelheit auftauchen sah. »Maschinen stopp!«, befahl er seinem Rudergänger. Über dem Rauschen der Funkverbindung hörte er die Stimme seines Kommandeurs Li, der mit ihm Kontakt auf nahm. Sein Geschwaderchef hielt sein Boot ein wenig abseits der Flussmitte und ließ die anderen Boote durch einen Matro sen mit Hilfe einer rot leuchtenden Lampe vorbeiwinken. »Ist bei Ihnen alles in Ordnung, Shan?«, fragte der Kom mandeur, »Ja, alles klar. Genosse Oberst. Keine Probleme.« »Gut. Wir sind fast da. Das Geschwader wird auf verschie dene Liegeplätze am Ostufer des Flusses verteilt. Bleiben Sie auf Kurs, bis sie an der Werft vorbeikommen, dann halten Sie nach einem Blinksignal am Ufer Ausschau. Ihr Signal ist kurzlang-kurz. Halten Sie darauf zu und folgen Sie den Anweisun gen des Lotsen. Sind Sie bereit zum Mastlegen?« Zhou bückte nach achtern. »Einen Moment noch Genosse Leutnant«, brummte Hung ihm zu. »Ja, Genosse Oberst. Wir sind so weit.«
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»Ausgezeichnet. Weitermachen, Shan.« Es war eine Mischung aus Frustration und Neugier, die Zhou dazu bewog, dem Kommandeur noch einmal zuzuru fen. »Genosse Oberst, können Sie uns sagen, mit welcher Mis sion wir hierher gekommen sind?« »Unsere Mission ist immer die gleiche, Genosse Leutnant«, antwortete Li in leicht vorwurfsvollem Ton. »Wir haben den Willen des Volkes auszuführen.« Es gab nichts weiter zu sa gen und zu fragen. Zhou wies seinen Rudergänger an, zu be schleunigen, und die 5-19 nahm wieder Fahrt auf. Sie kamen zur Biegung des Flusses und erreichten an Steu erbord das Industrieviertel von Shanghai, während an Back bord die Werft an ihnen vorüberzog. Zhou behielt ständig das östliche Ufer im Auge und glaubte schließlich, sein Leuchtsig nal entdeckt zu haben. Er wollte schon den Befehl zum Ein drehen rufen, hielt aber im letzten Augenblick inne. Dieses Licht kam aus einer ganz anderen Quelle. Zhou stellte fest, dass es sich um die Rückseite des riesigen Trockendocks der Schiffswerft handelte. Die Einfahrt war mit Persenning verhängt, und an einer Stelle blinzelte blauweißes Licht hindurch, das von Lichtbogenschweißgeräten stammte. Zhou hob sein Nachtglas an die Augen und sah sich die Werft etwas genauer an. Er erkannte, dass da mehr vor sich ging, als man angesichts der dunkel und verlassen wirkenden Anlage vermuten mochte. Lastwagen fuhren mit abgedeckten Scheinwerfern vor, und dunkle Gestalten machten sich da und dort zu schaffen. An verschiedenen Stellen drang etwas Licht nach draußen, woran man erkennen konnte, dass in der Anlage durchaus reger Betrieb herrschte. Der junge Marineoffizier wusste genau, dass der Schiffs bau, so wie die gesamte Schwerindustrie in China, aufgrund des Krieges fast zum Erliegen gekommen war. Da drüben musste etwas ganz Außergewöhnliches vor sich gehen. Zhou war so in seine spannenden Beobachtungen vertieft, dass er das für ihn bestimmte Signal fast übersehen hätte. »Rudergänger, Ruder nach Backbord.« Die 5-19 drehte auf das Ufer zu, und wenig später tauchte der Pier aus der Dunkelheit auf. Zunächst dachte Zhou, dass
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er hier anlegen sollte, doch dann sah er den Lotsen, der ihn anwies, unter den Pier einzulaufen. »Hung, Mast legen!« »Zu Befehl Genosse, Leutnant.« Zhou sah jetzt, dass die mittleren Pfeiler des Piers entfernt worden waren, so dass der Hohlraum darunter offen stand. Während der Bug des Tragflächenbootes in den dunklen, nach Kreosol riechenden Hohlraum eintauchte, glitt der Rumpf quietschend gegen die als Puffer dienenden Fender. Zhou hörte Wassertropfen auf das Deck prasseln. Er hielt die Hand aus dem Cockpit und spürte das feuchte Segeltuch, das über ihnen aufgespannt war. Er verstand. Sein Land verfügte über keine funktionieren den Aufklärungssatelliten mehr, doch man wusste, dass die Feinde der Volksrepublik sehr wohl welche einsetzten. Der Pier würde sie vor direkter visueller Beobachtung schützen, und die feuchte Persenning würde ihre Wärmesignatur ab schirmen, so dass sie auch mit thermographischen Mitteln nicht zu entdecken waren. Das Brummen der Maschine des Torpedobootes erstarb und der emsige Hung begann im Licht einer einzigen Lampe mit dem Festmachen des Bootes. Zhou blieb noch eine Weile im Cockpit und dachte nach. Ir gendetwas ging da vor sich. Es musste eine größere Sache sein. Und sie hatten unmittelbar damit zu tun. Vielleicht würde er ja doch zu seinem großen Einsatz kom men.
Hotel Manila Republik der Philippinen 6. August 2006, 08:00 Uhr Ortszeit »Es ist acht Uhr, Mr. Secretary.« Für einen Augenblick wusste Harrison Van Lynden nicht, wo er war – ein Gefühl, das für einen Staatsmann im Jet-Zeit-
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alter wohl nichts Außergewöhnliches war. Rasch kehrte die Erinnerung zurück. Manila. Der erste Tag der Gespräche zur Eindämmung der China-Krise. »Danke, Frank. Ich bin schon wach‹‹, sagte er und setzte sich im Bett auf. »Frühstück, Sir?«, fragte der Mann vom Secret Service von der Schlafzimmertür aus. »Ja. Das Übliche, in ungefähr 15 Minuten.« »Wird erledigt, Mr. Secretary, Mrs. Sagada wird Ihnen dann gleich einen aktuellen Situationsbericht liefern.« »Ja, vielen Dank.« Die Tür schloss sich wieder. Van Lynden erhob sich aus dem Bett und streckte sich; der lange Flug des vergangenen Tages steckte ihm immer noch ein wenig in den Knochen. Er trat an das riesige Balkonfenster, zog den Vorhang aus Gold brokat zurück und sah das glitzernde Blau der Bucht von Ma nila vor sich. Aus Sicherheitsgründen hatte die philippinische Regierung beschlossen, die verschiedenen Delegationen, die an dem Kri sengipfel teilnahmen, an ein und demselben Ort unterzubrin gen, wo auch die Gespräche selbst stattfinden sollten. Man hatte dafür das Hotel Manila, einen besonders geschichts trächtigen Ort, ausgewählt. Das sechzehnstöckige traditionsreiche Hotel hatte im Laufe seines Bestehens schon den verschiedensten Zwecken ge dient. Vor dem Zweiten Weltkrieg harte Douglas MacArthur von hier aus vergeblich versucht, das alte Commonwealth auf den bevorstehenden Konflikt vorzubereiten. Später hatte das Hotel den Einmarsch der japanischen Armee in der gleichna migen Hauptstadt erlebt, worauf die Besatzer hier ihr Haupt quartier aufschlugen. Als Nächstes kam die Armee der Be freier; die Wände des Hotels wiesen immer noch Einschüsse der Bordwaffen angreifender amerikanischer Jagdflugzeuge auf. Während Van Lynden den allmählich anwachsenden Ver kehr auf den Uferboulevard beobachtete, fragte er sich, wel ches neue Kapitel der Geschichte man hier wohl aufschlagen
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würde – das Ende eines Konflikts oder den Beginn einer glo balen Katastrophe. Der gebratene Speck und die Eier waren ausgezeichnet, und die ungewöhnlichen Beilagen, wie gebratener Reis, Guajava und Brotfrucht gaben dem Mahl eine besondere Würze. Van Lynden saß im Wohnzimmer der Suite und bemühte sich, während des Frühstücks seine Aufmerksamkeit auch der jungen Frau zu widmen, die ihm gegenüber auf der Couch saß. Lucena Sagada, jene Mitarbeiterin aus der Botschaft, die ihm als Assistentin zugeteilt worden war, hatte die honigfar bene Haut und die schwarzen Augen und Haare der Philippi nos. Ihr helles Sommerkostüm war jedoch eindeutig amerika nischer Herkunft. Nachdem sie ihr Praktikum im State Department in Washington absolviert hatte, war sie wieder in das Heimatland ihrer Großeltern zurückgekehrt, um ihr sprachliches und kulturelles Erbe entsprechend zu nutzen. »Wir haben endlich die komplette Liste aller Delegationen bekommen, Herr Minister«, sagte sie und blickte von ihrem Laptop auf. »Lassen Sie mal sehen … Da haben wir Mr. Apayo von den Philippinen, Keo Moroboshi aus Japan und Mr. Chung Pak aus Korea. Haben Sie schon etwas aus Russland und Vietnam gehört?« »Aus Hanoi ist immer noch nichts bekannt. Ich denke, dass wir nicht mit ihnen rechnen können. Was die Russen betrifft, so haben wir eine offizielle Mitteilung erhalten, dass sie keine Delegation schicken werden. Sie ersuchen jedoch darum, dass ein Mitglied ihrer hiesigen Botschaft als Beobachter teilneh men darf.« »Damit habe ich kein Problem«, stellte Van Lynden fest. »Sie sind nicht hier, um vielleicht Öl ins Feuer zu gießen – an dererseits bleiben sie auf dem Laufenden, was die aktuelle Si tuation betrifft. Ein guter Kompromiss.« Er nahm sich mit der Gabel noch ein Stück von der Brot frucht. »Nun, dann kommen wir zum Kern der Sache. Wen schicken die Chinesen her?«
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»Beide Delegationen sind gestern Abend angekommen, Sir. Innerhalb einer Stunde.« Mrs. Sagada nahm eine CD aus ihrer Aktentasche und schob sie in das Laufwerk ihres Laptops. Dann erhob sie sich und stellte den tragbaren Computer direkt neben Van Lyn dens Frühstückstablett auf den Kaffeetisch. »Der CIA-Station-Chief in der Botschaft schickte ein Video team los, um die Ankunft der Delegationen aufzunehmen«, sagte sie und drückte auf eine Taste, um den Film ablaufen zu lassen. »Hier haben wir die Vertreter der GA und der Verei nigten Demokraten. Sie sind gleichzeitig aus Taipeh ange reist.« Auf dem Bildschirm erschienen zwei Männer, die die Gangway eines schnittigen Jets herabstiegen. »Den ersten der beiden kenne ich. Es ist Mr. Duan Xing Ho vom taiwanesi schen Außenministerium. Ich habe über das American Insti tute in Taiwan einige Male mit ihm zusammengearbeitet. Er ist ein guter Politiker, einer der besten, die sie haben. Den an deren Gentleman kenne ich allerdings nicht.« Er zeigte auf den hageren weißhaarigen Mann, der hinter Duan herging. »Nach den Daten, die wir von den Vereinigten Demokraten Chinas haben, ist das Professor Djinn Yi. Er gehörte früher der Volksuniversität von Kanton an, wo er Geschichte und Poli tikwissenschaften gelehrt hat. Zur Zeit scheint er eine Art Bot schafter für die VDC zu sein.« »Was wissen wir über ihn?« »Nicht sehr viel, Mr. Secretary. Er ist unverheiratet, stammt aus der Provinz Guangdong und gilt als brillanter Wissen schaftler. Einst war er ein tadelloses Parteimitglied. Das hat ihm jedoch auch nichts geholfen, als die Roten Garden im Jahr 1966 zu wüten begannen. Er und sein älterer Bruder waren unter den chinesischen Intellektuellen, die während der Kul turrevolution in den Umerziehungslagern landeten. Professor Djinn wurde für achtzehn Monate eingesperrt. Sein Bruder starb – man weiß nicht genau ob er verhungerte oder an der Folter zugrunde ging.« »Ich kann mir vorstellen, dass man nach solchen Vorfällen seine Ansichten radikal ändert.«
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Das Video zeigte Djinn in Nahaufnahme, und Van Lynden musterte den Mann genau. Hinter den ausgezehrten Gesichts zügen und dem steifen Gang sah er ein waches Funkeln in den Augen, mit denen er seine Umgebung neugierig stu dierte. Der chinesische Staat hatte sich diesen alten Mann zu einem erbitterten und nicht zu unterschätzenden Feind ge macht. Das Video ging zu Ende, und Mrs. Sagada rief das nächste auf. »Okay. Wir kommen jetzt zur kommunistischen Delega tion.« Wieder stiegen zwei Männer aus einer Maschine. Der eine war klein gewachsen und stämmig und trug einen der typi schen Anzüge aus Maos Zeit. Einen solchen Aufzug habe ich schon eine Weile nicht mehr gese hen. Was hat das wohl zu bedeuten, Harry? Eine Rückkehr zu alten Werten oder eine Art politisches Statement? Der zweite war groß gewachsen und hatte die Körperhaltung eines Soldaten; dem entsprechend trug er die Uniform der Volksbefreiungsarmee. »Das sind die beiden Vertreter aus der Volksrepublik«, fuhr Mrs. Sagada fort. »Der stellvertretende Ministerpräsident Chang Huian und General Ho Chunwa.« »Eine hochrangige Delegation. Ich kenne Chang nur aus verschiedenen Berichten. Er hat sich nie auf der internationa len Bühne sehen lassen. Ich glaube nicht, dass er jemals außer Landes gewesen ist, aber er hat in der Partei sicher einiges Ge wicht. Ho hingegen habe ich schon einmal getroffen. Das war vor einigen Jahren, noch vor Tienanmen. Ein harter Bursche, aber offen für vernünftige Vo rschläge. Wer ist der Leiter der Delegation?« »Das ist… im Augenblick noch ziemlich unklar, Sir. Wir ha ben es anscheinend mit einem Führungsduo zu tun.« Das ist ja interessant, dachte Van Lynden. Die Kommunisten arbeiten nur dann nicht in streng hierarchischer Ordnung, wenn es Flügelkämpfe zwischen verschiedenen Gruppen gibt. Könnte es sein, dass ein Riss zwischen der Partei und der Armee aufgebrochen ist? Wirklich sehr interessant… Mrs. Sagada schaltete den Laptop aus. »Das ist alles, was
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wir an Neuem über die Delegationen hereinbekommen ha ben, Sir. Ich habe außerdem hier die vorläufige Tagesordnung und eine Bitte von der versammelten Presse, ob Sie nicht in ei ner Erklärung darlegen möchten, welche Ziele die Vereinigten Staaten bei diesen Gesprächen verfolgen.« »Ich werde ihnen gerne Auskunft geben, sobald ich mir selbst darüber im Klaren bin.« Van Lynden legte die Serviette auf den Teller. »Was gibt es in militärischer Hinsicht Neues aus China? Bitte eine Kurzfassung.« »Alles weitgehend unverändert, aber massive Truppenzu wächse an allen Fronten. Die GA bringen weiter bei Amoy Truppen an Land, während die Kommunisten ihre Streitkräfte nördlich und westlich der Stadt zusammenziehen. Offensicht lich planen sie eine Gegenoffensive, um die GA wieder zurückzutreiben, bevor die Rebellen vom Süden zu ihnen durchbrechen können.« Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Unser Militärattaché meint, dass die Sache bald explodieren könnte. Sehr bald so gar.« »Wir werden ja sehen, wo sich Wichtigeres tut – auf dem Gefechtsfeld oder hier auf der Konferenz.« Van Lynden erhob sich und fragte: »Haben wir schon sichere Leitungen hier im Hotel?« »Noch nicht, Sir. Die Kommunikationsräume für die Dele gationen sind erst heute Nachmittag betriebsbereit.« »Dann werde ich zu euch in die Botschaft kommen müssen. Lassen Sie mal sehen – die Eröffnungssitzung ist erst für … morgen früh um zehn angesetzt, nicht wahr?« »Ja, Sir.« »Sehr schön. Bis dahin können Sie ja schon mal versuchen, Gespräche mit so vielen Delegierten wie möglich zu arrangie ren. Ich möchte, dass wir uns mit den Leuten einzeln unter halten, bevor es losgeht. Es wird zwar vor der ersten Sitzung keiner Klartext reden, aber zumindest können wir einiges über die Grundeinstellung der Teilnehmer erfahren.« »Wir, Sir?«, fragte Lucena Sagada mit einer gewissen Hoff nung in der Stimme. Van Lynden, der gerade dabei war, sein Jackett anzuziehen,
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hielt einen Augenblick inne. »Sie sind ja sozusagen meine Ver bindungsoffizierin, nicht wahr? Es gehört doch zu Ihrem Job, Botschafter Dickinson über die Gespräche auf dem Laufenden zu halten. Nun, ich denke, Sie können diese Aufgabe am be sten erfüllen, wenn Sie direkt an der Sache teilnehmen. Ist Ih nen das recht?« Die Sachlichkeit, die die Frau für gewöhnlich an den Tag legte, wich einem strahlenden Lächeln. »Das wäre mir sogar sehr recht, Sir.« »Fein. Dann machen wir uns an die Arbeit. Ich muss erst mal mit ein paar Leuten sprechen.« Van Lynden ging zum Aufzug, und seine Sicherheitsleute folgten ihm eher unaufdringlich. Der Außenminister war in Gedanken schon ganz mit den Informationen beschäftigt, die er heute Morgen bekommen hatte, und fügte sie in das Bild ein, das er sich mit Hilfe seines Wissens und seiner Intuition von der Krise in China bereits gemacht hatte, Während all der Jahre im diplomatischen Dienst hatte sich Van Lynden ein ganzes Instrumentarium an Techniken zu rechtgelegt, mit deren Hilfe es ihm stets gelang, Ordnung in seinen Gedanken zu schaffen und die nötige Aufmerksamkeit aufzubringen, die auf diesem Niveau der internationalen Be ziehungen notwendig war. Eine dieser Techniken bestand darin, jede der beteiligten Gruppen mit einem Symbol zu ver sehen, das eine gewisse Aussagekraft hatte und einiges über die betreffenden Personen verriet. In den Videos über die chi nesischen Delegationen hatte er solche Symbole gefunden, nämlich die Flugzeuge, in denen sie angereist waren, Die Nationalisten und die Leute vom VDC waren mit einer brandneuen Dassault-9000-Maschine der taiwanesischen Luftstreitkräfte eingetroffen. Dieser elegante kleine Jet glich mehr dem Flugzeugmodell eines begeisterten Hobbybastlers als einer wirklichen Maschine. Die Kommunisten hingegen waren an Bord einer alten Boeing 727 angekommen, der man ansah, dass sie schon in so manchen Hagelschauer geraten war und deren Heckkonus sich durch die andauernde Verbrennung von minderwertigem
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Treibstoff schwarz verfärbt hatte. Eines der Querruder am Tragflächenende sowie eine der Türen waren von einer ande ren Maschine eingefügt worden, was offensichtlich notwendig gewesen war, um diese Maschine flugtauglich zu machen. Was für ein Gegensatz! Auf der einen Seite Fortschritt und allerneueste Technologie, auf der anderen ein müder Koloss, der eigentlich ausgedient hatte, aber doch noch nicht ganz reif für den Schrotthaufen war.
Ein halber Kilometer vor der Meizhou-Wan-Halbinsel Volksrepublik China 8. August 2006, 01:34 Uhr Ortszeit »Nähern uns vorgegebenen Wegpunkt … und … Wegpunkt erreicht!« »Sehr gut, Quartermaster. Zweiter Rudergänger, alle Ma schinen stopp. Rudergänger, Position mit Hydrojet-Antrieb halten.« »Aye, aye.« Keiner auf der Brücke der Cunningham sprach ein lautes Wort. Es war zwar kaum anzunehmen, dass ein Gespräch in normaler Lautstärke an der Küste der Bucht zu hören gewe sen wäre, doch allein der Anblick der bedrohlich wirkenden dunklen Hügel, die das Schiff auf drei Seiten umgaben, veran lasste instinktiv jedermann leise zu sprechen. Amanda spürte den Schweiß unter ihrer kugelsicheren Schwimmweste, und der Kevlar-Helm, den sie trug, machte sich bereits schmerzhaft bemerkbar. Sie ließ sich dadurch aber nicht beirren und verfolgte gebannt die Bildschirme – insbe sondere die der restlichtverstärkenden Fernsehkamera, des passiven Radars und der Funkfrequenz-Scanner. Die Luft schien jedoch rein zu sein. »Wir sind da«, sprach sie in ihr Mikrofon. »Lasst es ins Was ser.«
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Sie erhob sich aus ihrem Kommandosessel und ging auf die Steuerbord-Brückennock hinaus. Im schwachen Licht der Decksbeleuchtung erledigten die Matrosen ihre Aufgabe, rasch und präzise. Man setzte den Lenkwaffenladekran des Senkrechtstart-Systems ein, um den großen rautenförmigen Gegenstand über Bord zu hieven. Mit Hilfe einer Decke wurde das Dröhnen des Kranmotors gedämpft. Der Gegen stand tauchte in die öligen Wellen ein und tanzte, nachdem die Kabelschelle gelöst worden war, noch kurz auf den Wellen hin und her, ehe sich die Ballastkammern mit Wasser füllten und ihn in die Tiefe zogen. »Brücke, Boje ist ausgesetzt.« »Sehr gut. Deck räumen.« Amanda kehrte ins Ruderhaus zurück. »Rudergänger, fünfzig Meter zurück. Nur mit den Hydrojets.« »Aye aye, Ma’am. Fünfzig Meter zurück.« Ungeduldig verfolgte Amanda, wie ihr Schiff durch die Dunkelheit glitt. »Manöver beendet, Capt’n.« »Danke, Rudergänger. Position halten. Sonar, hier spricht die Kommandantin. Wir haben uns von der Boje entfernt. Übertragen Sie Ihre Testcodes. Nachrichtendienst-Abteilung, bereithalten.« Die Sonarschwinger der Cunningham durchkämmten die umliegenden Gewässer mit ihren akustischen Signalen, die eine sorgfältig modulierte Botschaft für einen ganz bestimm ten Empfänger enthielten. Und dieser Empfänger, der sich in vierzig Meter Tiefe befand, reagierte darauf. Die Seeaufklärungsboje trennte sich von dem Senkgewicht und spulte die Murigleine ab, um wieder zur Oberfläche hochzuschweben wie eine Spinne an ihrem Faden. Knapp un terhalb der Meeresoberfläche hielt sie an und fuhr eine was serdichte Funkantenne aus. »Brücke – Raven’s Roost. Wir haben ein Testsignal empfan gen. Alle Bojensysteme sind einsatzbereit.« »Sehr gut, Raven’s Roost. Aktivieren Sie die Boje.« Die Seeaufklärungsboje tauschte noch einige Mikrosekun den lang Signale mit ihrer Mutterstation an Bord der Duke
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aus und zog dann ihre Antenne ein, um sich bis zum Mittel punkt ihrer Leine abzuseilen, Die Boje war zwar von der Konstruktion her mit einer See mine verwandt, doch in ihrer echofreien Hülle befanden sich statt Sprengstoff nur Hydrophone und Signalprozessoren. Von ihrer Position in der Bucht aus konnte sie jeden Seever kehr in der Umgebung registrieren. Die so gesammelten In formationen würden zu genau festgelegten Zeiten an das Schiff weitergeleitet werden. Seit ihrer Ankunft in den chinesischen Küstengewässern hatte die Duke zwischen Shanghai und Amoy ein ganzes Netz solcher Sensorsysteme deponiert. Die letzte Boje war soeben ausgesetzt worden. Damit war die erste Hälfte der Aufgaben erledigt, die es in dieser Nacht durchzuführen galt. Der gefährlichere Teil stand ihnen jedoch noch bevor. Amanda ging langsam vor der Kon sole des Rudergängers auf und ab. Die anderen Anwesenden auf der Brücke standen oder saßen mit angespannten Nerven auf ihren Plätzen. »CIC-Brücke. Gibt es irgendwelche Veränderungen, was die Signale aus der Umgebung betrifft?« Sie hätte die Information auch auf einem der Bildschirme abrufen können, doch sie wollte es sich lieber von einer menschlichen Stimme bestätigen lassen. »Alles okay, Capt’n«, meldete Ken Hiro. »Alles ruhig auf sämtlichen Frequenzen.« Es war zwischen ihr und Ken so ausgemacht, dass sich stets einer von ihnen auf der Brücke und der andere in der Ge fechtszentrale aufhielt, wenn das Schiff gefechtsbereit war. Auf diese Weise würden sie kaum jemals beide durch einen einzigen Treffer ausfallen. »In fünfzehn Minuten sollten sie wieder zurück an Bord sein«, fügte der Erste Offizier hinzu. »Ja.« Sie ging wieder auf und ab, von einer Sorge erfüllt wie sie eine Mutter empfand, die von ihren Kinder getrennt war. Dreißig Kilometer landeinwärts begann Vince Arkady die An strengung des Einsatzes langsam zu spüren. Der Nacken
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schmerzte ihm vom Gewicht des Nachtsichtgerätes, das er an den Helm geclippt hatte. Außerdem durfte er natürlich auch die Anzeigen des Sea Comanche nicht aus den Augen lassen. Sein Hubschrauber war diesmal in voller Tarnung unterwegs. Die Flügelstummel waren abmontiert worden, und dieser Auftriebsverlust beeinträchtigte sein Gefühl für die Maschine doch empfindlich. Bereits seit einer halben Stunde balancierte er den kleinen Hubschrauber entlang des Bergkamms. Er tauchte in jede Mulde hinab und umflog jede Kuppe, so wie ein Infanterist vorwärtsstürmt, indem er jede sich bietende Deckung nützt. Auf diese Weise gab er seiner Begleiterin Gelegenheit, ihre Be obachtungen anzustellen. »He, Mädchen, es wird langsam Zeit für uns, ans Umkeh ren zu denken. Okay?« »Noch etwas Geduld, mein Freund«, murmelte Christine Rendino über Bordfunk. »Ich weiß schon, was ich suche. Es ist eben nicht so leicht zu finden in dieser Umgebung.« Die Nachrichtendienst-Offizierin saß im hinteren Cockpit und zog mit ihrem Joystick das thermographische Auge des Helikopters die Straße entlang, die sich durch das Tal schlän gelte. Dabei konzentrierte sie sich vor allem auf den Bereich westlich der Straße. Die Gegend unter ihnen war wahrscheinlich schon vor Christi Geburt urbar gemacht und in Felder unterteilt wor den. Wie viele Generationen von Bauern hatten sich wohl seit her abgemüht, dem Boden bescheidene Erträge abzuringen? Selbst an den niedrigeren Hügeln hatte man Terrassen ange legt, um noch ein paar zusätzliche Quadratmeter Ackerland zu gewinnen. Doch nun waren die meisten der Felder von Unkraut über wuchert und verlassen. Das Tal befand sich mitten zwischen zwei feindlichen Armeen, so dass die meisten Bauern sich in Sicherheit gebracht hatten, solange es noch möglich war. Die Lichter, die da und dort in einem einsamen Dorf zu sehen wa ren, deuteten darauf hin, dass so mancher Bewohner zu alt war, um zu flüchten, oder einfach zu müde, um auf die Ereig nisse zu reagieren.
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Christine wurde in ihren Gedanken unterbrochen, als ein dunklerer Fleck auf dem Bildschirm erschien, der wie eine überdimensionale Perle auf dem hellen Faden aufgefädelt war, den die Straße bildete. »Okay! Da haben wir’s, Arkady! In Ihrer Zwei-Uhr-Position.« »Roger. Ich seh’s. Scheint niemand in der Nähe zu sein. Ich gehe tiefer.« Der Hubschrauber tauchte ins Tal hinab, Hier war einst ein Wald gestanden, dessen Pappeln man erst vor kurzem knapp über dem Boden gefällt hatte. Heute war nur noch niedriges Gebüsch übrig. Die schmale Straße war offensichtlich einmal asphaltiert gewesen – ein Hinweis darauf, dass sie für diese Gegend wohl eine Hauptverkehrsader darstellte. Inzwischen war der Asphalt aufgebrochen und nur noch eine einzige Schotterwüste übrig geblieben. Doch die Straße war es nicht, was für die beiden im Hub schrauber in dieser Nacht von Bedeutung war – wenn man einmal davon absah, dass sie ihnen zur Orientierung diente. Es ging ihnen vielmehr um die Telefonleitung, die darunter vergraben war. Gute Kommunikationsverbindungen stellen für jede mi litärische Operation eine absolute Notwendigkeit dar. Gleich zeitig bilden sie auch eine Schwachstelle im System – schließ lich kann Funk abgehört werden, und auch die besten Mikrowellenverbindungen sind nicht unangreifbar. Selbst wenn alle Botschaften verschlüsselt gesendet werden, kann ein erfahrenes Nachrichtendienst-Team eine Vielzahl von In formationen aus dem feindlichen Funkverkehr ziehen. Dementsprechend verließ sich die militärische Führung der Kommunisten vor allem auf Überland-Telefonleitungen, dem ihrer Meinung nach einzig wirklich sicheren Kommunika tionsnetz. Christine und Arkady waren gerade dabei, zu beweisen, dass das ein Fehler war. Der Hubschrauber verharrte direkt über der Straße im niedrigen Schwebeflug. Arkady suchte durch das grüne Licht des Nachtsichtgerätes erneut die Umgebung ab, um zu über
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prüfen, ob sich nicht doch irgendwo etwas rührte oder ob je mand im Verborgenen den Hubschrauber beobachtete. Er war jederzeit bereit, zu reagieren, wenn im Cockpit ein Warnsignal ertönte. »Fertig zum Öffnen der Waffenschachtklappen?«, fragte Christine. »Ja. Bringen wir’s hinter uns, und zwar möglichst schnell.« Das Öffnen der Waffenschachtklappen würde ein Loch in die Tarnkappe des Sea Comanche reißen, so dass der Helikopter einen Moment lang relativ leicht von feindlichem Radar er fasst werden konnte. Im hinteren Cockpit hielt Christine eine Fernbedienung im Schoß, die über ein Koaxialkabel am Instrumentenbrett ange schlossen war und zur Steuerung der Hilfssysteme diente. Die Klappen im Bauch des Helikopters öffneten sich und die Sen soreinheit dahinter begann auf die Umgebung zu reagieren und ihre Daten auf das Display der Fernbedienung zu proji zieren. »Ja! Wir haben’s gefunden!« Rasch drückte sie an ihrem Instrumentenbrett eine ganz be stimmte Tastenfolge. Ein Abschussrohr wurde unten am Helikopter ausgefah ren, fast wie der Stachel eines Insekts. Im nächsten Augen blick wurde ein Metallbolzen von der Größe eines menschli chen Arms abgefeuert, der sich zu drei Vierteln seiner Länge in die Erde bohrte. Eine Schutzkappe wurde abgestoßen, wor auf eine Antenne zum Vorschein kam. An Christines Fern steuerung leuchtete ein grünes Licht auf. In der Vergangenheit war es stets eine mühsame und ge fährliche Angelegenheit gewesen, eine feindliche Telefonlei tung anzuzapfen – eine Arbeit, die von einer Spezialeinheit durchgeführt werden musste. Mittlerweile hatte man einen Weg gefunden, die Sache schneller zu erledigen – eine Me thode, bei der sich außerdem nur zwei Leute in unmittelbare Gefahr begaben. Eine hoch empfindliche Induktionsspule in nerhalb des Sensors, der soeben in der Erde verankert worden war, würde die schwachen elektromagnetischen Modulatio nen ablesen, die von dem Telefonkabel ausgingen, um sie zu
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speichern und später zu einem NSA-Satelliten zu übertragen, der in der Erdumlaufbahn kreiste. Auf diese Weise würde man die Telekommunikation der chinesischen Armee höchst wirkungsvoll abhören können – zumindest bis die Batterien leer waren oder bis ein Objekt von der Größe eines Menschen von den Sensoren wahrgenommen wurde, was die Zündung einer Selbstzerstörungsladung zur Folge hätte. »Der Bolzen sitzt. Los!« Das Abschussrohr wurde eingezogen und die Klappen im Bauch des Helikopters schlossen sich. Retailer Zero One senkte die Nase und beschleunigte entlang des Talbodens in östlicher Richtung. »Nun, das war doch gar keine Affäre, oder?« »Fragen Sie mich das noch einmal, wenn wir wieder auf der Duke sind.« »Wie sieht’s mit dem Timing aus?« »Wir sind schon am Limit. Wenn nichts dazwischenkommt, schaffen wir’s gerade noch zur vereinbarten Zeit.« Arkady zog den Hubschrauber hoch, um auf einen niedri gen Bergsattel zuzusteuern. Die Landschaft mit ihren sanften Hügeln, in der es keine hohen Bäume oder Hochspannungs leitungen gab, war für einen Helikoptereinsatz geradezu ideal. Außerdem schien es am nächtlichen Himmel keinerlei feindlichen Flugverkehr zu geben. Nur noch ein Weilchen, und sie würden sicher auf dem Schiff landen … Retailer Zero One kroch wenige Meter über dem Erdboden dahin, als er den Sattel erreichte. »Scheiße!« Arkady trat mit voller Kraft in das Seitenruder, und Chri stine schrie erschrocken auf, als der Hubschrauber herumwir belte wie ein aufgescheuchtes Huhn und eine abrupte Kehrt wendung vollführte. Retailer Zero One rauschte über die Gebüsche hinweg und den Hügel hinunter. »Verdammt, Arkady! Was ist denn los?« »Sieht so aus, als wär’ wieder mal alles gegen uns.« Während sie mit dem Anzapfen der Telefonleitung be schäftigt waren, hatte sich eine große Zahl feindlicher Trup
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pen formiert, die ihnen nun den Rückweg durchs Tal ver sperrte. Arkady steuerte nach Süden und hielt sich entlang des Bergrückens, um die Lage einschätzen zu können. »Wo zum Teufel kommen diese Kerle bloß her?«, murmelte er. »Aus dem Sammelgebiet der chinesischen Armee bei Fuz hou«, antwortete Christine grimmig. »Wir haben es bestimmt mit einer ganzen Division zu tun.« Durch ihre Nachtsichtgeräte konnten sie den endlos schei nenden Strom von Militärfahrzeugen erkennen, der sich durch das Tal schob. Sowohl Panzer als auch Lastwagen und Mannschaftstransportwagen waren unterwegs – offensicht lich in absoluter Gefechtsbereitschaft. Die Panzer liefen auf ihren eigenen Ketten, anstatt auf Tiefladern befördert zu wer den. Mit ihren Kanonen deckten sie beide Seiten der Straße ab. Christine erkannte, dass es sich größtenteils um neue Pan zer vom Typ 85 handelte. Hie und da waren jedoch auch die abgeflachten teekesselartigen Panzertürme des Typs 69 zu se hen. Einmal glaubte die Nachrichtendienst-Offizierin sogar den Panzerturm eines alten sowjetischen T-55 zu erkennen. Eine etwas antiquierte Ausrüstung, dachte Christine bei sich. Offensichtlich hatte man alles aus den Depots hervorge holt, was sich irgendwie fahrbereit machen ließ. Sie stellte das Video-System auf die Kolonne ein, um Aufnahmen davon zu machen. Arkady ließ den Hubschrauber wieder hinter den Berg rücken hinabtauchen. »Wir sitzen ganz schön in der Tinte«, brummte er. »Wir müssen einen weiten Bogen um diese Kerle machen. Den ver einbarten Ze itpunkt für unsere Rückkehr können wir uns sonst wohin stecken.« »Gibt’s keine Chance, durch eine Lücke zu stoßen?« »Nein. Die Luftstreitkräfte der GA haben diesen Burschen in letzter Zeit ziemlich zugesetzt. Ich bin mir sicher, dass jedes Luftabwehrfahrzeug bemannt ist. Hinter jedem Maschinen gewehr sitzt einer und passt auf. Wenn wir versuchen, da drü berzukommen, holen sie uns runter; da hilft uns die ganze
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Tarnung nichts mehr. Tja, wir werden wohl einen Umweg ma chen müssen.« »Junge, da können wir uns was anhören, wenn wir zurück kommen.« Arkady steuerte den Hubschrauber das Seitental entlang. »Wir können nur hoffen, dass noch jemand da ist, der uns die Hölle heiß machen kann.« »Capt’n – Raven’s Roost«, ertönte die Stimme von Lieutenant J. G. Randy Selkirk, dem zweiten Mann in der Nachrichtendienst-Abteilung. »Ich glaube, da draußen gibt’s etwas.« Amanda hatte das Gefühl, dass sich alles in ihr zusammen krampfte. Sie wandte sich wieder den leuchtenden Bildschir men vor ihr zu. Restlicht-Verstärker … Taktisches Display … ECM … Scanner … Nichts. »Ich kann nichts erkennen, Mr. Selkirk.« »Es kommt von den elektromagnetischen Detektoren, Ma’am, aber so schwach, dass unser Aegis-System es nicht als Kontakt erkennt. Wir haben nicht mal eine brauchbare Pei lung – nur dass es draußen vom Meer her kommt.« »Irgendeine Idee, was es sein könnte?« »Es dürften Emissionen von irgendwelchen Systemen sein. Aber die Quelle ist entweder sehr klein, oder der Bursche hat eine genauso gute Abschirmung wie wir.« Eine gewisse Frustration machte sich in Selkirks Stimme bemerkbar. »Es könnte sich aber auch bloß um ein starkes Gewitter handeln. Tut mir Leid, Ma’am, mehr kann ich Ihnen momen tan nicht sagen.« Der junge Offizier gab sich alle Mühe, aber er verfügte noch nicht über Christines fast übernatürliche Gabe, Daten zu ana lysieren und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. »Kein Problem, Lieutenant. Bleiben Sie dran und halten Sie mich auf dem Laufenden.« Amanda warf einen Blick auf die Zeitanzeige, die in der lin ken unteren Ecke eines jeden Monitors zu sehen war. Der Helikopter war bereits seit sechseinhalb Minuten überfällig. Arkady, Chris, wo seid ihr bloß!
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Irgendetwas musste schiefgelaufen sein. Arkady würde sich nicht so einfach verspäten, wenn es nicht einen ernsten Grund dafür gab. Sie ging an die Backbordseite der Brücke und blickte auf den Sternenhimmel hinaus, der sich über die küstennahen Hügel spannte. Kein Kommandant sollte je so dumm sein, einen festen Freund oder Geliebten zu haben. Warum konnte sie das nicht beherzigen? Warum konnte sie sich nicht wie die anderen Offiziere verhalten, die ein kühl-distanziertes Verhältnis zu ihren Kollegen unterhielten? ›Weil die Besten sicher diejenigen sind, die nicht auf strikte Distanz zur Besatzung achten‹, tauchte eine Feststellung in ihrer Erinnerung auf, die Arkady einmal getroffen hatte. Nun, das Prinzip der Distanz hatte sie jedenfalls aufgege ben. Doch trotz ihrer Sorge um die beiden Besatzungsmitglie der konnte sie im Moment nichts anderes tun als zu überlegen, wie lange sie hier am vereinbarten Treffpunkt warten sollte. Was war die schlimmste aller Möglichkeiten? Sie hatten ei nen Unfall oder waren abgeschossen worden. Könnte es sein, dass sie einen Absturz überlebt hätten? Sind sie momentan in der Hand der chinesischen Armee? Nein, verdammt! Vergiss das Ganze! Konzentriere dich auf das Wesentliche! Was war, wenn das Hubschrauberwrack identifiziert wurde und die chinesische Armee wusste, über welche Reich weite ein Sea Comanche verfügte? Dann wussten sie auch, in welchem Bereich sie das Schiff zu suchen hatten, von dem er gestartet war. Wie lange würden sie brauchen, um ihre Suche zu starten? »Capt’n!«, ertönte die aufgeregte Stimme des Ausguck manns. »Überwasserkontakt in Grün null-fünf-null!« Amanda eilte sofort zum Ausguck und sah auf den grau getönten Bildschirm, Da war die unverkennbare Silhouette ei nes großen Kriegsschiffes zu erkennen, das die nördliche Landzunge umrundete, knapp zwei Kilometer von der Küste entfernt. Wenige Augenblicke später folgte ein zweites Schiff, und gleich darauf, etwas weiter von der Küste entfernt, ein drittes. Sie liefen die Einfahrt zur Bucht entlang und schnitten somit der Duke den einzig möglichen Fluchtweg ab,
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Das plötzliche leise Aufheulen einer Hydraulik durchbrach die lähmende Stille, die auf der Brücke der Duke herrschte. Das Oto-Melara-Geschütz auf dem Vorschiff schwenkte herum, um die herannahenden Schiffe ins Visier zu nehmen. Etwas weiter vorn öffneten sich mehrere achteckige Luken, um die Senkrechtstart-Systeme freizugeben. Unten im CIC sorgte Dix Beltrain dafür, dass die Duke die Zähne zeigte. »Alle Stationen, Ruhe bewahren.« Amanda sprach mit völ lig neutraler Stimme in ihr Mikrophon. Sie durfte die ohnehin schon herrschende Anspannung nicht noch vergrößern oder gar eine unbedachte Reaktion provozieren. »Rudergänger, machen wir uns so klein wie möglich. Position halten, aber mit dem Bug zur Einfahrt der Bucht.« »Aye aye.« Mit Hilfe des geräuscharmen Hydrojet-Antriebs vollführte der Zerstörer seiner Drehung. Das 76-mm-Geschütz behielt währenddessen sein Ziel im Visier, so als wäre es der Punkt, um den das Schiff gedreht wurde. »Capt’n«, ertönte Ken Hiros Stimme in ihrem Kopfhörer. »Es handelt sich um zwei rotchinesische Block-1B-Luda-Zerstörer und eine Fregatte der Jianghu-Klasse, die die beiden zur See hin absichert.« »Verstanden, Ken.« Amanda hatte sich an die Bedienungs elemente des mastmontierten Visiersystems (MMS) begeben und stellte es mit Hilfe der Trackball-Steuerung auf die chine sischen Kriegsschiffe ein. Mit freiem Auge war da draußen nichts zu sehen als Dunkelheit, doch für die leistungsstarken optischen Systeme des MMS gab es so etwas wie Nacht über haupt nicht. Die Luda-Zerstörer waren recht ansehnliche Schiffe. Von ihrer Konstruktion her glichen sie den Schiffen der alten sow jetischen Kotlin-Klasse und hatten auch den schlanken Rumpf der alten Dampfturbinen-Zerstörer. Viel wichtiger war jedoch im Augenblick die Tatsache, dass sich die Geschütztürme der beiden Schiffe noch in der Ruhestellung befanden und auch die Startrampen ihrer C-801-Antischiff-Lenkwaffen noch nicht aufgerichtet waren, um jederzeit feuern zu können.
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Amanda wandte sich rasch einem anderen Monitor zu, der ihr sagte, dass auch die chinesischen Schiffe unter voller EM CON liefen und ihr Such- bzw. Feuerleitradar abgeschaltet hatten. Langsam begann sich ihre Spannung ein wenig zu legen. Was auch immer die Mission dieser Schiffe sein mochte – sie waren jedenfalls nicht hinter der Duke her. »Ich glaube, wir sind sicher, Ken«, wandte sie sich über die Bordsprechanlage an ihren Ersten Offizier. »Es dürfte sich um einen Zufall handeln. Das da draußen ist jedenfalls ein guter Teil der derzeitigen rotchinesischen Überwasserflotte. Ich glaube kaum, dass sie die Schiffe so schnell auf unsere Spur hätten setzen können.« »Ja«, antwortete Hiro, ebenfalls erleichtert. »Ich frage mich nur, was sie vorhaben.« »Schwer zu sagen. Vielleicht ein Antischiff-Einsatz. Es könnte auch sein, dass sie es auf ein Nachschublager der GA abgesehen haben. Die beiden Ludas sind mit ihren 130-mmGeschützen nicht zu unterschätzen. Ich denke, wir sollten uns einfach ruhig verhalten und sie vorbeiziehen lassen.« Der Bug der Cunningham war nun den vorüberziehenden Schiffen zugewandt. Durch den Tarnanstrich am Rumpf war sie vor dem Hintergrund der Küste optisch nicht wahrzuneh men. Außer vielleicht einer winzigen Lücke in der weißen Küstenlinie würden die Chinesen nichts erkennen können. Noch vor wenigen Minuten hatte Amanda gebetet, dass Ar kady rasch zurückkehren würde. Jetzt betete sie, dass er noch ein wenig länger draußen blieb – so lange, bis die feindlichen Schiffe hinter der südlichen Landzunge verschwunden wa ren. Möglicherweise war das der Grund, warum die Stimme, die plötzlich über den Lautsprecher ertönte, wie eine Bombe in der Brücke einschlug. »Gray Lady, Gray Lady, hier Retailer Zero One. Können Sie mich hören?« Sie liebte ihn und sie hatte sich vor Sorge um ihn aufgezehrt – aber im Augenblick hätte sie ihn erwürgen können. »Retailer Zero One«, stieß sie hervor, nachdem sie die ent
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sprechende Frequenz gewählt hatte. »Wir haben feindliche Überwassereinheiten hier in der Gegend!« Die Wahrscheinlichkeit, dass man ihren Funkverkehr ab hören konnte, war zwar gering – aber die Chance, entdeckt zu werden, war dennoch gegeben. Arkadys Antwort klang keineswegs beunruhigt. »Das weiß ich längst, Gray Lady. Und das ist längst nicht alles, was sich da zusammenbraut. Wir haben soeben ein Stückchen südlich von hier den Bergrücken überquert. Außer den Rotchinesen hier haben wir in der benachbarten Bucht drei Lenkwaffenschnell boote gesehen. Chris sagt, dass es sich um taiwanesische HaiDo-Boote handelt. Da kommt wohl einiges auf uns zu.« »Verstanden, Retailer Zero One. Halten Sie Ihre Position.« Amanda setzte sich wieder mit dem CIC in Verbindung. »Lieutenant Selkirk, hier spricht die Kommandantin. Könnten die drei Schiffe der Kontakt sein, den Sie ausgemacht haben?« «Negativ, Ma’am«, antwortete der Intel-Offizier entschie den. »Die Emissionen von diesen Schiffen sind klar und deut lich. Der erste Kontakt war kaum wahrzunehmen.« Amanda nickte und überlegte kurz. Einige Sekunden ver strichen, ehe sie ihren Plan parat hatte. »Zweiter Rudergänger, klar für Hauptantrieb,« Dann wandte sie sich über Bordfunk an ihre Besatzung. »Alle Stationen, hier Brücke. Wir haben folgende Situation: Die Roten laufen direkt in einen Hinterhalt. Vom Meer her pir schen sich Raketenschnellboote der GA heran und in der nächsten Bucht lauern auch schon welche. Ich schätze, es wird nicht lange dauern, und die GA feuern aus allen Rohren auf die rotchinesischen Schiffe. Das werden wir ausnützen, um uns davonzumachen. Stealth-Systeme?« »Stealth, aye.« »Mr. McKelsie, wir versuchen, allein mit den passiven Stealth-Systemen hier rauszukommen. Halten Sie aber alle aktiven Störeinrichtungen und Täuschkörper-Systeme be reit.« »Verstanden.« »Taktik-Offizier.« »Hier, Ma’am.«
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»Dix, machen Sie ein paar HARM-Flugkörper startklar. So bald uns jemand mit seinem Feuerleitradar aufs Korn nimmt, feuern Sie direkt den Strahl entlang.« »Gilt das für Rote und GA gleichermaßen, Ma’am?« »… Negativ. Nur für die Rotchinesen. Ich glaube, so partei isch können wir sein.« »Verstanden.« »Schiffstechnische Zentrale.« »Aye?« »Volle Kraft, Chief.« »Was sonst?«, antwortete Commander Thomson der lei tende Ingenieur, fast ein wenig überrascht. »Air One.« »Air One, aye«, antwortete Lt. Nancy Delany aus der Flug einsatzzentrale, die sich am achterlichen Ende der Decksauf bauten befand. »Bereiten Sie alles für die Landung Ihres Chefs vor. Ich möchte den Hubschrauber so schnell wie möglich unter Deck haben.« »Ich bereite alles vor, Ma’am.« Amanda setzte sich wieder mit dem Hubschrauber in Ver bindung. »Gray Lady an Retailer Zero One. Halten Sie Ihre momen tane Position und beobachten Sie die GA-Raketenboote. Mel den Sie uns, wenn sie das Feuer eröffnen, und fliegen Sie dann den Bergrücken entlang zum Schiff zurück. Wir werden die Bucht so schnell wie möglich verlassen und uns dann in nord östlicher Richtung halten. Ich wiederhole, Richtung Nordost. Folgen Sie uns und landen Sie so rasch wie möglich. Auf dem Hubschrauberdeck ist alles für Sie bereit.‹‹ »Roger«, antwortete Arkady knapp. »Wird gemacht.« Amanda ging hinter der Steuerstation auf und ab. Der Ru dergänger hatte die Seekarte der Bucht bereits auf seinem Bildschirm. Auch die Wassertiefe wurde auf einer Computer grafik angezeigt. Mit der linken Hand steuerte er den Hydrojet-Antrieb, während er mit der rechten die Ruderanlage be diente. Neben ihm hatte der Zweite Rudergänger eine Hand auf
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die Schraubenverstellung gelegt, während die andere auf dem Leistungshebel ruhte. Die Anzeige vom Generatorraum zeigte maximale Leistung – dementsprechend war von unten das leise Heulen der enormen Rolls-Royce-Gasturbinen zu vernehmen. Amanda legte dem Rudergänger die Hand auf die Schulter. »Okay. Wir machen es wie folgt: Ich habe nicht so viel Zeit, um Befehle zu geben, deshalb werden Sie die Sache selbstständig durchziehen. Es gibt hier einige Untiefen – halten Sie uns also schön in der Mitte der Fahrrinne. Sobald wir aus der Bucht sind, drehen wir nach Nordosten ab. Ich sage Ihnen genau, wann. Alles klar?« »Ja, Ma’am«, antworte der junge Seemann angespannt. Dann hieß es warten. Eine Minute verstrich … dann noch eine ,.. Von Süden her schien plötzlich ein Blitz über den Himmel zu zucken. »Das ist es!«, ertönte Arkadys Stimme über Funk. »Die GA greifen an!« »Los!«, rief Amanda. »Alle Maschinen volle Kraft voraus!« Die beiden gegenläufigen Schrauben am Ende der Antriebs gondeln setzten sich in Bewegung, worauf das Wasser am Heck des Schiffes aufschäumte und die Duke auf einer mäch tigen Bugwelle lostritt. Etwas weiter seewärts in südlicher Richtung erhob sich ein riesiger Pilz aus orangefarbenem Licht in den Himmel, gefolgt von einem mächtigen Donner. Von mehreren Raketen getrof fen, ging die kleine Fregatte, die die beiden Zerstörer beglei tete, in Flammen auf. Die Explosion in ihrem Munitionsdepot machte die Katastrophe perfekt. Auch das Führungsschiff der Zerstörer hatte einen Treffer abbekommen, wie das Feuer auf seinem Achterdeck zeigte. Doch die kleine taiwanesische Antischiff-Rakete des Typs Hsiung Feng (männliche Biene) hatte den etwas stabiler ge bauten Zerstörer nicht lebensgefährlich getroffen. Das lädierte Kriegsschiff begann sich nun zusammen mit seinem unbe schädigten Partner zur Wehr zu setzen und aus allen Rohren auf die Angreifer zu feuern.
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Die GA hingegen schienen ihr Pulver verschossen zu ha ben, nachdem sie keine Raketen mehr in den Startrampen hat ten, und so zogen sie sich nach Süden zurück. Sie würden keine Bedrohung mehr darstellen, dachte Amanda – ganz im Gegensatz zu den rotchinesischen Schiffen, die wahrschein lich gleich beidrehen würden. Und das verminderte Radar profil der Duke war wohl dem eines nationalchinesischen Hai-Do-Bootes nicht ganz unähnlich. Amanda starrte auf das Log und beschwor es förmlich, schneller zu steigen. Einundzwanzig Knoten … Zweiundzwan zig … Dreiundzwanzig … Die Cunningham verließ die Bucht und beschleunigte mit je der Umdrehung der Schrauben. Amanda rief die Navigati onsdaten auf und stellte fest, dass die Wassertiefe unter dem Kiel kontinuierlich zunahm. »Rudergänger, Ruder nach Backbord, neuer Kurs null-vierfünf.« »Ruder Backbord, neuer Kurs null-vier-fünf, Ma’am!« »Mr. McKelsie, hat uns schon jemand entdeckt?« »Negativ. Keine Radarsuche in unsere Richtung!« Fünfundzwanzig … Sechsundzwanzig … Siebenundzwanzig … »Capt’n, Luftkontakt, Peilung eins-acht-null Grad.« Auf den Monitoren war bereits zu erkennen, wie Retailer Zero One rasch zum Schiff aufschloss, bis er nur noch wenige Meter vom Deck entfernt war. Diesmal konnte sich Arkady nicht mit solchen Feinheiten wie der Windrichtung und dem richtigen Gleitwinkel abgeben. Er flog einen leichten Bogen und stieg noch einmal, um das Fahrwerk auszufahren. Ein Manöver ging nahtlos ins nächste über, bis Retailer Zero One schließlich über der Landeplatt form des Zerstörers schwebte. Arkady kämpfte gegen die Tur bulenzen an, die in der Nähe der Decksaufbauten am Heli kopter zerrten und hielt die Balance, bis Retailer Zero One schließlich federleicht mitten im Zentrum des Hubschrauber aufzuges aufsetzte. Amanda beobachtete, wie die Rotoren zum Stillstand ka men und einige Matrosen herbeieilten, um den Hubschrauber zu sichern. Die Cockpithaube öffnete sich, und die dunkle Ge
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stalt im vorderen Sitz hob die Hände zum Zeichen des Tri umphs; dabei wandte sich der Pilot genau der Monitorka mera – und damit auch Amanda – zu. Sie warf wieder einen Blick auf das Log. Sechsunddreißig Knoten … Siebenunddreißig… Geschafft. Kein Luda-Zerstörer war in der Lage, sie jetzt noch einzuholen – und wenn er den Teufel selbst und dazu noch den Geist von Mao Tse-tung an Bord gehabt hätte. Etwas weiter südlich war das Geschützfeuer verebbt. Nur zwei helle Punkte waren noch zu erkennen – der brennende Zerstörer und die Feuerhölle der vernichteten Fregatte. Ein kurzer Blick auf die Emissionsanzeigen ließ erkennen, dass weit und breit kein Radar mehr aktiv war. Niemand hier in der Gegend dachte noch daran, den Kampf fortzuset zen. Amanda verspürte eine unendliche Erleichterung. Zu spät, ihr Halunken. Uns erwischt ihr nicht mehr! Sie trat auf die Steuerbord-Brückennock hinaus. Hier draußen, abseits der verschiedenen Sichtsysteme, war die Nacht noch so, wie sie sein sollte. Hoch oben wölbte sich die nebelhafte Leuchtspur der Milchstraße über den Himmel, von unzähligen Sternen umgeben. Hinter dem Heck der Duke verschwand die dunkle Silhouette der chinesischen Küste all mählich in der Ferne. Amanda entledigte sich der Schwimmweste und des Helms und ließ beides zu Boden fallen. Sie genoss die kühle Brise des Fahrtwindes und fragte sich für einen kurzen Au genblick, ob es für die Disziplin auf dem Schiff wohl von Nachteil wäre, wenn die Kommandantin einen Freudenschrei ausstieße. Amanda blickte von ihrem Kommandosessel aus über die Schulter zurück, als Christine und Arkady die Brücke betra ten. Arkady stellte sich neben sie und sagte betont förmlich: »Capt’n, ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich die vereinbarte Zeit nicht einhalten konnte. Eine unerwartete Be gegnung mit rotchinesischen Truppen zwang mich zu einem
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Umweg, um die Sicherheit des Unternehmens nicht zu ge fährden.« Amanda nickte. «Ende gut, alles gut, Lieutenant. Wir alle hatten heute die eine oder andere unerwartete Begegnung. Wie ist Ihre Mission verlaufen?‹‹ »Der Bolzen ist versenkt«, berichtete Christine. »Alles funk tioniert wie geplant.« »Dann hätten wir diesen Teil unserer Aufgabe erledigt – zu mindest, bis irgendetwas kaputtgeht oder entdeckt wird. Wir werden morgen Nachmittag mit der Task Force zusammen treffen und dabei nachbunkern. Danach können wir uns nach Shanghai auf den Weg machen und nachsehen, was uns un sere Systeme Neues liefern.« »Gut«, antwortete die Intel-Offizierin. »Entschuldigung, Ma’am, ich müsste demnächst einmal eine kurze Nachricht durchgeben. Wir haben da einige Dinge beobachtet, die wir unbedingt weitergeben sollten.« »Nun, ich wollte sicherheitshalber noch eine halbe Stunde im Stealth-Modus bleiben. Im Funkraum bereiten sie schon al les für einen Bericht über die Kämpfe hier vor, Da könnten Sie Ihre Sache doch gleich anhängen.« »Ja, das müsste klappen.« Amanda blickte zwischen den beiden Offizieren hin und her. »Na, wie ist es da draußen gelaufen?« Arkady zuckte mit den Schultern. »Alles so, wie es sein sollte, wenn man von den paar Umwegen absieht, die wir ma chen mussten.« »Ja«, bestätigte Christine. »Eine romantische Nacht unter dem Sternenhimmel, und das mit einem flotten Piloten. Das sollten Sie auch mal probieren, Skipper.« Noch bevor Amanda auf die launige Bemerkung antworten konnte, hatte sich Christine schon umgedreht und ging nach achtern. Arkady blieb bei ihr stehen. Er lehnte sich betont lässig ge gen den Kommandosessel und blickte aus dem Fenster. Ei nige Minuten vergingen, ehe Amanda erneut fragte, diesmal so leise, dass nur er es hören konnte. »Nun, wie lief es wirklich?«
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»Oh, ganz gut, wenn man bedenkt, dass es nicht ohne Zit tern abging. Aber alles halb so wild, solange man den Steuer knüppel noch halten kann.« »Hier war es ungefähr das Gleiche.« Sie ließ ihre Hand von der Armlehne ihres Sessels hinab gleiten. In der frühmorgendlichen Dunkelheit trafen sich ihre Hände. Eine ganze Weile hielten sie einander fest.
Hotel Manila Republik Philippinen 8. August 2006, 08:41 Uhr Ortszeit Lucena Sagada war Linkshänderin. Diese Eigenschaft war im Moment überaus nützlich, denn so konnten sie und Van Lyn den sich den Schreibblock teilen, der zwischen ihnen auf dem Tisch der amerikanischen Delegation lag. Ihr Gesicht war völ lig ausdruckslos, als sie ihren Kugelschreiber über das gelbe Papier gleiten ließ. Ich verstehe ja, dass es der asiatischen Diplomatie entspricht, nichts direkt auszusprechen, aber könnte uns nicht irgendjemand ei nen kleinen Hinweis geben, was er wirklich will? Der Außenminister ließ die Mundwinkel nach oben zucken und schrieb seinerseits auf das Papier: Für den Augenblick haben die Hauptakteure genau das, was sie wollen. ? Sie wollen Zeit gewinnen. ??? Der stellvertretende Ministerpräsident der Volksrepublik China war der erste gewesen, der an diesem Morgen ans Red nerpult getreten war. Jetzt, eine halbe Stunde später, sprach er noch immer mit leiser, fast zögernder Stimme. Seine Rede, die den Anwesenden über Ohrhörer gedolmetscht wurde, ent hielt all die gewohnten Phrasen vom ›Kampf des Volkes‹ und
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der ›kapitalistischen Aggression‹ bis hin zum ›westlichen Im perialismus‹. Doch abgesehen von diesen ziemlich allgemein gehaltenen Vorwürfen schien er kein wirkliches Ziel zu verfolgen. Das war durchaus charakteristisch für die ersten beiden Tage des Krisengipfels gewesen. Dieser Mangel an deutlichen Worten schien jedoch nieman den so recht zu beunruhigen. Im Gegenteil, auch die Delega tionen aus Japan, den Philippinen und Korea sowie die Ver treter des anderen China trugen das Ihrige zu dem allgemeinen Austausch von höflichen, aber im Grunde nichts sagenden Floskeln bei. Und die asiatischen Staatsmänner saßen da und lauschten den Reden, ohne die geringste Ge fühlsregung erkennen zu lassen. Es war eine Umgebung, die manch ein westlicher Politiker beunruhigend gefunden hätte. Doch Van Lynden war bereits mehrmals hier gewesen. Sie haben deshalb noch nichts gesagt, weil sie noch nichts zu sa gen haben, schrieb er für seine Assistentin auf. Alle haben zuerst einmal ihre Kommunikationskanäle eingerichtet und getestet. Und jetzt wartet jeder auf ein Zeichen, dass die eigentliche Show beginnt. Das große Gefecht auf dem chinesischen Festland? Ich glaube, ja. Im nächsten Augenblick wandten sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Redner zu. Die englische Übersetzung von Minis terpräsident Changs Worten vermittelte immer noch nichts Nennenswertes, doch in seiner Stimme machte sich zum ers ten Mal so etwas wie echte Emotion bemerkbar. »… Ich möchte alle, die an dieser Konferenz teilnehmen, und außerdem die ganze Welt daran erinnern, welche Triump he und Tragödien die Volksrepublik China schon erlebt hat. Wir haben stets alles gewagt und auch die schwersten Prüfun gen bestanden! Während die anderen sozialistischen Staaten aufgaben, haben wir weitergekämpft! Es ist unsere feste Ab sicht, niemals nachzugeben …« Van Lynden beobachtete, wie der Blick des klein gewachse nen, stämmigen Mannes im Saal hin und her wanderte, ehe er schließlich auf den Vertretern Taiwans und der chinesischen
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Rebellen hängenblieb. Sein Gesicht zeigte keine Regung, doch ein kaltes Glitzern belebte seine Augen. Gib Acht, Genosse, dachte der amerikanische Außenminis ter. Sonst lässt du deine Maske noch ganz fallen. Ich weiß, dass du alle hier in diesem Raum hasst und dass du es nur zu gerne zeigen würdest. »Trotz der blindwütigen Rebellion, trotz der Arglist und Betrügereien der GA und trotz der Einmischung von außen wird die Volksrepublik China überleben!« Mit diesen Worten beendete Chang seine Rede und verließ das Rednerpult. Am Tisch der rotchinesischen Delegation blickte General Ho scheinbar unbewegt vor sich hin. Die stei nerne Miene des Soldaten ließ nicht im Geringsten erkennen, was er dachte oder fühlte. Bisher hatte er sich auf der Konfe renz auch noch nicht zu Wort gemeldet. Wieder begann Mrs. Sagada zu schreiben. Wenigstens wissen wir jetzt, wer der Chef der roten Delegation ist. Nein! Chang ist nur vorübergehend der Sprecher. Der wichtige Mann ist mit Sicherheit Ho. Wenn er anfängt zu reden, dann heißt es gut zuhören. Jorge Apayo, der philippinische Außenminister und Gast geber des Krisengipfels, trat ans Rednerpult und verkündete, dass der amerikanische Vertreter das Wort ergreifen wolle. »Jetzt sind wir an der Reihe«, murmelte Van Lynden seiner Assistentin zu. Er nahm den Ohrhörer ab, stand auf und stieg aufs Podium. Gerade als er die Mappe mit seinen Notizen öffnen und Luft holen wollte, um seine Rede zu beginnen, bemerkte er et was an seinem Tisch. Lucena Sagada war mit einem zweiten Ohrhörer direkt mit der U.S.-Kommunikationszentrale im Hotel verbunden – und sie neigte nun den Kopf, als würde sie soeben eine Nachricht erhalten. Im nächsten Augenblick griff sie nach ihrem Stift und kritzelte rasch ein paar Worte aufs Pa pier, Sie drehte das Blatt um, so dass Van Lynden ihre Bot schaft lesen konnte. Es ist so weit! Der Außenminister antwortete mit einem leichten Kopf
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nicken. Er atmete noch einmal tief durch und legte die Mappe mit den Notizen, die er sich gemacht hatte, beiseite. Dann beugte er sich über das Pult und begann zu sprechen. »Ladys and Gentlemen. In China herrscht Krieg. Menschen sterben. Es wird Zeit, dass wir uns an die Arbeit machen …«
1,5 Kilometer nördlich der national chinesischen Verteidigungslinien; Provinz Fujian, China 8. August 2006, 08:41 Uhr Ortszeit Der junge Offizier der nationalchinesischen Armee lag ausge streckt auf der säuerlich riechenden Erde, den Hörer des Feld telefons fest ans Ohr gedrückt. Das Trägersignal, das er hörte, war für ihn im Augenblick sehr wichtig – bedeutete es doch eine direkte Verbindung zu den drei anderen RaketenwerferFahrzeugen seiner Einheit sowie zu seinem Bataillonshaupt quartier. Sehr bald schon würde sein Leben von dieser Verbindung abhängen. Seine Panzerabwehreinheit war noch vor Tagesanbruch hinter nicht allzu dichtem Buschwerk in Stellung gegangen, um aus dem Hinterhalt angreifen zu können. Entscheidend war dabei gewesen, die geringe Zeit zu nützen, die zwischen dem Rückzug der rotchinesischen Nachtpatrouille und dem vermuteten Zeitpunkt des feindlichen Angriffs lag. Seine Fahrzeuge waren gut getarnt, was ihnen zusammen mit dem sich allmählich auflösenden Frühnebel einen gewissen Schutz bot. Sein Kommandofahrzeug, der Nachbau eines offenen Toyota Geländewagens, war mit einer taiwanesischen Version des israelischen Mapats-Panzerabwehr-Lenkwaffensystems ausgestattet. Sein Schütze kniete im Wagen neben der Waffe und spähte durch die Visiereinrichtung des Laser-Zielerfassungssystems. Der Fahrer des Wagens, der auch als Schütze
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fungierte, hockte direkt hinter ihm; in den Armen hielt er ei nen Polyester-Behälter mit einer neuen Lenkwaffe. Der nationalchinesische Offizier legte den Hörer für einen Augenblick nieder, schob seinen Helm beiseite und presste den Kopf an den Boden. Jetzt konnte er etwas anderes hören – ein tiefes Grollen, das sich über den Boden hinweg ausbrei tete. Er rückte den Helm zurecht, nahm den Hörer wieder zur Hand und sprach einen einzigen kurzen Satz: »Sie kommen.« Er irrte sich nicht. Dunkel-bedrohliche Gebilde schoben sich durch den Frühnebel heran. Es waren hauptsächlich Kampfpanzer und gepanzerte Mannschaftstransportwagen, die in der klassischen rotchinesischen Formation wie eine Stahlwand auf die nationalchinesischen Verteidigungslinien zurollten. » Feuerbereitschaft!« Der Panzerabwehroffizier behielt das Feldtelefon in der Hand, als er den Feldstecher an die Augen hob. Er brauchte seinen Leuten nicht zu sagen, worauf sie zielen sollten. Sie verstanden ihr Geschäft. Jetzt hieß es einfach warten. Die erste Linie gelangte bereits zu der alten, eingestürzten Steinmauer, die etwa einen Kilometer entfernt war. »Feuer!« Vier Laser-Zielerfassungsgeräte nahmen die rotchinesi schen Panzer ins Visier. Vier schwere Panzerabwehrwaffen folgten einen kurzen Augenblick später. Drei der vier orange farbenen Feuerlanzen fanden ihr Ziel. Die Sprengköpfe der Mapats-Lenkwaffen durchschlugen die Panzerung ihrer Ziele und setzten sie von innen in Brand. Luken flogen auf, und dunkle Wolken von ve rdampfendem Fleisch und Metall stiegen empor. Munition explodierte, und der massive Turm eines Panzers vom Typ 85 wurde in einem Flammenmeer vom Rumpf abgetrennt. Gute Salve! Ob man eine zweite riskieren sollte? Warum nicht! »Nachladen!« Hinter sich hörte er das hohle ›Klonk‹ des leeren Geschoss
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behälters, der aus dem Startgerät ausgestoßen wurde. Während innerhalb seiner Geschützbedienung die entspre chenden Befehle zum Nachladen weitergegeben wurden, be reitete er im Stillen seinen nächsten Schritt vo r. Draußen auf dem Gefechtsfeld begannen die Rotchinesen auf den Angriff zu reagieren. Die Mannschaftstransportwa gen hielten an, die Rampen am Wagenende wurden abge senkt und Dutzende von Infanteristen stürmten ins Freie. Die Geschützrohre der Panzer schwenkten herum und suchten ihr Ziel, und im nächsten Augenblick wurden die nationalchi nesischen Stellungen mit Leuchtspurgeschossen aufs Korn genommen. »Feuer!« Vier weitere Lenkwaffen jagten über das weite Feld hin weg. Vier Ziele wurden zerstört. Der junge Offizier beobach tete durch seinem Feldstecher einen rotchinesischen YW-534Mannschaftstransportwagen in dem Augenblick, als er getroffen wurde. Die Rampe am Wagenende war bereits un ten, doch die Soldaten hatten nicht mehr genug Zeit zum Ab sitzen gehabt. In einem orange-weißen Feuerball wurden sie verstümmelt nach draußen geschleudert. Er brüllte seinen letzten Befehl ins Feldtelefon. »Rückzug!« Der Ausruf war gleichzeitig der Befehl für die übrigen Ar tilleriemannschaften seiner Einheit und eine Meldung an sei nen eigenen Kommandanten. Mit einem jähen Ruck trennte er die Verbindung mit der Te lefonleitung, nahm das Feldtelefon und sprang auf den Bei fahrersitz seines Lenkwaffen-Fahrzeugs. Sein Fahrer saß be reits am Steuer und ließ den Motor an, während der Schütze die letzten Reste des Tarnnetzes entfernte. Über ihnen war ein leises Pfeifen und Dröhnen zu hören. Es stammte von 81-mm-Geschossen, die auf die rotchinesischen Stellungen zujagten. Wie vorher vereinbart, wurde der Feind nun mit Granatwerfern unter Beschuss genommen. Vor allem die Rauchgranaten würden, so hoffte man, dafür sorgen, dass sich die Panzerabwehreinheit erfolgreich zurückziehen konnte.
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Eine Hoffnung, die sich nur teilweise erfüllen sollte. Ein Panzer feuerte. Das am weitesten östlich stehende flog in die Luft wie eine Bierdose, die von der Garbe einer Schrot flinte getroffen wird. Die Leichen des Fahrers und des Schüt zen wurden aus dem Wagen geschleudert. Das Kommandofahrzeug schaffte es jedoch, das dünne Buschwerk zu durchbrechen, so dass kein Sichtkontakt mehr mit dem Feind bestand. Über ihnen ertönte jetzt ein neues Geräusch – das tiefe Heulen von Granaten aus schweren Hau bitzen. Die national chinesischen Verstärkungstruppen waren mit ihren 155 mm Haubitzen zur Stelle. Während die Fahrzeuge durch die Lücke im Minenfeld stießen und ihre Stellungen innerhalb der neuen Verteidi gungslinie des Bataillons bezogen, überdachte der junge Offi zier noch einmal den Einsatz, den er soeben miterlebt hatte. Er war durchaus erfolgreich verlaufen. Ein Raketenwerfer für sieben feindliche Panzerfahrzeuge. Außerdem hatten sie den rotchinesischen Ansturm lange genug aufhalten können, damit die eigene Artillerie die Feinde unter Beschuss nehmen konnte. Ja, ein recht erfolgreicher Einsatz. Er konnte nur hof fen, dass die Familien der Männer, die er soeben verloren hatte, es genauso sehen würden. Überall entlang der 30 Kilometer langen Front spielten sich ähnliche Gefechte ab. 55 000 rotchinesische Soldaten und 8000 Panzer rückten vor, um die nationalchinesischen Brückenkopf-Stellungen anzugreifen. Die Kämpfe wüteten auf allen Ebenen. Am Boden rollten die Panzer heran und brachten Zerstörung, waren aber oft mals nicht wendig genug, um dem feindlichen Abwehrfeuer auszuweichen. Hinter den Hügeln und Bergketten pirschten sich Kampfhubschrauber näher, um Bodenziele anzugreifen. In mittlerer Höhe bekämpften feindliche Flugzeugstaffeln einander, während in der Stratosphäre Artilleriegranaten und Raketen in hohem Bogen dahinjagten, um den feindlichen Truppen Tod und Verderben zu bringen. Man hätte sich schon sehr weit in den Weltraum hinausbe geben müssen, um Ruhe und Frieden zu finden. Und selbst dort wäre man noch einem stillen Beobachter begegnet.
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In einer Höhe von 25 000 Metern folgte ein ganz spezielles Fluggerät seiner Bahn. Es handelte sich um eine DarkstarAufklärungsdrohne, die mit ihrem grauen Tarnanstrich eher unauffällig wirkte. Die Darkstar war vom Boden aus kaum zu entdecken, während ihre schlanken Tragflächen sie durch den blauen Himmel trugen und ihre Beobachtungssysteme die Kampf handlungen auf der Erde systematisch aufzeichneten. Knapp tausend Kilometer weiter östlich zog das Kontroll flugzeug der Drohne seine Bahn. Das modifizierte KC-10Tankflugzeug unterhielt eine ständige Datenverbindung mit ihr. Regelmäßig wurden Fluglagen- und Navigationsanwei sungen durchgegeben und dafür die Daten empfangen, die von den Sensoren der Drohne geliefert wurden. Vom Kommunikationsraum der KC-10 aus wurden die Da ten an ein halbes Dutzend verschiedener Auswertungsstellen in den USA und dem Pazifikraum weitergegeben. Das Inter esse am Ausgang dieses Gefechts war allerorts sehr groß. »Also gut, Major. Was geht da draußen vor sich?« Sam Hanson und Lane Ashley saßen in dem dunklen Kon ferenzzimmer des Pentagon. Der Sicherheitsberater des Präsi denten und die NSA-Direktorin warteten auf den neuesten Lagebericht über den fernen Konflikt. Der Offizier, der gekommen war, um ihnen Bericht zu er statten, stand neben einer Computergrafik-Karte des chinesi schen Festlandes. »Im Augenblick, Sir, scheint mir das Herzstück der rotchi nesischen Gegenoffensive die Dritte Panzerarmee zu sein. Darin sind die größten mobilen Reservetruppen ihrer Armee vereint.« Der Offizier zeigte auf die Schlüsselpositionen, und sein Arm warf einen Schatten auf den leuchtenden Bildschirm an der Wand. »Sie greifen den nationalchinesischen Brückenkopf von Norden und Westen an, und zwar in drei voneinander unab hängigen Stoßrichtungen. Hier, von Fuzhou, Nanping und Sha Xian aus, mit je einer Marschsäule in Divisionsstärke. Das
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Ziel der Kommunisten ist eindeutig. Sie versuchen den Brückenkopf der GA zu zerstören, bevor die Vereinigten De mokraten den Durchbruch zu den GA schaffen.« »Wie sind ihre Erfolgsaussichten?«, fragte Lane Ashley. »Die Roten werden ordentlich eins über die Rübe bekom men, wenn ich das mal so sagen darf.« »Sie scheinen sich da ziemlich sicher zu sein, Major.« »So ist es, Ma’am«, antwortete der Offizier. »Die Roten ha ben gehofft, dass sie erst einmal den Rebellen einen Schlag versetzen können, um dann die GA zu vertreiben, bevor die Rebellen sich wieder sammeln können. Sie haben noch nicht gemerkt, dass sie den Wettlauf verlieren werden.« »Sind die Vereinigten Demokraten schon so weit?« »Ja, Ma’am. Wenn unsere Nachrichtendienst-Informationen stimmen, sind sie schon seit Tagen bereit. Wir glauben, dass sie schon auf den Angriff der Kommunisten warten. Jetzt, wo die Kommunisten ihre Offensive gestartet haben, werden die VDC-Truppen bald hier am Fluss Shatau auftauchen, wahr scheinlich noch innerhalb der nächsten 24 Stunden.« Hanson nickte. »Das klingt plausibel, Lane. Die Roten wer den von zwei Seiten in die Zange genommen. Sobald sie den nationalchinesischen Brückenkopf angreifen, haben sie nicht mehr genug Einheiten zur Verfügung, um auf die Offensive der Rebellen zu reagieren.« »Wie wird es den Nationalisten ergehen?« »Die Roten können vermutlich hier und dort ein paar Kilo meter Gelände gewinnen, aber der entscheidende Durch bruch wird ihnen nicht gelingen. Sie werden ein ziemliches Fiasko erleben«, antwortete Hanson. »Genau, Sir«, pflichtete der Offizier ihm bei. »So dürfte es kommen. Wir vermuten, dass die Roten den Großteil der Drit ten Panzerarmee verlieren. Bis nächste Woche um diese Zeit sollten die Rebellen bei Shantou den Durchbruch geschafft ha ben. Dann werden sie nach Norden weiterziehen und zu den GA stoßen. Die Roten werden dann nicht mehr die Mittel zur Verfügung haben, um sie aufzuhalten.« Die Lichter im Raum gingen an, und der Offizier wandte sich vom Bildschirm ab und den beiden Anwesenden zu.
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»Wir gehen davon aus, dass die Verteidigung der Volksrepub lik China zusammenbrechen wird und dass sie die gesamte Provinz Fujian verlieren werden. Wahrscheinlich werden sie erst wieder irgendwo am Wenzhou-Fluss eine neue Frontlinie bilden können.« »Und dann?«, fragte Lane Ashley. »Das ist die große Frage, Ma’am. Die Leute von der RANDGefechtssimulation sind über diese Situation hinaus noch zu keiner Einschätzung gelangt.« »Dann verraten Sie uns, was Sie selbst vermuten, Major. Was glauben Sie, wie schwer der Rückschlag für die Volksre publik sein wird?« »Sehr schwer, Ma’am. Dieses Gefecht hier kann für den Verlauf des gesamten Krieges entscheidend sein. Etwa so wie Gettysburg oder Stalingrad. Wenn die Roten diese Schlacht verlieren, und es sieht ganz danach aus, dann glaube ich per sönlich nicht, dass sie sich noch einmal erholen können.« »Dem schließe ich mich an«, sagte Sam Hanson kopf nickend. »Ich glaube, wir erleben gerade den Anfang vom Ende.« »Gefällt mir nicht sehr, wie sie das ausdrücken«, sagte die NSA-Direktorin mit grimmiger Miene. »Major, wie steht’s mit dem rotchinesischen Arsenal an Atomwaffen? Gibt es da ir gendwelche Veränderungen?« »Darüber haben wir im Moment keine Informationen, Ma’am.«
Ostchinesisches Meer
110 Seemeilen nördlich von Jilong, Taiwan
8. August 2006, 22:21 Uhr Ortszeit »Irgendwie seltsam. Da haben wir eine ganze Fischereiflotte auf dem Bildschirm und hören kaum etwas von ihren Maschi nen. Sie scheinen sich immer mehr auf ihre Segel und Ruder zu verlassen.«
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»Das würde heißen, dass die Roten den Treibstoff rationie ren.« »Gut möglich, Jerry, aber ich glaube, das lässt sich noch nicht mit Sicherheit sagen. Es könnte ja auch sein, dass die Leute bloß einen günstigen Wind ausnützen. Wir werden das morgen anhand der Wetterberichte für die vergangenen Wo chen überprüfen. Dann wissen wir vielleicht schon mehr.« Seit über vier Stunden saßen sie bereits in Raven’s Roost, der Nachrichtendienst-Abteilung an Bord der Cunningham, und versuchten, das Problem zu knacken. Lieutenant J. G. Randy Selkirks Augen brannten bereits; außerdem wurde er von pulsierenden Kopfschmerzen geplagt, Seine Chefin je doch schien immer noch taufrisch zu sein. Das Einzige, woran man ihr ansah, wie lange die Analysesitzung schon dauerte, waren die Schokoriegelverpackungen, die sich auf der Kon sole der Work-Station angehäuft hatten. Das und die Brille. Christine Rendino setzte ihre Brille nur dann auf, wenn sie besonders lange und intensiv zu arbeiten hatte. Doch auch dann blickte sie nur selten wirklich durch die Gläser, Christine trug sie einfach auf der Stirn – als eine Art Hilfsmittel für noch konzentrierteres Nachdenken. »Okay, Jerry, was haben wir sonst noch?« Selkirk machte sich an seinem Computer zu schaffen. Lieu tenant Rendino dachte offensichtlich immer noch nicht daran, es für heute gut sein zu lassen. Wenn er ehrlich war, machte es ihm nicht einmal etwas aus. Die Intel-Offizierin der Duke sah zwar aus wie seine kleine Schwester, aber ihr bei der Arbeit zuzusehen war etwas, was ihn stets aufs Neue faszinierte. »Also …«, sagte er, »der Nachrichtendienst der Flotte hält nach einem rotchinesischen Küstenkonvoi Ausschau. Wie es scheint, haben sie ihn irgendwann aus den Augen verloren.« »Aha, da hat wohl jemand gepennt. Worum handelt es sich denn?« »Um einen Verband aus fünf Schiffen«, antwortete Selkirk. »Ein Küstenmotorschiff in der Größenordnung von etwa 650 Tonnen Verdrängung, zwei weitere Frachter von etwa 300 Tonnen und eines mit 200 Tonnen. Eskortiert werden sie von einem einzigen Küstenwachboot der Shanghai-IV-Klasse.«
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»Was wissen wir über sie?« »Der Konvoi ist im Hafen von Tsingtau zusammengestellt worden. Beladen sind die Schiffe mit allerlei Rüstungsgütern, wahrscheinlich auch mit Verpflegung, Ersatzteilen und der gleichen. Sie sind in der Nacht zum zweiten August ausgelau fen, in südlicher Richtung …« Während er noch sprach, glitten Lt. Rendinos Hände be reits über die Tastatur, die sie vor sich liegen hatte, um eine Karte aus der Navigations-Datenbank aufzurufen. »… Unsere Aufklärungssatelliten haben den Verband in den Häfen von Shijiusuo, Lianyungang und Sheyang geortet, und zwar war das am dritten, vierten und fünften August. Die Schiffe schienen hier nur einen kurzen Zwischenstopp einzu legen. Es gab keine Hinweise auf Ladetätigkeiten.« Die rechte Hand der Intel-Offizierin ging zur Maus, mit der sie die einzelnen Orte anklickte. »… Einmal wurde der Verband auch in der Nacht ent deckte, und zwar vor Andongwei, zwischen Shijiusuo und Li anyungang. Er wurde vom Radar einer P3E erfasst, die von Seoul kam. Der Verband lief mit ungefähr acht bis zehn Kno ten Fahrt weiter in Richtung Süden.« »Nichts Auffälliges bis jetzt«, stellte Lt. Rendino fest. »Sie haben sich einfach die Küste entlanggeschlichen. Den Tag ver brachten sie in einem sicheren Hafen, und in der Nacht mach ten sie sich wieder auf den Weg, um den Nationalchinesen zu entgehen. Was haben wir sonst noch?« »Die Spur verliert sich in Shanghai. Die beiden mittel großen Schiffe wurden angeblich bei Hangzhou Wan gesehen, aber die anderen sind praktisch von der Bildfläche ver schwunden. Die Flotte möchte nun herausfinden, was aus ih nen geworden ist – und auch aus den Gütern, die sie befördert haben. Sie haben nachgefragt, ob wir mit unseren Hydrophon-Bojen etwas entdecken konnten.« »Schon möglich, Jerry. Nummer eins befindet sich nördlich der Jangtse-Mündung. Sehen wir uns mal die neuesten Daten an.« Selkirk schob seinen Sessel zurück, so weit dies in der Enge der Intel-Abteilung möglich war, holte die entsprechende CD
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Box aus dem Schrank und rollte seinen Sessel wieder nach vorn. Er legte die CD ein und wartete einige Augenblicke. »Da haben wir’s«, sagte er schließlich. »Okay, rufen Sie das Audio-Material ab, das wir vom frühen Morgen des sechsten August haben. Der Zeitrah men … etwa … 0200 bis 0500. Wir suchen nach vier Dieselma schinen mit einer Schraube, die mit mittlerer Geschwindigkeit laufen, und einem mehrschraubigen schnelllaufenden Die sel.« »Suche eingeleitet.« Die Signalprozessoren durchsuchten die komprimierten Daten, die auf der CD enthalten waren, und wurden bereits nach wenigen Sekunden fündig. Ein weiterer Bildschirm leuchtete auf, der ein Muster von fünf passiven Sonar-Signalen zeigte. Fünf schimmernde Fre quenzbänder strömten von oben nach unten – eine grafische Darstellung der Geräuschsignaturen der Schiffe, die an der Boje vorüberzogen. Lt. Rendino schaltete den Ton dazu und stellte den Laut stärkeregler auf maximale Leistung. Jetzt konnten sie alles hören – die Kavitationsgeräusche der Schrauben, das Dröhnen der Maschinen und das Rauschen und Klatschen der Schiffsrümpfe, die sich ihren Weg durch die Wellen bahnten. Die beiden Intel-Offiziere hätten mit ihrem geschulten Ohr keine nähere Analyse gebraucht, um zu erkennen, um welche Schiffe es sich handelte. Sie erkannten jeden Ton, den die Schrauben von sich gaben, jedes Geräusch, das irgendein schlecht befestigtes Stück Frachtgut im Lade raum verursachte. Sie konnten sich den Konvoi vorstellen, als würden sie ihn mit eigenen Augen vor sich sehen. »Okay«, berichtete Selkirk. »Die Geschwindigkeit liegt zwi schen acht und zehn Knoten. Alles unverändert. Kein Zick zackkurs. Genaue Zeit 0310.« »Ja«, stimmte Christine zu. »Das kommt hin. Damit wären sie bei Sonnenaufgang vor der Jangtse-Mündung, Sie machen in Shanghai halt und fahren dann weiter. Warum ist der Flotte das nicht aufgefallen?« »Keine Ahnung, Lieutenant.«
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»Jerry, rufen Sie doch mal die Daten aus Shanghai ab. Ich möchte wissen, was für Aktivitäten es am sechsten August im Hafen gab. Überprüfen Sie, ob unsere Freunde dabei sind.« »Aye, aye.« Selkirks Hände glitten über das Keyboard, während er mit den Augen den Text überflog, der auf dem Bildschirm erschien. Er brauchte kaum fünf Minuten, um sich absolut sicher zu sein. »Nichts. Keine Schiffsverbände, die dem unseren gleichen. Auch keine Schiffe, die aus unserem Verband stammen könn ten. Überhaupt sehr wenig Aktivität.« »Verdammt! Wohin haben sich die Kerle verdrückt?«, fragte sich Christine stirnrunzelnd. »Sie könnten flussaufwärts gelaufen sein. Der Jangtse ist über 1500 Kilometer für Hochseeschiffe befahrbar.« »Mag sein, aber wir müssen sichergehen. Laden Sie das Material von Boje zwei herunter. Sie liegt ein Stück südlich der Mündung. Wenn der Konvoi uns irgendwie entwischt ist und weiter Richtung Süden gelaufen ist, müsste diese Boje ihn registriert haben.« Das Wechseln der CD dauerte nur wenige Augenblicke. »Da haben wir’s.« »Okay, Jerry. Suchen Sie nach der Geräuschsignatur des Konvois von 2100 bis 2400.« »Moment… nichts. Sie sind nicht da.« »Verdammt. Dehnen Sie den Suchrahmen aus – auf den ganzen sechsten August.« Diesmal dauerte die Suche ein wenig länger. Fünf vertraute Leuchtspuren bewegten sich auf dem Display von oben nach unten. »Da haben wir sie«, verkündete Selkirk. »Die Boje hat sie um 0731 erfasst.« »Was?« Christine beugte sich ruckartig vor und starrte auf den Bildschirm. »Sie sind einfach weitergefahren. Sie haben Shanghai passiert und sind am helllichten Tag die Küste ent langgetuckert!« »Da haben sie ihre Taktik aber ganz schon geändert.« »Das kann man wohl sagen. Und wahrscheinlich war das
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gar nicht klug von ihnen – aber das werden sie wohl bald selbst herausfinden.« Die Geräuschsignaturanzeigen auf dem Display verbreiter ten sich ein wenig und begannen leicht zu flackern. »Sie sind mit der Fahrt heraufgegangen und laufen jetzt auch Zickzackkurs,« »Das hätte ich mir denken können. Wirklich interessant.« Volle drei Minuten verfolgten sie die Spur des Konvois. Plötzlich ging eine der fünf Linien in einem runden Fleck von grünlichem Licht auf. »Anhalten«, wies Christine ihn an. »Dreißig Sekunden zurück und dann noch einmal abspielen – diesmal mit Ton.« Sie hörten das verzweifelte Dröhnen der Schiffsschrauben, während der Konvoi versuchte, sich in Sicherheit zu bringen. Dann kam der laute Knall, wie von einer Riesenfaust, die ein Loch in ein leeres Ölfass schlägt. Im nächsten Augenblick er starb das Geräusch der schnelleren Schrauben des eskortie renden Küstenwachbootes. Als der Nachhall der gewaltigen Detonation verebbte, folgten noch einige kleinere Explosio nen und das Knirschen und Bersten von Metall. Es war dies das Geräusch eines Schiffes, das regelrecht auseinander brach. »Preisfrage, mein Freund: Was haben wir soeben gehört?« »Einen Einschlag auf einem kleineren Schiff oberhalb der Wasserlinie«, antwortete Selkirk prompt. Er war diese Art von Fragen bereits von seinem Divisionsoffizier gewöhnt. »Sprengkopf mittlerer Größe. Eine einzelne Detonation. Präzi sionslenkwaffe, wahrscheinlich eine Antischiff-Rakete. Nach dem die Boje keine weiteren Über- oder Unterwasser-Geräusche aufgezeichnet hat, dürfte der Flugkörper aus der Luft gestartet sein.« »Sehr gut. Jetzt wo sie das Schiff, das über Flugzeugab wehrwaffen verfügte, ausgeschaltet haben, ist das Ganze ein Kinderspiel.« Lt. Rendino zeigte mit dem Finger auf die leuchtende Spur eines der überlebenden Schiffe. »Der hier kommt als Nächster dran.« Kaum hatte sie mit dem Fingernagel auf den Bildschirm ge tippt, endete die Spur in einem neuerlichen Feuerball. Das Dröhnen des Einschlags tönte aus den Lautsprechern.
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»Das war der größte der Küstenfrachter«, verkündete Christine und wand sich aufgeregt auf ihrem Sessel. »O, Gott! Da sind wirkliche Profis am Werk.« Erneut streckte sie die Hand aus und zeigte auf eines der Schiffe. »Jetzt dieser da. In ungefähr einer Minute.« Etwa zehn Sekunden vor Ablauf einer Minute begann es wieder aus dem Lautsprecher zu dröhnen. »Haben Sie das auch erkannt, Jerry?« Selkirk schüttelte bedauernd den Kopf. »Artilleriefeuer auf der Wasseroberfläche«, fuhr Christine fort. »Sie nehmen das kleinste Küstenschiff aufs Korn.« Sie lauschten, wie die Jäger aus der Luft ihre Beute verfolg ten. Die Schraubengeräusche des kleinen Schiffes gerieten ins Stottern, wie ein Herz, das nach und nach aufhört zu schlagen … bis es schließlich ganz verstummte. Es gab keine weiteren Einschläge mehr, und die Geräusche der beiden überlebenden rotchinesischen Schiffe verebbten schließlich in der Ferne. Lieutenant Rendino stellte die Aufnahme ab. »Wenn Sie den Bericht für die Flotte verfassen, Jerry – was werden Sie schreiben?« Selkirk holte tief Luft, um einige Sekunden zum Nachden ken zu gewinnen. »Der rotchinesische Konvoi wurde südlich der Jangtse-Mündung vo n Maschinen der taiwanesischen Luftstreitkräfte angegriffen. Ort und Zeitpunkt des Angriffs lassen vermuten, dass es sich um zwei Ching-Kuo-Jagdbomber handelte, die vom Fliegerhorst Jilong in Nordtaiwan aus operierten. Die beiden Jagdbomber dürften mit ihrer Standard-Antischiff-Ausrüstung bestückt gewesen sein, der Hsiung-Feng-II-Antischiffrakete. Die Art, wie der Angriff abge laufen ist, scheint ebenfalls für diese Waffe zu sprechen. Insgesamt wurden drei Schiffe versenkt – das Begleitschiff sowie die beiden Küstenschiffe von 650 bzw. 200 Tonnen. Die beiden überlebenden Schiffe sind in Richtung Hangzhou Wan weitergelaufen.« Christine Rendino nickte anerkennend. »Nicht schlecht. Aber Sie haben drei Dinge vergessen, die ebenfalls interessant sein könnten, Punkt eins, die GA haben mit Luftbetankung
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gearbeitet. Ja, eine Ching könnte das Einsatzgebiet von Jilong aus auch ohne Betankung erreichen, aber nur sehr knapp. Diese Jungs hier haben sich ziemlich lang in niedriger Höhe herumgetrieben, so als brauchten sie sich um Treibstoff nicht zu kümmern. Punkt zwei, es hat sich um eine ganze Staffel von vier Ma schinen gehandelt, und nicht bloß zwei. Warum? Nun, sie ha ben sich ziemlich frei bewegt und sich kein bisschen darum geschert, dass sie nur einige Kilometer von einem wichtigen Stützpunkt feindlicher Luftstreitkräfte entfernt waren. Das sagt mir, dass sie zwei Kumpel dabeihatten, die sofort zur Stelle gewesen wären, wenn sich irgendein Spielverderber eingemischt hätte.« »Ja, das leuchtet mir ein.« Verdammt, warum ist mir das nicht selbst aufgefallen! »Und der dritte Punkt?« »Dass die Staffel von einem ganz ausgefuchsten Burschen angeführt wurde. Er nahm sich Zeit, um die taktische Situa tion zu beobachten, und schoss dann das einzige Schiff ab, das ihm hätte gefährlich werden können. In der Folge hat er seine verbleibende Munition so eingesetzt, dass er möglichst großen Schaden damit anrichtete. Es muss sich zumindest um den stellvertretenden Kommandeur des ganzen Geschwaders gehandelt haben, vielleicht sogar um den Kommodore selbst.« Selkirk schüttelte fast demütig den Kopf. »Warum mache ich mir überhaupt die ganze Mühe? An die Meisterin reicht ohnehin keiner heran.« Christine Rendino lächelte und zuckte die Schultern. »Tja, was soll ich sagen? So bin ich nun mal. Das hat was mit den Genen zu tun. Aber mal im Ernst, Lieutenant, wenn Sie weiter beim Nachrichtendienst bleiben wollen, müssen Sie sich eine Sache einprägen. Es genügt nicht, wenn Sie sich alles notieren, was der andere tut. Sie müssen ganz in ihn hineinschlüpfen, in seine Gedanken, damit Sie sich vorstellen können, was er als Nächstes vorhat.« Mit nachdenklichem Gesichtsausdruck fügte sie hinzu: »Zum Beispiel stellt sich die Frage, warum diese armen Chi nesen so einfach Selbstmord verübt haben.«
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»Sie meinen, indem sie am helllichten Tag die Küste ent langliefen?« »Ja. Zugegeben, die Dunkelheit ist auch nicht mehr der Schutz, der sie einmal war, aber sie ist immerhin etwas. Der Konvoi lag direkt vor Shanghai, dem am besten befestigten Hafen von ganz China. Warum haben sie nicht hier angelegt und gewartet, bis es dunkel wird – so wie sie das zuvor die ganze Zeit getan hatten?« »Vielleicht waren sie gezwungen, einen Termin einzuhal ten?« Die Intel-Offizierin schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn sie e s nötig gehabt hätten, Zeit zu sparen, dann wären sie weiter nördlich geblieben, also weiter entfernt von den Stützpunkten der nationalchinesischen Luftstreitkräfte. Nein, sie müssen aus irgendeinem Grund den Befehl bekommen haben, Shang hai zu passieren. Und der Grund muss so gewichtig gewesen sein, dass die Roten dafür einen ganzen Konvoi aufs Spiel setzten. Was also könnte da in Shanghai vor sich gehen, das wichtig genug ist, um ein solches Opfer zu rechtfertigen?« Selkirk hatte keine Antwort auf ihre Frage. Er glaubte auch gar nicht, dass sie eine erwartete. Christine Rendino griff nach der Papiertüte zu ihren Füßen und holte einen weiteren Milky-Way-Riegel hervor. Sie öff nete ihn, beugte sich über die Konsole und nahm einen Bissen, um wieder etwas Energie nachzutanken. Währenddessen starrte sie unverwandt auf die leuchtende Karte mit den Gewässern vor Shanghai, wie eine Katze, die das Mauseloch nicht aus den Augen lässt.
200 Seemeilen nördlich von Miyako-Jima 9. August 2006,10:41 Uhr Ortszeit Die Aussicht, die Amanda vom Hubschrauber aus genoss, war durchaus bemerkenswert. War die Cunningham so etwas wie die scharfe Schneide der U.S. Navy vor der chinesischen
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Küste, so hätte man Fleet Task Force 7.1 als das mächtige Schwert bezeichnen können. Voraus liefen in präzisen Zehn-Grad-Intervallen die ASWZerstörer, die den Weg für den gesamten Verband bahnten. An den Flanken waren die beiden Aegis-Kreuzer postiert, de ren Aufgabe es war, die anderen Schiffe mit einem Luftabwehr-Schild aus Radar und Lenkwaffen zu schützen. Amanda blickte nach hinten, vorbei am Fenestron-Heckrotor des Sea Comanche, und sah ihr eigenes Schiff, das sich an der Seite des AOE-Schiffes der Sacramento-Klasse aufhielt. Die Duke und der schnelle Gefechtsverband-Versorger liefen so nahe nebeneinander her, dass das schneeweiß aufschäu mende Kielwasser der beiden Schiffe eine Einheit bildete. Die knapp fünfzig Meter Seitenabstand wurden von Treibstoff schläuchen und Trossen zur Beförderung wichtiger Güter überbrückt, so dass der Zerstörer im Rahmen einer so genann ten UNREP (Underwayreplenishment)-Operation seine Vorräte während der Fahrt ergänzen konnte. Der Mittelpunkt des gesamten Verbandes lief direkt vor der Duke: es handelte sich um ein riesiges Gebilde mit würfelför miger Kommandozentrale, genannt die ›Insel‹ – ein besonde res Merkmal, das noch von einem Radarsystem stammte, das im Grunde nie allzu gut funktioniert hatte. Und das Schiff war die große alte Dame der Flotte, der Flugzeugträger U.S.S. En terprise. In mehreren Reihen standen die Flugzeuge auf den Decks, und die Sonne, die von den Cockpithauben reflektiert wurde, verlieh dem gesamten Schiff einen eigentümlichen Glanz. »Ein wirklich schönes Bild«, murmelte Arkady ins Mikro fon des Interkom. »Stimmt«, pflichtete Amanda ihm bei. »Das ist ihr letzter Einsatz im Westpazifik. Sie mussten schon einen der Reakto ren abschalten. Wenn sie diesmal nach Hause zurückkehrt, geht’s zum Abwracker.« »Ja.« Sie sah, wie Arkadys Helm sich zustimmend bewegte. »Ich muss dir etwas verraten. An dem Tag, an dem sie zum letzten Mal die Flagge der Enterprise einholen, werde ich mir einen ansaufen und heulen wie ein Schlosshund.«
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»Mir wird’s nicht anders gehen, Arkady.« Der Pilot drückte auf die Sprechtaste der Funkanlage. »Air Boss Seven One Alpha, hier Retailer Zero One, auf dem Weg von der U.S.S. Cunningham zum Task-Force-Flaggschiff. Erbitte Landeerlaubnis.« »Retailer Zero One, wir haben gerade einen Landeanflug. Halten Sie Ihre Position an Steuerbord und achten Sie auf die anfliegende Maschine. Sie sind als Nächster zur Landung vor gesehen.« »Retailer Zero One. Roger.« Amanda drehte sich in ihrem Sitz um und blickte nach hin ten. Eine F/A-18-Super-Hornet befand sich gerade im Lande anflug und folgte dem unsichtbaren Strahl des Fresnel nach unten. Die Maschine hatte Fahrwerk, Landeklappen und Fanghaken ausgefahren und schwebte ein wenig zögernd vom Himmel herab, so als weigere sie sich, die Ungebunden heit des Fliegens aufzugeben. Erst als die Maschine zum Flug zeugträger herabsank, wurde offenbar, mit welcher Ge schwindigkeit und Dynamik sie immer noch unterwegs war. Eine blaue Rauchwolke stieg auf, als sie schließlich auf dem rutschfesten Belag des Flugdecks aufsetzte. »Retailer Zero One, hier Air Boss Seven One Alpha. Sie können jetzt mit der Landung beginnen. Fliegen Sie Lande punkt drei an. Achtung, Sie werden eingewiesen.« »Roger. Landeanflug wird eingeleitet.« Während der Helikopter die gut tausend Meter zum Träger zurücklegte, wechselte Arkady wieder auf die Bordsprechan lage. »Wie sieht deine Strategie aus?«, wollte er wissen. »Wie meinst du das?« »Das ist dein erstes Zusammentreffen mit Admiral Tall man. So wie ich dich kenne, hast du dir bestimmt einen Plan zurechtgelegt.« »Ach, es ist nichts Besonderes. Ich werde ihm nur klar zu machen versuchen, dass ich ihm nicht ins Handwerk pfu schen werde, wenn er uns in Frieden lässt.« »Obacht, schöne Lady. Es ist eine heikle Sache, einem Ad miral klar zu machen, dass man mehr weiß als er.« »Ich werd’s jedenfalls versuchen. Du kennst mich ja, mein
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Schatz. Ich hasse es, wenn mir die Hände gebunden sind.« Sie genossen die kleine Freiheit, einander mit Zärtlichkeiten zu bedenken, wenn niemand sie hören könnte. »Bist du dir da sicher? Auf diese Art haben wir’s noch gar nicht probiert«, erwiderte Arkady in amüsiertem Ton, und Amanda beugte sich vor, um ihm einen leichten Stoß gegen die Schulter zu versetzen. Das kreisförmige Decksymbol der Landeplattform wurde unter dem Helikopter größer und größer, bis er schließlich fe derleicht mit dem Fahrwerk aufsetzte. Einer der Matrosen des Flugdecks geleitete sie zur Kom mandobrücke des Trägers, wo bereits ein Marineinfanterist an der Luke stand und sie erwartete. »Capt’n Garrett?«, rief er, um sich in dem Lärm des Flug decks verständlich zu machen. »Admiral Tallman lässt Sie grüßen und bittet Sie, ihn in seiner Kajüte aufzusuchen.« »Sehr gut!«, rief sie zurück und nahm den Helm ab. »Gehen wir.« Amanda folgte ihm ins Innere der ›Insel‹-Aufbauten. Sie drehte sich kurz um und berührte wie zur Begrüßung das Me tall des Luks, das von den vielen Jahren zur See gezeichnet war. Landratten haben Freunde, Geliebte und Verwandte. Seeleute haben außerdem noch Schiffe. Amanda hatte bereits vor einigen Jahren Gelegenheit gehabt, die Enterprise zu be sichtigen. Es war ein gutes Gefühl, sie wieder zu sehen. »Entschuldigen Sie, Corporal, aber ich würde mich gern noch ein wenig frisch machen. Haben Sie immer noch ein Da menklo auf diesem Deck?« »Ja, Ma’am. Zwei Spanten nach achtern, diesen Gang ent lang.« Amanda öffnete den Reißverschluss des Fliegerkombis, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Darunter trug sie eine Khakiuniform – nicht eine für alle Tage, sondern ein maßgeschneidertes Stück mit scharfen Bügelfalten. Sie hatte schon überlegt, ob sie ihre weiße Uniform anlegen sollte – doch das war ihr schließlich doch ein wenig übertrieben er schienen. Auf ihre jüngst erworbenen Orden hatte sie jedoch nicht verzichtet.
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Wenn man sich schon in die Höhle des Löwen begab, nahm man alle Waffen mit, die man zur Verfügung hatte. Gentlemen, hier in diesem Raum gibt es genau ein Navy Cross, und es ist keiner von Ihnen, der es trägt. Sie nahm sich noch ein paar Augenblicke Zeit, um das Make-up zu überprüfen und ihr Haar zu kämmen, ehe sie so weit war. Das Quartier des Kommandanten der Enterprise zeigte ge nau die Mischung aus Luxus und Zweckmässigkeit, wie sie für solche Räumlichkeiten typisch war. Die Wandtäfelung aus Eichenholz und der marineblaue Teppich standen in krassem Widerspruch zu dem Gewirr von Kabeln, die sich an der Decke entlangzogen. Eingerichtet war das geräumige Büro, das gleichzeitig als Wohnzimmer diente, mit einer bequemen Ledercouch und mehreren lederbezogenen Stühlen. Die bei den Männer, die sich in der Kajüte befanden, erhoben sich ab rupt, als Amanda hereingeleitet wurde. »Commander Amanda Lee Garrett meldet sich zur Stelle, Sir.« »Stehen Sie bequem, Capt’n, und willkommen an Bord.« Admiral Tallman war ein stämmig gebauter Mann Anfang fünfzig, der sehr fit wirkte. Sein schwarzes Haar war schon recht schütter, und seine schmalen braunen Augen funkelten in einer Mischung aus Humor und Schläue. Als er ihr die Hand schüttelte, deutete er eine Verbeugung an, was etwas Kavalierhaftes an sich hatte. Mit dem Hauch eines Lächelns auf den Lippen nahm er den Orden über ihrer linken Brust wahr; er schien es ihr nicht übel zu nehmen, dass sie ihr Licht nicht unter den Scheffel stellte. »Capt’n Garrett, das ist mein Stabschef, Commander Nolan Walker.« Walker war ein etwas farblos wirkender Mann mit grauen Augen und blasser Haut, die keinerlei Kontrast zu seinem ergrauenden blonden Haar bildete. Als Amanda ihm die Hand schüttelte, spürte sie förmlich die Feindseligkeit, die von ihm ausging. Sie wusste nicht genau, ob es daher kam, dass sie eine Frau war, oder aber weil sie ein Schiff hatte und er nicht. Es gab in der modernen Navy nicht allzu viele Kom
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mandoposten zu besetzen, dafür gab es umso mehr Offiziere wie Walker, die auf der Karriereleiter ein wenig stecken blie ben. »Freut mich, Sie kennen zu lernen, Commander Walker«, sagte Amanda in ruhigem Ton. Tallman forderte Amanda mit einer höflichen Geste auf, Platz zu nehmen, und ließ sich selbst auf der Couch nieder. Walker zog es vor, stehen zu bleiben und lehnte sich gegen den Schreibtisch der Kajüte. »Es freut mich, dass wir uns endlich persönlich begegnen, Capt’n«, sagte der Admiral. »Ich habe schon viel von Ihnen und der Duke gehört.« »Ich hoffe, es war nichts Negatives, Sir«, erwiderte Amanda höflich. »Meine Nachrichtendienst-Leute haben mir einiges berich tet. Sie sagen, dass die Cunningham gute Arbeit leistet. Das Sensornetz, das Sie ausgelegt haben, scheint recht gut zu funktionieren.« Amanda nickte. »Ja, wir hatten bis jetzt Glück damit. Zu sammen mit unseren bordeigenen Elint- und Sigint-Systemen dürften wir ziemlich gut gerüstet sein. Ich muss das Lob aller dings an Lieutenant Rendino, meine Intel-Offizierin, und ihre Leute weitergeben. Sie sind es, die die eigentliche Arbeit lei sten.« Tallman zuckte die Schultern. »Trotzdem, Sie sind dafür verantwortlich, Capt’n. Da gibt es allerdings eine Sache, die mir aufgefallen ist. Sie operieren sehr nahe an der Küste, be sonders gestern Nacht.« Amanda nickte. »Das bringen Stealth-Operationen eben mit sich. Man kann das Radarprofil eines Schiffes von der Größe der Cunningham nicht auf null reduzieren; ein gewisses Radarecho bleibt also immer. Wenn man sich auf offener See herumtreibt, ist man besonders leicht auszumachen. Aber vor dem Hintergrund der Küste verliert sich das Radarprofil ein wenig.« »Und was ist mit landgestützten Radarsystemen?«, warf Walker mit einer gewissen Schärfe ein. Amanda hob die Schultern. »Landgestütztes Radar ist
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leichter zu umgehen als mobiles. Außerdem besteht immer die Hoffnung, dass man für ein Fischerboot gehalten wird.« Admiral Tallman runzelte die Stirn und gab ein zustim mendes Brummen von sich. »Und wie oft, glauben Sie, wer den Sie noch in chinesische Hoheitsgewässer eindringen müs sen?« Da lag also der Hund begraben. »Das ist schwer zu sagen«, antwortete Amanda nach einem kurzen Zögern. »Seit gestern ist das Sensornetz vollständig ausgelegt. Wir sollten keine Ar beit mehr damit haben – es sei denn, wir müssten eine schad hafte Boje austauschen. Ansonsten können wir einfach abwar ten, wie sich die Situation entwickelt.« »Wir haben den Bericht über Ihre Helikopter-Operation auf dem Festland erhalten, Capt’n«, warf Commander Walker ein. »Offen gestanden gibt es da einiges, was uns ziemliche Sorgen bereitet. Sie wären mit Ihrem Schiff fast mitten in ein erbitter tes Gefecht geraten.« »Ich stimme Ihnen zu, aber wir konnten uns rechtzeitig aus dem Gefahrenbereich zurückziehen. Das war bisher das ein zige Mal, dass es wirklich eng wurde.« »Ich höre immer ›bisher‹, Capt’n. Womit können wir als Nächstes rechnen?«, wandte der Stabschef ein. »Sie haben mich nicht erwischt, Commander.« »Trotzdem dürfen wir die Sache nicht auf die leichte Schul ter nehmen, Capt’n«, erklärte Admiral Tallman. »Wir operie ren hier im Randbereich eines Krieges. Es braucht nicht viel, und wir überschreiten die Grenze und werden da hineingezo gen.« »Dessen bin ich mir vollauf bewusst, Sir«, antwortete Amanda. Wie die Leitstute einer Herde Mustangs witterte sie die Falle, die auf sie wartete. Es war sicher nicht falsch, selbst mit schwereren Geschützen aufzufahren. »Und ich bin über zeugt, dass sich auch mein Vorgesetzter, Admiral MacIntyre, dessen bewusst ist.« Sie sah, wie Tallmans Blick für einen kurzen Moment zu seinem Stabschef wanderte. Aha, daher wehte also der Wind; die beiden hatten vor, sie ins Kreuzfeuer zu nehmen – der eine auf die sanfte, der andere auf die harte Tour. Bald schon wür
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den sie sie in ihrer Schlinge zu fangen versuchen – es galt also, wachsam zu sein. »Das Problem ist, dass die Cunningham nicht das einzige amerikanische Schiff hier draußen ist«, warf Walker ein. »Und die Rotchinesen werden sich keinen Deut um amerikanische Kommandostrukturen scheren. Wenn Sie sich zu weit vorwa gen, könnte es sein, dass eines unserer Schiffe dafür büßen muss.« »Ich verstehe Ihre Sorge, Commander«, antwortete Amanda behutsam. »Haben Sie einen Vorschlag, wie wir die Sache in den Griff bekommen können?« Diesmal sprang der Admiral ein, um sie wieder ein wenig ›auf die sanfte Tour‹ zu bearbeiten. »Wir glauben schon, dass wir eine Lösung haben«, sagte Tallman, den Faden des Ge sprächs aufgreifend. »Nun, Operation Uriah ist, genau ge nommen, das Kind von NAVSPECFORCE, aber nachdem wir beide hier operieren müssen, sollten wir uns auf eine gemein same Vorgangsweise verständigen. Unsere Intel-Leute arbei ten ja schon routinemäßig zusammen, und sie machen das sehr gut. Wir sollten das ausdehnen. Es wäre wirklich besser, wenn die rechte Hand weiß, was die linke tut.« Das war es also. Es war sehr höflich und zurückhaltend for muliert, doch es bedeutete nichts anderes als: ›Ich war zuerst hier – also hast du dich gefälligst nach meinen Spielregeln zu richten. ‹ Amanda lächelte. »Das erscheint mir vernünftig, Sir. Aber ich glaube nicht, dass ich eigenmächtig die Vorgaben meiner Mission so weit abändern darf. Ich denke, es wäre das Beste, wenn Sie sich direkt mit NAVSPECFORCE in Verbindung set zen und gemeinsam einen Plan ausarbeiten.« Ihre unausgesprochene Meinung lautete: »Scher dich zum Teufel! Du bist nicht mein Boss, das wissen wir beide ganz ge nau!« Amanda wartete, was nun folgen würde. Walker richtete sich verärgert auf, doch bevor er etwas sagen konnte, bremste ihn Tallman mit einem leichten Kopfschütteln. »Sie haben Recht, Commander Garrett«, sagte er schließ lich. »Das ist wohl der geeignete Weg. Wir werden uns darum
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kümmern.« Er erhob sich von seinem Sessel und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich schätze, Sie möchten jetzt zu Ihrem Schiff zurückkehren. Es hat mich sehr gefreut.‹‹ Amanda stand ebenfalls auf und schüttelte ihm die Hand. »Ganz meinerseits. Ich finde es immer gut, wenn man die Menschen, mit denen man zusammenarbeitet, persönlich kennen lernen kann.« »Ja, es fördert das gegenseitige Verständnis, Commander.« Nachdem Amanda die Kajüte verlassen hatte, vollzogen Ad miral Tallman und sein Stabschef ein altbewährtes Ritual. Commander Walker holte zwei Tassen starken Navy-Kaffee aus dem Automaten und stellte sie auf Tallmans Schreibtisch, während der Admiral die untere Lade öffnete und eine Fla sche Kentucky Bourbon hervorholte. Er öffnete sie und goss in beide Tassen ein genau bemessenes Quantum ein. Erst nachdem er die Flasche wieder verschlossen und in ihrem Versteck verstaut hatte, wandte er sich seinem Stab schef zu. »Nun, was denken Sie?« »Ich meine, sie ist ein ausgefuchstes Biest, und ziemlich karrieregeil obendrein. Ich fürchte, sie wird uns noch eine Menge Arger machen.« Tallman lachte kurz auf. »Nicht so zurückhaltend, Nolan. Sagen Sie ruhig ganz offen, was Sie denken.« »Im Ernst, Sir. Diese Garrett ist eine Gefahr für unser ganzes Unternehmen hier. Und sie bildet sich ziemlich viel ein.« »Ja, da haben Sie vielleicht nicht ganz Unrecht. Aber das muss kein Fehler sein.« Der Admiral nahm den ersten Schluck von seinem Kaffee. »Sie ist Kommandantin auf einem Zerstö rer, und diese Leute ähneln Kampfpiloten. Sie taugen nichts, wenn sie nicht auch ein klein wenig arrogant sind.« »Sie geht unnötige Risiken ein.« »Auch das gehört zu ihrem Job – solange das Risiko kalku liert ist. Nehmen wir die Sache so, wie sie ist. Mag sein, dass sie die Nase in unser Territorium steckt, aber sie kann uns an dererseits mit erstklassigem Nachrichtendienst-Material ver sorgen.« Tallman neigte seinen Stuhl ein Stück zurück. »Eddie
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MacIntyre scheint sie für das größte Ereignis seit der Erfin dung der Schiffsschraube zu halten, und er ist nicht leicht zu beeindrucken. Vielleicht sollten wir das Ganze einfach mal laufen lassen.« »Sir, wir haben keine Kontrolle über diese Frau!« »Das muss gar kein Nachteil sein. Wenn sie Mist baut – nun, dann ist sie eindeutig der Schützling von NAVSPEC FORCE, und wir haben damit nichts zu tun. Wenn sie aber al les richtig macht, dann geschieht es auf unserem Territorium, und wir stehen bestimmt nicht schlecht da.« Walker runzelte die Stirn und griff nach seiner Kaffeetasse. »Trotzdem … mir gefällt das nicht, Sir.« »Nehmen Sie’s nicht tragisch, mein Freund, Wir werden die Lady an der langen Leine fuhren. Entweder sie verheddert sich darin, oder sie fängt uns was Schönes damit ein.«
Rizal-Park, Manila 9. August 2006, 20:22 Uhr Ortszeit Der Rizal-Park war der beste Ort, an dem man einen Sommer abend in Manila verbringen konnte. Junge Menschen und Fa milien genossen hier die mittlerweile angenehmen Tempera turen, und die Musik aus ihren Radios und CD-Playern übertönte den Lärm der belebten Straßen rund um den Park. Die vielen Pflanzen und die frische Meeresbrise wiederum sorgten dafür, dass die wenig angenehmen Gerüche, wie sie für eine Stadt in den Tropen typisch waren, hier nicht zur Gel tung kamen. Van Lynden hatte seine Krawatte etwas gelockert und trug das Anzugsakko über der Schulter, als er langsam einen der gepflasterten Wege entlangschlenderte. Gleich zu Beginn des Krisengipfels hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, sich am Abend nach dem Essen hier im Park die Beine zu vertre ten. Es war eine willkommene Gelegenheit, um sich nach ei nem anstrengenden Tag zu entspannen. Gleichzeitig konnte
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er hier ziemlich gut nachdenken und sich seine Strategie für den kommenden Tag zurechtlegen. Er war so in Gedanken versunken, dass er den Mann nicht bemerkte, der quer über den Rasen kam, um ihn zu begrüßen. »Ein sehr angenehmer Abend, nicht wahr, Herr Minister?«, sagte eine Stimme, die Van Lynden kannte. Auch das Gesicht dazu hatte er in den letzten Tagen des Öfteren gesehen. »Ja, nicht schlecht, General. Dort, wo ich herkomme, ist es zwar ein wenig kühler, aber ich gewöhne mich langsam daran.« General Ho Chunwa aus der Volksrepublik China trug Zi vilkleidung – eine dunkle Hose und ein kurzärmeliges weißes Hemd. Nur seine soldatisch-aufrechte Haltung erinnerte an die Position, die er innehatte – das und die kleine Gruppe von Chinesen, die sich wachsam und mit ausdruckslosen Gesich tern im Park verteilten. Van Lynden war mit diesem Phänomen durchaus vertraut. Seine eigenen Sicherheitsleute hatten ebenfalls ihren schüt zenden Kreis um ihn gezogen, wenn sie sich auch diskret et was außerhalb der unmittelbaren Hörweite hielten. Die bei den Gruppen von Agenten vermengten sich nun im Park, ignorierten einander jedoch völlig, um sich einzig und allein auf ihren Schützling zu konzentrieren. »Ich habe Sie an den vergangenen Abenden auf Ihren Spa ziergängen beobachtet«, fuhr General Ho fort. »Auch ich be gebe mich um diese Tageszeit gern hinaus, um ein wenig fri sche Luft zu schnappen. Vielleicht können wir ein Stück zusammen gehen.« Die Nachdrücklichkeit, mit der er sprach, stand in krassem Widerspruch zu seinen höflich-nichtssagenden Worten. Van Lynden beschloss, mit dem General zu reden. »Fein. Ich würde mich über ein wenig Gesellschaft freuen.« »Sehr gut. Vielleicht könnten wir da hinüber gehen. Ich habe eine Aussicht entdeckt, die Ihnen, glaube ich, gefallen wird.« General Hos Aussichtsplätzchen eröffnete einen wirklich ansprechenden Blick auf die Bucht von Manila. Der General ließ sich auf der alten Betonbank nieder, die am Rande eines Springbrunnens stand.
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»So«, sagte Ho zufrieden. »Jetzt können wir uns unterhal ten.« »Ich habe gedacht, der Trick mit dem fließenden Wasser funktioniert heute nicht mehr«, erwiderte Van Lynden und setzte sich neben den chinesischen General. »Heutzutage kann man das Rauschen so weit herausfiltern, dass nur noch Ihre Stimme übrig bleibt.« »Das Geheimnis besteht darin, dass man das fließende Wasser zwischen sich und den Mikrofonen hat. Nachdem wir den Brunnen hinter uns haben und vor uns alles frei ist, glaube ich, dass wir hier doch unter uns sind.« »Das muss ich mir merken. Nun, General, was haben Sie auf dem Herzen?« »Ich wollte Ihre Meinung zu gewissen Fragen hören. Nicht die üblichen diplomatischen Aussagen, sondern Ihre wirkli che Einschätzung,« »Worüber?« »Über den Stand der Gespräche hier. Insbesondere, ob die GA und die Vereinigten Demokraten eine gewisse Flexibilität in ihrer Haltung zeigen. Gibt es irgendeinen Aspekt, den sie in den Verhandlungen noch nicht zum Ausdruck gebracht ha ben?« »General, Sie können nicht von mir erwarten, dass ich Ih nen Dinge verrate, die man mir im Vertrauen mitgeteilt hat.« »Das verstehe ich, Herr Minister. Ich frage ja auch nur, ob eine solche Möglichkeit besteht.« »Nun, ganz offen gesagt, ich glaube, dass alles, was für die Sache relevant ist, auch auf dem Verhandlungstisch liegt. Alle drei betroffenen Parteien – Sie, die GA und die Vereinigten Demokraten – scheinen mehr oder weniger die gleiche Devise zu haben: Sieg oder Untergang.« »Das stimmt wohl.« »Den Leuten vom VDC ist klar, dass sie jetzt, wo sie das Ganze begonnen haben, die Sache auch zu Ende bringen müs sen. Anders gesagt, ihre Anführer wissen genau, dass sie von Peking verdammt wenig Nachsicht erwarten können, falls sie scheitern. Die GA haben einen etwas größeren Spielraum. Aber sie wissen, dass das ihre große Chance ist, wieder Ein
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fluss auf dem Festland zu gewinnen. Was Ihr Volk betrifft, so bin ich überzeugt, dass allen bewusst ist, was auf dem Spiel steht.« »Sie sehen also keine Chancen für ein Übereinkommen?« »Chancen gibt es immer, General. Aber im Augenblick scheint keine der Parteien den anderen einen wirklichen Spielraum zu lassen.« Van Lynden fasste den spontanen Entschluss, eine kleine List zu versuchen. »Ja«, fuhr er fort, »ich überlege sogar, ob ich nicht aussteigen und die Führung der amerikanischen Dele gation dem hiesigen Botschafter überlassen soll. Ich hätte ei nige wichtige Dinge in Washington zu erledigen, und ich kann nicht meine Zeit hier verschwenden, wo sich doch alles nur im Kreis dreht.« Das war natürlich alles andere als wahr. Van Lynden hatte diesen Krisengipfel einberufen, weil er der Ansicht war, dass es sich um die schwerste und gefährlichste Krise handelte, mit der die Staatengemeinschaft im Moment konfrontiert war. Er hatte bestimmt nicht die Absicht, die Flinte ins Korn zu wer fen, solange auch nur die geringste Chance auf einen Erfolg der Verhandlungen bestand. Doch die Fragen des chinesi schen Generals hatten sein Interesse geweckt, und so hatte er zu dieser kleinen List gegriffen, um dem Mann eine Reaktion zu entlocken. Die ließ auch nicht lange auf sich warten. »Das dürfen Sie nicht!«, sagte Ho entschieden und häm merte mit der Faust auf die Bank. »Es ist absolut notwendig, dass Sie bleiben, Herr Minister.« »Warum, General?«, fragte Van Lynden mit leiser Stimme. »Es gibt da etwas – das ich noch nicht verraten darf. Ich kann Ihnen nur so viel sagen: Der Verlauf der Gespräche könnte sich in den nächsten Tagen radikal ändern. Wenn das passiert, dann ist Ihre Anwesenheit hier unbedingt erforder lich. Die Stunden, die Sie brauchen würden, bis Sie wieder hier sind, könnten entscheidend sein.« »Warum gerade ich, General? Was ist an meiner Anwesen heit so wichtig?« »Es gibt einen Grund: Ich werde bald meine erste Rede hier
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auf dieser Konferenz halten. Wenn der Sturm losbricht, muss jemand hier sein, der nicht direkt in die Krise involviert ist, die mein Land zu zerreißen droht, der aber doch auf die GA und die Vereinigten Demokraten einen gewissen Einfluss hat. Es muss jemand da sein, der sie zum Zuhören zwingt!« »Und was ist mit der Volksrepublik?« »Es liegt an den anderen, Herr Minister. Sie sind es, die zuhören müssen – denn wir werden sie nicht beacht en.« Es gab noch eine dritte Gruppe von Agenten, die sich an diesem Abend im Rizal-Park aufhielt. Der amerikanische Außenminister und der chinesische General vermuteten zwar ihre Anwesenheit, ohne sie jedoch zu bemerken. Sie waren bereits vor längerer Zeit aus Manilas chinesischer Volksgruppe angeheuert worden, um das Kommen und Gehen der Delegationen zu beobachten, die an den Krisengesprächen teilnah men. Und so war es nicht verwunderlich, dass sie auch das Treffen zwischen Van Lynden und Ho mitverfolgten. Sie konnten zwar nicht hören, was gesprochen wurde, doch sie konnten ihrer Kontaktperson berichten, dass das Treffen stattgefun den hatte. Aufgrund besonderer Sicherheitsmaßnahmen dauerte es einige Stunden, bis der Bericht die Suite erreichte, in der sich die De legationen Taiwans und der Vereinigten Demokraten aufhielten. Als die Nachricht dann eintraf, waren die Empfänger durchaus zufrieden.
54 Seemeilen Östlich von Xiangshan 10. August 2006, 12:01 Uhr Ortszeit Für jede Balletttänzerin ist Borodin eine ebenso schöne wie anspruchsvolle Aufgabe. Als die Schlussakkorde der ›Polo wetzer Tänze‹ erklangen, vollführte Amanda die letzten Be wegungen der Choreographie, die sie selbst entworfen hatte, und sank auf ein Knie nieder, den Kopf zurückgeworfen. Es kam kein Applaus. Ihr Publikum bestand aus einer
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Hand voll von Besatzungsmitgliedern, die am anderen Ende des Fitnessraumes an den verschiedenen Maschinen ihrem Krafttraining nachgingen. Früher hätte sie es vermieden, so vor aller Augen zu tanzen – nicht etwa deshalb, weil sie ihre Fähigkeiten für unzuläng lich hielt. Insgeheim dachte Amanda sogar, dass sie für eine Amateurin ziemlich gut war. Sie hatte vielmehr gemeint, dass es für einen weiblichen Offizier, der respektiert werden wollte, nicht förderlich sei, sich mit Balletttanz zu beschäftigen. Doch nach dem Einsatz in der Drake-Passage machte sie sich darü ber nicht mehr so viele Gedanken. Wenn das Navy Cross, das man ihr verliehen hatte, nicht ausreichte, um ihre Fähigkeiten zu bestätigen, dann würde ohnehin nichts mehr helfen. Sie hatte sogar begonnen, ein wenig Ballettunterricht zu geben. Amanda schaltete den tragbaren CD-Player ab und lehnte sich gegen das Schott. »Gegen Ende habe ich Sie nicht mehr tanzen sehen«, sagte sie zu dem kleinen keuchenden Bündel in bunter Sportkleidung, das neben ihr auf der Matte hockte. »Das liegt daran, dass ich es an der Stelle aufgegeben habe, wo ich mein linkes Bein hätte verknoten sollen«, erwiderte Christine schwer atmend. »Ich kapier’ das nicht. Ich bin sie ben Jahre jünger als Sie – und trotzdem sind Sie diejenige mit den Gummimuskeln und der Pferdelunge.« »Das liegt daran, dass es im Leben mehr gibt als Radar schirme und Milky-Way-Riegel«, entgegnete Amanda ein we nig selbstgefällig. »Aaah! Also, wenn ich mich beleidigen lassen wollte, dann würde ich McKelsie ersuchen, mir Ballettunterricht zu ge ben«, stöhnte die blonde Nachrichtendienst-Offizierin und ließ sich auf den Rücken zurücksinken. »Da sitze ich 24 Stun den am Tag unten in Raven’s Roost und bemühe mich heraus zukriegen, was in den Köpfen von eineinviertel Milliarden Chinesen vorgeht – und trotzdem behandelt man mich, als wäre ich ein Niemand. Kein Mensch mag mich. Am besten verkrieche ich mich irgendwo, wo mich keiner sieht.« »Aber, aber«, wandte Amanda ein und streckte ihre Beine aus. »Wir wissen Sie doch alle zu schätzen, Chris. Admiral Tallman hat mir gesagt, dass die Nachrichtendienstabteilung
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der Flotte sehr zufrieden damit ist, wie sich Operation Uriah entwickelt. Ich bin es übrigens auch. Ich werde Ihnen nachher einen Rieseneisbecher spendieren.« »Ich hätte lieber etwas anderes.« »Was denn?« Chris drehte sich auf den Bauch. »Einen Ausflug nach Shanghai, Mommy.« Etwas in ihrer Stimme sagte Amanda, dass sie das nicht mehr im Scherz meinte. »Wie meinen Sie das?«, fragte Amanda und hob eine Au genbraue. »Ich würde mich gerne ein wenig in Shanghai umsehen.« »Haben Sie etwas Auffälliges entdeckt?« »Es geht nicht so sehr um das, was ich sehe, sondern mehr um das, was ich nicht sehe«, erwiderte Christine mit nach denklicher Miene. »In letzter Zeit gehen eigenartige Dinge rund um Shanghai vor. Können wir kurz irgendwohin ver schwinden, wo wir ungestört sind?« »Sicher«, antwortete Amanda und warf sich das Handtuch über die Schulter. Sie erhoben sich und verließen den Fitnessraum. Draußen gingen sie den Gang entlang, bis sie zu einer leeren Nische ka men, die an das zweite Senkrechtstart-System angrenzte. »Okay, was ist Ihnen aufgefallen?« Christine blickte noch einmal in beide Richtungen des Kor ridors, um sicherzugehen, dass sich niemand in Hörweite be fand. »Es ist so ähnlich wie in diesen alten Dschungel-Abenteuerfilmen, Capt’n«, begann sie, »Sie wissen schon, diese Filme, in denen der furchtlose Held plötzlich sagt, dass es ihm zu still ist ringsum. Nun, in der Gegend von Shanghai wird es auf einmal allzu ruhig.« »Irgendwelche Einzelheiten?« »Shanghai ist das größte Verkehrs- und Kommunikations zentrum, das die Kommunisten an der Küste haben«, führte Christine aus und lehnte sich gegen das Schott. »Sie haben al les dort – Docks, Verschiebebahnhöfe, Lagerhäuser. Die Anla gen sind recht gut in Schuss und nicht vom Krieg beschädigt.
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Außerdem sind die Kapazitäten noch lange nicht ausgelastet. Und trotzdem werden Truppen und Nachschubkonvois um Shanghai herum geschleust. Shanghai hat den größten Stützpunkt der Luftstreitkräfte südlich von Shenyang, und dennoch haben sie von dort aus keinen einzigen Luftangriff unternommen, seit wir hier sind. Es beinhaltet die logistische Kommandozentrale für den Kampf gegen die taiwanesische Invasion, und trotzdem be kommen wir von dort immer weniger Signal-Intelligence-Material herein. All die Dinge, die in Shanghai vor sich gehen soll ten, passieren einfach nicht. Die Stadt spielt auf einmal in den chinesischen Operationsplänen absolut keine Rolle mehr.« »Könnte es sein, dass sie Truppen von dort verlagern? Viel leicht haben sie Angst vor einem größeren Angriff der GA.« »Also wirklich, Boss-Ma’am. Shanghai ist einer der bestver teidigten Plätze in China. Die taiwanesischen Luftstreitkräfte haben es nicht gewagt, auch nur andeutungsweise in den Luftraum der Stadt einzudringen.« Amanda lehnte sich ebenfalls an das Schott. »Also gut, was, glauben Sie, geht da vor sich?«, fragte sie neugierig. »Ich glaube, dass die Kommunisten irgendetwas im Schilde führen und dass sie sich bemühen, die Aufmerksamkeit von der Gegend abzulenken.« »Was könnten sie vorhaben?« »Offen gesagt, ich habe keine Ahnung. Aber was es auch ist, es muss eine ziemlich große Sache sein – sonst würden sie nicht eine der größten Städte in ihrem Land lahm legen. Das ist der Grund, warum ich mir die Gegend genauer ansehen möchte.« »Was meinen Sie mit ›genauer‹?« »Ich würde mich gern direkt vor den Minenfeldern an der Jangtse-Mündung umschauen – und zwar lang genug, um ein Bild von der taktischen Hunt-Situation zu bekommen. Außer dem würde ich gern versuchen, ihr lokales Telekommunika tionsnetz anzuzapfen. Und bei der Gelegenheit könnten wir auch gleich die Grenzen des Minenfeldes etwas näher bestim men.« »Die Chinesen würden es wahrscheinlich nicht so gern se
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hen, wenn wir direkt vor ihren Hauptverteidigungslinien he rumstöbern, meinen Sie nicht auch?« »Mag sein«, sagte Christine und nickte, »aber nur, wenn sie es mitbekommen. Ich habe mit den Meteorologen der Flotte gesprochen, und sie sagen, dass in den nächsten 24 Stunden eine leichte Gewitterfront von Süden hereinzieht. Gute Bedin gungen für einen Stealth-Einsatz. Außerdem wird es morgen Nacht eine unvermeidliche Lücke in unserer Satellitenbeob achtung geben. Für einige Stunden werden wir keinen Satelli ten haben, der die Gegend von Shanghai beobachtet. Wenn Rotchina etwas vorhat, dann wäre das der ideale Zeitpunkt dafür. Und wenn wir dann da draußen wären und sozusagen durch ihr Schlüsselloch gucken könnten …« »Ja, ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Haben Sie mit der Intel-Abteilung der Flotte schon darüber gesprochen?« »Ich habe ihnen eine Einschätzung der Situation geschickt, und ich habe auch mit einigen Experten vom Stab auf der Big E geredet. Sie räumen ein, dass die Entwicklung in der Ge gend ein wenig unerwartet ist, aber sie meinen, dass wir die Sache noch weiter beobachten sollten, bevor wir etwas unter nehmen. Nun, genau das möchte ich auch tun. Ich will die Sa che weiter beobachten, nur will ich etwas näher herangehen.« Amanda biss sich auf die Unterlippe, wie sie es oft tat, wenn sie scharf nachdachte. Wenn Chris sagte, dass in Shang hai etwas Ungewöhnliches vor sich ging, dann war es auch so, daran zweifelte Amanda keine Sekunde. Die Frage war nur, ob man es verantworten konnte, für eine nähere Erkundung der Sache ein so hohes Risiko einzugehen; immerhin würde sie damit nicht nur das Schiff und die Besatzung in Gefahr bringen – es drohte auch eine Eskalation der gesamten Krise. Natürlich, der leichtere Weg wäre es, einen Situationsbe richt und einen Operationsvorschlag an NAVSPECFORCE zu schicken und ihnen die Entscheidung zu überlassen. Doch die Besorgnis einer vergleichsweise jungen NachrichtendienstOffizierin hatte möglicherweise nicht allzu viel Gewicht, auch wenn Amanda sie noch so sehr unterstützte. Es gab aber auch den anderen Weg. Sie konnte die Sache selbst in die Hand nehmen.
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Sie hatte sich ein unabhängiges Kommando gewünscht und sie hatte es bekommen. Es wäre ihr möglich, die Sache so auszulegen, dass die Operation sich durchaus noch innerhalb der Vorgaben ihrer Mission befand. Wenn jedoch etwas schief ging, dann würde ihr niemand die Verantwortung abnehmen. Zum Teufel mit diesen Vorbehalten. Sie hatte vor einigen Tagen damit geprahlt, dass man sie bisher nie erwischt hatte. Warum sollte sie nicht einmal mehr die Gratwanderung wa gen? »Okay, Chris. Wir machen es. Erstellen Sie ein Konzept mit den genauen Zielen und Anforderungen der Mission. Wir ge hen es dann heute Abend in der Operationsgruppe durch.« »Ja!« Die Intel-Offizierin reckte jubelnd die Faust empor. Amanda lächelte und griff nach dem CD-Player. »Aber das kostet Sie eine Kleinigkeit. Sie müssen dafür noch eine halbe Stunde modernen Tanz mit mir üben, bevor wir’s für heute gut sein lassen.« »Aah!«, stöhnte Christine und humpelte zum Fitnessraum zurück. »Keiner mag mich!«
Hotel Manila Republik Philippinen 10. August 2006, 19:19 Uhr Ortszeit Professor Djinn Yi nahm die zarte Porzellantasse mit grünem Tee von dem Tablett, das man ihm anbot. Wie immer in sol chen Augenblicken hatte er zwiespältige Gefühle. Da war ei nerseits der Schmerz, der ihn begleitete, seit ihm ein maoisti scher Schläger mit einer Eisenstange die Handknöchel zertrümmert hatte. Doch da war andererseits auch eine ge wisse Dankbarkeit dafür, dass er seine Hand überhaupt noch gebrauchen konnte. Er nickte dem Kellner zu und nahm ebenso wie Außenmi nister Duan, der ihm gegenüber saß, einen ersten Schluck von dem heißen Getränk.
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»Es läuft gut«, sagte der Außenminister schließlich. »Die Berichte von allen Seiten verheißen einen Erfolg. Unsere Streitkräfte können den Brückenkopf halten, während ihre Truppen nach Norden marschieren.« »Wieder ein paar Zentimeter, die wir vom Schwanz des Dra chen abgeschnitten haben«, antwortete Djinn und stellte die Tasse auf dem niedrigen Tisch ab, der zwischen ihnen stand. Die beiden Männer saßen im Wohnzimmer der Suite, die die Delegationen Taiwans und der Vereinigten Demokraten miteinander teilten. Jeder Zentimeter des Raumes wurde lau fend nach Wanzen abgesucht, und in allen Ecken wurde von entsprechenden Geräten ein elektromagnetisches weißes Rau schen erzeugt, um jeden Abhörversuch zu vereiteln. »Genau«, sagte Duan. »Aber wir haben auch eine Nach richt von unseren Leuten in Peking erhalten. Die Kommunis ten reagieren so, wie wir es befürchtet hatten. Sie starten ihr Kommandounternehmen.« »Ah«, sagte Djinn und griff erneut nach seiner Tasse. »Sie wissen, was ihnen bevorsteht. Sie haben Angst.« »Ehrlich gesagt, Professor, es geht mir genauso.« »Wir haben gewusst, dass es früher oder später dazu kom men würde. Die Kommunisten haben ihren Plan, und wir ha ben den unseren. So werden wir sie aufhalten.« »Ja, theoretisch«, wandte der stämmige taiwanesische Dip lomat mit säuerlicher Miene ein und stellte seine Tasse nieder. »Aber ich muss zugeben, dass ich meine Bedenken habe. Ich wünschte, wir könnten die Vereinigten Staaten und die ande ren Pazifikstaaten informieren.« »Nein. Sie wären misstrauisch gegenüber jeder Erklärung, die wir abgeben würden. Sie müssen von selbst draufkom men. Nur so können sie erkennen, wie ernst die Lage ist.« »Aber wenn es ihnen entgeht, was dann? Wir haben wahr scheinlich nicht mehr viel Zeit, bis die Kommunisten han deln.« »Wir müssen auf die Technologie der Amerikaner ver trauen. Dass die Zeit knapp ist, muss kein Nachteil für uns sein. Wir wollen ja, dass die Amerikaner nicht denken, son dern handeln.«
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»Da ist ganz schön viel Ungewissheit drin«, brummte Duan und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Wir lassen uns da auf ein gefährliches Spiel ein. Es gefällt mir gar nicht, dass wir unsere Leute einer solchen Gefahr aussetzen.« »Ganz China ist in Gefahr«, wandte Djinn ein. Der ehema lige Professor aus Kanton leerte seine Tasse und stellte sie auf den Tisch. Ein Lächeln erschien auf seinen Lippen, und er be wegte seine steifen Finger. »Aber manchmal gibt es eben kei nen sicheren Weg in die Freiheit.«
75 Seemeilen nordöstlich von Shanghai 11. August 2006,18:54 Uhr Ortszeit »Ja?« »Ich bin’s. Lieutenant Arkady, Ma’am.« »Kommen Sie rein.« Amanda hielt sich nicht im Arbeitsraum ihrer Kajüte auf, als Arkady eintrat. Er hörte sie hinter dem Vorhang, der in den Schlafraum rührte. »Bin gleich da!«, rief sie ihm zu. »Setz dich ruhig.« Arkady legte den Fliegerhelm auf den Boden und ließ sich in dem ein zigen Gästesessel nieder. Er lehnte sich mit dem Stuhl in die Ecke des Schotts zurück und stützte einen Fuß an der Schreib tischkante ab. Seit er an Bord der Duke gekommen war, hatte er so man che Stunde in dieser Position verbracht. Wie immer erkundete er Amandas Arbeitsbereich aufmerksam, um zu sehen, ob es irgendetwas Neues gab. An dem Schott hinter ihrer Work-Station waren einige No tizzettel angeheftet, direkt unter dem kleinen Ölgemälde von Amandas kleiner einmastigen Segelyacht. Ein Lächeln er schien auf Arkadys Lippen. Er hatte schöne Erinnerungen an das kleine Segelboot. Besonders an einen warmen Abend, den sie während ihres letzten Aufenthalts in Norfolk gemeinsam an Deck verbracht hatten.
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Neben dem Gemälde hing die Federzeichnung eines Oze anschleppers – ein weiteres Geschenk ihres Vaters, der sich als ehemaliger Admiral nun ganz der Kunst verschrieben hatte. Das kleine Schiff, das auf dem Bild dargestellt war, die Piegan, war Amandas erstes Kommando gewesen. Am Rande des Schreibtischs lag ein kleiner Stapel Bücher. Arkady schwang sich mit dem Stuhl wieder nach vorn und drehte die Bücher um, damit er die Titel lesen konnte: Barbara Tuchmans Stilwell and the American Experience in China sowie eine englische Ausgabe der Mao-Bibel. Das dritte Buch war ihm unbekannt. Es trug den Titel Kön nen die chinesischen Streitkräfte den nächsten Krieg gewinnen? Er nahm das Buch zur Hand und sah es sich genauer an. Es war eine rotchinesische Publikation, die von der Naval Insti tute Press übersetzt worden war. Er blätterte das erste Kapi tel durch, als Amanda den Vorhang zur Seite schob und he reinkam. Ihr gewohnter nüchterner Gesichtsausdruck wurde für einen Augenblick von einem strahlenden Lächeln ver drängt. »Willkommen zu Hause. Wie war der Aufklärungs flug?« »Keine Probleme. Sag, wer ist eigentlich dieser Liu Hua qing?« Amanda setzte sich ihm gegenüber auf ihren Stuhl und lehnte sich so wie er bequem zurück. »Während der achtziger und neunziger Jahre gehörte Admiral Liu zu denen, die nach Reform und Modernisierung innerhalb der Armee riefen. Er war einer der ersten, die dafür waren, dass China seine Marine-Strategie des Jinhai Fangyu aufgeben solle,« »Klingt, als war’s irgendwas Schweinisches.« Amanda lachte. »Jinhai Fangyu bedeutet Küstenverteidi gung. Historisch gesehen hat die chinesische Marine seit jeher mit kleinen Küstenschiffen agiert. Liu meinte, dass China zu sätzlich auch auf dem offenen Meer vertreten sein müsse, wenn es eine wirkliche Weltmacht werden wolle. Zum Glück für uns hatten die Chinesen keine Gelegenheit mehr, seine Vorschläge in die Tat umzusetzen.« »Hm, könntest du mir das für eine Weile borgen?« »Aber ja«, antwortete sie. »Wir haben es hier mit einer völ
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lig anderen Kultur zu tun. Egal ob sie unsere Feinde oder Freunde sind, wir werden mehr über ihre Denkweise lernen müssen. Aber sag, hat dein Flug irgendwelche Erkenntnisse gebracht?« »Kaum. Es ist alles ruhig da draußen.« »Außergewöhnlich ruhig?« »Schwer zu sagen. Ich hielt mich etwa dreißig Meilen ent fernt und schaute dabei viermal kurz über den Radarhorizont. Es war nichts zu sehen. Kein Vorpostenboot, kein Schiffsver kehr. Noch nicht einmal Fischerboote.« »Unterseeboote?« »Jedenfalls hat keines ein Periskop oder einen Schnorchel herausgestreckt, während ich mein Radar eingeschaltet hatte. Ich habe dann einige Sonarbojen abgeworfen, aber auch da durch hat sich nichts ergeben. Natürlich könnte es sein, dass da jemand tief unten hockt und abwartet.« »Was tut sich in der Luft?« »So ziemlich das Gleiche, was wir schon auf den AegisSchirmen gesehen haben. Sie scheinen keine BARCAP vor der Küste zu fliegen. Und auch über der Stadt keine regelmäßigen Patrouillenflüge. Was ich festgestellt habe, ist, dass sie den Luftraum rund um Shanghai peinlich genau beobachten. Da gegen ist draußen an der Mündung nur eine einzige, noch dazu schwache Radaranlage in Betrieb.« Amanda nickte nachdenklich. »Okay. Das alles haben dir deine Systeme gesagt. Und was sagt dir dein Instinkt?« Arkady machte ein säuerliches Gesicht. »Mein Instinkt? Na ja, da läuten schon ein paar Alarmglocken bei mir. Unsere Miss Chrissie hat Recht – da braut sich irgendwas zusam men.« Sie seufzte und strich sich eine kupferbraune Haarsträhne aus der Stirn. »Ich hatte gehofft, dass du sagen würdest, wir Frauen hätten mal wieder zu viel Fantasie.« »Tut mir Leid, damit kann ich nicht dienen.« »Sagt dir dein Instinkt auch, ob die Aufklärungsmission heute Nacht gerechtfertigt ist?« »Wenn die chinesische Armee in Shanghai etwas vorhat, dann müssen wir herausfinden, worum es sich handelt.«
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»Aber wenn sie tatsächlich etwas vorhaben, dann könnten wir mit unserer Mission in einem Hornissennest herumstö bern«, erwiderte sie mit besorgter Miene. Der Pilot kannte dieses Phänomen bereits. Amanda Garrett hatte für gewöhnlich keine Probleme, zu einer Entscheidung zu gelangen. Doch manchmal kostete es sie einige Mühe, sich zu einer Lösung durchzuringen. Christine Rendino hatte ihm beigebracht, wie man in sol chen Augenblicken vorzugehen hatte. Man hörte am besten nur zu und wartete, bis sie von selbst den richtigen Weg fand. Doch Arkady änderte diese Taktik ein wenig ab. Er beschloss, ihr einen kleinen Anhaltspunkt zu geben. »Ein großer Philosoph hat einmal gesagt: ›Wer die Zähne des Drachen zählen will, muss ein gewisses Risiko in Kauf nehmen.‹« Amanda blickte ihn fragend an. »Von wem stammt das? »Von mir. Du hast es ja mit eigenen Ohren gehört.« Seine Worte brachten ein Lächeln auf ihre Lippen. »Wenn ich die Einzige wäre, die das Zählen übernimmt, mein Schatz, dann wäre es keine schwierige Entscheidung. Aber ich muss euch alle mit hineinziehen. Das fällt mir immer noch ziemlich schwer.« »Das bringt es so mit sich, wenn man Kommandantin ist. Dafür hast du ja auch einige Privilegien, wie zum Beispiel diese prächtigen Gemächer hier. Und aus diesem Grund sa lutiert man dir … Ach, übrigens, weißt du, woher das Salutie ren eigentlich kommt?« »Woher denn?« »Es stammt von irgendeinem Untergebenen, der sich an die Stirn griff, um sich den Schweiß abzuwischen, weil sein Boss gerade noch rechtzeitig eintraf, um eine besonders knifflige Entscheidung zu treffen.« Das brachte sie nun wirklich zum Lachen. »Das war jetzt aber nicht ganz ernst gemeint, oder?« »Ich bin erst dann ernst, wenn es wirklich sein muss. Heute Nacht, wenn wir zu unserem Einsatz aufbrechen, werden wir mit ganzem Ernst bei der Sache sein. Besonders ich, wo ich doch die Funktion des O.O.D. übernehmen werde. Aber des
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wegen muss ich doch nicht schon jetzt hundertprozentig an gespannt sein.« »Wahrscheinlich eine ziemlich gesunde Einstellung.« »Ich denke schon. Hast du bereits zu Abend gegessen?« »Unten in der Messe gibt’s heute Hamburger. Das kann ich mir nicht auch noch antun – die Aufklärungsmission heute Nacht reicht mir vollauf.« »Wo würdest du denn heute gern zu Abend essen?«, fragte Arkady. Amanda wollte schon antworten, hielt aber inne, als sie er kannte, dass er sie zu einer gedanklichen Reise aufforderte. »Also schön … Es muss irgendetwas Ausgefallenes s ein, et was Besonderes«, murmelte sie lächelnd. Es war ein kleines Spiel, um den Zwängen ihres Lebens an Bord zu entfliehen. Hier auf der Cunningham waren sie und Arkady in einer Umgebung, in der es ihnen unmöglich war, sich wie andere Liebespaare zu benehmen. Jeder Kuss, jede kleine Zärtlichkeit war nicht nur unschicklich, sondern hätte für sie beide auch schwerwiegende Folgen haben können. Doch sie verstanden es, mit der Situation umzugehen. Ei nes der Mittel, dem Zwang zu entfliehen, war es, sich mit viel Fantasie an ferne Orte zu versetzen und sich dort zu einem Rendezvous zu treffen. »Hast du jemals gebratene Ente gegessen?« »Ja, ess’ ich gern.« »Gut. Dann treffen wir uns im Duck Club im Monterey Plaza Hotel. Das liegt direkt an der Cannery Row, über die John Steinbeck geschrieben hat. Es ist das Restaurant, in das wir Jungs aus Monterey die Ladys ausführen, wenn uns wirk lich etwas an ihnen liegt,« »Klingt interessant. Wie sieht’s dort aus?« »Erinnert ein wenig an San Francisco. Vom Speisezimmer aus hat man eine tolle Aussicht auf die Bucht. Der Sonnenun tergang ist einfach umwerfend, und man bekommt auch Fern gläser an den Tischen. Damit kann man den Seeottern zuse hen, wie sie im Tang spielen.« »Wie süß! Was soll ich denn anziehen?« Arkady musterte sie eingehend.
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»Etwas Kräftiges. Rot, würde ich sagen. Ja, unbedingt.« Amanda schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Das geht nicht, Liebling. Rot kann ich nicht tragen.« »Sicher kannst du. Dieser alte Grundsatz, dass Rothaarige nicht Rot tragen können, den hat sich bestimmt eine Brünette ausgedacht, um eine Konkurrentin aus dem Feld zu schlagen. Jede hübsche Lady sollte zumindest ein rotes Kleid im Schrank haben, und ein Paar hochhackige rote Schuhe. Das sieht immer toll aus.« »Wir werden’s ja sehen.«
In den Zufahrtswegen zur Jangtse-Mündung 11. August 2006, 23:31 Uhr Ortszeit Der Jangtse ist einer der großen Flüsse dieser Welt. Er ent springt auf einem Gebirgsplateau tief im Himalaya und schlängelt sich dann hinunter ins chinesische Tiefland, um schließlich ins ostchinesische Meer zu münden. Sein langer Weg führt ihn mitten durch das Herz des Lan des. Gespeist vom Schmelzwasser alter Gletscher und von un zähligen Regengüssen, führt er auch den Schlamm der Felder sowie den Schweiß, die Abfälle und die Tränen eines Viertels der Menschheit mit sich. Er ist ein Fluss, der sogar der Macht des Ozeans zumindest ein Stück weit die Stirn bieten kann. 150 Kilometer jenseits der Mündung sind die Wellen immer noch braun gefärbt, und der Geruch des Landes überlagert den Duft der See. »Stealth-Parameter sind in Kraft. Totale EMCON. Funk und Radar ausgeschaltet.« »Sehr gut, Mr. Hiro. Quartermaster, System- und PositionsCheck, bitte.« »GPU und SINS-Navigationssystem sind überprüft. Die In sel Qiantan liegt jetzt in Grün null-fünf, Entfernung 9000 Me ter.«
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Amanda rief sich die Situation noch einmal in Erinnerung, indem sie einen Blick auf das Navigationsdisplay warf. Die Duke näherte sich der Küste von Nordosten in einem stump fen Winkel. In wenigen Minuten würden sie nach Süden ab drehen, vorbei an den Inseln vor der Jangtse-Mündung, nur knapp außerhalb der Minensperre, die hier von den Rotchine sen angelegt worden war. Draußen in der Dunkelheit prasselte feiner Regen gegen die Fenster der Brücke, während drinnen die Helligkeit der Anzeigen und Bildschirme so gering wie möglich eingestellt war. Amanda spürte die anderen Besatzungsmitglieder um sich herum mehr, als dass sie sie sah. Und sie spürte auch, dass die Anspannung rund um sie immer mehr wuchs, je näher sie der chinesischen Küste kamen. »Brücke-CIC.« »CIC, aye.« »Okay, Chris. Wie wollen Sie das Ganze beginnen?« »Ich möchte langsam am äußeren Minenfeld vorbeilaufen. Dabei können wir eine komplette Analyse der elektromagne tischen Signale in der Gegend durchführen.« »Gut. Aber näher als fünf Kilometer gehen wir nicht an die Küste heran. Das heißt, wir müssen nach Nordosten abdrehen, wenn wir uns der Maan-Liedao-Gruppe annä hern.« »Kein Problem, Ma’am. Wenn die schlimmen Jungs etwas im Schilde führen, müssten wir es bis dahin schon wissen.« Die Intel-Offizierin beendete das Gespräch, und Amanda drehte sich in ihrem Kommandosessel, um sich der dunklen Gestalt zuzuwenden, die ihr Erster Offizier sein musste. »Ken, ich werde heute Nacht das Kommando hier oben be halten. Ich möchte, dass Sie das CIC übernehmen.« »Aye, aye.« »Und, Ken, kümmern Sie sich auch ein bisschen um Raven’s Roost. Chris braucht vielleicht Hilfe von einem Exper ten in asiatischen Sprachen.« »Capt’n, ich spreche gerade genug Japanisch und Chine sisch, um mich ein wenig zu verständigen. Ein Experte bin ich sicher nicht.«
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»Aber Sie verstehen trotzdem am meisten von uns allen. Viel Glück, Ken.« »Ihnen auch viel Glück, Skipper.« Hiro machte sich auf den Weg nach achtem. Da war noch eine andere dunkle Gestalt in der Nähe – ge nauer gesagt, an der Konsole des Rudergängers. »O.O.D, wie sieht’s aus bei Ihnen?« »Ganz gut, Ma’am. Ich kann nur meinen Pitch und Steuer knüppel nirgends finden.« »Sie machen das schon, Mr. Arkady. Es tut einem Flieger ganz gut, wenn er hie und da einmal eine nautische Wache schiebt, damit er nicht ganz vergisst, worum es in der Navy eigentlich geht.« »Wenn Sie es sagen, Capt’n …« »Sie können’s mir glauben. Und jetzt Ruder nach Backbord, neuer Kurs eins-acht-drei Grad. Weiterhin Umdrehungen für zehn Knoten und halten Sie uns parallel zur Drei-MeilenZone, GPS-Toleranz einhundert Meter.« »Aye, aye.« Nachdem das erledigt war, glitt Amanda aus ihrem Sessel und trat auf die Steuerbord-Brückennock hinaus. Sie wusste, dass sie von hier aus bei Tageslicht die Hügel von China gese hen hätte – doch nun waren nur verschiedene Stufen von Dunkelheit zu erkennen. Natürlich hätte sie ins Ruderhaus hätte zurückkehren kön nen, um mit Hilfe des restlichtverstärkenden Fernsehsystems der Cunningham mehr vom Festland zu sehen. Doch sie ver zichtete absichtlich auf dieses Hilfsmittel. Stattdessen lehnte sie sich gegen die Reling und versuchte die Nacht mit ihren ei genen Sinnen und ihrer Intuition zu durchdringen. Auch ihr Großvater hatte einst diese Gewässer befahren. Wie sie nun draußen im warmen Regen stand und in die Nacht hinausblickte, fragte sie sich, wie er wohl handeln würde, wenn er jetzt hier wäre. Knapp 8 Seemeilen weiter südlich zog das Torpedoboot 5-19 unruhig an seiner zu kurz gesteckten Ankertrosse. 5-19 war das am weitesten südlich gelegene Boot des Geschwaders, das
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die Jangtse-Mündung etwas außerhalb der Minensperre be wachte. Mehr als zwei Stunden befanden sie sich jetzt mit ab gestellten Motoren und ausgeschalteten Systemen auf ihrem Posten, während die Deckshands vom Nieselregen durch nässt wurden. Zum hundertsten Mal wischte Leutnant Zhou Shan mit ei nem Tuch über die Linsen seines Nachtglases. »Ich verstehe nicht, was wir heute Nacht hier draußen sollen«, brummte er missmutig. »Ohne Radar werden wir nicht das Geringste se hen.« »Sehen werden wir vielleicht nichts, Leutnant«, erwiderte Bootsmann Hung gelassen, »trotzdem müssen wir nun mal hier bleiben.« In der Gefechtszentrale der Cunningham saß Commander Ken Hiro im Kommandosessel, der sich inmitten der verschiede nen Kontrollstationen befand. Zu seiner Rechten saß Dix Bel train an der Konsole des Taktik-Offiziers. Der TACCO warf ei nen kurzen Blick zum Ersten Offizier der Cunningham hinüber. »Commander, laut GPU erreichen wir jetzt die Mi nensperre. Es wäre ratsam, das SQQ-32 zu aktivieren, Sir.« »Sie haben Recht. Beginnen Sie gleich damit.« Beltrain wandte sich einer der sekundären Work-Stations zu, die entlang der Schotten des CIC angeordnet waren. »Okay, DeVega, lassen Sie Ihren Dom runter und aktivieren Sie ihn. Konzentrieren Sie sich auf einen Bereich von rechts voraus bis querab Steuerbord.« Lange vor der Kiellegung der Cunningham hatte schon fest gestanden, dass sie in einem neuen Einsatzbereich operieren würde, der Littoral, also Küstengefechtsführung. Sie sollte sich auf dem Seeweg potenziellen Feinden vor allem in der Dritten Welt nähern und dabei in unmittelbarer Nähe der Küsten aktiv werden. Dementsprechend besaß sie neben dem leistungsstarken SQQ-89-Unterseeboot-Such-Sonar auch ein SQQ-32-Minensuchsystem. »SQQ-32 ist aktiviert, Sir. Wir beginnen mit der Minensu che.«
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Hiro und Beltrain riefen beide gleichzeitig die Sonar-Abbildung auf ihren Bildschirmen auf. Nach wenigen Augen blicken tauchte eine dunkle kugelförmige Masse auf und drif tete langsam über den Bildschirm, ein computergeneriertes Abbild des Echos, das das System erhielt »Minenkontakt, Sir. Peilung null-acht-fünf. Entfernung 800 Meter. Entfernung gleich bleibend. Ziel driftet nach achtern aus. Systemdaten identifizieren das Ziel als Grundmine, ein chinesisches Standardmodell.« Die Grundkonstruktion der Mine war wohl über hundert Jahre alt – und doch war diese Waffe immer noch fast genauso tödlich wie am ersten Tag. Gerade ihre einfache, ja plumpe Konstruktion war ihr größ ter Vorteil. Im Gegensatz zu ausgefeilteren Minen konnte sie nicht aus der Entfernung in die Irre geführt oder entschärft werden. Sie baumelte nur stetig an ihrer Kette hin und her und explodierte, wenn sie auch nur gestreift wurde. Um sie zu entschärfen, bedurfte es eines umständlichen und gefährli chen mechanischen Räumvorgangs, der fast genauso an tiquiert anmutete wie die Mine selbst. Eine andere, ebenfalls sehr gefährliche Möglichkeit bestand im Einsatz von Gegen minen, die, von Tauchern angebracht, die Minen eine nach der anderen zur Detonation bringen sollten. Der Taktik-Offizier stieß einen kurzen Pfiff aus. »Ein Glück, dass wir von diesen Dingern Abstand gehalten haben.« »Es ist immer gut, wenn man weiß, wo man hingehört – und wo nicht.« Hiro aktivierte sein Mikrofon. »Brücke, wir haben Kontakt mit der chinesischen Minensperre.« »Verstanden, Ken«, ertönte Commander Garretts Stimme in seinem Kopfhörer. »Wir haben sie auf dem Bildschirm. Blei ben Sie ungefähr in dieser Entfernung. Und wenn Sie da un ten irgendetwas entdecken, was uns entgeht, dann zögern Sie nicht und übernehmen Sie das Ruder.« Draußen an Deck wurde der Regen immer stärker. So wie die gesamte Besatzung hatte auch Amanda Helm und Gefechts anzug angelegt. Als sie aus der Brückennock hereinkam, ging
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sie langsam die Reihe der leuchtenden Bildschirme entlang und ließ ihren Blick über die verschiedenen Anzeigen wan dern. »Capt’n«, sagte einer der Ausgucke mit ruhiger Stimme, »Es wird ziemlich trüb da draußen. Wir können mit den Bil dern des Restlicht-Fernsehens kaum noch etwas anfangen.« »Okay. Gehen Sie auf FLIR.« Überall auf der Brücke wechselte man von den optischen Systemen auf den in Vorausrichtung erfassenden InfrarotSensor, der für gewöhnlich auch bei solchen Witterungsbedin gungen in der Lage war, auf der Basis von Wärmestrahlung entsprechende Bilder zu liefern. Doch in dieser Nacht kam es zu einem ungewöhnlichen Zusammentreffen von ungünsti gen Naturphänomenen. Durch das tropische Unwetter wurde die Umgebung mit Wärme und Feuchtigkeit gesättigt, so dass sich eine unge wöhnlich hohe Konzentration von Wasserdampf in der At mosphäre bildete – Wasserdampf, der die Infrarot-Strahlung absorbierte. Der schwere warme Regen und die ruhige See begünstig ten die Bildung einer dünnen Schicht von wärmerem Wasser an der Meeresoberfläche, was den Unterschied zwischen Was ser- und Lufttemperatur reduzierte. All diese Faktoren führ ten dazu, dass die FLIR-Scanner der Cunningham an Wirksam keit einbüßten. Die Ausgucke bemerkten davon jedoch nicht viel, zumal sich auf den Bildschirmen keinerlei Veränderung zeigte. Sie wussten nicht, dass das Schiff fast schon blind durch die Nacht trieb. »Irgendwas Neues, Tina?« »Nein, Ma’am. Die Leute hier in der Gegend halten sich mit der Kommunikation offenbar sehr zurück.« Christine Rendino blickte der Scanner-Operatorin über die Schulter, die systematisch das elektromagnetische Spektrum absuchte. »Gar nichts?« »Ich höre etwas, das wie Polizeifunk klingt, und ein paar Radiosender, die nichts als Musik spielen. Der einzige Militär
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funk stammt von der Flugsicherung. Die Leute verhalten sich wirklich ziemlich still da draußen.« »Okay. Bleiben Sie dran.« Sie befanden sich jetzt seit 20 Minuten auf ihrer Auf klärungsfahrt, und Christine spürte förmlich, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Sie hielt es kaum noch an ihrem Platz aus und verließ die Nachrichtendienst-Abteilung, um ins CIC hinüber zu gehen. Dort hielt sie einen Augenblick inne und blickte über Dix Beltrains Schulter hinweg auf den großen Alpha-Bildschirm am vorderen Schott. Das Sonarsystem bildete die Linie ab, auf der sich die Mi nensperre dahinzog, und versah jede Mine mit einer exakten Positionsangabe, die in der Navigations-Datenbank abgespei chert wurde. Wenigstens das klappte so, wie es sollte. Sie ging weiter und betrat die Abteilung für Stealth-Systeme. Für gewöhnlich war das für sie feindliches Territorium. Doch nun, wo eine Operation lief, war ihre persönliche Fehde mit Frank McKelsie vorübergehend außer Kraft gesetzt. »Habt ihr hier irgendetwas, was uns in Raven’s Roost ent gangen ist?« Der Stealth-Boss stand hinter seinem System-Operator und blickte ihm über die Schulter, so wie sie es zuvor bei ihrer Operatorin getan hatte. Er wandte den Blick nicht vom Bild schirm, als er antwortete. »Nichts Ungewöhnliches, Rendino. Nur Luftabwehrradar und eine Überwasser-Sucheinheit vor der Südspitze von Jiu duan Sha. Nichts Beängstigendes, wahrscheinlich Radar zur Navigationsunterstützung.« »Besteht die Möglichkeit, dass sie uns orten?« Ein verächtlicher Ton mischte sich in McKelsies Stimme. »Das ist Technologie von vorgestern, Rendino. Sie hätten bes sere Chancen, uns zu entdecken, wenn sie sich mit einer Ta schenlampe an den Strand stellen würden.« Steuerbord vorne an den zentralen Kommando-Work-Stations ließ der Aegis-Systemmanager am Hauptradar der Cun ningham eine Reihe von Bereitschafts-Checks durchführen.
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Die mächtigen Antennen der SPY-2A-Anlage, die die Decks aufbauten des Zerstörers umgaben, schickten zwar keine Ra darstrahlen in die Umgebung, solange das Schiff in voller Tar nung lief, doch sie waren sehr wohl bereit, alles zu empfangen, was an Radaremissionen hereinkam, um die Stealth- und die Intel-Abteilung gleichermaßen mit aktuellen Daten zu versorgen. Der System-Operator hatte soeben einen neuerlichen Such lauf begonnen, als er plötzlich zögerte. Er hatte ein Testdis play auf dem Bildschirm gehabt, als auf einmal eine Reihe von geisterhaft-schwachen Zielen über den Schirm zu tanzen schienen. Der Radarspezialist runzelte die Stirn. Das konnte doch unmöglich passieren, wenn sie das Radar gar nicht ein geschaltet hatten. Wie war es möglich, dass sie da ein Echo empfingen? Er begann sogleich, seine Systeme zu überprüfen. Leider kam er nicht auf den Gedanken, dass die Frequenz des Radarempfängers der Cunningham für einen Augenblick genau mit der Frequenz der chinesischen Radarquelle zur Na vigationsunterstützung übereinstimmte. Wäre ihm das be wusst gewesen, hätte er dem Phänomen wesentlich größere Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei war ihm das Phänomen der UAF-Reflexion durchaus vertraut; er wusste, dass man ein Radarecho erhalten konnte, das von den Radarwellen ei ner anderen Quelle hervorgerufen wurde. 35 Minuten waren sie jetzt unterwegs. »Raven’s Roost – Brücke. Wie sieht’s aus, Chris?« »Mit dem Aufstöbern der Minen klappt es sehr gut«, kam die zögernde Antwort, »aber die Elint-Suche hat immer noch nichts ergeben. Wir bemühen uns weiter.« »Aber es darf nicht zu lange dauern. Wir können uns nicht ewig hier herumtreiben.« Der Regen prasselte mittlerweile heftiger gegen die Fenster der Brücke. Die Scheibenwischer mühten sich vergeblich, das Glas vom Wasser freizuhalten, während im Inneren Gebläse fauchten, um die Feuchtigkeit zu bekämpfen. Die Klimaan lage der Brücke stand gegen die Saunaatmosphäre, die draußen herrschte, auf verlorenem Posten.
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Amanda ging erneut zur Brückennock hinüber und öffnete die Tür. Es verlangte sie nach frischer Luft in dieser immer drückenderen Atmosphäre. Draußen in der Dunkelheit schaukelte das rotchinesische Tragflächenboot 5-19 an seinem Liegeplatz hin und her. Der Skipper des Bootes blickte stirnrunzelnd in die Nacht hinaus. Das hatte sich fast so angefühlt wie die Hecksee eines Schiffes, dachte er. Er sah noch einige Minuten in die verregnete Dun kelheit hinaus und wischte dann den Gedanken achsel zuckend beiseite. Lieutenant J. G. Charles Foster erschien im Eingang von Raven’s Roost, der Nachrichtendienst-Abteilung der Duke. »He, Lieutenant«, sagte er, an Christine Rendino gerichtet, »können Sie mal kurz in die Sonarabteilung kommen? Wir haben da et was, das Sie vielleicht interessiert.« »Bin schon da.« Christine folgte eilig dem jungen Offizier. Die Sonarzentrale war eine der vier Abteilungen, die in den Ecken der Gefechtszentrale untergebracht waren. Sie lag an Backbord vorne, schräg gegenüber der NachrichtendienstZentrale. »Okay, Chuck, schießen Sie los. Was gibt’s?« Der Sonarmann rückte mit einer aufgeregten Geste seine Brille zurecht. Foster, ein Mann mit einem stets etwas jungen haft wirkenden Ernst, war eigentlich eher auf Unterseebooten zu Hause; im Rahmen des Offiziersaustauschprogramms tat er nun Dienst bei den Überwasser-Streitkräften. Im Augen blick war er für die umfangreichen ASW-Systeme der Duke verantwortlich. »Wir sind uns nicht ganz sicher, Ma’am«, antwortete er. »Wir sind mit den passiven Systemen auf einige Kontakte ge stoßen. Es müssen mehrere Quellen irgendwo flussaufwärts sein. Klingt, als würde sich ein Konvoi bilden. Sie haben ge sagt, wir sollen Sie verständigen, wenn wir etwas Ungewöhn liches entdecken.« »Na, dann hören wir’s uns mal an.« Sie zwängten sich in den freien Platz hinter einem der Sys
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tem-Operatoren, dann steckten sie die Kopfhörer aus ihren Bordfunkgeräten aus und stöpselten sie in die Konsole ein. Ei nige Sekunden lauschten sie schweigend. »Hören Sie’s?« »Ja«, antwortete Christine. »Was könnte es sein – was mei nen Sie?« »Mehrere Schrauben mit unterschiedlicher Umdrehungs zahlen. Vielleicht Minenräumboote oder andere kleinere Fahrzeuge. Aber es sind auch drei oder vier größere Einheiten mit langsam drehenden Schrauben dabei.« »Haben Sie schon die exakten Umdrehungszahlen ermit teln können? Oder Maschinengeräusche?« Foster schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Der Kontakt kommt noch nicht konstant rein, da ist viel Verzerrung dabei. Ich glaube, sie fahren den kleineren Fluss entlang, der direkt nach Shanghai fließt. Wie heißt er doch gleich, der Huangpu? Ich schätze, wir werden mehr hören, wenn sie ins JangtseDelta kommen.« »Okay, Chuck. Bleiben Sie auf jeden Fall dran.« »Glauben Sie, dass wir da was gefunden haben könnten?« »Wir werden’s ja sehen.« An Bord der 5-19 lugte Bootsmann Hung unter dem Stück Persenning hervor, das er als Regenschutz verwendete. »Sieht so aus, als würde der Regendrache vorüberziehen, Leutnant«, sagte er. Auf der Brücke der Cunningham hatte Amanda das dringende Gefühl, dass es jetzt an der Zeit war, zu handeln. Du darfst nicht länger zuwarten, sagte ihr eine innere Stimme, es ist Zeit, zu verduften, aber rasch! Sie schaltete ihr Mikrofon ein. »Raven’s Roost, Brücke. Chris, ich will einen Lagebericht. Haben Sie schon eine Spur?« »Nichts wirklich Konkretes, Boss-Ma’am«, kam die wider willige Antwort. »Ich würde gern noch ein wenig länger dran bleiben.« »Negativ. Ich werde die Sicherheit des Schiffes nicht länger
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aufs Spiel setzen, um irgendeinem Phantom nachzujagen. Wir kehren um.« Amanda blickte über die Schulter zurück und sah Vince Ar kady im Halbdunkel neben der Station des Rudergängers sit zen. »O.O.D., wir werden uns gleich von der Küste entfernen. Wir drehen in Kürze nach Backbord ab.« »Aye, Capt’n. Rudergänger, klar zur Kursänderung.« Amanda wandte sich wieder dem Navigationsdisplay zu und wählte einen Kurs auf der leuchtenden Karte. Sie hatte den Befehl, den sie gleich geben würde, bereits im Kopf, als Christine Rendinos Stimme aus dem Lautsprecher tönte. »Capt’n! Warten Sie noch! Wir haben etwas gefunden!« Der Regen ließ allmählich nach und ging in ein leichtes Nie seln über. Leutnant Zhou Shan blickte abrupt auf. Auch Boots mann Hung hatte es gehört. Jetzt, wo der Regen nicht mehr so heftig auf das Wasser trommelte, war an Deck der 5 -19 ein an deres Geräusch zu hören – das unverkennbare leise Heulen ei ner Gasturbine. »Geben Sie mir noch einen Augenblick, Capt’n«, flehte Chris tine in ihr Mikrofon, während sie quer durch das CIC zur So narzentrale eilte. »Okay, Foster, was gibt’s?« Der Sonarchef blickte aufgeregt von seinen Anzeigen auf. »Die Kontakte sind jetzt draußen in der Mündung. Ihre Signa turen sind eindeutiger zu identifizieren. Wir haben drei große Ziele, alle mit nur einer siebenblättrigen Schraube!« »Sind Sie sicher!« »Positiv! Wir wissen zwar noch nicht genau, wie die Schiffe aussehen, aber sie sind jetzt mit der Fahrt heraufgegangen, und ich könnte schwören, dass da Reaktorgeräusche dabei waren.« »Ach, Foster, Sie sind ein Schatz!« Christine nahm das Gesicht des verdutzten Mannes in beide Hände und küsste ihn enthusiastisch auf die Lippen. Im nächsten Augenblick war sie verschwunden, um zur Ge fechtszentrale zu eilen.
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»Capt’n, ich brauche Ihre Erlaubnis, EMCON zu brechen.« »Was?« »Nur für eine Sekunde! Ich muss das SPY-2A-System ein setzen, um einen kurzen Blick auf den Fluss zu werfen. Nicht mehr. Die chinesischen Beobachtungsstationen werden kaum Verdacht schöpfen. Skipper, ich habe keine Zeit, um es Ihnen zu erklären, aber das ist genau die Sache, wegen der wir hier sind!« Einen Augenblick wartete alles im CIC wie gebannt auf die Antwort. Dann kam sie. »Also gut.« Amandas Stimme war nun auf den Lautsprechern zu hören. »Mr. Hiro, Suchradar aktivieren, in Richtung Westen. So kurz wie möglich, aber mit voller Leistung.« An Bord der 5-19 war das Heulen der Turbinen nun deutlicher zu hören, zusammen mit dem Zischen eines Rumpfes, der durch die Wogen pflügte. In der feuchten Dunkelheit war es schwierig, die Richtung des Geräuschs zu bestimmen. »Hung!«, rief Leutnant Zhou. »Gehen Sie nach vorn und lichten Sie den Anker. Rudergänger, klarmachen zum Anlas sen der Maschinen. Funker, ich brauche eine Verbindung zum Führungsboot…« »Suche beendet, Lieutenant«, meldete der Aegis-Systemoperator. »Suchradar abgeschaltet.« »Ja!«, rief die Intel-Offizierin aus. »Lieutenant Rendino, was geht hier vor?«, fragte Ken Hiro. »Da hat jemand eine ganz miese Sache in Angriff genom men, Sir«, antwortete Christine mit ungewohntem Ernst. Das Ausmaß dessen, was sie soeben entdeckt hatte, schien sie nicht wenig zu beunruhigen. »Eine ganz miese Sache.« An Bord der 5-19 hob Leutnant Zhou das Mikrofon an die Lip pen. Im Combat Information Center der Cunningham schreckten alle Anwesenden hoch, als eine angespannt klingende
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Stimme aus einem Lautsprecher in der Intel-Abteilung er tönte. Ken Hiro verstand als Einziger, was die abgehackt ge sprochenen Worte bedeuteten. »Tragflächenboot 5-19 an Geschwaderführung! Unbekannter Kontakt…« Auf der Brücke war Christines Stimme über den Lautspre cher zu hören. »Brücke – Raven’s Roost! Jemand hat gerade hier draußen einen Funkspruch abgesetzt.« »Wo genau?«, fragte Amanda. »Ganz in der Nähe! Zu nahe, um die Richtung zu bestim men!« Auch wenn in der Dunkelheit draußen bestimmt nichts zu erkennen sein würde – Amanda konnte nicht anders, als in die Nacht hinauszublicken. »5-19 ruft erneut Geschwaderführung. Melde unbekannten Kontakt…« Zhou Shan verstummte, als er etwas Helles in der Dunkel heit aufblitzen sah; es war weiße Gischt, die sich in einem breiten V über die Wellen legte, Eine Bugwelle. Im nächsten Augenblick tauchte ein Schiffsbug aus der Nacht auf, ein schnittiger Clipperbug, der sich bedrohlich nah über dem Tragflächenboot auftürmte. Zhou war der Kommandant der 5-19. Er wusste, dass es seine Pflicht war, sein Schiff und die Besatzung zu retten. Aber er war sich auch bewusst, dass er keine Wunder bewirken konnte. Vince Arkady blickte gerade noch rechtzeitig auf den FLIRMonitor, um zu sehen, wie ein dunkles Etwas unter den Bug der Cunningham tauchte. Es war nicht mehr genug Zeit, um den Befehl zu einer Kursänderung zu geben oder ordnungs gemäß zu melden, dass er etwas gesichtet hatte. »Aufpassen!«, rief er und riss den Leistungshebel zurück. Der Bug der Cunningham krachte in die Backbordseite des Tragflächenbootes 5-19. Flammen loderten unter dem Bug hervor, und alle Anwe
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senden auf der Brücke wurden nach vorn geschleudert. Es war keine Kollision im eigentlichen Sinn, sondern eher eine abrupte Bremsung, als die Duke den Rumpf des Bootes durchtrennte. »Alle Maschinen stopp!«, rief Amanda und kam auf die Beine. »Aye, Capt’n, Maschinen stopp!«, antwortete Arkady, während er sich von der Station des Zweiten Rudergängers hochrappelte. »Brücke!«, tönte es aus dem Lautsprecher. »Was ist denn da oben los?« »Wir haben gerade ein chinesisches Patrouillenboot ge rammt«, antwortete Arkady in sein Mikrofon. »Haltet euch bereit im CIC.« Amanda eilte auf die Backbord-Brückennock hinaus und blickte über die Reling hinunter. Das chinesische Tragflächen boot war in der Mitte auseinander gerissen worden. Der vor dere Teil trieb an der Seite des Zerstörers und wurde dabei zu sammengequetscht wie eine leere Bierdose. Und mitten aus dem zerstörten Boot ertönten die Schreie einer menschlichen Stimme. Instinktiv griff Amanda über die achterliche Brückenreling und entfernte die Abdeckung, unter der sich ein T-förmiger Griff befand. Sie drehte ihn rasch herum und zog ihn heraus, ehe sie ihn wieder einrasten ließ. Im nächsten Augenblick kam ein Zwölf-Mann-Rettungsfloß aus einer Öffnung in den Aufbauten hervor und landete auf dem Wasser. Während die Duke von ihrem eigenen Schwung vorwärts getrieben wurde, sah Amanda, wie das Rettungsfloß und das Bootswrack achtern in der Dunkelheit davontrieben. Kommt mir bitte nicht in die Schrauben, dachte sie fast fle hend, alles andere halten wir aus, aber lass bitte meine Schrauben heil. »Schiffstechnische Zentrale!«, rief sie ins Mikrofon. »Schiffstechnische Zentrale, aye«, antwortete Chief Thom son mit ruhiger Stimme. »Überprüfen Sie sofort beide Antriebsgondeln. Umge hend!«
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»Zu Befehl. Ich glaube, wir sind okay, Capt’n. Ich schätze, Sie haben die Antriebe rechtzeitig gestoppt.« »Schadensicherung, Ihr Bericht!« »Alles so weit in Ordnung, Capt’n. Alle bisherigen Berichte von Schadenkontrollteam Alpha Alpha melden keine Schä den im Bereich der vorderen Spanten.« Die Konfrontation zwischen dem mächtigen Bug der Duke und dem chinesischen Tragflächenboot war eindeutig zugun sten des Zerstörers ausgegangen, »Schiffstechnische Zentrale – Kommandant.« »Ja, Chief?« »Überprüfungen abgeschlossen. Die Schrauben sind okay. Wir sind klar die Maschinen wieder anlaufen zu lassen.« Gott sei Dank. Und jetzt nichts wie raus hier, vorausgesetzt, die Chinesen haben nichts dagegen … Doch die Aufgabe würde nicht ganz leicht werden. Unten in der Stealth-Zentrale verfolgten Frank McKelsie und seine Leute bestürzt, wie die Warnlichter zu blinken begannen. Von allen Seiten flammte Such- und Feuerleitradar auf. Mächtige mobile und stationäre Radarstationen begannen mit ihren Keulen die Nacht zu durchdringen. Auch einige schwächere, aber dafür sehr naheliegende Anlagen machten sich bemerk bar, die von Schiffen stammen mussten, die nördlich der Duke lagen. »Wir sind im Arsch«, flüsterte einer der System-Operatoren. »Das kannst du laut sagen!«, knurrte McKelsie mürrisch. »Stör- und Düppelsysteme bereitmachen. Wir werden sie gleich brauchen.« Währenddessen kündigte sich im CIC eine neue Bedro hung an. Eine Stimme ertönte aus dem Lautsprecher, die überaus eindringlich klang und die wieder nur Ken Hiro ver stand. »5-19, antworten Sie! Geschwaderführer ruft 5-19. Können Sie mich empfangen? Was für einen Kontakt haben Sie gesichtet?« Der Erste Offizier der Cunningham erhob sich abrupt aus seinem Sessel. »Ich möchte auf dieser Frequenz senden!«, rief er, während er in die Funkabteilung gestürmt kam.
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Einer der Funker vollführte einige Handgriffe am Sender und reichte ihm dann das Mikrofon. »Alles klar, Sir.« Hiro nahm das Mikrofon und begann in eindringlichem Ton auf Chinesisch zu sprechen. »5-19 an Kommandeur. Ein un bekanntes Schiff hat uns ganz in der Nähe passiert. Wir gehen der Sache nach.» Hiro ließ den Mikrofonknopf los und rief über seine Schul ter zurück: »Um Himmels willen, sagt der Kommandantin Be scheid, dass wir nach Osten abdrehen müssen!« Auf der Brücke der Duke ertönte Dix Beltrains Stimme aus dem Lautsprecher: »Capt’n, Mr. Hiro meint, wir sollen sofort nach Osten abdrehen. Er hat Funkverbindung mit den Chine sen. Ich glaube, er versucht ein Täuschungsmanöver.« Ohne lange zu überlegen, griff Amanda die Strategie ihres Ersten Offiziers auf. Selbst unter voller Tarnung würde die Cunningham aus so geringer Entfernung den leistungsstarken chinesischen Radaranlagen ein Echo bieten, zumal die See im Augenblick sehr ruhig war. Doch dieses Radarecho würde sich kaum von dem des kleinen Bootes unterscheiden, mit dem sie soeben kollidiert waren. Die Chinesen würden nur ein Ziel auf ihren Bildschirmen haben, das sie für ihr eigenes Patrouillenboot halten mussten. Was für ein Glück, dachte Amanda, dass Ken Hiro so geis tesgegenwärtig gehandelt hat. Es zeigte sich einmal mehr, dass sie gut daran tat, die Eigeninitiative ihrer Offiziere nicht zu beschneiden. »Backbordruder. Neuer Kurs null-neun-null«, befahl sie. »Alle Maschinen volle Kraft voraus. Umdrehungen für 30 Knoten.« Ken Hiro hielt das Mikrofon fest in der Hand, während er sich über die Kommunikationskonsole beugte und ganz auf den Lautsprecher konzentrierte. Das Führungsteam in der Gefechtszentrale hatte sich neu organisiert, um auf die Si tuation zu reagieren. Dixon Beltrain hatte nun sowohl die Po sition des Taktik-Offiziers als auch die des Kommandanten inne, während Christine an Hiros Seite stand – jederzeit be
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reit einen Statusbericht oder eine Anweisung weiterzuge ben. »Führungsboot an alle Geschwadereinheiten – Überwassersuche in Richtung Osten einleiten! Führungsboot an 5-19 – wir haben keine unbekannten Ziele auf dem Bildschirm. Können Sie den Kon takt beschreiben?« Hiro dachte fieberhaft nach. »5-39 an Führungsboot. Wir glauben, dass es sich um einen ame rikanischen …« O Gott! Was hieß doch gleich ›Stealth‹ auf Chi nesisch? »… Tarnkappen-Zerstörer handelt. Wir haben das Ziel nicht mehr auf dem Bildschirm. Wir versuchen, den Kontakt wieder zufinden.« »Was haben Sie ihnen erzählt, Sir?«, fragte Christine Ren dino. »Die Chinesen suchen einen unbekannten Kontakt. Ich habe ihnen gemeldet, dass wir einen Zerstörer der Cunningham-Klasse verfolgen.« »Ich glaub’s nicht! Wir verfolgen uns selbst.« Die Duke entfernte sich von der Jangtse-Mündung und reihte sich dabei in die Reihe der rotchinesischen Tragflächenboote ein, die nach dem amerikanischen Schiff suchten. Es war so, als würde ein Elefant mit Hilfe moderner Technologie inmit ten einer Herde Gazellen untertauchen. Vince Arkady blieb auf seinem Posten an der Station des Rudergängers. Er sah Amanda vor der Reihe der Bildschirme stehen und mit fieber hafter Aufmerksamkeit die taktischen Displays studieren. »CIC – Brücke. Mr. Hiro meldet, dass die chinesischen Boote auf 35 Knoten beschleunigen und ihre Tragflächen ein setzen.« »Verstanden«, antwortete Amanda knapp. »Mr. Arkady, ge hen Sie auf 35 Knoten. Stealth-Zentrale, schalten Sie den Echo verstärker ein. Vergrößern Sie unser Radarprofil um 50 Pro zent.« Arkady gab den Befehl zum Beschleunigen an den Zweiten Rudergänger weiter. Es war eine absolut notwendige Maß nahme, nicht nur die Geschwindigkeit an die chinesischen Boote anzupassen, sondern auch das Radarprofil, das sich
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durch den Einsatz der Tragflächen erhöht hatte. Die Cunning ham würde wohl noch ein Weilchen unerkannt bleiben. Arkady erhob sich von der Station des Rudergängers und trat an Amandas Seite. Er beugte sich vor, als wolle er die Dis plays besonders eingehend studieren, und streifte dabei mit seinem Arm ganz kurz den ihren. »Ich habe es vermasselt, Arkady«, flüsterte sie. »Diesmal habe ich es ordentlich vermasselt.« »Das steht noch lange nicht fest, Babe. Wir halten immer noch einige Karten in der Hand.« »5-19, die Küstenstationen haben ein Notsignal entdeckt, das aus dem Bereich kommt, wo Sie den Kontakt zuerst gesehen haben. Kön nen Sie uns etwas darüber berichten?« »Sie fragen mich nach einem Notsignal«, berichtete Hiro. »Es muss von dem Boot stammen, das wir gerammt haben.« »Im Zweifelsfall können Sie Ja sagen, Sie wüssten von nichts«, riet ihm Christine. »Ja. 5-19 an Führungsboot. Uns ist nichts darüber bekannt,« »5-19, können Sie uns etwas Neues über Ihren Kontakt berich ten?« »5-19 an Führungsboot. Wir haben den Kontakt noch nicht wie der gesichtet. Wir laufen weiter in Richtung Osten.« Obwohl die Funkverbindung nicht jeden Ton in der Stimme des anderen wiedergeben konnte, spürte Hiro doch, wie das Misstrauen seines Gesprächspartners wuchs. »5-79, sind Sie sich sicher, was die Identität des Zieles betrifft?« »Ja, Geschwaderführung.« »Ich glaube, der Kerl schöpft langsam Verdacht«, brummte Hiro. »5-29, ich möchte mit Leutnant Kang sprechen.« Oh, verdammt! »Der Leutnant ist im Augenblick an Deck, Kommandant.« »Die Verbindung ist weg«, meldete der Funker. »Die Chine sen haben die Frequenz gewechselt.« »Das war’s dann wohl«, sagte Hiro und erhob sich von sei nem Platz. »Sie wissen jetzt, was es geschlagen hat.«
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»Kein Zweifel, Skipper, bei denen ist der Groschen gefallen«, meldete Christine Rendino bedauernd. »Sie sind draufgekom men, dass wir ihnen was vorgemacht haben.« «Verstanden. Schalten Sie den Echoverstärker ab. Gehen Sie auf volle Tarnung.« Amanda stand vor dem Bildschirm mit dem taktischen Dis play, das gleichzeitig unten im CIC auf dem großen AlphaBildschirm zu sehen war. Auf diese Weise blieb sie auch oben auf der Brücke über die taktische Situation auf dem Laufen den. Auch wenn die Duke im Augenblick ihr Radar abge schaltet hatte, gaben ihre passiven Sensoren doch über jede chinesische Sendeanlage in der Umgebung Aufschluss. Auf dem taktischen Display konnte Amanda erkennen, dass die Tragflächenboote ihre ursprüngliche Route verließen und wie Kampfflugzeuge nach Süden abdrehten – direkt auf die Cunningham zu. »O.O.D. Kursänderung nach Steuerbord, auf eins-drei-fünf gehen. Volle Kraft voraus.« »Aye, Ma’am, volle Kraft voraus. Neuer Kurs eins-dreifünf.« Es gab nur wenige Schiffe auf der Welt, die in der Lage ge wesen wären, einen Cunningham-Zerstörer einzuholen, wenn er volle Fahrt lief. Leider gehörten die Tragflächenboote der Huchuan-Klasse zu diesen seltenen Fahrzeugen. Und was noch schlimmer war, auch die zielsuchenden Torpedos vom Typ 53, die diese Boote mit sich führten, waren dazu in der Lage. Amanda hatte die Kursänderung in südöstlicher Richtung durchgeführt, um ihren Verfolgern zu entkommen. Doch die chinesischen Boote hefteten sich an ihre Fährte. Sie drückte auf eine Taste am Key-Pad und rief so die An zeige der Radarecho-Stärke auf. Ihre Vermutungen wurden bestätigt. Die vergleichsweise primitiven Systeme der Trag flächenboote waren nicht imstande, ein Echo von der Duke zu produzieren. Stattdessen ließen sich die Boote von den stärkeren Küstenradaranlagen lenken. Bald schon würden sie die Duke im Visier haben und ihre Torpedos abfeuern können.
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Und es gab absolut nichts, was Amanda dagegen hätte un ternehmen können. Schließlich gab es bestimmte Regeln für Kampfhandlun gen, und eine davon besagte: »Du darfst erst feuern, wenn auf dich gefeuert wird.« Wer diese Regel verletzte, würde sich mit Sicherheit vor dem Kriegsgericht wiederfinden. Doch andererseits sah es für ihre Laufbahn auch so nicht gerade rosig aus. Sie hatte soeben einen handfesten internationalen Konflikt heraufbeschworen. Alles, was ihr jetzt noch blieb, war, an die Sicherheit des Schif fes und seiner Besatzung zu denken. Mit einem ironischen Lächeln, das ihr selbst galt, schaltete Amanda ihr Mikrofon ein. »Taktik-Offizier, machen Sie die HARM-Flugkörper startklar. Wir werden gleich ein paar Ra daranlagen in der Gegend aufs Korn nehmen.« Unten in der Gefechtszentrale bereitete Dix Beltrain alles für den Start der Flugkörper vor. Die System-Operatoren be stätigten, dass die Abschussrohre des Senkrechtstart-Systems offen waren. Während er die Lenkwaffen startklar machte, be reitete er sich selbst geistig auf den Einsatz vor. Dix hatte vor einiger Zeit seinen ersten richtigen Gefechts einsatz total vermasselt. Damals war sein Handeln von einer Mischung aus Angst und Jagdfieber bestimmt gewesen. Nach diesem Vorfall hatte er jedoch seine eigene Methode ent wickelt, um ruhig zu bleiben. Es war derselbe mentale Trick, den er einst als Quarterback im College-Footballteam angewandt hatte. Die Methode be stand darin, sich all seine Ängste vor Augen zu führen – die Angst vor dem Tod, vor Verletzung und vor dem Versagen – und ihnen schonungslos ins Auge zu blicken. Danach packte man sie, bildlich gesprochen, in eine kleine Schachtel, die man im hintersten Winkel seines Gehirns verstaute und erst wie der hervorholte, wenn die ganze Sache vorüber war. Diese Methode hatte ihm stets geholfen. Dix hatte seine Ängste gerade weggesperrt, als die Warn leuchten an seiner Konsole aufflammten. »Küstenradar wechselt vom Suchmodus zur Zielerfas sung«, verkündete Frank McKelsie aus der Stealth-Zentrale.
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»Sie haben sich aufgeschaltet. HY-2-Batterien sind feuerbe reit.« Verdammt, dachte Beltrain verwundert. Wie hatte die Lady bloß wissen können, was die Kerle vorhatten? »Wir sehen es, Gefechtszentrale«, kam Capt’n Garretts Stimme aus dem Lautsprecher. »EMCON brechen! Radarsys teme einschalten und ECM einleiten! Punktverteidigung im Armageddon-Modus! Ich wiederhole, Punktverteidigung im Armageddon-Modus!« Verdammt, die Lady hatte wirklich Mumm! Sie klang fast erleichtert, dass es endlich losging. Ein verregneter Strand wurde plötzlich vo n einem rauchig orangefarbenen Leuchten erhellt. Eine schwere HY-2-Antischiff-Lenkwaffe schoss auf einem Feuerstrahl zum Himmel empor. Von ihrer Festbrennstoff-Startrakete getrieben, stieg sie hoch und jagte auf das Meer hinaus. Die HY-2, im Westen eher unter ihrem NATO-Codenamen ›Silkworm‹ bekannt, war keine besonders moderne Waffe. Es handelte sich um eine in China hergestellte Variante der sow jetischen SSN-2-Styx-Rakete. Die HY-2 war mit ihren Deltaflü geln und ihrem Turbostrahltriebwerk so etwas wie ein Kami kazeflugzeug ohne Pilot, das, vom Radar gelenkt, auf sein Ziel zujagte, um gemeinsam mit ihm unterzugehen. Obwohl es sich um eine vergleichsweise primitive Lenk waffe handelte, hatte der 500-kg-Sprengkopf der HY-2 doch eine vernichtende Wirkung – vorausgesetzt, sie wurde nicht daran gehindert, ihr Ziel zu treffen. Doch die Cunningham reagierte sofort auf die Bedrohung. Als ihr SPY-2A-Radar die feindliche Rakete entdeckte, wurde in Lichtgeschwindigkeit eine Warnung durch das Bordcomputer-Netzwerk geschickt, welches das Aegis-System bildete. Es war dies, obwohl von Menschen erschaffen, fast schon eine Art künstlicher Intelligenz, die binnen MikroSekunden die Be drohung analysierte. Die Besatzung hatte die Cunningham in den so genannten »Armageddon«-Modus versetzt, was nichts anderes bedeutete, als dass das Schiff seine Verteidigung – und die der Crew – ab jetzt selbst übernahm, Die Cunningham
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feuerte zurück, ohne noch lange auf eine Aufforderung zu warten. In einer weiteren Mikrosekunde wählte die Duke selbst aus ihrem Arsenal die Waffe, die der Situation am besten ent sprach. Die Wahl fiel auf eine der Enhanced Sea Sparrow Mis siles, von denen gleich mehrere in einer Zelle des vordersten Senkrechtstart-Systems untergebracht waren. Im nächsten Augenblick wurde die schlanke, knapp vier Meter lange Waffe mit Hilfe von hochkomprimiertem Gas aus ihrem Schacht gejagt. Hoch über dem Deck wurde dann erst die Rakete selbst gezündet, und die ESSM schoss zum Him mel empor. Die Strahlen des Feuerleitradars, mit dem der Zer störer ausgerüstet war, erfassten die Sea Sparrow und lenkten sie auf ihr Ziel zu. Drei Kilometer vor der Küste trafen der Antischiff-Flugkörper und die Lenkwaffe, die zu ihrer Abwehr ausgesandt wor den war, aufeinander. Die HY-2 hatte sich soeben nach ihrem Steigflug in die waagrechte Fluglage begeben, als die kleinere, mit dreifacher Schallgeschwindigkeit fliegende Abwehrwaffe sie erreichte. Ein blauweißes Leuchten erschien am dunklen Himmel, und im nächsten Augenblick zog sich eine flam mende Leuchtspur zum Meer hinunter. »Vampir getroffen! Vampir getroffen! Erste Punktverteidi gungsmaßnahme erfolgreich. HY-2 ist außer Gefecht.« »Ich will ihnen keine zweite Chance geben, Dix«, warf Amanda ein. »Setzen Sie eine HARM gegen die Radaranlage ein.« Sie wandte sich dem taktischen Display zu und verschaffte sich ein genaues Bild der möglichen Bedrohungen sowie der Entfernungen. Das führende chinesische Tragflächenboot war bis auf fünf Kilometer herangekommen – nahe genug für ein brauchbares Radarecho und auch für den Einsatz von Torpe dos. »Zweites Ziel. Starten Sie auch auf das führende Boot eine HARM.« »Schon unterwegs, Ma’am.« Man hörte einen gedämpften Knall aus dem Startsystem und im nächsten Augenblick stieg eine extrem schlanke Waffe
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aus dem Startschacht hervor. Sie schien einen Moment lang über dem Vordeck zu schweben, bevor ein blendend heller Feuerstrahl aus ihrer Abgasöffnung nach unten schoss. Das Schiff und seine Umgebung waren für einen Augenblick in grelles Licht getaucht, als die fünf Meter lange Lenkwaffe auch schon verschwand und auf die Küste zujagte. Wenige Sekunden später stieg die zweite Lenkwaffe hoch; das Ziel, das sie im Visier hatte, war einer der rasch näher kommenden Verfolger der Cunningham, Die Standard-SM-2 war in den späten sechziger Jahren als Standard-Boden-Luft-Flugkörper entwickelt worden. Bald je doch folgte eine zweite Version, die HARM (Homing Anti-Radiation Missile). Auf diese Weise konnte die Waffe gegen ver schiedene Emissionsquellen elektromagnetischer Strahlung eingesetzt werden – sei es eine Funk- oder eine Radaranlage. Dabei ›ritt‹ sie gleichsam auf dem Strahl des Senders, bis sie ihr Ziel erreichte und zerstörte. Die rotchinesischen Artilleristen kannten die HARM-Technologie sehr wohl. Als ihre Luftabwehrsysteme den Lenkwaf fenstart von der Cunningham registrierten, ging sofort eine Warnung durch das gesamte Netz, und die Radar-Operatoren schalteten augenblicklich ihre Anlagen aus. Doch die Reaktion kam zu spät. Die HARM verfügte über ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Die Lenkwaffe nahm das letzte von ihr registrierte Ziel ins Visier und schoss auf die Küste zu. Unmittelbar über ihrem Ziel erfolgte die Zündung, und der 100-kg-Splitter-Gefechtskopf detonierte. Die chinesische Radaranlage wurde von den Wolframsplittern förmlich zerrissen. Zum Glück für die Bedienungsmannschaft hatten sie einen klugen Batterie-Kommandeur. Er hatte die Radaranlage selbst etwas abseits seiner Stellung errichten lassen und führte sie durch Fernleitung. Dadurch gab es unter seinen Leuten nur einige wenige Verwundete. Die Besatzung des Tragflächenbootes hatte jedoch keine Chance. Die HARM explodierte direkt über dem kleinen Boot
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und vernichtete mit einem tödlichen Geschosshagel alles Le ben im Cockpit und auf den Decks. Niemand war mehr da, der das blutverschmierte Ruder hätte bedienen können, so dass sich das Boot ein, zwei Minuten führerlos im Kreis drehte, bis schließlich einer der beiden überlebenden Maschi nisten unter Deck das Ausmaß der Katastrophe erfasste und die Maschinen abstellte. »Brücke«, meldete sich Lieutenant McKelsie aus der Stealth-Zentrale. »Alle feindlichen Radaranlagen sind abge schaltet, Sie haben uns nicht mehr im Visier.« »Sehr gut, Mr. McKelsie. Feuern Sie eine volle Düppel-Ladung aus den RBOC-Werfern ab. Gefechtszentrale, alle Radarsysteme ausschalten! Totale EMCON! O.O.D. Kursänderung nach Back bord, auf null-vier-fünf gehen.« Die Cunningham krängte nach Steuerbord, während sie mit hoher Geschwindigkeit nach Backbord abdrehte. Gleichzeitig öffneten sich mehrere gut getarnte Luken auf dem Vordeck und in den Aufbauten, aus denen raketengetriebene Ge schosse emporstiegen. Wie ein Feuerwerk zerstreuten sich die Wolken aus hochreflektierender Metallfolie, die vom RapidBlooming-Overhead-Chaff-System produziert wurden, in alle Richtungen. Wenn die rotchinesischen Radarsysteme in den nächsten Minuten wieder hochgefahren werden sollten, würden ihre Operatoren es mit einer Unmenge falscher Ziele zu tun haben, ehe sie vielleicht ein Radarecho von dem flüchtenden Zerstö rer erhielten. Dass Amanda den Kurs ihres Schiffes geändert hatte, würde die Aufgabe für die chinesischen Boote zusätzlich erschweren. Bisher war die Duke in südöstlicher Richtung gelaufen – und die Tragflächenboote in einer Linie hinter ihr her. Indem sie jetzt nach Nordwesten abdrehte, würden sich die Boote zwischen das Schiff und die Küstenverteidigungsanlagen schieben, die im Moment ohnehin die größere Bedrohung darstellten. »Mr. McKelsie, sind die Küstenradaranlagen immer noch abgeschaltet?« »Bisher ja, Capt’n. Ich glaube, wir haben ihnen einen gehörigen Schreck eingejagt.«
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»Hoffen wir, dass der Schreck noch eine Weile anhält. Taktik-Offizier, sollte sich irgendwas rühren, feuern Sie sofort. Warten Sie nicht auf meinen Befehl, Dix.« »Ich hab’ den Daumen auf dem Knopf, Ma’am.« Zwei Minuten verstrichen. Dann noch eine. Die Gewitter front schob sich nach Norden weiter und für einen Augenblick erhellte ein Blitz den Horizont. Der Regen ließ allmählich nach und der Quartermaster schaltete die Scheibenwischer der Brückenfenster und die Gebläse ab. Die plötzliche Stille war ir gendwie beunruhigend. Noch eine Minute verstrich. Die Entfernung zur Küste ver größerte sich. Amanda verspürte eine plötzliche Enge in der Brust und merkte erst jetzt, dass sie buchstäblich vergessen hatte zu atmen. Draußen klarte es auf, und die FLIR-Systeme bildeten kurz eines der Tragflächenboote ab, die immer noch nach Südosten liefen. Ein Weilchen noch, und die Duke würde in Sicherheit sein. »Radarsystem auf dem Festland aktiv!« McKelsies Ruf schlug auf der Brücke wie eine Bombe ein. »Suchradar … jetzt auch Zielerfassung! Sie wollen einen Schnellschuss anbrin gen!« »Wir haben die Radaranlage im Visier«, warf Dix Beltrain ein. »Wir feuern jetzt. HARM aktiviert!« Blauweißes Feuer leuchtete draußen vor dem Fenster auf und tauchte auch das Innere der Brücke in grelles Licht. Ei nige der Anwesenden zuckten unter dem Donnern der Rake tenzündung leicht zusammen. »Vampir! Vampir! Wir haben einen aktiven HY-2-Suchkopf!« »Alle Radarsysteme einschalten!«, rief Amanda. »Punkt verteidigung aktivieren und ECM-Gegenmaßnahmen einlei ten!« »Moment noch, Skipper!«, warf McKelsie ein. »Sie haben nicht uns im Visier.« »Befehl belegt! EMCON beibehalten. Sind Sie sicher, McKelsie?« »Positiv, Capt’n! Keine Gefahr im Augenblick.« »Auf wen haben sie es denn dann abgesehen?«
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»Keine Ahnung, Capt’n. Aber wir sind es nicht … Augen blick … HY-2-Suchkopf ist nicht mehr aktiv. HY-2 ist außer Gefecht.‹‹ Einer der Ausgucks blickte von seinem Bildschirm auf. »Leuchterscheinung. Peilung in zwei-zwei-null. Schien eine Detonation zu sein, jetzt konstantes thermisches Signal aus dieser Richtung.‹‹ »Ich glaube, sie haben ihre eigenen Leute getroffen, Capt’n«, warf Arkady nachdenklich ein. »In den Pressemitteilungen werden sie es sicher anders darstellen.« Plötzlich hatte Amanda das Gefühl, das Gewicht ihres Helms nicht länger tragen zu können. Sie zog am Kinnriemen und nahm den Helm ab. Ein Schweißtropfen rann ihr von der Stirn und brannte ihr im Auge. Sie wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. »Kurswechsel nach Steuerbord, Auf null-neun-null gehen, Arkady. Maschinen volle Kraft voraus. Nichts wie weg hier.« Die leuchtend gelbe Rettungsinsel trieb auf der ruhigen See dahin. Bootsmann Hung orientierte sich am Blitzlicht der Sig nallampe, die in dieser angebracht war, während er, Leutnant Zhous reglosen Körper hinter sich herziehend, das Floß er reichte. Der Bootsmann rollte sich ins Innere des Floßes und zog schließlich den bewusstlosen Mann zu sich herein. Er bettete Zhou, so gut es ging, und begann die Bestandteile der Überle bensausrüstung durchzusehen, die seitlich im Floß ange bracht war. Er fand einen Leuchtstift, brach die innere Kapsel auf und schüttelte den Stift, bis er zu leuchten begann. In dem fahlen grünen Licht untersuchte er seinen Kommandanten. Der junge Offizier atmete regelmäßig, und die Wunde an seiner Schläfe blutete nicht sehr stark. Er war allem Anschein nach nicht lebensgefährlich verletzt. Der Bootsmann hüllte den Kommandanten in eine Decke, die sich ebenfalls in der Rettungsinsel befand, und nahm sich dann eine zweite Decke für sich selbst. Er ließ sich am anderen
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Ende des Floßes nieder, als Zhou plötzlich aufstöhnte und sich bewegte. »Wir sind in Sicherheit, Genosse Leutnant«, sagte er. »Hung, was ist passiert?«, brachte Zhou mit schwacher Stimme hervor und versuchte sich aufzusetzen. »Bleiben Sie liegen, Genosse Leutnant. Wir können jetzt nichts mehr tun. Das Boot ist versenkt worden, und wir sind in einer Rettungsinsel.« »In einer Rettungsinsel?« »Ja, Genosse Leutnant. Es ist von dem Schiff abgeworfen worden, das uns gerammt hat. Es waren Yankees, glaube ich.« Der Bootsmann zeigte mit der Hand in die Dunkelheit hi naus. »Irgendwo da draußen wird gekämpft. Ich habe gehört, wie Raketen abgefeuert wurden, und kurz bevor wir das Floß erreichten, konnte ich eine Explosion im Wasser spüren. Keine Ahnung, wer gewinnt.« »Die Besatzung! Was ist mit der Besatzung?« »Tot«, antwortete Hung und holte einen Riegel harter Scho kolade aus einem Verpflegungspaket hervor. »Unser Boot wurde in der Mitte durchtrennt und das Heck ist fast augen blicklich gesunken. Die Maschinisten Chang und Waiu und der Bordschütze Zhong gingen damit unter. Rudergänger Shi, Funker Feng und Torpedomixer Liau wurden durch den Auf prall im Cockpit getötet. Schütze Gang war vorn bei mir, aber der junge Narr hatte seine Schwimmweste ausgezogen.« Der Bootsmann entfernte die Verpackung von der Schokolade. »Er ist ertrunken, glaube ich.« »Die ganze Besatzung untergegangen«, flüsterte Zhou. »Wie kommt es dann, dass wir beide noch leben?« Hung biss prüfend in die Schokolade. »Wahrscheinlich weil unsere Stunde noch nicht gekommen ist, Genosse Leut nant«, antwortete er. Die Cunningham l i e f weiter in östlicher Richtung, wenn auch nicht mehr mit voller Fahrt. Es befanden sich jedoch immer noch alle Mann auf Gefechtsstation. Sie waren mittlerweile außerhalb der Zwölf-Meilen-Zone, und alle Anzeigen ließen darauf schließen, dass die Luft rein war. Sie hatten sich also
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erfolgreich aus der Gefahrenzone zurückziehen können. Der Schusswechsel war vorüber, doch die Besatzung stand immer noch unter dem Eindruck der Ereignisse. Auf der Brücke blickte Vince Arkady zum Kommandosessel hinüber. Amanda saß an ihrem Platz, auch wenn er nur die Umrisse ihrer Gestalt vor den leuchtenden Bildschirmen erken nen konnte. Sie blickte schweigend in die Dunkelheit hinaus. Arkady war sich völlig klar darüber gewesen, dass er im Laufe seiner Arbeit auf der Duke einer gewissen Versuchung ausgesetzt sein würde. Dabei hatte er allerdings mehr an die körperliche Anziehung gedacht. Nun war da jedoch ein Ver langen, das tiefer und noch stärker war – das Verlangen, vor Gott und aller Welt zu seiner Lady hinüberzugehen, sie in die Arme zu schließen und ihr zuzuflüstern, dass irgendwie schon alles in Ordnung kommen würde. Der Lautsprecher durchbrach die Stille. »Capt’n – Raven’s Roost.« Christine Rendinos Stimme war von einer völlig anderen Stimmung getragen, als sie oben auf der Brücke zu spüren war. Die Intel-Offizierin klang nicht im Mindesten bedrückt – im Gegenteil, sie wirkte richtiggehend überschwänglich. »Wenn Sie mal einen Augenblick Zeit ha ben, kommen Sie bitte runter. Das müssen Sie sich unbedingt ansehen!«
Pearl Harbor, Hawaii 13. August 2006, 07:52 Uhr Ortszeit Strahlendes Sonnenlicht durchflutete die Küche und Essecke von Elliot MacIntyres Wohnung. »Aber, Dad …« Der Admiral lächelte, als er den Aufschrei des Protests hörte, wie ihn wohl täglich unzählige Väter von ihren Töch tern zu hören bekamen. Er bedauerte es, dass er in seinem Le ben viel zu selten Gelegenheit hatte, eine solche Reaktion sei ner Tochter zu erleben.
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»Schau, Judy«, sagte er in ruhigem Ton. »Ich weiß, dass alle jungen Leute auf den FKK-Strand von Waimanalo gehen. Ich bin mir auch sicher, dass du reif genug bist für so etwas. Lei der bin ich es nicht. Also vergiss es.« Seine Tochter war fünfzehn und entwickelte sich allmäh lich zu einer schwarzhaarigen Schönheit, wie ihre Mutter es einst gewesen war. Auf die Worte ihres Vaters reagierte sie mit einem theatralischen Seufzer und wandte sich dem Küchen block zu, um sich um das Frühstück zu kümmern. MacIntyres Lächeln wurde noch breiter, und er widmete seine Aufmerk samkeit wieder der Morgenzeitung. Es war ihm wie vielen anderen in der Navy ergangen. Seine Laufbahn hatte es mit sich gebracht, dass er seine Fa milie viel seltener sah, als ihm lieb war. Judy war das jüng ste seiner Kinder und das einzige, das noch zu Hause lebte, und deshalb wollte er wenigstens für sie noch so etwas wie ein Vater sein. Das gemeinsame Frühstück war eine feste Einrichtung zwi schen Vater und Tochter, eine Entschädigung für die immer noch sehr häufigen Zeiten, in denen die Familie nicht zusam men sein konnte. Und so versuchten sie es einzurichten, we nigstens dieses eine Mal am Tag wie eine richtige Familie am Tisch zu sitzen und miteinander zu essen. »Kann ich dann wenigstens heute Nachmittag zu Kim hinübergehen?«, fragte Judy nach einer Weile, während sie ei nige Schnitten kanadischen Speck in die heiße Pfanne legte. »Werden alle ihre Kleider anbehalten?« »Dad!« »Klar, geh ruhig hin.« Das Telefon läutete, und MacIntyre schob seinen Stuhl zurück. »Ich geh’ schon.« »Okay. Möchtest du Rührei oder Spiegelei?« »Rührei. Zwei Eier.« Er ging in das recht komfortabel eingerichtete Wohnzim mer hinüber. Das Telefon stand auf einem Lesetisch an einem Ende der Couch. »MacIntyre«, meldete er sich. »Admiral, hier Commander Doyle in der Einsatzzentrale.«
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MacIntyre erkannte sogleich die Stimme seines Dienst haben den Offiziers. In seinem Ton war eine gewisse Dringlichkeit zu spüren. »Dieses Gespräch muss auf einer sicheren Leitung geführt werden, Sir.« MacIntyre griff nach unten und schaltete die Abhörsiche rung ein. Er wartete eine Sekunde, bis die Kontrolllichter auf leuchteten. »Wir sind sicher, Commander. Also, was gibt’s?« »Es hat da ein Problem mit Operation Uriah gegeben, Ad miral«, sagte der Wachoffizier mit dem typischen stotternden Summen, wie es digital verschlüsselte Telefonleitungen mit sich brachten. »Die Cunningham wurde vor der chinesischen Küste in Gefechte verwickelt.« Alles in MacIntyre spannte sich an, und sein Herz begann schneller zu schlagen. »Irgendwelche Einzelheiten?« »Es kam zu einem Schusswechsel mit chinesischen Rake tenbatterien und auch mit einigen Tragflächenbooten. Zwei, vielleicht sogar drei Boote wurden versenkt.« »Wie geht’s der Duke? Hat sie etwas abbekommen?« »Es wurden keine Schäden gemeldet. Auch Opfer dürfte es keine gegeben haben. Capt’n Garrett hat offensichtlich noch rechtzeitig den Rückzug antreten können. Sie möchte mit Ih nen sprechen, Sir.« »… Okay. Verständigen Sie CINCPAC und die Siebte Flotte. Ich bin in fünf Minuten unten.« MacIntyre legte den Hörer auf und griff nach seiner Uni formmütze, die auf einem Bücherregal im Wohnzimmer lag. Drüben in der Küche hatte Judy das Ende des Gesprächs mitgehört. Rasch steckte sie etwas von dem Speck zwischen zwei Scheiben Toast und wickelte das Sandwich in eine Servi ette, damit ihr Vater es gleich mitnehmen konnte, wenn er auf dem Weg zur Garage durch die Küche kam. Er nahm das Sandwich, umarmte sie rasch und eilte zur Tür. »Tut mir Leid, Liebling. Ich muss weg.« »Schon gut.« Sie hatte Verständnis. Als Tochter eines Admirals war sie so etwas gewohnt.
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MacIntyre fuhr mit seinem schon etwas älteren Porsche Targa nur vier Minuten nach seinem Telefongepräch auf den Park platz von NAVSPECFORCE. Mit zusammengebissenen Zäh nen stand er vor dem Wachposten, um die Sicherheitskon trolle über sich ergehen zu lassen. Jetzt bereute er es, dass er die Weisung ausgegeben hatte, dass jeder, der das Hauptquar tier betrat, einschließlich ihm selbst, streng kontrolliert wer den musste. Eine Minute später traf er schließlich in der Einsatzzentrale ein. Alles hier wirkte ein wenig eng; zwei Reihen Work-Stations füllten den nicht allzu großen Raum, der einst als Kantine für Mannschaftsdienstgrade gedient hatte. An den Wänden des gedämpft beleuchteten Zimmers war eine ganze Reihe von Large-Screen-Displays angebracht. Der Offizier vom Dienst blickte auf, als MacIntyre eintrat. »Freut mich, dass Sie gleich gekommen sind, Sir. Ich glaube, die Sache ist recht heikel.« MacIntyre trat an Doyles Seite, der vor dem Grafik-Display einer Karte saß, die die chinesische Küste darstellte. »Wie ist die momentane Lage?«, fragte er. »Die NSA berichtet von verstärkten Aktivitäten bei den rot chinesischen Streitkräften. In ihren Küstenverteidigungsanla gen herrscht Alarmstufe Rot. Die Hawkeye von Task Force 7.1 und die AWACS-Maschinen der Air Force, die dort patrouil lieren, melden eine große Zahl von Flugzeugstarts von Stütz punkten der Gegend von Shanghai. Zweck unbekannt.« »Weiß Admiral Tallman bereits, was sich ereignet hat?« »Ja, Sir. Task Force 7.1 ist auf Gefechtsstation. Bisher wur den keine weiteren Auseinandersetzungen gemeldet.« »Okay … Wo steht die Cunningham im Augenblick?« Der Offizier vom Dienst zeigte auf einen Punkt auf dem Bildschirm. »Ungefähr 25 Seemeilen vor der Küste. Sie läuft weiter in östlicher Richtung. Im Moment ist alles ruhig. Keine Bedrohung irgendwelcher Art.« MacIntyre gestattete sich, eine gewisse Erleichterung zu empfinden. Seine Leute waren im Moment in Sicherheit. Gott allein wusste, was als Nächstes geschah, aber zumindest hat ten sie genügend Zeit, um einmal durchzuatmen.
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»Machen Sie mir eine Verbindung zu Capt’n Garrett. Und besorgen Sie mir ein Exemplar ihrer Operationsvorgaben.« »Aye aye, Sir.« Im angrenzenden Kommunikationsraum wartete bereits ein Kopfhörer sowie ein Computer-Pad mit den entsprechen den Informationen auf ihn. »Milstar-Verbindung ist eingerichtet, Admiral.« »Okay, stellen Sie durch«, sagte der Admiral zerstreut. Er überflog rasch die kurz zusammengefassten Operationsvor gaben der Duke, um sich in Erinnerung zu rufen, was die ge nauen Aufgaben des Schiffes waren. »Sie können sprechen, Sir.« »Danke,« MacIntyre schaltete das Mikrofon ein. »Capt’n Garrett? Hier spricht Elliot MacIntyre. Was können Sie mir be richten?« Amanda Garrett klang ein wenig müde, aber dennoch kon zentriert. »Es hat einige Vorfälle von strategischer Bedeutung gegeben.« »Das ist wohl reichlich untertrieben, Capt’n. Sie scheinen da eine mittlere Lawine losgetreten zu haben. An der chinesi schen Küste herrscht Alarmstufe Rot, und Sie sind nur vierzig Kilometer vom Festland entfernt. Sind Sie sicher, dass Sie es sich leisten können, EMCON zu brechen?« »Es bleibt mir nichts anderes übrig, Sir, ich musste mich ein fach bei Ihnen melden. Wir haben da etwas entdeckt, was von größter Wichtigkeit sein könnte. Ich brauche Anweisungen, wie wir uns weiter verhalten sollen. Die Vermutung meiner IntelOffizierin, dass in Shanghai etwas vor sich geht, war korrekt.« MacIntyre blickte wieder auf sein Computer-Pad. »Sie mei nen die Sache, die Rotchina angeblich dort vorhat?« »Ja, Sir. Wir schicken Ihnen jetzt den Bericht über das, was wir herausgefunden haben.« Am anderen Ende des Kommu nikationsraumes begann ein Drucker, Papier auszuspucken. MacIntyre zeigte auf den Drucker und schnalzte aufgeregt mit den Fingern, worauf ein Funker aufsprang und die ausge druckten Seiten holte. »Es tut mir Leid, was geschehen ist, Sir«, fuhr Amanda in sachlichem Ton fort. »Ich übernehme die volle Verantwortung
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für die Vorfälle vor Shanghai. Ich fürchte, dass ich mich Ihres Vertrauens nicht würdig erwiesen habe.« »Was die Verantwortlichkeit betrifft, so haben Sie unter meinem Befehl operiert, Captain. Und ob mein Vertrauen in Sie wirklich nicht gerechtfertigt war, das wird sich noch he rausstellen. Augenblick.« Der Bericht war knapp und präzise. Vier Seiten in typisch militärischer Sprache verfasst; dabei hätte man den Kern der Sache in einem einzigen Satz ausdrücken können. »Capt’n.« »Ja, Sir.« »Vergrößern Sie den Abstand zur Küste. Sobald Sie in Si cherheit sind, laufen Sie zur Enterprise und berichten Admiral Tallman persönlich von der Sache. Ich schätze, ihr beide habt ein paar Dinge zu besprechen,«
Über dem ostchinesischen Meer 12. August 2006, 04:36 Uhr Ortszeit Am östlichen Horizont ging in leuchtend goldenem Farben spiel die Sonne auf. Amanda betrachtete das Schauspiel aus dem hinteren Cockpit des Helikopters, der in niedriger Höhe über den Wellen dahinstrich. Sie hatte vergeblich versucht, ein wenig zu schlafen, und es schließlich aufgegeben. Sie waren bereits eine Stunde in der Luft und eine weitere Stunde von ihrem Ziel, dem Flugzeugträger, entfernt. Am Sea Comanche waren zu diesem Zweck Zusatztanks an den Stummelflügeln montiert worden. Amanda blickte nach vorn und sah die immer gleichen Bewegungen, die Arkadys Helm vollführte, während der Pilot den Horizont absuchte und sich dann den Instrumenten zuwandte – ein Ablauf, den er stets aufs Neue wiederholte. Arkady hatte darauf bestanden, sie persönlich hinüberzu fliegen; er hatte einige Coffeintabletten geschluckt, um die Müdigkeit der schlaflosen Nacht zu verdrängen. Der Pilot
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hatte nicht viel gesprochen, seit sie von der Cunningham ge startet waren, aber das war etwas, das Amanda schon immer an ihm geschätzt hatte. Er war ein Mensch, der keine Angst vor dem Schweigen hatte. Sie hegte außerdem den Verdacht, dass er über telepathi sche Fähigkeiten verfügte oder zumindest ihren Blick spüren konnte, der auf ihm ruhte. »Jetzt wüsste ich wirklich gern, was du gerade denkst, mein Schatz«, sagte er in ruhigem Ton über Bordfunk. »Ich weiß nicht, ob das wirklich so interessant ist.« »Lass das doch einfach mich beurteilen.« Amanda atmete erst einmal durch. »Nun, ich denke mir, dass du vielleicht nachher einen neuen Skipper zur Duke zurückfliegen wirst.« Einen Augenblick kam keine Antwort, dann deutete sein Helm ein verneinendes Kopfschütteln an. »Nein, ich wette, sie würden die Duke Mr. Hiro anvertrauen.« »Das soll jetzt wohl ein Trost sein?« »Klar. Immerhin kennt er das Schiff und die Besatzung. Und du hast ihm alles über Stealth-Operationen beigebracht, was du weißt. Die Duke wird mit ihm viel besser dran sein als mit irgendeinem Skipper, der noch nie einen Stealth-Zerstörer von innen gesehen hat.« Trotz allem, was in den vergangenen zwölf Stunden vorge fallen war und was ihr in den nächsten Stunden noch bevor stand, stellte Amanda fest, dass sie noch lachen konnte. »Ich glaube, du schaffst es irgendwie nicht so recht, mich zu trös ten, Arkady.« Erneut deutete der graue Fliegerhelm ein Kopfschütteln an. »Es ist ganz einfach so, dass ich dich kenne. Ich glaube nicht, dass du dir jetzt jemanden wünschst, der dir schöntut. Wir ha ben keinen Einfluss darauf, was unsere Vorgesetzten für ein Urteil sprechen. Daran können wir nicht rütteln. Aber als du vergangene Nacht zu der Aufklärungsmission aufgebrochen bist, da hast du es doch getan, weil du davon überzeugt warst, nicht wahr?« Amanda blickte auf den Sonnenaufgang hinaus. »Gestern habe ich so gedacht, ja.«
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»Und jetzt, hinterher, mit allem, was du heute weißt – wür dest du da anders entscheiden?« Sie war erleichtert, dass ihr die Antwort nicht schwerfiel. »Nein.« »Na, siehst du?« Admiral Tallman donnerte mit der Faust auf den Schreibtisch. »Commander Garrett«, sagte er in bedrohlich ruhigem Ton, »diese Task Force befindet sich jetzt in Alarmbereit schaft. Wir sind auf Gefechtsstation. Wenig mehr als hundert Kilometer westlich von hier steht meine Luftpatrouille einer vollen Staffel von Q-6-Jagdbombern gegenüber. Ich würde sehr gern erfahren, wie es, verdammt noch mal, so weit kom men konnte.« Die Anspannung in der Kajüte des Admirals war beinahe mit Händen zu greifen. Amanda stand vor Tallmans Schreib tisch, während sein Stabschef unruhig auf und ab ging. Das Donnern der Flugzeuge, das immer wieder von draußen he reindrang, bewies, dass die Zahl der Einsätze deutlich gestie gen war. »Ich habe alles Wesentliche in meinem Bericht dargelegt, Sir«, antwortete Amanda in ruhigem Ton. »Wir führten ge rade eine Aufklärungsmission vor der Jangtse-Mündung durch, um einer Theorie meiner Intel-Offizierin nachzugehen. Sie hegte den Verdacht, dass die Kommunisten die militäri schen Aktivitäten rund um Shanghai auf ein Minimum be schränkten, um von einem geheimen Projekt abzulenken, das dort möglicherweise verfolgt wird.« Commander Walker meldete sich zu Wort: »Ich habe den Bericht gelesen, den Sie unserer Aufklärungs-Abteilung über geben haben. Darin war nichts enthalten, was auf ein solches Projekt schließen lässt. So weit ich das beurteilen kann, Capt’n, haben Sie ohne jeden Anhaltspunkt gehandelt.« »Manchmal gibt es eben nicht viel, von dem man ausgehen kann, Commander«, erwiderte Amanda unbeirrt. »Jedenfalls hatten unsere thermographischen Systeme im Laufe des Ein satzes eine Fehlfunktion. Warum, wissen wir bislang noch nicht. Die Systeme waren vor der Operation und auch hinter
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her voll funktionstüchtig. Nun, der Ausfall hatte jedenfalls zur Folge, dass wir mit einem rotchinesischen Torpedoboot kollidierten; es gehörte einem Geschwader an, das allem An schein nach die Flussmündung bewachen sollte. Wir waren gezwungen, uns zurückzuziehen und dabei sowohl auf die Küstenverteidigungsanlagen als auch auf die Torpedoboote einige HARMs zu starten. Danach gingen wir wieder auf Tarnmodus und zogen uns aus dem Gebiet zurück.« »Eins muss man Ihnen lassen, Capt’n Garrett«, warf Nolan Walker in bitterem Ton ein. »Wenn Sie’s vermasseln, dann gleich richtig. Die Roten haben bereits über diplomatische Kanäle verlauten lassen, dass es ein Kriegsschiff der Vereinig ten Staaten war, das ihre Hoheitsgewässer verletzt hat. Sie be haupten, Beweise dafür in der Hand zu haben. Irgendeine Ah nung, worum es sich dabei handeln könnte?« »Wahrscheinlich das Rettungsfloß, das wir für die Überle benden des Torpedobootes ausgesetzt haben, mit dem wir kollidierten.« »O, Gott!«, explodierte Walker. »Was zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht!« Amanda starrte dem Stabschef unverwandt in die Augen. »Es lagen Menschen im Wasser, Commander, das ist wohl Grund genug!« »Das reicht jetzt!«, warf Tallman ein. »Okay, wir haben er fahren, was geschehen ist. Jetzt wollen wir mal sehen, ob es das wert war. Admiral MacIntyre hat mir mitgeteilt, dass Sie einiges Material hätten, das ich mir ansehen sollte.« »Ja, Sir. Kurz vor der Kollision entdeckten wir mit unserem passiven Sonar etwas, das wie ein Konvoi klang, der den Jangtse entlanglief. Auf Vorschlag meiner Intel-Offizierin, Lt. Rendino, nahmen wir die Umgebung für einen Augenblick mit unserem SPY-2A-Radar unter die Lupe.« Amanda hob ihre Aktentasche hoch und öffnete das Schloss. »Wie Sie wissen, Sir, können wir mit dem SPY-2ASystem auf kürzere Entfernungen die Umrisse eines Zieles zweifelsfrei erkennen.« Sie holte eine Mappe aus der Tasche hervor, öffnete sie und legte sie vor Tallman auf den Schreibtisch. Commander Wal
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ker konnte seine Neugier nicht bezähmen und ging zum Schreibtisch, um dem Admiral über die Schulter zu schauen. »Dieser Ausdruck zeigt die Konturen ganz deutlich«, fuhr Amanda fort. Am unteren Rand des Blattes war eine Linie zu erkennen, die die Oberfläche des Flusses darstellte. An zwei Funkten zuckte die Linie nach oben und beschrieb skizzen haft, aber doch deutlich, die Umrisse eines kleinen Schiffes. »Hier haben wir das Führungsschiff. Als Nächstes folgt ein Minenräumboot der Lienyun-Klasse. Danach wird es wirklich interessant.« Amanda legte dem Admiral einige weitere Blätter vor, auf denen zwei deutliche Rechtecke von verschiedener Größe auf der Meeresoberfläche zu erkennen waren. Sie brauchte nichts weiter zu sagen. Tallman und Walker erkannten augenblick lich den Turm sowie das obere Seitenruder eines Atomunter seebootes. »Sie sind zu dritt, Sir«, erläuterte Amanda. »Wir haben die Länge zwischen Turm und Heck gemessen und so festgestellt, dass es sich bei den beiden ersten um Jagd-Unterseeboote der Han-Klasse handelt. Das dritte ist ein Block-2-Xia-Raketen-Unterseeboot.« Genauso wie sie selbst, als sie die Bilder zum ersten Mal ge sehen hatte, wurden auch die beiden Männer mit einem Mal sehr still. Sie stellten wohl soeben beide dieselbe Rechnung an: ein Block-2-Xia – das bedeutete 16 Mittelstreckenraketen vom Typ Ju-Lang-2. Dies wiederum entsprach 32 Megatonnen thermonuklearer Feuerkraft. »Von unseren Nachrichtendiensten wissen wir, dass die Ro ten seit über einem Jahr kein Atom-Unterseeboot mehr aus laufen ließen«, stellte Walker fest. »Sie haben ihre Flotte außer Dienst gestellt, weil sie nicht mehr die Mittel hatten, um sie einsatzbereit zu halten. Könnte es sein, dass wir es hier mit Hulks zu tun haben, die im Schlepptau laufen?« Amanda schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie holte eine CD aus ihrer Tasche hervor und legte sie auf den Schreibtisch. »Das ist eine Aufnahme, die wir von unserem passiven Sonar haben, Analysen haben ergeben, dass alle drei Boote selbstständig mit Atomkraft liefen.«
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Sie trat vom Schreibtisch zurück und ging ein paar Schritte auf und ab. »Meine Nachrichtendienst-Offizierin hat mir ge sagt, dass in Shanghai mehrere chinesische Atom-Unterseeboote außer Dienst gestellt wurden, Es muss ein großer Auf wand gewesen sein, diese drei hier zu reaktivieren. Sie warteten auf ein Zeitfenster, in der sie nicht von unseren Sa telliten erfasst wurden, und ließen die drei Boote auslaufen. Die Jagd-Unterseeboote bilden wahrscheinlich die Eskorte, und das Torpedoboot, das ich gerammt habe, war wo hl mit seinem Geschwader zur Abschirmung eingesetzt.« »Ich frage mich, ob Sie sie mit Ihrem plötzlichen Auftau chen wieder ins Loch zurückgescheucht haben.« Amanda schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich, Sir. Die Kommunisten wissen, dass die GA, wenn sie davon erfahren, alles daransetzen würden, das Raketen-Unterseeboot zu ver nichten. Ich glaube, sie führen ihre Operation weiter. Das Wolfsrudel aus Unterseebooten müsste im Moment bereits auf hoher See sein.« Admiral Tallman studierte die grafische Darstellung mit ernster Miene, so als lägen alle Geheimnisse des Universums darin verborgen. »Nolan«, sagte er schließlich, »setzen Sie sich mit der Brücke in Verbindung. Sagen Sie ihnen, die Task Group soll nach Norden abdrehen. Dann sollen gleich einige Maschinen starten und sich auf die Suche nach den Unterseebooten ma chen. Wir konzentrieren uns zunächst einmal auf ein Gebiet von … nun, sagen wir, alles, was im Umkreis von 250 Kilome tern vor der Jangtse-Mündung liegt. Ich fürchte, die Chinesen werden etwas dagegen haben, dass wir ihre Unterseeboote aufstöbern wollen – deshalb geben wir unseren Vikings eine entsprechende Deckung mit; wir brauchen Jagdbomber, Tank flugzeuge, alles was dazugehört.« »Jawohl, Sir.« »Teilen Sie Captain Williams und dem GAG mit, dass ich sie beide in einer halben Stunde zu einer Lagebesprechung auf der Kommandobrücke erwarte. Ich möchte außerdem alle verfügbaren Informationen, die wir über die rotchinesischen Atom-Unterseeboote haben.«
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»Aye, aye.« Walker ging zur Bordsprechanlage, die am Schott der Kajüte angebracht war. Tallman wandte sich Amanda zu und fragte: »Haben Sie schon gefrühstückt, Capt’n?« Amanda schüttelte den Kopf. »Nein, Sir.« »Gut, dann gehen Sie erst mal in die Messe und holen Sie das nach. Kommen Sie dann rechtzeitig zur Lagebesprechung wieder hierher. Ich möchte, dass Sie daran teilnehmen, bevor Sie auf Ihr Schiff zurückkehren.« »Zu Befehl, Sir.« Amanda bemühte sich, die Erleichterung zu verbergen, die sie empfand. »Es gehört zu Ihren Anweisungen für diesen Einsatz«, fuhr der Admiral fort, »dass die Cunningham sich unter das takti sche Kommando von Task Force 7.1 zu stellen hat, sobald eine Konfliktsituation eintritt. Hiermit setzte ich diese Bestim mung in Kraft. Die Duke ist von unseren Schiffen dasjenige, das der Suchzone am nächsten steht. Ich möchte, dass Sie ver suchen, das Raketen-Unterseeboot aufzuspüren. Dann lassen Sie es nicht mehr aus den Augen, bis Washington entscheidet, was weiter geschehen soll.‹‹ »Zu Befehl, Sir.« Tallman blickte ihr in die Augen; seine bisherigen Zweifel und Vorbehalte ihr gegenüber schienen gewichen zu sein, und er sah sie vielleicht zum ersten Mal als ein ganz norma les Mitglied seiner Streitkräfte, das es bestmöglich einzuset zen galt. »Wissen Sie, Capt’n Garrett, ich glaube, Sie hätten Napo leons Voraussetzungen erfüllt, um ein Marschall der französi schen Armee zu werden.« Amanda verstand die Anspielung und antwortete mit ei nem bescheidenen Lächeln: »Ich weiß, Sir.« Vince Arkady, der auf dem Korridor wartete, richtete sich auf, als er Amanda aus der Kajüte kommen sah. Er suchte in ihrem Gesicht nach irgendeinem Zeichen dafür, wie das Ge spräch verlaufen sein mochte, »Vielleicht verliere ich die Duke, Arkady«, sagte sie mit fins terer Miene und wartete einen Augenblick, ehe sie lächelnd hinzufügte: »Aber nicht heute.«
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Arkady strahlte über das ganze Gesicht. »Nun, dann war deine etwas riskante Strategie wohl doch nicht so schlecht.« »Kann sein«, antwortete sie und stieg die Leiter zu den un teren Decks hinab. »Schauen wir doch mal in der Offiziers messe vorbei. Ich habe auf einmal einen Bärenhunger.« »Ich auch. Du meine Güte, was für eine Nacht!« »Ja, und ich habe so den Verdacht, das war erst der An fang.« Als Commander Walker die Anweisungen von Admiral Tall man über die Bordsprechanlage weitergegeben hatte, war Amanda bereits gegangen. »Was war das für eine Sache, die Sie da über Napoleon ge sagt haben, Sir? Ich habe das nur so nebenbei gehört.« Der Admiral lächelte und verschränkte die Arme auf dem Schreibtisch. »Das war nur eine alte Geschichte aus den Napoleonischen Kriegen. Es gab da einen französischen General, der zum Marschall befördert werden sollte, und Napoleons engste Mitarbeiter lobten gegenüber dem Kaiser die Fähigkeiten und Verdienste des Mannes in den höchsten Tönen. Napoleon wollte jedoch von den Lobeshymnen nichts hören und erwi derte: ›Ich will nicht wissen, ob der Mann etwas kann – ich will nur wissen, ob er Glück hat!‹«
Washington D.C. 13. August 2006, 14:12 Ortszeit Es war eine Wagenkolonne, wie sie für den Präsidenten üblich war. An der Spitze fuhr ein Polizeistreifenwagen, der der Ko lonne einen Weg durch den Verkehr der New York Avenue bahnte. Danach folgten drei identische schwarze Lincoln-Limousinen; in zwei davon saßen nur Leute vom Secret Service, während die dritte das Präsidentenfahrzeug war. Auf die drei Limousinen folgte ein Ford Explorer mit einem schwer be
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waffneten Sicherheitsteam und zuletzt ein weiterer Streifen wagen. Im Präsidentenfahrzeug schüttelte Benton Childress’ Pres sesprecher missbilligend den Kopf. »Die Alliance of American Educators wird mit Ihrer Rede heute keine große Freude ha ben, Sir.« »Wir alle müssen manchmal unangenehme Wahrheiten zur Kenntnis nehmen, Brian«, erwiderte Childress, während er seine Notizen überflog. »Eine dieser Wahrheiten ist, dass je dermann mit einem bestimmten Budget auskommen muss, egal wie lobenswert sein Anliegen ist. Diese Regierung wird keine Geschenke verteilen, die wir uns nicht leisten können. Daran sollten sich die Leute schon einmal gewöhnen.« »Sie vertreten da eine sehr harte Linie, Mr. President«, erwi derte der Pressesprecher. In diesem Augenblick läutete eines der Telefone an der Trennwand der Limousine. Der Leiter des Secret Service Teams nahm ab, lauschte einen Augenblick und reichte dann den Hörer an Präsident Childress weiter. »Es ist Ihr Sicherheitsberater aus dem Pentagon, Sir.« Childress nahm den Hörer entgegen. »Ja, Sam?« Sam Hansons Stimme klang völlig ruhig und sachlich. Wenn man so lange im Geschäft war wie er, dann ließ man sich nicht mehr so leicht aus der Fassung bringen. »Mr. Presi dent, Sie werden unverzüglich im War Room gebraucht.« Childress dachte nicht daran, irgendwelche Fragen zu stel len. »Bin schon unterwegs.« Er gab den Hörer an den Mann vom Secret Service zurück. »Wir müssen zum Pentagon. Sofort.« Auch jetzt stellte niemand eine Frage. Der Mann vom Secret Service schaltete sein Funkgerät ein und gab die ent sprechenden Anweisungen. Die Polizeistreifenwagen an der Spitze und am Ende des Konvois schalteten ihre Sirenen ein, und die Wagenkolonne bog nach Süden in Richtung Arlington-Memorial-Brücke ab. Als das Pentagon im Jahr 1942 in Dienst gestellt wurde, war es der weltgrößte Bürokomplex. Damals debattierte man darü
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ber, wie man den riesigen Bau nutzen sollte, wenn der Krieg vorüber war. Man konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ein Land, das sich nicht mehr im Krieg befand, ein so riesiges Verteidigungsministerium brauchte, Bereits um 1950 war das Pentagon jedoch völlig ausgelas tet. Als eine weitere Ausweitung notwendig wurde, gab es nur noch eine Richtung, in die man gehen konnte: nach unten. So waren im Laufe der Jahre eine ganze Reihe von unterirdi schen Befehls- und Führungseinrichtungen hinzugefügt wor den. Der gegenwärtige War Room war einst ein unterirdisches Parkhaus gewesen. Heute war dies der Ort, wo die Joint Chiefs of Staff, also die vereinigten Stabschefs, zusammentra ten und wo die wirklich wichtigen Entscheidungen gefällt wurden. Präsident Childress war schon oft genug hier gewesen, doch an diesem Tag wirkte die Luft wie von einem drohenden Gewitter aufgeladen. Er blickte von dem glasbewehrten Bal kon hinunter und sah die Dienst habende Crew an den WorkStations sitzen. Die Leute wirkten äußerst konzentriert, und die Stimmen, die bisweilen über die Haussprechanlage ertön ten, verrieten eine ungewöhnliche Anspannung. Sam Hanson war schon hier, ebenso wie der grauhaarige Air-Force-General Morrell Landry, der Vorsitzende der Stabs chefs. Im Augenblick stand der General an einer Kommunika tionskonsole und führte ein Telefongespräch. Childress’ Sicherheitsberater wandte sich dem Präsidenten zu, um ihn zu begrüßen. »Tut mir Leid, dass ich Ihr Programm durcheinander bringen musste, aber wie es scheint, stehen wir in China vor einem großen Problem.« »Schlimmer als das, was wir ohnehin schon hatten?« »Um ein Vielfaches, fürchte ich.« »Was ist passiert?« »Einer unserer Stealth-Zerstörer war gerade auf einer Auf klärungsmission in der Gegend von Shanghai, als er auf eine Geheimoperation der rotchinesischen Marine stieß. Ein größe res Feuergefecht war die Folge. Es gab keine Opfer auf unse rer Seite … Sie bekommen noch einen ausführlichen Bericht darüber. Um aber zum Wesentlichen zu kommen: Wir haben
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erfahren, dass Rotchina ein strategisches Unterseeboot losge schickt hat. Mission und Ziel unbekannt.« »Und das ist ein so ungewöhnliches Ereignis?« Hanson nickte. »Das ist der erste Boomer, den sie seit über einem Jahr haben auslaufen lassen. Die ganze Sache findet un ter extremen Sicherheitsvorkehrungen statt. Angesichts der gegenwärtigen Situation in China können wir das unmöglich als Zufall werten.« Mit einem leisen Seufzer ließ sich Childress in einen der Sessel sinken, von denen aus man den War Room überblicken konnte. »Also gut«, sagte er, »besteht auch nur eine geringe Mög lichkeit, dass wir das Ganze falsch deuten könnten? Dass es sich um eine Routineoperation handelt?« Hanson schüttelte den Kopf. »Es werden laufend aktuelle Einschätzungen der China-Krise vorgenommen, von der CIA, der DIA und der NSA – und alle kommen zu dem gleichen Schluss. Sie stellen alle fest, dass die Kommunisten den Krieg zu verlieren drohen. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand, und die einzige Möglichkeit, die ihnen noch bleibt, ist es, die Bombe einzusetzen … und das schon sehr bald.« »Allmächtiger«, stieß Childress wie ein Gebet hervor. Der Sicherheitsberater fuhr mit allem Nachdruck mit sei nem Bericht fort. »Mr. President, wenn Rotchina sein nuklea res Arsenal reaktiviert, dann kann das in dieser Situation nur eines bedeuten.« Präsident Childress schüttelte den Schock der Mitteilung von sich ab und fragte: »Wo ist der Verteidigungsminister im Augenblick?« »Immer noch in St. Louis. Ich habe schon dafür gesorgt, dass er einen Situationsbericht bekommt. Das gilt auch für den Vizepräsidenten. Soll ich beide zurückrufen lassen, Sir?« Childress nickte langsam. Die Ellbogen auf die Armlehnen gestützt, saß er mit ineinandergefalteten Händen da und starrte vor sich hin. »Rufen Sie nur den Verteidigungsmini ster. Er soll unverzüglich kommen. Was den Vizepräsidenten betrifft, so schadet es gar nicht, wenn Stan draußen in Utah
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bleibt. Haben wir eine E-4B auf der Hill-Air-Force-Base start bereit?« »Ja, Sir.« »Gut. Dann richten wir draußen bei ihm einen Kommuni kations- und Verbindungsstab ein. Es ist gar nicht so schlecht, wenn wir das Oberkommando für eine Weile auf zwei Plätze aufteilen.« »Dem stimme ich zu, Sir«, sagte Hanson. Der Präsident rea gierte auf die Krise ganz ähnlich, wie er selbst einst auf einen Zwischenfall beim Landeanflug mit einer seiner alten ANGC-130 reagiert hatte. »Was ist mit dem Außenminister?«, wollte Childress wis sen. »Ist er schon benachrichtigt worden?« »Ich habe erst vor wenigen Minuten mit Minister Van Lyn den gesprochen. Er zeigte sich nicht sehr überrascht und hat angedeutet, dass das durchaus zu verschiedenen Vorfällen passt, die sich auf dem Krisengipfel ereignet haben. Harry schließt sich der allgemein vorherrschenden Einschätzung an. Er meint auch, dass das Potenzial für einen Atomschlag vor handen ist. Er steht Ihnen jederzeit zu einem Gespräch zur Verfügung, Mr. President.« »Gut«, sagte Childress und nickte. »Halten Sie eine Leitung für mich offen. Nun, wie sieht die militärische Seite der Sache aus?« »General Landry wird Ihnen darüber detailliert Auskunft geben.« Amerikas ranghöchster Offizier richtete sich auf, als Childress auf ihn zutrat, und die Adjutanten und Berater wi chen respektvoll zurück. »Mr. President.« »Bitte die Kurzfassung, Morrell. Wie sieht es aus?« Der Vorsitzende der Stabschefs drehte sich um und zeigte auf das Kartendisplay auf dem Bildschirm, vor dem er stand. »Bestimmt hat Ihnen Ihr Sicherheitsberater bereits das Wich tigste mitgeteilt, Sir. Um etwa acht Uhr Washingtoner Zeit sind drei rotchinesische Unterseeboote aus Shanghai ausge laufen. Zwei taktische Boote der Han-Klasse und ein strategi sches der Xia-Klasse. Der NAVSPECFORCE-Zerstörer, der die
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Boote entdeckte, konnte alle drei Ziele einwandfrei identifi zieren. Leider wurde unser Schiff ebenfalls entdeckt und un ter Beschuss genommen. Es musste sich zurückziehen und verlor den Kontakt aus den Augen.« General Landry zeigte auf eine gekrümmte Linie auf dem Display, auf dem das ostchinesische Meer zu sehen war. »Wenn man die technischen Daten der Boote in Betracht zieht dann müssten sie sich noch irgendwo hier in der Ge gend aufhalten. Mit jeder Minute, die verstreicht, ohne dass wir den Kontakt wiederfinden, vergrößert sich natürlich der mögliche Bereich,« »Und was können wir tun?«, fragte Childress. »Admiral Tallman, der Kommandeur von Task Force 7.1, schickt bereits seine Einheiten los, um nach dem Boomer zu suchen. CINCPAC hat mittlerweile beschlossen, die Orions einzusetzen, die in Okinawa und Korea stationiert sind. Das Problem ist nur, dass die rotchinesischen Einheiten sehr ag gressiv reagieren dürften, was jeden ASW-Einsatz äußerst schwierig macht. Task Force 7.1 wird bereits von Flugzeugen der rotchinesischen Luftstreitkräfte beschattet.« Landry zö gerte einen Augenblick, ehe er fortfuhr: »Ich habe übrigens Looking Glass One startklar machen lassen.« Looking Glass One, der Todesengel. Wenn Washington ei nes Tages von einem feindlichen Atomschlag getroffen wer den sollte, dann würde in diesem fliegenden Befehlsstand ent schieden werden, wie die USA reagieren sollten. Langsam und nachdenklich nahm Ben Childress seine Brille ab. Er holte ein Taschentuch aus seiner Jacketttasche hervor und begann sorgfältig die Gläser zu polieren. Zum zehntausendsten Mal fragte er sich, was wohl einen Men schen bewog, Präsident zu werden oder Armeeoffizier oder Lehrer oder sonst irgendetwas, das einem große Verantwor tung für andere aufbürdete, Mit einer raschen Bewegung setzte er die Brille wieder auf. »Also gut, General. Sie haben mir erzählt, was schon gesche hen ist. Was sollen wir Ihrer Meinung nach als Nächstes tun?« »Der CNO will eine zweite Flugzeugträger-Task-Force in das ostchinesische Meer entsenden; außerdem sollen zusätzli
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che ASW-Boote und landgestützte ASW-Einheiten bereitge stellt werden. Ich würde diesen Maßnahmen hundertprozen tig zustimmen. Es sollte absolute Priorität haben, das strategi sche Unterseeboot zu finden. Außerdem schlage ich vor, dass wir das 366. Fighter Wing auf unsere Stützpunkte in Okinawa und Korea verlegen. Die ersten Maschinen könnten sich innerhalb von vier Stunden auf den Weg machen.« »Wir haben es also wirklich mit einer dramatischen Eskala tion zu tun, General?« Der Vorsitzende der Stabschefs nickte. »Ja, Sir, so ist es. Ich neige bestimmt nicht zu vorschnellen Maßnahmen, aber wenn da draußen wirklich jemand bereit ist, seine Kernwaf fen auszupacken, dann sollten wir ihm und der ganzen Welt zeigen, dass wir die Sache verdammt ernst nehmen.« »Sonst noch etwas?« General Landry und Sam Hanson blickten einander an. »Das wäre im Moment alles, Sir.« »Also gut. Gehen Sie in allen Punkten so vor, wie Sie es vor geschlagen haben.«
Über dem ostchinesischen Meer 12. August 2006, 09:01 Uhr Ortszeit »Was hältst du davon, Arkady?« »Wovon?« »Von der U-Jagd.« »Eine recht interessante Aufgabe, würde ich sagen.« Sie waren auf dem Weg nach Hause, zurück zur Cunning ham. Der Sea Comanche ritt knapp über den Wellen dahin und peitschte mit dem Rotorabwind, den er erzeugte, Gischt auf. Arkady flog erneut in voller Tarnung, um nur ja keine uner wünschte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die schnee weißen Kondensstreifen hoch am Himmel wiesen darauf hin, dass in den höheren Regionen reger Flugverkehr herrschte.
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»Wie denkst du über die Technologie, mit der wir es hier zu tun haben?«, fragte Amanda weiter. Sie wusste selbst einiges über dieses Thema, aber als engagierter Hubschrauberpilot war Vince Arkady bestimmt ein Experte auf diesem Gebiet. Der Pilot überlegte kurz, ehe er antwortete. »Sie haben sich seit der ersten Generation schon etwas weiterentwickelt. Die Unterseeboote verfügen über einen Albacore-Rumpf und ei nen Ein-Schrauben-Antrieb. Die taktischen Unterseeboote der Han-Klasse würde ich mit den russischen Victor-1 auf eine Stufe stellen. Im Grunde die Technologie der frühen siebziger Jahre, hier und dort mit importierter Technik ergänzt.« »Und das strategische Boot?« »Da gilt das Gleiche. Hast du schon mal Bilder von einem Xia gesehen? Allein von der Konstruktion her kann es sicher nicht besonders leise durchs Wasser schleichen. Ich wette, wenn der Bursche manövriert, klingt das wie ‘ne Klospülung.« »Du glaubst also, dass es nicht so schwierig sein dürfte, die Boote zu finden?« Arkady drehte sich in seinen Gurten zu ihr um. »Ein Unter seeboot zu finden ist nie ganz leicht, nur dass es in diesem Fall etwas weniger schwierig sein sollte. Mich beschäftigt eher eine andere Frage: Was sollen wir tun, wenn wir den Boomer entdecken?« »Das werden klügere Köpfe als wir zu entscheiden haben.« Arkady stieß ein leises Schnauben aus. »Ja. Nun, so wie ich die Sache sehe, ist der Kampf gegen ein Unterseeboot so, als ob du mit einer Schaufel Klapperschlangen jagst. Wenn du eine aufstöberst, hast du ungefähr zwei Sekunden Zeit, sie zu töten. Danach verkriecht sie sich entweder in einem Loch, oder sie greift dich an.« Ein wirklich anschaulicher Vergleich, wie Amanda mit ei nem leichten Schaudern zugeben musste. In diesem Augenblick unterbrach jemand von außen ihr Gespräch. Die gedämpfte Stimme des Air Boss der Cunning ham ertönte in ihren Kopfhörern und teilte ihnen den Vektor mit, auf dem sie auf das Schiff treffen würden. Etwas zerstreut bestätigte Arkady die Meldung und antwortete seinerseits mit der voraussichtlichen Ankunftszeit.
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Plötzlich verspürte Amanda eine ungeheure Müdigkeit; immerhin hatte sie 24 Stunden nicht geschlafen. Vielleicht machte sich aber auch nur der unbewusste Wunsch bemerk bar, all den Problemen zu entkommen, die sich vor ihr auf türmten. Die heiße Augustsonne, die durch die Cockpithaube hereindrang, brannte auf ihrer Haut, und sie versuchte ein schattiges Fleckchen in einem Winkel des Cockpits zu finden. Dann schloss sie die Augen.
Hotel Manila 12. August 2006,15:23 Uhr Ortszeit Der stellvertretende Ministerpräsident Chang Huian been dete soeben seine leidenschaftliche Rede, als Harrison Van Lynden an seinen Platz im Konferenzsaal zurückkehrte. »Was habe ich versäumt?«, fragte er mit leiser Stimme und griff nach seinem Ohrknopf. »Er hat wieder mal in gewohnter Weise den Westen aufs Korn genommen«, antwortete Lucena Sagada im Flüsterton. »Aber er scheint unter den anderen Teilnehmern auf nicht allzu große Zustimmung zu stoßen.« Der Außenminister nickte. »Ich habe eben mit dem Präsi denten über den Vorfall vor Shanghai gesprochen. Wie hat China darauf reagiert?« »Nur indirekt. Sie hängen es jedenfalls überhaupt nicht an die große Glocke, wie ich es eigentlich erwartet hätte. Es ist fast so, als gäbe es da etwas anderes, das ihnen wichtiger ist.« »So ist es auch. Wer kommt als Nächster?« »Es hat eine Änderung in der Rednerliste gegeben. General Ho Chunwa hat um das Wort gebeten.« Van Lynden richtete sich auf, als der rotchinesische Offizier ans Rednerpult trat. »Jetzt heißt es aufpassen«, flüsterte er sei ner jungen Mitarbeiterin zu. »Ich glaube, diese Rede könnte wichtig werden.« Die Gesichtszüge des Generals waren völlig ausdruckslos.
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Sein Blick schweifte über die U-förmig angeordneten Tische mit den verschiedenen Delegationen. Für einen kurzen Au genblick schienen seine Augen auf Van Lynden zu ruhen, ehe er sich dem Blatt mit den Notizen zuwandte, die er vorbereitet hatte. »In den vergangenen Tagen ist die Situation im Inneren der Volksrepublik China unerträglich geworden. Schuld daran sind irregeführte Teile unserer eigenen Bevölkerung sowie kriminelle Abenteurer anderer Nationen. Die Regierung der Volksrepublik bemüht sich um eine angemessene Lösung der gegenwärtigen Krise. Wir möchten deshalb hier und heute ei nen Vorschlag unterbreiten, der sich an alle richtet, die an die sem Konflikt beteiligt sind. Als Erstes verlangen wir einen Waffenstillstand. Weiters verlangen wir, dass sich die nationa listischen Streitkräfte ausnahmslos vom chinesischen Fest land zurückziehen und dass keine weitere Einmischung von außen in innerchinesische Angelegenheiten stattfindet. Wir verlangen außerdem, dass die Rebellen die Waffen niederle gen und dass sich die Beziehungen zwischen den betroffenen Provinzen und der Regierung der Volksrepublik normalisie ren. Dafür ist die Regierung der Volksrepublik bereit, Taiwan als unabhängigen Staat anzuerkennen und die GA-Regierung als rechtmäßig zu akzeptieren. Wir bieten weiter die Auf nahme diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen an, und darüber hinaus noch einen Nichtangriffspakt. Den Rebellen oder Vereinigten Demokraten, wie sie sich nennen, versprechen wir eine verstärkte wirtschaftliche und politische Vertretung im Land, außerdem weit reichende Neuerungen hinsichtlich der Bürgerrechte – und schließlich die Garantie, dass es zu keinen Vergeltungsmaßnahmen ge gen die Bevölkerung der betreffenden Provinzen kommen soll.« Ho zögerte einen Augenblick, und auf seinem Gesicht wa ren erstmals Emotionen zu erkennen. »Niemand sollte allerdings auf die Idee kommen, dieses Angebot als ein Zeichen der Schwäche aufzufassen. Unsere Vorschläge beruhen einzig und allein auf humanitären Ge
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sichtspunkten und dem Wunsch, den Frieden in der Volksre publik wiederherzustellen. Ich möchte all unsere Feinde ausdrücklich davor warnen, unser Angebot abzulehnen. In diesem Fall würde es die Re gierung der Volksrepublik als notwendig ansehen, außeror dentliche Maßnahmen zu ergreifen, um den Konflikt zu been den und den Anliegen unseres Volkes zum Durchbruch zu verhelfen.« Lucena Sagada kritzelte rasch ein paar Worte auf das Blatt Papier vor ihr. »Meint er damit wirklich das, was ich denke?« Van Lynden skizzierte flüchtig einen Atompilz auf das Pa pier und unterstrich ihn dreimal. Im Konferenzsaal wurde es sehr still, als General Ho seine Notizen nahm und an seinen Platz zurückkehrte. So still, dass alle im Saal aufblickten, als ein Sessel nach hinten geruckt wurde. Duan Xing Ho, der Leiter der taiwanesischen Delegation, erhob sich von seinem Stuhl. Er machte keine Anstalten, ans Rednerpult zu treten, sondern wandte sich direkt von seinem Platz aus an die Anwesenden. Er sprach eher leise, doch durch die Verletzung der diplomatischen Etikette, die er mit seiner Wortmeldung beging, war es, als würde er laut in den Saal hineinrufen. »Als die Völker von China den Kampf um ihre Freiheit auf nahmen, waren wir uns vollauf bewusst, zu welchen Mitteln das brutale, tyrannische Regime, das derzeit in Peking regiert, greifen würde. Wir möchten Ihnen jedoch versichern, dass wir uns entsprechend vorbereitet haben. Wir möchten weiters festhalten, dass wir im Falle von ›außerordentlichen Maßnah men‹ gegen Taiwan oder die Territorien der Vereinigten De mokraten – zu ›außerordentlichen Vergeltungsmaßnahmen‹ greifen werden.« »Oh, Gott!«, flüsterte Van Lynden. »Sie haben sie also alle beide!«
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Das Taroka-Tal; Formosa 13. August 2006, 05:45 Uhr Ortszeit Die Ostseite der Insel Formosa ist von einem gigantischen Spalt im Granitgestein geprägt – einer Furche, die sich über lange Zeiträume hinweg in den Stein gegraben hat. Am Boden des tief eingeschnittenen, engen Tales zieht der Fluss seine Bahn, der diese Landschaft geschaffen hat. Die weiß auf schäumenden Fluten heben sich vom Grau des Gesteins ebenso ab wie vom Grün der Flechten und Moose, die seine Ufer säumen. Auch der Mensch hat hier seine Spuren hinterlassen. In die Südwand des Tales hatte man eine Straße gesprengt und gehämmert, während im Norden eine Eisenbahnlinie ange legt worden wurde. Und dann war da noch ein Tor. Es befand sich in der Nordwand und war über einen Schie nenstrang mit der Eisenbahnlinie verbunden. Der Betonrah men hatte sich im Laufe der Jahre der dunkleren Farbe des umgebenden Gesteins angeglichen, und der dicke Panzer stahl des Tores selbst war von Rost bedeckt. Das Tor führte in einen rund 400 Meter langen Bunker bzw. Tunnel, der in den fünfziger Jahren als Munitionsdepot ge dient hatte. Hunderte solcher Anlagen waren auf Formosa er baut worden, um für den unvermeidlichen Entscheidungs kampf gegen die Machthaber auf dem Festland gerüstet zu sein. Seit Jahrzehnten diente die Anlage, die tief in den Berg hineingegraben war, diesem speziellen Zweck. Bis sie vor zwei Jahren eine neue Aufgabe bekam. Hornsignale ertönten und sandten ihr Echo quer durch das Tal. Die Tore des Bunkers schoben sich auf, von einer Hydrau lik bewegt, worauf das tiefe Dröhnen eines Dieselmotors nach außen drang. Eine kleine Rangierlokomotive rollte im Schritt tempo ins Freie, um zur Hauptlinie zu gelangen. Die Lok zog drei Waggons hinter sich her. In der Mitte be fand sich ein fensterloser Befehls- und Führungswagen, während der erste und dritte Wagen jeweils eine Abschuss
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rampe enthielten, auf denen lange, schlanke Marschflugkör per ruhten. Die oberen Stufen der weiß gestrichenen Raketen mündeten in massigen Gefechtsköpfen. Die Bedienungsmannschaften der Flugkörper und das Si cherheitsteam der Anlage gingen neben den Waggons her. Die Sicherheitsleute hielten dabei nach einer eventuellen Bedro hung Ausschau, während die Flugkörper-Crews sich ganz auf ihre Lenkwaffen konzentrierten. Der Zug kam zum Stillstand, worauf die Sicherheitsleute sich auf die Knie niederließen, die Sturmgewehre feuerbereit. Die Lenkwaffen-Crews standen bei den Waggons und warte ten mit grimmigen Mienen auf weitere Befehle, um in Aktion zu treten. Während der nächsten 15 Minuten sollten sie vergeblich warten. Schließlich ertönten erneut die Signalhörner. Die Ran gierlokomotive setzte sich wieder in Bewegung, und wie ein Flusskrebs, der sich in seinen Unterschlupf zurückzieht, schob sie sich langsam rückwärts in ihre Höhle zurück. Die Sicherheitsleute folgten als Letzte in den Tunnel nach, ehe sich die Tore wieder schlossen. Die nationalchinesische Einheit zur nuklearen Abschreckung hatte soeben ihre erste Mission durchgerührt.
Rizal Park, Manila 13. August 2006, 17:28 Uhr Ortszeit »Also stimmt es, was die GA behaupten«, sagte General Ho langsam. »Sie haben also tatsächlich Atomwaffen.« »Das kann ich bestätigen«, antwortete Van Lynden. »Sie können bis zu zwanzig Ihrer größten Städte und militärischen Einrichtungen erreichen. Ich kann Ihnen weiters berichten, dass ihre Abschussbasen so gut getarnt sind, dass Sie sie mit einem Erstschlag unmöglich ausschalten könnten.« Der rotchinesische General blickte schweigend auf die Bucht von Manila hinaus. Die beiden Männer waren zu der
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Bank an dem Springbrunnen zurückgekehrt, wo sie sich be reits zuvor getroffen hatten. Van Lynden hatte um dieses Tref fen gebeten, bevor die nächste Runde der Gespräche begann, »Das ist doch Wahnsinn«, zischte der chinesische Offizier. »Da stimme ich Ihnen zu«, antwortete Van Lynden unbeirrt. »Glauben die GA wirklich, dass sie uns mit ihren Bomben davon abhalten können, die unseren einzusetzen?« »Ist es denn so?«, fragte Van Lynden. »Ich weiß es nicht.« Ho wirkte müde, als er das Gesicht in seinen Händen barg. »Ich weiß es wirklich nicht, Mr. Secre tary. Seit der Konflikt in meinem Land so eskaliert ist, betrach tet meine Regierung unsere Nuklearwaffen als letzten Sicher heitsanker für unser Überleben.« Er ließ die Hände in den Schoß sinken und richtete sich wieder auf. »Wie die Regierung handeln wird, wenn es um al les geht, das kann ich nicht sagen.« »Hier geht es tatsächlich vor allem um das bloße Überle ben, General«, erwiderte Van Lynden. »Und zwar nicht nur um das Überleben einer Regierung, sondern großer Teile Ihres Volkes. Wir haben hier die Situation, dass beide Parteien ein ander nahezu auslöschen können! Das kann doch niemand wirklich wollen!« Ho antwortete nicht, so dass Van Lynden seinen Appell fortsetzte. »Es ist tatsächlich so, dass wir es hier mit einem Gleichge wicht der Kräfte zu tun haben. Könnten die beiden Seiten nicht auf dieser Basis zu einem Kompromiss finden?« Der General schüttelte den Kopf. »Mr. Secretary, ein Kom promiss würde genauso zu unserem Untergang führen wie die Bomben der GA. Mit jedem Tag, den die Rebellion andau ert, wird unsere Kontrolle über das Volk weiter untergraben. Pluralismus ist für meine Regierung nicht akzeptabel. Wenn wir die GA und die Rebellen als gleichwertige Partner akzep tieren, würden sie bald unsere Herren sein.« »Vielleicht sollte Ihnen das zu denken geben, General.« Ho schwieg eine ganze Weile und nickte schließlich. »Mag sein, Mr. Secretary. Aber ich bin nicht befugt, solche Entschei dungen zu treffen. Wahrscheinlich wird man mich nicht ein
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mal um meine Meinung fragen. Ich bin Soldat, und ich ver stehe mich vor allem auf den Krieg. Ich weiß, wie man ein Ge biet erobert und verteidigt. Aber hier geht es nicht mehr aus schließlich um Kriegsführung. Hier geht es um Hass und Rache und um tiefe Verzweiflung, die jede Logik leugnet und die sogar den eigenen Untergang in Kauf nimmt. Die GA und die Rebellen müssen das einsehen. Wie ich schon einmal sagte, sie sind es, die einlenken sollten.« »Was ist, wenn sie es nicht so sehen, General?« »Dann sollten Sie bald Flugzeuge bereitstellen, um die Leute aus Ihrer Botschaft evakuieren zu können, Mr. Secre tary. Der radioaktive Niederschlag hier auf den Philippinen wird wahrscheinlich beträchtlich sein.«
Weißes Haus, Washington D.C. 15. August 2006, 11:01 Uhr Ortszeit »Wir haben insgesamt sechs Batterien ausgemacht, die ein satzbereit sind«, berichtete Lane Ashley. »Zwei Raketen pro Batterie.« »Können wir sicher sein, dass das alles ist?«, fragte Präsi dent Childress mit grimmiger Miene. »Wir denken schon, Sir, zumindest was die Mittelstrecken raketen betrifft. Die Nationalchinesen scheinen sie uns gera dezu mit Absicht vorgeführt zu haben. Sie haben sie genau während eines Satellitendurchgangs ins Freie transportiert.« »Sie wollten uns zeigen, dass sie tatsächlich über Atomwaf fen verfügen«, warf Harrison Van Lynden ein. Der Außenminister wohnte dieser Krisensitzung via Video konferenzschaltung bei; sein Bild war auf einem FlatscreenDisplay zu sehen. Der Präsident massierte sich mit einer müden Geste die Schläfen. »Also gut. Sehen wir uns ihre nuklearen Kapazitäten ein wenig genauer an. Haben wir irgendwelche Schätzungen, was ihre Waffensysteme leisten?«
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Sam Hanson nickte. ››Was wir hier sehen, ist eine Variante des israelischen Shavit-Startsystems, das wiederum von der Jericho-II-Rakete stammt. Unsere Atomwaffenspezialisten von Sandia Base meinen, dass es sich um einen Sprengkopf in der Größenordnung der Hiroshima-Bombe handelt. Zehn bis zwanzig Kilotonnen. Nicht unbedingt eine strategische Waffe, aber wenn eine davon auf eine Stadt fällt, legt sie diese in Schutt und Asche.« »Zielgenauigkeit? Reichweite?« »Was die Genauigkeit betrifft, so müsste es ausreichen, um eine Stadt zu treffen. Von der Reichweite her müssten sie von Taiwan aus eigentlich jeden Punkt innerhalb Chinas erreichen können.« »Verdammt.« Präsident Childress schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. »Verdammt! Was denken sich die Isrealis eigentlich dabei, dass sie ihre strategischen Atomwaf fen so einfach weiterverkaufen!« »Sir, meine Leute haben das bereits überprüft«, warf Van Lynden ein. »Die GA haben während der Amtszeit Ihres Vor gängers zwei Shavit-Prototypen gekauft, dazu Lizenzrechte und Konstruktionspläne. Selbst die Inspektoren der Vereinten Nationen haben den Verkauf gebilligt. Die Shavit-Rakete wird für Satellitenstarts eingesetzt, und zwar von einer ganzen Reihe von Dritte-Welt-Ländern.« »Leider handelt es sich um eine Technologie, die sehr leicht zweckentfremdet werden kann«, meldete sich Lane Ashley zu Wort. »Genauso wie man in einer Fabrik für Insektizide auch Nervengift herstellen könnte, kann eine Satellitenträgerrakete auch zum Transport von Atomsprengköpfen verwendet wer den. Das ist eine Tatsache, mit der wir nun mal leben müssen.« »Sieht so aus. Verdammt, Lane, wie konnten sie das System bloß zusammenbauen, ohne dass wir es mitbekamen?« Die NSA-Direktorin zuckte mit ihren zierlichen Schultern. »Neunzig Prozent der Bestandteile haben sie wahrscheinlich nach und nach aus der eigenen Startraketen-Produktion abge zweigt. Wahrscheinlich haben sie das Zeug einfach als Aus schuss deklariert. Das Startsystem dürften sie direkt im Bun ker fertig gestellt haben. Es gab bisher einfach nichts, was wir
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mit unseren Aufklärungssatelliten hätten entdecken können. Sie haben das Ganze genauso akribisch geplant wie die ge samte Operation.« Sam Hanson brummte zustimmend. »Vor ein, zwei Jahren, als sie das Shavit-System erstmals verwendeten, meldeten die Taiwaner eine Reihe von missglückten Satellitenstarts. In Wirklichkeit haben sie womöglich Reichweitentests für ihre Mittelstreckenraketen durchgeführt.« »Okay, dann besitzen sie also nicht nur das System, son dern sie haben es auch schon erprobt.« Childress erhob sich von seinem Schreibtisch und ging ein paar Schritte auf und ab. Plötzlich blieb er stehen und blickte auf den Bildschirm an der Wand. »Harry besteht die Möglichkeit, dass die Kommu nisten dadurch etwas vorsichtiger werden?« 20 000 Kilometer entfernt schüttelte Van Lynden den Kopf. »Es sieht nicht sehr ermutigend aus, Sir. Ich habe abseits der offiziellen Gespräche mit einem hochrangigen Vertreter der rotchinesischen Delegation gesprochen. Er hat durchblicken lassen, dass die Roten wahrscheinlich lieber eine atomare Auseinandersetzung riskieren, als sich in die Niederlage zu fügen.« »Sir«, warf Sam Hanson ein, »seit das strategische AtomUnterseeboot ausgelaufen ist, müssen wir das als Tatsache hinnehmen. Sie werden nicht zögern, die Bombe einzusetzen. Innerhalb der nächsten vier Wochen wird es zum Atomkrieg kommen,« Auf dem Videotelefon war zu sehen, wie der Außenmini ster abrupt aufblickte. »Vier Wochen? Worauf gründet sich diese Einschätzung?« »Auf die Zeitspanne, die das Boot unter Wasser bleiben kann«, antwortete Sam Hanson und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, die Hände über dem Bauch gefaltet. »Unsere Boote der Ohio-Klasse sind routinemäßig 60 Tage unterwegs und können, wenn es sein muss, 120 Tage draußen bleiben. Ein russisches Boot der Typhoon- oder Delta-Klasse schafft 30 bis 45 Tage. Ein Boot der Xia-Klasse hingegen kann höchstens 30 Tage im Einsatz bleiben – und in unserem Fall ist es vor zwei Tagen ausgelaufen.
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Die kommunistischen Marinestützpunkte liegen alle in Reichweite der Taiwaner. Die Rotchinesen wissen, dass die GA ihr Unterseeboot mit allen Kräften jagen werden, sobald sie es aufgestöbert haben. Das Boot ist so gut wie tot, wenn es jetzt nach Hause zurückkehrt. Es gibt kein Umkehren mehr. Man braucht keinen Computer, um eine solche Schlussfolge rung zuziehen.« »Wir können tatsächlich bereits eine deutliche Umgruppie rung und Verlegung der taiwanesischen Marinestreitkräfte feststellen«, warf Lane Ashley ein. »Alle ihre Unterseeboote und der Großteil ihrer Überwassereinheiten scheinen im ost chinesischen Meer zur U-Jagd abkommandiert zu sein. Die GA setzen so gut wie alles ein, um das strategische Untersee boot zu finden. Und wenn ihnen das tatsächlich gelingen sollte, Mr. President, dann würde das eine ganze Menge Prob leme lösen.« »Sprechen Sie weiter«, forderte Childress sie auf. »Wir haben uns verschiedene mögliche Szenarien angese hen, wie ein Erstschlag Rotchinas verlaufen könnte. Die Sprengköpfe an Bord des Xia-SSBNs spielen dabei in jedem Fall eine Schlüsselrolle: Wenn dieses Boot eliminiert ist, wer den sie ihre Ziele wohl kaum erreichen können.« »Die Kommunisten haben noch mehr Atomwaffen«, warf Van Lynden über Videotelefon ein. »Das stimmt, Harry, aber nicht sehr viele. Und auf ihre Startsysteme können sie sich nicht wirklich verlassen. Die GA haben die Luftmacht in den von ihnen besetzten Gebieten. Es ist also sehr fraglich, ob die Roten irgendwelche wichtigen Ziele von der Luft aus bombardieren könnten. Die GA verfügen außerdem über das Patriot- und das Arrow-Raketenabwehrsystem. Damit könnten sie die Kurz streckenraketen Rotchinas in ihrer Wirksamkeit einschrän ken. Deshalb sind die Roten so auf ihre Mittelstreckenraketen angewiesen, die sie vom Unterseeboot aus starten können. Ohne diese Waffe würden sie in jeder Auseinandersetzung den Kürzeren ziehen. Ein Erstschlag ohne diese Marsch flugkörper käme bestimmt einem nuklearen Selbstmord gleich.«
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»Vielleicht würden sie es in ihrer Verzweiflung trotzdem versuchen«, wandte der Außenminister besorgt ein. »Mag sein, Harry«, stellte Ben Childress fest, »aber wenn diese Waffe ausgeschaltet wäre, könnten die Kommunisten viel, viel weniger Menschen mit in den Untergang reißen.« Die anwesenden Berater saßen schweigend da, als der Prä sident seine Brille abnahm und die Gläser sorgfältig mit sei nem Taschentuch zu polieren begann. Es dauerte eine volle Minute, bis er sie wieder aufsetzte und zu seinem Sicherheits berater hinüberblickte. »Sam, setzen Sie sich mit dem Chief of Naval Operations in Verbindung. Er soll eine umfassende ASW-Operation im Westpazifik vorbereiten. Falls wir tatsäch lich auslaufen, wird es ein Einsatz, in dem es nur ein Ziel gibt: das Unterseeboot finden und es zerstören.« »Ja, Sir.« »Zum Start der Operation ist gemäß Presidential War Po wers Act meine Unterschrift notwendig. Vorläufig läuft das Ganze als ›Black Operation‹. Volle Geheimhaltung. Die Sache darf nicht in die Öffentlichkeit. Wir dürfen Rotchina nicht wis sen lassen, dass wir eine solche Operation ins Auge fassen.« »Natürlich müssen wir auch verhindern, dass die Presse Wind davon bekommt«, brummte Sam Hanson. »Das wäre wohl genauso schlimm.« Der Präsident wandte sich der NSA-Direktorin zu. »Mrs. Ashley, ab sofort hat die Suche nach diesem strategischen Atomunterseeboot für unsere Nachrichtendienste absolute Priorität! Ich will, dass dieses Boot gefunden wird!« »Verstanden, Mr. President.« Childress wandte sich wieder dem Bildschirm zu. »Harry, ich brauche zwei Dinge von Ihnen, bevor wir beschließen, wie wir weiter vorgehen: erstens die Gewissheit, dass wir alle dip lomatischen Mittel ausgeschöpft haben; zweitens die Zustim mung der anderen Pazifikstaaten und ihre Zusage, dass sie uns unterstützen werden.« Der Außenminister nickte nachdenklich. »Ich glaube, ich werde Ihnen beides liefern können, Sir. Ich weiß auch schon, wie ich das anstellen muss.«
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Hotel Manila 17. August 2006, 20:34 Uhr Ortszeit Harrison Van Lynden erhob sich, als der Agent vom Secret Service seine beiden Gäste in das Wohnzimmer seiner Suite führte. »Herr Minister Duan, Professor Djinn, ich danke Ihnen, dass Sie heute zu mir gekommen sind.« »Es ist uns eine Ehre, Mr. Secretary«, gab Duan zurück. »Was können wir für Sie tun?« »Ich hoffe, wir können etwas füreinander tun. Bitte, neh men Sie doch Platz.« Van Lynden wies auf die Couch, die an dem niedrigen Kaffeetisch stand. Doch es war diesmal Tee, der von einer Mitarbeiterin des Außenministers serviert wurde. Es war dies mehr als nur eine höfliche Geste – Van Lynden hoffte mit diesem alten chinesi schen Verhandlungsritual ein günstiges Klima für sein Anlie gen zu schaffen. Der Außenminister und seine beiden Gäste nahmen einen Schluck von dem Tee, was den Beginn des Gesprächs signali sierte. »Ich möchte mich mit Ihnen über den gegenwärtigen Stand des Krisengipfels unterhalten«, begann Van Lynden. »Und ich habe Sie heute zu mir eingeladen, weil es auf unkonventionel len Pfaden oft leichter ist, aus einer Sackgasse herauszufin den. Denn so sieht es meiner Ansicht nach mit unseren Ge sprächen hier aus: Wir stecken in einer sehr gefährlichen Sackgasse.« »Sackgassen können auch aus einem gewissen Engagement heraus entstehen, Mr. Secretary«, erwiderte Professor Djinn. »Ich fürchte, das ist hier der Fall.« »Ich verstehe Sie gut, Professor. Nur fürchte ich, dass Ihr En gagement zum ersten Atomkrieg der Geschichte führen könnte. Ich weiß, dass weder die Vereinigten Demokraten noch die GA und auch nicht die Kommunisten sich eine solche Entwicklung wünschen. Es muss einfach eine Lösung geben, die verhindert, dass Millionen Menschen den Tod finden.«
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»Es gibt eine solche Lösung«, erwiderte Professor Djinn in ruhigem Ton. »Die Lösung besteht darin, dass die Kommuni sten einsehen, dass sie verloren haben.« »Es ist nicht leicht, so etwas einzusehen. Aber vielleicht könnten wir ja die Kommunisten mit dem Gedanken konfron tieren, dass die Zeit für Veränderungen gekommen ist. Ich möchte morgen folgenden Vorschlag unterbreiten: Ein Ein frieren aller Truppenbewegungen der Vereinigten Demokra ten und der Kommunisten, weiters ein Waffenstillstand, so wie der Einsatz einer Beobachtertruppe der UNO, die den Waffenstillstand überwachen soll.« »Das würde gar nichts lösen, Mr. Secretary.« »Es würde einen Atomkrieg verhindern! Es würde Ihnen die Chance geben, in direkte Verhandlungen mit den Kommunis ten einzutreten. Die Volksrepublik muss die Vereinigten De mokraten als einen wesentlichen Faktor im zukünftigen politi schen Leben Chinas akzeptieren. Vielleicht können wir zu einem Abkommen über eine Aufteilung der Macht kommen.« »Und welche Rolle sollten wir GA dabei spielen?«, fragte Minister Duan. »Sie würden die Vereinigten Demokraten in ihren Anliegen unterstützen. Offen gestanden, werden wir einen Waffenstill stand wohl nur erreichen, wenn sich die nationalistischen Truppen vom Festland zurückziehen.« »Das ist inakzeptabel, Mr. Secretary«, erwiderte der taiwa nesische Staatsmann geradeheraus. »Auch wenn Sie dafür Taipeh in einem Atompilz unterge hen sehen?« »Ja«, antwortete Duan knapp und nahm einen Schluck von seinem Tee. »Man hat uns ein halbes Jahrhundert lang unsere Heimat und unser Erbe vorenthalten. Wir sind ein geduldiges Volk, aber auch unsere Geduld hat Grenzen. Wir kehren jetzt nach Hause zurück, Mr. Secretary, auch wenn der Weg dort hin ein gefährlicher ist.« »Auch wir auf dem Festland haben lange warten müssen«, warf Professor Djinn ein. »Wir haben auf eine Gelegenheit ge wartet, uns von der Tyrannei befreien zu können.« Der be tagte Mann hob seine von der Folter gezeichnete Hand. »Wie
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sehr haben wir unter dem Joch der kommunistischen Herr schaft gelitten. Wir sind viele Tode dabei gestorben. Warum sollten wir also ihre Bomben fürchten? Der Tod, den sie uns bringen, wird viel rascher sein als der, den wir unter ihnen er dulden mussten.« Duan nickte zustimmend. »Wir haben lange auf diesen Au genblick hingearbeitet, Mr. Secretary. Es würde sehr lange dauern, bis sich wieder eine solche Chance ergibt. Wir werden uns nicht mit Halbheiten zufrieden geben, und wir können nicht akzeptieren, dass die Hälfte unseres Volkes weiterhin mit der kommunistischen Lüge leben muss! Wir haben selbst Atomwaffen. Wir vertrauen auf den Schutz, den sie uns geben, und hoffen, dass Peking nicht so dumm ist, dieses letzte große Verbrechen zu begehen.« »Sie setzen viel aufs Spiel«, erwiderte Van Lynden langsam. »Das war uns schon bewusst, als wir diese Operation ge startet haben.« Duan leerte seine Tasse in einem Zug, und Professor Djinn tat es ihm gleich. Die Verhandlungen waren beendet. Das letzte Wort war gesprochen. »Ich habe verstanden.« Van Lynden ließ seine Teetasse halb voll auf dem Tisch stehen. Nachdem sich der Außenminister von seinen beiden Gäs ten verabschiedet hatte, suchte er sein Schlafzimmer auf. Dort erwartete ihn Lucena Sagada, und mit ihr die Vertreter Japans, Koreas und der Philippinen, die nun die Ohrhörer abnahmen, als Van Lynden eintrat. »Gentlemen«, sagte er, »jetzt ist es an mir, mich bei Ihnen für meine etwas ungewöhnliche Art der Diplomatie zu ent schuldigen. Doch ich hielt es für überaus wichtig, dass Sie an gesichts der wichtigen Entscheidung, die vor uns liegt, noch einmal hören, wie unsere chinesischen Freunde über die Sa che denken.« Botschafter Moroboshi antwortete mit einem Lächeln: »Es war bestimmt nicht das erste Mal, Mr. Secretary, dass wichtige Staatsgeschäfte in einem Schlafzimmer entschieden wurden.« »Aber nur wenige von solcher Tragweite«, warf Botschafter Chung Pak ein. Im Gegensatz zu seinem japanischen Kollegen
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machte der stämmig gebaute Koreaner ein sehr ernstes Ge sicht. »Diese Narren werden es also wirklich tun, nicht wahr?«, meldete sich Jorge Apayo, der Vertreter der Philippinen, zu Wort. »Sie gehen bis zum Äußersten, bis die Bombe fällt.« »So sieht es aus«, antwortete Chung. »Die Analyseabteilung unseres Generalstabs hat die Einschätzung unserer amerikani schen Kollegen überprüft. Wir stimmen zwar nicht in allen Punkten überein, aber wir sind ebenfalls der Ansicht, dass ein Atomkrieg durchaus im Bereich des Möglichen liegt.« »Unsere Leute halten eine nukleare Auseinandersetzung für sehr wahrscheinlich«, warf der japanische Botschafter ein. Van Lynden nahm auf der Bettkante Platz. »Mir ist auch be kannt, dass Ihre Leute sich mit der Frage beschäftigt haben, was passiert, wenn in China ein Atomkrieg ausbricht.« »Es würde schlimm ausgehen«, antwortete Moroboshi. »Schlimm für uns alle, einschließlich der Vereinigten Staaten. Tschernobyl mal zehn, könnte man sagen.« Der japanische Botschafter wandte sich seinem Note-Pad zu. »Wir rechnen mit 30 bis 40 nuklearen und thermonuklea ren Detonationen in einem Zeitraum von 24 Stunden. Dabei wären ein beträchtlicher radioaktiver Niederschlag sowie er höhte Strahlungswerte im gesamten Pazifikraum zu erwar ten. Auch die Schädigung der Ozonschicht wäre enorm. Was ser und Boden wären für lange Zeit mit Strontium-90 verseucht. Und durch das freiwerdende Plutonium würden vielleicht tausende Quadratkilometer Land unbewohnbar ge macht. Man müsste Unsummen für die Entstrahlung und die medizinische Betreuung der Bevölkerung ausgeben. Der wirt schaftliche Schaden für die gesamte Region lässt sich kaum abschätzen.« »Wie steht es mit der Opferbilanz?«, fragte Lucena Sagada mit leiser Stimme. »Im Pazifikraum müsste man mit hunderttausenden Fällen von zumindest leichter Verstrahlung rechnen. Alle Länder auf der Nordhalbkugel hätten in den nächsten 50 Jahren eine deutliche Zunahme der Krebserkrankungen zu verzeichnen. Wahrscheinlich um 20 bis 25 Prozent. Diese Zahlen beziehen
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sich selbstverständlich nur auf die indirekten Auswirkungen in unseren Ländern«, fügte Moroboshi hinzu. »Die Situation in China wird … um einiges dramatischer ausfallen.« Für einige Sekunden herrschte Schweigen im Raum. »Gentlemen«, sagte Van Lynden schließlich, »ich glaube, wir stimmen alle darin überein, dass es gar nicht so weit kom men darf. Heute hat bereits jede Ihrer Regierungen eine offizi elle Note vom Präsidenten der Vereinigten Staaten erhalten. Darin wird der Gedanke geäußert, dass wir an eine Interven tion denken, falls es zu keiner Lösung auf dem Verhandlungs weg kommen sollte. Intervention heißt, dass wir das rotchine sische Atomwaffen tragende Unterseeboot, das vor wenigen Tagen ausgelaufen ist, finden und unschädlich machen. Ich glaube, wir sollten nun davon ausgehen, dass uns tatsächlich keine andere Alternative bleibt. Können Sie mir vielleicht schon sagen, welche Antworten von Ihren Regierungen zu er warten sind?« Botschafter Chung zuckte die Schultern. »Wir sind dem Krisenherd am nächsten, haben also kaum eine Wahl. Wenn die Vereinigten Staaten bereit sind, die Führung in dieser Sa che zu übernehmen, wird die Republik Korea ihnen sowohl militärische als auch diplomatische Unterstützung bieten.« »Das werden auch die Philippinen tun«, warf Minister Apayo ein. »Wir verfügen über keine großen militärischen Mittel, aber wir können Luft- und Marinestützpunkte und lo gistische Unterstützung anbieten.« Die Aufmerksamkeit der Anwesenden wandte sich Bot schafter Moroboshi zu, der die Entscheidung Japans verkün den würde. Der Botschafter zögerte einige Sekunden, bevor er das Wort ergriff. »Japan hat dem Krieg als Mittel der Politik abgeschworen. Es brauchte schon einen gewichtigen Grund, um von diesem Grundsatz abzuweichen. Doch die drohende nukleare Verwüstung unserer unmittelbaren Umgebung stellt wohl einen ausreichenden Grund dafür dar. Ich denke, Sie können mit der vollen Unterstützung meines Landes rech nen.« Van Lynden nickte. »Gentlemen, ich danke Ihnen im Na men der Vereinigten Staaten. Möge unsere Entscheidung die
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richtige sein. Und jetzt, so glaube ich, werden wir uns alle mit unseren Regierungen in Verbindung setzen müssen,« »Eine Frage noch, Mr. Secretary«, warf der Vertreter der Philippinen ein. »Was ist mit den Taiwanern? Es heißt, ihre Flotte ist bereits ausgelaufen, um die rotchinesischen Unter seeboote zu finden. Werden wir unsere militärischen Maßnah men mit ihnen koordinieren?« »Es erscheint mir logisch, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Mr. Apayo.« »Den Kommunisten muss das aber so vorkommen, als würden wir ab sofort die GA unterstützen.« »Das stimmt, Mr. Apayo. Aber mir scheint, dass eine neu trale Haltung nun nicht länger angebracht ist.«
Shanghai, China 18. August 2006, 07:44 Uhr Ortszeit Die Zeit der Geheimhaltung war vorüber. Das Geschwader war aus seinem Versteck beordert worden und lag nun unter freiem Himmel an seinen Festmachern. Zumindest die Über reste des Geschwaders. Leutnant Zhou stand am Geländer des Piers und dachte über sein neues Kommando nach. Das Boot 5-16, das zuvor der stellvertretende Kommandeur befehligt hatte, war nun ihm anvertraut worden. Leider war es in keinem allzu guten Zustand. Die Aufbauten des Bootes war von einem schweren Granattreffer zerrissen worden, und ein Arbeitsteam von der Werft war soeben dabei, die Blutflecken vom Vordeck abzu schrubben. Bootsmann Hung war ebenfalls beschäftigt; er bemühte sich, die Reparaturarbeiten zu koordinieren und die Hand voll unerfahrener Matrosen einzuweisen, die die neue Besat zung des Bootes bildeten. Nach der deftigen Sprache zu urtei len, in der er auf die jungen Männer einredete, stand er vor keiner leichten Aufgabe.
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Doch auch Zhous Probleme würden nicht leicht zu mei stern sein. Kommanodore Li und der Politoffizier waren ums Leben gekommen, als das Führungsboot von einer schlecht gezielten Salve von Silkworms getroffen worden war. Der stellvertretende Kommandeur des Geschwaders und dessen Stellvertreter waren ebenfalls tot; wenigstens waren sie feind lichen Raketen zum Opfer gefallen. Zhou betrachtete sich immer noch als sehr jungen Offizier – und dennoch war er nun Geschwaderchef. Das Flottenhaupt quartier schien weder die Absicht noch die Befugnis oder die Möglichkeit zu haben, einen neuen Kommandeur einzuset zen. Jetzt, wo die Unterseeboote ausgelaufen waren, kamen auch keine Befehle mehr an das Geschwader. Sie waren auf sich allein gestellt – für Angehörige der Volksbefreiungsarmee ein ziemlich unüblicher Zustand. Doch Zhou wusste, was zu tun war. Er musste das Geschwader zu erst einmal neu organisieren. Er musste mithelfen, dass man den Schock über die erlittenen Verluste vergaß, und seine Leute wieder auf den Kampf vorbereiten. Vor allem aber musste er eine ehrenvolle Aufgabe für sie finden. Wie er so in Gedanken versunken dastand, kam ihm auf einmal ein Bild in den Sinn. Er dachte an den mächtigen Bug eines Schiffes, das geisterhaft aus dem Nebel auftauchte …
Operationsgebiet der Siebten Flotte 18. August 2006, 09:00 Uhr Ortszeit **FLASH RED FLASH RED FLASH RED FLASH RED FLASH RED** **SECURITY AUTHENTICATOR; STINGRAY-BRAVO-SIX-
SIX-ZERO**
**ACTIVE SECURE*********CHECK-VERIFY-GO**
**EINSATZBEFEHL**
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VON: CINC-7 AN: ALLE LAND/LUFT/SEEEINHEITEN DER 7. FLOTTE LAUT ANWEISUNG DES OBERBEFEHLSHABERS DER STREITKRÄFTE TRETEN MIT 18. AUGUST 2006, 12 00 UHR, FOLGENDE ÄNDERUNGEN DER EINSATZVORGABEN FÜR DIE 7. FLOTTE IN KRAFT: 1. OBERSTE PRIORITÄT WIRD DER AUFFINDUNG UND IDENTIFIZIERUNG ALLER ROTCHINESISCHEN ATOM UNTERSEEBOOTE DER HAN- UND XIA-KLASSE EINGE RÄUMT, DIE GEGENWÄRTIG IN ASIATISCHEN GEWÄS SERN BZW. IM PAZIFIK OPERIEREN. 2. BEI ORTUNG UND POSITIVER IDENTIFIZIERUNG SIND BESAGTE ROTCHINESISCHE BOOTE UNTER ALLEN UM STÄNDEN ZU VERSENKEN.
Ostchinesisches Meer
55 Seemeilen westlich der Insel Kume-Shima
19. August 2006, 12:47 Uhr Ortszeit »Ein Brief von Ihrer Exfrau, Doc?«, fragte Amanda mit einem angedeuteten Lächeln. »Noch schlimmer«, antwortete Golden mit einem theatrali schen Seufzer. »Der Brief ist von ihrem Anwalt. Wir sind zwar getrennt, aber die Sache ist noch lange nicht ausgestanden.« Ein Großteil der ranghöheren Offiziere der Cunningham hatte sich um den Tisch in der Messe versammelt, als der Ste ward das Mittagessen servierte. Eigentlich fehlte nur Ken Hiro. Da sich das Schiff in erhöhter Alarmbereitschaft befand, wechselten sich die Kommandantin und der Erste Offizier un ten im CIC ab. Diese Mahlzeit gehörte Amanda; es war eine willkommene Gelegenheit, ihre Bürde für ein Weilchen hinter sich zu lassen.
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Der Schiffsarzt faltete den Brief mit einer demonstrativen Geste und steckte ihn wieder ein. »Capt’n, Sie können Mari lyn wirklich dankbar sein«, sagte er. Amanda stellte ihre Kaffeetasse nieder. »Wie darf ich das verstehen, Doc?« »Wegen ihr bin ich hier auf Ihrem Schiff. Wäre ich an Land geblieben, hätte sie es umso leichter gehabt, mich in ihre Fänge zu bekommen. Hier auf See habe ich wenigstens etwas Ruhe und Frieden.« Seine Worte lösten Gelächter in der Runde aus. »Ach, kommen Sie, Doc«, stichelte Arkady. »So schlimm kann es doch nicht gewesen sein. Immerhin haben Sie die Frau geheiratet.« »Werd’ ich Ihnen was verraten, Fliegerjunge«, erwiderte Golden in betont jiddischem Akzent. »Als meine Frau und ich das erste Mal in eine gemeinsame Wohnung zogen, musste sie sich von ihrer Katze trennen. Ich bin gegen Katzen allergisch. Wenn ich damals gewusst hätte, was mich erwartet, dann hätte ich statt ihr die Katze genommen! Gegen die Katze hätte ich wenigstens Pillen nehmen können!« Es herrschte angenehme Heiterkeit in der Messe – eine Hei terkeit, die unter den gegebenen Umständen nicht lange an halten konnte. »Hey, Capt’n«, sagte Chief Thomson. »Gibt’s was Neues von der U-Jagd?« »Wir stehen immer noch ungefähr da, wo wir gestern Abend waren«, antwortete Amanda und nahm einen Bissen von ihrem Sandwich mit warmem Truthahnfleisch. »Unsere Aufgabe ist unverändert: Wir müssen sie daran hindern, den Pazifik zu erreichen.« Amanda stellte fest, dass sie zu ihrem gewohnten sachlich professionellen Ton zurückgekehrt war, während die Auf merksamkeit der Offiziere sich ihr zuwandte. »Mittlerweile ist der Weg aus dem ostchinesischen Meer von einer multina tionalen Unterseeboot- und Überwasser-Task-Group ver sperrt. Die koreanische Marine blockiert die Formosastraße. Japanische Einheiten kümmern sich um den nördlichen Teil der Ryukyu-Inseln, während die Siebte Flotte den Südteil
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übernimmt. Nachdem die Grenzen gesichert sind, kann das Gebiet jetzt systematisch mit ASW-Einheiten abgesucht wer den. Jetzt müssen wir den chinesischen Boomer nur noch fin den.« »Hat schon jemand eine Theorie, wo sich der Bursche auf halten könnte?«, fragte Frank McKelsie. »Wahrscheinlich ganz in der Nähe«, warf Christine Ren dino ein. »Man nimmt allgemein an, dass er sich hier ir gendwo tief unten verborgen hält und auf seine Chance war tet, zu entwischen.« »Was machen wir dann ganz allein hier draußen?« »Wir sind ja nicht ganz allein«, erwiderte Amanda. »Ent lang des Ryukyu-Grabens formiert sich gerade eine zweite Li nie von Überwassereinheiten. Unsere Aufgabe ist es, die rot chinesischen Unterseeboote in die seichteren Gewässer vor der chinesischen Küste zurückzutreiben. Da wir nicht direkt mit Task Force 7.1 zusammenarbeiten, ist es nur logisch, dass man uns als Beitrag der U.S.-Streitkräfte mit den japanischen und taiwanesischen Einheiten zu sammenschließt.« Sie hielt inne, um einen Schluck Kaffee zu nehmen. »Zumindest hat man es mir so erklärt.« »Verstehe.« Die Offiziere der Duke wandten sich wieder der Mahlzeit zu und bemühten sich dabei, die unausgesprochene Wahrheit zu ignorieren, die über ihnen allen schwebte: Das taktische atomgetriebene Unterseeboot ist der gefährlichste Jäger der Ozeane, der Todfeind des Überwasser-Kriegsschiffs. In den Tiefen des Meeres nach einem solchen Boot zu suchen, gleicht der gefährlichen Arbeit des Pioniers, der verborgene Landmi nen aufstöbern muss. Ein ›Erfolg‹ ist dabei nicht selten mit ei ner todbringenden Explosion verbunden. Wenigstens konnten sie ihre Mahlzeit in Ruhe zu Ende bringen. Sie wollten sich gerade dem Dessert zuwenden, als eine Stimme aus dem Lautsprecher ertönte. »Messe – CIC.« Amandas Kopfhörer lag an seinem gewohnten Platz neben dem Teller. Sie setzte ihn rasch auf und meldete sich. »Messe, aye. Was gibt’s, Ken?«
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»Südöstlich von uns hat jemand mit einer aktiven Sonarsu che begonnen. Entfernung unbekannt, aber über dem Hori zont. Wir denken, es könnte sich um das nächste Schiff han deln, dass zu unserer Truppe stößt.« »Gibt es sonst irgendetwas Neues?« »Noch nicht. Wir … Moment … Soeben kommt ein neuer Bericht herein. Die Fregatte Po Yang von der taiwanesischen Marine meldet möglicherweise einen Kontakt. Sie verfolgen das Ziel und versuchen es zu identifizieren.« Alle Augen waren auf Amanda gerichtet; man wartete ge spannt auf ihre Reaktion. »Chris«, flüsterte sie ihrer Intel-Offizierin zu. »Was wissen Sie über die Po Yang?« »Ehemalige Fregatte der U.S. Navy, Knox-Klasse. 1995 von den Taiwanesen gekauft. Die Systeme wurden in taiwanesi schen Werften erneuert. ASROC-ASW-Startgeräte vorn, zwei Dreifach-Torpedorohre mittschiffs. Für den Einsatz eines Kaman-Super-Sprite-LAMPS-Helikopters gerüstet.« Wie ein Computer rasselte sie die Fakten herunter. »SQS-26-Rumpfsonar und SQR-18-Schleppsonar.« Amanda wandte sich ihrem Taktik-Offizier zu. »Dix, eine Knox gegen ein Han oder Xia. Wer gewinnt das Duell?« Der TACCO zuckte die Schultern. »Wenn es eins gegen eins geht, Ma’am, dann gewinnt der, der den ersten Schuss abfeu ert. Andererseits, wenn es sich um eines der gesuchten Boote handelt, ist es sicher bis an die Zähne bewaffnet.« Vince Arkady schob seinen Sessel zurück. »Capt’n, viel leicht sollte ich gleich mal aufbrechen und nachsehen.« Amanda bremste ihn mit einem raschen Kopfschütteln. »Nein. Wir warten ab, bis wir mehr wissen.« Das Mittagessen war längst vergessen, während sie da saßen und warteten. Die Minuten verstrichen. Sie nippten an ihren Getränken oder stocherten in ihrem Dessert herum, bis der Steward sichtlich angespannt den Tisch abzuräumen be gann. Schließlich meldete sich erneut der Lautsprecher: »Messe – Sonar hat eine Unterwasser-Explosion registriert.« »Eins von uns oder von den anderen?«, brachte einer von ihnen mit leiser Stimme hervor.
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Ken Hiro lieferte wenig später die Antwort. »Capt’n, soeben ist ein Notruf von der Po Yang eingegan gen. Sie wurden von einem Torpedo getroffen. Position 36 Ki lometer süd-südwestlich von uns.« »Okay! Ken – alles auf Gefechtsstation. Kurs auf die Po Yang. Alle Maschinen volle Kraft voraus!« Amanda gab alle weiteren Befehle, während bereits die Alarmhörner ertönten. »Kommunikationsraum, setzen Sie folgenden Spruch an die Po Yang ab: ›Haltet durch. Wir kom men so schnell wie möglich.‹ Dann nehmen Sie Verbindung mit der Siebten Flotte auf. Melden Sie den Kontakt und teilen Sie ihnen mit, was wir vorhaben. Fragen Sie, ob sie uns zu sätzliche Unterstützung schicken können.« »Aye aye, Capt’n.« Ihre Offiziere saßen um den Tisch versammelt und warte ten auf weitere Anweisungen. »Mr. Arkady, Sie bleiben noch einen Augenblick bei mir. Die anderen auf ihre Stationen! Dann los!« Im nächsten Augenblick waren sie auf den Beinen. Der Pi lot hatte sich ebenfalls erhoben und wartete aufgeregt darauf, ebenfalls seine Abteilung aufsuchen zu können. »Arkady, bei unserer momentanen Geschwindigkeit sind wir so laut, dass unser Sonar uns nichts liefern kann. Wir wer den also eine Weile so gut wie taub sein. Machen Sie sich mit beiden Helis auf den Weg und durchkämmen Sie die Gegend. Finden Sie das Unterseeboot!« »Verstanden!« Er nickte ihr kurz zu und eilte nach achtern hinaus, um den Hangar aufzusuchen. »Capt’n, hier Kommunikationsraum. Die Po Yang hat so eben gemeldet, dass sie von einem zweiten Torpedo getroffen wurde. Der Funkkontakt ist abgerissen, dafür bekommen wir jetzt ein Echo von einem Rettungsfloß aus dieser Richtung herein.« »Verstanden. Ich bin gleich im CIC.« Im Hangar leuchteten Warnlichter auf, als der Hubschrauber-
Aufzug unter dem Heulen der Hydraulik nach unten sank.
»Los! Los! Beeilt euch!«
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Mehrere Matrosen rollten den Hubschrauber auf die Auf zugplattform. Der Sea Comanche war nach dem letzten Ein satz der üblichen Wartung unterzogen worden. »Gus! Wo stecken Sie denn?«, rief Arkady, während er durch die Eingangsluke hereingestürmt kam. »Hier, Lieutenant!« AC-1 Gregory ›Gus‹ Grestovitch, Arka dys Waffensystemoffizier, stand bereits vor seinem Spind und zog den Fliegerkombi an. »Was haben wir geladen?« »Wir haben noch dasselbe Paket wie heute Morgen. MADSystem und Sonarbojen. Aktive und passive Systeme, fifty fifty ve rteilt.« »Okay. Sie sollen uns auch einen Mark-50 und ein Ret tungsfloß laden. Rasch!« »Aye aye, Sir!« Der schlaksige W.S.O. schnappte sich seinen Helm und eilte zum Waffenteam hinüber. Arkady zog sich rasch um und schwang sich ins Cockpit seines Helikopters, um alles für den Start vorzubereiten. Er wusste genau, dass seine Leute so schnell arbeiteten, wie sie nur konnten – dennoch ging es ihm nicht schnell genug; die Lady zählte nun mal auf ihn. Ungeduldig drehte er sich in seinem Sitz herum und sah zu, wie das Rettungsfloß und der kleine Barracuda-ASW-Torpedo an den Stummelflügeln des Helikopters befestigt wurden. Die Männer waren immer noch mit der Montage beschäftigt, als der Aufzug schon nach oben stieg. Der Himmel war klar und blass im Licht der strahlenden Mittagssonne. Eine einsame Haufenwolke stand drüben am nördlichen Horizont. Ihr Weiß entsprach der Farbe der Gischt, die hier und dort auf den Wellen aufschäumte, und dem Kiel wasser, das die Cunningham hinter sich ließ. Die Duke beschleunigte spürbar. Über den Schornsteinen schimmerte die heiße Luft und die Decks erbebten, als die Schrauben ihre Drehzahl erhöhten. Amanda holte alles aus ihrem Schiff heraus, um möglichst rasch zur schiffbrüchigen Besatzung der taiwanesischen Fregatte zu gelangen. Und sie wagte sich mit der Cunningham in ein Gebiet vor, wo es tatsächlich gefährlich zu werden begann,
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Verdammt! Er sollte längst da draußen sein und ihr Deckung geben. »Kommt schon! Wir müssen den Vogel end lich in die Luft bringen! Beeilt euch!« Die Rotorblätter wurden ausgebreitet und fixiert. Die Besatzungsmitglieder, die für die Befestigung der zusätzlichen Ladung verantwortlich waren, wichen zurück und gaben dem Piloten das Signal, dass sie mit ihrer Arbeit fertig waren. Grestovitch duckte sich ins hintere Cockpit, und die Cock pithaube wurde zugeknallt. »Gus, wie ist die Position von Zero Two im Augenblick?« »Lieutenant Delany war im Nordosten unterwegs, Sir. Air One hat ihr befohlen umzukehren und hat sie zum Kontakt beordert.« »Na, dann! Klarmachen zum Start!« »Alles klar. Es heißt, dass wir hinter einem chinesischen Unterseeboot her sind, Sir?« »So ist es, mein Freund.« »Es heißt außerdem, dass es bereits ein Schiff versenkt hat.« »Hat es tatsächlich«, antwortete Arkady und startete die Triebwerke. »Skipper im CIC!« »Okay, Ken. Ich übernehme hier.« »Kommandantin hat übernommen!« Amanda nahm auf dem Kommandosessel Platz und drehte ihn zum Alpha-Schirm herum. »Wie ist unser Status?« »Das Schiff befindet sich in Gefechtsbereitschaft«, antwor tete Hiro knapp. »Kurs eins-neun-null liegt an. Alle Maschi nen laufen volle Kraft voraus. Fahrt 37 Knoten.« »Taktik-Offizier. Waffenstatus?« Dix Beltrain blickte von der Waffenstation auf, die sich rechts von Amandas Platz befand. »Torpedos an Backbord und Steuerbord sind scharf, Ma’am. ASROC-SenkrechtstartFlugkörper sind bereit. Das Problem ist nur, dass wir kein Ziel haben.« Die aktuelle Situation war auf dem Large-Screen-Display des Aegis-Systems abzulesen. Das Positionssymbol der ge troffenen nationalchinesischen Fregatte leuchtete am Ende
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der Kurslinie auf, die für die Cunningham fixiert war. Das Symbol war von einem Kreis umgeben, dessen Radius die maximale Reichweite der chinesischen Torpedos darstellte. Ir gendwo innerhalb dieses Kreises lauerte höchstwahrschein lich still und unsichtbar das Jagd-Unterseeboot, das die Po Yang versenkt hatte. Sehr bald schon würden sie dieses Gebiet erreichen. Währenddessen bewegte sich ein Y-förmiges HelikopterSymbol in südlicher Richtung auf die Zone zu. Der Helikopter von Lt. Delany würde kurz vor dem Zerstörer dort eintreffen. »Was ist mit dem taiwanesischen LAMPS-Helikopter, Dix?« »Er wurde wahrscheinlich bereits auf dem Hubschrauber deck erwischt, Capt’n. Er hat jedenfalls nicht mehr abgeho ben.« »Status von Retailer Zero One?« »Air One berichtet, dass er in wenigen Minuten starten wird.« »Noch weitere verfügbare Einheiten?« »Eine japanische Orion wurde soeben nach Süden beordert, und Task Force 7.1 wird eine Viking losschicken, sobald sie eine verfügbar und aufgetankt haben. Beide Einheiten sollten spätestens innerhalb der nächsten Dreiviertelstunde vor Ort sein.« »Verdammt! Das dauert alles viel zu lang«, stieß Amanda hervor und trommelte mit den Fingernägeln ungeduldig auf die Armlehne ihres Sessels. »Ken, bevor Sie auf die Brücke ge hen, möchte ich noch Ihre Einschätzung der Lage hören. Und auch die Ihre, Dix. Werden die Rotchinesen uns auflauern oder machen sie sich aus dem Staub?« Ihr Erster zuckte die Schultern. »Die roten Unterseeboote wollen nur eines: nicht entdeckt werden. Als ihnen die GAFregatte über den Weg lief, haben sie sie versenkt. Und jetzt werden sie wohl so rasch wie möglich wieder von der Bild fläche verschwinden. Sie werden so tief wie möglich tauchen und sich leise aus dem Staub machen.« »Das klingt logisch, Ma’am«, warf Dix Beltrain ein. »Aber andererseits könnten sie auch eine Nachhut zurückgelassen
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haben. Eines der beiden Jagd-Unterseeboote könnte sich noch in der Gegend aufhalten und den Rückzug der beiden ande ren decken.« Amanda hob eine Augenbraue. »Danke für Ihre Mithilfe, Gentlemen.« »Capt’n!«, rief der Aegis-System-Operator aus. »Wir haben die GA-Fregatte aus den Augen verloren. Sie ist untergegan gen, Ma’am.« Instinktiv blickten die anwesenden Offiziere auf die Moni tore des mastmontierten Visiersystems. Am südlichen Hori zont waren graue Rauchschwaden zu erkennen. »Gefechtszentrale, hier spricht Air One. Retailer Zero One hebt jetzt ab.« Über ihnen war ein Brummen zu hören, und der Sea Co manche tauchte auf dem Bildschirm auf. Die Nase nach unten geneigt, beschleunigte er in Richtung der Rauchwolke, die sich allmählich auflöste. »Sagen Sie, Gus was erwartet uns da draußen?« »Mehrere Überwasser-Kontakte, Lieutenant. Sieht aus wie die Radarreflektoren von Rettungsflößen. Keine Ziele in Be wegung. Nichts, was einem Periskop-Kontakt ähnelt. Und in neun Uhr haben wir Retailer Zero Two.« Arkady blickte nach Backbord und sah das Positionslicht des zweiten Hubschraubers der Cunningham. Er drückte den Mikrofonknopf am kollektiven Blattverstellhebel. »Zero Two, hier Zero One. Wir sind unterwegs zum Zielgebiet. Können Sie mich hören, Nancy?« »Ja, Lieutenant, ich höre Sie«, antwortete Lt. Nancy Delany prompt. »Wie gehen wir die Sache an, Sir?« Obwohl sie kürzlich befördert worden war, hatte sich die zweite Pilotin der Duke noch keinen zwanglosen Umgangs ton mit dem Chef des Hubschrauberteams angewöhnen kön nen. »Ich möchte die Gegend mit vier Bojen abstecken. Wir ver wenden die letzte Positionsangabe der gesunkenen Fregatte als Bezugspunkt, Die Bojen sollen im Abstand von sieben Ki lometern abgeworfen werden. Ihre Bezeichnungen lauten im
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Uhrzeigersinn: Alpha, Bravo, Charly und Delta. Passive Su che. Bestätigen Sie.« Während seine Flügelfrau den Einsatzplan wiederholte, blickte Arkady aufs Meer hinaus. Da war ein kleiner, schwarz glänzender Fleck zu erkennen, der höchstwahrscheinlich von Öl stammte – und mitten drin ein paar leuchtende Punkte, bei denen es sich wohl um Schwimmwesten handelte. »Okay, Zero Two. Wir machen es wie folgt: Ich lasse Boje Delta runter und sehe dann nach den Überlebenden. Sie krei sen um unser Einsatzgebiet und setzen die restlichen drei Bo jen. Haben Sie ein Tauchsonar an Bord?« »Positiv, Zero One. Tauchsonar ist einsatzbereit.« »Okay, Wenn Sie Ihre Bojen abgeworfen haben, gehen Sie mit dem Tauchsonar tief hinunter. Wir müssen die Burschen da unten aufstöbern.« »Verstanden.« »Ich schlage vor, dass wir auf Kurs zwei-null-null gehen, in Richtung Abwurfpunkt Bravo«, warf Grestovitch aus dem hinteren Cockpit ein. »Machen wir, Gus.« Dem fliegenden U-Jäger ermöglicht die Sonarboje, quasi ei nen Blick unter die Wasseroberfläche zu werfen. Es handelt sich dabei um ein Sonarsystem im Miniaturformat, das in ei nem wasserdichten Gehäuse verpackt ist und einfach auf der Meeresoberfläche abgesetzt wird. Von dort wird das eigentli che Sonargerät in die Tiefe hinuntergelassen, während eine Funkantenne nach oben ausfährt, um eine eventuelle Ortung an die Basisstation an Bord des Schiffes, Flugzeuges oder Helikopters melden zu können. »Boje Alpha ist unten. Boje Bravo ist unten. Die Datenver bindung ist okay.« »Gut, Gus. Behalten Sie sie im Auge. Ich gehe jetzt zu den Überlebenden runter.« Arkady hatte schon viele SAR-Einsätze geflogen, aber noch nie unmittelbar über einem soeben gesunkenen Kriegsschiff. Öl und Luftblasen drangen an die Wasseroberfläche, so als würde das versenkte Schiff allmählich ausbluten. Der Geruch des Öls drang bis ins Cockpit herauf, Mitten in den öligen Flu
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ten schwammen Wrackteile und auch einige menschliche Ge stalten, von denen sich manche bewegten, während andere reglos an der Oberfläche trieben. Die Überlebenden drängten sich um die Rettungsflöße und starrten zum Helikopter hoch, so wie die Verdammten der Hölle vielleicht zu einem Engel aufblicken würden. Arkady ging noch tiefer hinunter und ließ sein Rettungs floß direkt bei einer Gruppe von verzweifelt kämpfenden Männern hinunter. Mehr konnte er nicht tun. Mit seinem schmalen Rumpf und den beiden engen, hintereinander ange ordneten Cockpits war der Sea Comanche für eine Rettung oder Bergung im eigentlichen Sinn nicht geeignet. »Gray Lady, hier Retailer Zero One. Ich bin jetzt im Zielge biet. Wie es aussieht, treiben da etwa 150 Männer im Wasser, vielleicht auch mehr. Viele Verwundete.« »Verstanden, Retailer Zero One«, ertönte Amanda Garretts gedämpfte Stimme. »Wir sind in zehn Minuten da.« Arkady blickte auf und suchte den Horizont ab. Durch ihren Tarnanstrich war die Cunningham im fernen Dunst nicht zu erkennen, doch ihre Bugwelle leuchtete weiß auf der blauen See. Im hinteren Cockpit des Sea Comanche ging Gus Grestovitch seiner Arbeit nach. Die U-Jagd ist ein Teilgebiet der Gefechts führung auf See, in dem man sich nicht allein auf harte Daten und Fakten stützt, sondern wo stets auch ein sechster Sinn ge fordert ist. Der Waffensystemoffizier konzentrierte sich nicht allein auf das Display, das er vor sich hatte, und auf das, was er über den Kopfhörer hereinbekam, sondern versuchte darüber hinaus, das Unterseeboot mit seinem Instinkt aufzuspüren. Doch er hatte wenig Glück dabei. Das sinkende Schiffs wrack beeinträchtigte die natürliche Geräuschkulisse einfach zu stark. Luft stieg schäumend nach oben, hoch erhitztes Me tall knisterte und ächzte, und Wrackteile lösten sich krachend vom Rumpf und trieben in dunkle Tiefen davon. Möglicherweise war da sogar noch Leben irgendwo im Wrack. Jemand, der es nicht mehr geschafft hatte, über Bord zu springen, bevor die Wassermassen über den Decks zusam
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menschlugen. Jemand, der irgendwo in einer Luftblase seine letzten Augenblicke erlebte. Grestovitch schloss die Augen und schüttelte das Bild von sich ab. Solche Gedanken konnte er jetzt wirklich nicht ge brauchen. Er versuchte sich wieder auf seine Anzeigen zu konzentrieren. Auf einem der Display fiel ihm etwas auf … »Hey, Lieutenant!« Arkady blickte über die Schulter zurück. »Ja, Gus?« »Wir sollten doch eigentlich mindestens 600 Meter Wasser unter uns haben, nicht wahr?« »Ja, und?« »Wie kommt es dann, dass die Fregatte immer noch direkt unter der Oberfläche liegt?« »Wie bitte?« »Werfen Sie mal einen Blick auf den Magnetanomalie-Detektor. Wir haben einen riesigen Brocken Metall direkt unter uns.« Arkady warf einen kurzen Blick hinaus und rief dann das MAD-Display auf seinem Bildschirm auf. »Oh, Scheiße! Gray Lady! Hier Retailer Zero One! Wir ha ben hier ein rotchinesisches Unterseeboot, das sich direkt un ter den Überlebenden verborgen hält! Das ist ein Hinterhalt!« »Rudergänger. Sofort auf Gegenkurs!«, ertönte Amandas Stimme im Gefechtsleitstand. »Alle Maschinen volle Kraft voraus!« Die Dienst habende Rudergängerin ließ das Rad herumwir beln und drückte die Leistungshebel bis zum Anschlag durch. Die Maschinen heulten durchdringend auf und der Rumpf des Schiffes ächzte. Das Deck begann sich zu neigen, als die Duke die Kehrtwendung vollführte. »Sonar, wie konnte uns der Kerl nur entgehen?«, rief Dix Beltrain von der Konsole des Taktik-Offiziers aus. »Sein Antriebsgeräusch wurde von den Sinkgeräuschen des Wracks überlagert!«, rief Foster aus der Sonar-Abteilung zurück. »Bekomme jetzt typische Geräusche aus der Richtung herein. Klingt, als würde er seine Torpedorohre fluten.« »Scheiße, er will feuern! Capt’n, wir haben Zielkoordina ten. Alles klar für einen Schnellschuss mit den V-ROCs.«
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»Negativ! Nicht feuern!«, rief Amanda entschieden. »Er hockt direkt unter den Überlebenden. Wenn wir jetzt einen Torpedo abfeuern, töten wir damit vielleicht Dutzende Men schen.« »Was sollen wir dann tun, Capt’n?« »Wir hauen ab!« »Aale im Wasser!«, ertönte Fosters aufgeregte Stimme. »Capt’n, sie haben zwei Torpedos auf uns abgefeuert!« Zwei Decks tiefer in der schiffstechnischen Zentrale war man von zwei Dingen umgeben – von dem alles durchdringenden Heulen der riesigen Turbinengeneratoren und dem leichten, aber ebenso allgegenwärtigen Vibrieren, das von den riesigen Elektromotoren in ihren Antriebsgondeln stammte. Das Heulen überlagerte mittlerweile alle anderen Geräu sche, und das Vibrieren war so stark, dass die Kaffeetassen auf den Konsolen zu wackeln begannen. Chefingenieur Carl Thomson ging hinter den Sitzen seiner System-Operatoren auf und ab. Zehn Meter nach Backbord, dann zehn Meter nach Steuerbord, während sein Blick von ei ner Anzeige zur nächsten wanderte. »Schiffstechnische Zentrale – CIC.« Thomson blieb stehen und drückte den Kopfhörer dichter ans Ohr, um die Geräusche der Umgebung auszuschalten. »Schiffstechnische Zentrale – CIC, aye.« »Chief, hier spricht die Kommandantin. Da kommen feind liche Torpedos auf uns zu. Wir versuchen, sie abzuschütteln. Holen Sie raus, was Sie können. Sofort!« »Sollen Sie haben, Skipper.« Mehr war nicht zu sagen, »Alles herhören!«, rief Thomson in die Runde. »Ein paar Torpedos sind hinter uns her! Wir müssen das Letzte aus den Maschinen rausholen!« »Chief, die Maschinen laufen bereits auf 100 Prozent Leis tung!«, schrie eine Ingenieurin besorgt. »Wir sind definitiv am Limit!« »Das ist das Problem mit euch jungen Marine-Ingenieuren«, gab Thomson zurück und beugte sich zwischen zwei Operatoren nach vor. »Da malt irgendein Dummkopf einen
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roten Strich auf eine Skala, und ihr glaubt gleich, das hätte et was zu bedeuten. Smith, stellen Sie das Antikavitationspro gramm ab, Schraubenblatt-Trimmung auf manuell. Swensen, Sie prüfen nach, ob wir nicht noch ein wenig Leistung heraus kitzeln können.« »Aal im Wasser! Lieutenant, sie feuern auf das Schiff … Ver dammter Mist!« Gus Grestovitch hielt sich im Cockpit fest, als sich die Nase des Hubschraubers senkte. Die Triebwerke des Sea Comanche heulten auf, und die Maschine beschleunigte aus dem Schwe beflug und schraubte sich gleichzeitig mit aller Kraft hoch. »Lieutenant! Wo zum Kuckuck fliegen wir hin?« »Zurück!«, antwortete Arkady grimmig. »Dix, was ist mit unseren eigenen Torpedos? Können wir nicht versuchen, die Aale mit unseren Mark 50 abzufangen?« Der TACCO blickte kurz zu seiner Kommandantin zurück. Amanda saß aufrecht auf ihrem Kommandosessel, ihre Ge sichtszüge waren angespannt, doch der Blick ruhig und be herrscht. »Würde ich nicht empfehlen, Ma’am«, erwiderte er. »Für das Anti-Barracuda-Programm müssten wir Drahtlenkung und das Hauptsonar verwenden. Das heißt, es wäre notwen dig mit der Fahrt herunter zu gehen und auf das Ziel einzudre hen, um es erfassen zu können. Ich glaube nicht, dass wir genügend Spielraum für dieses Manöver haben.« Die taktische Situation war auf dem Alpha-Screen abzule sen. Die Sonaranlagen der Cunningham wurden von den eige nen Strömungsgeräuschen wirkungslos gemacht, doch mit Hilfe der Daten, die von den Sonarbojen eintrafen, konnte das Aegis-System dennoch ein Display der Situation erstellen. Das Positionssymbol der Duke wanderte rasch in die ent gegengesetzte Richtung wie zuvor, dicht gefolgt von zwei rot leuchtenden kreuzförmigen Symbolen, den feindlichen Tor pedos. Die Distanz zwischen Schiff und Torpedos verringerte sich zusehends. »Dann müssen wir wohl versuchen, sie so lange auf Di
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stanz zu halten, bis ihnen der Sprit ausgeht«, stellte Amanda entschlossen fest. Beltrain gab keine Antwort. Der ranghöchste Waffenoffizier der Duke konzentrierte sich ganz darauf, die Startzeit, Entfer nung und geschätzte Leistung der Torpedos zu studieren, während ihn ein unangenehmes Gefühl beschlich. »O Gott!«, stieß er schließlich hervor. »Dix, was ist los?« »Die Aale haben sich auf uns aufgeschaltet, Capt’n! Ein schlag in vier Minuten!« Zehn Meter über den Wellen jagte der Hubschrauber dahin, auf dem Weg zurück zur Cunningham. Arkady erinnerte sich an die Geschichte eines japanischen Piloten, der einst mit seiner Maschine ins Wasser gestürzt war, um sich einem Torpedo in den Weg zu werfen, der seinen Flugzeugträger getroffen hätte. Vergeblich suchte Arkady die Meeresoberfläche nach ei nem Zeichen ab, das auf den Torpedo hingedeutet hätte. Nichts. Die Torpedos früherer Zeiten waren deutlich an ihren Blasenbahnen zu erkennen gewesen. Moderne Fische hinge gen glitten völlig unsichtbar im Wasser dahin. Es war ihm also verwehrt, dem Beispiel des japanischen Pi loten zu folgen, wenn man einmal davon absah, dass er auch an Gus’ Leben zu denken hatte. Die Torpedos rasten auf das Schiff seiner Lady zu, und es gab absolut nichts auf der Welt, was er hätte tun können. »LEAD-Scheinziele klar machen.« »LEADs sind einsatzbereit, Capt’n.« »LEAD-Scheinziele ausstoßen. Rudergänger, Steuerbord zehn.« Die Launched Expendable Acoustic Devices glitten aus dem Heck der Cunningham in das aufgewühlte Kielwasser hinein. Sobald man sie aktivierte, würden sie die Geräusch signatur des Schiffes nachahmen und den feindlichen Torpe dos gleichsam zurufen: »He, ich bin der Zerstörer, den ihr sucht!« Man konnte nur hoffen, dass die Nachahmung über
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zeugend ausfiel. Die LEAD-Täuschkörper waren das letzte technologische Hilfsmittel, das die Cunningham noch im Köcher hatte. »Ich hoffe, es klappt«, stieß Beltrain inbrünstig hervor. »Auch wenn es nicht klappt, wird uns nichts passieren«, wandte Christine Rendino ein, die aus der Intel-Abteilung ge kommen war und zwischen der Station des Commanders und der des Taktik-Offiziers stand, um das Geschehen zu verfol gen. Im Augenblick studierte sie aufmerksam die Leistungs daten der Torpedos auf Beltrains Bildschirm. »Wie meinen Sie das, Chris …?«, fragte Amanda, als sie von einer donnernden Explosion unterbrochen wurde. Auf den Fernsehmonitoren war eine weiße Wassersäule zu sehen, die einen knappen Kilometer hinter der Duke emporstieg. »Wir haben einen erwischt!«, rief der Sonarchef von seinem Platz aus. »Erster Aal hat Scheinziel abgeschossen. Der zweite Torpedo ist… immer noch aktiv! Er ist immer noch hinter uns her, Skipper!« »Zweiten Satz Scheinziele klar machen!«, rief Amanda und drehte sich zu ihrer Intel-Offizierin um. »Also, wie haben Sie das eben gemeint?« »Der Aal wird uns nicht erreichen«, antwortete Christine und zeigte mit dem Finger auf die Torpedo-Leistungsdaten. »Wir sind schon am Rand der Reichweite eines Torpedos vom Typ 53.« »Aber laut Anzeigen erwischt er uns immer noch«, be harrte Beltrain. »Das stimmt aber nicht, Dix. Die Leistungsdaten werden im Zweifelsfall oft ein wenig höher angesetzt, als sie tatsäch lich sind. Es ist eben besser, die Leistung einer Waffe etwas zu hoch zu bewerten, als sie zu unterschätzen.« »Darauf kann ich mich aber nicht verlassen, Chris«, entgeg nete Amanda. »LEAD-Scheinziele zwei ausstoßen! Sofort ak tivieren! Rudergänger, Backbord zehn!« Das kreuzförmige Symbol des Torpedos wanderte immer noch auf der Kurslinie der Cunningham dahin wie eine Spinne auf ihrem Faden. Jetzt erschien das quadratische Symbol des Scheinziels im
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Kielwasser der Duke, wie eine Barriere, die zwischen dem flüchtenden Schiff und seinem todbringenden Verfolger er richtet wurde. Würde die Barriere auch halten? Alle Anwe senden in der Gefechtszentrale hielten den Atem an, bis sie die Antwort auf ihre Frage erhielten. Das Kreuz und das Quadrat überlagerten sich … und ent fernten sich wieder voneinander. »Capt’n, Torpedo hat den Täuschkörper passiert! Er hält weiter auf uns zu! 90 Sekunden bis zum Einschlag!« »Verdammter Mist!« »Es gibt da ein paar Fakten, auf die Sie sich verlassen kön nen!«, warf Christine ein und legte Amanda die Hand auf die Schulter. »Die Reichweite, wie sie hier angegeben ist, gilt für die Originalwaffe, wie sie von der russischen Marine einge setzt wird. Der Aal, mit dem wir es zu tun haben, ist die chi nesische Variante des vereinfachten Exportmodells. Die Leis tung ist bestimmt um einiges geringer! Das Ding wird uns nicht erreichen!« »Ich hoffe, Sie haben Recht«, sagte Amanda und drückte die Taste für die Bordsprechanlage. »An alle, hier spricht die Kommandantin! Evakuieren Sie alles unterhalb der Wasserli nie und sämtliche achterlichen Abteilungen! Vorbereiten auf Torpedoeinschlag!« »Los!«, rief Chief Thomson seinen Leuten zu. »Alles raus hier! Beeilung!« Die Temperatur im Maschinenkontrollraum kletterte un aufhörlich in die Höhe, und die Luft stank nach Ozon und verschmorten Isolierungen. Selbst die Klimaanlage war abge schaltet worden, um auch noch das letzte bisschen Strom für den Antrieb abzuzweigen. Immer mehr rote und gelbe Lichter leuchteten an den Konsolen auf – ein deutlicher Hinweis da rauf, dass so gut wie alle Systeme überlastet waren. Alle Anwesenden rissen sich die Kopfhörer herunter und eilten zur Luke hinüber, um die Leiter zu erreichen, die nach oben an die frische Luft und in Sicherheit führte. Ein Ingeni eur hielt einen Augenblick inne und blickte zurück. Der Chief stand immer noch an der Hauptsteuertafel.
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»Hey, Chief?« »Gehen Sie nur, Junge. Ich komme gleich nach.« Er würde es nicht tun, das wussten sie beide. Die Luke schloss sich mit einem dumpfen Knall, und Thomson ließ sich in seinen Sitz sinken. Von der SteuerbordAntriebsgondel ertönte ein Warnsignal, und Thomson schal tete es ab. Man lässt seine Station nicht so einfach im Stich, nur weil es ein wenig ungemütlich wird. Nein, so etwas tat ein Carl Thomson nicht. Das digitale Log war mittlerweile auf 51 Knoten geklettert. Thomson lächelte, als seine Hand sich um die Hauptleistungshebel schloss. »Okay, altes Mädchen, jetzt wollen wir mal sehen, was du wirklich draufhast.« Die U.S.S. Cunningham und Retailer Zero One jagten Seite an Seite dahin. Der riesige Zerstörer durchpflügte die See in dem verzweifelten Bemühen, der tödlichen Gefahr zu entrinnen. Der rasiermesserscharfe Bug des Schiffes durchschnitt die Wellen, die sich fast bis zum Vordeck emporhoben. Und auch achtern schäumten die schneeweißen Wassermassen bis zu den Decks herauf. Jede siebte Welle, in die die Duke lief, ex plodierte förmlich am Bug und überzog das Schiff mit ihrer weißen Gischt. Es war dies ein Augenblick, der Vince Arkady und Gus Grestovitch unvergesslich bleiben würde. Nie war ihnen die Duke schöner erschienen als in diesen letzten Sekunden vor ihrer drohenden Zerstörung. »Torpedo schließt auf!«, ertönte Fosters brechende Stimme. Auf dem Large-Screen-Display war zu sehen, dass das Sym bol des Torpedos sich mit dem der Cunningham zu decken be gann. »Geben Sie Kollisionsalarm!« Der elektronische Kreischton erfüllte die Gefechtszentrale. Alle Anwesenden hielten sich irgendwo fest und bereiteten sich auf den Einschlag vor. Alle außer Christine Rendino. Die Intel-Offizierin starrte weiter auf den Alpha-Screen, die Arme trotzig vor der Brust verschränkt. »Symbole decken sich immer noch …«
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Amanda nahm aus dem Augenwinkel eine vertraute Sil houette wahr. Einer der Außenmonitore hatte Retailer Zero One ins Bild bekommen. Unwillkürlich streckte sie die Hand aus und stellte die Zoomfunktion ein, um im Cockpit das Ge sicht des Piloten erkennen zu können. »Geschwindigkeit des Torpedos ändert sich!« Wenn das Fallbeil des Henkers niedergeht, gibt es dann noch Hoffnung, zu überleben? »Torpedo wird langsamer! Torpedo wird langsamer … Dem Torpedo ist der Saft ausgegangen, Capt’n. Er ist außer Gefecht.« »Maschinen langsame Fahrt voraus«, presste Amanda mühsam hervor. Das durchdringende Heulen der Turbinen klang zu einem leiseren, gleichmäßigen Dröhnen ab. Amanda zählte langsam bis zehn, ehe sie sich über die Bordsprechanlage an die Besatzung wandte. »Hier spricht der Skipper. Wir hatten ein kleines Problem, aber es hat sich erle digt. Alle Mann zurück auf ihre Stationen. Wir müssen uns um ein feindliches Unterseeboot kümmern.« Überall in der Gefechtszentrale wagte man allmählich wie der zu atmen. Die Klimaanlage begann wieder zu laufen und ließ kühle Luft hereinströmen. Die Bedrohung war von ihnen gewichen, alles verlief wieder in gewohnten Bahnen. Chris tine Rendino atmete in gespielter Erleichterung auf. Dix Beltrain zeigte mit dem Daumen auf sie und sagte zu seiner Kommandantin: »Irgendwann muss doch der Tag kommen, an dem sie sich auch einmal irrt, meinen Sie nicht auch?« »Aber sicher«, gab die Intel-Offizierin zurück. »Bestimmt seid ihr aber nicht unglücklich, dass es heute noch nicht so weit war, oder?«
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Ostchinesisches Meer
37 Seemeilen westlich der Insel Kume-Shima
19. August 2006, 01:31 Uhr Ortszeit Der rotchinesische Kommandant des Unterseebootes lehnte am Geländer des Periskop-Podests. Rings um ihn im ge dämpften roten Licht der Zentrale saß bzw. stand die Wache auf ihren Posten, den Blick geradeaus gerichtet, wie es die ei serne Disziplin ihres Militärs gebot. Er wusste, wo er seinen Fehler begangen hatte. Die GA-Fregatte abzuschießen, war noch richtig gewesen. Das war Teil seiner Mission. Es war auch gerechtfertigt, im Zielgebiet zu bleiben und auf die Ankunft des ersten Rettungsschiffs zu warten. Schließlich bestand seine Aufgabe darin, den Feinden des chinesischen Volkes so großen Schaden wie möglich zu zufügen, bevor es ihn selbst erwischte. Nur war das Schiff, das als Nächstes kam, ein amerikani sches Kriegsschiff gewesen. Und nicht irgendein Kriegsschiff, sondern eines dieser neuen Geisterschiffe, um die sich so wilde Gerüchte rankten. Er hätte feuern und sich dann aus dem Staub machen sol len. Doch das hatte er verabsäumt. Stattdessen hatte er be schlossen, im Schutz der GA Überlebenden zu verharren und auf die erstaunliche, aber sehr willkommene Rücksichtnahme zu vertrauen, die westliche Armeen oft an den Tag legten. Er wollte sich erst dann auf den Weg machen, wenn seine Torpe dos ihr Ziel getroffen hatten. Nur trafen seine Torpedos eben nicht ins Ziel. Und nun hatte er keine Möglichkeit mehr, sich in Sicherheit zu bringen. Überall da draußen waren Helikopter, die ihm systematisch mit ihrem wachsenden Netzwerk aus aktiven und passiven Sonarbojen zu Leibe rücken würden. Und da war noch etwas anderes. Kurz nachdem der ameri kanische Zerstörer den beiden Torpedos entwischt war, ver stummten dessen Schrauben plötzlich, und eine seltsame Stille kehrte ein. Im Augenblick waren nur noch schwache Geräusche aus jenen Bereichen zu hören, die die Hydrophone
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gerade noch erreichten – geisterhafte Geräusche, so leise wie die Schritte eines Wolfs im Schnee. Die Amerikaner kehrten auf leisen Sohlen zurück und machten den Jäger zum Gejag ten. »Dieser feige Mistkerl«, knurrte Dix Beltrain angewidert. »Er hockt direkt unter den Rettungsinseln und wartet ab.« »Ich würde das nicht unbedingt feige nennen, sondern eher kühl kalkuliert, Dix. Er weiß, dass wir ihn nicht angreifen kön nen, ohne einige der Leute zu töten«, erwiderte Amanda und strich sich eine Strähne ihres schweißnassen Haars aus der Stirn. »Ich frage mich, ob er jemals Monsarrat gelesen hat.« »Wen, Ma’am?« »Nicholas Monsarrat. Ein englischer Autor, der im Zweiten Weltkrieg in der Royal Navy diente. In einem seiner Bücher, The Critel Sea, ist ein britischer Lieutenant Commander mit ei nem ganz ähnlichen Problem konfrontiert. Sein Schiff hat ein deutsches U-Boot entdeckt, das direkt unterhalb einer Gruppe von Überlebenden sitzt und wartet. Er muss eine Entschei dung fällen. Wenn er seine Wasserbombe abwirft und das UBoot zerstört, nimmt er in Kauf, dass auch die Schiffbrüchigen dabei ums Leben kommen. Wenn er aber darauf verzichtet und damit das Leben der Schiffbrüchigen schont, wird das UBoot entwischen und weitere alliierte Schiffe versenken und deren Besatzungen töten.« Der Taktik-Offizier wandte sich ab und blickte auf das Large-Screen-Display. Er atmete tief durch und fragte schließ lich: »Und wie hat er sich entschieden?« »Er hat die Wasserbombe geworfen, Dix. Zum Glück hat sich die militärische Technologie seither weiterentwickelt. Uns stehen noch andere Möglichkeiten offen.« »Oberflächengeräusch, Peilung zwei-vier-null.« Der rotchine sische Kommandant blickte auf, als er die Meldung seines Sonar-Operators hörte. »Oberflächeneinschlag. Wahrscheinlich Torpedoabwurf.« Hatten die Amerikaner etwa doch beschlossen, die GA zu opfern?
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»Torpedo aktiviert.« Tatsächlich. So musste es sein. Es war militärisch gesehen die einzig richtige Entscheidung. »Torpedo ist auf Zielsuche! Richtung konstant!« »Maschinen volle Kraft voraus! Ruder hart Steuerbord, auf drei-eins-null gehen. Vorne unten fünf. Auf auf 200 Meter ein steuern!« Eine vergebliche Maßnahme. Absolut vergeblich! Die Ame rikaner hatten einen Mark-50-Barracuda-Torpedo losgelassen, die tödlichste Waffe, die man sich denken konnte. Es gab zwar kein Entkommen, doch der Wettkampf musste bis zu Ende ausgefochten werden. Die ASW-Rakete (V-ROC) hatte etwas abseits der Position des Han-Unterseebootes eingeschlagen, so dass eine gewisse Chance bestand, wenigstens die Flucht einzuleiten. Das chine sische Boot versuchte Haken zu schlagen, erst nach Backbord, dann nach Steuerbord und tauchte anschließend tief, um eine Thermoklinale zu finden, die seine Geräusche dämpfen würde; schließlich stieg es steil nach oben, um dem Verfolger zu entwischen. Die ganze Palette an Ausweichmanövern, die einem Unterseeboot offenstanden, wurde ausgeschöpft. Der Barracuda hatte auf jedes Manöver eine Antwort. Das Han-Boot verfügte weder über die Mittel, den Mark-50-Torpedo zu täuschen, noch über einen Antrieb, der stark genug gewesen wäre, um ihm zu entkommen. Die Besatzung des rotchinesischen Unterseebootes wurde sich der Bedrohung immer deutlicher bewusst, die draußen lauerte; Ultraschallwellen trafen auf den Druckkörper des Unterseebootes – die Sonarimpulse, die der Suchkopf des he rannahenden Torpedos produzierte. Die Hochtechnologie-Variante eines jener Klopfkäfer, Totenuhr genannt, dessen Klop fen nun ihre letzte Minute heruntertickte. Die Zeiträume zwischen den Impulsen wurden immer kür zer und ein neues Geräusch machte sich bemerkbar – das Zi schen eines Torpedoantriebs. Irgendwo im dunklen Inneren des Han-Bootes machte jemand mit geflüsterten Worten sei nen Frieden mit einem Gott, dessen Existenz er in der Gesell schaft, in der er lebte, nicht hatte anerkennen dürfen.
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Das Zischen wurde immer bedrohlicher und mündete schließlich in einen lauten Knall. Doch es kam keine Detonation, kein Bersten von Metall, kein explosionsartiges Eindringen von Wasser. Da war nur das scheppernde Geräusch der Torpedohülle, die unverrichte ter Dinge am Rumpf entlangtrieb. Die Besatzungsmitglieder des Han-Bootes sahen einander verwundert an und fragten sich zaghaft, ob sie vielleicht doch überleben würden. »Der Aal mit den nicht scharf geschalteten Gefechtskopf hat ihn aus dem Versteck gejagt, Ma’am«, meldete Dix Beltrain. »Ich muss unbedingt das Buch von diesem Monsarrat lesen.« »Kommen Sie gelegentlich mal in meiner Kajüte vorbei und holen Sie sich’s ab. Wie ist seine Position?« »Peilung drei-vier-null. Entfernung 21 Kilometer. Tiefe drei-fünf-null. Fahrt 26 Knoten.« »Wie weit ist er von den Überlebenden entfernt?« »Ungefähr zehn Kilometer nördlich von ihnen, Ma’am. Wir haben also einen Sicherheitsabstand.« »Sehr gut.« Amanda nahm Verbindung zu ihren Hub schraubern auf. »Gray Lady für Retailer Zero One und Zero Two. Knallt ihn ab!« »Okay, Gus, Sie haben die Lady gehört. Los geht’s.« »Aye aye, Lieutenant. Wir haben ihn im Visier. Position und Abwurfpunkt sind auf dem HUD.« Sie flogen wieder über sauberem Wasser – der Ölteppich lag hinter ihnen. Als sich die Nase des Sea Comanche nach Norden drehte, erschienen innerhalb der getönten Wind schutzscheibe ein Koordinatennetz und ein Fadenkreuz, die ihnen den Weg zum Abwurfpunkt weisen würden. In der Ferne war auch das Positionslicht des anderen Hubschrau bers zu erkennen. »Zero Two, hier spricht Zero One. Schließen Sie etwas näher heran, damit wir den Burschen in die Zange nehmen können.« »Roger, Zero One. Ich komme.« »Einstellen auf Schlängelkurs. Tiefe zwei-fünf-null.«
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»Roger, Zero One.« »Ich habe nur eine dieser Waffen an Bord, Nancy, also fan gen Sie an und greifen dann noch einmal ein, wenn es nötig sein sollte. Ich werde hinterher nach Osten abdrehen. Sie wen den sich nach Norden und fliegen dann noch einmal auf den Kontakt zu.« »Wird gemacht.« »Haben Sie alles mitbekommen, Gus?«, rief Arkady seinem Waffensystemoffizier zu. »Ja, Sir. Der Aal ist scharf und startklar.« Die Wellen schimmerten etwa 15 Meter unter dem Bauch des Helikopters. Auf dem Heads-up-Display schien das Ab wurfsymbol immer weiter unter die von Retailer Zero One Nase, der Hubschrauber auf den ominösen Punkt zukroch und schließlich erreicht hatte. Über Funk teilte ihm Nancy De lany laufend ihre Position mit. Ihre Stimme klang angespannt, aber beherrscht. Arkady wusste, dass es für sie das erste Mal war, dass sie auf ein lebendes Ziel feuerte. »Nähere mich dem Abwurfpunkt. Drei, zwei, eins … Ab wurf!« Nachdem er sich des Torpedos entledigt hatte, stieg Retai ler Zero Two und entfernte sich. »Zero One übernimmt. Drei, zwei und eins. Torpedo ist los.« Arkadys Mark-50-Torpedo glitt den Schacht hinunter und tauchte mit einem metallischen Schimmern ins Wasser ein. »Beide Torpedos sind scharf und laufen wie vorgesehen«, meldete Grestovitch, während Retailer Zero One abdrehte. Mehr war auch nicht zu sagen. Das Han-Unterseeboot saß zwischen den beiden Torpedos in der Falle. Egal, wohin das Boot sich wandte, es würde in jedem Fall seinem Untergang entgegenjagen. Der Waffensystemoffizier stellte den Ton der Sonaranlage ab und wartete. Plötzlich verfärbte sich ein Stück Meeresoberfläche grau von Millionen plötzlich emporgeschleuderter Wassertropfen – und im nächsten Augenblick schoss eine Fontäne aus weißem Schaum zum Himmel empor.
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»Yeah!«, hörte Grestovitch seinen Piloten ausrufen. »Wir haben den Kerl erwischt!« Um sicherzugehen, drehte Gus den Ton des Sonars auf. Der Nachhall der Detonation war in der ganzen Umgebung zu hören, doch die Sonarbojen fingen auch ein anderes, un verkennbares Geräusch auf: das typische Pfeifen von hoch komprimierter Luft, die in Trimm- und Regelzellen ein strömte. Der Todesschrei eines vernichtend getroffenen Un terseebootes, »Ich bestätige, Lieutenant. Erfasse Notauftauchmanöver. Er kommt hoch.« »Okay.« Arkady hob die Hände für einen Augenblick zum Zeichen des Sieges. »Gray Lady! Das Unterseeboot ist getrof fen taucht auf!« »Verstanden, Retailer Zero One«, antwortete Amanda und Arkady hörte den Jubel im Hintergrund. »Behalten Sie es im Auge und halten Sie uns auf dem Laufenden. Wir kommen jetzt und bergen die Crew der Fregatte, Gut gemacht, Retailer Zero One und Zero Two!« Arkady lächelte. Ein Lob von der Königin persönlich war immer etwas Besonderes. Auf der Meeresoberfläche bildete sich ein immer größerer Kreis von weißem Schaum und in der Mitte ein Wirbel, aus dem schließlich das Boot hochschoss. »Sie sind aufgetaucht«, gab Arkady über Funk an die Cun ningham weiter und ging etwas abseits in den Schwebeflug. »Sieht nach schwerer Beschädigung am vorderen Teil des Druckkörpers aus. Auch am Turm … Es kommt mir nichts be sonders stabil vor. Sie sollten die Besatzung so schnell wie möglich von Bord schaffen … Der Bug schneidet wieder un ter! Das Boot sinkt! O Gott! Gus, halten Sie die Kamera da drauf!« Der Wasserstrom, der durch das Einschussleck eindrang, setzte sich schließlich gegen die ausströmende Luft aus den Drucklufttanks durch. Das zunehmende Gewicht verlagerte den Schwerpunkt des Unterseebootes nach vorn und ließ es allmählich kippen. Der Bug sank immer weiter nach unten, während sich das
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Heck aus dem Wasser hob und fast majestätisch in die Luft ragte. Die großen, krummsäbelartigen Schraubenblätter dreh ten sich immer noch langsam. Es war ein ebenso faszinierender wie bestürzender An blick. Arkady ging mit dem Helikopter ein Stückchen näher heran und umkreiste den wankenden Turm aus Stahl. Als er der Deckseite zugewandt war, bemerkte er, dass sich etwas bewegte. Knapp über der Wasserlinie war ein Luk aufgegangen. Im nächsten Augenblick erschien eine Gestalt in einer senfgelben Schwimmweste, wie ein Insekt, das herauszukrabbeln ver suchte. Mit letzter Anstrengung stemmte sich der Mann ins Wasser hinaus und begann sich mit schwachen Bewegungen von dem versinkenden Boot zu entfernen. Da tauchte noch jemand in der Luke auf; ein zweites Besat zungsmitglied versuchte sich ins Freie zu retten. »Komm schon«, murmelte Arkady. »Mach schon. Schnell!« Doch der zweite Mann schaffte es nicht mehr. Das Luk sank unter die Wasseroberfläche. Arkady wandte den Blick rasch ab und versuchte nicht daran zu denken, was nun da unten hinter diesem Luk vor sich ging – das gewaltsame Eindringen der Wassermassen, die den Weg ins Licht versperrten und al les mit sich in die dunkle Tiefe rissen. »Es ist vorbei, Lieutenant«, sagte Gus. Langsam und bedächtig, aber unaufhaltsam, versank auch das Heck im Wasser. Wie ein Pfeil bohrte sich das Boot in die Fluten und war binnen weniger Sekunden in der Tiefe ver schwunden. Nur die wirbelnden Luftblasen auf den Wellen kündeten noch von einem verlorenen Kampf. Und eine ein same Gestalt in einer gelben Schwimmweste. »Gray Lady, hier Retailer Zero One. Das Han ist gesunken. Ich wiederhole, das rotchinesische Unterseeboot ist gesunken. Wir haben einen einzigen Überlebenden im Wasser. Ich bin im Moment direkt über ihm.« »Retailer Zero One, hier ist die Gray Lady«, antwortete Amanda entschlossen. »Werfen Sie eine Rauchboje ab und bleiben Sie bei dem Überlebenden, bis wir ein Boot dort ha ben. Wir müssen mit dem Mann sprechen.«
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36 Seemeilen westlich der Insel Kume-Shima 19. August 2006, 14:04 Uhr Ortszeit Auf der Cunningham war die Bergungsoperation immer noch in vollem Gange. Rettungsflöße drängten sich an den Flanken des Zerstörers, und alle drei Raketenladebäume waren im Einsatz, um die Schlauchboote mit den Überlebenden an Bord zu hieven. Auf den Decks hatte man alles zur Versorgung der Schiff brüchigen vorbereitet. Sanitäter trennten zunächst einmal die Verwundeten von denen, die nur unter Schock standen. Die Ersteren wurden in die Obhut von Doc Golden gegeben, während man Letztere unter Deck brachte. Die Besatzungsmitglieder der nationalchinesischen Fre gatte führte man zunächst einmal zu den Duschräumen, wo sie sich mit Hilfe von heißem Wasser und Benzin von dem Öl befreien konnten, das aus dem Wrack ausgetreten war. Sie be kamen saubere Kleidung und wurden anschließend mit einer warmen Mahlzeit und heißem Kaffee bewirtet. Man gönnte ihnen zunächst einmal ein wenig Ruhe, damit sie sich lang sam mit der Tatsache vertraut machen konnten, dass sie noch am Leben waren. Und noch etwas bekamen die Überlebenden der taiwanesi schen Fregatte von der Crew der Duke; ein vielfaches Schul terklopfen und aufmunternde Worte, die die Taiwaner ver standen, auch wenn ihnen die Sprache fremd war. Wäre alles nur ein klein wenig anders gekommen, dann befänden sie sich jetzt immer noch dort draußen im Meer, und niemand hätte sich je um sie gekümmert. »Wir müssen den Hubschrauber rasch in den Hangar hinun terbringen, Sir!«, rief der Crew-Chief von Retailer Zero One, um das schwächer werdende Dröhnen der Helikopter-Turbinen zu übertönen. »Von der Siebten Flotte kommen mehrere Helikopter rüber, um die Verletzten abzuholen.« »Roger, Chief. Machen Sie weiter«, antwortete Arkady und stieg aus dem Cockpit des Sea Comanche. Ein RADCON (Ra
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diation and Contamination)-Team machte sich daran, den Hubschrauber mit Geigerzählern zu überprüfen; man musste sichergehen, dass er keine radioaktive Strahlung von dem sin kenden Unterseeboot abbekommen hatte. Arkady war ziemlich erleichtert, als der Leiter des Teams nach getaner Arbeit den Daumen hob. Der Pilot wandte sich dem hinteren Cockpit zu. »Das nenne ich einen erfolgreichen Einsatz, was, Mr. Gres tovitch?« Sie hoben die Hände, um sich, wie üblich, abzuklat schen. »Noch einmal davongekommen, Lieutenant«, erwiderte der Waffensystemoffizier mit einigem Sarkasmus. »Und Sie hätten nicht vielleicht Lust, gleich zum nächsten Einsatz aufzubrechen?« »Da musste ich einen schönen Dachschaden haben, Sir.« Arkady lachte und sprang auf das rutschfeste Deck hinun ter. Am anderen Ende der Landeplattform stand Lieutenant J. G. Nancy Delany an eine der Sicherheitsbarrieren gelehnt. Als Arkady zu ihr hinüberging, sah er, dass die stille, zierli che junge Frau noch ernster wirkte als gewöhnlich. Es war nur allzu verständlich. Sie hatte schon während des AntarktisEinsatzes auf der Duke Dienst getan und dabei einiges mitge macht. Was sie jedoch noch nie durchgemacht hatte, war, selbst auf den Knopf zu drücken und auf menschliche Wesen zu feuern. »Tja, Nancy, Sie können sich ein Unterseeboot unters Cock pit malen.« Sie sah mit ihren großen braunen Augen zu ihm auf. »Ich, Sir? Wir haben beide gefeuert.« »Ja, aber ich habe mir das Boot genau angesehen, als es hochkam. Sie haben den Torpedo vor seinem Bug abgeworfen – und so weit ich das erkennen konnte, waren die Schäden nur im vorderen Bereich. Ich würde sagen, dass Ihr Torpedo den Treffer gelandet hat. Willkommen in den Geschichts büchern, Lieutenant.« »Wie meinen Sie das?« »Ich meine damit, dass Sie und Ihre Waffensystem-Offizierin das erste ASW-Team sind, das je ein Atom-Untersee-
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boot erwischt hat. Ich weiß nicht, welche Auszeichnung man dafür bekommt, aber mit irgendeiner Anerkennung können Sie bestimmt rechnen.« Sie strich sich mit der Hand durch das kurz geschnittene brünette Haar und senkte den Blick für einen Moment. »Danke, Sir«, antwortete sie leise, »Ich weiß nicht recht, wie mir zumute ist. Einerseits ist es ja ein Erfolg, aber andererseits ist mir speiübel.« »Das verstehe ich«, sagte Arkady und legte der jungen Pilo tin kurz die Hand auf die Schulter. »Gönnen Sie sich ein we nig Ruhe. Da draußen warten noch ein paar andere schlimme Jungs auf uns.« »Aye, Sir.« Eine Tür in den Aufbauten öffnete sich, und Amanda, Ken Hiro und Christine Rendino traten ins Freie und eilten nach achtern zur Hubschrauberplattform. Es gab Arkady einen kleinen Ruck, als er die drei näher kommen sah. Sein erster Impuls war, Amanda entgegenzugehen und sie in die Arme zu nehmen. Doch er musste sich damit zufrieden geben, ein kurzes Kopfnicken mit ihr auszutauschen. »Lieutenant Arkady, Lieutenant Delany, wirklich gute Ar beit.« »Oh, haben wir doch gern getan, Capt’n«, antwortete Ar kady. »Wie ist die Bergung des U-Boot-Fahrers verlaufen?« »Er lebt, aber es gibt da einige Komplikationen. Wir küm mern uns gerade darum. Arkady, Sie kommen mit uns. Gehen wir.« Sie gingen weiter nach achtern und stiegen zum Well deck hinunter. In der Nähe des achterlichen Oto-Melara-Geschützturmes hatte man einen isolierten Bereich eingerichtet, eine mit gelbem Klebestreifen markierte Zone, die mit dem ro ten Strahlungswarnsymbol versehen war. Innerhalb des mar kierten Bereichs lag eine Gestalt, in eine Decke gehüllt, auf ei ner Trage. Eine zweite Gestalt in einem Strahlenschutzanzug aus Kunststoff entfernte sich soeben von ihr. Der Mann überschritt die Grenzlinie und ließ sich von ei nem bereits wartenden Matrosen mit einem Salzwasser schlauch abspülen. Danach nahm Doc Golden die ver schwitzte Schutzhaube und die Handschuhe ab.
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»Lebt er noch, Doc?«, fragte Amanda. »Das hängt davon ab, was Sie unter ›leben‹ verstehen, Capt’n«, antwortete Golden mit einer gewissen Bitterkeit. »Sein Herz wird wohl noch eine Weile schlagen. Er wird wei ter atmen und große Schmerzen haben. Aber im Grunde ist er so gut wie tot.« »Verstrahlung?« »Milde ausgedrückt, ja.« Golden entledigte sich des Over alls. »Ich glaube, der Bursche war Ingenieur. Es dürfte zu ei nem Austritt von Strahlung aus dem Primärkreislauf gekom men sein. Ich habe keine Ahnung, welche Strahlendosis der Mann abbekommen hat, aber die Werte liegen weit über jeder Grenze, bis zu der man noch überleben könnte.« Golden hielt einen Augenblick inne und stopfte den Schutzanzug in einen Dekontamierungsbeutel. »Verstehen Sie, Capt’n? Er hat das Zeug eingeatmet!« Amanda trat einen Schritt vor. »Was ist mit dem Ber gungsteam? Sind sie auch verstrahlt worden?« Golden schüttelte den Kopf. »Unsere Leute haben vielleicht ein wenig Strahlung abbekommen, aber sicher nichts Ernstes. Wir hatten alle nötigen Strahlenschutzmaßnahmen getroffen. Hinterher haben wir sie einer gewissenhaften Dekontaminie rungsprozedur unterzogen. Und der Bursche aus dem Unter seeboot ist ungefähr eine halbe Stunde im Wasser gelegen. Das hat ihn zumindest äußerlich von der Strahlung befreit.« »Können wir mit ihm sprechen?«, fragte Christine Rendino. »Sie können es versuchen. Ich habe ihn mit dem Geiger zähler überprüft und konnte keine aktive Gammastrahlungs quelle feststellen, nur Alpha- und Beta-Strahlen von seinem Körpergewebe. Gehen Sie nicht zu nahe heran und bleiben Sie nicht zu lange bei ihm.« »Konnten Sie denn gar nichts für ihn tun, Doc?«, fragte Amanda. »Nun, ich habe ihm eine Bluttransfusion verabreicht. Das wird die Sache ein wenig hinauszögern. Sein Kreislauf bricht nämlich allmählich zusammen. Außerdem habe ich ihm eine Maximaldosis Morphium verabreicht. Das wird zumindest die Schmerzen für eine Weile dämpfen.«
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»Können sie vielleicht auf der Enterprise mehr für ihn tun?« »Ja. Sie können ihm eine noch größere Dosis Morphium ge ben,« Doctor Golden ging wieder an die Arbeit; er musste sich um jene Patienten kümmern, für die er möglicherweise mehr tun konnte als für diesen einen. Christine Rendino und Ken Hiro hockten sich etwa einen Meter von der Trage entfernt nieder. Christine zückte einen kleinen Kassettenrecorder. Amanda und Arkady gingen an die Reling und rückten instinktiv näher zusammen. Sie konn ten in dieser Situation nichts anderes tun als zusehen. »Wie wollen Sie vorgehen, Lieutenant?«, fragte Hiro mit ernster Miene. »Zuerst ein paar allgemeine Informationen«, antwortete Christine und schaltete den Recorder ein. »Sagen Sie ihm, dass wir ihn geborgen haben. Sagen Sie ihm, wo er sich befin det und dass wir alles tun, um ihm zu helfen. Dann fragen Sie ihn nach seinem Namen und Dienstgrad.« »Okay.« Hiro begann auf Chinesisch zu dem Mann zu spre chen. Er bemühte sich, die Worte besonders deutlich zu arti kulieren und schaffte es schließlich, die Aufmerksamkeit des Sterbenden zu gewinnen. Unendlich langsam wandte der chi nesische Seemann sein Gesicht den beiden zu, und seine ge schwollenen Augen öffneten sich einen Spalt breit. In seinem versengten Gesicht hatten sich mehrere große Brandblasen gebildet. Viel schlimmer war jedoch das, was man nicht sah: die inneren Blutungen, die sich über den ganzen Körper ausbreiteten. Seine Kapillargefäße rissen unter der Einwirkung der radioaktiven Strahlung, die seinen Kör per bis in die Zellstruktur erschüttert hatte. Der Mann aus dem Atom-Unterseeboot wusste, dass sein Leben zu Ende ging, und obwohl er streng genommen von Feinden umgeben war, spürten die Offiziere der Cunningham doch, dass er froh war, nicht allein zu sein. »Fragen Sie ihn nach seinem Namen, Sir«, drängte Chris tine Rendino mit stiller Beharrlichkeit. »Sagen Sie ihm, dass wir seine Familie benachrichtigen möchten.« Hiro wiederholte die Frage. Diesmal kam eine Antwort.
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Das Flüstern des Mannes war vor dem Hintergrund der Schiffsgeräusche gerade noch zu hören. Der Erste Offizier der Duke runzelte die Stirn und ließ sich auf seine Fersen zurück sinken. »Was hat er gesagt, Commander?« »Er sagt, seine Familie weiß bereits, dass er tot ist.«
Task Force 7.1 41 Seemeilen östlich von Miyako-Jima 19. August 2006, 14:04 Uhr Ortszeit Im Lagezentrum der U.S.S. Enterprise blickte Commander No lan Walker triumphierend von der Nachricht auf, die er in der Hand hielt. »Definitive Bestätigung, dass der Cunningham eine Versen kung gelungen ist, Sir. Ein Jagd-Unterseeboot der Han-Klasse. Wrack und ein Überlebender geborgen.« Admiral Tallmans Antwort beschränkte sich auf ein zurückhaltendes Brummen. »Ist irgendetwas nicht in Ordnung, Sir?« »Nein, alles okay, Commander. Ich würde nur raten, dass wir uns nicht zu früh freuen sollten.« »Aber ein versenktes Boot, nachdem die Jagd noch keine 24 Stunden läuft, das ist doch nicht schlecht, Sir.« »Oh, gewiss. Die Leute von der Duke haben gute Arbeit ge leistet. Die Sache ist nur, dass wir erst einen Fisch gefangen haben. Der, auf den es ankommt, ist immer noch irgendwo da draußen. Erst wenn wir ihn an der Leine haben, können wir damit prahlen.« Tallman wandte sich wieder dem strategischen Display auf dem Hauptkartentisch zu. »Benachrichtigen Sie die Siebte Flotte, dass wir eine Versenkung zu verzeichnen haben. Dann überlegen wir uns, was wir als Nächstes tun.«
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65 Seemeilen westlich der Insel Kume-Shima 19. August 2006, 19:21 Uhr Ortszeit Der Kommandant der nationalchinesischen Fregatte war der letzte Mann, der an Bord des letzten Rettungshubschraubers zur Enterprise gebracht wurde. Die Verletzungen, die er erlit ten hatte, waren nur geringfügig und würden binnen weniger Tage geheilt sein. Die seelischen Wunden jedoch würden ihm weitaus länger zu scharfen machen. Noch am Morgen hatte Amanda den Kommandanten etwa gleich alt wie sie selbst eingeschätzt – doch heute Abend wirkte er wie ein alter Mann. »Ich danke Ihnen noch einmal, Capt’n Garrett«, sagte er in gewähltem Englisch, »dafür, dass sie meine Crew gerettet, und uns so freundlich hier aufgenommen haben. Und auch dafür, dass sie den Untergang meines Schiffes rächen konn ten.« »Ich bin froh, dass wir in der Nähe waren, Kapitän Kuo«, gab Amanda zurück und schüttelte ihm die Hand. »Ich hoffe, wir sehen uns eines Tages wieder, unter erfreulicheren Um ständen.« »Ja, vielleicht. Wenn sich alles zum Besseren gewendet hat.« Er nahm aufrechte Haltung an und verabschiedete sich von Amanda mit militärischem Gruß. Dann drehte er sich um und ging zu dem bereits wartenden Oceanhawk hinüber. We nige Minuten später stieg der Helikopter bereits in den Abendhimmel empor. Amanda blickte dem Hubschrauber noch ein paar Sekun den nach und ging dann hinein, um die Gefechtszentrale auf zusuchen. Die Anspannung hatte sich endlich gelegt. Die Wa che hatte gewechselt, und die Diensthabenden hatten bereits ihre Posten bezogen. Nur Dix Beltrain war an seinem Platz ge blieben und wandte seine Aufmerksamkeit abwechselnd dem Kartentisch, dem Alpha-Screen und dem Sandwich zu, das er aus der Tüte mit der Gefechtsverpflegung genommen hatte. »Wie sieht’s aus, Mr. Beltrain?« Dix schluckte den Bissen hinunter und stopfte das Sand
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wich in die Tüte zurück. »Kurs zwei-neun-null, liegt an Capt’n. Acht Knoten Fahrt. Steuerung erfolgt von der Brücke aus. Wir suchen immer noch die ursprüngliche Zone ab. Bis her keine Kontakte registriert.« »Sehen wir uns mal die taktische Situation an.« Sie trat zu ihm an den Kartentisch, und die Finger des jun gen Offiziers wanderten rasch über die Computergrafik-Karte auf dem horizontalen Bildschirm. »Die Siebte Flotte geht davon aus, dass das Unterseeboot, das wir erledigt haben, den Boomer gedeckt hat und dass die beiden anderen deshalb noch irgendwo in der Gegend stecken müssen. Der Flugzeugträger-Gefechtsverband der Enterprise liegt jetzt westlich der Ryukyu-Inseln. Sie haben eine ASW-Linie errichtet und dehnen ihre Suche kontinuierlich weiter nach Norden aus. Die Entfernung beträgt etwa 35 Seemeilen.« »Wer sind die Burschen da oben im Norden?« »Ein japanischer Verband, dessen Mittelpunkt der Hubschrauber-Kreuzer Shirain ist. Sie bewegen sich entlang des Ryukyu-Grabens langsam in unsere Richtung. Wir sind unge fähr 50 Seemeilen von ihnen entfernt.« Beltrain beschrieb einen Bogen über der Karte. »Hier draußen im Osten sind alle tiefen Fahrrinnen durch die Ryukyu-Inseln von taktischen Unterseebooten gedeckt. Hier … die Takashio … die Ashville … und die Jefferson City. Die seichten Fahrwässer werden von Orion-Maschinen über wacht. Die beiden rotchinesischen Unterseeboote stecken auf engem Raum fest – und das sicher nicht weit von uns ent fernt.« »Welche direkte Unterstützung haben wir?« »Die Enterprise hat zwei Vikings hier in der Gegend im Ein satz; außerdem sind wir eine Art Flugleitung für zwei ihrer SH-60-Hubschrauber.« »Gibt es schon irgendwas zu berichten?« »Alles ruhig wie auf dem Friedhof.« Amanda nickte. »Okay, Dix. Was, glauben Sie, haben die Kerle vor?« »Sie haben zwei Möglichkeiten, Ma’am. Entweder sie sit zen still und leise irgendwo da unten in einer Thermoklinale
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und hoffen, dass wir über ihnen vorbeilaufen … oder sie zie hen sich an die chinesische Küste zurück.« Amanda fühlte sich auf einmal sehr müde. Sie spürte es jetzt erst, nachdem die Anspannung der jüngsten Auseinan dersetzung nachgelassen hatte. Aus diesem Grund nahm sie sich bewusst ein paar Sekunden länger Zeit, um eine Ent scheidung zu treffen. Sie versuchte sorgfältig alle Seiten des Problems abzuwägen und fragte sich, ob sie nicht doch etwas vergessen hatte. »Wenn sie wirklich irgendwo da unten hocken«, sagte sie schließlich, »dann suchen wir mit dem Schleppsonar nach ih nen. Wir gehen zunächst einmal davon aus, dass sie nach Westen ablaufen.« Amanda sah sich die Entfernungen auf der Karte an. »Neh men wir einmal an, sie sind so schnell unterwegs, wie sie es geräuschlos hinkriegen, Sechs Knoten?« »Sagen wir acht, Ma’am.« »Okay, acht. Dann müssten sie jetzt rund 60 Seemeilen westlich von uns sein. Wie sieht’s mit unseren Treibstoffvorrä ten aus?« Beltrain rief die entsprechende Anzeige an einem der über ihnen angebrachten Bildschirme auf. »Noch 64 Prozent.« »Das reicht. Wir gehen auf zwei-sieben-null und laufen bis 24 Uhr mit 30 Knoten. Dann gehen wir mit der Fahrtstufe he runter und machen hier einen Bogen. Mit etwas Glück können wir ihnen richtig auf die Pelle rücken.« »Klingt gut, Capt’n.« »Okay. Setzen Sie sich mit dem ASW-Chef auf der Enterprise in Verbindung. Teilen Sie ihm mit, was wir vorhaben. Wenn er zustimmt, benachrichtigen Sie die Brücke und leiten Sie alles in die Wege.« »Was ist mit unseren Helis, Skipper? Was haben Sie mit ih nen vor?« Amanda zögerte einen Augenblick. »Sie bleiben vorläufig an Deck. Solange die Helikopter des Trägers uns aushelfen, gönnen wir unseren Leuten eine kleine Pause. Unsere Hub schrauber sollen in Fünf- bzw. Fünfzehn-Minuten-Alarmbereitschaft bleiben. Oh, und noch etwas, Dix. Wenn Sie das alles
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in die Wege geleitet haben, übergeben Sie an den Offizier vom Dienst. Ich möchte, dass Sie sich ein wenig Schlaf und eine richtige Mahlzeit gönnen. Ich kann es mir nicht leisten, dass mein bester Taktik-Offizier sich hier zu Tode schuftet.« »Okay, Mom … ich meine, Ma’am.« Beltrains Lächeln rettete ihn vor einer scharfen Bemerkung. Amanda lächelte selbst ein wenig müde über seinen Scherz. »Dann sind wir uns also einig, junger Mann.« Sie verließ die Gefechtszentrale und ging nach achtern zum Zwischendeckniedergang. Im Moment war hier alles menschenleer. Nur das unauf hörliche leise Summen der Luft in der Klimaanlage war zu hören. Es roch leicht nach verbranntem Kerosin; Dämpfe, die aus den Maschinenräumen nach oben stiegen. Hier war sie ungestört und konnte für einen Augenblick ru hig durchatmen. Sie lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen. Den ganzen Nachmittag über hatte für sie persönlich ›Alarmstufe Rot‹ geherrscht. Sie hatte peinlich genau darauf geachtet, dass ihre Gefühle sie nicht in ihren Entscheidungen beeinflussten. Jetzt aber gewannen die Gefühle wieder die Oberhand – einschließlich der Angst und der Verzweiflung. Doch diese Gefühle waren nun nicht mehr frisch – es waren geisterhaft anmutende Empfindungen, Erinnerungen an das Gefecht, das nun vor ihrem inneren Auge noch einmal ablief. Amanda wusste, dass es nicht lange dauern würde, bis diese Erinnerungen sich verflüchtigten, um höchstens eine weitere Narbe auf ihrer Soldatenseele zurückzulassen. Trotzdem erlebte sie in diesem Moment noch einmal die schlimmsten Augenblicke – die unendliche Anspannung, den kalten Schweiß auf der Stirn und das Gefühl, am Rande eines Abgrundes zu stehen. Amanda biss die Zähne zusammen und kämpfte gegen die innere Kälte an, die in ihr hochkroch. Plötzlich hörte sie Stim men und Schritte näher kommen. Rasch richtete sie sich auf und stieg den Niedergang hinunter. Es war nun einmal nicht denkbar, dass ein Kommandant sich vor seinen Untergebenen verletzlich zeigte.
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Obwohl es Ausnahmen gab. Ohne einen bewussten Entschluss gefasst zu haben, stellte Amanda plötzlich fest, dass sie den Korridor entlangging, der zu Vince Arkadys Kajüte führte. Sie verfluchte ihre Disziplin losigkeit, mit der sie sich über ihre eigenen Grundsätze hin wegsetzte. »Herein«, kam die rasche Antwort auf ihr Klopfen. Arkady lag ausgestreckt auf seiner Koje und erhob sich rasch, als er sie eintreten sah. »Was ist los, Darling?«, fragte er besorgt. Dass sie ihn hier aufsuchte, war ganz und gar ungewöhnlich. Amanda ging auf ihn zu und legte die Arme um seine Taille. Sie ließ den Kopf auf seine Schulter sinken und lauschte seinem kräftigen Herzschlag, der ihr wie eine bedingungslose Bejahung des Lebens erschien. »Heute hatte ich sie beinahe verloren, Arkady«, flüsterte sie. »Um ein Haar hätte ich die Duke verloren.« »Aber eben nur um ein Haar, Schatz.« Er schloss die Arme fester um sie und sie vergaß für einen Augenblick den Rest der Welt. Draußen im Korridor näherte sich noch jemand der Tür zu Arkadys Kajüte. Leise und vorsichtig schlich eine Frau heran, lauschte einen Augenblick und ging dann weiter.
Ostchinesisches Meer 20. August 2006, 06:00 Uhr Ortszeit »Wir sind so weit, Capt’n.« »Gut, ich komme.‹‹ Amanda legte den Hörer auf und erhob sich von ihrem Schreibtisch. Sie schlüpfte in ihre schwarze Uniform-Windjacke und setzte auch die Mütze auf, die sie nur selten trug. Nachdem sie noch einmal einen Blick auf die Bibel geworfen hatte, die auf dem Schreibtisch lag, trat sie auf den Korridor hinaus.
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Die feurigen Farben des Sonnenaufgangs waren dem kräf tigen Blau des Morgenhimmels gewichen. Vom gleichen Blau war auch das Meer, das völlig ruhig dalag und auf dem sich nur das helle Kielwasser der Cunningham abhob, die unbeirrt auf den Horizont zulief. Achtern hatten sich bereits zwölf Mitglieder der Besatzung versammelt; Arkady, Christine, Dr. Golden, Chefsanitäterin Bonnie Robinson und Chief Thomson sowie sieben Mann schaften, die M-16-Gewehre trugen. Und schließlich war da noch das Gestell an der Heck-Reling, auf dem eine menschliche Gestalt lag, die in weißes Se geltuch und die blutrote Fahne der Volksrepublik China gehüllt war. Letztere gehörte nicht zur Standardausrüstung eines Kriegsschiffes der U.S. Navy, doch mit ein wenig Impro visation hatte man auch dieses Problem gelöst. Rund um die Leiche des chinesischen U-Boot-Fahrers hatte man zur Warnung vor radioaktiver Strahlung ein gelbes Kunststoffband angebracht, das den Mann im Tod genauso von den Anwesenden der Beisetzungszeremonie trennte, wie Kultur und Ideologie es im Leben getan hatten. Als Amanda zu den Wartenden trat, hob Commander Thomson kurz die Hand an die Mütze. »Guten Morgen, Ma’am.« »Sind wir so weit, Chief?« »Ja, Ma’am.« »Dann fangen wir an.« Thomson nickte und gab den entsprechenden Befehl: »Still gestanden!« Es folgte ein kurzes Scharren von Schuhen auf den radarab sorbierenden Platten, als die Anwesenden Haltung annah men. Ihre Augen waren zwar geradeaus gerichtet, doch Amanda spürte, dass die Mitglieder ihrer Crew aus den Au genwinkeln zu ihr hinüberblickten. Es war dies ein Moment, in dem man über die Sterblichkeit nachdachte, die eigene und die der anderen, in dem man versuchte, eine Antwort für sich zu finden. Und es war fast so, als erwarteten alle bei ihr, dem Kommandant des Schiffes, eine Erklärung für das Unbegreifli che zu finden, mit dem sie wieder einmal konfrontiert waren.
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»Wir kennen diesen Menschen nicht«, begann sie schließ lich. »Wir wissen nichts über seine Träume, seine Hoffnungen – ja, wir kennen nicht einmal seinen Namen. Alles, was wir wissen, ist, dass er Seemann war, so wie wir, dass er seine Pflicht gegenüber seinem Heimatland tat, wie wir es auch tun, und dass er hoffte, eines Tages zu denen zurückzukehren, die ihn liebten. Wir mögen im Augenblick gegen sein Land Krieg führen, doch mit diesem Mann gibt es für uns keine Feindschaft mehr. Wir sind mit ihm im Frieden, und wir wünschen ihm alles Gute für seine letzte große Reise … Maschinen stopp!« »Maschinen stopp!«, wiederholte Chief Thomson ihre Worte in sein Mikrofon. Der gleichmäßige Pulsschlag der Schiffsmaschinen erstarb. »Salut!« Mit präzisen Griffen hob die Salutabteilung ihre Gewehre und machte Front zur See. Die Gewehrläufe waren zum Him mel gerichtet; ein mehrfacher Knall zerriss die Luft, der sich zweimal wiederholte. Patronenhülsen fielen herab und kul lerten über das Deck. Ohne auf einen Befehl zu warten, traten Vince Arkady und Chief Thomson vor und duckten sich, um unter dem gelben Band hindurch zu dem toten Matrosen zu gelangen. Sie hoben die Planke an einem Ende an, und die Leiche glitt über die Re ling ins Wasser, wo sie mit einem eigentümlich zischenden Geräusch in den Fluten verschwand. »Rührt euch! Weitermachen!« Die Beisetzungszeremonie war vorüber, und die Anwesen den gingen wieder auf ihre Stationen. Amanda war gerade auf dem Weg zum Ruderhaus, als eine Stimme aus dem AMC dröhnte. »Kommandantin, bitte im CIC anrufen!« Ohne ein Wort zu sagen, nahm Chief Thomson seinen Kopfhörer ab und reichte ihn ihr. »Kommandantin hier. Was gibt’s?« »Hier Dix Beltrain, Capt’n. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass sich die Enterprise gemeldet hat. Wir haben soeben ein weiteres Unterseeboot erwischt.«
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35 Seemeilen südwestlich von Yaku-Jima,
Ryukyu-Inseln
19. August 2006, 04:27 Uhr Ortszeit Kommandant Hikaru Ichijo hatte bereits seine Kajüte verlas sen und sich zur Zentrale aufgemacht, als man ihn über die Bordsprechanlage rief. Er war sofort hellhörig geworden, als der Dieselantrieb verstummte. Sein Fahrzeug, das japanische Unterseeboot Harado, hatte die Schnorchelfahrt abgebrochen und tauchte in dunkle Tiefen. »Erster Offizier, Meldung!«, stieß er hervor, als er durch die Tür trat. Sein Erster Offizier, Leutnant Hayao Kakizaki, blickte nach vorne auf seine Anzeigen. »Passiver Sonarkontakt, Kommandant-Sa«. Unterseeboot, Peilung null-fünf-null grün voraus. Geschätzte Entfernung 25 000 Meter. Plot ist in Arbeit.« »Status des Bootes?« »Als wir auf den Kontakt stießen, habe ich sofort Anwei sung gegeben, auf Elektroantrieb umzukuppeln. Schnorchel und Kommunikationsmast sind eingefahren, und Ihrem Be fehl entsprechend gingen wir sofort auf hundert Meter Tiefe«, meldete der junge Offizier atemlos. Ichijo nickte anerkennend. »Sehr gut, Hayao. Jetzt wollen wir mal sehen, mit wem wir es zu tun haben.« Genau das war die Aufgabe der Harado. Sie war eines von sechs japanischen Unterseebooten, die entlang der RyukyuInseln postiert waren, um zu verhindern, dass die Chinesen in den Nordpazifik gelangten. Wie es schien, sollte ihre Mission nun von Erfolg gekrönt werden. Der Unterseeboot-Kommandant machte in der Enge der Zentrale die eineinhalb Schritte zum Hauptkartentisch hinü ber. Er nahm einen Kommandokopfhörer vom Regal und setzte ihn auf, ehe er sich der dreidimensionalen holografi schen Projektion zuwandte, die durch die Glasoberfläche des Kartentisches zu sehen war. Östlich des Unterseebootes war in leuchtendem Blau ein unterseeischer Berg namens Aichi-Jima zu erkennen. Es han
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delte sich dabei um ein steiles Gebirge aus Basaltgestein, das vom Meeresboden über 600 Meter in die Höhe ragte und an manchen Stellen nicht mehr als 60 Meter von der Mee resoberfläche entfernt war. Im Westen war die grüne Spur ei nes Fischerbootes zu sehen, das seiner gewohnten Arbeit nachging. Ziemlich genau in südlicher Richtung befand sich der unbekannte Kontakt in Form eines leuchtend gelben Symbols, neben dem ein Streifen mit verschiedenen Daten eingeblendet war. Kurs null-eins-null, Fahrt 12 Knoten, Tiefe 80 Meter. Während Ichijo den Kontakt beobachtete, änderte das Sym bol seine Farbe von Gelb zu einem bedrohlichen Rot. »Kommandant – Sonarzentrale. Haben Sie bereits die Identifikation des Zieles?« »Ja, Kommandant-San. Schraubenumdrehungen und Ma schinengeräusche lassen auf ein Boot mit einer Schraube und Atom-Antrieb schließen. Aufgrund eines Vergleichs mit den Signaturen unserer Datenbank lässt sich mit hoher Wahr scheinlichkeit annehmen, dass es sich um ein Jagd-Unterseeboot der Volksrepublik China handelt.« »Wir haben ihn, Hayao. Alles auf Gefechtsstation. Schleich fahrt.« Lichter begannen zu blinken und ein leiser, aber durchdrin gender elektronischer Ton ertönte überall in dem Untersee boot der Yuushio-Klasse, worauf die Besatzungsmitglieder auf ihre Stationen eilten. »Torpedoraum. Status der Rohre?« »Standard-Ladung in allen Rohren, Kommandant-San. GRX-3 Dual-Torpedos in Rohr eins, zwei und drei. Bolde in Rohr vier.« »Sehr gut. Schiffstechnische Zentrale.«
»Hai!« »Wie ist der Status der Batterien?« »Wir haben die Aufladung nicht ganz abgeschlossen. 73 Prozent sind verfügbar.« »Das muss reichen.« Der Erste Offizier Kakizaki trat zu ihm an den Kartentisch. »Boot auf Gefechtsstation, Kommandant-San, und genau
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auf einhundert Meter eingesteuert. Unser Kurs ist eins-achtnull. Sechs Knoten Fahrt.« Ichijo nickte und starrte weiter auf das Display hinunter, wie ein Mönch, der über einem Teich meditiert. Das chinesi sche Han und sein eigenes Boot bewegten sich auf fast genau entgegengesetztem Kurs, so dass sie schon bald in ziemlich geringer Entfernung aneinander vorbeilaufen würden. Angesichts der relativ hohen Geschwindigkeit, mit der das Unterseeboot der Han-Klasse unterwegs war, hatte sein Passiv-Sonar das japanische Boot wahrscheinlich nicht entdeckt, obwohl dieses knapp unter der Oberfläche mit seinem Diesel antrieb unterwegs gewesen war. Alles in allem sehr günstige taktische Voraussetzungen, um das chinesische Boot zu über raschen. Doch Ichijos Pläne gingen noch einen Schritt weiter. »Sonarzentrale, gibt es irgendeinen Hinweis auf ein zwei tes Ziel?« »Negativ, Kommandant-San. Nur der erste Kontakt… Mo ment … Schraubenumdrehungen und Maschinengeräusche nehmen ab … Das Ziel wird langsamer.« Ichijo nickte. Das Han ging nach einem klassischen Schema vor: Es fuhr zunächst mit hoher Geschwindigkeit in ein Ge biet ein und ging dann mit der Fahrt herunter, um sich nach eventuellen Bedrohungen umzusehen. Zu spät, mein Freund. Nun, da die Harado auf Elektroantrieb umgestellt hatte, glitt sie so geräuschlos wie ein Schatten über den Meeresboden. »Hayao, ich wette, der Bursche hier soll nur den Weg für das strategische Atom-Unterseeboot auskundschaften.« Der junge Offizier nickte zustimmend. »Das klingt ein leuchtend, Kommandant-San.« Er tippte mit dem Finger auf den südlichen Rand des Displays. »Wahrscheinlich hält sich der andere hier irgendwo auf und wartet, bis das Jagd-Unterseeboot ihm das Zeichen gibt, dass die Luft rein ist. Dann folgt er so schnell wie möglich nach.« »Genau. Und wenn wir auf diesem Kurs bleiben, wird er uns direkt in die Hände laufen.« Ichijos Großvater war einst in Nagasaki gewesen und als Folge des Atombombenabwurfs einen langen, qualvollen Tod
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gestorben. Es erfüllte den japanischen U-Boot-Kommandanten mit einer gewissen Genugtuung, vielleicht schon bald eine ganze Bootsladung von Atomwaffen zerstören zu können. »Sollen wir eine Kommunikationsboje mit einer Meldung hochschicken?«, fragte Kakizaki. Ichijo runzelte die Stirn. Es war ein vernünftiger Vorschlag, doch das Ausstoßen einer Boje würde möglicherweise genug Lärm machen, um die Aufmerksamkeit des Feindes zu wecken. »Noch nicht, aber programmieren Sie die Boje schon einmal und halten Sie sie in einem Startrohr bereit.« »Zu Befehl, Kommandant-San.« Die beiden Unterseeboote trieben in einer Entfernung von knapp zweieinhalb Kilometern durch die See. Der einzige Un terschied zwischen ihnen bestand darin, dass der Antrieb des Han-Bootes genügend Lärm produzierte, damit die Sensoren der Harado ihn wahrnehmen konnten. Das japanische Boot be fand sich nun in totaler Schleichfahrt. Man sprach nur, wenn es unbedingt nötig war, und auch dann höchstens im Flüster ton. Nur die wirklich lebensnotwendigen Systeme waren in Betrieb. Man hatte selbst die Klimaanlage auf das absolut not wendige Minimum heruntergedreht. Die Temperatur im Unterseeboot stieg rasch an, da die Ab wärme von Menschen und Maschinen im Inneren des gut iso lierten Bootes verblieb. Weil auch das Gebläse ausgeschaltet war gab es keine Luftzirkulation mehr, die der Besatzung nor malerweise fast das Gefühl vermittelte, sich im Freien zu befin den. Und so machte sich nach und nach der Schrecken einer je den Unterseeboot-Besatzung, die Klaustrophobie, bemerkbar. »Sonar. Irgendein Hinweis auf einen weiteren Kontakt?« »Negativ, Kommandant-San.« Ichijo und Kakizaki blickten einander schweigend an. »Das strategische Unterseeboot könnte auf das: die-Luft-ist-reinSignal warten«, sagte der Erste Offizier schließlich. »Bei der Entfernung mussten sie dazu mit ihrem Hauptso nar aktiv werden. Nein, ich glaube, sie würden vorsichtiger agieren; aber dass sich das Marschflugkörperboot so lange nicht blicken lässt, ist schon eigenartig.«
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»Der Bathythermograph zeigt eine leichte Thermoklinale bei etwa 125 Metern an. Vielleicht ist er tiefer getaucht und läuft irgendwo unter uns vorbei.« »Vielleicht. Wir werden es herausfinden. Gehen wir fünfzig Meter tiefer.« Die Minuten verstrichen, und der Kommandant wartete mit wachsender Unruhe. Die taktische Situation wurde zuneh mend ungünstiger. Die beiden Boote schlichen zwar nur sehr langsam dahin, doch allmählich vergrößerte sich dennoch der Abstand zwischen ihnen. Es würde nicht mehr allzu lange dauern, und das Han konnte von den seitlichen Sonaranlagen der Harado nicht mehr wahrgenommen werden. Außerdem kam das chinesische Boot dem Aichi-Jima-Berg immer näher, der ihm möglicherweise Schutz bieten konnte. Von den Chine sen war jedoch immer noch weit und breit nichts zu erfassen. »Sonar, gibt es etwas Neues?« »Immer noch kein neuer Kontakt in Sicht.« Zum Teufel mit allen sicheren Vorhersagen und mit all de nen, die daran glaubten. »Wir können nicht länger warten. Hayao. Auf Gegenkurs gehen. Maschinen zwei Drittel voraus.« »Wir jagen das Han-Boot?« »Wir müssen es tun, sonst verlieren wir es. Waffensystem offizier, Torpedorohre fluten und klarmachen zum Öffnen der Mündungsklappen.« »Hai!« Das Deck neigte sich unter ihren Füßen, als die Harado kehrtmachte, um den Feind zu verfolgen. »Mündungsklappen öffnen und Drahtlenkung für Torpe dos eins und zwei vorbereiten. Geben Sie mir die Zielkoordi naten.« »Frage: Geschwindigkeitseinstellung, Kommandant-San?« »Stellen Sie hohe Geschwindigkeit ein. Ich will einen schnellen Treffer.« »Zentrale – Sonar. Veränderung bei Schraubenumdrehung und Maschinengeräuschen. Ziel wird schneller.« »Waffenoffizier, wo bleiben die Zielkoordinaten?« »Zentrale – Sonar. Ziel beschleunigt und wendet!«
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»Er weiß, dass wir hier sind«, flüsterte Kakizaki bestürzt. »Irgendwie hat der Kerl herausbekommen, dass wir ihn ver folgen!« »Wir haben die Zielkoordinaten«, verkündete der Waffen offizier von seiner Station aus. »Mündungsklappen sind geöffnet. Alle Stationen feuerbereit.« Zu spät. Ichijo starrte fassungslos auf den Kartentisch. Er hatte zu lange gewartet. Er hatte das chinesische Jagd-Unterseeboot zu nahe an den Aichi-Jima-Berg herankommen las sen. Jetzt drehte das Boot nach Osten ab, direkt auf den Tief seeberg zu. Selbst wenn die Torpedos die 16 Kilometer zwischen den beiden Booten mit ihrer maximalen Geschwin digkeit von 70 Knoten durchquerten, würden sie das chinesi sche Boot nicht mehr erreichen, bevor es zu dem schmalen Bergrücken gelangte und sich hinüberretten konnte. Und hatte das Boot erst einmal die unterseeische Felswand zwischen sich und dem Verfolger, konnte es entweder mit Höchstfahrt weiterlaufen oder den Bergrücken an irgendei nem Punkt erneut überqueren. Ichijo wusste, dass sein dieselelektrisches Boot sich in je dem Duell behaupten konnte, wo es darauf ankam, sich anzu schleichen und gut getarnt zu bleiben. Wenn es jedoch zu ei ner offenen Auseinandersetzung mit aktivem Sonar kam, würde das atomgetriebene und deshalb schnellere und be weglichere Han-Boot im Vorteil sein. »Hayao, lassen Sie die Kommunikationsboje ausstoßen. Wir können wenigstens einen Bericht abschicken.« »Zu Befehl, Kommandant-San«, antwortete Kakizaki. Auf dem Karten-Display war zu erkennen, dass sich das Han-Boot dem Aichi-Jima-Berg weiter näherte und dabei auf über 20 Knoten beschleunigte. In Ichijos stille Selbstvorwürfe mischte sich ein gewisses Staunen. »Sonarzentrale – Kommandant. Hat das Ziel mittlerweile auf Aktivmodus gewechselt?« »Negativ, Kommandant. Immer noch passiv. Das Ziel sen det keine Peilsignale aus.« Der chinesische Unterseeboot-Kommandant musste Ner ven wie Drahtseile haben, um ohne aktive Systeme auf den
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Tiefseeberg zuzulaufen. Das Trägheitsnavigationssystem der Chinesen arbeitete für eine solche Situation bestimmt nicht präzise genug. Ohne Aktiv-Sonar liefen sie so gut wie blind durch die Dunkelheit. »Wie navigiert dieser Kerl bloß?«, rief Kakizaki aus, als er von der Kommunikationsanlage zurückkehrte. »Ich habe keine Ahnung, Hayao«, antwortete Ichijo, während er zusah, wie das Symbol des Han sich mit den Um rissen des Meeresgebirges zu überlagern begann. »Er muss jetzt ganz abrupt auftauchen, wenn er den Berg noch überspringen will.« »Wenn er ihn überspringt.« Ichijo aktivierte erneut sein Mikrofon. »Sonar-Zentrale. Le gen Sie die Sonar-Geräusche auf die Lautsprecher in der Zen trale.« Die Zentrale wurde von einem gedämpften Geräusch er füllt, dem charakteristischen Rauschen einer Schraube. Alle Anwesenden hoben die Köpfe und lauschten angespannt. Das Geräusch ging einige Sekunden gleichmäßig weiter und ver lor sich plötzlich in einem lauten Knall, als Stahl gegen Stein prallte. Das Dröhnen des Aufpralls verebbte und ging in das Zi schen von entweichender Luft und Ächzen von berstendem Metall über. Die Anwesenden in der Zentrale der Harado blickten einander fassungslos an, während ihr Feind den Hang des Meeresgebirges entlang in die Tiefe sank.
Ostchinesisches Meer 19. August 2006, 07:15 Uhr Ortszeit »Also, so sieht es aus, Capt’n«, schloss Lieutenant Beltrain sei nen Bericht. »Das zweite Han-Unterseeboot ist aus dem Ren nen. Man konnte sich sogar einen Torpedo sparen, weil es auf der Flucht vor dem japanischen Unterseeboot havarierte. Jetzt sind also zwei außer Gefecht. Fehlt noch einer.«
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Amanda nickte langsam. Sie und ihre Taktik-Offiziere stan den am Kartentisch in der Gefechtszentrale und hörten zu, wie Dix ihnen von den Ereignissen berichtete, die sich nörd lich von ihnen zugetragen hatten. »Ja«, warf Christine Rendino ein. »Er muss wohl versucht haben, südlich von Yako-Jima in den Pazifik durchzubrechen. Vielleicht dachte er, dass wir so nahe der japanischen Inseln nicht so verbissen nach ihm suchen würden. Ziemlich gewagt, aber letztlich vergeblich.« Christine blickte auf und bemerkte den etwas skeptischen Gesichtsausdruck ihrer Kommandantin. »Sie scheinen aber nicht besonders zufrieden zu sein, Ma’am. Hatten Sie vielleicht vor, alle beide auf einmal einzu kassieren?« »Nein … nein. Es ist nur … irgendetwas kommt mir an der Sache komisch vor.« »Komisch, Skipper?«:, fragte Arkady stirnrunzelnd. »Sehen Sie mal.« Amanda nahm einen der Lichtgriffel am Kartentisch und tippte damit auf einen bestimmten Punkt auf dem Display. »Hier haben wir gestern Nachmittag unser HanBoot erwischt…« Sie zog eine leuchtende Linie auf der Karte und eine Entfer nungsangabe erschien daneben. »… und hier ist das zweite Han-Boot untergegangen. Dazwischen liegen gut 300 Seemei len. Wir sind immer von der Annahme ausgegangen, dass die beiden Hans und das Xia als eine Einheit operieren. Eine Art Wolfsrudel, bei dem die beiden Jagd-Unterseeboote das stra tegische Boot eskortieren. Angenommen, es wäre so – hätten dann das zweite Han und das Xia die 300 Seemeilen in den 16 Stunden zurücklegen können, die zwischen dem Ende der beiden Boote lagen?« Ken Hiro zuckte die Schultern und antwortete: »300 See meilen? Das wäre für ein Atom-Unterseeboot sicher kein Pro blem.« »Nein, Sir«, wandte Arkady ein. »Ich verstehe jetzt, worauf der Skipper hinaus will. Sie hätten es in Marschfahrt ge schafft, aber nicht in Schleichfahrt. Schließlich mussten sie möglichst lautlos dahinkriechen und dabei im Zickzack jede
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Thermoklinale nützen, die sich bot, Außerdem mussten sie ei nen gewaltigen Umweg fahren, um die japanische Task Force zu umgehen, die nördlich von uns operiert. Ein Han-Boot, das diese Distanz in so kurzer Zeit bewältigt, wäre uns ganz be stimmt aufgefallen.« »Genau«, stimmte Amanda zu. »Dix, haben sie auf der Enter prise einen Kontakt mit dem Xia-Boot bei Yako-Jima gemeldet?« »Bisher nicht. Die Suche wird jedoch verstärkt, um die Ge gend noch besser zu durchleuchten.« Amanda nickte erneut. »Ich möchte wetten, dass sie nichts finden. Seit dem Start dieser Operation gehen wir von der An nahme aus, dass die rotchinesischen Boote im Verband operie ren. Das stimmt aber nicht. Sie haben sich zerstreut, nachdem sie aus Shanghai ausliefen, und operieren nun völlig unab hängig voneinander.« Amanda biss sich auf die Unterlippe. »Ich frage mich«, sagte sie schließlich, »ob das unsere einzige falsche Annahme ist.«
Ostchinesisches Meer 19. August 2006,18:00 Uhr Ortszeit Schiff ist in Alarmbereitschaft. ASW-Operation läuft nach wie vor. Suchzone wurde ausgedehnt. Keine Kontakte. Keine be sonderen Vorkommnisse. Garrett, Commander
Ostchinesisches Meer 20. August 2006, 14:00 Uhr Ortszeit Die Offiziersmesse war menschenleer bis auf Christine Ren dino, doch es herrschte eine äußerst unangenehme Geräusch kulisse in dem Raum. Man hörte ein metallisches Krachen, ein
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Knarren und Ächzen von berstendem Stahl – dazwischen ein Brodeln und Dröhnen und mehrere gedämpfte explosionsar tige Geräusche wie von fernem Artilleriefeuer. Amanda hätte zwar nicht sagen können, worum es sich bei der Geräuschku lisse handelte, doch irgendetwas daran ließ sie erschaudern. Die seltsamen Laute wurden von der Stereoanlage der Messe produziert. Chris saß mit überkreuzten Beinen direkt vor den Lautsprechern auf dem Teppich. Sie war so konzen triert, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass sie Besuch bekam. Arkady, der Amanda begleitete, trat von hinten an die blonde Intel-Offizierin heran. »Ist Heavy Metal wieder in?«, fragte er mit lauter Stimme. »Nahe dran, aber leider daneben«, antwortete Christine. Sie beugte sich vor und schaltete den CD-Player ab. »Das hier habe ich aus der Sonarzentrale der Duke. Es ist der Untergang des Jagd-Unterseebootes der Han-Klasse, das wir versenkt haben. Aufgenommen wurde es von dem Sonarbojen-Netz, das wir ausgelegt hatten.« Amanda nickte. Kein Wunder, dass die Geräuschkulisse sie hatte erschaudern lassen. »Und hier habe ich eine andere Aufnahme«, fuhr Christine fort und zeigte auf das zweite CD-Laufwerk. »Wir haben das Material vom Nachrichtendienst der Flotte. Die Aufnahme wurde an Bord des japanischen Unterseebootes gemacht; da rauf ist der Untergang des zweiten Han-Bootes zu hören. Holt euch Stühle, ich möchte, dass ihr euch beides anhört.« Die erste Aufnahme dauerte ungefähr fünf Minuten und reichte vom Untergang des Unterseebootes bis zu dem Au genblick, wo sich der Rumpf in eineinhalb Kilometer Tiefe in den Meeresboden bohrte. »Okay, und jetzt das zweite Boot. Ihr hört da noch andere Hintergrundgeräusche, weil das Wrack den Abhang einer Untersee-Felswand entlangschlitterte. Aber das ist es nicht, wo rauf ihr achten sollt.« Wieder folgte minutenlanges metallisches Bersten und Kra chen. »Okay, wo war der Unterschied?«, fragte Chris schließlich. Amanda und Arkady sahen einander fragend an. »Okay«,
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sagte Arkady schließlich. »Ich gebe zu, ich habe keine Ah nung. Was hätten wir hören sollen?« »Es geht um das, was man nicht hört. Ich spiele euch noch einmal eine Stelle aus der ersten CD vor.« Sie ließ die Geräuschkulisse erneut erklingen, das Bersten und Ächzen, das Dröhnen und schließlich die explosionsartigen Geräu sche. »Diese Detonationen«, sagte Amanda plötzlich. »Davon war auf der zweiten Aufnahme nichts zu hören.« »Richtig!« »Was ist das?« »Das sind wasserdichte Abteile, die implodieren, während das Unterseeboot über eine gewisse Tiefe weiter sinkt.« Amanda musste ein neuerliches Schaudern unterdrücken und verfluchte die Tatsache, dass ihre Fantasie ihr eine so deutliche Vorstellung von dem Ereignis lieferte. In ihrer Zeit am David W. Taylor Naval Research & Development Center hatte sie einst Bilder gesehen, die im Inneren eines Untersee bootes aufgenommen worden waren, das in zu große Tiefe ge raten war. Da unten traten bisweilen ganz erstaunliche physi kalische Phänomene auf. Von Kubikkilometern Wasser umgeben, waren die Besatzungsmitglieder verbrannt. Als die Schotts zusammenbrachen und das Wasser mit ex trem hohem Druck wie eine Wand aus Stahl hereindrang, wurden Druckwellen erzeugt, die ihrerseits eine sengende Hitze hervorriefen. In den Mikrosekunden, bevor sich die Räume mit Wasser füllten, verbrannte alles, was sich darin be fand. »Ich bin überzeugt, alle hier im Raum werden mich für ei nen kompletten Idioten halten, wenn ich das jetzt frage, aber ich tu’s trotzdem. Was hat das zu bedeuten?«, warf Arkady ein. »Es bedeutet, dass das zweite Han-Boot nicht mit abge schottenen Abteilungen lief«, antwortete Amanda nachdenk lich. »Sie hatten die wasserdichten Abschottungen offen.« »Genau!«, stimmte Christine zu. »Alles stand sperrangel weit auf. Als sie gegen den Tiefseeberg krachten, waren sie binnen Sekunden vom Bug bis zum Heck voll Wasser.«
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»Ich frag’ nicht noch einmal«, seufzte Arkady und stand auf, um zum Kaffeeautomaten zu gehen. »Aber das ist doch logisch«, sagte Amanda ein wenig unge duldig. »Der Kommandant des japanischen Unterseebootes, der das Han-Boot jagte, hatte den Eindruck, dass das chinesi sche Boot fliehen wollte.« »Moment mal«, wandte Arkady ein. »Wenn sie ein Aus weichmanöver gestartet hätten, dann wären sie doch auf Ge fechtsstation gegangen,« »Genau, und dann hätten sie mit Sicherheit auch ihre was serdichten Schotts geschlossen und gesichert«, sagte Christine und tippte mit dem Finger nachdrücklich auf den CD-Player. »Das ist also wieder eine der falschen Annahmen, von denen der Skipper gestern gesprochen hat. Wir haben angenommen, dass das Unterseeboot aufgrund eines verpatzten Ausweich manövers unterging. Das stimmt aber nicht. Es war ganz ein fach ein Unfall. Diese Kerle hatten keine Ahnung, dass sie ver folgt wurden. Sie dampften einfach durch die Gegend, bis sie in die Felswand krachten.« »Verflucht noch mal«, stieß Arkady nachdenklich hervor. »Sie haben Recht. Das hätte kein Detektiv besser hingekriegt, Chris.« »Danke«, gab Christine geistesabwesend zurück und starrte auf den CD-Player. »Was ist denn noch?« »Ich bin mir nicht sicher. Ich meine, Unfälle können schon mal passieren. Aber das hier waren doch bestimmt hoch qua lifizierte Leute! Theoretisch sogar die besten, die ihre Marine hatte. Und trotzdem haben sie eine so unerhört wichtige Mis sion völlig vermasselt. Das will mir einfach nicht in den Kopf. Da gibt es noch etwas, das wir übersehen haben.« Jemand im Raum nickte schweigend. Weder die Intel-Offizierin noch Arkady hatten bemerkt, dass auch Amanda Lee Garrett den CD-Player mit größter Aufmerksamkeit an starrte.
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Ostchinesisches Meer 22. August 2006, 18:05 Uhr Ortszeit Nachschubtransfer von der U.S.S. Sacramento erfolgreich durchgeführt. ASW-Operation läuft weiter. Schiff nach wie vor in Alarmbereitschaft. Keine Kontakte. Keine besonderen Vorkommnisse. Garrett Commander
Ostchinesisches Meer 22. August 2006, 09:19 Uhr Ortszeit »Retailer Zero One. Hier Yancy Five Niner Bravo. Wir haben ihn! Wir haben ihn im Visier!« In der Ferne drehte sich die S-3-Viking praktisch um die Flügelspitze wie ein Falke auf der Jagd und kreuzte den Kurs des Sea Comanche. Während er in den Schwebeflug ging, rief Vince Arkady seinem Waffensystemoffizier einen Befehl zu. »Dom ab!« »Dom ab«, wiederholte Gus Grestovitch und gab die An weisung in seine Systeme ein. »Taktische Situation?« »Wir bekommen Daten von Yancy Five Niner’s Bojennetz rein. Sie haben zwei Linien von passiven Bojen unten und die haben jetzt einen Kontakt. Ein einzelnes Ziel unter Wasser, Tiefe 200 Meter. Kurs eins-neun-null. Geschätzte Fahrt 16 Knoten. Peilung zum Ziel null-vier-fünf.« »Ist das Ziel schon identifiziert?« »Es ist ein U-Kontakt. Aufgrund der Schraubenumdrehun gen müsste es eine siebenblättrige Schraube sein. Keine An triebsgeräusche bisher. Die Klasse konnte noch nicht ermittelt werden. Das Boot läuft wirklich leise, Lieutenant … So leise, dass ich es kaum erfassen kann.«
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Arkady runzelte die Stirn, »Das kann doch nicht sein. Nicht bei einem chinesischen Boot, das mit einer solchen Geschwin digkeit unterwegs ist.« Er drückte auf den Mikrofonknopf, um sich mit der Viking in Verbindung zu setzen. »Yancy Five Niner, habt ihr schon eine positive Zielidentifikation?« »Negativ, Retailer Zero One!«, kam die aufgeregte Antwort. »Aber es muss ein rotchinesisches Boot sein. Wir haben uns die Bestätigung geholt, dass keines unserer Boote da draußen ist. Wir haben einen Aal bereit zum Abwurf.« Der Bursche hatte es eilig. Seine Crew wollte sich offen sichtlich einen Abschuss an die Fahnen heften. »Yancy Five Niner, äh … wartet noch einen Augenblick. Da ist irgendetwas nicht in Ordnung. Der Bursche wirkt einfach zu ruhig. Ich rate euch, zuerst die Bestätigung abzuwarten, um welches Boot es sich handelt, bevor ihr zuschlagt.« »Die Identifikation ist eindeutig, Retailer Zero One«, be harrte der Waffensystemoffizier der Viking. »Der Bursche läuft bestimmt unter einer Thermoklinale. Wir haben das Ziel erfasst und können feuern. Wir fliegen jetzt an!« »He, Gus«, fragte Arkady mit leiser Stimme. »Haben Sie den Bathythermographen überprüft, bevor wir von der Duke aufgebrochen sind?« »Ja. Und es gibt hier in der Gegend keine Thermoklinalen über 300 Meter.« »Dom ab! Volle Länge! 250 Meter!« »Dom ist im Wasser, Sir!« »Yancy Five Niner, hier Retailer Zero One. Ich rate euch, zu warten, bis wir das Ziel überprüft haben. Da ist irgendwas nicht in Ordnung!« »Retailer Zero One, wenn wir nicht bald feuern, verlieren wir das Ziel vielleicht aus dem Visier! Wir feuern jetzt!« Die Cockpitscheibe des Flugzeugs reflektierte das Sonnen licht, als der ASW-Jet erneut zum Anflug ansetzte. »Lieutenant«, warf Grestovitch ein. »Dom ist unten. Ther mograph zeigt keine Thermoklinale an.« »Oh, verdammt! Gus, aktives Sonar aufdrehen! Pingen Sie ihn ordentlich an!«
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»Ja, Sir!« »Und aktivieren Sie Yancy Five Niner’s Sonarbojen. Alle!« »Aye, aye!« Im nächsten Augenblick explodierte die Geräuschkulisse unter Wasser förmlich. Ein Dutzend Sonarwandler wurde ak tiv und schickte Ultraschallwellen in alle Richtungen. Die natürlichen Bewohner dieser Regionen erschraken ebenso wie jene, die mit technischen Hilfsmitteln hierher gelangt waren. »Retailer Zero One!«, brüllte der Waffensystemoffizier der Viking. »Was zum Teufel machen Sie da?« »Ich rette gerade Ihre Haut Yancy.« »Ziel beschleunigt«, meldete Gus. »Ziel wendet … und taucht! Ziel ist als Block-II-Akula-Jagd-U-Boot identifiziert. Russische Pazifikflotte. Ich wiederhole, das Ziel ist russischer Herkunft!« »Verdammter Mist«, flüsterte eine zittrige Stimme über Funk. »Roger, Yancy. Ihr solltet nicht vergessen, dass wir nicht die Einzigen sind, die sich hier in der Gegend rumtreiben.« »Wir verlieren das Ziel unter einer Thermoklinale, Lieute nant«, meldete Grestovitch. »Der Bursche macht sich aus dem Staub. Offensichtlich hat er einen gehörigen Schreck bekom men.« »Nicht nur der, alter Junge.« Arkady schloss für einen kur zen Moment die Augen und stieß einen erleichterten Seufzer aus.
Ostchinesisches Meer 22. August 2006,18:00 Uhr Ortszeit ASW-Suchoperation geht weiter. Sind unterwegs zu einem neuen Sektor. Weiterhin in Alarmbereitschaft. Nach wie vor keine Kontakte. Keine besonderen Vorkommnisse. Garrett, Commander
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Ostchinesisches Meer 23. August 2006, 00:49 Uhr Ortszeit Es war wenig zu sehen, nur eine kaum merkliche Verbreite rung auf einem Frequenzband des Displays. Und nur ein ganz, ganz schwaches Flüstern, das sich von den üblichen Meeresgeräuschen abhob. War da überhaupt etwas? Zum tausendsten Mal fragte sich Lieutenant Foster, ob er nicht doch einem Phantom nachjagte. Die Cunningham war nun bereits seit zwei Stunden diesem frustrierenden BeinaheKontakt auf der Spur, und seit einer Stunde saß Foster persön lich an der Hauptkonsole der Sonarzentrale. Wieder einmal gab er den Befehl »Zielidentifizierung« ein – und wieder ein mal lautete die Antwort: **I.D. DATEN FÜR ANALYSE UNZUREICHEND** »Scheiße!« »Immer mit der Ruhe, Lieutenant. Wie heißt es so schön: Gut Ding braucht gut Weil.« Commander Garrett stand ebenfalls bereits seit einer Stunde hinter ihm. Die meiste Zeit über hatte sie nur schwei gend das Geschehen verfolgt. »Irgendwelche Veränderungen?«, fragte sie mit leiser Stimme. »Nein, er hockt immer noch irgendwo unter der Ober fläche. Peilung zwischen null-neun-fünf und eins-null-null. Genauer kann ich es im Moment nicht bestimmen. Wir haben einfach nicht genügend Daten dafür.« »Und die Entfernung?« »Tja, er könnte still und leise direkt vor unserer Nase rum laufen, genauso gut könnte er aber auch irgendwo in der Ferne dahinbrausen. Es lässt sich einfach noch nicht sagen.« »Immerhin haben wir ja auch noch die Orion, die vor uns die Gegend durchstreift. Wir laufen einfach weiter auf den Kontakt zu und hören uns an, was unsere Kollegen uns zu be richten haben.«
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Foster nickte. Seine Kehle fühlte sich auf einmal sehr trocken an, und er schluckte zweimal, ehe er zu der schlanken Gestalt zu sprechen begann, die hinter ihm im Halbdunkel des CIC wartete. »Capt’n, es tut mir Leid, aber ich glaube, wir sind da in ei ner Sackgasse.« »Bitte?« »Ja, Ma’am. Der Kontakt hält sich nach wie vor knapp un ter der Oberfläche auf. Die Richtung hat sich kaum geändert; er bewegt sich entweder überhaupt nicht oder nur sehr lang sam. Und ich habe nicht den geringsten Hinweis auf etwas Regelmäßiges wie etwa ein Schraubengeräusch.« Der Sonar-Operator schluckte erneut und fügte hinzu: »Es tut mir wirklich Leid, aber ich glaube, ich war die ganze Zeit einem biologischen Kontakt auf der Spur, vielleicht einer Herde Delphine.« Seine Kommandantin nickte langsam. »Sie könnten Recht haben. Während der letzten halben Stunde hat es wirklich mehr wie ein biologischer Kontakt ausgesehen. Aber ich bin mir noch nicht absolut sicher. Und Sie?« »Sicher bin ich mir auch nicht, Ma’am.« »Dann bleiben wir dran, bis wir mehr wissen.« Foster spürte für einen kurzen Moment eine kräftige kleine Hand auf seiner Schulter ruhen. »Außerdem haben wir im Augenblick ohnehin nichts Besseres zu tun, oder?«
Frontlinie des nationalchinesischen Widerstands Provinz Fujian, China 23. August 2006, 12:37 Uhr Ortszeit Dem Mapats-Werfer hatte man zwölf Abschussringe aufs ge drungene Rohr aufgemalt. Der Wermutstropfen dabei war, dass es sich um das letzte verbliebene Raketenwerfersystem der Panzerabwehrtruppen handelte. Der junge taiwanesische
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Offizier fühlte sich ganz und gar nicht mehr jung. Er fühlte sich so alt wie das Land, um das er kämpfte. Das Land, das seinem Volk so lange schon seine Hoffnungen und Träume vorenthielt und das nun ihn selbst in kurzer Zeit drei Viertel seiner Männer gekostet hatte. »Aktivität an der Front!«, kam die Meldung, die sich rasch im ganzen Bataillon ausbreitete. Erschöpfte Soldaten krochen wieder in ihre Schützenlöcher und Unterstände und klemm ten sich hinter ihre Maschinengewehre. Die Anspannung war mit Händen zu greifen. Mit mechanischen Bewegungen gingen die Überlebenden seiner Crew an dem eingegrabenen Raketenwerfer in Posi tion. Der junge Offizier lag am Rand der Stellung und hob das beschädigte Fernglas an die Augen. »Alle Stellungen feuern nur auf Befehl!«, kam eine weitere Meldung. »Ausschließlich auf Befehl feuern! Auf das gelbe Signal achten!« Vielleicht würde diesmal alles anders verlaufen. Vielleicht war heute der große Tag. Es hatte bereits den ganzen Vormit tag entlang der Front Geschützfeuer gegeben – aber es war nicht gegen den Brückenkopf gerichtet. Während der letzten halben Stunde war dann alles ruhig geblieben. »Herr Leutnant, ich sehe Rauch. Zwei Uhr«, meldete der Richtschütze mit heiserer Stimme von seinem Posten aus. Der Offizier wandte sich in die angegebene Richtung. Er sah eine gelbe Rauchsäule zum Himmel emporsteigen. Eine zweite Rauchsäule von einer Leuchtgranate folgte, dann eine dritte. »Nicht feuern!«, kam in eindringlichem Ton das Kom mando, das all die Instinkte im Zaum halten sollte, denen die kampferprobten GA-Soldaten in den letzten Wochen gefolgt waren. Es bewegte sich etwas auf der Straße, die zu den GA-Stellungen heraufführte. Die Männer, die da heranmarschierten, teilweise in Uniformen der Volksarmee, teilweise in Zivil ge kleidet, sahen genauso müde aus wie die nationalchinesi schen Soldaten. Sie trugen Sturmgewehre und Granatwerfer
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und hatten jeder ein Stück gelben Stoffs um die Stirn gebun den – das Einzige, was einer Uniform gleichkam. Keinesfalls wirkten sie wie Männer, die drauf und dran wa ren, Geschichte zu schreiben. Der GA-Offizier sah zu, wie die Kolonne immer näher rückte. Dann erhob er sich, kroch aus der befestigten Stellung und eilte die Straße hinunter. Er hätte selbst nicht genau sagen können, warum. An der Spitze der Soldaten der Vereinigten Demokraten marschierte ein Mann, der ungefähr im gleichen Alter wie der GA-Offizier sein musste, wenngleich das Alter der Menschen in diesen Tagen nicht leicht zu schätzen war. Der Mann hatte dieselben ausgebrannten Augen und trug die Rangabzeichen eines Leutnants am Kragen seiner Jacke. »Wir haben lange warten müssen«, hörte der GA sich selbst sagen. Der Offizier der Vereinigten Demokraten nickte mit ernster Miene. »Ja, es war ein langer Weg.« Dann fielen sie einander in die Arme. Stimmen erhoben sich in den GA-Stellungen. Mehr und mehr Männer rappelten sich hoch und strömten auf die Straße hinaus, um ihre künftigen Landsleute zu begrüßen. Ganz in der Nähe befand sich noch eine dritte Armee – zu mindest das, was von ihr noch übrig war. Die Volksbefrei ungsarmee war in ihrem verzweifelten Versuch gescheitert, den Durchbruch der Rebellenarmee zu den GA zu verhin dern. Nun zogen sich ihre Überreste nach Norden zurück, wo sie den Schutz der Stellungen am Wenzhou-Fluss zu erreichen hofften. Doch noch im Rückzug musste die Armee der Rotchinesen empfindliche Verluste hinnehmen. Immer wieder schlugen die Flugzeuge der GA zu. Am Himmel waren keine rotchine sischen Jets mehr zu sehen, und für die wenigen noch verblie benen Flugabwehrkanonen hatte man kaum noch Munition. Im Verborgenen machte sich ein Aderlass ganz anderer Art bemerkbar. Einzeln und in kleinen Gruppen stahlen sich Sol daten der Volksbefreiungsarmee von den sich zurückziehen
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den Kolonnen davon. Manche von ihnen versuchten gleich den Anschluss an die Truppen der Rebellen zu finden, andere wieder warfen einfach ihre Waffen weg und machten sich auf den Weg nach Hause. Manche wurden von ihren Offizieren oder der Volkspolizei aufgegriffen und als Deserteure hinge richtet. Doch viele Offiziere und Polizisten blickten bewusst zur Seite, wenn jemand sich aus dem Staub machte. Die kommunistische Propaganda sprach vollmundig von einem erneuten »Langen Marsch« in den Norden, von wo die Revolution sich aufs Neue erheben und zurückschlagen würde. Nur wenige hörten noch darauf. Es ist nicht leicht, Propaganda zu betreiben, wenn selbst die, die sie zu verbrei ten haben, nicht mehr daran glauben. »Harry, wissen Sie schon das Neueste?«, ertönte Lane Ashleys Stimme über Konferenzschaltung. »Sie meinen, dass die VDC-Truppen zum Brückenkopf des Nationalchinesen durchgebrochen sind? Ja, wir haben davon erfahren.« Trotz der Klimaanlage in seiner Suite war Van Lyndens Hemd schon wieder schweißnass. Er hatte Mühe, das zu ver stehen, was da in dem Situationsbericht geschrieben stand, doch er zwang sein übermüdetes Gehirn, noch eine Weile ak tiv zu bleiben. »Nein«, erwiderte die NSA-Direktorin. »Ich meine das, was auf der Insel Hainan vor sich geht. Wir haben gerade erst da von erfahren.« Van Lynden stieß einen stillen Fluch aus und legte den Be richt auf den Kaffeetisch. »Nein, von Hainan weiß ich nichts. Was ist denn passiert?« »Die rotchinesischen Truppen haben sich dort gegen ihre Vorgesetzten erhoben. Die ranghöchsten Offiziere sind entwe der tot oder unter Arrest gestellt. Sie haben jetzt ein Komitee von Hauptleuten und Obersten an der Spitze und sich auf die Seite der Rebellen geschlagen. Die Truppen von Hainan sind geschlossen zu den Vereinigten Demokraten übergelaufen.« »Verdammt, Lane. Ich wünschte, ich könnte das als gute Nachricht ansehen.«
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»Ich weiß«, sagte Lane Ashley in ernstem Ton. »Die Roten fallen langsam auseinander. Erinnern Sie sich noch daran, dass unsere Experten die Schätzung äußerten, die Kommunis ten könnten sich noch acht bis zehn Monate halten? Nun, sie haben das jetzt auf sechs bis acht Monate korrigiert. Ich per sönlich halte das immer noch für sehr großzügig bemessen.« »Wie viel Zeit, glauben Sie, haben die Roten noch?« »So viel, wie die VDC-Truppen und die GA brauchen, um nach Norden zu marschieren. Ich glaube nicht, dass die Kom munisten ihnen noch großen Widerstand entgegensetzen kön nen.« »Außer ihren Atombomben.« Van Lynden blickte aus dem Fenster auf die mittlerweile dunkle Bucht von Manila hinaus. Er hatte das überwältigende Gefühl, dass seine Bemühungen hier allesamt vergeblich wa ren, und fühlte sich auf einmal wie ein alter Mann. »Lane, gibt es irgendetwas Neues über das rotchinesische strategisches Unterseeboot?« »Wir wissen nur, dass es irgendwo da draußen sein muss Harry. Alle ASW-Kräfte und Nachrichtendienst-Abteilungen beschäftigen sich nur noch damit. Aber bisher gibt es … abso lut nichts.« Van Lynden rieb sich mit der Hand über das Gesicht und wünschte, er hätte noch genug Energie, um nach unten in die Hotelbar zu gehen und sich einen Drink zu genehmigen. »Wir beginnen langsam mit der Evakuierung von Botschaftsan gehörigen und anderen amerikanischen Staatsbürgern von den Philippinen. Wenn es hier einen starken radioaktiven Niederschlag gibt, könnte es bald ziemlich böse aussehen. Was meinen Sie, wie lange es noch dauern wird, bis die Kom munisten ihre Rakete starten?« »Ehrlich gesagt, Harry, ich glaube, sie atmen nur noch ein mal tief durch, bevor sie auf den Knopf drücken.«
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Am Rande des Philippinen-Beckens, 55 Seemeilen nordwestlich der Insel Daito-Jima 23, August 2006, 23:30 Uhr Ortszeit »So sieht’s aus«, sagte Arkady und legte das Blatt Papier auf Amandas Schreibtisch. »Ich kann nur noch 24 Stunden Sonar bojen in diesem Takt abwerfen, dann brauchten wir Nach schub.« »Haben wir dann gar keine Reserven mehr, für den Fall, dass wir auf einen Kontakt stoßen?« »Nein, die Regale sind leer. Wenn du eine Reserve zurück halten willst, dann musste ich Zero Two auf der Stelle mittei len, dass sie mit dem Abwerfen aufhören sollen. Ich kann nicht auf die nächste Lieferung warten, Skipper. Wenn wir dranbleiben wollen, brauchen wir sofort neues Material.« »Ich habe keine Ahnung, woher ich es nehmen soll«, erwi derte Amanda. Task Force 7.1 und die Siebte Flotte sind in ei ner ähnlichen Lage wie wir. Die Orion-Staffeln verbrauchen ebenfalls massenhaft Sonarbojen. Es wird zwar neues Mate rial aus den Staaten eingeflogen, aber bis wir es haben, dauert das seine Zeit.« »Dann sieht es düster aus.« Arkady neigte sich mit sei nem Sessel zurück und lehnte sich an das Schott. »Wenn uns nur noch Tauchsonar und MAD-Systeme bleiben, dann hat unser ASW-Einsatz aus der Luft keine großen Aussichten mehr.« »Könnte man nicht etwas sparsamer mit den Bojen um gehen und die Abstände dazwischen ein wenig vergrö ßern?« »Ein Netz mit lauter Löchern taugt nicht viel. Ich würde sa gen, es wäre besser, wenn wir die Bojen, die wir noch haben, für einen nennenswerten Kontakt sparen.« »Klingt vernünftig. Machen wir es so.« Amanda streckte sich auf ihrem Sessel, um die Verspannungen ein wenig zu lö sen, die die Schreibtischarbeit ihr verursacht hatte. »Ehrlich
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gesagt glaube ich ohnehin nicht, dass der verdammte Kerl hier draußen ist.« Es war eine ruhige Nacht an Bord des Zerstörers. Die Suchoperation schien tatsächlich in einer Sackgasse angelangt zu sein. Sie saßen allein in Amandas Quartier, nachdem sie sich bereits früh am Abend getroffen hatten, um zu arbeiten, aber auch, um das Zusammensein zu genießen. »Wo glaubst du denn, dass er sich aufhält?« »Wenn ich das wüsste, dann wären wir schon dort. Aber nachdem ich auch keine Ahnung habe, tuckern wir immer noch hier in der Gegend herum. Und ich bin’s langsam leid, mir pausenlos den Kopf darüber zu zerbrechen.« Sie beugte sich über den Schreibtisch und stützte ihr Kinn auf die Hand. »Lenk mich ein wenig ab, Arkady«, sagte sie. »Irgendwelche Wünsche?« »Ein Rendezvous vielleicht«, schlug sie vor und betrachtete ihn aus halb geschlossenen Augen. »Wo?« »Mmmm, am Flottenstützpunkt Everett, ungefähr um diese Jahreszeit.« »Okay.« Der Pilot dachte eine Weile nach. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte an die Decke der Ka jüte. »Capt’n, darf ich Sie heute Abend zum Essen einladen?« »Sehr gern. Was soll ich anziehen?« »Mal sehen … das grüne Samtkleid, das, von dem du im mer meinst, es wäre zu kurz für dich. Und dazu deine golde nen Sandalen. Nicht zu viel Schmuck, aber vielleicht ein sam tenes Band um den Hals. Oh, und zu dem Kleid musst du unbedingt Nylonstrümpfe tragen, und Strapse. Eine Strumpf hose würde einfach nicht passen.« »Nylons und Strapse? Ist das alles, was ich unter dem Kleid anhaben soll?« »Das überlasse ich dir. Du kannst mich ja überraschen. Wir fahren jedenfalls nach Seattle. Dort bekommt man die besten Meeresfrüchte der Welt. Für heute Abend würde ich … das Edgewater Inn vorschlagen. Man sieht es ihm von außen gar nicht an, aber es hat wirklich Stil und eine tolle Atmosphäre. Als Hauswein haben sie einen exzellenten St. Michelle-Ries-
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ling. Wir nehmen den Alaska-Shrimp-Cocktail, dann gebacke nen Lachs mit Salbeisauce und Reis-Pilau, und danach viel leicht ein Stück Käsekuchen.« »Mmm, klingt gut. Und nach dem Essen?« »Das überlasse ich dir. In der Stadt ist immer einiges los.« »Könnten wir tanzen gehen?« »Klar, was hättest du am liebsten?« »Etwas Langsames, guter Jazz wär’ fein.« »Jazz? Mal sehen …« Amanda lächelte und wandte sich dem tragbaren CDPlayer zu, der in einer Ecke des Tisches lag. Während Arkady überlegte, schob sie eine CD mit langsamem Jazz ein. »Okay«, sagte er schließlich. »Wenn man in Seattle guten Jazz hören will, wirft man am besten einen Blick in die ver schiedenen Clubs rund um den Pioneer Square. Die sind wirklich toll; man muss nur wissen, wo man sie findet.« »Wunderbar. Erinnert mich an unsere erste Nacht in Hono lulu.« »Ja, wir könnten ein wenig tanzen, einen kleinen Brandy zu uns nehmen und uns so richtig dahintreiben lassen.« »Würde mir gefallen. Und ich denke, so um halb eins wäre dann die richtige Zeit.« »Die richtige Zeit wofür?« »Um dich zu überraschen«, antwortete Amanda mit verführerisch-leiser Stimme. »Ich werde nach meinem dritten Drink ein klein wenig angeheitert sein, und wenn du mich dann in einer dunklen Ecke auf der Tanzfläche in den Armen hältst, werde ich dir ins Ohr flüstern, dass ich unter dem Kleid nichts anhabe.« »O… kay.« Arkady schluckte erst einmal, nachdem sein Hals sich plötzlich sehr trocken anfühlte. »Danach könnten wir viel leicht einen kleinen Spaziergang machen und uns die Lichter der Stadt ansehen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Und anschließend … eine Spazierfahrt im Mondschein.« »Wohin?« »Ich dachte mir, vielleicht zum Deception Pass.« »Ist das nicht ziemlich weit?« »Auf der Schnellstraße wird in der Nacht kein Verkehr sein.
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Da geht es ziemlich rasch. Wir halten an der alten Brücke an – da können wir reden und Musik hören, bis die Sonne aufgeht.« »Klingt wirklich gut, aber deine Schalensitze sind leider nicht allzu bequem.« »Dann nehmen wir ein Kissen für dich mit. Also, wo waren wir? Ja … Wenn dann der Tag anbricht, gehen wir auf die Brücke hinaus und sehen uns den Sonnenaufgang an.« »Ja …«, sagte Amanda verträumt, »das stelle ich mir toll vor. Aber du hast doch hoffentlich nicht vergessen, was ich vorhin gesagt habe? Keine Unterwäsche. Das könnte ein we nig kühl werden.« »Hey, das ist jetzt nicht wichtig, Lass dich einfach von dei ner Fantasie tragen.« »Schön. Was kommt als Nächstes?« Arkady griff über den Schreibtisch hinweg nach ihrer Hand. Er hob sie an die Lippen und küsste zärtlich ihre Hand fläche. »Als Nächstes ziehen wir uns in ein kleines Dorf am Strand zurück. Es liegt etwas weiter westlich, Richtung Oak Harbor. Es ist ziemlich verträumt und ein wenig altmodisch, aber man kann dort prima übernachten – und sie servieren ei nem das Frühstück ans Bett.« Der sinnliche Schauer, der ihr über den Rücken lief, ließ sie aus ihren Träumereien auftauchen. »Ich glaube, es wird Zeit, dass wir das Ganze beenden«, sagte sie und zog ihre Hand zurück. »Das Beste kommt doch erst.« »Ich weiß«, erwiderte Amanda mit einem schmerzlichen Lächeln, »ich weiß, wie einfallsreich du bist, Liebling. Das ist ja eine deiner bezauberndsten Eigenschaften. Aber ich glaube, weiter sollten wir wirklich nicht gehen.« »Feigling.« »Das sehe ich nicht so!«, erwiderte sie und stand auf. »Wir sollten einfach Acht geben, dass wir uns nicht noch ganz ver rückt machen mit unseren Fantasien.« »Also gut«, seufzte Arkady und wippte mit seinem Stuhl wieder nach vorn. »Kann ich mal kurz telefonieren? Ich möchte dem CIC und Zero Two Bescheid geben, dass sie keine Sonarbojen mehr abwerfen sollen.«
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»Bitte. Ich werde mir inzwischen eine Dusche genehmigen und schlafen gehen.« Sie hielt an der Tür zu ihrer Schlafkajüte inne. »Gute Nacht, Arkady, und danke für den wundervollen Abend in Seattle.« »War mir ein Vergnügen, Darling. Träum was Schönes.« Amanda verzichtete darauf, das Licht einzuschalten. Das sanfte blaue Licht der Nachtbeleuchtung genügte, um sich da bei auszuziehen. Sie hörte, wie Arkady draußen hinter dem Vorhang sein Te lefongespräch führte. Es war eine Stimme, der sie gern lauschte – präzise, ruhig und stark. So wie der Mensch, dem sie gehörte. Als sie ihren Slip auszog, verspürte sie erneut diesen wohligen Schauer und war nahe daran, ihre Vorsätze über den Haufen zu wer fen.
Weiche von mir, Satan, sagte sie sich. Und du auch, Vince Ar kady. Sie stieg in die Duschkabine, drehte voll auf und genoss das heiße Wasser auf ihrer Haut. Amanda nahm kaum jemals das Privileg des Kommandanten in Anspruch, beim Duschen nicht auf den Wasserverbrauch achten zu müssen. Sie dachte, dass sie den anderen ein gutes Beispiel geben und sich eben falls an die vorgeschriebenen drei Minuten halten sollte. Es war nun einmal so, dass auf einem Schiff sparsam mit Wasser umgegangen werden musste. Allerdings gab es Abende, an denen sie sich über ihren Vorsatz hinwegsetzte. Heute war ein solcher Abend. Nach einer Weile begannen die Anspannungen des Tages zusammen mit dem Wasser von ihr abzugleiten. Amanda ließ den Kopf nach vorn sinken und schloss die Augen. Plötzlich wurde der Vorhang aufgerissen, und ein ebenfalls unbekleideter Körper war bei ihr in der Duschkabine. Im nächsten Augenblick fühlte sie einen Mund, der sich auf ihre Lippen legte. Der Schreck ging ihr durch und durch, doch er war nur vo n kurzer Dauer. Rasch erkannte sie den festen Körper und die Art, wie sie geküsst wurde, und sie wusste, dass alles in Ord nung war. Es dauerte nicht lange, und sie verspürte ein Be gehren, das mindestens so stark war wie der Schreck zuvor.
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»Verdammt, Arkady!«, brachte sie schließlich heraus. »Was soll das, wenn man fragen darf?« »Das dient der Hygiene«, antwortete er mit einem breiten Lächeln. »Wir hatten ausgemacht, dass wir auf dem Schiff die Hände voneinander lassen!« »Ja, und ich denke, wir haben mittlerweile eingesehen, dass das eine idiotische Idee war.« Er ließ seine Lippen an ihren Hals und noch tiefer wandern. »Arkady!« Sie wollte sich seinem Griff entwinden und aus der Dusch kabine flüchten, doch das machte alles nur noch schlimmer … oder besser, je nachdem, wie man es betrachtete. Ihrer bei der Haut war glatt und geschmeidig vom Wasser, und fast ohne dass es ihr bewusst war begann sie seine Zärtlichkeiten mit ihren Händen und ihren Lippen zu erwidern. Bald zit terten ihre Knie so heftig, dass sie unter ihr nachzugeben drohten. »Okay, ich gebe auf, ich gebe auf, du großer Idiot!«, stieß sie hervor. »Und jetzt lass mich die Dusche abdrehen, bevor die ganze Kajüte unter Wasser steht. Überlegen wir uns lieber, wie wir das anstellen.« Was sie da taten, hatte noch dazu den Reiz des Verbotenen. Als sie sich abtrockneten und alles vorbereiteten, flüsterten und kicherten sie wie zwei Teenager, die sich auf dem Rück sitz eines Wagens auszogen. Arkady sah noch einmal nach, ob die Tür abgesperrt war, und knipste das Licht im Arbeitsraum aus, während Amanda das Bett machte. Ihre Koje wäre im eigentlichen Zustand völlig ungeeignet gewesen. Wenn sie jedoch die Schaumstoffmatratze auf den Boden legte und etwas Bettzeug daneben ausbreitete, würden sie vielleicht genügend Platz haben. Sie wusste, es war dumm, was sie da tat. Es war unfassbar dumm und riskant und der Disziplin in jedem Fall abträglich. Aber als sie sich dann mit ihrem nassen Haar auf das Kissen legte und der leisen, gefühlvollen Musik aus dem CD-Player lauschte, wusste sie gleichzeitig, dass es ihr gerade jetzt wirk lich gut tun würde.
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Dann war Arkady bei ihr. Beiden war klar, dass sie sich die ses eine Mal nicht die Zeit nehmen konnten, um noch zu scherzen, zu plaudern und einander zu verführen. Zu lange hatten sie aufeinander verzichten müssen. Etwas später sanken sie gemeinsam vom Höhepunkt in die Wirklichkeit zurück. Ihr Atmen und ihr Herzschlag wurde wieder langsamer, nur noch ein angenehmes Glühen wirkte in ihnen nach. Sie rollten sich auf die Seite, um diese größte Verbundenheit noch ein wenig auszukosten. »Es tut mir Leid«, flüsterte sie traurig, »aber du kannst heute Nacht nicht hierbleiben.« »Ich weiß, Liebling, aber ich muss ja noch nicht gleich ge hen.« »Nein, nicht gleich.« Der schrille Ton der Bordsprechanlage schlug in der Kajüte wie eine Bombe ein. Sie erschraken beide und fluchten leise, während sie sich mit einiger Anstrengung voneinander lösten. Schließlich schaffte es Amanda, auf ihre Knie hochzukommen und nach dem Hörer am Kopfende der Koje zu greifen. »Ja?«, knurrte sie lauter, als sie eigentlich wollte. »Äh, Capt’n? Hier spricht Lieutenant Beltrain aus der Ge fechtszentrale. Wir haben soeben die neuesten Berichte von unserer Suche hereinbekommen. Sie wollten doch, dass wir Sie auf dem Laufenden halten, nicht wahr?« »Oh, ja, natürlich, Dix. Was gibt’s?« »Die ASW-Suche ist immer noch in allen Sektoren ohne Er folg. Alle alliierten Streitkräfte der Pazifikstaaten melden das Gleiche. Auch die Nachrichtendienste können nichts Neues berichten. Es sieht also nicht so gut aus, Ma’am.« «Irgendwelche neuen Anweisungen vom Kommandeur der Task Force?« »Wir sollen die Suche bis 0600 im momentanen Bereich fortsetzen und danach unser Revier weiter ausdehnen.« »Sehr gut. Machen Sie so weiter und halten Sie mich auf dem Laufenden.« Amanda legte nachdenklich den Hörer auf.
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»Ich hoffe sehr, dass es wichtig war«, sagte Arkady. »Nicht übermäßig‹‹, antwortete Amanda. »Es ist alles wie gehabt. Dieses verdammte chinesische Unterseeboot muss von Außerirdischen entführt worden sein.« Amanda ließ sich neben Arkady auf die Matratze sinken, drehte sich auf den Bauch und schmiegte sich eng an ihn. Sie hatten so viel Zeit wie nur möglich abgezweigt, um sich von Pflicht und Realität davonzustehlen. Dix’ Anruf hatte die Stimmung zwar empfindlich gestört, aber trotzdem war es immer noch angenehm, Seite an Seite in der warmen Dunkel heit zu liegen. »Wenn du ein chinesisches Unterseeboot auf der Flucht wärst – wohin würdest du dich wenden?«, fragte sie. Arkady brauchte ein paar Sekunden, um sich geistig auf die berufliche Ebene zu begeben. Es hatte einen eigentümli chen Reiz, solche wichtigen strategischen Fragen im Bett mit einer schönen nackten Frau zu erörtern. »Okay«, sagte er schließlich und wandte sich ihr zu. »Wenn ich der chinesische Skipper wäre, hätte ich gleich von Shang hai weg Vollgas gegeben. Ich wäre geradeaus nach Osten ge laufen, vorbei an Formosa und dann weiter nach Süden. Ich hätte mich einfach auf das Glück und meine hohe Geschwin digkeit verlassen und wäre schnurstracks auf die Küste von Neuguinea zugerast. Dort ist die See auch vor der Küste sehr tief, so dass man nur schwer aufzuspüren ist. Die Brandungs und Strömungsgeräusche dürften ziemlich laut sein.« »Hm«, machte sie und nickte, wobei ihr seidiges Haar seine Schulter streifte. »Und von dort aus, wohin?« »Ich würde in Richtung Osten weiterfahren, durch den Bismarck-Archipel, dann weiter zu den Solomonen und bis Va nuatu. Von da aus hätte ich jede Menge offenes Meer vor mir, wo mich kein Mensch je finden könnte.« »Nein«, erwiderte Amanda und schüttelte den Kopf, »das funktioniert nicht. Sagen wir, du würdest tatsächlich so weit kommen – dann hättest du dabei aber vergessen, dass die Schiffe der chinesischen Marine nicht für die hohe See gebaut sind. Dir würden schon bald die Vorräte ausgehen. Auch dein Antrieb ist nicht für solche Entfernungen ausgelegt. Deine
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Crew würde verrückt spielen, und dein Handlungsspielraum wäre gleich null.« »Okay, was glaubst du, wo er sich aufhält?« »Du hast vergessen, dass der Bursche nicht nur hier ist, um sich zu verstecken. Sein Job ist es, Taiwan und die Stellungen der Rebellen in Südchina aufs Korn zu nehmen. Wobei er durch die Reichweite seiner Raketen eingeschränkt ist.« »Und die ist wie groß?" »Bei der Ju-Lang-2-Mittelstreckenrakete etwas über 1900 Seemeilen. Das wäre eine Entfernung von Wladiwostok im Norden bis zu den Marianen im Osten und Singapur im Sü den. Wenn man aber bedenkt, dass einige der möglichen Ziele im Landesinneren ein ganzes Stück von der Küste entfernt sind, dann musste man das etwas enger fassen. Sagen wir von Pusan bis zu den Philippinen und Saigon. Ich wette, er liegt im Augenblick irgendwo in diesem Bereich.« »Also im ost- oder südchinesischen Meer«, meinte Arkady nachdenklich. »Ich hoffe, du verwettest darauf nicht deine schöne Haut, meine Lady, denn du würdest verlieren. Wir ha ben diese Gewässer fast zentimeterweise abgesucht – fehlt nur noch, dass sie nicht Eimer für Eimer durch ein Sieb gegos sen werden. Er ist einfach nicht da.« »Er muss da sein!«, erwiderte Amanda und schob sich das zusammengeknüllte Kissen unter das Kinn. »Jede andere Ge gend würde keinen Sinn ergeben.« »Aber dieses chinesische Unterseeboot würde einen Höl lenlärm machen. Wir hätten es längst aufgestöbert und ver senkt, so wie die beiden anderen auch.« Amanda schüttelte den Kopf. »Wir haben nur eins der bei den versenkt. Das andere hat entweder Selbstmord begangen oder ist an himmelschreiender Unfähigkeit zugrunde gegan gen. All das gehört irgendwie zusammen.« Frustriert drehte sie sich auf den Rücken. »Das Ganze kommt mir vor wie ein Puzzle. Man muss es nur richtig be trachten, dann wird einem schlagartig alles klar.« »Mag sein. Aber trotzdem muss sich der Boomer irgendwo hin verdrückt haben.« »Das ist klar …«
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Amanda hielt inne, und Arkady spürte förmlich, wie sich alles in ihr anspannte. Abrupt setzte sie sich in der Dunkelheit auf. »Nein«, flüsterte sie. »Vielleicht hat er sich noch nicht mal von der Stelle gerührt.«
Philippinische See 24. August 2006, 04:04 Uhr Ortszeit Retailer Zero One strich in geringer Höhe über den nächtlich dunklen Wellen dahin. Es war dies eine Wiederholung ihres letzten Besuchs bei Task Force 7.1, nur dass diesmal die Initia tive von Amanda Garrett ausgegangen war. Dies war auch der Grund dafür, dass noch ein dritter Passagier an Bord des Sea Comanche war. »Das Ganze würde bedeutend mehr Spaß machen, wenn einer von uns beiden ein Mann wäre«, brummte Christine Rendino, die sich die Enge des hinteren Cockpits mit Amanda teilen musste und kaum genug Platz hatte, um tief einzuat men. Doch Amanda war nicht zum Scherzen aufgelegt. »Werden Sie das finden können, wonach wir suchen, Lieutenant?«, fragte sie. Die Nachrichtendienst-Offizierin wurde rasch wieder ernst. »Ich kann keine Garantien abgeben, Ma’am. Zwar habe ich eine recht genaue Vorstellung von dem, was wir suchen, und ich glaube auch, dass die Intel-Abteilung auf der Enter prise die Hilfsmittel haben sollte, die wir brauchen – aber ich kann trotzdem nichts versprechen. Ich hätte etwas mehr Zeit gebrauchen können, um das Ganze vorzubereiten.« »Leider haben wir es nun mal sehr eilig, Arkady, wie lange sind wir noch unterwegs?« »Ich hole alles aus der Maschine raus. In zwanzig Minuten sollten wir dort sein.«
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»Das ist eine ziemlich ungewöhnliche Vorgangsweise Kom mander«, sagte Admiral Tallman. Der Admiral und sein Stabschef hatten die Kommandantin der Cunningham im Briefing-Room des Flugzeugträgers emp fangen. Vince Arkady, der Amanda begleitete, stand ein paar Schritte hinter ihr und wartete auf den geeigneten Augen blick, um seinen Beitrag zu leisten. Christine war während dessen in der Nachrichtendienst-Abteilung des Trägers be schäftigt; ihre Aufgabe war es, den Leuten dort die Neuigkeiten nahe zu bringen. Amanda hoffte, dass ihre IntelOffizierin rechtzeitig zur Stelle sein würde, wenn sie ihre Hilfe brauchte. »Ich weiß, Sir«, antwortete Amanda. »Es mag ein wenig un gewöhnlich erscheinen, aber ich glaube, dass die Situation es erfordert. Ich denke, ich weiß jetzt, wo sich das Unterseeboot der Xia-Klasse aufhält.« »Was?«, stieß Commander Walker hervor und erhob sich ein Stück aus seinem Sessel. »Sie hatten einen Kontakt und ha ben es nicht gemeldet?« Amanda schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, Com mander, das ist ja gerade das Problem. Wir hatten eben keinen Kontakt. Seit sechs Tagen durchsuchen wir alle nun schon das ostchinesische Meer mit den ausgeklügeltsten ASW-Systemen, und wir hatten nicht einen einzigen Kontakt.« »So würde ich das nicht sagen«, warf Tallman ein. »Wir konnten immerhin beide Han-Boote finden.« »Ja, Sir, das stimmt. Wir haben schon nach kurzer Zeit beide Jagd-Unterseeboote aufgestöbert, aber von dem viel gefährli cheren strategischen Unterseeboot fehlt weiter jede Spur. Der Grund dafür ist recht einfach: Es ist gar nicht hier! Es ist über haupt nie in diesen Gewässern gewesen.« »Das darf doch wohl nicht wahr sein!«, platzte es aus Com mander Walker heraus. »Muss ich Sie erst daran erinnern, dass Sie selbst gemeldet haben, Sie hätten das verdammte Ding auslaufen sehen?« »Nicht so hitzig, Commander!«, wies Tallman ihn zurecht. »Fahren Sie fort, Capt’n. Wo glauben Sie, dass sich das Boot aufhält?«
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Amanda rief auf dem horizontalen Flatscreen-Bildschirm, der in den Tisch eingebaut war, eine Küstenkarte auf. »Wir ha ben das Boot tatsächlich aus Shanghai auslaufen sehen, aber es hat in Wirklichkeit nie das offene Meer erreicht.« Sie zeigte auf einen Punkt auf der Karte. »Es liegt genau hier, auf dem Grund des Jangtse-Deltas.« Walker sagte kein Wort. Admiral Tallman hatte ihn mit ei nem kurzen Blick in die Schranken gewiesen. »Sehen wir uns mal an, wie Sie zu dieser Annahme kommen, Capt’n«, sagte er in ruhigem Ton, »Ich habe noch keine wirklichen Beweise, Sir, nur eine Kette von Indizien. Aber meine Intel-Offizierin arbeitet an dem Problem und sollte bald in der Lage sein, uns Beweise zu liefern.« Der Admiral nickte. »Okay, dann erzählen Sie uns mal, wie Sie zu Ihrer Annahme gekommen sind.« Amanda hielt einen Moment lang inne, um ihre Gedanken zu ordnen, ehe sie zu sprechen begann. »Wir haben von An fang an eine krasse Fehleinschätzung begangen, was die Ab sichten der Rotchinesen betrifft. Wir sind davon ausgegangen, dass sie genauso denken wie wir.« »Wie meinen Sie das, Capt’n?«, warf Tallman ein. »Was war von Anfang an unsere Annahme über ihre Ab sichten?« »Dass sie versuchen, den Pazifik zu erreichen.« »Genau, und zwar deshalb, weil unsere Unterseeboote sich so verhalten würden. Aber wir denken anders als die Chine sen. Unsere Navy ist es gewohnt, auf hoher See zu operieren. Bei den Chinesen ist das nicht so! Ihre Marine war stets auf die Küstenverteidigung beschränkt. Sie würden genauso wenig daran denken, eine wichtige Einheit ihrer Flotte auf hohe See hinaus zu schicken, wie wir daran denken würden, eine Flugzeugträger-Task-Force auf dem Mississippi einzusetzen.« »Diese Jagd-Unterseeboote scheinen aber sehr wohl ver sucht zu haben, den Pazifik zu erreichen.« »Das war bloß ein Ablenkungsmanöver, Admiral, Sie wur den geopfert, um unsere Aufmerksamkeit von der Gegend um Shanghai abzulenken. Von Anfang an war das ihre Taktik.«
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»Ein ganz schönes Opfer, Commander«, sagte Tallman nachdenklich. »Diese Han-Boote waren wahrscheinlich die stärksten Waffen, die ihre Flotte noch hatte.« »Für sie geht es hier um alles, Sir. Wir haben mit dem Über lebenden des Bootes gesprochen, das wir versenkt haben. Er hat uns mehr oder weniger deutlich zu verstehen gegeben, dass er sich bewusst war, an einem Himmelfahrtskommando teilzunehmen. Und dann war da das Rätsel, was mit dem zweiten Han-Boot passiert ist.« Amanda trat vom Kartentisch zurück und ging unruhig ein paar Schritte auf und ab. »Wir sind uns heute so gut wie si cher, dass die Havarie vor Yako-Jima ein Betriebsunfall war. Aber wie konnte es passieren, dass eine solche Elite-Crew ei nen so gravierenden Fehler beging und direkt gegen ein un terseeisches Gebirgsmassiv fuhr? Die Antwort ist einfach: Sie wussten nicht, dass er da war! Sie verfügten nicht über das ge eignete Kartenmaterial für diese Gewässer, weil die chinesi sche Marine nie so weit draußen operiert hat.« Amanda kehrte zum Kartentisch zurück und beugte sich über ihn. »Dieses strategische Unterseeboot ist der letzte Trumpf, den die Chinesen noch haben. Sie würden nicht riskie ren, es auf das offene Meer hinauszuschicken, wo wir es leicht aufstöbern könnten. Es muss daher immer noch vor Shanghai sein.« »Aber wo?«, wandte Walker ein. »Unsere Aufklärungsein heiten haben die Gegend zentimeterweise abgesucht, seit die Unterseeboote ausgelaufen sind, und wir haben nicht den ge ringsten Hinweis auf ein strategisches Unterseeboot ent decken können.« »Wie ich schon sagte, es sitzt tief unten am Grund des Jangtse. Die Karten zeigen an, dass es da einige Stellen gibt, die tief genug sind, dass ein Xia sich verstecken könnte. Die Mündungsgewässer sind außerdem stark verschmutzt. Ein Unterseeboot wäre dort absolut unsichtbar.« »Aber wir müssten den Boomer allein an der Wärme auf spüren, die sein Reaktor entwickelt.« »Ja, wenn er hochgefahren würde«, erwiderte Amanda trocken. »Aber der Boomer hockt einfach nur still da und
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rührt sich nicht. Er braucht keinen Reaktor. Er kann alle paar Tage seinen Schnorchel ausfahren, um frische Luft zu bekom men, und dank seines Dieselaggregats dabei auch gleich seine Batterien aufladen,« Tallman runzelte die Stirn. »Das klingt so weit recht lo gisch, Capt’n, aber ich brauche konkrete Beweise.« »Die haben wir auch, Sir.« Eine neue Stimme meldete sich zu Wort. Es war Christine, die in der Tür stand und nur darauf gewartet hatte, sich in das Gespräch einzuschalten. Amanda winkte sie herein. »Admiral Tallman, das ist meine Intel-Offizierin, Lieutenant Rendino. Ich hoffe, sie hat das gefunden, was uns noch gefehlt hat.« »Das habe ich, Capt’n. Sobald wir gewusst haben, wonach wir suchen müssen, war es nicht mehr allzu schwer.« Christine blickte zu Tallman hinüber. »Wenn Sie erlauben, Sir. Ihre Intel-Leute haben einiges Material vorbereitet, das sie uns heraufschicken können.« »Nur zu, Lieutenant.« »Danke, Sir.« Christine trat an das Control-Pad in der Mitte des Tisches. »Ich glaube, Sie werden das recht interessant fin den.« Tallman nickte ihr auffordernd zu, und Christine begann mit ihrem Bericht. »Ich bin sicher, Commander Garrett hat Ih nen bereits unsere Theorie darüber dargelegt, wo sich das rot chinesische Marschflugkörper-Unterseeboot im Augenblick aufhält. Nun, die Gewässer der Jangtse-Mündung sind voller Schlamm und stark verschmutzt. Das Wasser ist also sehr trüb und weist außerdem große Temperaturunterschiede auf. Kurz gesagt, ein ideales Versteck für ein Unterseeboot, das sich der Aufklärung durch Satelliten und Flugzeuge entziehen will. Wir mussten uns also nach Hinweisen umsehen, die auf die Anwesenheit des Bootes schließen lassen.« Mit Hilfe des Control-Pads rief Christine eine Karte auf, die die Gegend um Shanghai zeigte. »Wir haben mit den mögli chen Verstecken begonnen. Da wäre zunächst einmal diese tiefe Stelle hier, östlich des Punktes, wo der Huangpu in den Jangtse mündet.« Mit Hilfe des Trackballs zeigte Christine die Stelle an.
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»Selbst bei Ebbe haben wir dort eine Tiefe von 22 Metern – und das sollte reichen, um ein Unterseeboot der Xia-Klasse verborgen zu halten. Als wir überprüften, ob sich in letzter Zeit irgendetwas Auffälliges in der Gegend ereignet hat, konnten wir etwas Interessantes feststellen: Vor etwas mehr als einem Monat wurden drei schwere Luftabwehrbatterien an diesen Abschnitt des Flusses verlegt; zwei davon befinden sich hier auf dem Festland bei Waigaoqiao, und eine hier draußen auf der Insel Zhongyang Sha. Außerdem wurden in Waigaoqiao eine ganze Reihe leichter Flugabwehrgeschütze in Stellung gebracht. Ich möchte darauf hinweisen, dass Wai gaoqiao ein kleines Fischerdorf in der Nähe von Shanghai ist. An diesen Kais sieht man kaum jemals etwas anderes als Fi scherboote. Ich würde sagen, ein ganz schöner militärischer Aufwand, um den Fischfang dort in der Gegend zu schüt zen.« »Was haben Sie noch gefunden, Chris?«, fragte Amanda mit leiser Stimme. »Ein paar Details, die einem zu denken geben.« »Lassen Sie mal sehen.« Christine rief auf den Schirmen im Besprechungsraum eine Reihe von Bildern auf. »Also, das kam so: Bevor wir von der Duke aufbrachen, habe ich mich mit der Intel-Abteilung der Enterprise in Verbindung gesetzt, um zu erfahren, was sie mir über Waigaoqiao mitteilen können. Es stellte sich heraus, dass es Fotografien von besonders hoher Auflösung gibt. Aller dings wurden diese Aufnahmen noch nicht entsprechend analysiert. Es hatte ja auch bisher keinen Grund gegeben, sich die Gegend einmal genauer anzuschauen. Als wir das dann nachholten, traten allerlei interessante Dinge zutage.« Christine wandte ihre Aufmerksamkeit dem ersten Bild schirm zu. »Hier am westlichsten Kai ist nichts Auffälliges zu erkennen. Das Einzige, was auf eine gewisse militärische Prä senz hindeutet, scheinen die Geschützbedienungen sowie ei nige Polizisten zu sein. Aber hier am östlichen Kai wimmelt es nur so von Militär.« Auf dem Monitor war das von oben aufgenommene Bild eines Sicherheits-Checkpoints zu sehen. Er war von drei
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schwer bewaffneten Angehörigen der Volksbefreiungsarmee besetzt, die Stahlhelme und Kampfanzüge trugen. »Wie wir festgestellt haben, gehören die drei zur Marinein fanterie«, fuhr Christine fort. »Eine Elitetruppe der Rotchine sen.« Die Intel-Offizierin wandte sich dem nächsten Bildschirm zu. »Hier haben wir eine Aufnahme von schräg oben, die ei nige der Gebäude am Pier zeigt. Wenn man genau hinsieht, erkennt man mehrere Militärfahrzeuge, die offenbar mit eini gem Aufwand getarnt wurden, damit sie von oben nicht zu identifizieren sind. Diese beiden Wagen, hier und hier, schei nen Kommando- bzw. Kommunikationsfahrzeuge zu sein. Aber jetzt wird es wirklich interessant.« Christine hatte längst die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden gewonnen. Der dritte Bildschirm zeigte einen Kai mit allerlei Fischereiausrüstung und zahlreichen chinesi schen Fischern. »Wie Sie sehen, wird der Pier trotz der offensichtlichen Si cherheitsvorkehrungen weiterhin für den Fischfang genützt. Zweifellos will man damit vertuschen, was wirklich dort vor geht. Jetzt sehen Sie mal, was wir hier unten haben.« Die Zuschauer folgten Christines Zeigefinger. Am Rande des Piers, teilweise zugedeckt von Fischereiausrüstung aller Art, sah man zwei isolierte Kabel, von denen eines doppelt so dick war wie das andere. »Diese Kabel waren vor zwei Monaten noch nicht da. Wir glauben, dass eines der beiden ein Telekommunikationskabel ist und das andere eine Kraftstromleitung. Es handelt sich um die typischen Panzerkabel, wie sie unter Wasser eingesetzt werden. Beide Kabel laufen zu diesem Gebäude am Ende des Kais. Und von da …« Als Nächstes war das Gebäude aus der Nähe zu sehen. Die beiden Kabel liefen von hier direkt zum Wasser, wo sie unter der Oberfläche des Jangtse verschwanden. »In einem Punkt haben Sie sich geirrt, Capt’n«, fuhr Chris tine lächelnd fort. »Sie verwenden nicht einmal ihre Diesel aggregate. Sie haben das Boot einfach mit dem längsten Ver längerungskabel der Welt an eine Steckdose angeschlossen.«
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»Verdammt«, stieß Tallman staunend hervor. »Aber wir müssen uns da sicher sein«, warf Commander Walker langsam ein. »Ich gebe zu, die Sache sieht recht schlüs sig aus. Aber wir brauchen absolute Sicherheit.« »Ein letztes Beweisstück, Commander. Als Ihr Nachrichtendienst-Offizier Interesse an der Sache zu zeigen begann, ließ er sich mehr Daten von der National Security Agency kommen. Und wir bekamen auch gleich Zugang zu einem speziellen Aufklärungssatelliten, der über Shanghai im Einsatz war. Was Sie hier sehen, ist also streng geheimes Material.« Christine rief ein weiteres Bild auf. »Das hier ist ein Abbild auf der Basis der elektromagnetischen Emissionen aus der Ge gend. Fragen Sie mich jetzt nicht, wie man das aus einer erd nahen Umlaufbahn heraus bewerkstelligen kann. Diese Dinge sind höchst geheim.« Es hätte sich auch um moderne Kunst handeln können; Vor dem schwarzen Hintergrund waren jede Menge ineinander verschachtelter bunter geometrischer Formen zu erkennen, von denen manche mit leuchtenden Linien verbunden waren. Anders betrachtet, glich es einem Schaltplan, was es in gewis ser Weise auch war. »Auf dieser Abbildung«, fuhr Christine fort, »sehen Sie jede Elektrizitätsaktivität hier in der Gegend. Fügen wir noch die Küstenlinie und den Kai ein, damit wir einen Bezugspunkt haben.« Sie legte die entsprechende Grafik der Küste über das vor handene Bild. »Jetzt eliminieren wir alles, was für gewöhnlich hierher gehört. Boote und Induktionszündungen wie bei Autos, Tele fon- und Stromleitungen der Stadt, all diese Dinge eben. Und jetzt schauen wir uns an, was noch übrig ist.« Übrig blieben zwei Leuchtspuren, die am Rand des Kais entlangliefen, sich trennten und dann in den Fluss mündeten. »Die passiven Emissionssignaturen dieser Kabel bestätigen, dass es sich um eine Telefon- und eine Starkstromleitung han delt. Die Emissionsspur verliert sich im Fluss, doch es tauchen am anderen Ufer keine Kabel mit genau dieser Signatur auf.« Die Intel-Offizierin richtete sich auf und wandte sich ihren
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Zuhörern zu. »Aber irgendwohin müssen die Leitungen ja führen.« Amanda benützte die Gelegenheit um ihren Standpunkt gegenüber dem Admiral zu bekräftigen. »Sir, die Rotchinesen wissen genau, dass sie sich draußen auf hoher See nicht mit uns messen können. Dazu fehlt ihnen ganz einfach die Tech nologie. Aber dadurch, dass sie ihr Boot in der Jangtse-Mündung lassen, bleibt es nicht nur verborgen, sondern wird auch noch von den Truppen in Shanghai bewacht. Außerdem ha ben sie den Vorteil einer direkten und sicheren Kommunikati onsleitung zwischen dem Boot und dem Oberkommando der Volksbefreiungsarmee. Das sind doch wirklich Gründe ge nug. Sir.« Admiral Tallman blickte lange schweigend auf den Tisch hinunter. Alle anderen im Raum schwiegen ebenfalls; man wollte zuerst dem Admiral Gelegenheit geben, sich zu äußern. Schließlich blickte er zu seinem Stabschef hinüber. »Nun, was halten Sie davon?« In Commander Walkers Stimme schwang etwas mit, von dem bislang nichts zu spüren gewesen war, nämlich Respekt. »Capt’n Garretts Theorie hat einiges für sich, Sir«, hielt er fest. »Ja, das denke ich auch. Ich glaube, wir haben unser XiaUnterseeboot.« »Die Frage ist nur«, wandte Walker ein, »was werden wir tun – jetzt, wo wir es gefunden haben?« »Wir gehen nach dem üblichen Schema vor: das Boot fin den, die Position genau bestimmen und dann zuschlagen. Nehmen wir einmal an, wir haben es tatsächlich geortet. Dann müssen wir uns jetzt die logisch folgenden Schritte einleiten.« Tallman wandte sich den Offizieren der Cunningham zu. »Mein erster Gedanke wäre der Einsatz eines SEAL-Teams. Wir folgen den Kabeln und sehen nach, wohin sie führen. Lieutenant Rendino, wie groß ist dieser tiefere Sektor genau, von der Sie gesprochen haben?« »Etwa fünf Quadratkilometer. Und wir haben es da mit starken Strömungen und absolut trüben Gewässern zu tun. Für Taucher also der reinste Horror. Und dann sind da auch noch die Truppen, die den Fluss bewachen.«
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»Da ist noch eine Sache, die es zu berücksichtigen gilt, Ad miral «, warf Amanda ein. »Falls die Rotchinesen auch nur den geringsten Verdacht schöpfen, dass wir ihr Unterseeboot ent deckt haben könnten, dann halte ich es für möglich, dass sie ihre Flugkörper sofort starten. Wenn wir zuschlagen, muss es schnell gehen und sicher sein. Schon der erste Schuss muss treffen. Einen zweiten haben wir vielleicht nicht mehr.« Tallman hob eine Augenbraue und fragte: »Irgendwelche Vorschläge?« »Ich hätte einen, Sir«, meldete sich Vince Arkady zu Wort und trat zu den anderen an den Tisch. »Für zwei LAMPSHelikopter wäre es nicht schwer, den betreffenden Abschnitt abzusuchen. Ich könnte mit meinen Sea Comanche hinausflie gen, den Boomer mit dem Magnetanomalie-Detektor auf spüren und mit dem Tauchsonar die genaue Position bestim men. Danach könnten wir es mit V-ROCs versenken, die von außerhalb der Minensperre gestartet werden. Das sollte ei gentlich funktionieren.« »Und Sie glauben, die Chinesen würden so einfach zuse hen, wie Sie über diesem heiklen Gebiet spazieren fliegen?« »Das ist ein anderes Problem, Sir«, erwiderte Arkady. »Chris, was genau haben sie zur Deckung der Flussmündung aufgeboten?« »Da sind einmal die drei schweren Geschützbatterien, die ich schon erwähnt habe. Eine Batterie steht hier im Westen, die zweite hier im Osten, und die dritte direkt gegenüber auf der Insel. Vier radargelenkte 100-Millimeter-Geschütze pro Batterie. Mit ihrem Radar dürften wir keine großen Probleme haben, aber sie arbeiten wahrscheinlich auch mit optischen Visieren und Scheinwerfern. Außerdem haben sie an jedem Ende des Piers ein 57-mm-Pompom und einen HN-5-Flugabwehrraketenwerfer.« »Nie im Leben würde ein Heli da durchkommen«, stellte Tallman kategorisch fest. »Das stimmt, Sir«, sagte Arkady. »Diese Geschützbatterien mussten vorher ausgeschaltet werden. Und dabei darf man auch die Patrouillen in deren Luftraum, die Küstenverteidi gung und die anderen Flugabwehrbatterien nicht vergessen,
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die rund um die Stadt eingesetzt werden. Und dann sind da auch noch die Kanonenboote auf dem Fluss.« »Das wächst sich zu einer gewaltigen Operation aus, Leute.« »Ja, Sir«, warf Amanda ein. »Die Mission kann nur Erfolg haben, wenn wir das gesamte Verteidigungsnetz rund um Shanghai zerstören. Dazu wären ganze Serien von Angriffen notwendig, teilweise auch zur Ablenkung. Wir mussten nicht nur ihre Verteidigung ausschalten, sondern sie über unsere wahren Ziele bis zuletzt im Unklaren lassen.« Admiral Tallman legte die Hände auf den Tisch und blickte auf seine ineinandergefalteten Finger hinunter, als wären sie das Wichtigste auf der Welt. Fast eine Minute stand er so da, ehe er schließlich das Wort ergriff. »Commander Garrett, ist Ihnen klar, was für eine Eskalation ein solcher Einsatz bedeu ten könnte?« »Ja, Sir, dessen bin ich mir vollauf bewusst«, antwortete Amanda in ruhigem Ton. »Und ich bin froh, dass es nicht meine Aufgabe ist, die endgültige Entscheidung darüber zu treffen.« »Ich auch, Capt’n. Kann Ihr Schiff Sie vielleicht noch ein Weilchen entbehren?« »Ich habe großes Vertrauen zu meinem Ersten Offizier, Sir.« »Sehr gut. Ich möchte, dass Lieutenant Rendino noch eine Zeit lang mit meinen Intel-Leuten zusammenarbeitet. Ich will noch weitere Beweise dafür haben, dass sich das Untersee boot in der Flussmündung aufhält. Außerdem könnten Sie und Lieutenant Arkady mit meinem Planungsstab sprechen. Ich habe den Eindruck, dass Sie sich bereits Gedanken über ei nen möglichen Einsatz gemacht haben, man könnte also schon einmal mit den Planungen für eine solche Operation beginnen. Das Ergebnis schicken wir dann gleich an CINC PAC. Vielleicht haben wir ja Glück und sie sagen uns, dass wir das Ganze gleich wieder vergessen sollen.« Tallman blickte zu seinem Stabschef hinüber. »Commander Walker, sorgen Sie dafür, dass alles in die Wege geleitet wird.« »Aye aye, Sir.« Dann wandte sich der Admiral wieder Amanda Garrett zu.
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»Die ganze Operation wäre sozusagen Ihr Kind, Capt’n. Wie möchten Sie es nennen?« »Stormdragon.« Amanda lächelte grimmig, als sie Tallmans fragenden Blick sah. »Ich habe in letzter Zeit einiges über China gelesen, Sir«, sagte sie. »Es gibt da einen bestimmten Drachen in der chine sischen Mythologie, der vor der Küste lebt und den Taifun hervorbringt. Er gilt als Vorbote für alle Schrecken, die vom Meer her kommen.«
Washington D.C. 24. August 2006, 19:21 Uhr Ortszeit Als Sam Hanson das Oval Office betrat, sah er Benton Childress am Fenster stehen und auf den Rasen vor dem Weißen Haus hinunterblicken. »Hallo, Sam«, sagte der Präsident, ohne sich umzudrehen. »Ich nehme an, Sie wissen bereits das Neueste von der ChinaKrise.« »Sie meinen den Vorschlag für ›Operation Stormdragon‹? Ja, Sir, ich weiß Bescheid.« Hanson ging nicht zu dem Sessel, in dem er für gewöhnlich Platz nahm, sondern hielt sich etwas im Hintergrund. »Sie sind mein Sicherheitsberater, Sam. Also raten Sie mir was.« »Nein, Sir. Das kann ich nicht. Nicht in dieser Frage.« Jetzt erst drehte sich Childress zu Hanson um. »Wie meinen Sie das, Sam?« »Ich meine, dass die Rechtfertigung und auch die Pläne für die Operation durchaus schlüssig sind, Mr. President. Aber was die Frage betrifft, ob wir die Operation starten sollten oder nicht … da glaube ich nicht, dass es mir zusteht, Sie in die eine oder andere Richtung zu beeinflussen, Sir. Das ist eine Frage, die nur der Präsident entscheiden sollte.« »So ist es, Sam. Aber Sie könnten mir trotzdem ein wenig
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Gesellschaft leisten. Bevor Sie noch länger so stocksteif daste hen, setzen Sie sich lieber.« Hanson folgte der Aufforderung. Childress trat an seinen Schreibtisch und ließ sich in seinen Stuhl sinken. Vor ihm lag eine einzelne Mappe, die offensichtlich streng vertrauliches Material enthielt. Er blickte jedoch nicht gleich hinein. »Sam, haben Sie jemals daran gedacht, für dieses Amt zu kandidieren?« »Ich kann mich nicht erinnern, dass man mich mal gefragt hätte.« Childress lächelte und nahm die Brille ab. »Nun, wenn es doch eines Tages dazu kommen sollte, dann müssen Sie eine grundsätzliche Entscheidung treffen: Wollen Sie lieber für das kritisiert werden, was Sie tun, oder für das, was Sie nicht tun.« Er nahm ein Taschentuch aus der Jacketttasche und begann langsam seine Brille zu polieren. »Kritisieren wird man Sie in jedem Fall, aber Sie können sich wenigstens aussuchen, wofür.« »Das ist ja immerhin etwas, nicht wahr?« »Aber nicht viel«, erwiderte Childress und setzte die Brille wieder auf. »Wenn ich mich dafür entscheide, nicht zu han deln und diese Operation Stormdragon verhindere, dann könnte es sein, dass ich damit einen Atomkrieg zulasse. Mil lionen Menschen könnten dabei sterben. Ein großer Teil des Planeten würde verwüstet werden. Die Nachwirkungen wären noch über Jahrhunderte zu spüren. Wenn ich aber zustimme und damit automatisch den Ein satz gutheiße, dann könnte es sein, dass ich genau das begün stige, was ich verhindern will. Was auch passiert – man wird dieses Land dafür verantwortlich machen, dieses Land und mich.« Hanson wusste nichts zu antworten, und so herrschte für eine Minute Schweigen im Raum. Der Präsident griff schließ lich nach seinem silbernen Füller und drehte ihn zwischen den Fingern hin und her. Mit einer ruckartigen Bewegung knallte er ihn auf den Schreibtisch. »Das hat nicht in der Beschreibung für diesen Job gestan den!«, sagte Childress zornig. «Ich habe meinen Amtseid ge
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genüber dem amerikanischen Volk geleistet, nicht gegenüber dem chinesischen. Sie haben mich schließlich nicht gewählt! Wie konnte es nur dazu kommen, dass ich plötzlich auch für sie verantwortlich bin!« Sam Hanson ließ sich ein Stückchen tiefer in seinen Sessel sinken, als er Childress’ Blick erwiderte. »Sir, vorhin haben Sie mich gefragt, ob ich schon mal daran gedacht hätte, für das Amt des Präsidenten zu kandidieren. Wenn mich jemals ir gendwer fragen sollte, dann würde ich ihm sagen, er soll sich zum Teufel scheren. So viel Geld könnten sie gar nicht drucken, dass ich den Job dafür übernehmen würde.« Der Präsident lachte kurz auf. »Ich danke Ihnen, Sam.« Childress nahm die Hülse von dem Füller ab und unter zeichnete die Bevollmächtigung für den Militärschlag mit ei ner schwungvollen Geste. »Teilen Sie dem Sprecher des Repräsentantenhauses mit, dass ich mich unverzüglich mit einer hochrangigen KongressDelegation treffen möchte. Dann können Sie den Stabschefs mitteilen, dass ›Stormdragon‹ anlaufen kann.« »Gut, Mr. President.« »Wenn sie mich schon in der Luft zerreißen, Sam, dann we nigstens nicht dafür, dass ich nur herumgesessen und Däumchen gedreht habe.«
Der Plan 26. August 2006, 00:01 Uhr Als die Meldung ›Stormdragon starten‹ kam, begannen die Vorbereitungen von den Küsten Asiens bis zu den Korridoren des Pentagon zu laufen. Der Plan für die Operation war noch nicht mehr als eine Skizze, die nun im Detail ausgearbeitet werden musste. Es galt Nachrichtendienst-Material zu sammeln und einzuord nen. Dafür mussten alle nur erdenklichen Hilfsmittel heran gezogen werden – Satelliten, Flugzeuge und Schiffe, die mo
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dernsten Elint- und Sigint-Technologien und die fähigsten Mitarbeiter, die man aufbieten konnte. »Verdammt noch mal! Würden Sie diese paranoiden Mist kerle drüben in Langley fragen, wer denn bitte zu den Daten Zugang haben soll, wenn nicht die Stabschefs?« Man musste Listen mit allen Zielen erstellen; worauf die Listen teilweise verworfen und gleich darauf erneut in Angriff genommen wurden … »Okay, Gentlemen. Wir haben sechs große Transformatoren hier im Elektrizitätsnetz von Shanghai. Welche müssen wir ausschalten, damit der gesamte Ostteil keinen Strom mehr hat?« Strategische, einsatztechnische und taktische Details wurden Schicht für Schicht übereinander gelegt, bis sie schließlich einen umfassenden Plan ergaben. Es mussten Flugbahnen für Marschflugkörper und Flugrouten für Jets ausgearbeitet und auf die Sekunde genau aufeinander abge stimmt werden … »Das geht einfach nicht, Commander. Sie können die Toma hawks nicht über diese dicht besiedelte Gegend ins Zielgebiet schicken. Sie kennen unsere Vorgaben. Das Risiko für Zivili sten muss so gering wie möglich gehalten werden. Also arbei ten Sie das gefälligst um, aber rasch!« Das Wetter musste berücksichtigt werden, der Treibstoff, den man benötigen würde, die Waffen … »Nehmen wir die lasergelenkten Waffen oder die mit GPUSteuerung? Verdammt, Lieutenant, wir müssen die Waffen in 45 Minuten feuerbereit haben!« Es galt einen Plan für die perfekte Operation auszuarbei ten, aber auch einen Plan für den Fall, dass nicht alles nach Wunsch klappte. Was würde man tun, wenn ein Flugzeugträger-Katapult ausfiel und erst die Hälfte des Geschwaders in der Luft war? Oder wenn die erste zurückkehrende Maschine bei der Landung verunglückte und schwere Schäden am Trä ger verursachte? Wie würde man reagieren, wenn … Die Leute, die mit der Planung von ›Stormdragon‹ beschäf tigt waren, bemühten sich, jede nur erdenkliche Möglichkeit
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zu berücksichtigen, jede unglückliche Fügung, die den Erfolg der Operation gefährden konnte, Natürlich war das in Wirk lichkeit unmöglich. Und in der allgemeinen Eile der Vorbereitungsarbeiten wurde tatsächlich ein winziges, aber nicht unwichtiges Detail übersehen. Wie eine tickende Zeitbombe lag dieses Detail nun im Gesamtgefüge des Operationsplanes verborgen und war tete gleichsam auf den richtigen Augenblick, um alle Bemühungen zum Scheitern zu bringen.
Ostchinesisches Meer 26. August 2006, 22:42 Uhr Ortszeit Es war nur ein Offizier in der Messe anwesend. Christine Ren dino lag bequem auf der Couch ausgestreckt, in ein Taschen buch mit grellbuntem Einband vertieft. Amanda lächelte. Gerade jetzt würde Christine ein ange nehmer Gesprächspartner sein. »Wie liest sich das Buch?« »Ganz gut. Diese Lady Morwena steckt ganz schön in der Tinte. Lord Dalton, ihr flotter Verlobter, weilt im Augenblick in der Ferne, um die jakobitische Rebellion niederzuschlagen. So kommt es, dass sie ein Auge auf Ian wirft, den neuen Kam merdiener, und ihr böser Onkel, der Baron Fitz Hurbert, redet den Dorfbewohnern ein, dass sie ein Werwolf ist.« »Klingt ziemlich abenteuerlich«, sagte Amanda. »Vielleicht könnten Sie es mir mal leihen?« »Jederzeit. In ein, zwei Tagen habe ich es ausgelesen.« »Dann kann ich es wohl erst nach unserer Operation ver schlingen.« Christine hatte zu lesen aufgehört und sich auf die Ellbo gen aufgestützt. »Gibt’s irgendetwas Neues?« »Eigentlich nicht«, antwortete Amanda und setzte sich zu Christine ans andere Ende der Couch. »Wir bekommen lau fend neue Informationen über den Fortschritt der Planungsar
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beiten, aber wie es aussieht, orientieren sie sich ohnehin an unserem Plan. Wir können im Moment nicht viel tun als abzu warten.« »Zumindest, bis es ernst wird.« »Genau.« Amanda streifte die Schuhe von den Füßen, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Christine musterte sie einen Moment lang und bog dann die Ecke der Buchseite um, bis zu der sie gekommen war. Sie warf das Buch auf den Couchtisch und wandte sich wieder ih rer Kommandantin zu, die ihr mittlerweile fast schon zu einer Freundin geworden war. »He, Ma’am, darf ich Sie etwas fragen?« »Klar.« »Wie lange sind Sie und Arkady schon zusammen?« Amanda öffnete die Augen und erhob sich augenblicklich von der Couch. »Wie lange wissen Sie es schon?«, fragte sie mit leiser Stimme. »Na ja, eigentlich habe ich es bis jetzt gar nicht sicher ge wusst.« »Verdammt!« »Oh, machen Sie sich doch nichts draus«, versuchte Chris tine zu beschwichtigen. Sie setzte sich auf und erhob sich ebenfalls von der Couch. »Von mir erfährt ganz bestimmt kei ner etwas.« »Das weiß ich ja«, sagte Amanda und rieb sich die Schläfen. »Na ja, das musste ja irgendwann passieren. Wer weiß es sonst noch?« »Ich glaube, niemand. Sie machen das wirklich sehr dis kret, Skipper. Das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.« »Im Ernst, Chris. War es sehr auffällig?« »Überhaupt nicht. Wie ich schon sagte, ich glaube nicht, dass es irgendjemand mitbekommen hat. Und wenn ich nicht von Berufs wegen ein solcher Schnüffler wäre, dann hätte ich garantiert auch nichts bemerkt.« »Wie sind Sie überhaupt raufgekommen?« »Durch viele kleine Dinge«, antwortete Christine und setzte sich wieder. »Zum Ersten sind Sie nun mal keine Nonne.«
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»Was soll das denn heißen?«, fragte Amanda und ließ sich auf der Armlehne der Couch nieder. »Das soll heißen, dass Sie in Pearl keinen einzigen Ihrer männlichen Bekannten aufgesucht haben. Und wenn Sie aus gingen, haben Sie immer ein großes Geheimnis daraus ge macht. Dasselbe gilt auch für Mr. Arkady. Er ist ja als Frauen held bekannt, und doch hat er in letzter Zeit so gar nichts mehr in dieser Richtung unternommen.« Christine hob ihre schmalen Schultern. »Verdammt, ich will ganz ehrlich sein: Ich habe selbst schon daran gedacht, die Angel in diesem Teich auszuwerfen – aber er hat nicht im Mindesten angebissen. Um mein Ego zu trösten habe ich mir gesagt, dass er entweder schwul geworden ist oder dass es da jemand ganz Bestimmten gibt, der sein Herz und alles andere erobert hat.« »Wie sind Sie darauf gekommen, dass ausgerechnet wir beide …?« »Nun, einerseits hat man Sie beide nie zusammen gesehen, aber andererseits waren Sie seltsamerweise immer zur selben Zeit verschwunden. Zuerst in Norfolk und dann auch in Ha waii. Sobald der eine weg war, sah man auch vom anderen nichts mehr. Sie sollten etwas besser darauf achten.« »Aber an Bord ist Ihnen nichts aufgefallen, oder?« »Na ja, ein paar Kleinigkeiten vielleicht. Aber auch das nur, weil ich schon wusste, wonach ich suchte. Sie beide haben sich manchmal in einen stillen dunklen Winkel zurückgezo gen. Und in letzter Zeit habe ich hin und wieder beobachtet, wie Sie sich auf eine Art und Weise ansahen, dass es nur so ge knistert hat. Ich muss zugeben, ich wäre gern eine Fliege in Ihrem Schlafzimmer, wenn Sie wieder im Hafen sind.« »Chris! Verdammt! Das ist eine ernste Sache!« Amanda stand auf, um ein paar Schritte auf und ab zu gehen und ihre wachsende innere Unruhe zu bezähmen. »Können Sie sich überhaupt vorstellen, in was für Schwierigkeiten ich Arkady und mich selbst damit bringen kann?« »Na ja, vielleicht würde es Ihnen einen kleinen Fleck auf der weißen Weste einbringen«, antwortete die blonde Nachrichtendienst-Offizierin, das Kinn auf eine Hand gestützt.
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»Vielleicht eine strenge Verwarnung für Sie beide. Unter Um ständen könnte es Sie sogar das Schiff kosten. Aber das glaube ich eigentlich nicht.« »Ich hätte es nie so weit kommen lassen dürfen. Die ganze Sache ist vor allem meine Schuld – natürlich auch die von Ar kady, aber vor allem meine. Ich hätte stark genug sein müs sen, um die Finger von so etwas zu lassen. Aber ich wollte ein fach nicht.« »Du meine Güte.« Christine streckte sich wieder auf der Couch aus. »Glauben Sie denn, Sie beide wären die Einzigen, die hier an Bord hin und wieder ordentlich Dampf ablassen? Was glauben Sie, warum diese Gymnastikmatte im Lüftungs raum vier liegt? Und wissen Sie wirklich nicht, was es bedeu tet, wenn ein Handtuch draußen an der Tür zur Frauendu sche hängt? Männer und Frauen, das bedeutet nun mal Sex. Damit müssen Sie sich schon abfinden.« »Ja, aber ich bin eben kein gewöhnliches Mitglied der Crew. Ich bin der Capt’n hier auf dem Schiff.« »Und deshalb glauben Sie, Sie mussten sich anders beneh men wie ein normaler Mensch?« »Nein, aber so menschlich muss ich nun auch wieder nicht sein.« Amanda ließ sich neben Christine auf der Couch nieder. Die beiden Frauen saßen eine Weile still da. Schließlich seufzte Christine und legte ihre rechte Hand auf Amandas linke. »Sehen Sie, es wäre etwas anderes, wenn Ihre Beziehung zu Arkady Ihre Entscheidungen als Capt’n beeinflussen würde oder Ihrer Arbeit sonstwie in die Quere käme. Ist das auch nur ein einziges Mal der Fall gewesen?« Amanda sah sie mit einem schmerzlichen Lächeln an. »Na ja, so direkt fällt mir jetzt nichts ein. Aber manchmal bin ich schon gehörig ins Nachdenken gekommen.« »Nachdenken zählt nicht. Andere Frage: Wie oft ist Ihnen Ihre Aufgabe leichter gefallen, weil es da jemanden gab, an dessen Schulter Sie sich manchmal anlehnen konnten?« »Das war öfter der Fall.« Christine nickte. »Na also, da haben wir’s. Da war ganz ein fach eine innere Leere in Ihnen, die es auszufüllen galt. Das macht einen doch nicht schwächer – im Gegenteil.«
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Amanda schloss die Augen und ließ den Kopf zurücksin ken. »Mag sein, Chris. Ich wüsste nur gern, wohin mich das Ganze führt.« »Das weiß man nie vorher. Warten Sie’s ab, dann wird es sich schon zeigen.«
U.S. Navy Task Force 7.1 200 Seemeilen östlich der Jangtse-Mündung
28. August 2006, 00:10 Uhr Ortszeit »CINCNAVSPECFORCE ist an Bord!« Der Ruf, der aus den Lautsprechern des Flugzeugträgers ertönte, ging im Dröhnen der Propeller fast unter. Die Turboprobs der VC-22-Osprey waren in die Vertikale gekippt, um die Maschine im Schwebeflug zu halten, ehe sie schließlich zur Landeplattform niedersank und mit ihrem Fahrwerk auf dem Deck aufsetzte. Als Commander Nolan Walker die V-22 erreicht hatte, war der einzige Passagier be reits ausgestiegen. »Admiral MacIntyre!«, rief Walker, um sich bei dem all mählich leiser werdenden Dröhnen verständlich zu machen. »Ich bin Commander Walker, Admiral Tallmans Stabschef. Der Admiral lässt Sie grüßen und bei der Task Force 7.1 will kommen heißen. Er lässt sich auch dafür entschuldigen, dass wir Sie nicht mit den gebührenden Ehren empfangen, aber wir stecken mitten in den Vorbereitungen für die kommende Operation.« »Vergessen Sie’s, Commander!«, rief MacIntyre und gab dem Crew-Chief der V-22-Osprey den Helm zurück, den er getragen hatte. Er setzte seine Offiziersmütze auf und fügte hinzu; »Um solche Förmlichkeiten brauchen wir uns im Mo ment wirklich keine Gedanken zu machen.« Als die Triebwerke der Osprey zum Stillstand kamen, machten sich die verschiedenen Geräusche auf dem Deck des Flugzeugträgers wieder bemerkbar: Da waren die Zurufe, die
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innerhalb der Besatzung hin und her gingen, da war das Pfei fen des Windes und das Rauschen der See und schließlich auch das Heulen des Aufzugs, als die Kampfflugzeuge an Deck gebracht wurden. Am Rande des Decks standen mehrere F/A-22-Sea-Raptor, um die sich Matrosen und Piloten im gedämpften Licht der Arbeitsbeleuchtung kümmerten. Jede der Maschinen wurde an einem der Katapulte in Position gebracht, so wie man Pa tronen in die Kammern von Gewehren legte. »Der Admiral erwartet Sie in der Flugleitung, Sir.« »Sehr gut, Commander. Gehen wir.« »Willkommen an Bord, Eddie Mac«, sagte Tallman und be grüßte MacIntyre mit einem festen Händedruck. »Freut mich, dass du noch rechtzeitig zum Beginn der Veranstaltung ange kommen bist.« »Ja, das ist der Vorteil, wenn man ein neues Kommando aufbaut. Man kann sich seine eigenen Richtlinien zurechtle gen. In meinem Fall heißt das, dass ich bei jeder größeren Operation dabei sein möchte, an der meine Leute teilnehmen. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass du einen Beobachter hier auf deinem Schiff hast, der dir und deinen Leuten ein we nig im Weg herumsteht.« MacIntyre betonte das Wort ›Beobachter‹, um die Rolle zu unterstreichen, mit der er sich hier zufrieden geben würde. NAVSPECFORCE hatte einen sehr wichtigen Anteil an ›Ope ration Stormdragon‹. Die Cunningham und ihre Leute bildeten das Herz der gesamten Mission – doch es war die Siebte Flotte, die die Muskelkraft beisteuerte. MacIntyre dachte nicht daran, Tallmans Einfluss zu beschneiden und sich auf einen sinnlosen Machtkampf mit ihm einzulassen. Tallman nickte nur und antwortete: »Kein Problem. Möch test du dich ein wenig ausruhen, bevor wir uns an die Arbeit machen?« »Nein, ich bin bereit, Fangen wir an.« Tallman ging voraus in die Flugleitung, die am achterlichen Ende der Insel eingerichtet war. Das Reich des Fliegerteams der Enterprise war im Moment nur durch die Reihen von Bild
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schirmen erleuchtet – und durch das Sternenlicht, das durch die riesigen Fenster hereindrang. Diese Fenster, durch die man das Flugdeck überblickte, zit terten in ihren Rahmen, als die beiden Männer eintraten; ein SH-60-Oceanhawk hob soeben vom Flugdeck ab. Mit blinken den Positionslichtem schraubte sich der ASW-Helikopter em por und verschwand in nordwestlicher Richtung. »Der Countdown für ›Operation Stormdragon‹ läuft«, sagte Tallman. »Das war unser CSAR-Hubschrauber, der so eben abgehoben hat. Er wird auf der Cunningham nachtanken und dann vor der Küste Position beziehen, wenn der Luftan griff auf Shanghai beginnt.« »Wo befindet sich die Duke im Augenblick?« »Sie läuft in Richtung Jangtse-Mündung.« Tallman nickte in Richtung des Computer-Kartentisches, auf dem das Ein satzgebiet dargestellt war. »Sie wird unter voller Tarnung in einer Stunde dort eintreffen und in etwa zwei Stunden das Feuer eröffnen.« »Danke.« MacIntyre trat an den Kartentisch und betrachtete das Posi tionssymbol vor der mächtigen Flussmündung, die wie der Rachen eines riesigen Drachen wirkte. »Kann ich ihnen eine Nachricht rüberschicken, Jake?« »Klar. Nolan, übernehmen Sie das.« Der Stabschef sprach mit leiser Stimme zu einem Funkope rator, der an einer der Kommunikationskonsolen saß. ››Alles klar, Sir. Sie können senden.« »Danke, Commander.« MacIntyre überlegte einen Augenblick und dachte an ein Gespräch, das er vor kurzem geführt hatte. »Von: CINCSPEC FORCE. An: Commander A. L. Garrett, C.O., U.S.S. Cunning ham. Viel Glück da draußen an der vordersten Front.«
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U.S.S. Cunningham, DDG-79
14 Seemeilen östlich der Jangtse-Mündung
28. August 2006, 01:31 Uhr Ortszeit »Irgendwelche Veränderungen, Dix?«, fragte Amanda. »Bisher nichts. Von den acht Radaranlagen, die wir mit dem ersten Schwarm Raketen ausschalten sollen, sind im Au genblick fünf aktiv. Wir haben sie im Visier. Auch von den an deren drei Anlagen haben wir die exakten Positionen. Zwei davon, die mit den Silkworm-Batterien, sind mobil, aber vom letzten Darkstar-Überflug gibt es keinen Hinweis darauf, dass sie verlegt werden könnten.« »Sehr gut«, sagte Amanda und nickte zufrieden. »Diesmal werden wir nicht so stürmisch empfangen, was?« »Ihr Wort in Gottes Ohr, Capt’n. Man hätte doch annehmen können, dass es sie ein wenig beunruhigt, wenn wir hier auf kreuzen.« Amanda und ihr TACCO studierten das Elint-Display, das im Moment auf dem Alpha-Bildschirm zu sehen war. Die kommunistische Garnison in Shanghai hatte ihre elektroni sche Festung bemannt. Man bemühte sich offenbar nicht län ger darum, möglichst wenig Aufmerksamkeit auf die Stadt zu lenken und setzte alle Radaranlagen ein, die man zur Verteidi gung zur Verfügung hatte. In allen Richtungen tasteten die Radarstrahlen den Himmel und das Meer ab, um jeden poten ziellen Angreifer schon frühzeitig zu entdecken. Es würde die erste Aufgabe der Cunningham in dieser Nacht sein, dieses Radarauge zu schließen. In einigermaßen sicherer Entfernung strich sie durch die Nacht und wartete auf den richtigen Augenblick, um zuzuschlagen. »Irgendwelche neuen Details, die es zu berücksichtigen gilt?« »Sie haben zwei Vorpostenboote außerhalb der Mi nensperre. Es scheint sich um ein Kanonenboot der ShanghaiKlasse und ein Minenräumer zu handeln. Ich habe bereits die ersten Harpoons hochgefahren.« »Okay«, sagte Amanda und ging noch einmal im Geist ihre
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Checkliste durch. Sie schienen jedoch tatsächlich an alles ge dacht zu haben. »Ich habe beschlossen, heute Nacht auf der Brücke zu bleiben. Commander Hiro wird hier unten die Sa che leiten. Wir dürfen die Prioritäten nicht aus den Augen ver lieren. Dix. Unterstützen Sie die beiden Helis, wenn sie auf brechen, um den Boomer zu finden. Wenn sie ihn gefunden haben, zerstören Sie ihn. Ich lasse Ihnen völlig freie Hand – Sie können feuern, sobald es die Situation erfordert. Ich vertraue da ganz auf Ihre Einschätzung der Lage.« Beltrain lächelte und nickte kurz. »Okay, Ma’am. Wir wer den es schon hinkriegen. Müssen wir ja wohl, nicht wahr?« Amanda nickte ebenfalls und erwiderte sein Lächeln. »Stimmt, Dix, das erwartet man von uns.« Sie erhob sich von ihrem Sessel und blickte sich noch ein mal in der verdunkelten Gefechtszentrale um. An jeder WorkStation wurde ein Gesicht vom kalten Leuchten eines Bild schirms erhellt. Die Stimmen klangen gelassen, die Mienen wirkten ruhig. Bestimmt war der eine oder andere aufgeregt oder besorgt, vielleicht sogar von Angst erfüllt – doch sie hat ten alle gelernt, diese Gefühle zu beherrschen. Sie waren dis zipliniert und professionell genug, um sich ihrer Aufgabe an Bord eines Kriegsschiffes der U.S. Navy bewusst zu sein. In solchen Augenblicken war Amanda gleichzeitig von Stolz und Demut erfüllt, dass solche Leute unter ihrem Kommando dienten. Alle Anwesenden waren ganz in ihre Aufgaben vertieft, so dass keiner von ihnen mitbekam, wie Amanda vor ihnen sa lutierte, bevor sie das CIC verließ. Die nahezu menschenleeren Korridore waren von der Notbe leuchtung in ein rötliches Licht getaucht. Die Duke war ge fechtsbereit; alle Mitglieder der Besatzung hatten ihre Statio nen bezogen und warteten auf den Moment, in dem der Einsatz begann. »Capt’n!« Amanda wirbelte herum und sah Arkady auf sich zukom men. Er war bereits im Fliegerkombi und trug den Helm unter
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dem Arm. Das Licht im Korridor verlieh seiner Haut und sei nem schwarzen Haar einen rötlichen Schimmer. »Der CSAR-Helikopter der Enterprise hat nachgetankt und ist bereits gestartet, Ma’am«, sagte er in förmlichem Ton. »Wir brechen jetzt auf, Ich dachte mir, dass Sie vielleicht Bescheid wissen wollen.« Im Augenblick war ihr Privatleben für sie beide weit weg. Nun zählte nur noch, dass sie eine Aufgabe zu erfüllen hatten. »Danke, Lieutenant. Gute Jagd – und passen Sie gut auf sich auf.« »Sie auch, Skipper.« Er drehte sich abrupt um und ging nach achtern zum Han gar. Amanda hingegen machte sich auf den Weg zur Brücke. Sie ballte die Hände zu Fäusten, um das Zittern zu unter drücken. Das alles gehörte nun einmal zu der Welt, die sie sich ausgesucht hatte. Doch tief in ihrem Inneren war da das be drückende Gefühl, dass ihr diese kleinen Abschiede von Mal zu Mal schwerer fielen. Als sie das Brückendeck erreicht hatte, suchte sie ihren Spind auf, um ebenfalls ihre Keflar-Gefechtsweste anzulegen. Sie raffte ihr Haar hinten zusammen und setzte den Helm auf. Dann trat sie durch den Vorhang auf die Brücke hinaus und hörte den traditionellen Ruf: »Skipper auf der Brücke!« Vier Decks tiefer und knapp 50 Meter weiter achtern funkel ten die Sterne über dem offenen Hangar. Retailer Zero One stand auf der Aufzugsplattform und wartete darauf, nach oben befördert zu werden. Retailer Zero Two stand daneben, um dem ersten Hub schrauber zu folgen, sobald dieser die Plattform geräumt hatte. Nachdem alle nur erdenklichen Checks durchgeführt und sämtliche Systeme noch einmal eingehend überprüft worden waren, standen die Mitarbeiter der Air-Crew nun et was abseits und warteten auf das Kommando zum Start. Und noch jemand wartete unten im Hangar. Christine Ren dino stand mit verschränkten Armen gegen den Rahmen der Luke gelehnt, einen ungewöhnlich ernsten Ausdruck auf dem Gesicht.
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»He, Chris, nett von Ihnen, dass auch Sie gekommen sind, um mir auf Wiedersehen zu sagen«, wandte sich Arkady lächelnd an sie. »Ja«, antwortete sie mit leiser Stimme. »Ich muss Ihnen et was sagen.« »Was denn?« »Zum Beispiel, dass Sie gefälligst vorsichtig sein sollen. Sie werden sich gleich mitten in die Höhle des Löwen begeben. Wenn es zu heiß wird oder irgendetwas schief läuft, kehren Sie um! Spielen Sie ja nicht den Helden. Bleiben Sie im Rah men Ihrer Einsatzvorgaben. Machen Sie Ihre Arbeit und keh ren Sie um, so schnell es geht.« »Du liebe Güte, ich wusste gar nicht, dass Ihnen so viel an mir liegt«, erwiderte Arkady lächelnd. Christine blickte auf, und das rötliche Licht spiegelte sich in ihren Augen. »Ich mein’s ernst, Mann!«, flüsterte sie eindring lich. »Es gibt jetzt einen Menschen, für den sie sich bemühen sollten, am Leben zu bleiben! Sie haben nicht länger das Recht, irgendwelche Dummheiten zu begehen! Haben Sie mich verstanden?« Verblüfft über die Eindringlichkeit, mit der sie ihm ins Ge wissen sprach, trat der Pilot einen Schritt zurück. Im nächsten Augenblick erschien ein Lächeln auf den Lip pen der Intel-Offizierin. »Sie kann Ihnen das alles nicht sagen, aber ich kann es. Okay?« Da verstand Arkady, was sie meinte. »Alles klar, Chris«, antwortete er lächelnd. Sie besiegelten ihr stilles Übereinkommen mit einer schwei genden Daumen-hoch-Geste, ehe der Pilot sich seiner Ma schine zuwandte. Gus Grestovitch war bereits an Bord des Sea Comanche und überprüfte noch einmal die Bordsysteme. »Guten Mor gen, Mr. Grestovitch«, sagte Arkady und schlüpfte ins vordere Cockpit. »Alles bereit für unseren kleinen mitternächtlichen Ausflug zum geheimnisumwitterten Jangtse?« »Wenn’s nach mir ginge, könnten wir auch daheim bleiben, Sir.« »Haben Sie denn gar keinen Sinn für das Abenteuer, mein
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Freund?«, versetzte Arkady und schloss seine Gurte. »Las sen Sie noch mal hören, was wir alles mit auf die Reise neh men.« »Treibstofftanks, Magnesiumbrandsätze und Düppel-Systeme: voll, voll und noch einmal voll. SQR/A1 -Tauchsonar am Backbordflügel. Magnetanomalie-Detektor an Steuerbord. An Waffen haben wir zwei Hellfire und zweimal sieben Hydra-Raketen.« Die Bewaffnung war der Aufgabe angemessen – schließlich waren die beiden Sea Comanche nicht nur mit der Jagd auf das strategische Unterseeboot der Rotchinesen betraut, sie mussten auch – für den Fall, dass einer der Jagdbomber über Shanghai abgeschossen werden sollte – die nachfolgende Such- und Bergungsmission absichern. »Check, Check und Check, DTU wird ausgeworfen.« Der Pilot reichte seinem Waffenoffizier die Datentransfer-Einheit. Grestovitch legte die Kassette mit den Einsatzvorgaben an sei nem Platz in den Bordcomputer ein. Die Bildschirme leuchte ten auf und zeigten in Form einer Computergrafik die Umge bung, in der sie operieren würden, sowie den Kurs, dem sie zu folgen hatten. »Wir sind so weit.« »Roger.« Arkady wandte sich dem wartenden Chef der Air-Crew zu. »Lassen Sie uns rauf«, sagte er und zeigte mit dem Daumen nach oben. Der Aufzug stöhnte unter der Last und trug den Hub schrauber hoch – hinaus aus dem rötlichen Licht des Hangars und hinein in die Dunkelheit an Deck. »Alles klar zum Start-Check, Lieutenant… Lieutenant? Al les okay, Sir?« Vince Arkady hatte ein wenig Zeit zum Nachdenken ge habt, während der Hubschrauber nach oben befördert wor den war. »Ja, Gus. Alles okay. Ich habe nur gerade darüber nachge dacht, wie kompliziert das Leben manchmal werden kann.« »Wem sagen Sie das, Sir.«
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Auf der Brücke wurden auf einem der Bildschirme die Sekun den heruntergezählt. Die verschiedenen digitalen Anzeigen ließen erkennen, wie viel Zeit zu den einzelnen Stadien von Operation Stormdragon noch blieb. Amanda verfolgte, wie die oberste Anzeige allmählich auf Null zuging. Von achtern war das Heulen von Hubschrauber-Turbinen zu hören, gefolgt vom Dröhnen der Rotoren. Die erste An zeige stand auf Null und verschwand. »Retailer Zero One hebt ab«, meldete eine nüchterne Stimme über die Bordsprechanlage. Amanda trat auf die Brückennock hinaus und beobachtete, wie der donnernde Schatten die Flanke des Schiffs entlangglitt und für einen Augenblick die Sterne verdeckte, bevor er in der Nacht verschwand. Zero Two folgte fünf Minuten später. »Kommunikationsraum, hier spricht die Kommandantin«, sprach Amanda in ihr Mikrofon. »Melden Sie an das Flagg schiff, dass unsere Helis planmäßig gestartet sind und wir zur nächsten Phase übergehen.« Sie nahm den Daumen vom Mikrofonknopf und wandte sich dem Wachoffizier zu. »Kurs nach Steuerbord, auf zweisieben-null gehen. Abstand zur chinesischen Küste verkür zen.«
Task Force 7.1 28. August 2006, 01:20 Uhr Ortszeit MacIntyre und Tallman saßen beim Kaffee, ohne ihn wirklich zu genießen. Beide Admiräle blickten gespannt auf, als Tall mans Stabschef zu ihnen trat. »Die Cunningham meldet, dass ihre Helis in der Luft sind und dass sie selbst in Position geht, um das Feuer zu eröff nen«, berichtete er. »Die Gefechtslinien sind formiert. Der An griff beginnt in zwei Minuten und dreißig Sekunden. Alle Vorbereitungen sind getroffen.« »Irgendeine Nachricht aus Washington?«
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»Negativ, Sir. Wir haben eine Leitung zu den Stabschefs und eine zum Präsidenten. Es gibt nichts Neues zu berichten. Die Anweisung zum Beginn der Operation ist nach wie vor gültig.« Tallman starrte auf seinen lauwarmen Kaffee hinunter, be vor er sich an den Stabschef wandte. »Also gut. Teilen Sie dem Angriffsführer mit, dass er wie geplant vorgehen kann.« Tallman stellte seine Tasse auf einer Konsole ab. »Komm mit, Eddie Mac, gehen wir an Deck. Ich schätze, da gibt es ei niges zu sehen.« Der Flugzeugträger hatte nach Osten abgedreht, eskortiert von seinen eigenen Helikoptern, während seine Geleitschiffe sich verteilten, um ihre Positionen für das Gefecht einzuneh men. An Steuerbord glitten nacheinander ein halbes Dutzend Schiffe der Spruance- bzw. Ticonderoga-Klasse durch die Dunkelheit und machten sich bereit, ein Ziel aufs Korn zu nehmen, das sich weit jenseits des Horizonts befand. Früher hätten sich in einem solchen Moment schwere Ge schütztürme gedreht – jetzt öffneten sich Luken an Deck, aus denen sich Abschussrampen mit einem gedämpften Aufheu len der Hydraulik erhoben. Unten im CIC behielten die Feuerleitsysteme die verschie denen Ziele im Visier und überprüften noch einmal die Sys teme, während die letzten Sekunden bis zum Beginn der Ope ration verstrichen. Als der Countdown bei Null angelangt war, hörte man den Befehl »Feuer!«, aus allen Lautsprechern des 1 -MC – eine Tra dition, die längst nicht mehr notwendig war. Warnsignale er tönten und Startraketen wurden gezündet. Die erste Salve von Marschflugkörpern schoss in den Nachthimmel empor. Eine jede Lenkwaffe zog einen flammenden Schweif hinter sich her. Weitere Salven folgten, so dass die Luft bald vom Donnern der rasch aufeinander folgenden Starts erfüllt war. Die aufsteigenden Flugkörper ließen einen leuchtenden Nebel hinter sich, und die Kriegsschiffe glitten jetzt wie rie sige Schatten durch die Nacht, die vom eigenen Raketenfeuer erleuchtet war.
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Fast fünf Minuten dauerte dieser erste Lenkwaffenschlag. Es war dies einer jener Momente von verblüffender Schön heit, die sich plötzlich mitten in einem Gefecht auf See einstel len konnten – ein Moment, den jeder in Erinnerung behalten würde. Die Mitglieder der Besatzung, die sich an Deck auf hielten, machten sich nicht einmal mehr die Mühe, so zu tun, als gingen sie ihren Pflichten nach, und verfolgten nur noch gebannt das nächtliche Schauspiel. Schließlich stieg auch die letzte Salve zum Himmel empor. Und dann wurde es wieder dunkel ringsum, während die Startstufen abgetrennt wurden und wie glühende Kohlen ins Meer hinunterregneten. Das Donnern verebbte, als die Strahl triebwerke die Lenkwaffen zum Horizont hinaustrugen. Auf dem Flugdeck der Enterprise schwoll unterdessen ein neuerliches Dröhnen an. Die erste Staffel F/A-22-Fighter stand mit heulenden Triebwerken startbereit an den Katapul ten des Flugzeugträgers. Gravitätisch drehte sich das Kriegsschiff in den Wind. »Admiral, Capt’n Kitterage ersucht um Starterlaubnis für die F/A-22.« »Sagen Sie dem Captain, dass er nach eigenem Ermessen starten kann.« Auf dem nebelverhangenen Deck ging die Cockpithaube von Moondog 505 nieder, so dass das Donnern ringsum nicht mehr hereindrang. »Alles klar?«, rief Digger Graves über die Schulter seiner Waffensystemoffizierin zu. »Alles klar«, antwortete Bubbles ebenso knapp. Sie ließen sich von einem Mann der Deckbesatzung einwei sen und ordneten sich schließlich am Katapult Nummer zwei ein, wo das Flugzeug in den Katapultstartschlitten einge klinkt wurde. Gleichzeitig stellten mehrere Mitglieder der Waffencrew si cher, dass die Lenkwaffen des Jagdbombers einsatzbereit wa ren. Sie verfolgten auch, wie Graves noch einmal die Bedie nung verschiedener wichtiger Elemente überprüfte – Seitenruder, Höhenruder, Querruder, Landeklappen, Spoiler, Bremsklappen. Mit den Daumen nach oben gaben sie Digger
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das Signal, dass alles in Ordnung war. Die Maschine war startklar. Hinter dem Flugzeug, das am Katapult in Position stand, wurden die Strahlabweiser aufgestellt. Digger ließ die Lan descheinwerfer aufleuchten, um dem Katapult-Leitoffizier seine Bereitschaft zu signalisieren, und schob den Leistungs hebel nach vor. Flammen schossen aus den Abgasdüsen, als die Nachbren ner zündeten, und gleich darauf war die Luft vom durchdrin genden Kreischen der Mantelstromtriebwerke erfüllt. Digger atmete tief ein und ließ sich in den Schleudersitz sinken. Ein Katapultstart in der Nacht ist vielleicht das gefährlichste Manöver, das von Flugzeugen routinemäßig durchgeführt wird, Es gibt dabei jedoch einen kleinen Vorteil; Alles geht sehr rasch. Wenn es schief geht und man ums Leben kommt, passiert es innerhalb der ersten drei Sekunden. Der Katapult-Leitoffizier gab schließlich mit einer kreisen den Armbewegung das Signal, dass der Start unmittelbar be vorstand. Dann ließ er sich auf ein Knie nieder und stieß die Faust nach vorn. Der Katapult-Schütze drückte den Start knopf auf seiner Konsole. Die insgesamt 30 Tonnen, die das Flugzeug samt Waffen und den beiden Besatzungsmitglie dern wog, schossen auf der 50 Meter langen Startbahn in die Dunkelheit hinaus. Der Stealth-Bomber raste über das zum Ende hin anstei gende Flugdeck hinaus und balancierte auf dem schmalen Grat zwischen Flug und Noch-nicht-Flug. Im Cockpit hatte Digger Graves einige äußerst wichtige Aufgaben durchzu führen. Er musste sich mit Hilfe des Heads-up-Displays orien tieren – denn ein Blick in die völlige Dunkelheit, in die er hi nausgeschleudert wurde, hätte ihm wohl unweigerlich einen Schwindelanfall verursacht. Dann galt es das Fahrwerk einzu ziehen. Gleichzeitig musste er die Tragflächen von Moondog 505 unbedingt waagrecht halten und darauf achten, dass die Nase sich über den unsichtbaren Horizont erhob. Das alles war binnen weniger Sekunden zu erledigen, während das Herz des Piloten noch wie wild pochte und er sich von dem Schlag in die Magengrube erholte, den einem ein Katapult
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start jedes Mal verpasste. Um sich seine Aufgabe ein wenig einfacher zu machen, verzichtete Digger währenddessen ein fach darauf, zu atmen. Irgendwann in dieser ewig scheinenden Sekunde vollzog der Jagdbomber den Übergang vom Projektil zum Flugzeug. Das Fahrwerk verschwand mit einem dumpfen Geräusch im Bauch der Maschine, und die Klappen fluchteten wieder mit den Flügelflächen. Das blaue Leuchten der NachbrennerFlamme verschwand im Rückspiegel, als Digger die Trieb werksleistung drosselte und in den Steigflug ging. Danach war rund um ihn nur noch Nacht und die Sterne und die Decksbeleuchtung der Enterprise, die bald immer schwächer unter ihm zu sehen war. Digger steuerte seinen Fighter auf die ferne chinesische Küste zu und hörte plötzlich über Bordfunk, wie jemand lange und spürbar erleichtert ausatmete. »Weißt du«, sagte Bubbles wohl schon zum hundertsten Mal zu ihm, »diese paar Sekunden hasse ich wirklich.«
In den Zufahrtswegen zur Jangtse-Mündung 28. August 2006, 01:30 Uhr Ortszeit »Brücke – Stealth-Zentrale.« «Brücke, aye.« »Wir werden bald einige Aufmerksamkeit erregen. Die Ro ten müssten uns in wenigen Minuten auf den Radarschirmen haben.« »Danke, Mr. McKelsie. Das sollte aber im Moment nicht allzu viel ausmachen.« Von der Brücke aus zeigte sich die chinesische Küste als schwarzes Band zwischen der ebenso dunklen See und dem Sternenhimmel. Der Bug der Cunningham glich einem Dolch, der mitten auf das Herz der Küste gerichtet war. Kurz nach McKelsie meldete sich Dix Beltrain bei der Kom mandantin.
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»Capt’n, wir haben die Bestätigung vom Flaggschiff, dass die Operation planmäßig angelaufen ist. Alle Marschflugkör per sind auf Kurs.« »Waffenstatus?« »Alle Flugkörper sind scharf. Alle Startzellen sind geöffnet. Systeme sind bereit, der Countdown läuft: T minus 41 Sekun den,« »Status der beiden Hubschrauber?« »Lieutenant Arkady berichtet, dass beide Hubschrauber sich am Anlaufpunkt befinden. Wir sind startklar, Capt’n.« »Dann eröffnen Sie das Feuer wie geplant, Mr. Beltrain.« »Gut, Ma’am. Alle Systeme sind aktiviert. Fünf … vier … drei… zwei…« Die Signalhörner der Cunningham stießen ihren Warnruf aus. Die ersten Lenkwaffen jagten zum Himmel empor, und auf der Brücke schirmte man die Augen mit den Händen ab, um sich gegen das grelle Leuchten der Raketenmotoren zu schützen. Die Stealth-Cruise-Missiles gingen schon in etwa 15 Meter Höhe in die Horizontale und entfalteten Heckleitwerk und Tragflügel. Es handelte sich um die Landziel-Version dieser Waffe – ein Flugkörper, der ein Ziel über eine Entfernung von mehr als 940 Seemeilen treffen konnte. In diesem Fall musste die Reichweite aber nicht annähernd ausgeschöpft werden. Andererseits hatte man auf diese Weise die Garantie, dass der Job hundertprozentig erledigt wurde. Das Erste, was die Wachposten der rotchinesischen Küsten verteidigung von dem Angriff mitbekamen, war das Flackern der fernen Raketenstart am Horizont. Zwölf Raketen in dop pelt so vielen Sekunden. Etwa 15 Sekunden später kam die zweite Warnung, als die ersten Marschflugkörper über dem Strand auftauchten. Die Bedienungsmannschaften der Küstenradarstationen hatten keine Chance. Die gut getarnten Waffen erschienen erst wenige Sekunden vor dem Einschlag auf den Radarschirmen. Im Gegensatz zu den HARMs, die die Antennen außer Ge fecht gesetzt hatten, zielten diese Waffen direkt auf die Leit
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stände der Radaranlagen, wobei sie von den Impulsen des Global-Positioning-Satellitensystems gelenkt wurden. Kurz bevor sie ihr Ziel erreichten, kletterten die CruiseMissiles noch einmal steil in die Höhe, um dann auf das Ziel hinabzutauchen. Die Radaranlagen waren entweder unterir disch angelegt oder mit Sandsäcken befestigt – doch die 500kg-Gefechtsköpfe der Marschflugkörper schlugen wie ein ge waltiger Hammer zu. Es blieb kein Stein auf dem anderen. Weiter landeinwärts erkannten rotchinesische System-Operatoren, was geschehen war, als die Küstenradarstationen aus dem Datenverbundnetz verschwanden. Sie gaben Warnun gen weiter und verließen Hals über Kopf ihre Operations räume, um sich flach auf den Boden zu werfen oder so rasch wie möglich einen Luftschutzbunker aufzusuchen. Einige we nige überlebten den Angriff. Ein Drittel der Marschflugkörper hatte nicht die Radaranlagen zum Ziel. Während sie knapp hintereinander den südlichen Arm des Jangtse-Deltas entlangjagten, suchten sie das linke Ufer mit ihren Lasern ab, um eine ganz bestimmte Struktur zu finden, die sie in ihren Lenksystemen gespeichert hatten. Schließlich fanden sie ihr Ziel – es war der Kai von Waigao qiao, der dem versteckten Unterseeboot als Stromversor gungs- und Kommunikationszentrale diente. Eine nach der anderen scherten die Raketen aus dem Schwarm aus und schwenkten auf ihr Ziel ein. Eine ganze Kette von Detonationen zog sich am Pier ent lang und zertrümmerte unbemannte Fischerboote, als wären es Obstkisten. Und inmitten der Flammen, die sich rasch aus breiteten, wies ein plötzliches Aufleuchten darauf hin, dass die Verbindung der kommunistischen Regierung mit ihrem strategischen Unterseeboot soeben durchtrennt worden war. Direkt vor der Küste hielt sich Retailer Zero One knapp über der schäumenden Gischt der Wellen, nur wenige Meter vom zweiten Helikopter entfernt. Im Cockpit des Sea Comanche zählte Arkady die Blitze der Detonationen.
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»Zehn … elf … zwölf. Alle Cruise-Missiles sind im Ziel.« Die Bordwarnsysteme verstummten, als auch der letzte Ra darstrahl erlosch. Von etwas weiter nordwestlich war eine neuerliche Serie von Detonationen auf der Meeresoberfläche zu vernehmen. Die Cunningham hatte soeben die Vorposten boote ausgeschaltet, die etwas außerhalb der Minensperre po stiert waren. »Gray Lady, für Retailer Zero One. Bei uns ist alles klar, die Bordsysteme zeigen keine Bedrohung mehr an. Auch die Schiffe der Küstenverteidigung sind außer Gefecht. Wir verlassen jetzt den Verteidigungspunkt. Retailer Zero Two, es geht los!« Arkady klappte das Nachtsichtgerät herunter und das Dunkel der Nacht rund um ihn verwandelte sich in ein sanft leuchtendes Grün. Die Instrumentenanzeigen und Navigati onsdisplays, die zuvor auf dem Heads-up-Display zu sehen gewesen waren, wurden nun direkt auf die Netzhaut seiner Augen projiziert und wiesen ihm so den Weg. Dann schwenkte er mit seinem Helikopter in den unsichtbaren Kor ridor ein, der direkt zur Mündung des Jangtse führte. Es war besonders wichtig, dass die Hubschrauber der Duke ihrem vorgegebenen Kurs folgten. Sehr bald schon würden nämlich einige nicht sehr rücksichtsvolle und überaus gefähr liche Flugobjekte den Luftraum mit ihnen teilen. Die Marsch flugkörper, die die Cunningham zuvor gestartet hatte, waren erst der Anfang gewesen. Während die beiden Sea Comanche sich der Verteidigungszone von Shanghai näherten, raste be reits eine zweite Welle von über 60 Cruise-Missiles auf die Stadt zu. Es war dies die moderne Variante des klassischen Sperrfeu ers; ein bestimmtes Ziel wurde von einer Vielzahl von Waffen gleichzeitig aufs Korn genommen. Die Lenkwaffen schwärm ten von ihrem Ausgangspunkt aus, um sich auf die gesamte Shanghaier Gegend zu verteilen. Die ersten Tomahawks jag ten über die Stadt hinweg, um schließlich kehrtzumachen und von allen Seiten auf das Zielgebiet zuzupreschen. Jede einzelne Lenkwaffe war so programmiert, dass sie zu einem genau festgelegten Zeitpunkt innerhalb eines Punktes
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von einem Meter Durchmesser einschlug. Die Abfolge der Treffer war sorgfältig kalkuliert, um möglichst großen Scha den und eine ebenso große Schockwirkung zu erzielen. Die Flugabwehrgeschütze, die das Versteck des Xia vertei digen sollten, wurden in präzisen Fünfundzwanzig-Sekunden-Intervallen außer Gefecht gesetzt. Durch die Abstände war gewährleistet, dass sich die anfliegenden Marschflugkör per in dem Chaos nicht gegenseitig zerstörten. Jedes einzelne der 100-mm-Geschütze wurde zunächst von der Überdruckwelle des über ihm detonierenden Gefechts kopfes aus seiner Bettung gehoben, ehe es durch die Explo sion der eigenen Munitionsmagazine wieder zum Himmel emporschleuderte. In der Stadt selbst erschraken die Bediensteten des Fern sprechamts fast zu Tode, als ein fünfeinhalb Meter langes Ge schoss durch ein Fenster im dritten Stock gedonnert kam und schließlich in die hintere Wand des Gebäudes krachte. Der er schütterungsfeste Zeitzünder der T-LAM zählte geduldig die drei Minuten herunter, bevor der Sprengkopf detonierte, so dass den Anwesenden genug Zeit blieb, um sich ins Freie zu retten. Dann zerplatzte das Gebäude, so als hätte man mit ei ner Nadel in einen Luftballon gestochen. An dem Luftabwehrstützpunkt westlich der Stadt stand eine Staffel F-TM-Jagdbomber am Ende der Rollbahn, die Trieb werke im Leerlauf. Sie waren zu Beginn des Angriffs in Bereit schaft versetzt worden und warteten nun auf das Startkom mando. Es sollte jedoch nicht kommen. Zuerst war nur ein Schimmer von reflektiertem Mondlicht über dem Kontrollbunker zu sehen, bevor plötzlich Flammen aus dem Bunker selbst schlugen. Im nächsten Augenblick wurde der Tower getroffen und stürzte in einem Flammen meer in sich zusammen. Als er sah, dass der gesamte Stützpunkt rund um ihn in Flammen stand, beschloss der Pilot des Führungsflugzeuges, den Nachbrenner zu aktivieren. Es war auf jeden Fall besser, sein Heil in der Luft zu suchen als hier auf dem Boden auf den sicheren Untergang zu warten. Rund um ihn breiteten sich die
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Flammen aus, während er mit seiner Maschine die Rollbahn entlangbrauste, die restlichen Flugzeuge hinter ihm her. Als die Maschine eine Geschwindigkeit von einhundert Knoten erreicht hatte, blickte der Pilot auf. Da kam etwas aus der Gegenrichtung die Rollbahn entlanggerast. Es war ein Cruise-Missile, der rund 15 Meter über dem Boden dahin strich. Lichtblitze tanzten vor seiner Nase auf und ab, während hinter ihm eine Kette von Explosionen die Rollbahn erschütterte. Verzweifelt riss der Pilot den Steuerknüppel zurück, doch sein Flugzeug war immer noch etwa 15 Stundenkilometer zu langsam, um abheben zu können. Eines der Räder des Fahr werks geriet in einen rauchenden Explosionskrater, und die Maschine kippte um und explodierte. Eine Maschine nach der anderen lief in die tödliche Falle und zog eine Spur aus bren nenden Trümmern hinter sich her, Der Marschflugkörperangriff verlief zwar erfolgreich, aber nicht perfekt. Bei einem der Tomahawks setzte die Steuerung aus, so dass er schnurstracks nach Westen in Richtung Mon golei davonjagte. Ein anderer Flugkörper wurde von einem 25-mm-Luftabwehr-Geschoss getroffen und kam ebenfalls vom Kurs ab, um zu allem Unglück in einen Wohnblock ein zuschlagen. Ein dritter Tomahawk, der einen TorpedobootLiegeplatz am Huangpu hätte lahmlegen sollen, bohrte sich infolge eines Kreiselkompassdefekts in die Uferböschung am Jangtse. Die vorderen Maschinengewehre auf dem Tragflächenboot 5-16 belferten eine wilde Salve in den Himmel. »Feuer einstellen!«, rief Leutnant Zhou Shan von der Brücke aus. »Vergeudet nicht sinnlos eure Munition!« Der unerfahrene Schütze drehte sich um, so dass sein angsterfülltes Gesicht für einen Moment im Lichtschein einer Bombendetonation zu sehen war. Shan konnte es ihm nicht übel nehmen. Die Angst war in dieser Nacht mit an Bord. Und man verspürte den überwältigenden Drang, etwas zu tun, um die Angst im Zaum zu halten. Ganz Shanghai schien in Flammen zu stehen. Obwohl die
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Luftabwehrbatterien der Stadt vom Oberkommando abge schnitten waren, jagten sie dennoch nach wie vor ihre grün und rosa schimmernden Leuchtspurgeschosse in die Luft. Vom Liegeplatz aus konnte man etwa ein halbes Dutzend Feuer ausmachen, und alle paar Sekunden erglühten die dich ten Rauchwolken über der Stadt wenn wieder eine neue Ra kete eingeschlagen hatte. »Gibt es schon eine Nachricht vom Flottenkommando?«, fragte Zhou seinen Funker mit lauter Stimme, um sich über dem Donnern der Geschütze verständlich zu machen. »Nein, Genosse Leutnant«, antwortete der Funker. »Wir ha ben keine Verbindung mehr mit dem Oberkommando. Auch von der Küstenverteidigung kommt nichts mehr herein.« Zhou drehte sich zu Hung um, seinem Bootsmann, der scheinbar teilnahmslos hinter ihm stand, »Was halten Sie davon, Bootsmann?« Hung nahm die zu Ende gerauchte Kippe aus dem Mund und warf sie über die Reling. »Ich glaube, die Yankees haben eingegriffen. Die GA könnten so etwas niemals allein schaf fen.« »Bestimmt haben Sie Recht, Hung.« Ein neues Geräusch tönte vom Himmel herab, ein tiefes Grollen, das rasch zu einem lauten Dröhnen anstieg. Es han delte sich eindeutig um Strahltriebwerke – und zwar noch viel stärkere als die der Marschflugkörper. Es folgten zwei don nernde Explosionen ein Stück weiter flussaufwärts, mitten in der Hudong-Schiffswerft. Brennende Trümmer wirbelten durch die Luft, und die Besatzungsmitglieder des Torpedo bootes duckten sich unwillkürlich, als die Druckwelle die Luft erzittern ließ. »Sollen wir einen Melder zum Flottenkommando schicken, Genosse Leutnant?«, fragte Hung ziemlich gelassen. Shan zögerte einen Augenblick und schüttelte dann zornig den Kopf. »Zum Teufel mit dem Flottenkommando! Wir ver schwinden von hier. Lassen Sie die Maschinen an und berei ten Sie alles zum Auslaufen vor. Sagen Sie den anderen, dass sie uns folgen sollen. Vielleicht können wir uns draußen auf dem Fluss nützlich machen.«
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»Zu Befehl, Genosse Leutnant«, antwortete Hung nicht ge rade begeistert. Weitere Bomben prasselten auf die Werft nieder. Der Fluss Huangpu war von den vielen Feuern blutrot erleuchtet, während das Torpedoboot sich in Bewegung setzte. Wie Hung schon gesagt hatte, es mussten die Amerikaner sein, und irgendwie spürte Zhou Shan, dass dieses Geisterschiff damit zu tun hatte. Es war zurückgekehrt und wartete da draußen in der hell erleuchteten Nacht auf ihn. Da gab es noch eine Rechnung zu begleichen.
Retailer Zero One Jangtse-Delta 28. August 2006, 01:40 Uhr Ortszeit Die beiden Sea-Comanche-Helikopter flogen unter einer Kup pel aus Feuerblitzen dahin. Die Geschosse der Flugab wehrstellungen jagten sowohl vom nördlichen als auch vom südlichen Ufer des großen Flusses zum Himmel empor. An den Leuchtspuren konnte man das Kaliber der Ge schosse erkennen. Die flackernden Lichtstreifen stammten von den leichten ZSU-23-Schnellfeuergeschützen. Die Ge schosse, die sich wie Perlen auf einer Kette auffädelten, ka men aus den Rohren der älteren 37-mm-Geschütze, während die stoßweise zu Zweien abgefeuerten Geschosse von den 57mm-Geschützen stammten. Die wirklich schweren halbautomatischen 85- und 100-Millimeter-Geschütze erzeugten überhaupt keine Leuchtspuren. Da war nur das kurze Aufflackern am Boden und dann der Blitz hoch am Himmel zu sehn, wenn die Granate mehr als 7000 Meter über der Erde detonierte. Dreimal sah Arkady auch die Leuchtspur einer SAM hochsteigen. Zum Glück schien bisher keine dieser tödlichen Waffen auf die beiden Hubschrauber zuzusteuern. Amandas Strategie ging offensichtlich auf. Niemand beachtete die beiden Fleder
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mäuse mit den Drehflügeln, die in dem allgemeinen Chaos angeschlichen kamen. »Nähern uns jetzt dem zweiten Wegpunkt, Lieutenant.« »Danke, Gus. Ich seh’s auch. Kurswechsel nach Backbord, gehe auf zwei-neun-null.« »Wir sind genau auf Kurs. Zero Two folgt uns.« Arkady er innerte sich rechtzeitig daran, nicht zur Bestätigung mit dem Kopf zu nicken. Er betrachtete die Umgebung im Moment mit den Augen des vorwärtsgerichteten Infrarot-Sensors. Jede Kopfbewegung übertrug sich augenblicklich auf das Drehge lenk der Kamera, die unter der Nase des Sea Comanche ange bracht war. Durch diese elektronisch gestützten Augen sah man die Welt so, wie sie sich aufgrund ihrer Wärmeabstrah lung darbot. Die dunkleren Formen waren kälter, die helleren wärmer. Feuer stellte sich in leuchtendem Weiß dar. Da waren mehrere dieser weißen Bereiche zu sehen, doch Arkady hielt vor allem nach zwei weißen Flecken Ausschau, die über dem Fluss auftauchen sollten. »Wir haben sie, Gus. Die Cruise-Missiles scheinen am Kai ganz schön aufgeräumt zu haben.‹‹ »Mir soll’s recht sein, Sir. Wir kommen jetzt in die Such zone.« »Roger.« Klick. »Zero Two, für Zero One. Wir sind da. Be ginnen Sie mit der MAD-Suche.« »Roger, Zero One. Wir beginnen jetzt.« Der hintere der beiden Sea Comanche scherte aus und flog zur Mitte des Flusses hinaus, wobei er langsamer wurde, um auf Suchgeschwindigkeit zu gehen. Auch Arkady reduzierte die Geschwindigkeit seiner Maschine und ging in 15 Meter Höhe in den Schwebeflug. »MAD aktivieren, Gus. Die Jagd beginnt.« »Wird gemacht, Sir. MAD ist aktiv.« Jedes größere Gebilde aus Metall, sei es eine Eisenerzlager stätte, eine Autokarosserie oder der Rumpf eines Schiffes, ruft eine Störung im Erdmagnetfeld hervor. Aus geringer Entfer nung kann eine Kompassnadel dadurch vom magnetischen Nordpol abgelenkt werden. Auf größere Entfernungen kann dieses Phänomen mit Hilfe eines so genannten Magnet
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anomalie-Detektors festgestellt werden. In relativ seichten küstennahen Gewässern stellt das MAD-System die wichtigs te Waffe des U-Boot-Jägers dar. Der Nachteil dabei ist, dass man für eine MAD-Suche über längere Zeit sehr tief, geradeaus und langsam fliegen muss. »Das wäre peinlich, wenn sie uns ausgerechnet jetzt ent decken würden«, murmelte Arkady vor sich hin. »Haben Sie etwas gesagt, Lieutenant?« »Negativ, Gus. Bleiben Sie dran.« Bisher gab es keinen Hinweis darauf, dass man die beiden Hubschrauber aufgespürt hatte. Arkady machte sich im Au genblick auch keine allzu großen Sorgen, dass man sie mittels Radar oder visuell entdecken könnte. Aber wenn die Luftan griffe aufhörten, bevor sie das Unterseeboot gefunden hatten, dann wären die chinesischen Abwehrkräfte nicht mehr ge bunden und würden fast zwangsläufig früher oder später auf sie aufmerksam werden. Wenn das geschah, dann konnte es hier draußen bald ziemlich spannend werden. Vor der Minensperre war das Wüten der Flammen nur als flackernder Lichtschein am Himmel zu erkennen, und das Kra chen der Detonationen klang wie der ferne Donner eines Som mergewitters. Die Cunningham zog langsam ihre Kreise und wartete auf den richtigen Zeitpunkt für den nächsten Schritt. »Capt’n.« Amanda drehte sich auf der Brückennock um. »Was gibt’s, Stewart?« »Wir haben gerade eine Meldung von der Gefechtszentrale bekommen«, berichtete der Wachoffizier. »Die beiden Hub schrauber sind auf ihren Positionen und haben mit der Suche begonnen.« »Sehr gut.« Der Wachoffizier zögerte einen Moment lang im Luk zur Brückennock und blickte nach Südwesten hinaus, wie Amanda es zuvor getan hatte. »Glauben Sie, dass die Sache funktionieren wird, Capt’n?« »Davon bin ich ausgegangen, als ich mir den Plan aus dachte.«
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Sie entfernte die Schutzhülle von dem Brückennock-Bildschirm und rief den Zeitplan für die Operation auf. »Bis jetzt läuft alles planmäßig. Die Marschflugkörper sollten inzwi schen angekommen sein. Von jetzt an liegt es bei den Flugzeu gen, die chinesischen Stellungen zu beschäftigen.« »Diese Frau macht mich noch wahnsinnig, Bub. Wir sind jetzt über der Küste am Wegpunkt Golf. Beginne mit Zielan flug.« »Alles klar für Zielanflug. Kurs zwei-neun-null. Also, ich kann dir genau sagen, was du tun sollst.« »Ich höre, Lieutenant Zellerman.« Die Dunkelheit unter Moondog 505 begann sich allmählich zu verändern, während die Sea Raptor die Küste erreichte und in nordwestlicher Richtung landeinwärts flog. So wie die Cruise-Missiles zuvor, schwärmten nun auch die Jagdbomber aus, um ihre Ziele aufs Korn zu nehmen. In genau festgeleg ten Intervallen schwenkten sie aus allen Richtungen auf Shanghai ein, so dass zu keiner Zeit zwei Maschinen gleich zeitig aus derselben Richtung die Stadt überflogen. »Also wirklich, Dig, du hättest mit der Frau schon längst einmal Klartext reden sollen.« Die beiden Flieger achteten kaum auf die persönlichen Dinge, die sie zwischendurch immer wieder besprachen. Es war nichts weiter als eine mentale Stütze, zu der sie instinktiv griffen, ein Gegenpol zu der Anspannung, die immer mehr wuchs, je näher sie dem Ziel kamen. »Ja, aber ich fürchte, dass sie dann ihre Koffer packt und ab haut. Wie sieht’s mit den Anzeigen aus?« »Alles klar so weit. Keine taktisch relevanten Suchsysteme aktiv. Immer wieder mal bekomme ich Zielsuchsignale he rein, aber die Kerle haben bisher nichts entdeckt. Die Shang haier Sektorenverteidigung ist außer Gefecht.« »Okay. GPU-Check?« »Waffen- und Flugzeug-GPUs sind aufeinander abge stimmt. Sieht gut aus, Dig.« »Okay, wir nähern uns Wegpunkt Hotel. Zeitplan?« »Alles genau nach Plan.«
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»Okay, Bub. Gleich ist es so weit. Erreichen Waypoint Hotel in drei … zwei … eins … Kursänderung nach Steuerbord. Neuer Kurs null-eins-null.« Draußen wanderten die Sterne vorüber, während das Flug zeug nach Norden abdrehte. Die Nase des riesigen Jagdbom bers zeigte in Richtung der Rauchwolken am Horizont. Das Signalfeuer einer brennenden Stadt. »… Null-eins-null. Sind auf Kurs.« »Bestätigt. Entfernung zum Ziel 54 Kilometer. Also, Digger, entweder du verlässt die Navy, oder du sagst deiner Frau ge radeheraus, dass du bleibst, egal was passiert.« »Ja.« Digger Graves ließ sich tiefer in den Schleudersitz sei ner Maschine sinken. Die Flammen von Shanghai rückten näher. »Wir können nicht die ganze Nacht hier draußen bleiben, Gus. Der Kerl muss doch irgendwo sein.« »Ja, aber da ist auch noch ein ganzer Haufen anderes Zeug – der ganze Dreck, der seit der Ming-Dynastie in den Fluss ge spült wurde. Auf dem Grund muss es aussehen wie in einem Mülleimer!« »Uns interessiert nur das eine Boot, sonst nichts.« Wieder einmal waren Instinkt und Gespür gefragt. Gus Grestovitch konzentrierte sich ganz auf die kräuselnden Wel len grünen Lichts, die über das Display tanzten. Mehrere Male dachte er schon, er hätte einen Kontakt entdeckt – doch jedes Mal hinderte ihn ein Gefühl, das er nicht näher beschreiben konnte, es dem Piloten zu melden. Das MAD-System sagte ›vielleicht‹, doch sein Instinkt sagte Nein. Trotz all der Hightech-Hilfsmittel, die sie einsetzten, kam es letztlich doch wieder auf den Instinkt an. Es war dies ein Plus punkt, den der Mensch immer gegenüber der Technologie ha ben würde, und mochte diese noch so hoch entwickelt sein. Ein weiterer Grund, warum man Menschen in der Krieg führung nie zu bloßen Zuschauern wird degradieren können; auch wenn es manchmal schon fast den Anschein hatte. Erneut erschiene eine breite Zacke auf dem Display. Sie un terschied sich kaum von den anderen, die Grestovitch zuvor
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bereits wahrgenommen hatte – nur dass ihn diesmal dabei ein anderes Gefühl überkam. »MAD-Kontakt! Wir haben einen handfesten Kontakt!« »Ich gehe auf Schwebeflug!«, antwortete Arkady und zü gelte den Hubschrauber, als wäre er ein gut trainiertes Pferd. »Was haben Sie gefunden, Gus?« »Einen größeren Kontakt, Lieutenant. Er muss direkt unter uns sein.« »Überprüfen Sie ihn«, wies Arkady ihn an. »Aber rasch, die Zeit wird langsam knapp.« »Aye aye.« Rasch verschob Grestovitch die MAD-Anzeige auf einen anderen Bildschirm und rief dafür auf dem Hauptbildschirm das Display des Tauchsonars auf. »Tauchsonar ist bereit.« »Roger. Bleibe im Schwebeflug. Tiefe laut Karte 40 Meter. Dom ab auf 30 Meter.« »Wird gemacht. Dom ist unten.« Ein dünnes Kevlar-Koaxialkabel begann sich von der Spule der leichten Tauchsonar-Anlage zu lösen, die am BackbordStummelflügel angebracht war. Rasch drang der Sonardom in die Wellen ein, die vom Rotorabwind des Helikopters aufge wühlt wurden. Im hinteren Cockpit des Hubschraubers wartete Gresto vitch gespannt darauf, dass entsprechende Geräusche über den Kopfhörer hereinkamen. Er erschrak, als er plötzlich ei nen ohrenbetäubenden Knall vernahm. Im nächsten Augen blick konnte er alles ganz deutlich wahrnehmen: Da war das summende Pochen und Dröhnen von Pumpen und Motoren, da waren allerlei metallische Geräusche und schließlich auch das unverkennbare Gemurmel menschlicher Stimmen. »Gus, ist der Kerl da unten?« »Das will ich meinen, Sir! Wir haben ihm den Sonardom di rekt auf die Birne geknallt!« »Gray Lady, wir haben den gesuchten Kontakt!« Der Funk spruch ließ alle Anwesenden im CIC hochfahren. »Es besteht nicht der geringste Zweifel!«
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»Brücke – CIC«, meldete Ken Hiro, »Retailer Zero One hat …« »Wir haben es gehört, Ken«, unterbrach ihn Amanda Gar retts gedämpfte Stimme. »Beginnen Sie den Einsatz wie ge plant.« »Aye aye, Capt’n. Alle Stationen, EMCON brechen. AegisSystem-Manager, Radar einschalten. Mr. Beltrain, legen Sie los.« »Aye, aye, Sir.« Dies war Dix Beltrains großer Augenblick. Er und sein Team hatten diese Situation Dutzende Male anhand von Computer-Simulationen trainiert. Nun war der Moment gekom men, um die scharfen Waffen einzusetzen. »V-ROC- und SLAM-Team, klarmachen zum Einsatz. V ROC, Sie feuern als Erste.« Beltrain nahm Funkverbindung mit den Hubschraubern auf. »Zero One, Zero One. Vince, hier spricht Dix Beltrain. Wir fixieren jetzt den Bezugspunkt. Bitte helfen Sie uns kurz mit Ihrem IFF-Transponder.« »Verstanden, Dix. Radar ist bereit. Drei… zwei… eins …« Auf dem Alpha-Bildschirm legte sich ein Radar-Display über die Karte des Jangtse-Deltas und der umgebenden Küs te. Plötzlich erschien auf dem südlichen Arm des Deltas ein Zielsymbol. Der IFF-Transponder für Freund/Feind-Kennung, den der Sea Comanche einsetzte, unterstützte die Ra darsuche des Zerstörers. »Wir haben den Bezugspunkt!«, meldete der Aegis-SystemLeiter. Die Duke hatte die Position des Unterseebootes fixiert. Was jetzt noch fehlte, war dessen Versenkung. »Yeah! V-ROC-Systeme, überprüfen Sie, ob wir eine volle Ladung V-ROCs einsatzbereit haben.« »Jawohl, Sir. Die Vögel sind startklar!« »Nehmen Sie den Bezugspunkt ins Visier. Klarmachen zum Feuern. Vince, nichts wie raus aus der Gegend!« 12 Seemeilen weiter westlich rief Arkady über die Schulter zurück; »Sie haben den Mann gehört, Gus! Dom hoch!« »Dom wird eingeholt, Sir. Der Bursche klingt ganz so, als würde er sich aus dem Staub machen wollen.«
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»Das werden wir nicht zulassen. Retailer Zero Two, können Sie mich hören?« »Wir hören Sie, Retailer Zero One.« »Brechen Sie die Suche ab und setzen Sie sich nach Osten ab. Sofort!« »Roger.« Der Sea Comanche schwankte ganz leicht, als der Sonar dom in der Halterung einrastete. »Dom ist oben, Lieutenant.« »Okay.« Arkady drehte den Helikopter mit einem Tritt ins Pedal des Seitenruders um die eigene Achse und beschleunigte, um so rasch wie möglich aus dem Zielgebiet zu verschwinden. Zero Two folgte ihm einige Augenblicke später. »Gray Lady, Gray Lady, wir haben das Zielgebiet verlassen. Sie können jetzt feuern!« »V-ROCs, Feuer freu« In Intervallen von einer Sekunde schossen vier VerticalLaunch-Anti-Submarine-Rockets von den SenkrechtstartRampen der Cunningham und jagten, von orange aufleuchten den Startraketen getrieben, auf ihre fernen Ziele zu. Die U-Jagd hatte sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte grundlegend gewandelt. In früheren Zeiten waren die großen Jäger der sowjetischen Unterseeboot-Flotte, denen man über all auf hoher See begegnen konnte, der erklärte Feind gewe sen. Danach hatte sich die Bedrohung mehr in die Küstenbe reiche verlagert. Vor allem Dritte-Welt-Länder stützten sich auf das mo derne dieselelektrische Unterseeboot, um so auf relativ kos tengünstige Weise ihre Flotte aufzurüsten. Diese technisch hoch entwickelten und nahezu geräuschlosen Fahrzeuge bil deten eine Art ›mobiles Minenfeld‹ und stellten so jederzeit einen ernst zu nehmenden Gegner dar. Eine neue Generation von Waffen wurde notwendig, um mit dieser Bedrohung fertig zu werden, die überall in seichten Gewässern lauern konnte. Eine dieser Waffen war die V-ROC L (Littoral), die extra für den Einsatz im Küstenbereich kon
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struiert worden war. Statt des Mark-50-Torpedos, mit dem die Standard-Waffe bestückt war, verfügte die V-ROC L über ei nen Satz Miniatur-Wasserbomben, die in Gestalt und Wir kung eine gewisse Ähnlichkeit mit den Hedgehog-Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg aufwiesen. Als die Startstufen ausgebrannt waren, erreichten die vier V-ROCs den Gipfel ihrer parabolischen Flugbahn. Sie schwenkten auf ihr Ziel ein und stießen im geeigneten Mo ment ihre Bombenladung aus dem Gefechtskopf ab. Zehn Bomben pro Rakete, das machte 40 Bomben insgesamt, die in einem genau festgelegten Muster ins Wasser einschlugen. Sie bildeten ein Netz, mit dem man selbst den dicksten Fisch hätte fangen können. Östlich des Zielgebiets waren die beiden Hubschrauber wieder in den Schwebeflug gegangen, um die Einschläge zu beobachten. Durch seine Nachtsichtbrille verfolgte Arkady, wie die Wasseroberfläche von den vielfachen Einschlägen aufgewühlt wurde. Die Hubschrauberbesatzungen hielten den Atem an, als die Bomben in die Tiefe sanken. Die Waffen waren so ein gestellt, dass sie nur bei Kontakt mit einem U-Boot-Rumpf de tonieren würden. Zwei schmale Wassersäulen schossen aus dem aufgewühl ten Gewässer hoch. »Ja! Gus, Dom ab. Ich will sehen, ob wir den Kerl erwischt haben. Gray Lady! Gray Lady! Melde Einschlag und Detona tion der Waffen! Zwei Treffer! Wir versuchen, eine Bestäti gung für den Abschuss zu bekommen.« »Verstanden, Retailer Zero One«, hörte er Amandas Stimme im Kopfhörer. Wenn sie in diesem M oment ein Gefühl des Triumphs empfand, so ließ sie es sich jedenfalls nicht an merken. »Halten Sie Ihre Position. Wenn wir ihn getroffen ha ben, wird er bald versuchen, aufzutauchen.« Gus Grestovitch unterbrach das Gespräch. »Lieutenant, deutliches Geräusch aus der Richtung des Zieles. Das Unter seeboot bläst die Tauchzellen an!« »Gray Lady! Wir haben ihn! Er kommt hoch!« Mitten im Zielgebiet tauchte der Turm eines Unterseeboo
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tes aus dem Wasser auf. Von seinem langen Aufenthalt am Grund des Flusses mit Schlamm bedeckt, hob das Xia schwer fällig den Kopf aus dem Wasser, wie ein Dinosaurier, der nach ewigen Zeiten aus seinem Versteck in der Tiefe auftaucht. »Da kommt er! Gray Lady, wir haben Sichtkontakt zum Ziel! Wir haben ihn erwischt! Ich wiederhole, wir haben den Boomer erwischt!« Auf der Brücke der Cunningham klang der Jubel um einiges gedämpfter; eine Faust schlug erleichtert auf den Kartentisch ein, hier und dort atmete jemand hörbar auf. Amanda beugte sich auf ihrem Sessel vor und hielt das Mi krofon nahe an die Lippen. »Retailer Zero One, wie ist der Sta tus des Ziels?« »Es hält sich stabil an der Oberfläche. Wir haben das Boot getroffen, aber nicht erledigt.« »Halten Sie sich bereit, Retailer Zero One.« Sie hatten den Wal mit ihrer Harpune getroffen. Jetzt galt es, ihm den Todesstoß zu versetzen. »Taktik-Offizier.« »TACCO, aye.« »Bringen Sie die Sache zu Ende, Dix. Sie wissen, was zu tun ist. Sie können ihn gar nicht verfehlen!« »Startsysteme sind bereit, Sir.« Dix Beltrain beugte sich über die Schulter des Sea-SLAMOperators. »Lenken Sie die Waffe manuell ins Ziel«, wies er den Operator an. »Jawohl, Sir.« »Und nicht vergessen, wir müssen ihn vor dem Turm tref fen! Wenn es nicht richtig funktionieren sollte, brechen Sie vorzeitig ab.« »Ich weiß, Sir«, antwortete der Systemoperator in einem Ton, der gerade so gelangweilt klang wie ein First Gunners Mate es sich gegenüber einem Lieutenant erlauben konnte. »Okay, Feuer.« Im Arsenal der ›intelligenten Waffen«, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts eingesetzt wurden, war die Sea-SLAM zweifel
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los eine der herausragendsten. Besonders wenn sie, wie in diesem Fall, von Menschenhand ins Ziel gesteuert wurde. Sobald sie aus ihrer Startzelle abgeschossen wurde, breitete die modifizierte Harpoon-Rakete ihre kreuzförmigen Flügel aus und folgte derselben Flugbahn wie eine V-ROC. Wenn sie den Scheitelpunkt ihrer Flugbahn erreichte, wurde das Infrarot-System in der Nase aktiviert, das sich mit seinem SuperAdlerauge ein Bild von der Umgebung des Jangtse machte; ein Bild das zur Basisstation an Bord der Cunningham übertra gen wurde. An diesem Punkt trat der SLAM-Operator auf den Plan. Mit seiner Joystick-Steuerung übermittelte er via Datenlei tung seine Steuerbefehle an die Lenkwaffe und führte sie di rekt ans Ziel, so wie man ein Modellflugzeug mittels Fern steuerung durch die Luft lenkt. Der Unterschied bestand darin, dass dieses ›Modellflugzeug‹ eine Vierteltonne Spreng stoff mit sich führte und schnell wie eine Pistolenkugel dahin raste. Die Sache hatte nur einen Haken: Der Treffer sollte an ei nem ganz bestimmten Punkt erfolgen. Die Sea-SLAM musste im Bereich vor dem Turm einschlagen – und zwar weit genug hinten, um die Feuerleitzentrale zu treffen und das Boot zum Sinken zu bringen, aber nicht so weit hinten, dass die Mittel streckenraketen auf ihren Abschussrampen betroffen waren. Wenn auch nur eine der scharfen Ju-Lang-II-Raketen des Unterseebootes getroffen wurden, konnte dies eine beträchtli che atomare Explosion zur Folge haben, zumindest aber zur Freisetzung von hoch radioaktivem Plutonium führen, was die Jangtse-Mündung für die nächsten 50 000 Jahre verseu chen würde. Das Schicksal einer der größten Hafenstädte der Welt lag nun in den Händen eines zwanzigjährigen amerikanischen Seemanns aus Mead, Kansas. Im Fadenkreuz auf dem SLAM-Kontrollbildschirm wuchs das Ziel binnen weniger Sekunden von einem dunklen Blei stiftstummel, der im blassgrünen Wasser trieb, zu einer Zi garre und schließlich zu einem riesigen schwarzen Gebilde an. Mit seiner Joystick-Steuerung führte der Systemoperator die
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Nase der Rakete nach unten, so dass sie auf den Punkt vor dem Turm des Unterseebootes zusteuerte, den es zu treffen galt. Im nächsten Augenblick war der Bildschirm hell erleuchtet. Flussaufwärts im Jangtse-Delta war die Sea-SLAM ohne Vor warnung herangeschossen, denn ihr Mantelstromtriebwerk zog keine Flammenspur hinter sich her. Der Fluss wölbte sich unter dem Vorderende des Untersee bootes auf und hob die stumpfe Nase mit sich in die Luft. Fast wie in Zeitlupe brachen der Bug und der Turm weg. Dann be gann sich der Hauptteil des Rumpfes schwerfällig wie ein vollgesogener Baumstamm im Wasser zu wälzen. Im näch sten Augenblick sank das Unterseeboot in sein seichtes Unter wassergrab hinunter und die Wasser des Jangtse strömten durch die durchbrochenen Schotts herein, »Ja!«, tönte Vince Arkadys Stimme aus den Lautsprechern auf der Brücke. »Guter Schuss! Das U-Boot ist außer Gefecht! Ich wiederhole, das Unterseeboot ist außer Gefecht!« Irgendwo hinter Amanda klatschte eine Hand auf den Kartentisch, und aus dem CIC drang ein Jubelschrei über Bordfunk herauf. Amanda neigte nur kurz den Kopf zurück und schloss die Augen in stiller Dankbarkeit. Dann aktivierte sie ihr Mikro fon. »Verstanden, Retailer Zero One. Das Unterseeboot ist außer Gefecht. Kehren Sie so schnell wie möglich zum Schiff zurück. Ich wiederhole, kehren Sie so schnell wie möglich zum Schiff zurück.« »Verstanden.« Amanda schaltete auf Bordfunk um. »Funkraum, setzen Sie folgenden Spruch ans Flaggschiff ab …« »Admiral, eine Nachricht von der Cunningham! ›Der Drache ist tot. Aufgabe ausgeführt. ASW-Einheiten kehren zurück.‹« Gedämpfter Jubel und Applaus erhob sich in der Flugleitung der Enterprise. Admiral Tallman stieß triumphierend die Faust empor. »Gratuliere, Jake«, sagte MacIntyre und klopfte dem TaskForce-Commander auf die Schulter.
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»Ja, alles recht und schön, Eddie Mac. Aber jetzt heißt es, sie alle wieder heil nach Hause zu bringen.« Tallman wandte sich seinem Air Boss zu. »Status des Ab lenkungsangriffs, Commander?« »Der letzte Vogel hat gerade seinen Auftritt.« »Okay, noch zwei Minuten, dann ist alles vorüber.« Bubbles Zellerman starrte auf ihren Zielbildschirm wie eine Wahrsagerin in ihre Kristallkugel. Moondog 505 folgte den elf anderen Maschinen der Staffel, die allesamt das Ihre zur Mis sion beigetragen hatten. Ihr Ziel war die Hudong-Schiffswerft, jene Anlage, in der das Xia- und die beiden Jagd-Unterseeboote zu neuem Leben erweckt worden waren. Es war ein logisches Ziel. Der Angriff auf die Werft würde die Aufmerksamkeit der Verteidiger von den Ereignissen ablenken, die sich einige Kilometer weiter nördlich auf dem Jangtse abspielten. Außerdem war dadurch gewährleistet, dass keine weiteren atomgetriebenen Schlan gen aus diesem Loch kriechen konnten. Bubbles beobachtete das Ziel mit Hilfe des FLIR-Systems des Jagdbombers. Sie hätte es fast genauso gut visuell verfol gen können, denn in der Umgebung erhellten mehrere Brän de die Dunkelheit. Eine ganze Reihe von Kränen, Lagerhäu sern und Maschinenfabriken waren bereits von Bomben getroffen worden und brannten lichterloh. Die Schleusen des Trockendocks waren zerstört, so dass die ganze Anlage über flutet war. Ein Unterseeboot der Romeo-Klasse war halb aus dem Wasser gehoben worden und lag schwer beschädigt auf dem Kai. Brennendes Öl aus den Tanks des Bootes floss in den Huangpu und breitete sich langsam flussabwärts aus. Dabei entzündete es jeden der Piers, an denen es vorüberkam, als wären es Kerzen auf einer Geburtstagstorte. Das ganze riesige Trockendock brannte lichterloh. Die Flammen brachen aus Dächern und Türen hervor – und das entlang einer Strecke, die der halben Breite des Flusses ent sprach. Das Inferno musste durch brennende Raketentreib stofftanks verursacht worden sein. Wahrscheinlich war noch ein weiteres strategisches Atom-Unterseeboot hier im Dock
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verborgen gewesen. Bubbles hoffte um all der Menschen in der Umgebung willen, dass diese Narren ihre nuklearen Ge fechtsköpfe irgendwo anders aufbewahrten. »Okay, Bubbles«, ertönte Diggers ruhige, fast teilnahmslos klingende Stimme. »Entfernung 16 Kilometer zum Ziel, sie ben Kilometer vor dem Abwurfpunkt. Bitte überprüfen.« »Bestätige: Wir sind genau auf Kurs.« »GPU-Check?« »Checks durchgeführt. Alles in Ordnung. Waffen sind ein satzbereit. Intervelometer auf 0,5.« »Sieht gut aus. Noch drei Kilometer. Abwurf einleiten.« Bubbles drückte auf ihrer Waffenkonsole den Knopf, mit dem das Feuerleitsystem des Jagdbombers aufgefordert wurde, das Ziel aufs Korn zu nehmen. Sie entfernte die Si cherheitskappe von dem manuellen Auslöser an ihrem Joy stick und ließ den Finger darauf ruhen. »System ist klar.« Es wurde still im Cockpit. Nichts war zu hören außer dem leise summenden Heulen der beiden Triebwerke des Jagd bombers. Doch draußen war immer noch die Hölle los. Über all unter Moondog 505 zischten Leuchtspurgeschosse durch die Luft, während über der Maschine die Granaten der schwe ren Flugabwehrgeschütze detonierten und wie Blitze zwi schen den Wolken zuckten. Moondog 505 jagte mit hoher Geschwindigkeit in einer Höhe von über 5000 Metern zwischen den beiden Gefahren hindurch – zu hoch, um von den leichten Flak erreicht werden zu können, und zu niedrig für die mit Annäherungszündung arbeitenden Geschosse der schweren Geschütze. Der Jagdbomber strich in nördlicher Richtung nahezu zen tral über Shanghai hinweg. Die Feuer der Hudong-Schiffswerft befanden sich nun in seiner Ein-Uhr-Position. Digger und Bubbles mussten sich nicht erst die Mühe machen, ihr Flugzeug oder ihre Waffen genau auf das Ziel auszurichten. Die Bomben würden das selbst erledigen, sobald die Zeit dazu gekommen war. Moondog 505 bockte zweimal ganz leicht. Die Lichtmuster der Waffenanzeige änderten sich.
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»Bomben los«, meldete Bubbles mit leiser Stimme. Die Waffen, die vom Jagdbomber abgeworfen wurden, tru gen einen nicht ganz leicht auszusprechenden Namen: JDAM/CSV, was so viel bedeutete wie »Joint Direct Attack Munitions System/Conformal Stealth Variant«. Mit derselben Tarnschicht versehen wie das Flugzeug selbst, saßen die Bom ben unter den Flügeln, während sie vom Flugzeug in Reich weite des Ziels transportiert wurden. Nun, im freien Fall, nah men sie die letzte Etappe ihrer Reise in Angriff. Sie breiteten ihre Leitflächen und Tragflügel aus und schos sen, von ihren Global Positioning Units gesteuert, auf ihr Ziel zu. Die gleiche Satellitentechnologie, die auch Verkehrsflug zeuge und verirrte Wohnmobile ans Ziel führte, diente nun dazu, die beiden tonnenschweren Sprengladungen an ihren Bestimmungsort zu geleiten. Anvisiert wurden zwei ganz be stimmte Punkte im zweiten Stockwerk des Hauptverwal tungsgebäudes der Schiffswerft, jeweils 16 Meter innerhalb der nördlichen bzw. der südlichen Mauer. Moondog 505 erreichte nun das Zielgebiet. Bubbles Zeller man hielt das FLIR-System auf das Verwaltungsgebäude ge richtet und nahm alles auf, was sich unter ihr abspielte, damit man hinterher die von der Bombe angerichteten Schäden ana lysieren konnte. »Drei … und zwei … und eins«, murmelte sie. Auf dem Bildschirm war zu sehen, wie aus den Fenstern des Südflügels Flammen und Rauch nach außen drangen, ehe der ganze Gebäudeteil einstürzte. Der zentrale Teil des Bau werks folgte nur einen Augenblick später. Kein schlechter Treffer, dachte Bubbles bei sich. Nicht per fekt, aber sicher nicht schlecht. »Bombe hat eingeschlagen«, hörte Digger Graves seine Waf fensystemoffizierin melden. »Volltreffer!« »Roger. Dann nichts wie weg hier!« Digger drückte den Steuerknüppel nach rechts und ver stärkte den Druck auf das rechte Seitenruderpedal. Moondog 505 drehte sanft nach Osten ab. Mit Hilfe der HOTAS-Kontrollen erhöhte der Pilot die Leistung, um die Maschine zu be
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schleunigen. Die Fliehkräfte wurden immer stärker, und das Flüstern der Triebwerke schwoll zu einem Dröhnen an, als der Jet sich der Schallgeschwindigkeit näherte. Jenseits der rechten Tragfläche war der letzte Schimmer ei nes Feuers auf dem Jangtse zu sehen. In wenigen Sekunden würden sie die chinesische Küste überfliegen und wieder das Meer unter sich haben. Es war eine Verkettung unglücklicher Umstände. Das Ge schoss war nicht einmal auf Moondog 505 gezielt gewesen. Es war eine 100-mm-Granate, die ein Geschütz mehr als acht Ki lometer entfernt blind in den Himmel gefeuert hatte. Aus ir gendeinem Grund war die Granate am Gipfel ihrer Flugbahn nicht detoniert, und gerade als sie wieder nach unten schoss, kam ihr der Jagdbomber in den Weg. Sie berührte die Ma schine nur ganz leicht am Backbord-Höhenruder. Zum Glück verlor Digger Graves nur für wenige Sekunden das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, schien rund um ihn alles drunter und drüber zu gehen. Moondog 505 stürzte taumelnd durch die Luft. Er riss den Steuerknüppel zurück, um die Maschine zu stabilisieren, musste aber feststellen, dass so gut wie alle Anzeigen ausgefallen waren. Die wenigen noch intakten Instrumenten-Displays zeigten rot und gelb blinkende Warnlichter. Auf der Kabinenhaube züngelten orangefarbene Flammen, und Graves hörte das Ächzen von berstendem Metall. Es bestand kein Zweifel, dass ihre Zeit in diesem Flugzeug abgelaufen war. »Raus hier!«, schrie er. »Raus, raus!« Digger griff nach dem Handgriff, der über ihm angebracht war, um den Schleudersitz zu betätigen. Er bemühte sich, eine aufrechte Haltung einzunehmen und sich möglichst zentral auf dem Sitz zu halten, ehe er den Mechanismus mit einem Ruck betätigte. Die Cockpithaube wurde fortgeschleudert, und ein orkan artiger Wind pfiff herein. Digger hörte gerade noch den Knall der Explosionsladung, durch die Bubbles’ Sitz nach oben ge schleudert wurde und spürte die Hitze des Raketenmotors, der für eine weitere Beschleunigung sorgte. Dann war er
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selbst an der Reihe, und Digger verlor zum zweiten Mal das Bewusstsein. Flussabwärts, fast schon in Höhe der Minensperre, erstarrte Vince Arkady, als er einen durchdringenden Ton vernahm. Es war ein elektronischer Piepton, der so schrill in seinem Kopf hörer erklang, dass man ihn unmöglich überhören konnte. Ein Ton, der stets Unheil bedeutete – das Notsignal einer verun glückten Flugzeugbesatzung. »Gray Lady, Gray Lady«, meldete sich Arkady. »Ich habe soeben ein Notsignal hereinbekommen. Habt ihr es auch gehört?« »Roger, wir haben es auch hereinbekommen«, antwortete Christine Rendino in Raven’s Roost. »Wir wissen auch schon, aus welcher Richtung es kommt. Moment … die Signalquelle liegt westlich von Ihnen. Flussaufwärts,« »Können Sie bestätigen, dass es sich um einen von uns han delt? Haben wir tatsächlich eines unserer Flugzeuge verlo ren?« »Moment, Retailer Zero One. Wir sind gerade dabei, es fest zustellen.« Amanda hatte auf der Brücke angespannt und schweigend zugehört. Sie aktivierte nun ihr Mikrofon. »CIC, versuchen Sie, ein Transponder-Echo von dem letzten eingesetzten Flug zeug zu bekommen. Informieren Sie das Flaggschiff, dass möglicherweise eines der Flugzeuge abgeschossen wurde.« »Admiral, die Cunningham meldet, dass Moondog 505 mögli cherweise abgeschossen wurde.« »Verdammt!«, rief Tallman betroffen aus. »Wann wurde die Maschine zurückerwartet?« »Sie sollte die Küste eigentlich schon hinter sich gelassen haben«, antwortete der Air Boss der Enterprise. »Dann versuchen Sie Kontakt mit ihr aufzunehmen«, wies Tallman ihn an. »Setzen Sie sich mit der E2D in Verbindung und sagen Sie ihnen, sie sollen versuchen, ein Echo vom Ra dartransponder der Maschine zu bekommen. Stellen Sie fest, ob Moondog 505 noch in der Luft ist oder nicht!«
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»Sir«, warf eine Funkerin von ihrer Konsole aus ein. »Ich bekomme soeben die Bestätigung, dass aus der angegebenen Richtung Notsignale kommen, Der LFF-Signalcode s timmt mit dem von Moondog 505 überein.« »Es ist also richtig«, sagte der Air Boss betroffen. »Wir ha ben einen von uns verloren.« »Verdammt noch mal!«, stieß Tallman hervor. MacIntyre teilte Tallmans Betroffenheit und seinen Zorn. Dies war der Albtraum, der jeden amerikanischen Komman deur seit dem Koreakrieg ständig verfolgte. Eine Flugzeug crew, die über Feindesland abgeschossen wird. Die verschie denen kriegführenden Mächte verlangten zwar stets von den USA, dass man sich an die geltenden Regeln der Kriegs führung hielt, doch manche von ihnen verfuhren mit abge schossenen amerikanischen Flugzeugen so, wie es ihnen ge rade in den Sinn kam. MacIntyre trat rasch an einen der Karten-Tische. »Haben wir schon die exakte Position der Signalquelle?«, fragte er. »Ich glaube schon, Sir«, antwortete der Air Boss und stellte sich neben MacIntyre an das Flat-Screen-Display. »Wir be kommen sie soeben von der Duke herein.« »Gut. Jake, komm doch mal und sieh dir das an.« »Was gibt’s, Eddie Mac?«, fragte Tallman und trat ebenfalls an den Bildschirm. »Die Lage ist nicht ganz so hoffnungslos. Schau mal, wo das Positionssymbol des Notsignals liegt. Deine Crew ist hier irgendwo über dem Jangtse-Delta runtergegangen. Sie müs sen im Wasser gelandet sein. Nur knapp, aber immerhin. Ich glaube, wir haben eine Chance, sie da rauszuholen.« »Eine Chance? Wir holen sie da raus! Und zwar sofort!« Das Erste, was Digger Graves bemerkte, war die Stille, die nur hin und wieder von einem flüsternden Geräusch unterbro chen wurde; es klang, als würde der Wind durch die Blätter wehen. Dann kam der Schmerz, der stechende Schmerz in der linken Schulter. Die Augen aufschlagend kam er ganz zu sich. Er hing in den Fallschirmgurten und über sich sah er den ausgebreiteten
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Fallschirm. Das Geräusch, das sich wie Wind in den Blättern angehört hatte, stammte von der Luft, die durch den Fall schirm pfiff. Und der Schmerz? Er war sich nicht sicher. Der Arm war jedenfalls noch dran, und es schien nichts zu bluten, aber irgendetwas mit seiner Schulter war nicht in Ordnung. Vielleicht hatte er sie sich beim Absprung aus dem Schleuder sitz ausgekugelt. Sein nächster Gedanke galt seiner Kameradin. Er drehte sich in seinen Gurten herum und schickte so etwas wie ein stilles Stoßgebet zum Himmel, dass da noch ein zweiter Fall schirm irgendwo in der Luft wäre. Sein Wunsch erfüllte sich. Bubbles’ Fallschirm pendelte rechts über ihm. Durch ihr geringeres Gewicht sank sie langsamer zu Boden. Beide Fallschirme tauchten in völlige Dunkelheit hinunter; die nächstgelegene Brandstelle schien ein ganzes Stück entfernt zu sein. Digger hatte den starken Verdacht, dass die Einheimischen keine große Freude haben würden, sie beide hier anzutreffen. Er versuchte festzustellen, wie viel von seiner Fluchtaus rüstung er noch bei sich hatte. Das meiste schien noch da zu sein; der Nottransponder und das Such- und Bergungsfunk gerät waren zum Glück dabei. Das kleine Kontrolllicht am Transponder leuchtete bereits; er war also durch die Erschüt terung beim Absprung aktiviert worden. Die Überlebensaus rüstung sowie das Rettungsfloß waren ebenfalls noch da; bei des baumelte sechs Meter unter ihm an einer Leine. Mit der rechten Hand griff er nach oben und zerbrach die innere Kapsel des Infrarot-Leuchtstifts an seiner Schwimm weste. Es ging kein sichtbares Licht davon aus, doch auf ei nem FLIR-Sensor würde das Signal für mehrere Stunden gut zuerkennen sein. Plötzlich spürte er einen jähen Ruck an der Leine mit der Überlebensausrüstung. Durch die Dunkelheit und seine leichte Benommenheit hatte er die Höhe falsch eingeschätzt. Er erschrak und stieß einen Fluch aus, als er auch schon im Wasser landete. Er sank tief hinunter, ehe die Schwimmweste sich aufblies und ihn wieder an die Oberfläche trug, wo er würgend und
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hustend das faulig schmeckende Wasser ausspuckte. Es ge lang ihm, sich von den Fallschirmgurten zu befreien, dann nahm er den Helm ab und blickte sich um. Einige Meter ent fernt landete eine zweite geisterhafte Wolke aus weißem Ny lon im Fluss. »Bub! Hey, Bub?« Es kam keine Antwort. Mit ungeschickten Bewegungen, von der Verletzung und der umfangreichen Ausrüstung behindert, versuchte er zu ihr zu schwimmen. Er stellte jedoch bald fest, dass er ihr kaum näher kam, und so hielt er kurz inne und schnitt die Leine der Überlebensausrüstung durch. Überleben schön und gut, dachte er. Sie würden entweder von ihren Leuten hier rausgeholt werden oder in einem chinesischen Straflager enden. Schließlich bekam er ein Stück nasses Nylon zu fassen und zog Bubble Zellerman zu sich. Sie rührte sich immer noch nicht; entweder war sie bewusstlos oder tot. Verzweifelt befreite Gra ves sie von den Fallschirmgurten und dem Helm und fühlte den Puls an ihrem Hals. Und er spürte etwas, zwar schwach, aber immerhin. Mit einer Hand holte er die Rettungssignal leuchte hervor und verwendete sie kurz als Taschenlampe. Bubbles war tatsächlich bewusstlos. Blut troff ihr aus der Nase und aus einer Schnittwunde am Kinn, aber sie lebte. Er zog sie an sich, bis sie mit dem Rücken auf seiner Brust lag, und legte seinen gesunden Arm schützend um sie, während sie mit dem Strom trieben. »Ist ja gut, Bub«, flüsterte er heiser und blickte in die be drohliche Dunkelheit hinaus. »Sie holen uns hier raus.« »An alle Stormdragon-Einheiten, hier spricht das Flaggschiff. Wir bestätigen, dass eine Moondog-Maschine abgeschossen wurde. Wir bestätigen außerdem, dass die beiden Besatzungs mitglieder im Jangtse-Delta gelandet sind. Wir beginnen un verzüglich mit der Bergung. Ich wiederhole, wir beginnen so fort mit der Bergung. Alle CSAR-Einheiten gehen nach Einsatzplan Alpha Five vor. Panda Three Three, leiten Sie alle notwendigen Rettungs- und Bergungsmaßnahmen ein. Retai ler Zero One und Zero Two, Sie sorgen für die Sicherheit der
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Aktion. Cunningham, halten Sie sich vor dem Jangtse-Delta be reit, um jederzeit eingreifen zu können. Bestätigen Sie.‹‹ »Panda Three Three für Flaggschiff. Wir leiten alle notwen digen Bergungsmaßnahmen ein.« »Retailer Zero One und Zero Two für Flaggschiff. Wir ha ben gewendet und halten auf die Signalquelle zu.« »Cunningham für Flaggschiff. Wir halten uns vor dem Jangtse bereit.« Amanda drehte sich auf ihrem Sessel um und wandte sich an den Wachoffizier. »Mr. Freeman, Kurs auf die Mündung des Beicao-Hangdau-Arms. Wir gehen 500 Meter vor der Minensperre in Position.« »Aye aye, Capt’n.« »Gefechtszentrale, wir haben den Auftrag, eine Such- und Bergungsaktion auf dem Jangtse zu unterstützen. Halten wir die Augen offen. Wir müssen für die Sicherheit unserer Leute da draußen sorgen.« Amanda war erleichtert, dass ihre Stimme so ruhig und fest klang – denn tief in ihrem Inneren hätte sie am liebsten den Helm auf den Boden geknallt und ihre Besorgnis in die Nacht hinaus geschrien. »Wenigstens hat das verdammte Flak-Feuer aufgehört«, sagte Gus Grestovitch zu seinem Piloten. »Ja, und genau das macht mir Sorgen.« »Wieso das, Lieutenant?« »Niemand feuert mehr wild durch die Gegend. Da muss je mand den Befehl gegeben haben, das Feuer einzustellen. Die Schockwirkung ist wohl abgeklungen, und das Befehls- und Führungsnetz funktioniert wieder. Bestimmt werden sie sich schon bald dafür interessieren, was da draußen vor sich geht.« »Ja, gut möglich.« Retailer Zero One flog wieder flussaufwärts – auf der Route, der man zuvor schon gefolgt war. Doch der Gegen stand ihrer Suche war diesmal ein ganz anderer. »Gus, Sie übernehmen das FLIR-System. Ich seh’ mir die Sache auf dem Restlicht-Bildschirm an. Geben Sie Acht, ob uns jemand in die Quere kommen will.« »Aye aye, Sir. Welchen Waffen-Status wählen wir?«
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»Alle Systeme scharf und einsatzbereit. Durch die offenen Waffenschachtklappen vergrößert sich zwar unser Radar querschnitt, aber ich möchte schnell reagieren können, wenn es sein muss.« Der taktische Hauptkanal war immer noch von Transpondergeräuschen erfüllt, so dass Arkady auf den ande ren Kanal wechselte. »Gray Lady, für Retailer Zero One. Prüfen Sie bitte, ob ich noch auf Kurs bin?« »Retailer Zero One«, kam prompt Ken Hiros Antwort. »Sie sind genau auf Kurs. Die beiden sollten ganz in Ihrer Nähe sein.« »Roger.« Arkady änderte erneut die Frequenz und wechselte auf den CSAR-Kanal. »Moondog 505, Moondog 505, können Sie mich hören? Hier spricht Retailer Zero One. Sagt etwas, Leute, wir suchen nach euch.« Er nahm den Daumen vom Mikrofonknopf. Die Antwort ließ zum Glück nicht lange auf sich warten. »Retailer Zero One, hier Moondog 505.« Der Mann atmete offensichtlich schwer, doch seine Stimme klang fest. »Moondog 505, wie ist euer Status?«, fragte Arkady. »Wir schwimmen im Fluss, Retailer Zero One. Vielleicht 150 Meter vom Ufer entfernt. Meine Waffensystemoffizierin und ich sind beisammen. Sie ist bewusstlos, und ich bin ver letzt. Ich kann den linken Arm kaum bewegen.« »Irgendeine feindliche Aktivität in der Gegend?« »Ich kann jedenfalls nichts erkennen, Retailer Zero One.« »Wie sieht es in eurer Umgebung aus? Können Sie mir ir gendwelche Orientierungspunkte angeben? »Das sieht aus wie … zwei brennende Piers. Flussaufwärts, vielleicht einen knappen Kilometer entfernt.« Okay, das mussten die Kais sein, die die Marschflugkörper der Duke außer Gefecht gesetzt hatten. Arkady blickte fluss aufwärts und sah das Feuer. Sie waren tatsächlich im Zielge biet angelangt. »Moondog 505, hören Sie meine Rotoren?«
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»Ja, ich höre Sie flussabwärts. Wir haben Leuchtkugeln und Signallichter. Sollen wir euch ein Signal geben?« »Negativ, Moondog. Wir wollen die anderen nicht vor schnell auf uns aufmerksam machen. Haben Sie Ihre InfrarotStifte aktiviert?« »Ja.« »Das sollte genügen. Haltet aus, wir sind gleich bei euch.« Arkady ging mit dem Helikopter in den Schwebeflug. »Gus, suchen Sie den Fluss mit dem FLIR ab. Direkt vor uns. Es mussten aktive IR-Quellen im Fluss sein.« »Suche eingeleitet… ich hab’ sie. Zwei aktive Quellen dicht nebeneinander.« »Okay!« »Da sind auch feindliche Fahrzeuge am Ufer, ganz in der Nähe.« Fünf Seemeilen vor der Küste brauste Panda Three Three durch die Nacht. Der SH-60-Oceanhawk hatte unter dem Ho rizont des Küstenradars auf seinen Einsatz gewartet. Nun jagte der Hubschrauber mit Höchstgeschwindigkeit auf das Jangtse-Delta zu. Der Helikopter war speziell für solche Missionen ausgerüs tet. Die Konsole für die ASW-Systeme war ebenso entfernt worden wie das Tauchsonar und die Torpedo-Systeme. Dafür hatte man zusätzliche Treibstofftanks an Bord, eine Winde zur Bergung von Personen sowie ein schweres Maschinengewehr, das in der Kabinentür montiert war. Statt eines Waffensystem offiziers waren Rettungsschwimmer, ein MG-Schütze und ein Sanitäter an Bord. »Panda Three Three, Retailer Zero One.« »Ich höre Sie, Retailer Zero One.« »Wir haben die exakte Position der Moondogs. Sie sind im südlichen Arm des Deltas, einen Tick östlich von Weigaoqiao. Wir sind bereits über ihnen. Die Bergungszone ist zwar noch ruhig, aber das dürfte sich bald ändern. Kommt, so schnell ihr könnt.« »Wir sind mit Volldampf unterwegs, Retailer Zero One«, antwortete der Pilot von Panda Three Three. »In ca. acht Mi nuten sind wir bei euch.«
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Der CSAR-Pilot drehte etwas stärker am Leistungsregler des kollektiven Blattverstellhebels, um noch mehr Power aus den beiden T-700-Triebwerken herauszuholen. Es gab auf ei nem Flugzeugträger immer kleinere Spannungen zwischen dem Team der Starrflügler und dem der Drehflügler, aber es waren Spannungen innerhalb ein und derselben Familie. Nun steckten zwei von ihnen in Schwierigkeiten. Und da war es eine Frage der Ehre, sie rauszuholen. »Der Air Boss meldet, dass unsere Kampfhubschrauber bei den beiden Verunglückten sind, Sir«, berichtete Commander Walker mit leiser Stimme. »Die Luft ist immer noch rein und der Rettungshubschrauber ist unterwegs.« »So weit, so gut, Jake«, sagte MacIntyre und lehnte sich mit verschränkten Armen an den Kartentisch in der Flugoperati onszentrale. Tallman gab ein missmutiges Brummen von sich. »Viel leicht, Eddie Mac. Aber du weißt ja, wie es ist: Wenn einmal etwas danebengeht, dann kommt es oft gleich ganz dick.« Es gibt wohl keinen plausiblen Grund dafür – und dennoch wird der Albatros von Seeleuten seit jeher als böses Omen betrachtet. Über 940 Seemeilen westlich von seiner gewohn ten Nord-Süd-Wanderroute war dieser eine Vogel durch ein Sommergewitter von seinem Kurs abgedrängt worden. Laut los glitt er, seine drei Meter Flügelspannweite ausnützend, durch die Dunkelheit – in einem tranceartigen Zustand, der für ihn auf seiner monatelangen Odyssee so etwas wie Schlaf war. Der große Meeresvogel war so in sich versunken, dass er den anderen Vogel am Nachthimmel nicht bemerkte, der in hohem Tempo auf ihn zugerast kam. Ein Ausweichen war un möglich. Es blitzte weiß auf, und im nächsten Moment war der Aufprall da. »Was war denn das?«, rief der Kopilot von Panda Three Three erschrocken. »Keine Ahnung, Danny! Da ist irgendwas mit den Roto ren!«, rief der Commander zurück. Der ganze Hubschrauber
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vibrierte so heftig, dass man die Anzeigen der Instrumente kaum noch ablesen konnte. »Wir haben einen Rotorschaden.« »Verdammt! Benachrichtigen Sie das Flaggschiff, dass wir den Einsatz abbrechen! Und dann melden Sie der Cunning ham, dass wir gleich zum Notlanden rüberkommen!« »Skipper, da liegen zwei Leute im Fluss!« »Ja, und wir werden gleich die Nächsten sein, wenn wir nicht in spätestens zwei Minuten irgendwo landen können!« Der Kopilot sah, dass etwas an der Cockpitscheibe klebte. Er öffnete das Seitenfenster und wischte mit der Hand über die Stelle. Dann sah er im Licht der Anzeigen nach, was er auf dem Handschuh hatte. Da klebte Blut und noch etwas ande res: eine ziemlich zerzauste weiße Feder. »Oh, verdammt! Wir hatten einen Birdstrike mit einem Al batros!« Die Kälte des Wassers machte sich langsam bemerkbar. Weder Digger noch seine Waffensystemoffizierin hatten Kälteschutz kleidung angelegt, ehe sie zu diesem Einsatz aufgebrochen waren. Obwohl die Nacht relativ mild war, kroch ihm die Kälte allmählich in die Glieder. Digger hörte bereits seit einiger Zeit immer wieder Geräu sche, die über den Fluss hinweg zu ihm getragen wurden; of fensichtlich Lastwagen, die sich dem Ufer näherten. Hin und wieder sah er auch das Aufblitzen von verdeckten Scheinwer fern. Einmal hatte er sogar Stimmen vernommen. Graves holte das wasserdichte SAR-Funkgerät aus seiner Ärmeltasche hervor. »Retailer Zero One, hier 505. Die Leute in der Gegend werden langsam aktiv.« »Wir sehen sie, Moondog. Keine Angst. Wir bleiben hier.« »Roger, Retailer Zero One. Wie weit ist der Rettungshub schrauber noch entfernt?« »Äh … Moondog, wir haben da ein kleines Problem,« Ein kalter Schauer lief Graves über den Rücken. Ein guter Freund hatte einmal genau dieselben Worte gebraucht. Dreißig Sekunden später war er bei dem darauf folgenden Absturz ums Leben gekommen.
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Plötzlich flammte ein Stück flussaufwärts ein Suchschein werfer auf, dessen blauweißer Strahl wie eine Schwertklinge die Dunkelheit durchdrang. »Mist!« Arkady riss sich die überlastete Nachtsichtbrille herunter. »Suchscheinwerfer am Ufer, Lieutenant!« »Ich sehe ihn.« Der Sea Comanche schoss wie eine wütende Hornisse auf das Ziel zu. »Machen Sie die Hydra-Flechette be reit. Vier Stück.« »Hydras sind scharf, Sir!« Der Suchscheinwerfer schwenkte herum und nahm den Helikopter ins Visier, so dass sein gleißendes Licht das Cock pit erfüllte und das Heads-up-Display unkenntlich machte. Arkady klappte den Blendschutz an seinem Helm herunter. Dann feuerte er die Raketen direkt den Lichtstrahl entlang. Vier Geschosse lösten sich, doch sie erreichten nicht das Ziel. Die Hydra-70-Luft-Boden-Raketen waren mit M255-Flechette-Gefechtsköpfen ausgestattet. Sobald die Raketen ihre höchste Geschwindigkeit erreichten, explodierte eine Spreng ladung in ihrem Inneren, wodurch ein Schwarm von 585 Stahlstiften herausgeschleudert wurde. Und so schickten die vier Raketen nun eine Welle von mehr als 2000 Projektilen auf den Lastwagen mit dem Suchscheinwerfer los und zerstörten alles im Umkreis von fünfzig Metern. Nur sein ausgeprägter Fliegerinstinkt bewahrte Arkady vor einem Schwindelanfall, als er kurz in die Dunkelheit hi nausblickte und dann den Hubschrauber wieder Richtung Flussmitte lenkte. »Tja, Gus. Sieht so aus, als müssten wir heute Nacht noch ein paar Überstunden einlegen.« »Hab’s mir fast gedacht, Sir.« Auf den Monitoren war der ramponierte SAR-Hubschrauber zu erkennen, wie er auf der Landeplattform niederging. »Air One, hier Brücke. Bringt den Heli so rasch wie möglich in den Hangar hinunter, Ich will die Landeplattform frei ha ben!« »Zu Befehl, Capt’n.«
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Die Anspannung wuchs mit jeder Minute. Amandas Hände glitten rasch über das Kommunikations-Pad, während sie zwischen den Außenkanälen und dem Bordfunk hin- und herschaltete, um auf dem Laufenden zu bleiben. »Gray Lady, Gray Lady, hier Retailer Zero One! Können Sie mich hören?«, meldete sich Arkady in eindringlichem Ton. »Ja, Retailer Zero One.« »Wie lange dauert es noch, bis wir einen Rettungshub schrauber hier haben?« »Die vom Flaggschiff meinen, eineinhalb bis zwei Stunden.« »Dann werden wir hier Probleme bekommen. Ich glaube nicht, dass wir so viel Zeit haben. Man wird allmählich auf uns aufmerksam. Ich musste gerade eben ein Ziel unter Feuer nehmen. Sie wissen, dass wir hier sind, und werden wahr scheinlich sehr bald zahlreich hier aufkreuzen.« »Können Sie sie von den beiden Fliegern fernhalten?« »Nur so lange unsere Munition reicht. Verdammt! Zero Two, aufpassen! Die feuern auf Sie! Gray Lady, einen Moment, ich bin gerade ziemlich beschäftigt!« »Verstanden, Retailer Zero One.« Sie zog das Kopfhörerkabel aus der Buchse der Kommuni kationskonsole. Es galt jetzt ein paar Sekunden gründlich nachzudenken – ein paar Sekunden, ohne in das Kommando netzwerk eingebunden zu sein, fern von der Dringlichkeit und den rasch wechselnden Emotionen. Schließlich hob sie die Faust und ließ sie auf die Armlehne knallen. Dann stand sie auf und trat rasch an den Kartentisch des Quartermaster. Dort rief sie die Karte mit der Minensperre vor dem Jangtse-Delta auf. »Wie zum Teufel konnte das passieren?«, fragte Admiral Tall man bestürzt. »Der CSAR-Operationsplan ist davon ausgegangen, dass die beiden Helis der Cunningham unsere Maschinen absichern sollen, falls etwas schiefläuft«, antwortete der Stabschef. »Der Mann, der mit der Ausarbeitung des Plans beauftragt war, hat offensichtlich nicht bemerkt, dass die Cunningham nur Kampfhubschrauber an Bord hat.«
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»Wie lang wird es dauern, bis wir einen neuen Vogel in der Luft haben?« »Noch fünf Minuten. Sie machen ihn gerade startklar.« »Und der Luftangriff zur Unterstützung?« »Die Maschinen sind gleich startbereit, Sir.« »Admiral«, warf einer der Funker ein. »Meldung von Retai ler Zero One. Sie werden vom Ufer aus beschossen.« »Zum Teufel noch mal! Bestätigen Sie die Meldung von Re tailer Zero One.« In seiner Ohnmacht und Frustration begann Tallman in der Flugzentrale auf und ab zu gehen. MacIntyre schwieg und fühlte mit ihm. In einem solchen Augenblick war gewiss jeder froh, nicht in der Haut eines Kommandeurs stecken zu müssen, der soeben erkannt hat, dass die Lage im mer weiter außer Kontrolle gerät und Chaos und Blutver gießen unvermeidlich scheinen. »Kopf hoch, Jake«, sagte MacIntyre schließlich. »Du hast da draußen ein paar wirklich gute Leute, die sich der Sache an nehmen.« »Das stimmt, Sir«, warf Walker ein. »Und wenn wir nicht Acht geben, werden wir bald noch mehr gute Leute im Wasser haben. Wir müssen alles tun, um die Verluste möglichst ge ring zu halten.« Tallman stieß nur ein missmutiges Brummen aus und starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus. »Admiral«, meldete sich der Funker erneut. »Eine Meldung von der Cunningham: ›Sind auf unserem Posten vor dem Jangtse-Delta. Ersuchen um Erlaubnis, flussaufwärts zu fah ren und die abgeschossenen Flieger zu bergen. ‹« »Mein Gott!«, rief Walker aus. »Was zum Teufel denkt sich diese Frau eigentlich!« Der Funker fuhr ein wenig verwirrt fort: »Da ist noch et was, Sir. ›Matthäus, Kapitel 18, Vers 12.‹« »Was soll das Ganze bloß?«, stieß Walker hervor. »Ich weiß, was sie meint«, antwortete MacIntyre langsam. ›»Was wird ein Mann tun, der hundert Schafe hat, und eins davon hat sich verlaufen? Wird er nicht die neunundneunzig im Bergland weitergrasen lassen und das verirrte suchen? ‹« MacIntyre bemerkte, dass Tallman ihn aufmerksam ansah.
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»Was meinst du, Eddie Mac?« »Jake, das ist dein Revier. Ich bin hier nur als Beobachter.« »Schön! Und was schließt du im Moment aus deinen Beob achtungen? Glaubst du, dass sie meine Leute da rausholen kann?« MacIntyre wusste, dass er nicht darum herumkam, Tallman einen – möglicherweise entscheidenden – Rat zu geben. »Ich weiß nicht, ob es machbar ist oder nicht, Jake«, antwortete er nachdenklich. »Aber ich glaube, wenn es möglich ist, dann ist Amanda Garrett die Richtige dafür. Wenn du meine Meinung hören willst, verlass dich auf sie.« »Admiral«, wandte Walker in eindringlichem Ton ein. »Wenn Sie die Cunningham auf den Fluss schicken, gefährden Sie damit ein Kriegsschiff im Wert von vielen Milliarden Dollar und 200 Besatzungsmitglieder der U.S. Navy. Wir ha ben ein Flugzeug und zwei Flieger verloren. Wenn wir beim Versuch, sie zu retten, die Cunningham verlieren, dann hätten wir eine hundertmal größere Katastrophe zugelassen. Ein sol ches Risiko einzugehen ist einfach nicht logisch, Sir.« Tallman schüttelte langsam den Kopf. »Nolan, Sie haben völlig Recht. Es ist ganz und gar nicht logisch. Aber hier geht es nun einmal nicht um Logik, mein Freund, sondern darum, was wir für unsere Leute tun können. Es ist ja auch nicht lo gisch, dass meine Leute da rausgehen und ihren Kopf hinhal ten, bloß weil ich ihnen den Befehl dazu gebe – also kann ich mich auch nicht auf die Gesetze der Logik verlassen, wenn es darum geht, sie zurückzuholen. Geben Sie eine Nachricht an die Cunningham durch: ›Begin nen Sie mit Ihrer Bergungsoperation. Sie haben die Erlaubnis, in den Jangtse einzulaufen.‹« »Achtung an alle CIC«, ertönte Amanda Garretts Stimme aus den Lautsprechern des 1-MC. Der Wachoffizier im Gefechts leitstand blickte instinktiv auf und wartete auf die Durchsage. »Wir haben folgende Situation: Eine unserer Flugzeug crews ist über dem Jangtse abgestürzt. Der Bergungsheli ist im Moment außer Gefecht, und die beiden verunglückten Flieger werden nicht so lange durchhalten, bis ein neuer Heli
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bei ihnen ist. Wir werden uns deshalb selbst aufmachen, um ihnen zu helfen. Das … wird nicht leicht, aber wir müssen uns um unsere Leute kümmern. Viel Glück uns allen!« »Oh, Mann …«, murmelte Dix Beltrain bestürzt. »Status des SQQ-32, Mr. Beltrain«, erkundigte sich Ken Hiro. »System ist einsatzbereit, Sir.« Das Minensuch-Display tauchte in einer Ecke des AlphaSchirms auf. Es schienen keinerlei Gefahren in den Gewässern vor der Duke zu liegen. Doch an den Ufern waren bedrohliche Schatten zu erkennen. »Stealth-Zentrale«, ertönte erneut Amandas ruhige klin gende Stimme. »Stealth, aye.« »Aktivieren Sie die Wasserstrahlanlage, Mr. McKelsie. Das hilft uns vielleicht, falls sie die Minenpassage mit FLIR bewa chen.« »Zu Befehl.« »Sehr gut. Wir fahren jetzt in die Passage ein.« »Maschinen machen jetzt langsame Fahrt voraus, Mr. Hiro«, meldete der Gefechtsrudergänger von seiner Station aus. »Wir laufen jetzt fünf Knoten.« Langsam drifteten die Minenkontakte achtern aus, bis sie dann ganz aus dem Suchfeld verschwanden. Die Duke fuhr in den engen Korridor ein, der durch die Minensperre führte. »Quartermaster«, befahl Hiro, »führen Sie GPU-Checks in Dreißig-Sekunden-Intervallen durch und fixieren Sie eine Se rie von Wegpunkten im Navicom. Ich möchte sichergehen, dass wir hier wieder herausfinden, falls die Sonaranlagen aus fallen sollten.« »Aye aye, Sir«, antwortete der Quartermaster mit leicht er stickt klingender Stimme. Christine Rendino kam aus der Intel-Abteilung und trat an Beltrains Seite. Ihre Aufmerksamkeit galt dem MinensuchDisplay. »Ich hasse es, wenn sie solche Sachen macht«, flüs terte sie. »Angst?« Die Intel-Offizierin nickte. »Aber nicht nur das. Man
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kommt sich außerdem ziemlich klein vor, wenn man genau weiß, dass man niemals den Mut für eine solche Aktion auf bringen würde.« »Ja«, pflichtete ihr Beltrain bei. »Das Gefühl kenne ich.« Ein Gebäude und zwei Fahrzeuge brannten am Flussufer, doch das Feuer störte mehr, als dass es für die beiden Heli kopter eine Hilfe bedeutet hätte. Retailer Zero One und Zero Two schwebten langsam flussabwärts über der Stelle im Was ser, wo die beiden Crewmitglieder von Moondog 505 schwammen. Vince Arkady ging im Kopf zum hundertsten Mal die Muni tionsliste durch. Er hatte immer noch die beiden Hellfire in den Startschienen, dafür aber nur mehr fünf Hydras. Zwischen den Hütten, die das Ufer säumten, waren Soldaten und Polizi sten zu sehen. Die beiden Hubschrauber hatten sie davon überzeugen können, dass es ihnen nicht gut bekam, wenn sie sich auf einen Schusswechsel mit einem Sea Comanche ein ließen. Leider hatten sie mittlerweile ein anderes Ziel entdeckt. »Zero One, vom Ufer aus feuern sie wieder auf uns.« »Roger, Moondog. Zieht die Köpfe ein. Wir kümmern uns darum. Retailer Zero Two, wir nehmen das Ufer unter Be schuss. Jeder von uns feuert eine Hydra ab.« »Roger, Zero One.« Gebt Acht, Jungs, dachte Arkady grimmig, Wir müssen euch jetzt leider ins Handwerk pfuschen. Er stellte das Infrarotvisier des Helis auf das Ufer ein, wo sich bereits seit mehreren Minuten etwas im hohen Gras be wegte. Arkady bezweifelte stark, dass es sich dabei um eine Biberkolonie handelte. Die Hydra schoss auf ihr Ziel los, und die Ufergräser wurden wie von einer gigantischen Sense nie dergemäht. Etwas weiter flussabwärts ließ das Geschoss von Zero Two eine Wolke aus Schlamm und Gischt emporsteigen. »Na, wie war das, alter Junge?« »Das wird ihnen einen gehörigen Schreck eingejagt haben, Zero One, Danke.« Die schwache Stimme, die über CSAR-Funk zu hören war, klang so, als käme sie vom einsamsten Ort der Erde. Arkady
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dachte nach, was er dem Mann sagen konnte, um ihn weiter am Reden zu halten. »Wie geht’s Ihrer Waffensystemoffizierin, Moondog?« »Bub atmet noch. Sie ist aber immer noch bewusstlos.« »Na, das klingt ja nicht so schlecht.« »Ja, aber weniger erfreulich ist, dass wir auf die Küste zu treiben, glaube ich.« Arkady stieß einen Fluch aus. »Moment, Moondog. Ich frage mal nach, wo unser Taxi so lange bleibt.« Er wechselte auf den anderen Kanal. »Gray Lady, Gray Lady. Könnt ihr euch mit dem Heli nicht etwas beeilen? Die Lage wird immer enger hier draußen!« »Es gibt keinen Heli, Retailer Zero One«, antwortete Amanda Garrett mit fester Stimme. »Wir kommen flussauf wärts und übernehmen die Bergung selbst. Momentan schlüpfen wir gerade durch die Minensperre. Wenn nichts da zwischenkommt, sollten wir in 45 Minuten bei euch sein. So lange müsst ihr noch durchhalten.« »Roger, Gray Lady.« Mehr gab es nicht zu sagen. »Kurs immer noch drei-null-null, Capt’n«, verkündete der Rudergänger Brücke. »Der Korridor verläuft immer noch in nördlicher Richtung.« »Ich seh’s«, sagte Amanda und schaute über seine Schulter auf das Navigationsdisplay. »Die Chinesen haben eine Kurve in den Korridor eingebaut, damit es ein bisschen schwieriger wird. Geben Sie Acht, dass Sie sie nicht verfehlen. Und achten Sie auch auf die Untiefen. Es wird bald ziemlich seicht wer den.« »Aye aye, Ma’am.« Selbst für ein rotchinesisches Schiff, das anhand einer exak ten Minenkarte gesteuert wurde, wäre ein solches Manöver eine heikle Sache gewesen – ganz abgesehen davon, dass ein kommunistisches Schiff nicht mit feindlichem Feuer hätte rechnen müssen. Die Scheibenwischer liefen leise, so wie beim letzten Mal, als sie diese Gewässer durchquert hatten. Nur dass die Cun ningham diesmal den Nebel selbst erzeugte. Mittels Hoch druckwasserstrahl wurden vom Oberdeck und den Aufbau
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ten aus alle Decks unter Wasser gesetzt und die Luft mit ei nem Dunstschleier versehen, was, so hoffte man, die Wärme signatur des Schiffes unterdrückte. »Stealth-Zentrale.« »Stealth-Zentrale, aye.« «Wie sieht es mit feindlichem Radar aus, Mr. McKelsie?« »Die Luft ist immer noch rein. Wir haben alle Anlagen außer Gefecht gesetzt, Capt’n. Hier draußen ist niemand, der nach uns Ausschau hält.« »Okay.« Doch McKelsie irrte. Die Cunningham strich gerade erst an der südlichen Landzunge des Mündungsdeltas vorüber. Bald schon würden wachsame Augen auf sie gerichtet sein, die jede Bewegung des feindlichen Schiffes verfolgten. »Achtet gar nicht auf uns«, flüsterte Amanda vor sich hin. »Wir sind nur ein Schatten auf dem Wasser.« Sie wurden gesehen, gerade weil sie ein Schatten auf dem Wasser waren. Kein Radar entdeckte sie. Kein Hightech-Infrarot-System meldete ihr Kommen. Doch in einem Bunker auf der südlichen Landzunge war eine Wache auf dem Posten. Seit die Bombenangriffe auf Shanghai begonnen hatten, spähte der Soldat in die Dunkelheit hinaus. Doch da war wenig zu sehen. Das einzige Licht in seinem Gesichtsfeld kam von einem leuchtenden Fleck tief im NordNordwesten. Der Wachposten hatte den Blitz gesehen, der das Leuchten verursacht hatte. Eine Cruise-Missile hatte die Ra darstation auf der Insel Jiuduan Sha getroffen. Nun brannte die Anlage nieder. Nachdem es das einzige Licht in der Dunkelheit war, musste der Soldat es einfach bemerken. Und so blieb es ihm auch nicht verborgen, als das Licht verschwand. Irgendetwas auf der Höhe des Meeresspiegels verdeckte es. Nach einigen Augen blicken tauchte das Licht wieder auf – das Objekt war offen sichtlich weitergezogen. Der Wächter griff zu seinem Telefon und meldete seine Beobachtung mit eindringlichen Worten. Fern von ihm begannen sich stählerne Geschützrohre aus ihren gut getarnten Stellungen aufzurichten.
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»Brücke!«, tönte Ken Hiros Stimme aus dem Lautsprecher in der Decke, »Kurve nach Backbord!« »Wir sehen es, Ken!«, antwortete Amanda und eilte an die Steuerstation. »Rudergänger, Kurswechsel nach Backbord, zwei-sechs … zwei-sechs-fünf.« »Kurs Backbord, zwei-sechs-fünf, Capt’n!« »Okay, das musste passen ,.. jetzt auf zwei-sieben-fünf … zwei-sieben-null … Okay … Vorsicht! Wir laufen aus der Fahrrinne!« Amanda griff rasch nach Leistungshebel und Schrauben steuerung, um das Heck der Duke herumzureißen. Quälend langsam richtete sich das Positionssymbol der Duke wieder entlang des Minenkorridors aus. Amanda und die beiden Ru dergänger atmeten tief durch. Sie richtete sich auf und ließ ihre Hände für einen Moment auf den Schultern der beiden Männer ruhen. »CIC – Brücke. Wir haben die Biegung hinter uns und sind wieder in der Fahrrinne. Wann haben wir es überstanden?« »Ein Stück noch«, antwortete Christine Rendino. »Dieses Minenfeld ist wirklich riesig. Es müssen tausende da herum liegen!« »Und eine einzige würde schon reichen«, flüsterte Amanda unhörbar. Von einem Augenblick zum anderen wurden die Minen ne bensächlich. Ein Donnern war in der Ferne zu hören. Einige Sekunden später folgte ein leises Heulen, das allmählich zu ei nem Dröhnen anschwoll und sich schließlich in krachenden Detonationen entlud. Ein grelles Leuchten zerriss die Dunkel heit. Auf der Brücke stieß jemand einen Fluch aus, als alle von dem grellen Licht geblendet wurden. Wie Sternschnuppen sanken vier Leuchtkugeln vor dem Bug des Zerstörers ins Wasser. »Brücke – CIC! Unsere Nachtsichtsysteme sind soeben aus gefallen! Capt’n, was ist da draußen los?« »Leuchtgranaten, Ken«, antwortete Amanda. »Jemand hat gerade ein paar Leuchtkugeln abgefeuert. Sie haben uns ent deckt, da besteht kein Zweifel. Lieutenant Beltrain, können
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wir die Geschwindigkeit erhöhen, ohne dass uns das Minen suchsonar im Stich lässt?« »Keine Chance, Captain. Die Strömungsgeräusche wären zu stark.« »Okay. Bereiten Sie die Sea-SLAMs und Oto Melaras vor. Wir werden das Feuer erwidern.« Es waren alte Geschütze, die vor über fünfzig Jahren in der Sowjetunion hergestellt worden waren. Man hatte sie jedoch entsprechend gewartet, und die Artilleristen waren gewissen haft auf einen solchen Augenblick vorbereitet worden. Als der entsprechende Befehl kam, wurden an jedem Geschütz 152mm-Leuchtgranaten nachgeladen. Verschlussblöcke schlos sen sich, und die Geschützrohre hoben sich erneut. Die Kanoniere wichen zurück und hielten sich mit behand schuhten Händen die Ohren zu. Sekunden später krachte die nächste Salve. Draußen auf der Landzunge waren Beobachter in ihren ge tarnten Türmen dabei, ihre Entfernungsmesser auf die unver wechselbare Silhouette auszurichten, die, einer Haifischflosse ähnlich, den Fluss heraufkam. Neue Entfernungs- und Rich tungsangaben wurden ins Telefon gerufen und an die Feuer leitzentralen der Geschützbatterien übermittelt. Im CIC hörten sie die Granaten nicht kommen – doch sie sahen auf ihren Bildschirmen die Fontänen aus dem Fluss hochsteigen und spürten die Druckwellen, die auf den Schiffsrumpf trafen. »Lieutenant Rendino, was wissen wir über diese Geschütz batterien?«, fragte Ken Hiro. »Vier Doppelgeschütze. Sechszöller in Bunker«, antwortete Christine, ohne lange nachdenken zu müssen. »Sie sind auf der südlichen Landzunge postiert.« »Sie feuern immer nur vier Granaten pro Salve ab. Vier Ge schütze werden also noch nicht eingesetzt.« »Nein, Sir«, erwiderte Beltrain. »Sie setzen die Geschütze abwechselnd ein. Sie feuern immer nur vier Granaten ab, da mit sie ununterbrochen feuern können. McKelsie, haben sie uns schon mit ihrem Radar im Visier?«
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»Negativ!«, meldete der Stealth-Chef von seinem Platz aus. »Immer noch keinerlei Strahlung auf irgendeiner Frequenz.« »Lieber Himmel«, murmelte Dix, »sie schießen uns mit die sen Antiquitäten ab.« »Drücken Sie sich deutlicher aus«, fauchte der Erste ihn an. »Altertümliche Granaten, mit rein optischen Visieren ins Ziel gebracht! Das Zeug haben sie schon im Zweiten Welt krieg eingesetzt. Aber in dieser taktischen Situation hier kön nen wir mit unseren Stealth-Systemen und unseren elektroni schen Gegenmaßnahmen nicht viel dagegen ausrichten. Die Sache ist ziemlich ausgeglichen, fürchte ich.« »Was hätte früher ein Schiff in dieser Situation gemacht?« »Es wäre so schnell wie möglich im Zickzack abgedampft.« Ken Hiro blickte auf den Minensuchbildschirm und auf die bedrohlichen dunklen Kugeln, von denen sie umgeben waren. »Ich hoffe, es gibt auch noch einen anderen Weg«, sagte er. Von seiner Position flussaufwärts sah Arkady im Osten das grelle Licht der Leuchtgeschosse. »Verdammt, Gus, was ist denn da drüben los?« »Keine Ahnung, Sir. Das Aegis-System der Duke ist übri gens gerade aktiv geworden.« »Ich bekomme über die Datenleitung das taktische Display herein.« Nein, das durfte einfach nicht wahr sein. Sie mussten die Cunningham entdeckt haben. Dass sie ihr Radar eingeschaltet hatte, bedeutete gewiss, dass es brenzlig wurde. Verdammt! Lief denn jetzt wirklich alles schief? Er wollte schon den Sprechknopf drücken, um sich mit der Duke in Verbindung zu setzen, als sein Waffensystemoffizier einen Warnruf ausstieß. »Lieutenant! Überwasserkontakt auf dem taktischen Dis play! Kommt flussabwärts auf uns zu. Fahrt 20 Knoten. Ent fernung zu diesem Bezugspunkt 15 000 Meter. Verringert sich rasch. Ein Skin-Head-Überwasser-Suchradar ist aktiv!« »Verdammt! Moondog 505, wir haben da ein Problem und müssen euch kurz verlassen, kommen aber gleich wieder zurück. Habt noch ein wenig Geduld!«
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»Wir laufen schon nicht weg, Retailer Zero One.« »Roger. Zero Two, für Zero One. Wir müssen kurz hier ver schwinden, folgen Sie mir. Fertig machen zum Hellfire-Einsatz. Ein Kanonenboot kommt auf uns zu.« Digger Graves trieb in seiner Schwimmweste dahin und hörte, wie das Knattern der Rotoren immer schwächer wurde. Irgendwo weit entfernt waren noch andere Geräusche zu ver nehmen – das ferne Donnern von Artilleriefeuer und eine Si rene, die irgendwo in der Stadt losging. Doch im Moment war es relativ still rund um die beiden im Wasser treibenden Flieger. Graves hörte das Plätschern der vom Wind erzeugten Wellen und das Atmen seiner be wusstlosen Kameradin. Gedanken an seine Frau, an seine Vergangenheit und seine Zukunft gingen ihm ungeordnet durch den Kopf – eine Folge der zunehmenden Unterküh lung, die es ihm immer schwerer machte, zielgerichtet zu denken. O, Gott! Waren sie beide jetzt völlig allein hier in dem wei ten Fluss? Als plötzlich etwas gegen seinen Arm stieß, blieb Digger beinahe das Herz stehen. Er machte eine ruckartige Schwimmbewegung nach vorn und zog Bubbles mit sich. Da trieb etwas im Wasser, eine dunkle, regungslose Gestalt. Ohne lange zu überlegen, zog er die kleine Lampe aus der Ärmeltasche und ließ einen feinen Lichtstrahl durch die Fin ger seiner Hand dringen. Es war jemand, dem dieser große Fluss ebenfalls zum Ver hängnis geworden war: ein chinesischer Seemann im Overall, offensichtlich tot; das offene Auge auf der heil gebliebenen Gesichtshälfte starrte an Graves vorbei in die Nacht hinaus. Digger schaltete die Lampe ab, und die Leiche verschmolz wieder mit der Dunkelheit. Langsam wurde sie von der Strö mung flussabwärts getrieben, in derselben Richtung wie er und seine Waffensystemoffizierin. Ein kalter Schauer überrie selte Digger, und er zog Bubbles enger an sich.
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Das Torpedoboot 5-16 und seine drei Schwesterboote waren fast an dem Punkt angelangt, wo der Huangpu in das JangtseDelta mündete. Flussabwärts tobte ein immer erbitterteres Gefecht. Leuchtgranaten blitzten auf, und Geschützdonner ließ die Luft erzittern. Etwas näher hatten sie zuvor schon das Krachen von leichteren Waffen gehört und die sternschnup penartigen Leuchtspuren von Raketen gesehen. Dennoch warteten sie noch ab. Zhou Shan war sich nicht si cher, ob dies das Signal war, auf das er gewartet hatte. Doch sein Instinkt sagte ihm, dass es erst kommen würde, und zwar schon bald. »Funker, haben Sie schon Kontakt mit dem Oberkom mando in Shanghai?« »Auf keiner der Führungsfrequenzen meldet sich jemand, Genosse Leutnant. Die Einzigen, die sich melden, sind die Vorpostenboote, die genauso auf Informationen und Anwei sungen warten wie wir.« »Da ist sie«, warf Bootsmann Hung von seinem Posten am Backbord-Torpedorohr ein. Er zeigte nach Norden. Helles Kielwasser leuchtete in der Dunkelheit auf und ein schnittig geformter Schatten glitt vor ihnen über den Fluss. Er bewegte sich flussabwärts in die tiefere Fahrrinne hinein. »Sie müssen wohl von dem Gefecht alarmiert worden sein, das beim Minenfeld vor sich geht. Wir sollten ihnen folgen, Genosse Leutnant.«. »Nein«, antwortete Zhou Shan knapp. »Noch nicht.« Die erste Salve lag zu weit und explodierte neben der Steuer bordseite der Cunningham, Die zweite Salve ging vor ihrer Backbordseite nieder. Amanda wusste, was das zu bedeuten hatte. Sie gabelten nach und nach auf das Schiff ein, bis sie ir gendwann ins Schwarze treffen würden. Zum Glück mussten sie sich erst auf die Distanz im Inneren des Minenfelds einstellen; sie hatten nicht damit gerechnet, dass ein Feind so verrückt sein könnte, sich hier hinein zu wa gen. »Gefechtszentrale, wie lang dauert es noch, bis wir diese verdammten Minen hinter uns haben?«
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»Es kann nicht mehr weit sein«, antwortete Christine. »Höchstens noch ein paar hundert Meter.« Draußen vor den Fenstern flammte erneut grelles Leuchten auf, als die Rotchinesen ihren nächsten Versuch starteten. Im Schein der Leuchtgranate konnte Amanda die Angst in den Augen ihrer Leute erkennen. Strömungsgeräusche hin oder her – sie musste das Schiff schnellstens hier herausbringen. »Zweiter Rudergänger, beschleunigen Sie. Gehen Sie auf zehn Knoten.« »Aye aye, Capt’n. Umdrehungen für zehn Knoten.« »Stealth-Zentrale, RBOC abfeuern. Volle Ladung.« »Aye, Capt’n. RBOC wird abgefeuert.« Draußen am Bug und am vorderen Ende der Aufbauten gingen Raketengeschosse hoch und explodierten über der Duke wie Feuerwerkskörper, die die Sterne überstrahlten. Die Rapid Blooming Chaff Rockets würden diesmal nicht die ge wohnten Aufgaben erfüllen. Es gab kein Radar, das sie mit ihren Alufolie-Wolken hätten verwirren können. Doch die Ge schosse produzierten auch dichte Rauchwolken, die es der feindlichen Artillerie erschweren sollten, die Duke zu treffen – zumindest für die kritischen Sekunden, bis sie die Minen hin ter sich hatten. »Capt’n, stoppen Sie das Schiff!«, hörte sie Dix Beltrains aufgeregte Stimme in ihrem Kopfhörer. Seine Aufforderung kam so unerwartet, dass Amanda zu erst einmal versuchte, seine Worte in irgendeinen logischen Zusammenhang zu bringen. Der nächste, noch eindringli chere Ruf ihres TACCOs ließ sie jedoch sofort handeln. »Capt’n, um Himmels willen! Stoppen Sie das Schiff!« »Maschinen stopp! Äußerste Kraft zurück!« Auf jedem anderen Schiff wäre es vielleicht schon zu spät gewesen, doch der integrierte Elektroantrieb rettete die Duke. In einer Gefechtssituation wie dieser, wo man auf rasche Be schleunigung angewiesen war, konnten die riesigen RollsRoyce-GE-Turbogeneratoren ihre maximale Leistung erbrin gen, wobei es möglich war, die Geschwindigkeit des Schiffes mit den Leistungshebeln der Elektromotoren zu regeln. Da die Motoren nicht erst auf Touren kommen mussten, konnte
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das Schiff sofort hundert Prozent seiner Leistung abrufen. Außerdem war es möglich, den Schub gleich schnell nach vorne wie nach achtern zu richten. Der Zweite Rudergänger schob mit der linken Hand die Leistungshebel bis zum An schlag vor, während er mit der rechten die Schraubensteue rung zurückriss. Die Blätter der gegenläufigen Schiffsschrauben peitschten das Wasser mit der Kraft von 80.000 Pferdestärken auf. Noch innerhalb der Hälfte ihrer eigenen Länge kam die Duke be bend zum Stillstand. »Maschinen stopp! Rudergänger, halten Sie Position mit dem Hydrojet-Antrieb. Lassen Sie sie nicht treiben! Dix, was zum Teufel ist denn da los?« »Eine Grundmine, Captain«, antwortete Beltrain bestürzt. »Direkt vor uns.« »Sind Sie sicher, Dix?« »Das Bild, das wir vom Sonar reinbekommen, ist noch nicht scharf genug, Captain. Es könnte natürlich auch ein alter Was serboiler sein. Aber da liegt jedenfalls irgendein Objekt unten. Es hat genau die richtige Größe für eine Grundmine und wäre auch an der richtigen Stelle platziert.« Amanda verspürte nichts als tiefe Frustration. Wenn man sich ein Minenfeld als eine Wand vorstellte, so ließ sich der, der die Wand errichtete, stets eine Tür offen, um selbst ein und aus gehen zu können. Um nun den Feind daran zu hin dern, diese Tür ebenfalls zu benützen, musste man sich eine Möglichkeit schaffen, sie zu versperren. Zu diesem Zweck verwendete man eine Grundmine, die detonierte, sobald sie die Druckänderung wahrnahm, wie sie von der Verdrängung eines Schiffsrumpfes verursacht wurde. Man platzierte die Mine mitten in dem minenfreien Korridor und stellte eine Unterwasser-Kabelverbindung mit einer Sta tion am Festland her, von wo man sie nach Belieben scharf machen oder entschärfen konnte. Die Tür konnte also jeder zeit geöffnet und wieder geschlossen werden. Nachdem es bisher den Anschein gehabt hatte, als würden die Chinesen in ihrer gesamten Küstenverteidigung keine Hightech-Minen einsetzen, hatte Amanda darauf spekuliert,
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dass es auch hier nicht anders sein würde. Sie hatte sich geirrt. Die Cunningham saß in der Falle. »Zero Two, Waffencheck.« »Zwei Hellfire, zwei Hydras«, meldete Nancy Delany. »Ich habe zwei und vier. Es wird langsam eng. Ab jetzt muss jeder Schuss wohl überlegt und gut gezielt sein.« »Roger.« Die beiden Sea Comanche drehten in weitem Bogen nach Norden ab, um dem Kanonenboot in die Flanke zu fallen, be vor es die beiden verunglückten Flieger erreichte. »Gus, schalten Sie die Laser-Zielsuche ein. Aktivieren Sie das FLIR und legen Sie mir das Display auf den Schirm.« »Bin schon dabei, Sir.« Arkady wechselte erneut das Sichtsystem; mit Hilfe der Restlicht-Fernsehkamera verfolgte er das Bild, das auf seinem zentralen Bildschirm auftauchte. Da war es – das blasse Nega tivbild eines Schiffes auf dem dunklen Fluss. »Automatische Geschütze vorne, achtern und mittschiffs«, murmelte Arkady. »Ein kleines Deckshaus. Freistehender Mast. Kein Schornstein.« »Sieht aus wie ein typisches Shanghai-Kanonenboot, Sir.« »Nein, Gus. Nein, die Größe passt nicht. Es ist zu groß. Viel zu groß. Das ist ein Boot der Hainan-Klasse. Doppelt so groß, die doppelte Feuerkraft und ungefähr viermal so schwer ab zuschießen.« »Was für ein Glück wir wieder mal haben. Was für ein ver dammtes Glück! Lieutenant, vielleicht sollten wir diesmal das Schiff zu Hilfe rufen?« »Die Lady hat selbst genug zu tun, Gus. Das würde ihr ge rade noch fehlen, dass wir ihr jetzt auch noch zur Last fallen. Zero Two, folgen Sie uns! Wir werden gezielt feuern! Sie über nehmen die Brücke und die Hauptgeschütztürme!« Amanda zwang sich, ihre Stimme ruhig und kontrolliert klin gen zu lassen. Sie durfte keinen Augenblick lang Angst oder Verwirrung zeigen. »Zweiter Rudergänger, Maschinen langsame Fahrt zurück.«
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»Aye, Ma’am, Maschinen langsam zurück.« Sie hörte genau auf den Ton, in dem die beiden Rudergän ger sprachen. War da ein Zittern, das vielleicht schon auf eine Fehlreaktion oder eine Kurzschlusshandlung hindeutete, wenn die Anspannung noch größer wurde? »Bei dieser Geschwindigkeit ist die Ruderkontrolle nicht so einfach. Sie müssen uns deshalb mit Hilfe der Maschinen in der Mitte halten. Rudergänger. Bleiben Sie auf HydrojetSteuerung. Für Sie gilt das Gleiche: Immer in der Mitte blei ben.« »Aye aye, Capt’n.« »Wird gemacht, Ma’am.« Sie wirkten beide ziemlich ruhig. Es sah nicht so aus, als würden sie die Nerven verlieren. Dann wieder dieses Heulen in der Luft. Erneut detonierten mehrere Granaten. Diesmal noch näher. Das Brückendeck schien zu erbeben. Darum mussten sie sich als Nächstes kümmern. »Taktik-Offizier. Feuern Sie auf die feindlichen Batterien. Oto Melara und Sea-SLAMs, Stealth-Zentrale, wir brauchen noch mehr Nebel!« »Aye aye, Ma’am. Äegis-Systeme haben die feindlichen Batterien erfasst.« Vom Vorschiff her konnte sie hören, wie das 76-mm-Geschütz herumschwenkte. »Ken, wir gehen nach folgendem Plan vor: Wir werden ein Stück rückwärts laufen müssen. Ich glaube nicht, dass wir ge nug Platz zum Wenden haben.« »Und dann, Capt’n?« »Das kommt ganz darauf an. Taktik-Offizier, könnten wir die Mine mit einem Mark-50-Torpedo ausschalten?« »Hab’ noch nie gehört, dass es jemand versucht hätte, Capt’n.« »Es ist mir egal, ob es schon jemand versucht hat oder nicht. Würde es klappen?« Während Dix Beltrain überlegte, begann das Oto-MelaraGeschütz zu feuern. Das hoch aufgerichtete Geschützrohr jagte Salven zu je drei Granaten zum Himmel empor.
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»Ich sehe keinen Grund, warum es nicht klappen sollte.« »Wie viel Platz brauchen wir dafür?« »Am besten wären so an die tausend Meter.« »Wie viel brauchen wir?« »350 Meter.« Draußen auf dem langen Vordeck schoss die Sea-SLAMRakete aus ihrer Startzelle. Die Startrakete wurde gezündet und erleuchtete die Rauchwolke, die die Cunningham ein hüllte von innen. »Okay, Dix, machen Sie den Torpedo bereit. Quartermaster, wir laufen 350 Meter zurück.« Inmitten des Feuersturms, den sie selbst entfachte, schob sich die Duke langsam zurück. In diesem Moment beschränkte sich Vince Arkadys Wahrneh mung auf den grünen Tunnel, den die FLIR-Systeme in die Dunkelheit bahnten. Die Turbinen liefen auf Maximallei stung, während er und seine Flügelfrau sich mit über 300 km/h dem chinesischen Kanonenboot näherten. Leuchtspurgeschosse jagten vorüber und griffen vom Fluss aus wie bedrohliche Fangarme nach den beiden Hubschrau bern. Die Rotchinesen verfügten kaum über moderne Techno logie, aber sie waren offensichtlich imstande gewesen, wenig stens eines ihrer Kanonenboote mit Nachtsichtgeräten auszurüsten. Um das Boot zu treffen, hätten die beiden Helikopter nicht so nahe heranfliegen müssen. Ihre lasergesteuerten HellfireLenkwaffen hatten eine Reichweite von gut 10 Seemeilen, also mehr als genug, um außerhalb der Reichweite der Bootsge schütze zu bleiben. Leider waren die Hellfires zwar imstande, einen 50-Tonnen-Kampfpanzer auszuschalten, nicht aber ein 400-TonnenKanonenboot. Es genügte nicht, das Überwasserfahrzeug bloß zu treffen. Um es kampfunfähig zu machen, würden sie es an ganz bestimmten Punkten treffen müssen. Auf seinem Zielbildschirm wanderte ein leuchtendes Fa denkreuz rund um das Bild des chinesischen Bootes. Gus Grestovitch richtete den Zielerfassungslaser darauf.
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»Auf die Brücke … auf die Brücke …«, murmelte Arkady leise vor sich hin. Das Fadenkreuz schob sich über das Ruderhaus des Bootes. »Ziel ist erfasst! Die Rakete ist scharf!« Arkady drückte auf den Knopf und wandte den Blick nicht von den Instrumenten, um nicht von den Auspuffflammen der Rakete geblendet zu werden. Retailer Zero One drehte ab und stieß dabei Wärme-Scheinziele aus. Arkady hörte, wie Nancy Delany das Abfeuern ihrer eigenen Lenkwaffe meldete, als sie plötzlich einen lauten Ruf ausstieß. »Wir sind getroffen! Zero One, wir sind getroffen!« »Ah, verdammt!« Arkady vollendete den Bogen und flog dann nach Norden weiter. Er strich etwa sechs Meter über dem Fluss dahin und schaute für einen kurzen Augenblick in die Nacht hinaus. »Gus, halten Sie nach Zero Two Ausschau. Haben Sie etwas von dem Treffer mitbekommen?« »Negativ. Ich habe nichts bemerkt!« »Retailer Zero Two, Zero Two, melden Sie sich! Nancy, wie ist Ihr Status?« »Wir sind noch in der Luft, Zero One«, kam die zögernde Antwort. »Wir sind getroffen. Ich glaube, es war eine 25-mmGranate. Wir haben Rauch im Cockpit und jede Menge Sys temausfälle. Nur die grundlegenden Instrumente funktionie ren noch. Da ist nichts mehr zu machen. Ich glaube, sie haben uns eines der Systeme regelrecht weggeschossen.« »Können Sie sich in der Luft halten?« »Ich habe noch die Kontrolle über den Heli und die Trieb werke, verfüge aber über keine Feuerleitung mehr, und die Nachtsichtsysteme sind stark eingeschränkt.« »Dann machen Sie sich aus dem Staub, Nancy! Sie können hier nichts mehr ausrichten. Die Duke ist selbst im Gefecht. Fliegen Sie zur Task Force. Sie sollten noch genug Treibstoff haben, um es bis zum nächstgelegenen Kreuzer zu schaffen. Wenn nicht, gehen Sie möglichst weit von der Küste entfernt runter. Die werden Sie dann schon bergen.« »Zero One, ich …«
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»Zero Two, das Einzige, was Sie noch tun können, ist, dass Sie mir wenigstens diese eine Sorge abnehmen. Verdammt, Nancy, machen Sie sich aus dem Staub!« »Zero One, wir kehren um. Meine Hellfire hat jedenfalls ge troffen. Sir. Tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht mehr helfen kann.« »Ich weiß, Nancy. Sie haben getan, was Sie konnten.« Arkady flog einen weiten Bogen. »Okay, dann nichts wie zurück in die Bresche, alter Junge. Mal sehen, ob wir schon etwas ausgerichtet haben.« »Wir haben ihm einen Treffer verpasst, Lieutenant.« Der Sea Comanche wandte sich seinem Ziel zu, und das chinesische Kanonenboot tauchte wieder auf dem Bildschirm auf. Mittschiffs und achtern waren Brände zu sehen. Das ach terliche 57-mm-Geschütz war offensichtlich zerstört und der Großmast war deutlich geneigt, aber das 60 Meter lange Kriegsschiff hielt sich unbeirrt auf seinem Kurs flussabwärts. Es war nur noch rund eineinhalb Kilometer von den beiden Moondog-Fliegern entfernt. »Der Kerl braucht noch einen kleinen Dämpfer, Gus.« »Sieht so aus, Sir. Wie wollen Sie es anstellen?« »Wir nehmen uns noch einmal das Ruderhaus vor. Nur werden wir diesmal ganz nahe rangehen, nachdem wir die Hellfire abgefeuert haben. Dann jagen wir noch die letzten vier Hydras hinterher.« »O Gott.« »Der Schock durch die Hellfire wird lange genug anhalten, damit wir uns ungestört heranpirschen können. Bereiten Sie alles vor. Wir schlagen gleich zu!« Der Sea Comanche glitt über den Fluss hinweg, dessen Oberfläche wie dunkles Öl unter ihm glänzte, Das vordere Geschütz des Hainan-Bootes feuerte erneut – doch die Ge schosse strichen über den Helikopter hinweg. »Ziel erfassen!« »Ziel… ist erfasst!« »Feuer!« Arkady drückte auf den Knopf, und ein leichter Ruck ging durch den Helikopter. Doch keine Flamme durchzuckte die Dunkelheit.
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»Verdammt, Gus, ein Versager! Das Ganze noch einmal!«, rief Arkady und drückte erneut auf den Knopf – wieder ver geblich. »Negativ! Sie ist weg! Das Ding ist von der Startschiene ge rutscht! Sie hat nicht gezündet!«, rief Grestovitch aufgeregt. »Lieutenant verduften wir lieber! Das funktioniert nicht!« »Es muss!« Arkady arbeitete fieberhaft mit Pedalen des Seitenruders und dem kollektiven Blattverstellhebel, während er den Ge schossen auszuweichen versuchte, die um den Helikopter zischten. Er wich seitlich aus, setzte dabei aber seinen Sturz flug auf das Kanonenboot fort. Alles, was ihm noch blieb, wa ren die Hydra-Raketen, und die waren wenig geeignet, ein ganzes Schiff außer Gefecht zu setzen – es sei denn, man ging ganz nahe heran. Da kam der Treffer. Ein greller Lichtblitz. Ein Aufprall, als wären sie von einem Lastwagen gerammt worden, und dann mehrere Sprünge auf der rechten Seite der Cockpithaube. Doch der Sea Comanche setzte seinen Sturzflug unbeirrt fort. Arkady spürte zwar eine Änderung im Flugverhalten, aber er hatte jetzt keine Zeit, der Sache nachzugehen. Das Bild des Kanonenbootes füllte den Zielbildschirm nun ganz aus, und im nächsten Augenblick waren Menschen zu sehen, die aufgeregt hin und her hasteten und sich auf das Deck warfen, als der Raubvogel mit den Drehflügeln zu ihnen hinabtauchte. Arkady schickte die Hydras los. Die Feuer strahlen der vier 2,75-Zoll-Raketen stellten für einen Augen blick eine Brücke zwischen dem Helikopter und dem Kano nenboot her, bevor sie im Rumpf verschwanden. Arkady riss den kollektiven Blattverstellhebel zurück und zog den Heli kopter steil empor. Die Raketen explodierten im Maschinenraum des Kano nenbootes. Die Treibstofftanks und Leitungen wurden zer fetzt, das Dieselöl in die Luft gesprüht, wobei es sich entzün dete. Ein großer Teil des Oberdecks wurde herausgerissen, so dass nur noch eine riesige brennende Wunde im Rumpf zurückblieb.
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»Yeah! Wir leben noch!« »Wenn Sie es sagen, Lieutenant.« Arkady drehte ab, um wieder auf das Flussdelta hinaus zu gelangen. Er wandte sich in seinen Gurten hin und her und hielt nach eventuellen Schäden Ausschau. »Es hat uns da hin ten erwischt. Wie schlimm ist es denn?« »Die MAD-Anlage ist hinüber. Und ich glaube die rechte Flügelspitze auch.« »Aber sonst dürfte alles okay sein, Gus. Die Anzeigen deu ten jedenfalls darauf hin.« »Müssen wir das noch einmal machen, Lieutenant?« »Wir können nicht, alter Junge. Die Regale sind leer.« Eine Stimme aus dem CSAR-Funk unterbrach ihr Ge spräch. »Retailer Zero One, Zero One, hier Moondog, können Sie mich hören?« »Roger, Moondog. Wir sind noch da. Wir hatten nur eine kleine Auseinandersetzung mit einem chinesischen Kanonen boot.« »Ich hab’s gehört, Retailer Zero One. Danke, Jungs. Aber wir haben hier noch ein anderes Problem.« Verdammt. »Was gibt’s, Moondog?« »Sie schießen wieder vom Ufer aus mit Gewehren auf uns. Zwar kommen sie uns noch nicht allzu nahe, aber wir brau chen euch, damit ihr den Kerlen ein wenig Angst macht.« Oh, verdammt! »Roger, Moondog. Sind schon unterwegs.« Pilot und Waffensystemoffizier sahen nicht mehr in die Dunkelheit hinaus – sie konzentrierten sich ganz auf ihre Auf gabe und ihre Instrumente. Deshalb fielen ihnen die kleinen Flecken nicht auf, die sich von außen an der Kabinenhaube bildeten. Der Rotorabwind peitschte einen fast mikroskopisch feinen öligen Sprühregen durch die Luft. Das Warnsignal für den Öldruck würde erst in einigen Minuten zu piepen begin nen. Wie eine wütende Wildkatze, die mit ihren scharfen Krallen nach einem Angreifer schlägt, so wehrte sich die Cunningham
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gegen die feindliche Artillerie. Ihre SPY-2A-Radaranlage ver folgte die anfliegenden Granaten bis zu ihrem Ausgangs punkt und ihr Aegis-Gefechtssystem machte sich an die Ver nichtung der chinesischen Geschützbatterien. Eine Sea-SLAM kam vom Himmel wie ein todbringender Komet und stürzte auf eine der Geschützstellungen herab. Der Gefechtskopf von einer Vierteltonne Gewicht wirbelte die Ge schütze und ihre Crews in die Luft. Nur einen Sekundenbruch teil später wurden die Überreste von Material und Menschen in alle Richtungen geschleudert, als die Munition im angren zenden Bunker das ganze Gebiet wie einen Miniaturvulkan zur Eruption brachte. Auf die übrigen Geschützstellungen prasselte ein Regen von Oto-Melara-Granaten herab. Die Geschosse waren zwar nicht stark genug, um die massiven Befestigungen aus Beton zu durchdringen, doch aufgrund ihrer Annäherungszünder explodierten sie über den Geschützstellungen und deckten al les unter sich mit einem Schrapnellhagel zu. Die Schützen hatten keine Chance gegen die Geschosse aus der Luft. Doch ihre Kameraden hörten nicht auf, die Ge schütze zu laden und weitere Granaten auf das Schiff abzu feuern. »Capt’n, wir haben das Schiff drei-fünf-null Meter zurück laufen lassen …«, meldete der Rudergänger, wurde dabei aber vom erneuten Heulen anfliegender Granaten und dem Don nern ihrer Detonationen unterbrochen. Immer näher kamen die feindlichen Geschosse, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ins Ziel treffen würden. »… warte auf weitere Anweisungen, Ma’am.« »Maschinen stopp. Position halten.« «Aye, Capt’n. Maschinen stopp. Halten Position mit Hy drojets.« Amanda griff mit einer Hand unter den Helm, um den Kopfhörer enger am Kopf zu befestigen. »Dix, Torpedo-Status?« »System ist scharf. Ziel-Bezugspunkt eingestellt. Aber ich kann keine Garantien abgeben, Ma’am.«
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»Verlange ich auch nicht. Torpedo los!« »Torpedo ist los!« Mittschiffs, nahe der Wasserlinie, glitt ein Barracuda-Torpedo aus seinem Abschussrohr. Den haarfeinen Faden seiner Drahtlenkung hinter sich herziehend, schoss der Torpedo vom Schiffsrumpf weg. Plötzlich hob sich die See unter dem Bug der Cunningham empor, viel stärker, als ein Granattreffer es hätte verursachen können. Der Zerstörer stieg hoch wie ein erschrockenes Pferd. »Dix, was ist passiert?« »Wir haben den Torpedo verloren, Captain. Er ist ausgebro chen und hat eine der Kontaktminen getroffen.« »Versuchen Sie es gleich noch einmal! Schnell!« »Verstanden. Torpedo zwei los!« Diesmal kündigte nur ein kurzes Aufheulen die anflie gende Granate an. Drei Fontänen stiegen an Backbord aus dem Fluss empor, eine an Steuerbord. »Capt’n!«, rief einer der Ausguckes. »Sie haben uns beinahe erwischt!« »Ich seh’s«, antwortete Amanda und zählte im Stillen die Se kunden, die der Torpedo unterwegs war. Er musste ganz ein fach zu der Mine hinabtauchen, die ihnen den Weg versperrte. Vom Licht der Leuchtgranaten erhellt, stieg plötzlich eine rie sige schlammig-braune Wassersäule vor dem Schiff empor. »Ja!«, rief Amanda aus und beugte sich auf ihrem Sessel vor. »Dix, haben wir die Mine erwischt?« »Torpedo-Detonation kommt aus dem Zielgebiet, Capt’n.« »Dix, ist die Mine außer Gefecht? Haben wir freie Fahrt?« »Kann ich nicht sagen, Captain. Noch nicht. Da unten ist es zu trüb. Wir haben kein klares Bild.« »Dix, wir müssen das Schiff hier rausbringen …« Amanda Garrett hätte nicht sagen können, was sie dazu bewog, das zu tun, was sie in diesem Augenblick tat. Möglicherweise spürte sie die Druckwelle der anfliegenden Granate, was auch im mer der Grund dafür war, sie hob jedenfalls die Arme vor das Gesicht und duckte sich auf ihrem Sessel. Einen Sekunden bruchteil später schossen orangerotleuchtende Flammen durch das Thermoplast-Fenster herein.
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»Sie lassen sich nicht mehr einschüchtern, Lieutenant«, mel dete Gus Grestovitch seinem Piloten. »Sie schießen einfach zurück.« »Ich weiß.« Arkady hatte die zwei Gewehrtreffer ebenfalls gespürt, die der Hubschrauber abbekommen hatte. Nach mehreren Scheinangriffen auf die Uferstellungen, um die chi nesischen Truppen in Schach zu halten, hatten diese den Bluff mittlerweile durchschaut. Während Arkady zum Mündungs delta abdrehte, setzte er sich wieder über CSAR-Funk mit den Verunglückten in Verbindung. »Moondog, wie sieht’s bei euch aus?« »Nicht so gut, Retailer Zero One. Sie feuern wieder auf uns. Dieses verdammte Kanonenboot treibt auf uns zu – deshalb können sie uns, glaube ich, vom Ufer aus sehen.« Arkady blickte flussaufwärts und sah das brennende Wrack näher kommen. »Verstehe, Moondog. Wir werden uns was Neues einfallen lassen.« »Könnt ihr vielleicht noch mal eingreifen, Jungs?« »Machen wir, Moondog.« Arkady nahm den Daumen vom Mikrofonknopf. »Haben Sie vielleicht ein paar gute Ideen?«, fragte er seinen Waffenof fizier. »Nur eine, Sir.« »Und die wäre?« »Rufen Sie das verdammte Schiff.« »Ich glaube, Sie haben Recht.« Während Arkady auf den Kommandokanal wechselte, blickte er flussabwärts, wo immer noch Leuchtkugeln herab regneten. Dann sah er einen ungewöhnlichen Lichtblitz unten an der Flussmündung. Es musste eine Explosion gegeben ha ben. »Gray Lady, hier ist Retailer Zero One. Können Sie mich hören?« Eine plötzliche Angst kroch in ihm hoch. »Gray Lady, hier ist Retailer Zero One. Hören Sie mich …? Amanda, verdammt, melde dich endlich!« Doch sie blieb stumm.
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Amanda richtete sich langsam auf. Ein Geruch von Verbrann tem hing in der Luft. Obwohl es ihr vom Einschlag der Gra nate immer noch in den Ohren dröhnte, hörte sie hinter sich das Stöhnen eines Mannes, der schwer verletzt sein musste. Und sie hörte eine Stimme tief in ihrem Inneren, die zu ihr sagte: »Du bist doch nicht so schlimm dran. Das Schiff ist in Gefahr. Los! Steh auf und tu etwas!« Sie lag am Boden neben ihrem Sessel, den sie schließlich als Stütze benützte, um wieder auf die Beine zu kommen. Die Brücke war im Großen und Ganzen heil geblieben, wenn auch da und dort einiger Schaden entstanden war. Neben der zerschmetterten Fensterscheibe hatte es auch einige Sys teme erwischt; mehrere Bildschirme waren zertrümmert und verschiedene elektronische Anlagen in ihre Einzelteile zer legt. Amanda taumelte ans Fenster und blickte auf das Vordeck hinunter. Sie hatten wirklich großes Glück gehabt. Nur ein Stückchen weiter vorne – und die chinesische 152mm-Granate hatte im dritten Senkrechtstart-System einge schlagen und damit auch die daneben gelagerten Lenkwaffen getroffen. Etwas weiter achtern – und die Brücke wäre völlig zerstört worden. Ein Stückchen weiter seitlich – und der Tref fer wäre im vorderen Oto-Melara-Magazin eingeschlagen. So aber war nur das Geschütz selbst getroffen worden. Den Geschützturm hatte es richtiggehend weggefegt, und die Ka none selbst stand nun wie eine aus Schrott gefertigte Skulptur da. Amanda sah, dass aus der Mitte des Geschützstandes Flammen hochschlugen. »Schadenkontrolle, hier Brücke … Schadenkontrolle!« Die Bordsprechanlage war offensichtlich ebenfalls in Mit leidenschaft gezogen. Amanda riss sich Helm und Kopfhörer vom Kopf und nahm einen Telefonhörer der Ersatzsprechan lage zur Hand. »CIC – Brücke!« »Schadenkontrolle hier Brücke, wie ist Ihr Status?« »Wir haben Verletzte und brauchen Erste-Hilfe-Teams. Der vordere Geschützturm ist zerstört. Schicken Sie uns ein Scha denkontrollteam herauf. Fluten Sie das vordere Oto-Melara-
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Magazin. Ich wiederhole, fluten Sie das vordere Oto-MelaraMagazin.« »Verstanden. Möchten Sie das Kommando in die Gefechts zentrale verlegen?« »Negativ. Nicht jetzt. Sagen Sie Mr. Beltrain, er soll sich be reithalten.« Amanda ging auf unsicheren Beinen zur Steuerkonsole hinüber. Der eine der beiden Rudergänger lag stöhnend am Boden, während der andere vornübergeneigt, mit blutver schmiertem Gesicht, vo r seiner Station saß. Amanda zwang sich, ihr Mitgefühl zu verdrängen, und zog ihn am Kragen sei ner Schwimmweste von seinem Sessel herunter, um ihn eben falls auf den Boden zu legen. Sie hatte Blut an den Händen, als sie den Platz des Ruder gängers einnahm. Die Bildschirme an der Konsole waren dunkel, doch es gelang Amanda, die Systeme wieder hochzu fahren. Was das Wichtigste war – der Navicom ließ sich star ten und zeigte schließlich den Weg an, auf dem die Duke aus dem Minenfeld gelangen würde. Amanda stellte sicher, dass das Schiff immer noch im Korridor lag, ehe sie wieder Verbin dung mit dem CIC aufnahm. »Taktik-Offizier, haben wir freie Bahn?« »Capt’n, das Minensuchsonar liefert immer noch kein kla res Bild. Ich kann im Moment unmöglich sagen, ob der Weg frei ist!« »Dann müssen wir es eben herausfinden.« Amanda schob die Leistungshebel nach vorn. Sogleich spürte sie, wie das Schiff beschleunigte, und ver folgte, wie die Logge hochkletterten. Amanda drückte die Leistungshebel bis zum Anschlag durch. Das Minensuchso nar war jetzt unwichtig – sie hatte die Richtung, die sie steu ern musste. Die Finger ihrer linken Hand schlossen sich um das kleine Steuerrad, mit dem sie den Kurs hielt. Gleichzeitig hörte sie das anschwellende Heulen der nächs ten Salve. Jetzt, wo die Brücke offen war, klangen die Detona tionen wie ein gewaltiges Donnern, das diesmal zum Glück hinter dem Heck der Duke ertönte. Zumindest für den Augenblick hatte sie ihr Schiff dem Zu
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griff der feindlichen Geschütze entzogen. Sie hatten Scylla hinter sich gelassen. Vor ihnen lag jedoch noch Charybdis. Die Cunningham lief schnurstracks auf den Punkt zu, an dem sich die Mine befand – oder befunden hatte. Mit unbewegter Miene beobachtete sie, wie sich das Bild des Schiffes auf dem Schirm darauf zuschob. Es gab nun nichts mehr zu tun, als tief durchzuatmen … und dann hatten sie im nächsten Augen blick den Punkt überschritten und schließlich auch das Mi nenfeld weit hinter sich gelassen. Eine erneute chinesische Salve ging noch etwas weiter ach teraus der Duke nieder. Amanda merkte jetzt erst, wie viele Menschen sich auf der Brücke versammelt hatten. Da waren Sanitäter, die sich um die Verletzten kümmerten, und Techni ker, die die zerstörten Systeme ersetzten. Ein neuer Rudergän ger stand einsatzbereit neben ihr. Sie spürte den Wind, der durch das zertrümmerte Fenster hereinströmte und den Geruch von verbranntem Kunststoff und Blut hinaustrug. «Bleiben Sie auf Kurs«, sagte sie. »Es gibt da ein paar Leute, die auf uns warten.« Am Ufer nahmen die chinesischen Geschütze nach wie vor ihr Ziel aufs Korn, doch ihrer Reichweite waren Grenzen gesetzt. Die Ingenieure, die für die Planung der Geschützstellungen verantwortlich waren, hatten niemals damit gerechnet, dass ein Feind es wagen könnte, so tief in rotchinesisches Territo rium vorzudringen. Die Männer an den Geschützen zeigten jedoch Geduld. Sie mussten jetzt erst einmal die Toten weg schaffen und die Verwundeten versorgen, und dann würden sie warten. Der Feind war an ihnen vorbeigekommen und fuhr nun flussaufwärts. Er würde wieder hier vorbeikommen müssen, wenn er das Delta verlassen wollte. »Warum zum Teufel dauert das mit dem Luftangriff so lange, Nolan?« »Wir mussten erst die neuen Daten laden, Sir. Diese Küstenverteidigungsanlagen hatten wir nicht als poten zielle Ziele eingestuft. Wir konnten doch nicht damit rech
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nen, dass eines unserer Schiffe auf dem Jangtse vordringen musste.« »Admiral!«, rief der Funker von seiner Station aus. »Der Be richt über die Gefechtsschäden auf der Cunningham trifft so eben ein.« »Wie schlimm ist es?«, fragte Tallman und trat an die Kom munikationskonsole. »Granattreffer …«, berichtete der Funker. »Das vordere Ge schütz ist zerstört … Mehrere Verwundete … Schiff ist voll fahrtüchtig … Sie haben das Minenfeld hinter sich gelassen … und setzen die Fahrt zum Bergungspunkt fort.« »Bestätigen Sie die Meldung.« Jake Tallman sah drein, als würde er am liebsten auf etwas einschlagen, um seinem Frust Luft zu machen. »Kopf hoch, Jake«, redete MacIntyre ihm mit leiser Stimme zu. »Es geht den Bach hinunter, Eddie Mac. Die ganze Opera tion geht den Bach hinunter. Wir werden unsere Leute da draußen verlieren und ich bin schuld.« »Jede Operation gerät irgendwann aus den Fugen, und dann bleibt uns nichts anderes übrig als auf die Leute zu zählen, die wir losgeschickt haben. Sie werden es schon hinkriegen. Du kannst ruhig etwas mehr auf Mandy Garrett vertrauen. Die Lady hat das richtige Gespür für solche Situationen.« »Daran zweifle ich auch gar nicht. Ich hoffe nur, dass nicht ihr ganzes Talent unnötig vergeudet wurde, indem ich sie auf dieses Himmelfahrtskommando geschickt habe.« Die Fenster in der Flugeinsatzzentrale summten leise und ein Donnern drang vom Flugdeck herein. Blauweiße Auspuff flammen leuchteten am Katapult des Flugzeugträgers auf, als eine F/A-18-Super-Hornet abhob. »Luftangriff wird soeben gestartet, Sir«, meldete der Air Boss. Tallman schüttelte langsam den Kopf. »Zu spät. Viel zu spät. Bis sie draußen am Ziel sind, ist die ganze Sache längst entschieden. So oder so.« Digger Graves hörte erneut das Krachen eines Gewehrs und den Aufprall des Projektils auf dem Wasser. Das Geräusch
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war ihm mittlerweile vertraut geworden. Dank des Lichts, das von dem brennenden Kanonenboot ausging, hatten es die Schützen nun leichter, ihr Ziel ins Visier zu nehmen. Außerdem trieb die Strömung die beiden verunglückten Flieger unerbittlich auf das Ufer zu. Digger hatte zuvor zwar versucht, in Richtung Flussmitte zu schwimmen, doch mit seiner verletzten Schulter und dem Gewicht von Bub Zeller mans regungslosem Körper war er nicht weit gekommen. In seiner Verzweiflung griff er wieder nach dem Funkgerät. »Retailer Zero One, hier wird es immer enger. Sie feuern auf uns! Könnt ihr uns diese Kerle nicht vom Hals schaffen?« Es folgte eine lange Pause, bevor die ruhige Stimme, an die Graves all seine Hoffnungen knüpfte, antwortete: «Geht nicht, Moondog. Keine Munition mehr.« Keine Munition mehr. Was für eine beschissene Grabin schrift würde das abgeben. »Retailer Zero One, wie lange dauert es noch, bis sie uns holen?« »Ich weiß es nicht, Moondog. Ich habe keine Verbindung mehr zum Schiff. Ich habe mit niemandem mehr Verbindung. Wir sind ganz allein hier draußen.« Wenigstens würde er nicht mehr entscheiden müssen, ob er in der Navy blieb oder nicht. Graves brauchte einige Augen blicke, um die Willenskraft aufzubringen, das Mikrofon er neut an die Lippen zu führen. »Ich glaube, das war’s dann, Retailer Zero One. Ihr solltet jetzt besser von hier verschwin den.« »Halt durch, Moondog. Uns fällt schon etwas ein.« »Verdammt, Retailer Zero One! Seid nicht dumm! Ihr könnt hier nichts mehr tun! Wir werden in ein paar Sekunden so wieso tot sein. Wozu soll es gut sein, wenn ihr mit uns dran glauben müsst. Haut lieber ab!« »Ich hab’ gesagt, uns fällt schon noch was ein!«, knurrte der Pilot grimmig. »Ich werd’ verdammt noch mal nicht aufge ben, und ihr werdet das auch nicht tun. Haltet durch!« Graves musste fast lachen, als er den Piloten so reden hörte. Niemals hätte er sich gedacht, dass ihm einmal jemand befeh len musste, am Leben zu bleiben. Eine weitere Gewehrkugel,
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die so nahe neben ihm einschlug, dass ihm das Wasser ins Ge sicht spritzte, ernüchterte ihn augenblicklich. Digger Graves hoffte plötzlich, dass dieser Pilot seine Worte ernst meinte. »Moondog, seid ihr noch da?« »Sind immer noch da, Retailer Zero One.« »Aber nicht mehr lang. Ich hole euch da raus. Jetzt sofort.« »Hast du nicht gesagt, du könntest keine Bergung ma chen?« »Kann ich auch nicht. Aber ich habe ein Tauchsonar an Bord. Ich werde den Dom runterlassen, damit du dich daran festhalten kannst. Dann ziehe ich euch beide in die Flussmitte, damit ihr wenigstens vor den Gewehrschützen Ruhe habt. Al les klar?« »Ich hab’ nichts dagegen einzuwenden, Retailer Zero One.« »Roger! Aufgepasst, wir kommen.« Das Knattern des Helikopters wurde lauter. Graves blickte flussaufwärts zum Himmel auf und sah die insektenähnliche Silhouette des Sea Comanche vor dem Hintergrund des bren nenden Kanonenbootes. Der Sonardom war bereits unten und baumelte etwa 15 Meter unter dem Hubschrauber. »Yeah, Bub«, flüsterte er. »Vielleicht klappt es ja wirklich.« »Okay, alter Junge«, hörte Digger die Stimme des Piloten über Funk. »Du musst mich die letzten paar Meter einweisen. Ich sehe euch nicht mehr, sobald ihr unter meiner Nase seid.« »Roger, Retailer Zero One. Komm nur näher.« Das Knattern der Rotoren war jetzt so laut, dass es alle an deren Geräusche übertönte, doch Graves sah immer noch die Gewehrkugeln rings um sich auf die Wasseroberfläche peitschten. Die Einheimischen waren offensichtlich gar nicht erfreut darüber, dass ihnen ihre Beute zu entwischen drohte. Maschinengewehrfeuer zerriss die Nacht, das jedoch nicht den beiden Fliegern galt, sondern dem anfliegenden Helikop ter. Der Rotorabwind des Hubschraubers wirbelte Gischt auf, als der Sonardom schließlich einige Meter entfernt auf der Wasseroberfläche aufschlug. Allzu schnell trieb der Dom auf Digger zu. Graves musste jetzt vor allem einen Arm freibekommen!
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Rasch schlüpfte er mit dem linken Arm unter den Riemen von Bubbles’ Schwimmweste, verbiss sich den Schmerz von seiner ausgekugelten Schulter und verfolgte mit zusammengekniffe nen Augen, wie das Seil näher kam. Geduldig wartete er auf den richtigen Augenblick und packte dann zu. Er stöhnte auf vor Schmerz, als er das Kevlar-Seil ergriff und das Ziehen in seiner verletzten Schulter spürte. Vom Ufer aus feuerte jemand ein raketengetriebenes Ge schoss ab, um den Fluchtversuch zu unterbinden. Das Ge schoss schlug auf dem Wasser auf, wo es i n etwa 15 Meter Ent fernung explodierte, doch die Erschütterung war so heftig, dass Graves sie wie einen Tritt in den Unterleib empfand. Er krümmte sich im Wasser, und das Seil entglitt ihm und trieb außer Reichweite. Graves holte rasch sein Funkgerät hervor. »Zurück!«, rief er verzweifelt. »Kommt zurück!« Zero One flog noch einige Meter weiter, ehe er in den Schwebeflug überging. Dann kehrte der Helikopter langsam zurück; fast wirkte es so, als werfe er seine Angel nach den beiden Fliegern aus. Ein Geschoss traf Graves am Kragen sei nes Fliegeranzugs und brannte ihm eine Strieme in den Hals, doch er ließ sich dadurch nicht beirren. Jetzt ging es um alles. Entweder es klappte oder er und Bubbles würden hier im Fluss sterben. Er griff nach dem Seil, packte zu, so fest er konnte, zog Bubbles an den Sonardom und schloss seine Arme um sie und den Dom. Jede Bewegung seiner ausgerenk ten Schulter verursachte ihm höllische Schmerzen, doch er ließ nicht locker. »Los! Los!« Der Heli senkte die Nase und flog auf die Flussmitte zu. Die Geschwindigkeit war nicht hoch, etwa fünf Knoten, doch der Widerstand des Wassers verursachte Diggers kaum noch zu ertragende Schmerzen. Obwohl ihm alles vor den Augen verschwamm, lockerte er seinen Griff nicht – ganz einfach, weil es sein musste. »Haben wir sie noch, Gus?« »Kann ich nicht sagen, Lieutenant.« Arkady konzentrierte sich ganz auf seine Instrumente;
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Flughöhe und Geschwindigkeit unter allen Umständen muss ten konstant bleiben. Er trug die Verantwortung für zwei Menschenleben, die buchstäblich dm seidenen Faden hingen. Direkt neben ihm tanzten die Funken über die Kabinen haube, als eine Gewehrkugel dagegen prallte. Arkady spürte weitere leichte Schläge, die den Hubschrauber an verschiede nen Stellen trafen. Der Sea Comanche war zwar in vielen kriti schen Bereichen gegen Gewehrkugeln gepanzert, aber eben nicht an allen. Und wie als Bestätigung seiner Besorgnis ertönte plötzlich ein Warnsignal. »Gus, ich habe keine Hand frei. Kümmern Sie sich darum.« »Warnsignal der Maschinensysteme! Zu geringer GetriebeÖldruck! Wir haben ein Leck!« »Überprüfen Sie es!« »Die Temperatur im Getriebe ist schon ziemlich hoch. Mist … überall Öl rund um die Kabinenhaube! Das sieht nicht gut aus, Lieutenant! Wir können uns vielleicht noch zehn Minuten in der Luft halten.« Arkady nahm die Hände nicht mehr vom Steuerknüppel und vom kollektiven Blattverstellhebel. Jetzt blieb ihm nur noch eine Karte, die er ausspielen konnte. Er hatte sich vor dem Augenblick gefürchtet, in dem er auf sie zurückgreifen musste, weil er ganz einfach Angst hatte, dass sich wieder nie mand melden würde. »Gray Lady, hier ist Zero One. Können Sie mich hören?« »Zero One, hier spricht die Gray Lady. Wir hören Sie.« Es war ihre Stimme. Arkady fühlte sich plötzlich wieder imstande, an eine Zukunft zu glauben. Es war ein wunderba res Gefühl. »Gray Lady, wie ist Ihre Position?« »Wir hatten einige Probleme im Minenfeld. Jetzt haben wir es jetzt hinter uns und bewegen uns auf den Bergungspunkt zu. Wie sieht es bei Ihnen aus?« »Besser als noch vor zwei Minuten. Wir schleppen die bei den Moondogs gerade mit dem Seil unseres Tauchsonars ab. Wir hatten mit feindlichem Feuer zu tun und müssen die bei den jetzt bald aus dem Wasser bekommen.«
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»Wir sind in zehn Minuten bei euch«, antwortete die von Störgeräuschen überlagerte, aber dennoch unglaublich schöne Stimme. »Das müsste gerade noch reichen.« »Leutnant, das müssen Sie sich ansehen!« Zhou Shan duckte sich, um das Ruderhaus zu betreten, und stellte sich neben den Radaroperator. Sie betrachteten die Bil der, die das Suchradar auf den Bildschirm bannte. »Ein Überwasserziel, Genosse Leutnant. Es ist soeben im Nancau-Hangdau-Arm aufgetaucht. Ein großes Ziel. Es läuft mit 18 Knoten flussaufwärts. Entfernung dürfte etwa 9 See meilen sein.« »Genosse Leutnant«, meldete sich der Funker vom anderen Ende des überfüllten Raumes. »Der Störfunk des Feindes hat sich etwas gelegt. Ich habe Kontakt mit dem Küstenartillerie kommando bekommen. Sie melden, dass ein feindliches Kriegsschiff in die Minensperre eingedrungen ist und sie durchfahren hat. Das Schiff soll flussaufwärts laufen.« Shan schwieg und eilte zum Cockpit zurück. Er griff nach seinem Nachtfernglas und stützte sich mit den Ellbogen auf die Reling, um flussabwärts zu blicken. Das Feuer, das auf dem Kanonenboot der Küstenwache gewütet hatte, war kurz zuvor verschwunden, was nichts anderes bedeutete, als dass das Wrack gesunken war. Das einzige Licht in östlicher Richtung kam von den Leuchtgranaten, die immer wieder über der Mündung auf tauchten. Eine von ihnen flammte so hell auf, dass Zhou Shan eine Silhouette wahrnahm, die ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Dies war kein gewöhnliches Schiff – zu ge schwungen und fließend waren seine Formen. »Funker«, sagte Shan mit völlig ruhiger Stimme, wie es sich für einen wahren Kommandanten gehörte. »Setzen Sie sich mit dem Küstenartilleriekommando in Verbindung. Ersuchen Sie darum, dass weiter Leuchtgeschosse abgefeuert werden. Das Ziel muss beleuchtet sein, wenn wir angreifen. Bootsmann Hung!«, fuhr er etwas lauter fort. »Sagen Sie al len Booten, sie sollen die Maschinen anlassen!«
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»Stealth-Zentrale, Radarprofil-Status?« Der Bildschirm auf der Backbord-Brückennock war intakt, so dass Amanda von hier aus die Operation leitet könnte. »Wir haben keine Stealth-Kapazitäten, Capt’n. Außerdem ist die radarabsorbierende Beschichtung an den Aufbauten stark beschädigt.« »Nun, sie wissen ja ohnehin, dass wir hier sind. Nützen Sie trotzdem alle Möglichkeiten, die wir noch haben, Mr. McKel sie.« Die Duke war nun endgültig außerhalb der Reichweite der Artillerie und hatte ihr Tempo spürbar beschleunigt. Überall auf der Brücke und auf dem Vordeck waren die Geräusche der Reparaturarbeiten und die Rufe der Schadenkontrollteams und Sanitäter zu hören, die ihrer Arbeit nachgingen. Als Hin tergrundgeräusche konnte man das stetige gedämpfte Dröh nen der Turbinen und das Zischen des Bugs vernehmen, der sich seinen Weg durch den Fluss bahnte. Und über alldem meinte Amanda plötzlich die Rotoren eines Helikopters zu hören. »Lieutenant! Überhitzungswarnleuchte des Rotorgetriebes! Wir haben fast keinen Öldruck mehr!« Arkady verzichtete auf einen Kommentar. »Moondog, seid ihr noch bei uns?« »Immer noch da, Zero One«, ertönte die erschöpft klin gende Stimme, die von den Hubschraubergeräuschen fast völlig übertönt wurde. »Wir sind fast zu Hause, Moondog. Haltet durch. Das Schiff nähert sich schnell.« »Zumindest hoffe ich, dass es so ist«, murmelte Arkady un hörbar. »Gray Lady, Gray Lady, für Zero One.« »Wir hören Sie, Zero One«, meldete sich Amanda. »Wir ha ben Sie jetzt auch auf dem Bildschirm. Wir bereiten alles für die Bergung vor.« »Roger, Gray Lady. Ersuche um Vorbereitung der Lande plattform für sofortige Landung nach der Bergung.« »Habt ihr ein Problem, Zero One?«, fragte sie atemlos. »Noch nicht.«
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Die Angst und die Schmerzen ließen nach, als der Helikop ter wieder in den Schwebeflug ging. Digger Graves sog die Luft in tiefen Zügen ein. In dem Bemühen, Bubbles’ Kopf über Wasser zu halten, wäre er beinahe selbst ertrunken. Wenigs tens wurde hier draußen nicht auf sie geschossen. »Hey, Moondog!«, ertönte die freudige Stimme des Piloten über Funk. »Möchtet ihr etwas wirklich Schönes sehen? Dann guckt doch mal flussabwärts!« Digger brauchte einen Augenblick, um sich zu orientieren, und einen weiteren Augenblick, um in der Dunkelheit irgend welche Formen zu erkennen. Dann sah er den hoch aufragen den Schiffsbug, der mehr und mehr Sterne verdeckte. Er konnte nicht wissen, dass er sich so, wie er sich in die sem Augenblick verhielt, auf einem Meisterwerk wiederfin den sollte, dem großartigen Bild des anerkannten Malers Wil son Garrett mit dem Titel Heimkehr der Verlorenen. Darauf wurde der Moment der Bergung für immer fest gehalten: der verunglückte Flieger, der schützend seine Kameradin festhält, der Heli, der wie ein Falke vor dem dunklen Himmel schwebt, die Flügel schützend ausgebreitet, und schließlich das riesige schwarze Schiff, das vor ihnen aus der Nacht auf taucht. »Aegis-Systeme, bekommen wir schon etwas vom SPY-2ARadar herein?«, fragte Ken Hiro vom Kommandosessel des CIC aus. »Negativ, Sir. Alle drei Geräte sind ausgefallen. Ich be komme zwar von Nummer zwei hin und wieder Signale, aber nicht genug, um damit arbeiten zu können.« »Die Deck-Teams melden schwere Schäden an der Vorder seite der Aufbauten«, berichtete einer der Offiziere der Scha denkontrollabteilung dem Ersten Offizier der Cunningham. »Wie es aussieht, haben wir einiges abbekommen, Sir.« Hiro runzelte die Stirn. Im Augenblick war das Radarauge der Duke ausgerechnet nach vorne blind. Die Duke konnte nicht sehen, was flussaufwärts vor ihr lag – und genau von dort ging jetzt die größte Gefahr aus. »Schalten Sie das Mast-Sichtsystem ein«, befahl Hiro. »Be
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halten Sie vor allem den Bereich vor uns im Auge. Aegis-Operator, haben wir irgendwelche Alternativen?« »Ja, Sir«, antwortete die Operatorin. »Wir könnten das Aegis-System mit dem Navigationsradar koppeln und auf diese Weise zu einem taktischen Display kommen. Das Navigati onsradar ist voll funktionstüchtig. Es lässt sich so zwar nur Entfernung und Richtung bestimmen, und wir haben keine Feuerleitung – aber wenigstens können wir das Gebiet vor uns absuchen.« »Sehr gut, kümmern Sie sich gleich darum.« Die Operatorin leitete sofort alles in die Wege. Auf dem Alpha-Screen begannen sich die Details eines aktiven Radardis plays über die Computergrafik-Karte des Flussdeltas zu legen. »Mehrere Oberwasser-Kontakte!«, rief der Radar-Operator aus. »Peilung zwei-sieben-null, Entfernung 6 Seemeilen. Vier Ziele! 38 Knoten. Entfernung verringert sich rasch!« »Richten Sie das MMS darauf!«, ordnete Hiro an. »StealthZentrale, können Sie schon etwas über die Kontakte sagen?« »Wir haben noch keine Daten«, antwortete McKelsie aus der Stealth-Zentrale. »Durch den Ausfall des SPY-Radars be kommen wir nichts mehr herein.« »Signal Intelligence?« »Unsere Systeme sind durch die Erschütterung beschädigt worden!« Aus der Intel-Abteilung hörte Hiro, wie jemand mit der Faust auf eine Konsole hämmerte. »Komm schon, du ver dammtes Ding«, brummte Christine Rendino. »Okay … wir haben es da mit vier aktiven Suchradarsystemen zu tun. Nach der Geschwindigkeit und ihren aggressiven Manövern zu schließen, könnte es sich um Huchuan-Torpedoboote han deln.« »Verstanden. Brücke, wir haben da ein Problem …« Die Wellen hörten auf, gegen den Rumpf zu schlagen, als sich das Torpedoboot 5-16 auf seine Tragflächen erhob. Der Mo ment des Auslaufens war für Leutnant Zhou Shan immer et was Besonderes, doch diesmal hielt das Gefühl länger an. Alle Mann waren auf Gefechtsstation. Bootsmann Hung hockte neben dem Backbord-Torpedorohr, jederzeit bereit, zu
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feuern. Über dem Dröhnen der Maschinen hörte Shan das knatternde Geräusch der chinesischen Flagge im Wind, Vor ihm warteten die Feinde seines Landes. Dies war der Krieg, den er gesucht hatte. »… haben da ein echtes Problem! Vier feindliche Torpedo boote kommen von flussaufwärts auf uns zu. Peilung zweisieben-null. Entfernung rasch abnehmend. Offensichtlich in Angriffsformation.« Amanda rief auf dem Brückennock-Bild schirm das takti sche Display auf. »Ich sehe sie«, antwortete sie, während sie den schweren Telefonhörer mit der Schulter am Ohr festhielt. »Capt’n, hier spricht der Taktik-Offizier. Ich habe keine Feuerleitung für den vorderen Bereich und schlage vor, dass wir ein entsprechendes Manöver einleiten, um die funktionie renden Systeme einsetzen zu können.« »Einverstanden, Mr. Beltrain. Wir machen das jetzt sofort. Erfassen Sie die Ziele so rasch wie möglich. Klarmachen zum Feuern!« »Rudergänger!«, rief sie durch die offene Luke der Brückennock herein. »Ruder hart Steuerbord. Maschinen langsame Fahrt voraus. Neuer Kurs drei-fünf-null.« Während das Schiff abzudrehen begann, nahm Amanda ei nen Feldstecher von einem Regal in der Brückennock und hob ihn an die Augen. Knapp hundert Meter entfernt schwebte Retailer Zero One in geringer Höhe über dem Fluss. Da waren außerdem zwei Punkte direkt unter dem Heli im Wasser – die beiden abgeschossenen Flieger. Und hinter ihnen, weiter flussaufwärts, waren mehrere hellere Punkte zu erkennen. Leutnant Zhou Shan drückte sein Gesicht an das Schaumgummi-Okular des Torpedovisiers und stellte die Optik auf das Ziel ein. Am Flussufer wurden immer noch Leuchtgrana ten in den nächtlichen Himmel gejagt, vor deren Licht sich das feindliche Schiff abzeichnete. Sie drehten ab! Sie boten ihm die Breitseite, was es ihm noch leichter machen würde, den tödlichen Schuss anzubrin gen! Die runden, fließenden Formen des Schiffes waren un
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verkennbar. Es war ein amerikanisches Schiff der Cunningham-Klasse! Und Shan spürte instinktiv, dass es dasselbe Schiff war, das sein Geschwader dezimiert und seine dama lige Besatzung getötet hatte. Es war ein schicksalhafter Mo ment für ihn. »Torpedos klar machen!« Auf der Brücke der Cunningham empfand auch Amanda Lee Garrett den Moment als schicksalhaft. Die Rotchinesen starte ten eine klassische Jeun-Ecoulle-Torpedoboot-Attacke, mögli cherweise die letzte ihrer Art. Es war so, als hatte man den letzten großen Kavallerieangriff bei Omdurman miterlebt, oder das letzte Gefecht der Dreadnoughts in der San-Bernardino-Straße. Sie wurde Augenzeugin, wie ein Kapitel in der Geschichte der Kriegführung abgeschlossen wurde, Doch der Angriff mochte noch so historisch sein – er stellte in jedem Fall eine große Gefahr für ihr Schiff dar. »Capt’n, hier spricht der Taktik-Offizier. Wir haben die Tor pedoboote erfasst. Die Harpoons sind scharf und feuerbereit!« »Feuer!« Amanda spürte das Donnern der Raketenzündung durch und durch. Die Augen zu schmalen Schlitzen verengt, die Hände an die Ohren gepresst, ließ sie das goldene Leuchten und den heißen Atem des Raketenstarts auf sich wirken. Zhou Shan war sich bewusst, dass nun der Tod kam, als er die vier Lichtstrahlen wie Kometen vom Vordeck des amerikani schen Schiffes aufsteigen sah. Das Feuer leuchtete zunächst gelb und dann blau, als die Anti-Schiff-Raketen vom Raketen zum Jetantrieb übergingen. Es blieben ihm nur wenige Sekunden, um zu reagieren. Und es gab nur eins, was er tun konnte. Die erste Harpoon traf das nördlichste Boot des Geschwa ders. Ganz auf den Einsatz gegen kleine Boote eingestellt, zündete die Rakete sofort beim Einschlag; es war, als träfe eine Gewehrkugel auf eine mit Nitroglycerin gefüllte Eier schale. Das Tragflächenboot ging in einer gewaltigen Explo sion unter.
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Auch das zweite Boot wurde völlig zerstört. Dann das dritte … Es war eine Welle der Zerstörung, die unaufhaltsam auf das Torpedoboot 5-16 zurollte. »Feuer!« Der tapfere Hung folgte der Anweisung, ohne zu zögern. Der Treibsatz wurde gezündet, und der Torpedo vom Typ 53 wurde aus dem Backbordrohr geschleudert. Für einen Augen blick schien er regungslos zu verharren, ehe er ins Wasser ein tauchte wie ein springender Fisch, der in sein Element zurückkehrte. Es war das letzte Bild, das Zhou Shans Augen sahen, ehe seine Welt in Feuer und Dunkelheit versank. Im CIC verschwand auch das letzte Ziel vom Alpha-Bildschirm. Doch im nächsten Augenblick tauchte das Symbol ei nes feindlichen Torpedos auf. »Aal im Wasser!«, rief Fester aus der Sonarabteilung. »Ziel ist als Typ 53 im aktiven Zielerfassungsmodus identifiziert! Er hat uns erfasst und kommt direkt auf uns zu!« »Mr. Beltrain!«, rief Hiro. »Mark-50-Antitorpedo-Programm einleiten! Klarmachen zum Feuern!« Der Erste Offizier griff nach dem Telefonhörer. »Capt’n! Die Rotchinesen haben einen Torpedo gelöst! Wir bereiten einen Mark-50-Torpedo vor!« »Sehr gut! Feuern nach eigenem Ermessen!« Sie musste das Schiff schützen. Das hatte Vorrang vor allem anderen. Da nahm sie das Knattern von Hubschrauberrotoren wahr. »O Gott! Funkraum! Verbinden Sie mich mit Zero One! Schnell!« »Arkady! Holen Sie sie aus dem Wasser! Sofort!« Er wusste, wen Amanda meinte, und der Nachdruck, mit dem sie sprach, ließ keine Fragen zu. Rasch wechselte er auf CSAR-Funk. »Moondog! Haltet euch am Sonardom fest! Um Himmels willen, haltet euch fest!« Er drehte verzweifelt am Gasgriff des Blattverstellhebels, um das flügellahme Rotorsystem noch einmal anzukurbeln.
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Langsam und behäbig hob sich der Sea Comanche empor. Ar kady spürte die Last, die am Sonarseil hing. Die Moondogs waren also noch da. »Lieutenant!«, stieß Gus erschrocken hervor. »Das ver dammte Getriebe fällt gleich auseinander!« »Was Sie nicht sagen!« Irgendetwas ging da vor sich. Graves hatte die Harpoons von der Cunningham aufsteigen sehen, und er hatte auch gesehen, wie sie einschlugen. Jetzt war wieder etwas unter ihm vorbei gerast, und zwar in derselben Richtung wie die Raketen zu vor. Er hatte die Strömung im Wasser gespürt, und auch die Vibrationen des Antriebs. Dann war der Ruf über Funk gekommen. Graves spürte, wie das Seil durch seine Finger glitt und der Sonardom sich emporhob. Verzweifelt hielt er sich daran fest und bemühte sich, auch Bubbles nicht zu verlieren. Als sie aus dem Wasser gehoben wurden, lastete sein gesamtes Gewicht auf seiner ausgerenkten Schulter. Er stieß einen Schrei aus und kämpfte mit aller Kraft darum, nicht das Bewusstsein zu verlieren. »Torpedo nimmt die Suche auf, Sir«, meldete die TorpedoOperatorin. Dix Beltrain nickte und blickte ihr schweigend über die Schulter. Was sie hier unternahmen, war in gewisser Hinsicht ein Experiment. Theoretisch sollten die Sonarsys teme der Duke exakt genug und die Feuerleitprozessoren schnell genug arbeiten, um dem angreifenden Geschoss einen Torpedo in den Weg stellen zu können. Theoretisch sollte der amerikanische Torpedo auch in der Lage sein, den feindlichen Aal zu erkennen und ihn per Annäherungszündung zu erle digen. Doch auch wenn alles nach Plan verlief, würde das Ganze einem Frontalzusammenstoß zweier dynamitbepackter Last wagen gleichkommen. »Haltet euch gut fest! Das wird sehr eng!« Von draußen auf der Brückennock sah es so aus, als wäre ir gendwo unter der Oberfläche des Jangtse ein gigantisches
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Blitzlicht entzündet worden. Zuerst kam ein blauweißes Leuchten, bevor sich mitten im Fluss ein gewaltiger Riss auf tat. Mit einem ohrenbetäubenden Knall schossen tausend Wasserfontänen gleichzeitig empor. Amanda fasste nach der Brückenreling, als sich die Duke vor der Explosionswelle auf die Seite legte. »Maschinen stopp! Position halten!«, rief sie aus. Nachdem der Zerstörer sich wieder aus der Schräglage auf gerichtet hatte, hob sie den Feldstecher an die Augen und ver suchte verzweifelt, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Es dröhnte immer noch so laut in ihren Ohren, dass es vergeblich gewesen wäre, auf das Knattern der Rotoren zu achten – dafür sah sie den Heli wenige Sekunden später über dem Fluss auf tauchen. Amanda sah auch den seltsamen Klumpen am Ende des So narseils – mit vier Beinen, die nach unten baumelten. Er hatte es geschafft! Arkady hatte sie aus dem Wasser gezogen, bevor die Druckwelle kam. Sie hatten immer noch eine Chance! Amandas Erleichterung war jedoch nur von kurzer Dauer, denn gleich darauf beobachtete sie, wie der Helikopter in der Luft zu taumeln begann und ein Funkenfeuerwerk aus den Triebwerken hervorbrach. »Lieutenant! Der Rotorantrieb fällt aus!« Arkady verzichtete auf eine Antwort; sein Waffensystemof fizier hätte ihn bei dem Vibrationsgeklapper und den heulen den Alarmsirenen ohnehin nicht verstanden. Es kündigte sich zweifellos ein schwerer Rotorschaden an – das Schlimmste, was einem Hubschrauberpiloten passieren konnte, vielleicht abgesehen davon, dass man gegen einen Berghang krachte. Die beiden Moondogs erschwerten die Situation zusätzlich. Arkady spürte ihr Gewicht am Ende des Seiles baumeln. Das Lehrbuch sagte, dass man in einer solchen Situation so schnell wie möglich landen sollte. Das ging nun einmal nicht, weil er die beiden verunglückten Flieger unter sich hatte. Und so tat Arkady genau das, was man laut Lehrbuch nicht hin sollte: Er drehte den Gasgriff voll auf, um trotz des angeschla genen Getriebes noch ein wenig Leistung in den Rotor zu be kommen.
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Meter für Meter taumelte der Helikopter auf die Cunning ham zu. »Gus, fertig machen zum Abwerfen der Sonaranlage!« Es war keine Zeit mehr für ein genau geplantes Vorgehen. Wenn überhaupt, dann blieb gerade genug Zeit, um seine bei den Schützlinge in Sicherheit zu bringen. Als sie das Schiff erreichten, hatten sie kaum noch die nötige Höhe um mit dem Sonardom nicht an der Reling hän gen zu bleiben. Arkady sah für einen kurzen Augenblick eine schlanke Gestalt auf der Brückennock stehen und zu ihm auf blicken, ehe der Helikopter über das Vordeck kam. »Gus, runter mit dem Ding!« Arkady spürte, wie sich die Sonaranlage vom Stummelflü gel löste und auf das Deck zuraste. O Gott, bitte lass das ver dammte Ding nicht auf den beiden armen Teufeln landen. Durch das Abwerfen des Sonargeräts hatten sie spürbar an Gewicht verloren und konnten dadurch etwas besser manövrieren. Doch dafür löste sich das Getriebe nun buch stäblich in seine Bestandteile auf. Erneut heulten Alarmsire nen auf und kündigten so einen beginnenden Turbinenausfall an. Arkady überflog das Vordeck und riss den Schwanz des flügellahmen Helis herum, um ihn irgendwie nach achtern zu bugsieren und auf der Landeplattform niederzugehen. »Festhalten, Gus! Das wird eng!« Er ließ die Maschine noch ein Stück seitwärts gleiten und versuchte, das große ›H‹ auf der Landefläche anzuvisieren. Rasch kam die Anflugmarkierung auf ihn zu. Flammen spie gelten sich im beschädigten Kunststoff der Cockpithaube, und Metall rieb sich kreischend an Metall. Die Mitglieder der Decksmannschaft sprangen zur Seite, um sich vor der drohen den Katastrophe in Sicherheit zu bringen. Ein einziger Ge danke schoss Arkady durch den Kopf. DAS FAHRWERK! »Ah, verdammt.« Arkady stellte die Triebwerke ab und ließ den Hubschrauber fallen. Zero One landete hart auf dem Bauch und rollte dann auf die Seite. Die Rotorblätter zersplitterten in tausend Teile, als
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sie mit dem Deck in Berührung kamen, während der Rumpf auf den Stummelflügeln zappelte wie ein an Land geratener Fisch. Als der Heli schließlich zum Stillstand kam, eilte sofort ein Crash-Team herbei. Arkady öffnete die Gurte und versuchte die Cockpithaube hochzustemmen, die sich jedoch keinen Millimeter bewegen ließ. Erst jetzt nahm der Pilot den Geruch von heißem Metall und Rauch im Cockpit wahr. Die Leute vom Crash-Team bemühten sich inzwischen, das Cockpit mit Brecheisen zu öffnen. Arkady zog die Beine hoch und stützte sich mit den Füßen am Sitz ab, um mit dem Rücken gegen die Cockpithaube zu drücken. Er presste sich mit aller Kraft dagegen, bis sich die Haube schließlich löste und er aus dem Hubschrauber fiel. Als er wieder auf die Beine kam, wurde der Heli bereits mit einem halben Dutzend Feuerlöschgeräten bearbeitet. Arkady schloss sich sofort dem Hilfstrupp an und half mit, das hintere Cockpit aufzubrechen und seinen Waffensystemoffizier he rauszuholen. Erst als Gus draußen war, gönnte sich Arkady das wunderbare Gefühl eines tiefen Atemzugs. Er wandte sich den Aufbauten und der Kamera zu, von der er wusste, dass sie auf ihn gerichtet war. Dann hob er beide Arme zu einer triumphierenden Geste – eine Botschaft an ei nen Menschen, der ihn – da war er sich ganz sicher – in die sem Augenblick sehen konnte. Auf dem Vordeck der Cunningham hob Digger Graves ziem lich benommen den Kopf. Bubbles lag neben ihm und stöhnte leise. Sofort kamen aus den Aufbauten mehrere Leute von der Schadenkontrolle und dem Erste-Hilfe-Team herbeigeeilt. Graves versuchte sich auf einen Ellbogen zu stützen und stellte plötzlich fest, dass irgendetwas fehlte. Der brennende Schmerz in Seiner Schulter war fast verschwunden. Durch die Beanspruchung beim Festklammern am Seil oder aber durch den Aufprall auf dem Deck hatte sich die Schulter offenbar wieder eingerenkt. »Ich glaub’, ich träume«, murmelte er und starrte ungläubig auf seinen Arm hinunter, den er wieder völ
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lig normal bewegen konnte. Dann verlor er zum drittenmal in dieser Nacht das Bewusstsein. Auf der Brückennock blickte Amanda von dem Bildschirm auf, der die Hubschrauberlandeplattform zeigte. Arkady war zurückgekehrt. Weiter vorne wurden die beiden geretteten Flieger unter Deck getragen. Zwar blieb ihr jetzt immer noch das Problem, wie sie das Schiff wieder aufs Meer hinausbeka men, aber wenigstens hatte sie ihre verlorenen Schäfchen wie der bei sich. Sie biss sich auf die Unterlippe und wischte die Tränen weg, die ihr unwillkürlich in die Augen traten. »Rudergänger, wenden Sie mit den Hydrojets. Kurs einsnull-null. Wir fahren in Kürze flussabwärts zurück.« Die Duke wendete und richtete ihren Bug wieder zum Meer hinaus, um sich auf die schwierige Rückkehr in die Frei heit vorzubereiten. Plötzlich erstrahlten die Konturen der südlichen Land zunge in flackerndem Licht, und eine Welle von mehreren Ex plosionen donnerte von der Flussmündung herauf. »Gefechtszentrale, flussabwärts ist irgendetwas im Gange. Wisst ihr schon, was?« »O ja, Ma’am, und ob wir das wissen!«, ertönte Christine Rendinos triumphierende Stimme. »Wir haben soeben eine Meldung von der Task Force reinbekommen. Sie haben einen Luftangriff gegen die Kerle da unten am Ufer gestartet! Die Geschützbatterien werden gerade außer Gefecht gesetzt. Sie halten die Tür für uns auf!« »Und wir machen, dass wir durch die Tür schlüpfen! Zwei ter Rudergänger, Maschinen ein Drittel voraus! Nichts wie raus hier!« »Sir, eine Meldung von der Cunningham! Sie haben soeben die Minensperre passiert und verlassen nun den Küstenbereich. Alle Mann vollzählig an Bord. Alle Aufgaben ausgeführt.« »Yeah!«, rief Admiral Tallman aus und hämmerte mit der Faust auf die Konsole. »Yeah!« Die Spannung in der Flugeinsatzleitung löste sich schlagar tig und schlug in Jubel um. Von allen Seiten waren triumphie
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rende Pfiffe und Ausrufe zu hören; die Männer und Frauen klatschten einander ab und fielen sich in die Arme – vor Freude darüber, dass das Schiff mit ihren Mitstreitern dem si cher scheinenden Untergang entronnen war. MacIntyre lächelte im dämmrigen Licht. »Nun, Jake – ich hab’ dir ja gesagt, dass sie es schaffen kann.« »Das hast du, Eddie Mac! Verdammt noch mal! Schade, dass mein Sohn schon verheiratet ist. Diese Frau hätte ich gern in der Familie!« »Das verstehe ich gut, alter Junge.« »Admiral MacIntyre«, meldete Nolan Walker und reichte ihm ein Blatt Papier. »Eine zweite Nachricht von der Cunning ham. Persönlich. Commander Garrett an CINCSPECFORCE.« »Danke, Commander«, antwortete er und sah, dass jetzt so gar Commander Walker ein Lächeln auf den Lippen hatte. MacIntyre trat ans Schott und hielt die Nachricht unter eine der Gefechtslampen. Alle Schafe sind wieder im Pferch. Lächelnd faltete MacIntyre das Blatt und steckte es in seine Hemdtasche.
Ostchinesisches Meer 28. August 2006, 05:34 Uhr Ortszeit Es gab noch einen Einsatz, der auf den CSAR-Helikopter war tete; er hatte die Verwundeten der Cunningham abzutranspor tieren. Da die Hubschrauberlandeplattform immer noch vom Wrack des heimgekehrten Helis blockiert war, mussten die vier Personen mit den schwersten Verletzungen am Seil zum Oceanhawk hochgezogen werden, der über dem Vordeck schwebte. Doc Golden hatte seine Patienten an Deck begleitet, um den Transport zu überwachen. Schließlich gab er dem Deck-Controller das Zeichen, dass aus seiner Sicht alles klar zum Abflug war. Der Controller nickte und gab das Signal an den Piloten
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weiter. Der SH-60 senkte die Nase und schraubte sich zum Himmel empor. Golden atmete tief durch. Eine dringende Aufgabe hatte er noch vor sich. Er nahm seine Tasche und ging zu den Aufbau ten zurück, vorbei an den Kollegen von den Schadenkontroll teams, die sich um die Wunden des Schiffes kümmerten. Auf der ramponierten Brücke saß Ken Hiro erschöpft auf dem Kommandosessel. Auch hier oben begann sich die Lage wieder zu normalisieren. Elektrotechnik-Maate ersetzten be schädigte Bildschirme und Systemmodule. Man würde je doch fürs Erste nur so viel tun, dass die Crew ihrer Arbeit nachgehen konnte. Die Duke würde einer eingehenden Be handlung bedürfen, bevor sie wieder als völlig geheilt be trachtet werden konnte. »Wir haben alle schweren Fälle abtransportiert«, meldete Golden. »Wie geht es den Fliegern, Doc? Ich habe sie nicht unter den Abtransportierten gesehen.« »Wir werden uns noch ein Weilchen hier um sie kümmern«, antwortete Golden. »Die Ärzte drüben auf der Enterprise stim men mit mir überein, dass sie keine schweren Verletzungen davongetragen haben. Außerdem würde es ihnen bestimmt nicht gut tun, wenn wir sie am Seil abtransportieren.« Der Arzt rieb sich die müden Augen. »Wir warten, bis sich ihre Lage weiter stabilisiert hat und die Hubschrauberlande plattform wieder frei ist.« Der Erste Offizier der Duke nickte. »Alles klar.« »Apropos Hubschrauber … Wie sieht es eigentlich mit Zero Two aus?« »Sie sind sicher an Bord der Antietam gelandet. Die Annie ist gerade unterwegs, um mit uns zusammenzutreffen. Lieute nant Delany und ihre Waffensystemoffizierin mussten eigent lich rechtzeitig zum Mittagessen wieder an Bord sein.« »Freut mich zu hören, Sir. Vor allem, dass wir mit der An tietam zusammentreffen«, antwortete Golden und lehnte sich gegen den Kommandosessel. »Es gefällt mir nicht recht, dass wir so allein durch die Gegend streifen.« »So allein sind wir gar nicht. Die Antietam hat uns bereits
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auf ihren Aegis-Schirmen, und über uns in 9000 Meter Höhe wacht eine halbe Staffel Super-Hornets über unsere Sicher heit. Wir haben’s überstanden, Doc.« »Nicht ganz. Wissen Sie zufällig, wo sich unser Capt’n auf hält, Commander?« »In der Messe.« »Danke.« Sie waren zu dritt in der Messe – die Intel-Offizierin, die so wachsam und argwöhnisch wirkte wie ein aufmerksamer Wachhund, der Hubschrauberpilot, der mit geschlossenen Augen auf der Couch lag, den Fliegerkombi neben sich auf dem Boden abgelegt, und schließlich die Kommandantin, die auf einem der Stühle saß und selbstvergessen eine Tasse Tee in der Hand hielt. Golden trat an ihre Seite und ging neben dem Stuhl in die Knie. Er nahm einen Tupfer und Desinfektionsmittel aus sei ner Tasche und begann die verkrusteten Schnittwunden und Kratzer in ihrem Gesicht und an ihren Armen zu reinigen. Amanda schien ihn zunächst gar nicht zu bemerken, bis sie das Brennen des Desinfektionsmittels spürte. »Mir fehlt nichts, Doc«, sagte sie. »Kümmern Sie sich um die Besatzung …« »Keine Sorge, Capt’n, Sie sind die Letzte. Alle Verletzten sind versorgt und wurden entweder abtransportiert oder hier auf dem Schiff auf ein bequemes Plätzchen gebettet. Wenn Sie also jetzt bitte stillhalten möchten und mich meine Arbeit tun lassen …« Sie ließ die Behandlung schweigend über sich ergehen. »Wie viele Verletzte haben wir?«, fragte sie schließlich. »Zehn. Alle entweder auf der Brücke oder im Munitions bunker unter der vorderen Oto Melara. Vier sind schwer ver letzt, werden aber, so wie ich das sehe, durchkommen.« Commander Garrett nickte erneut und ließ sich erschöpft zurücksinken. »He, Doc«, meldete sich Arkady von der Couch, während sein Blick auf der Frau im Stuhl ruhte. »Meinen Sie nicht, dass es vielleicht gut wäre, dem Skipper ein Schlafmittel zu ge ben?«
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»Das halte ich für gar keine schlechte Idee«, antwortete Golden und brachte einen Verband über einer Schnittwunde an Amandas Unterarm an. »Nein … Lieutenant.« Die Kommandantin schüttelte nach drücklich den Kopf. »Es geht mir gut. Ich muss noch eine Weile wach bleiben. Es ist alles in Ordnung.« »Wie Sie wollen, Ma’am«, antwortete Golden. »Aber wie ich das sehe, werden Sie ohnehin bald von allein umkippen.« »Ich weiß, Doc. Ich spüre es auch. Ich muss mich nur noch um ein paar Dinge kümmern … Doc, haben wir jemanden verloren?« »Ein Mann wurde getötet, Captain. Im Munitionsbunker.« »Wer?« »Seemann Langdon. Einer der Neuen, die in Pearl an Bord kamen.« »Ich hatte nicht einmal mehr Gelegenheit, mit ihm zu spre chen«, sagte sie fast flüsternd. Golden hatte seine Arbeit beendet und verstaute seine Utensilien in der Tasche. »Es sind nur kleine Schnittwunden, Capt’n. Nichts Ernstes. Aber ich würde Ihnen raten, dass Sie sich etwas Ruhe gönnen.« »Das werde ich, Doc. – O Gott, ich musste es tun …« Ihre Stimme war etwas lauter geworden, und Arkady setzte sich abrupt auf, während Christine Rendino rasch einen Schritt vortrat. Der benommene Blick verschwand aus Amanda Garretts Augen, und sie sah jeden der Anwesenden an. »Ich konnte sie einfach nicht da draußen lassen!« Ihre Worte klangen wie ein Flehen um Verständnis. »Ich habe das Schiff in Gefahr gebracht. Einige Mitglieder der Crew wurden verletzt, einer ist sogar gestorben. Aber ich konnte sie einfach nicht da draußen lassen. Ich schätze, es klingt verrückt…« »Für mich klingt es einleuchtend«, erwiderte Golden mit leiser Stimme, »und ich glaube, auch für Mr. Arkady und Miss Rendino und wahrscheinlich für so ziemlich jeden hier an Bord.« Er überlegte einen Augenblick, so als musste er einem Pati enten ein Rezept ausstellen.
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»Capt’n, ich bin kein richtiger Militäroffizier. Ich könnte nicht Ihre Arbeit machen oder die Entscheidungen treffen, die Sie treffen müssen. Und, ehrlich gesagt, drängt es mich auch gar nicht danach. Aber als Arzt habe ich viel mit Leben und Tod zu tun. Letzte Nacht haben Sie ein Menschenleben verlo ren, um zwei zu retten. Das ist eine ziemlich tragische Rech nung, aber sie haben trotzdem ein Menschenleben dabei ge wonnen. Und jedesmal, wenn Ihnen das gelingt, Capt’n, haben Sie das Bestmögliche getan.«
Schiffslazarett, U.S.S. Cunningham 28. August 2006, 06:01 Uhr Ortszeit Digger Graves erwachte in einer der oberen Kojen des über füllten Krankenlazaretts. Er stand zwar noch unter dem Ein fluss einer Riesendosis Beruhigungsmittel, doch es war ihm vage bewusst, dass er etwas zu erledigen hatte, dass er jeman dem etwas mitteilen musste. »Bub? He, Bub!«
»Hier bin ich«, antwortete eine müde Stimme aus der Koje
unter ihm, die mit einem Vorhang abgetrennt war. »Wie geht’s dir denn so?« »Wenn du’s unbedingt wissen willst, ich fühle mich hun deelend.« Etwas zittrig hob Graves die Hand über den Bertrand und streckte sie in Bubbles’ Richtung aus. Im nächsten Augenblick fasste eine kleinere Hand die seine mit festem Griff. »Wir haben es geschafft, Bub.«
»Ja.«
»Weißt du was?«
»Was?«
»Ich bleibe.«
»Wusst´ ich’s doch.«
»Ja.« Erneut legte sich ein Schleier über seine Gedanken,
doch er kämpfte dagegen an. Benommen lächelte er in die
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Dunkelheit hinein. »Es ist doch das einzig Vernünftige, nicht wahr, Bub? Ich meine, wenn ich die Navy verlasse … wo finde ich denn noch mal einen so sicheren Job?« »Digger.« »Ja?« »Halt die Schnauze.«
Hotel Manila 28. August 2006, 18:18 Uhr Ortszeit »Das war eine ungeheuerliche Aggression!« Der neutrale Ton der englischen Übersetzung aus dem Ohrhörer schien so gar nicht zu dem wutentbrannten Gesicht des chinesischen Vize premiers Chang zu passen. Diese Wut war im Moment der entscheidende Faktor. Harrison Van Lynden beobachtete den chinesischen Staatsmann aufmerksam. »Wir würden eher den Ausdruck ›Polizeimaßnahme‹ ge brauchen«, antwortete der Außenminister in ruhigem Ton. »Wir sind an Ihren Haarspaltereien nicht interessiert, Mr. Secretary«, erwiderte Chang zornig. »Nennen Sie es, wie Sie wollen. Sie geben hiermit offen zu, dass die Vereinigten Staa ten an den verbrecherischen Aggressionen gegen die Volksre publik China beteiligt sind!« Die Krisengespräche waren in vollem Gang. Die Delegatio nen der verschiedenen Länder saßen an den kreisförmig an geordneten Tischen. Doch an diesem Tag waren die meisten der Diplomaten nur Zeugen der Konfrontation zwischen den USA und Rotchina. »Ich gebe zu, dass die Vereinigten Staaten im Namen der übrigen Pazifikstaaten gehandelt haben, die hier versammelt sind, Wir wollten ganz einfach die Gefahr eines nuklearen Ho locaust abwenden.« »Das war eine rein innerchinesische Angelegenheit!« »Nein, Herr Ministerpräsident!«, erwiderte Van Lynden und schlug mit der flachen Hand auf das weiße Tischtuch.
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»Der Einsatz von Massenvernichtungswaffen, seien sie che mischer, biologischer oder nuklearer Art, kann in der heuti gen Welt nie die Angelegenheit eines einzigen Landes sein. Wir leben alle auf demselben Planeten, Sir!« »Und Sie glauben, das gibt Ihnen das Recht, wie Gangster in mein Land einzudringen?« Lucena Sagada saß still an Van Lyndens Seite. Ihre Auf merksamkeit konzentrierte sich vor allem auf den Außenmi nister. Ihnen gegenüber saß General Ho an seinem Platz ne ben dem Ministerpräsidenten, den ausdruckslosen Blick in die Mitte des Saales gerichtet. »Wir glauben, dass wir uns der Verantwortung stellen mussten, im Sinne unserer Verbündeten zu handeln, die unter der Katastrophe zu leiden gehabt hätten, Herr Ministerpräsi dent. Keiner dieser Staaten hat sich in den innerchinesischen Konflikt eingemischt. Und sie hatten auch nicht die Absicht, das zu hin, bis Sie plötzlich drohten, die Zerstörung auch über Ihre Grenzen hinaus zu tragen.« »Die Vereinigten Staaten werden die Verantwortung dafür übernehmen müssen, das verspreche ich Ihnen, Mr. Secre tary.‹‹ Van Lynden beugte sich über den Tisch. »Herr Minister präsident, meine Regierung meint, dass die unmittelbare Ge fahr eines Atomkrieges abgewendet ist«, stellte er mit uner schütterlicher Ruhe fest. »Ich bin ermächtigt, Ihnen im Namen meines Präsidenten mitzuteilen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika keine weiteren militärischen Maßnah men gegen die Volksrepublik China beabsichtigen. Ich bin aber auch ermächtigt, Sie zu informieren, dass die USA im Augenblick mehr als 300 bewaffnete Kampfflugzeuge und eine ebenso hohe Anzahl von Marschflugkörpern in unmit telbarer Nähe der Volksrepublik China stationiert haben. Wir sind außerdem darauf vorbereitet, falls nötig eine totale Blockade der rotchinesischen Küste einzuleiten und die na tionalchinesischen sowie die VDC-Streitkräfte mit militäri scher Ausrüstung zu versorgen. Wenn die Volksrepublik China ihren Konflikt mit den USA ausdehnen will, dann ist das Ihre Sache. Aber ich denke, dass Ihr Land im Moment
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genug mit sich selbst zu tun hat. Ein zusätzlicher Konflikt wäre da sicher nicht ratsam.« Der stämmige chinesische Staatsmann wusste nichts da rauf zu antwo rten. Unvermittelt stand er auf, offensichtlich mit der Absicht, den Konferenzsaal zu verlassen. General Ho folgte ihm schweigend. »Herr Ministerpräsident!«, tönte Van Lyndens Stimme hin ter ihm mit so abrupter Härte, dass er stehen blieb. »Ich bin ermächtigt, Ihnen noch etwas mitzuteilen. Falls die Volksrepublik China beabsichtigen sollte, weitere ›außeror dentliche Maßnahmen‹ zu ergreifen, so sollen Sie wissen, dass amerikanische Interkontinentalraketen auf eine ganze Reihe von chinesischen Militäreinrichtungen gerichtet sind. Dies wird so lange so bleiben, bis der Konflikt in Ihrem Land been det ist… auf die eine oder andere Weise.« Die Konferenz wurde vertagt. Die Krise war bereinigt. Die Ge spräche hatten eine gewisse Rolle in der Beilegung gespielt, wenn auch nicht die, die Van Lynden erwartet hatte. Trotz dem hielt er alles in allem den Krisengipfel für gelungen. »Es hat mich sehr gefreut, mit Ihnen zusammenarbeiten zu können, Sir«, sagte Lucena Sagada, nachdem sie ihre Unterla gen in ihrer Aktentasche verstaut hatte. »Ich habe viel gelernt. Das war für mich eine einmalige Gelegenheit.« »Sie reden so, als wäre das Ganze schon vorüber, Lucena.« »Ist es das denn nicht?« »Für uns fängt es erst so richtig an. Kommen Sie mit. Wir müssen uns mit ein paar Leuten unterhalten.« Die Delegierten der GA und der Vereinigten Demokraten saßen immer noch am Konferenztisch. Minister Ho und Pro fessor Yi unterhielten sich in leisem Ton. Als Van Lynden und seine Assistentin sich zu ihnen gesellten, erhoben sich die bei den Chinesen lächelnd. »Mr. Secretary«, begann Ho, »das chinesische Volk kann Ih nen heute nur Danke für Ihre Hilfe sagen. Vielleicht werden wir irgendwann in der Lage sein, auch etwas für Sie zu tun.« »Vielleicht«, antwortete Van Lynden, während er auf der anderen Seite des Tisches stehen blieb.
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Professor Yi nickte mit glänzenden Augen. »Wir alle hatten großes Glück, Großes Glück.« »Gentlemen, meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass wir selbst unseres Glückes Schmied sind … und genau so war es auch in diesem Fall, nicht wahr?« Ehe Gesichter der beiden chinesischen Diplomaten wirkten plötzlich wie versteinert. »Wie meinen Sie das, Mr. Secretary?«, fragte Professor Yi zögernd. »Ich meine, dass die Konferenz vorüber ist. Die Medien sind abgezogen, und jetzt können wir vielleicht ein paar wirk lich offene Worte reden. Kurz gesagt, Gentlemen: Schluss mit Ihren Märchen! Wir sind im Bilde!« »Sie sind worüber im Bilde, Mr. Secretary? Und wen mei nen Sie mit ›wir‹?« Lucena Sagada gehörte offensichtlich nicht zu den Einge weihten, wie man ihrem verdutzten Gesicht unschwer ent nehmen konnte. Van Lyndens Gespräche zu diesem Thema hatten auf einer Ebene stattgefunden, zu der selbst sie keinen Zugang hatte. Doch Van Lynden sah keinen Grund, ihr die Sa che länger vorzuenthalten. »Mit ›wir‹ meine ich die Minister der übrigen Pazifikstaa ten. Wir wissen, dass Sie das alles inszeniert haben! Von An fang an. Die ganze Krise. Den nuklearen Bürgerkrieg. Unsere Intervention in Shanghai. Das gehörte alles mit zum Plan. Zu Ihrem Plan.« »Das ist eine kühne Behauptung, Mr. Secretary«, antwor tete Ho. »Wie kommen Sie dazu, so etwas zu sagen?« »Wollen Sie etwa Beweise?«, erwiderte Van Lynden lächelnd. »Wir sind gerade dabei, sie zu sammeln. Im Augen blick beruht das Ganze auf unserem Gespür und unseren Be obachtungen während der letzten Tage und Wochen. Zunächst einmal muss ich Ihnen zu Ihrer strategischen Meis terleistung gratulieren. Der erste chinesische Bürgerkrieg ging nicht wirklich 1949 zu Ende, nicht wahr? Sie haben diese ganze Operation, die Rückeroberung des Festlandes 50 Jahre lang geplant. Schritt für Schritt. Dabei haben sie an alles ge dacht. Außer an eine Sache.«
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Van Lynden beobachtete die beiden Männer aufmerksam und fügte schließlich hinzu: »Die Möglichkeit eines Atomkrie ges. Was hätten Sie gegen das rotchinesische Atomwaffenar senal unternommen?« »Wir haben auch in dieser Hinsicht unsere Vorkehrungen getroffen, Mr. Secretary«, antwortete Ho und verzichtete auch auf die letzten Reste seiner gewohnten Jovialität. »Natürlich vertrauten wir auf die abschreckende Wirkung unserer eige nen Waffen.« »Nein, das haben Sie nicht, Sir. Sie wussten genau, dass Sie mit Ihrer Hand voll Bomben eine kommunistische Regierung, die um ihr Überleben kämpft, nicht aufhalten könnten. Ich bin mir sicher, dass Sie das wussten! Schließlich kennen Sie ja die Mentalität Ihrer Landsleute. Ihr Arsenal war gerade groß genug, um sicherzustellen, dass jeder Einsatz von Nuklearwaffen zu einem ausgewachse nen Atomkrieg führen würde. Zu einem Krieg, der für die ge samte Pazifikregion katastrophale Folgen gehabt hätte. Und deshalb rechneten Sie von Anfang an damit, dass die Vereinig ten Staaten und die anderen Länder hier alles in ihrer Macht Stehende tun würden, um diesen Krieg zu verhindern.« Van Lynden beugte sich über den Tisch. »Sie haben uns allen etwas vorgespielt«, sagte er, jedes einzelne Wort betonend. »Diese ganze Krise war von A bis Z ein GA-Täuschungsmanöver. Sie haben uns benutzt, damit wir für Sie den gefährli chen Teil des chinesischen Atomwaffenarsenals außer Gefecht setzen. Damit sollten wir Ihnen den einzigen Stein aus dem Weg räumen, der Ihnen noch den Weg nach Peking versperrte.« Professor Yi lächelte, als wäre Van Lynden einer seiner be gabtesten Schüler. »Sehen Sie es doch einfach so, Mr. Secre tary: Vielleicht haben wir Ihr Land ermutigt, eine notwendige Entscheidung zu treffen. Der Rote Drache stirbt. Bald wird China wieder frei sein. Ist das denn nicht eine gute Sache?« »Doch«, antwortete Van Lynden und richtete sich auf. »Ja, das ist es wirklich. Aber Sie haben uns alle an den Rand des Abgrunds gebracht, um das zu erreichen. Dass der Zweck die Mittel heiligt, ist doch wohl eher ein Grundsatz, der im Reich des Roten Drachen geläufig ist.«
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»Mag sein. Aber jetzt ist ja alles vorbei.« Harrison Van Lynden stieß ein bitteres Lachen aus, das auch auf Lucena Sagada nicht sehr sympathisch wirkte. »Sie irren sich, Gentlemen. Wir werden jetzt für eine lange Zeit zu sammenarbeiten.« »Wie meinen Sie das?«, fragte Ho in scharfem Ton. »Es gibt da eine alte Tradition in Ihrem Land, Mr. Ho. Wenn jemand einem Menschen das Leben rettet, so ist er für ihn ver antwortlich. Nun, Gentlemen, wir haben Ihnen soeben das Le ben gerettet, und jetzt müssen wir uns unserer Verantwortung stellen.« Van Lynden gab ihnen keine Gelegenheit, etwas einzuwen den. Er beugte sich über den Tisch und fügte mit drohend lei ser Stimme hinzu: »Bald müssen hier wichtige Entscheidun gen getroffen werden – und zwar darüber, welchen Weg das postkommunistische China gehen wird. Entscheidungen über die Regierungsform und die Verfassung, auch über die Gren zen des Landes. Und wir werden dabei sein. Die Vereinigten Staaten, Japan, Korea, die Philippinen … alle Länder, die be zahlen hätten müssen, wenn Ihr Plan nicht aufgegangen wäre. Sie haben uns eingeladen, mitzuwirken, und jetzt, das ver spreche ich Ihnen, werden wir erst wieder gehen, wenn die Party zu Ende ist. Gratuliere zu der erfolgreichen Operation, Gentlemen.« »Guten Abend, mein Freund.« »Guten Abend, General«, antwortete Van Lynden und ließ sich neben dem rotchinesischen General auf der Betonbank nieder. Der Springbrunnen plätscherte hinter ihnen, und draußen über der Bucht von Manila tauchten die ersten Sterne auf. Der Außenminister blickte sich um und stellte fest, dass die Sicherheitsleute des Generals diesmal nicht mit von der Partie waren. Van Lynden bemerkte auch die eigenartige Stimmung, in der sich der Chinese befand. War es Resigna tion? Oder gar innerer Friede? »Soll ich Ihnen etwas Komisches verraten, Mr. Secretary?«, fragte Ho mit leiser Stimme. »Was, General?«
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»Irgendwie bin ich sogar froh, dass Ihr Land das meine an gegriffen hat.« »Das ist ein wenig ungewöhnlich.« »Nicht wirklich. Denn heute Abend kann ich mit dem Be wusstsein zu Bett gehen, dass es morgen, wenn ich aufwache, noch ein China geben wird. Vielleicht wird es bald schon nicht mehr mein China sein. Aber es wird China sein. Wenn die Dinge ihren Lauf genommen hätten … wer weiß, was dann übrig geblieben wäre.« »Ich weiß es auch nicht, General«, sagte Van Lynden und lockerte seine Krawatte ein wenig, um den obersten Hemd knopf zu öffnen. »Wissen Sie, meiner Erfahrung nach gibt es meistens auf beiden Seiten eines Konflikts Menschen, die es gut meinen. Männer wie Sie. Sie hätten vielleicht einen Aus weg gefunden.« Ho lächelte grimmig. »Ich glaube fast, Sie überschätzen mich ein wenig, Mr. Secretary. Ich wäre in genau der gleichen ver zweifelten Situation gewesen wie die anderen. Für einen Solda ten ist es immer verlockend, den Feind mit in den Abgrund zu ziehen, wenn man schon sterben muss. Wir können froh sein, dass diese Verlockung nun verschwunden ist. Wir werden mit der Volksrepublik sterben. Aber China wird weiterleben.« »Wie ich schon sagte, General«, erwiderte Van Lynden langsam. »Vielleicht finden Sie ja einen anderen Ausweg. Mir ist aufgefallen, dass Sie heute ohne Ihre Sicherheitsleute ge kommen sind. Die amerikanische Botschaft ist nur ein paar Schritte von hier entfernt. Ich kann Ihnen politisches Asyl zu sichern. Das neue China wird gute Menschen und starke Führungspersönlichkeiten brauchen.« »Darum muss sich das neue China selbst kümmern. Ich gehöre dem alten China an. Die Volksrepublik war vielleicht nicht der beste Staat der Welt, aber ich habe ihm immerhin mein Leben lang gedient. Ich werde mit ihm sterben. Am bes ten in einer Schlacht, die wir verlieren, bevor sie überhaupt begonnen hat. Vielleicht durch ein Exekutionskommando. Jedenfalls gibt es im Leben eines Menschen einen Zeit punkt, wo er zu alt ist, um seine Ansichten zu ändern, nur weil sie sich vielleicht als falsch herausgestellt haben.«
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»Ich verstehe.« Der General erhob sich. »Ich habe unsere Gespräche genos sen, Mr. Secretary.« »Ich ebenso, General«, antwortete Van Lynden und stand ebenfalls auf. »Auf Wiedersehen, Sir.« »Auf Wiedersehen.« Die beiden Männer schüttelten einander die Hand und gin gen ihrer Wege, hinein in die Nacht.
Weißes Haus Washington D.C.
28. August 2006, 13:37 Uhr Ortszeit »Wie sieht es aus?« »Mr. President, nach unseren neuesten Lagebeurteilungen hat sich die Wahrscheinlichkeit, dass es in China zu einem Atomkrieg kommen könnte, auf zehn bis fünfzehn Prozent verringert.« »Also besteht immer noch eine gewisse Möglichkeit, dass eine Million Menschen dem Untergang geweiht sind. Das ge fällt mir gar nicht, Sam. Aber es ist wohl besser als das, was wir zuvor hatten. Vielleicht sogar gut genug, dass ich heute Nacht nicht davon träume.« »Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Sir: Versuchen Sie, die Dinge nicht zu nahe an sich herankommen zu lassen. Wenn man so viel Verantwortung trägt, darf man nicht an je des einzelne Menschenschicksal denken.« Ben Childress lachte kurz und ein wenig bitter auf. »Was Sie da gesagt haben, Sam, ist ein guter Ratschlag – und gleich zeitig der größte Unsinn.« »Ich weiß, Sir. Ich habe es auch nie fertig gebracht.« Die beiden Männer saßen im Oval Office beisammen. Die Lagebesprechung hatte sich zu einem Gespräch unter Freun den entwickelt. »Was geht sonst noch da draußen vor sich? Gibt es irgend
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welche Anzeichen, dass Rotchina einen Vergeltungsschlag ge gen uns vorhat?« Der National Security Adviser schüttelte den Kopf. »Die Kommunisten scheinen alle Hände voll zu tun zu haben. Die GA nützen es aus, dass wir die Shanghaier Luftabwehr außer Gefecht gesetzt haben und bombardieren auf Teufel komm raus. Ich glaube kaum, dass Rotchina sich jetzt auf einen zu sätzlichen Konflikt einlassen kann.« »Das klingt nicht schlecht.« »Ich hab’ noch mehr gute Nachrichten. Unsere Konfliktsi mulationen lassen den Schluss zu, dass wir durch unseren Ein satz den chinesischen Bürgerkrieg um gut einen Monat ab gekürzt haben. Gott weiß, wie viele Menschen dadurch am Leben bleiben, die sonst vielleicht dem Krieg zum Opfer gefal len wären. Und dabei denke ich noch gar nicht an die Bombe.« Präsident Childress nickte. »Das hilft uns bestimmt weiter. Da gibt es nämlich gar nicht so wenige Leute, die wissen wol len, warum ich ein solches Risiko eingegangen bin.« »Sie könnten einfach antworten: ›Weil es das einzig Rich tige war, was wir tun konnten.‹« »Das macht heutzutage auf manche nicht allzu viel Ein druck, Sam.« »Dann verwenden Sie doch den Vergleich mit dem Wohn block, Sir«, brummte Hanson und lehnte sich tiefer in seinen Stuhl. Childress blickte ihn fragend an. »Den Vergleich mit dem Wohnblock?« »Ja, Sir. Früher, in der guten alten Zeit, ließen sich die ein zelnen Länder noch mit Bauernhöfen vergleichen, die überall im Land verstreut waren, oft weit voneinander entfernt. Wenn die Scheune des Nachbarn niederbrannte, sah man höchstens einen Feuerschein am Himmel. Man konnte sich überlegen, ob man etwas unternahm, um zu helfen, oder nicht. Aber heutzutage ist die Welt geschrumpft. Wir leben alle in einem Wohnblock. Und wenn irgendein Idiot im Bett raucht, dann geht das uns alle an.« »Guter Vergleich, Sam. Was bin ich Ihnen dafür schuldig?« »Betrachten Sie es als Geschenk, Mr. President.«
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45 Seemeilen nordwestlich der Insel Amami-Shima 30. August 2006, 9:45 Uhr Ortszeit Auf einem Kriegsschiff gibt es nur wenige Plätze, die einem so etwas wie Privatsphäre vermitteln. Die Cunningham verfügte über zwei solcher Plätze zwischen den Aufbauten. Achtern der Schornsteine befanden sich – durch den Mastaufbau von einander getrennt – zwei kleine Bereiche des Oberdecks. Wenn jemand – egal ob allein oder zu zweit – diesen Ort auf suchte, um auf das Meer hinauszublicken, so besagte eine un geschriebene Tradition an Bord der Duke, dass man ihn oder sie ungestört ließ. »Morgen, Capt’n«, sagte Arkady und lehnte sich neben Amanda an die Reling. Er blickte fragend zu ihr hinüber und wartete geduldig auf ihre Reaktion. »Guten Morgen, Darling«, antwortete sie schließlich. Of fensichtlich brauchte sie im Moment jemanden, der ihr nahe stand, und keinen Untergebenen. »Worüber denkst du denn so angestrengt nach, Schatz?«, fragte er. »Über alles Mögliche. Die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft. Deine, meine, unsere.« »Was genau meinst du damit?« »Christine weiß über uns beide Bescheid, Arkady.« »Ja, und?« Sie hob erstaunt eine Augenbraue. »Du weißt es?« »Das Thema ist zwischen Miss Rendino und mir zur Spra che gekommen. Aber was ändert es, dass sie es weiß?« »Wenn Christine es gemerkt hat, wird es früher oder später auch anderen auffallen.« Arkady nickte nachdenklich, während der Wind sein schwarzes Haar am Rand der Baseballkappe zerzauste. »Das kann man nicht ausschließen.« »Also, was sollen wir tun?« »Gute Frage. Ich schätze, wir werden uns demnächst etwas überlegen müssen.«
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Amanda lachte leise. »Ja, vielleicht. Aber vielleicht löst sich das Ganze ja bald von allein.« »Wie meinst du das?«, fragte Arkady überrascht. »Ich habe gerade überlegt, was für mich als Nächstes kom men könnte«, antwortete sie und blickte auf die weiß und grünlich schimmernde Furche zurück, die die Duke im Meer hinterließ. »Fast mein ganzes Leben lang habe ich auf dieses eine Ziel hingearbeitet: mein eigenes Schiff zu bekommen. Tja, das habe ich ja jetzt erreicht. Ich schätze, ich bin am Höhe punkt meiner Laufbahn angelangt. Aber das wird nicht ewig andauern. Mir bleiben noch eineinhalb Jahre an Bord der Cun ningham. Keine Ahnung, was danach sein wird.« »Was redest du denn da? Du hast doch gerade erst angefan gen!« Amanda schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein. Meine Möglichkeiten sind sehr beschränkt. Früher war es bei der Navy so, dass man als Kommandant eines Zerstörers die Chance bekam, einen Kreuzer zu führen, vielleicht sogar ein Großkampfschiff. Aber heute gibt es für jeden Commander gerade mal ein Schiff – für mich eben die Duke.« »Aber ich bin mir sicher, dass sie dir danach ein anderes Kommando anbieten werden.« Amanda schüttelte erneut den Kopf. »Ein Kampfgruppen begleitschiff vielleicht, oder einen Tender. Wenn ich Glück habe, ein Landungsschiff. Ein Flugoffizier wie du hat da viel mehr Möglichkeiten. Aber für jemanden, der auf die Überwasser-Kriegführung spezialisiert ist wie ich, kommt nach ei nem Zerstörer-Kommando nichts Gleichwertiges nach. Das nächste Gefechtskommando, auf das ich hoffen kann, wäre vielleicht ein Überwasserverband, den man mir als Rear-Admiral übertragen könnte. Dann wäre ich vielleicht Anfang fünfzig. Das heißt, fünfzehn Jahre an der Küste, ohne Aussicht auf einen größeren Einsatz. Das ist mir zu lang, Arkady.« »Was willst du dann tun?«, wollte er wissen. Sein Blick ver riet, dass ihn der Verlauf des Gesprächs plötzlich brennend in teressierte. »Ich werde zuerst einmal meine Zeit auf der Duke zu Ende bringen. Dann möchte ich die eine oder andere theoretische
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Arbeit schreiben. Was anschließend kommt, das weiß ich noch nicht. Vielleicht nehme ich meinen Abschied und lasse mich irgendwo nieder, um Kinder großzuziehen und meinen Gar ten zu bestellen. Ich weiß es nicht.« Das war eine offensichtliche Einladung an Arkady, dazu Stellung zu nehmen. Sie betrachtete ihren jungen Geliebten aufmerksam und fragte sich, wie er wohl reagieren würde. Er blickte auf den Horizont hinaus und überlegte einige Se kunden, ehe er antwortete. »Ich würde sagen, dass du das noch nicht gleich entscheiden musst. Wir haben beide noch et was Zeit, bevor wir uns überlegen sollten, wie’s weitergeht. Ich würde sagen, nützen wir diese Zeit, so gut es uns möglich ist.« Amanda wusste, dass sie keine bessere Antwort hätte fin den können. Ihr Ellbogen berührte ganz leicht den seinen, als sie so nebeneinander an der Reling standen. »Wie wär’s mit einem Rendezvous, Arkady?« »Wo?« »In Japan. Und dieses Rendezvous wird wirklich stattfin den. Wir werden nämlich in Japan einen Zwischenstopp einle gen, um ein paar Reparaturen zu erledigen.« »Also Japan?«, sagte der Pilot mit einem nachdenklichen Lächeln. »Dort kenne ich mich zufällig ganz gut aus. Mal se hen … Warst du schon mal in einem richtigen japanischen On san?« »Keine Ahnung. Was ist denn das?« »Eine Art Kurort mit Thermalquelle. Ich kenne da ein Ther malbad, das schon seit Jahrhunderten von einer Familie be trieben wird. Da gibt es wirklich traditionelle japanische Küche. Sie haben dort diese klassischen niedrigen Futons und die traditionellen japanischen Badebecken. Für Nicht-Japaner dürfte es nicht so einfach sein, ein Plätzchen dort zu ergattern, aber ich glaube, ich könnte es schaffen.« »Das klingt nicht schlecht. Ich … Moment, diese traditio nellen Badebecken … du meinst doch nicht die, in denen Männer und Frauen … ich meine, Fremde … zusammen …« »Hat da etwa jemand Angst?« »Soll das etwa eine Herausforderung sein, Lieutenant?«
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Arkady hatte Recht. Ihnen blieb tatsächlich noch etwas Zeit, bevor es Entscheidungen zu treffen galt.
Über dem Pazifik 30. August 2006, 19:10 Uhr Ortszeit Die VP -3-Orion-Transportmaschine, ein umgebautes kriegs müdes Patrouillenflugzeug, flog gemächlich in südöstlicher Richtung. Ziel des Flugzeugs war Hawaii, genauer gesagt Pearl Harbor. An Bord versuchte Admiral Elliot MacIntyre vergeblich, es sich auf seinem Klappsitz einigermaßen bequem zu machen. Schließlich wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem endlosen Papierkram zu, der seine Aktentasche füllte. Ein Blatt Papier fiel ihm auf, das in einer Ecke steckte. Es war die Nachricht, die Amanda Garrett ihm in der Nacht ihres Einsatzes in Shanghai geschickt hatte. Alle Schafe sind wieder im Pferch. Amanda Garrett… MacIntyre schloss die Aktentasche. Die Nachricht in der Hand, ließ er sich tiefer in den Sitz sinken. Nachdenklich blickte er durch das kleine Fenster an seiner Seite und sah zu, wie die Nacht sich allmählich über das Meer herabzusenken begann.
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