KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
FRANK STUART
DIE LEBENSGESCHICHTE...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
FRANK STUART
DIE LEBENSGESCHICHTE EINES ROBBENWEIBCHENS
VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU • MÜNCHEN • INNSBRUCK . BASEL
Die Katastrophe auf der Eisscholle Der Mond schien, und es war sehr kalt. Glitzernd schoben sich die verschneiten Eisberge gleich Meeresgottheiten durch die Fluten des Weißen Meeres, der großen, weit in das Land vorstoßenden Bucht der Barents-See. Der Nordwind sang seine geisterhafte Melodie dazu. Eine junge Arktisrobbe erwachte und hob witternd den Kopf. Der eisige Wind, der zum Sturm geworden war, traf sie schmerzhaft ins Gesicht. Schrill heulte sie auf. Wie eine Antwort erscholl der Chor der Robben und verschmolz mit dem Pfeifen des Sturmes, dem Krachen des Eises und dem Schlagen der Wellen zu einer Symphonie, die die Märznacht mit einem brausenden Dröhnen erfüllte. Angsterfüllt rutschten die weißen und hellgrauen Neugeborenen auf der großen schwimmenden Eisscholle umher und suchten ihre Mütter, an deren weichen Flanken allein sie sich sicher fühlten. Rina, die Jungrobbe, war in jener arktischen Sturmnacht noch keine zwei Wochen alt. Sie war weniger als einen Meter groß und in ein doppeltes Fell gehüllt. Ihre äußeren Haare waren weich und weiß und begannen an Kopf und Flossen schon auszufallen, während sich die dicken, perlgrauen Unterhaare noch stark kräuselten. Fast kugelrund war die kleine Robbe. Jetzt lag sie regungslos da, schob ihre kohlschwarze Schnauze in ein Eisloch und schaute ängstlich in die gläserne Tiefe hinab. Plötzlich erschien in der kreisrunden Öffnung der Kopf einer Robbenmutter. Sie schob sich durch das Loch, stieß Rina achtlos beiseite und glitt über das Eis, ihr eigenes Junges zu suchen. Schon zeigte sich ein anderer Kopf. Rina erkannte ihre Mutter und warf sich stürmisch gegen den grauen Rücken. Unheil lag in der Luft; Eisschollen türmten sich aufeinander. Die Robbenmütter fühlten den Drang, das malmende Eis zu verlassen. Aber wie konnten sie fliehen, wenn die verängstigten Jungen so erbärmlich nach ihnen riefen? Jetzt prallte die schwimmende Wochenstube mit fürchterlichem Krachen auf einen Eisberg, dessen Ausläufer weit unter Wasser lagen. Der Zusammenstoß war so gewaltig, daß die Scholle wie Glas zersplitterte. 2
Unter den Robben brach eine Panik aus. Die Robbenjungen, die noch nicht wagten, sich dem brodelnden Meer anzuvertrauen, rutschten winselnd auf den auseinandertreibenden Schollen-Bruchstücken umher. Die Mütter versuchten mit Gewalt, sie ins Wasser zu stoßen, doch die Kleinen entglitten ihnen immer wieder. In den Muttertieren kämpfte Selbsterhaltungstrieb gegen Mütterliebe. Der Lebenswille siegte, und eines nach dem anderen gab schließlich das erfolglose Bemühen auf, überließ das Junge seinem Schicksal und flüchtete. Sobald sie das Wasser erreicht hatten, verwandelten sich diese auf dem Eis so tolpatschigen Tiere plötzlich in Nixen von wahrhaft bezaubernder Anmut. Gleich dunklen Schatten glitten sie davon. Sie schwammen so schnell und sicher, daß kein Fisch sie überholen, kein scharfkantiges Eis sie verletzen konnte. Rinas Mutter zögerte am längsten. Als jedoch wieder ein Eisberg gegen die kleine, schaukelnde Scholle krachte, war die Widerstandskraft auch dieser Robbenmutter gebrochen — sie glitt in das Eisloch, durch das sie vor wenigen Minuten gekommen war. Aber das Loch führte jetzt nicht mehr in die Tiefe. Eine flache Scholle hatte sich daruntergeschoben und versperrte den Weg in die Sicherheit. Die Robbe grunzte, tauchte wieder empor und entschwand in der Finsternis. Minuten vergingen, und aus den Minuten wurden Stunden. Immer noch heulte der Sturm und preßte die Wellen zu schwindelnder Höhe. Endlich begann es zu dämmern. In dem matten Morgenlicht sah Rina ein anderes Robbenjunges. Es bewegte sich nicht, der kleine wollige Körper lag wie in einem gläsernen Kasten unter der Eiszunge, die ihn erdrückt hatte. Dicht daneben sah Rina ein zweites Opfer dieser schrecklichen Nacht, dessen Kopf von einem Eisbrocken zermalmt worden war. Weiter entfernt erblickte sie überall leblose, kleine, weiße Pelzkugeln, die kaum eine Woche alt und daher zu schwach gewesen waren, dem Schrecken des Schneesturms zu entrinnen. Diejenigen aber, die am Leben geblieben waren, winselten verzweifelt nach ihren Müttern. Doch solange sich Scholle auf Scholle türmte, wagte keine Robbe den Weg zu ihnen zurück. Am späten Vormittag erhob sich fahl die arktische Sonne über dem Horizont. Sie beschien den wilden Tanz der Schollen und auch die toten jungen Robben. Stündlich vermehrte sich ihre Zahl, denn wohin sich die Tiere auch wandten, überall liefen sie Gefahr, von Eisblöcken zerquetscht zu werden.
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Als nach Stunden der Sturm etwas nachließ, kehrten einzelne Robbenmütter zurück. Prüfend reckte das mutigste Tier den Kopf aus dem Wasser und schwamm auf das Eis zu. Bald erschien eine zweite Robbe, dann eine dritte, eine vierte . . . Jedesmal hob Rina den Kopf. Dann und wann schob sie sich einer Ankommenden entgegen. Doch die Robbenmütter stießen sie beiseite und beachteten sie nicht. Den ganzen Tag über irrte Rina suchend auf der Scholle umher. Die gewohnte Milch fehlte ihr. In ihrer Verzweiflung versuchte sie, sich an fremde Mütter zu schmiegen, doch sie wurde unwirsch abgewiesen. Es wurde Abend. Der Sturm ließ nach und klang in einer leichten Brise aus. Gemächlich, als ob nie etwas geschehen wäre, schaukelte die Eisplatte auf den Wellen. Rinas Mutter erlebte den Frieden dieses Abends nicht mehr — seit langem trieb ihr Körper leblos unter dem Eis dahin. Nur wenige Augenblicke zu spät hatte sie die Scholle verlassen. Die Natur aber ist hart und duldet keine Fehler. Ein niederprasselnder Eisfelsen hatte sie wie ein Blitz getötet.
Krabbenschmaus Als die Mutter immer noch nicht zurückkam, blieb Rina zunächst ruhig auf der noch kleiner gewordenen Scholle liegen. Nachdem sie eine Weile zugesehen hatte, wie ihre Altersgenossen gesäugt wurden, glitt sie zu einer fremden Mutter hin und versuchte, etwas Milch zu erhaschen. Doch die Robbe duldete nur ihr eigenes Kind und stieß das fremde Junge ärgerlich zurück. Mit der Zeit gewöhnte sich Rina daran, daß es nichts mehr für sie zu trinken gab. Sie humpelte auf dem Eis umher, spielte Beißen mit den anderen kleinen Pelzkugeln und schlief im Windschatten eines Eisblocks. Ihr Hunger war erträglich, denn ihr Körper konnte sich noch eine Weile von der dicken Speckschicht ernähren, die die fette Muttermilch unter ihrem Pelz gebildet hatte. Nach dem Sturm wirkte die Luft wie frisch gewaschen, das Eis glitzerte in der Märzsonne, und über den weißen Schneefeldern wölbte sich blaßblau ein wolkenloser Himmel. Die Robben lagen am Rand des Packeises. Überall gab es größere und kleinere Buchten, die sich bildeten, wenn sich Brocken loslösten und langsam davonschwankten. Diese schwimmenden Inseln waren meist von 4
Behagliches Schläfchen in der Sonne des Polartages so vielen Robben belegt, daß ihr Weiß fast unsichtbar war unter dem Schwarzgrau der Pelze. Immer häufiger humpelte das verwaiste Robbenjunge zum Rand der Scholle und starrte ins Wasser. Überall herrschte fröhliches Treiben. Robben aller Lebensalter rutschten auf dem Eis umher, schnieften, faßten einander bei der Schnauze und verschwanden schließlich in den aufspritzenden Fluten. Es war wie ein Spiel, dessen Regeln seit Urzeiten festlagen. Von Zeit zu Zeit stürzte Rina zum Wasser vor, doch immer wieder machte sie am Rand der Scholle halt. Da schwankte das Eis, Rina verlor das Gleichgewicht — und fiel mit einem Platsch in das große Meer. Wie war das schön! So unbeholfen sie sich auf dem Eis fortbewegt hatte, so leicht und schwerelos glitt sie nun dahin. Wie trunken war sie von ihrer eigenen Schnelligkeit, und wie berauscht von der plötzlich geschenkten Kraft. Für Rina bedeutete dieser jähe Verlust des Gewichtes das Erlangen einer ungeahnten Behendigkeit, ein neues Leben. Die „Meerjungfrau" war zum zweiten Male geboren worden! 5
Plötzlich tauchte neben ihr ein Jungbulle auf, dessen weiche Außenwolle schon bis auf einige Fetzen abgefallen war. Er ließ sich zu Rina hintreiben und blickte sie interessiert an. Auch sie betrachtete den Ankömmling voller Neugierde, denn am Ende seines Rückens blinkte ein metallenes Schildchen. Es sah aus wie ein funkelndes drittes Auge, und wenn Rina auch seine Aufschrift „Zool. Museum 40.718" nichts bedeutete, so erregte das funkelnde Etwas doch gewaltig ihre Anteilnahme. Außer dem Schild gab es noch eine Besonderheit, die den Burschen vor allen anderen Robben auszeichnete. Er trug auf dem Rücken ein großes Kreuz in roter Farbe. Die meisten Robben schwammen davon, wenn der Jungbulle in ihrer Mitte auftauchte. Er war anders als sie — das Schildchen und das rote Kreuz machten sie mißtrauisch. Diese Ablehnung verspürte er seit jener Stunde, als ihn norwegische Wissenschaftler gezeichnet hatten, damit die Robbenfänger, die ihn irgendwo antrafen, die Begegnung melden konnten und man wieder einen Hinweis bekam, welche Wege die Robben auf ihren großen Wanderungen zurücklegen. Rina aber ließ jenes glitzernde dritte Auge keine Ruhe. Sie tauchte spielerisch unter dem jungen Bullen hindurch, schob den Kopf aus dem Wasser und wollte die Metallscheine aus der Nähe betrachten. Doch schon hatte sich ihr Partner mit einem kräftigen Schwanzschlag herumgeworfen und tauchte nun seinerseits. Ein endloses Spiel des Rollens und Tollens, des Gleitens und Wendens, des Jagens und Gejagtwerdens begann. Sie schwammen um die Schollen und tauchten Seite an Seite in die Tiefe. Immer von neuem versuchte Rina, das Blitzende auf seinem Rücken zu betrachten — immer wieder drehte er sich fast auf der Stelle, um ihr ins Auge zu schauen. In den nun folgenden Tagen waren die beiden unzertrennlich, denn auch der Jungbulle hatte seine Mutter verloren. Doch bald kam eine Zeit, da sie zusehends unruhiger und unzufriedener wnrden. Ihre Körper hatten nun schon lange keine Nahrung mehr aufgenommen und forderten gebieterisch ihr Recht. Instinktiv tauchte Rina, gefolgt von ihrem Spielgefährten. Die beiden Jungrobben blieben eine Weile unter Wasser. Das ungewohnt lange Tauchen weckte noch mehr ihren Hunger und machte sie so ungeduldig, daß sie rasch umherschossen, als wenn sie auf der Suche wären — sie wußten selber nicht wonach. Gerade in diesem Augenblick zog ein Schwärm winziger Krabben an ihnen vorbei. Der Jungbulle verfolgte die kleinen Krustentier-
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chen und schnappte unbeholfen zu. Rina mochte das wohl für ein neues Spiel halten, aber da sie stets alles nachahmte, was um sie herum geschah, öffnete auch sie die Schnauze. Süß und ungeheuer erregend glitt ihr die kräftige Nahrung durch den Schlund. Gierig nahm ihr Körper nach dem langen Fasten das Fressen auf. Sie vergaß in diesem Augenblick sogar ihren Gefährten, denn sie war voll damit beschäftigt, zu lernen, daß auch einer Robbe Leben den Gesetzen der Natur unterworfen ist.
Der große Treck Als eines Morgens die Schollen im scharfen, wellenaufwühlenden Wind wieder hart aufeinanderkrachten, schwammen ein paar hundert ein- und zweijährige graue Robben in die Bucht ein. Sie gehörten einer Rasse an, die mit drei und vier Jahren ausgewachsen ist. Wie Torpedos glitten sie durch die Wellen, schössen übermütig in die Tiefe und schoben verschmitzte Köpfe über die Schollenränder. Jetzt bildeten sie gar spielerisch einen Ring um die Jung robben, tauchten unter ihnen hindurch und sprangen dann hoch aus dem Wasser empor. Ihre Schwimmkunst war so vollendet, daß Rina und ihre Altersgenossen neben ihnen wie Tölpel wirkten. Die grauen Fremdlinge mochten das wohl selbst empfinden, denn der Schabernack, den sie mit den Jungen trieben, wurde stündlich wilder und ausgelassener. Diesen verfolgten sie, bis er erschöpft war, jenen stießen sie auftauchend in den Bauch. Und wenn sie wie Lachse hoch in die Luft sprangen, daß das Wasser nach allen Seiten spritzte, erschrak die ganze Meute der jungen Robbenschar. Ein, zwei Tage lang hallte die Eiswelt von dem Treiben wider, dann nahm die wilde Kameradschaft plötzlich ein Ende. Die arktische Sonne schien so strahlend auf Eis und Meer herab wie zuvor, doch anstatt gemeinsam zu spielen, bildeten die Tiere wieder zwei Gruppen, die sich streng getrennt voneinander hielten. Eine geheime Botschaft schien die Zugewanderten erreicht zu haben, denn voller Unruhe machten sie am Rande des Eises lange Ausflüge, und selbst des Nachts war die Luft von Unruhe erfüllt, die allmählich auch auf die grauen Jungtiere übergriff: Gleichmäßig und wie verbissen schwammen sie hin und her. An- einem der folgenden Morgen formierten sich die Fremden und schwammen in das Meer hinaus. Unwiderstehlich fühlten Rina und ihre Kameraden den Drang, dem Zug zu folgen. Sie bildeten Rei7
hen und schwammen gleichmäßig mit einer Geschwindigkeit von vier bis sechs Kilometern in der Stunde davon. In der Dunkelheit verloren sie die Verbindung mit den Fremden, setzten jedoch u n . bekümmert allein ihren Weg fort. Der Grund der Wanderung war ihnen ebenso unbekannt wie das Ziel. Keine ältere Robbe führte sie. Sie folgten lediglich ihrem Instinkt, vereinigten sich zu Gruppen, fraßen nicht mehr und blickten unverwandt geradeaus. So schwammen sie tagein, tagaus, immer in derselben Richtung, unfehlbar wie die Zugvögel, bis sie nach einer Reise von vierhundert Seemeilen die großen Fischgründe erreicht hatten, die den östlichen Finmarken vorgelagert sind. Wir wissen heute noch nicht, warum dieses junge Robbenvolk alljährlich gerade diese Fischgründe aufsucht und dort die sonnigen Wochen bis zur Ankunft der Dorsche verbringt. In der Natur jedoch ereignet sich nichts ohne tieferen Sinn. Als nach langer Zeit ein warmer Frühlingsregen auf das Meer niederging, vernahmen die Robben wiederum einen dieser seltsamen Rufe. Diesmal kam er unmittelbar aus dem Norden. Obgleich die Wellenkinder noch nie in jenen nördlichen Breiten gewesen waren, fühlten sie etwas wie Sehnsucht, dorthin zu wandern. Keine Straße führte durch das Meer, und doch war den Robben der Weg klar vorgezeichnet, den sie durch die glitzernden Wogen gehen mußten. Auch Kinder von Auswanderern kennen diesen Ruf der Heimat. Es ist eine Erinnerung, die sich im Blut von Generation zu Generation vererbt und die fast so stark ist wie die Liebe und der Hunger. Wie auf Befehl hielten die Jungrobben in ihrem Spiel inne. Hunderte von braunen Augen blickten in die Ferne. Da sie nichts sahen als die Unendlichkeit des bewegten Meeres, setzten sie ihr Spiel unbekümmert fort, überschlugen sich und stießen pfeilgerade in die Tiefe. Doch nach wenigen Minuten unterbrachen sie ihr Spiel zum zweiten Male, starrten nach Norden und sahen einander fragend an. Rina und der gezeichnete Bulle hatten längst alle Erinnerungen an ihre Mütter und die frühe Jugendzeit verloren. Sie gehörten jetzt zueinander, nicht minder als sie zum Wasser gehörten, in dem sie lebten, und zur Luft, die sie atmeten. Was sie verband, war eine reine Kameradschaft, denn es sollte noch lange dauern, ehe das Gemeinschaftsgefühl von Männchen und Weibchen in ihnen erwachte. Sie spielten mit den anderen fünfzehn oder zwanzig Jungrobben ihrer Gruppe, aber in Augenblicken der Gefahr suchten sie wie selbstverständlich beieinander Schutz. Diese beiden waren es, 8
Robben der wärmeren Zone sammeln sich zur Wanderung die das Zeichen zum Aufbruch gaben. Seite an Seite begaben sie sich auf den Weg nach Norden. Hunderte folgten ihnen nach, und wieder beherrschte sie der gleichmäßige und niemals hastende Rhythmus einer neuen Wanderung. Stunde um Stunde, Kilometer um Kilometer schössen die grauen Spindeln durchs Meer. Wohin das Auge blickte, lugten Robbenköpfe aus dem Wasser empor. Dann änderten sie ihre Richtung und schlugen einen westlichen Kurs ein. Als sie schließlich in die Gegend von Spitzbergen kamen, hatten sie ihr Ziel erreicht. Das dauerte Tage und Wochen, die niemand zählte. Rina hatte längst gelernt, wo sie ihre Krustentierchen zu suchen hatte und futterte viel und mit Wohlbehagen. Sie wuchs und gedieh, und ihr schnittiger Körper rundete sich wie der aller jungen heranwachsenden Tiere. Dann und wann jagte sie einen Fisch, aber sie war noch zu jung, ihn zu fassen und zn fressen. Doch was konnte es Aufregenderes geben als solch eine hurtige Jagd? Es gab ein Übermaß an Futter. Die Jungrobben fraßen sich daran so satt,
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daß sie träge und sorglos wurden. Sie hatten noch nicht gelernt, Wachtposten aufzustellen, und ruhten stundenlang schläfrig auf dem Wasser. Als Rina eines Tages im tiefen Schlaf lag, merkte sie nicht, wie sie mit zwei anderen Tieren von der Strömung abgetrieben wurde. Eine Druckwelle traf sie und weckte sie aus dem Schlaf. Etwas — viermal so groß wie sie — stieß von unten, aus der dunklen Tiefe des Wassers empor. Neugierig tauchte Rina, um zu sehen, was es war. Die Jungrobbe neben ihr schlief unbekümmert weiter. Es war ihr letzter Schlaf, denn in diesem Augenblick öffnete sich ein großes, verzerrtes Maul, und zwei Reihen scharfer Zähne verbissen sich in ihren Leib. Einmal noch schrie die Jungrobbe auf, dann hatte ihr der Eishai den Garaus gemacht. Der Räuber warf sich herum und stieß mit seiner Beute wieder in die Tiefe. Sein schuppiger Panzer streifte dabei Rinas Fell, und wie ein Blitz traf sie der gierige, kalte Blick zweier großer Augen.
Flucht vor dem Eishai Von Furcht getrieben, stob Rina unter Wasser davon. Als ihre Kräfte nachzulassen begannen, fühlte sie die Nähe des Haies. Wenn seine scharfen Zähne nicht noch immer die tote Robbe gehalten hätten, würden sie ihr jetzt wohl die Eingeweide herausgerissen haben, hätte das halbmondförmige Maul ihr das Rückgrat durchbissen. Instinktiv machte Rina eine scharfe Wendung. Das war ihre Rettung, denn an Wendigkeit war ihr der Hai unterlegen. Sie stieß in einer engen Spirale hinab und schwamm im Zickzackkurs weiter. Der Hai hatte die Jagd bald aufgegeben, denn auf die Dauer war er diesem Tempo nicht gewachsen. Rina jedoch war zu verstört, es zu bemerken und wähnte noch lange über sich den flachen Kopf, die gierigen Augen und die mörderischen Kiefer. Als Sauerstoffmangel sie schließlich zum Auftauchen zwang, war sie am Ende ihrer Kräfte. Hier oben rollten noch die Wellen, schien noch die Sonne genau wie zuvor. Überall lagen schläfrige Jungrobben auf dem Wasser. Nur wenige hatten das Drama bemerkt und den Todesschrei der jungen Robbe vernommen. Haie ergreifen ihre Beute lautlos und ziehen sie unbemerkt in die Tiefe. Sobald sie ihr Opfer vertilgt haben, erfolgt, kaum hundert Meter entfernt, ein neuer Angriff. So geschah es, daß an diesem Tag« wohl ein Dutzend junger Robben spurlos versehwanden.
Schnell vergingen die Wochen, bis eines Spätsommermorgens im Nordwesten ein Sturm aufzog und das Meer aufwühlte. Da gaben sich die Robben den Wellen mit wilder Freude hin, Schossen auf Kämme hinauf und glitten wie auf Rutschbahnen in schäumende Täler hinab. Noch nie hatten die Jungrobben einen solchen Orkan erlebt, und noch nie waren sie so ausgelassen gewesen. Der Sturm dauerte drei Tage und drei Nächte. Soviel Bewegung macht hungrig. Deshalb zogRina mit dem gezeichneten jungenBullen und zwei anderenjungtieren nach Norden, wo sie eine Strömung mit besonders schmackhaften Krustentieren wußten. Immer weiter nordwärts schwammen die vier, denn immer besser schmeckte das lebende Futter, das sie dort fanden. Zuerst begegneten sie noch Gruppen älterer Robben, doch schließlich waren sie ganz allein inmitten von Wasser und Eis. Denn Eis gab es hier — endlich wieder Eis, auf dem sie sich ausstrecken und all die Spiele treiben konnten, die sie im Laufe des Sommers schon fast vergessen hatten. Da lagen sie viele Stunden lang, dösten und schliefen. Und wenn sie blinzelnd erwachten, kratzten sie sich bedächtig und glitten genießerisch in das herrlich kalte Wasser zurück. So schön war es hier oben, daß sie an eine Rückkehr nicht mehr dachten. Eines Nachmittags verfolgte Rina einen Fisch bis unter das Eis. Sie tauchte und spielte mit dem silbrigen Pfeil. Hier schlangelte sie sich durch eine Schlucht, dort schwamm sie um eine bläuliche Eissäule — und je tiefer sie kam, desto aufregender erschien ihr die Jagd. Auch als es so dunkel geworden war, daß sie den Fisch nicht mehr sehen konnte, gab sie nicht auf, denn ihre empfindlichen Barthaare meldeten ihr jede Bewegung des Wassers, und sie fühlte stets, wohin sich der Fisch gewandt hatte. Das Jagdfieber hatte Rina so gepackt, daß ihr Ortssinn versagte. Ein älteres Tier hätte gemerkt, daß die Eisdecke hier ganz anders war als sonst und wäre umgekehrt. Rina aber war in diesem Sommer immer noch sehr jung. Die Eisgebirge am Rande des freien Meeres, unter denen sie früher umhergeschwommen war, hatten Luftlöcher gehabt und waren vielfach durch offenes Wasser getrennt gewesen. Diese Eisdecke aber war fugenlos geschlossen. Schwer und drückend lag sie über dem Meer, ohne Anfang und ohne Ende, und sie war so dick, daß kein Lichtstrahl hindurchdringen konnte. Der Fisch, den Rina jagte, war von einer Art, wie ihn eigentlich nur ältere Tiere fressen. Er folgte seinem Instinkt, wenn er Schutz unter dem Eis suchte, denn die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß ihn seine Robbenfeinde dorthin nicht verfolgten. 11
Die Luft, die Rinas Brust aufgespeichert hatte, wurde bedenklich dünn. Die Robbe fühlte die Warnung und blickte hinauf. Auch nicht der matteste Lichtschein war zu sehen. Da vergaß Rina den Fisch — mochte er entkommen! Sie, die eben noch Jägerin gewesen war, wurde plötzlich zur Gejagten. Sie hatte sich in ein Gebiet verirrt, das für sie gefährlich war, und wenn sie nicht in den nächsten Minuten zurückfand, war es um sie geschehen. Die Eskimos nennen solche Gebiete „Robbenwüsten". Weil die Strömung zu schwach war, das Eis in Schollen zu zerteilen, lag es als geschlossene Fläche über der Tiefe. Nirgends gab es einen Spalt, durch den sich eine ertrinkende Robbe retten konnte (Robben Bind luftatmende Säugetiere und können ertrinken, so sehr sie auch dem Wasser verbunden sind). Rina schwamm immer langsamer. Einige Male noch hob sie den Kopf und blickte suchend hinauf. Doch ihre Kraft war am Ende, ihre weich gleitenden Bewegungen hörten auf. Wie ein Stück Holz trieb sie in der Strömung dahin.
Die Rettung Rina war so ermattet, daß sie die Flossen kaum noch bewegte. Kopf und Schwanz hingen schlaff herunter. Nur als sie einmal hart gegen die Eisdecke prallte, erwachte sie für einen Augenblick aus ihrer Betäubung. Und so merkte sie vorerst auch nichts, als eine Strömung sie durdi einen Spalt im Eis emportrug. Aber unbewußt erfaßte sie doch, daß etwas anders geworden war. Ihr Selbsterhaltungstrieb war geweckt, und ihre Flössen begannen langsam wieder zu rudern. In diesem Augenblick durchfuhr sie ein Schmerz, scharf wie der Stich eines Messers. Dieser Schmerz war ihre Rettung. Er rührte von den Stickstoffbläschen her, die sich in ihrem Blut gebildet hatten, als sie emporgehoben worden war. Sie bäumte sich vor Qual und schlug wild mit dem Schwanz. Dadurch erhielt sie einen solchen Auftrieb, daß sie die dünne Eisdecke, die sich oberflächlich über der Spalte gebildet hatte, durchbrach. Wie betäubt lag sie lange Zeit auf der kleinen Wasserfläche, die sich bei dem Durchbruch gebildet hatte. Ohne daß sie etwas von ihrer Umgebung wahrnahm, bewegten sich ihre Flossen gerade genügend, um den Kopf über Wasser zu halten — denn so lange in einem Tier auch noch ein einziger Lebensfunke glüht, so lange arbeitet auch sein Instinkt der Selbsterhaltung. Schließlich löste sie sich aus ihrer Erstarrung und klet12
Neugierige Augen prüfen die Meeresfläche terte mühsam und unter Schmerzen auf das Eis. Sie schleppte sich einige Meter vom Wasser fort, streckte sich aus und schlief sofort ein. Hier war das Jagdgebiet eines alten Polarbären. Wäre er jetzt irgendwo in der Nähe, so würde ihm Rina zum Opfer fallen, denn sie schlief so fest, daß sie nichts von dem bemerkte, was um sie geschah. Die Robbe erwachte erst, als die Sonne unterging. Sie war müde und hungrig, und ihre Augen suchten ängstlich das Meer. Aber alles Suchen war vergebens, denn wohin sie auch blickte, war die Eisfläche ungebrochen. Diese weiße Wüste mußte sie überqueren, doch ihr Gefübl und die inzwischen entdeckte Bärenfährte warnten sie davor, sich von der Stell« zu bewegen, bevor die Nacht sie vor Feinden schützte. Sie hob prüfend und witternd den Kopf und drehte sich einmal langsam um sich selbst. Dort, wo der Himmel in gleichmäßiger Helle leuchtete, dehnte sich unendlich weit das Eis, dorthin durfte sie nicht gehen. Sie prägte sich die Stelle ein, an der die Wasserspiegelung den Himmel dunkler färbte. Dann streckte sie sich aus und schlief wieder ein. Als es Nacht geworden war, 13
gehorchte das vernunftlose Tier, das immer in unmittelbarer Meeresnähe gelebt hatte, der Wahrnehmung seiner Sinne und machte sich auf, um wieder zum Wasser zu gelangen. Qualvoll langsam ging es voran, an bizarr geformten Eisbergen und an Hügeln vorbei, die einseitig mit Schnee bedeckt waren. Kurz bevor der Morgen graute, hatte sie es erreicht! Einen Augenblick noch verharrte Rina am Rand des Eises und spähte umher. Dann glitt sie lautlos in ihr Element. Mit kräftigen Schlägen wandte sie sich südwärts, ihre Herde zu suchen. Die Robbe kam rasch voran. Wohl war sie hungrig, und Erholung hatte sie dringend nötig, aber die Sehnsucht war stärker als Hunger und Müdigkeit. Sie fand mühelos den Weg durch das grenzenlose Meer, ihr Instinkt führte sie, wies ihr die Richtung und ließ sie unwillkürlich die Abtrift ausgleichen, die Wind und Strömung verursachten. Sie wußte nicht, wohin sie schwamm; sie wußte nur, daß sie mit jedem Schlag ihrer Flossen denen näher kam, zu denen sie gehörte. Rina schwamm zwischen Schollen und Eisbergen hindurch, bis sie in heimatliche Gefilde kam und die eigene Herde erreichte. Wohl fehlte der Jungbulle mit dem metallenen Schild, wohl fehlten die beiden anderen, die damals mit ihr nordwärts gezogen waren. Aber alle, die sie umgaben, waren Gespielen ihrer Jugend und gehörten zu ihr, wie sie zu ihnen gehörte. Die Unruhe, die alle Robben befällt, wenn sie allein sind, wich von ihr. Nun war sie wieder geborgen. Je mehr die Tage abnahmen, desto mehr zog es die Robben zurück nach dem Weißen Meer, wo sie vor sechs langen Monaten geboren worden waren. Anfangs schwammen kleine Trupps von sechs bis zehn Jungtieren davon, doch bald waren es vierzig bis fünfzig, die sich zur Reise sammelten. Sie bevorzugten dabei stürmisch bewegtes Wasser, weil es ihre Freude und Lust am Schwimmen noch erhöhte. Eines Abends endlich stellten sich auch Rinas drei Gefährten wieder ein. Sie fanden sich zusammen, als ob sie nie getrennt gewesen wären, tauchten, sprangen hoch aus dem Wasser und stießen einander von den Schollen. *
Ein Schwertwal greift an Nach stundenlangem Spiel kletterten die Jungrobben gemeinsam auf eine Eissdiolle, um sich auszuruhen. Sie rutschten ein kleines
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Stück durch den frischen, weichen Schnee, streckten sich genießerisch aus und faulenzten. Ältere Tiere hätten Wachen ausgestellt. Doch die Jungrobben waren dazu noch zu unerfahren. Sie stutzten auch nicht, als ihre Kameraden draußen auf dem Meer unter Wasser verschwanden. In jugendlicher Unbekümmertheit genossen sie den Augenblick, schliefen, kratzten sich und öffneten nur dann und wann einmal die samtenen Hundeaugen. Wie ein sagenhaftes, fürchterliches Untier hob sich da plötzlich ein mächtiger Schwanz aus dem Wasser, ein Schwanz, der länger war als sie selbst, peitschte auf sie zu, traf mit mächtigem Schlag ein Jungtier, das dicht am Schollenrand lag, und fegte es ins Wasser. Das Meer schäumte auf, und ein großer Rundkopf mit ohrähnlichen Finnen tauchte aus den Wellen empor und verschlang die Robbe. Sein Blick ruhte glitzernd unverwandt auf den übrigen Jungtieren. Auf der Scholle brach eine Panik aus. Die Robben wagten nicht, die schwankende Insel zu verlassen. Der Schwertwal, der dort unten auf die zarten, gut schmeckenden Jungtiere lauerte, war ihnen als Schwimmer ebenbürtig. Und ihr Instinkt sagte ihnen, daß sein Riesenmagen mehr als eine Robbe zu bewältigen vermochte. Forscher haben bereits die Überreste von bis zu dreizehn Tümmlern und vierzehn Robben gleichzeitig in den Mägen von Schwertwalen gefunden. In wildem Schrecken hasteten die Robben vom Rand der Scholle weg und drängten sich angstvoll in der Mitte zusammen. Der furchtbare Kopf verschwand. Einen Augenblick tauchte eine dreieckige Schwanzflosse aus dem Wasser auf, dann lag das Meer wieder so still und harmlos da wie zuvor. Doch die Ruhe währte nicht lange. Denn tief unter der Wasserfläche warf sich der Schwertfisch herum, schwamm unter die Scholle — und noch während die Robben das Meer absuchten, rammte der mächtige Kopf wie ein Sturmbock die Eisinsel von unten. Die Scholle barst.. Der Schwertwal hob mit dem Rücken die beiden Hälften an, und die Angstverstörten schlitterten hilflos in die Fluten. Rina tauchte sofort. Der Wal ergriff die Robbe, die vor ihr schwamm. Rina wendete und glitt unter dem Schwanz des Feindes durch, in der Tiefe der See Rettung suchend. In diesem Augenblick sah sie zu ihrem Entsetzen ein zweites Ungeheuer heranschwimmen: die Gefährtin des Angreifers. Der weibliche Wal war kleiner und noch wendiger als der männliche. Er hatte die Beute gewittert und war herbeigeeilt, um an der Jagd teilzunehmen. 15
Fast zwölf Monate hatte Rina in einer Welt verspielter Kameradschaft verbracht. Die flüchtigen Augenblicke der Angst, die sie erlebt hatte, waren ihrem Gedächtnis längst entschwunden. Als nun der heranschwimmende Mörderwal sie gierig betrachtete, ging der sorglose Abschnitt ihres Lebens zu Ende. Die unbekümmerte Jugend war vorbei, und sie stand an der Schwelle einer Zeit, da die Furcht ihr Dasein beherrschen sollte. Verstört eilte sie davon, und um sie her wirbelten ihre Gefährten durch das Wasser. Die Wale nahmen die Verfolgung auf. Das Meer brodelte weithin. Schwertwale sind gute Jäger. Sie jagen meist in Gruppen und gehen dabei äußerst geschickt vor. So groß und unbeweglich sie auf dem Land wirken, so schnell und wendig sind sie im Wasser. Anstatt sich blindlings auf ihre Opfer zu stürzen, kreisen sie sie von allen Seiten ein, jagen sie, bis sie erschöpft sind, und spielen dann wohl noch mit ihnen wie die Katze mit der Maus, bevor sie die Unglücklichen vertilgen. Solche Jagden erstrecken sich oft über Tage, mitunter über Wochen. Kommen die Wale dabei in die Nähe von bergehohem Packeis, treiben sie ihre Beute systematisch dagegen, weil sie wissen, daß sie ihnen dort nicht mehr entrinnen kann. Rina floh blindlings und ohne Ziel. Vor ihr, neben ihr und hinter ihr sah sie schattengleich andere Robben, die flohen wie sie selbst. Plötzlich tauchte eines der Ungeheuer, von unten heraufschießend, in der Mitte der Meute auf — ein Biß, und wieder färbte sich das Meer rot. Nach einer Weile merkte Rina, daß sie den Anschluß an die anderen verloren hatte. Sie war allein, und doch noch nicht aus der Gefahr, denn noch immer lauerten in der Nähe die beiden Wale, die sich ein Spiel daraus machten, sie zu jagen, ohne sie anzugreifen. Rina wagte es nicht, ihre Flucht für einen Augenblick zu unterbrechen, um einige Krabben aufzuschnappen. Robben können zwar wochenlang ohne Nahrung leben, aber diese Jagd war so anstrengend, das Gefühl der Verlassenheit so quälend, daß Rinas Kräfte schnell nachließen. Lange Zeit raste sie so dahin. Auch als die Verfolger die Jagd längst aufgegeben hatten, weil anderswo reichere Beute lockte, floh Rina noch immer weiter. Schließlich kam der Augenblick, da ihr die Muskeln den Dienst versagten. Verzweifelt tauchte sie auf. Ihre großen, braunen Augen schauten matt aus den behaarten Höhlen. Sie war völlig verwirrt und hatte, was bei den Tieren nur nach Stunden höchster Gefahr vorkommt, ihren Richtungssinn verloren. 16
Sattelrobbeil der arktischen Gewässer mit weißem Baby (vgl. Anmerkung Seite 31)
Neue Freunde In wildem Schrecken floh Rina westwärts durch die Barentssee. Von ihren Gefährten getrennt, war sie nun ganz auf sich gestellt. Sie fühlte wohl die ständige Mahnung ihres Instinkts, doch wußte sie „die Stimme" nicht zu deuten. In dieser Jahreszeit hätte ihr Weg sie in das Innere der großen Meeresbucht des Weißen Meeres führen sollen, doch sie schwamm unentwegt weiter nach Westen. Als sie endlich merkte, daß sie nicht mehr verfolgt wurde, war sie völlig erschöpft und sehr hungrig. Sie tauchte auf, ruhte sich einige Minuten auf dem Wasser avis und ließ sich dann wie ein Stein in die Tiefe sinken, um die Krabben zu suchen, die bisher ihre Nahrung gewesen waren. Doch sie fand keine. Statt dessen kreuzte ein Schwärm kleiner Fische ihren Weg. Ihr Jagdinstinkt erwachte. Sie wendete schnell wie eine Katze und schnappte zu. Ihr Opfer war in zwei Teile zerschnitten. Die Robbe verschlang den Kopfteil und schnappte dann nach dem Schwanz, der langsam dem Meeresgrund zusegelte. 17
Der Fisch schmeckte überraschend gut, und so setzte sie die Jagd fort. Die Kleinheringe waren zwar inzwischen in wilder Flucht davongeeilt, doch die Robbe ist einer der geschicktesten und wendigsten Schwimmer des Ozeans. Und so hatte Rina die Heringe schon im nächsten Augenblick eingeholt. Diesmal verschlang sie ihre Beute auf einmal. Die verspielte Jungrobbe, die bisher von Krustentieren gelebt hatte, war zum jagenden Jährling geworden, dessen Nahrung vorzugsweise aus Fischen besteht. Rina schwamm mit voller Kraft nach Westen weiter und kam schließlich in die Gegend der Jan-Mayen-Insel. Als sie in einer Nacht auf einer Scholle lag, hob sie plötzlich lauschend den Kopf. Sie hatte in der Ferne, leise wie ein Flüstern, das Blöken von Robbenjungen gehört, die ungeduldig nach der Mutter riefen. Rina ließ sich ins Wasser gleiten und schwamm in Richtung der verlockenden Töne. Die weißen Robbenbabys empfingen die Fremde mit lautem Geschrei und Gewimmer. Sie sehnten sich nach ihren auf Fischjagd befindlichen Müttern. Eine kleine Kugel kam auf Rina zu und stieß sie in die Flanke. Die Überrasdite erschrak über die unerwartete Bewegung, rutschte beiseite und stieß das Baby dabei um. Das war zuviel für das einsame Robbenjunge, es hob den Kopf gen Himmel und stieß ebenso laute wie jämmerliche Klagerufe aus. Sofort schoß auch schon seine Mutter aus einem der Eislöcher heraus, fletschte die Zähne und warf sich schützend über ihr Kind. Rina aber, die eben erst so unerschrocken und selbstsicher durch die Wellen des Eismeeres geschwommen war, geriet angesichts der tapferen Feindseligkeit, mit der die Augen der Mutter sie anfunkelten, in tödliche Verlegenheit. Verwirrt sprang sie kopfüber von der Scholle ins Wasser. Tagein, tagaus betrachtete sie von weitem neugierig das merkwürdige und festlich-freundliche Treiben dieser großen Kinderstube. Hier erholte sie sich jetzt gründlich von ihrer langen Wanderung. Viele Stunden, mitunter tagelang, lag sie auf einer Scholle und döste vor sich hin. Doch sie mochte liegen, so lange sie wollte, nie schmolz der Schnee unter ihr, denn die Fettschicht, die sie selbst vor Kälte schützte, hielt gleichzeitig die Wärme in ihrem Körper zurück. Rina schwamm jetzt gern allein ins Meer hinaus und suchte Nahrung, denn sie hatte ihre Scheu vor den feindlichen Müttern noch" immer nicht überwunden. Ihre Streifzüge führten sie bisweilen auch an dem großen Vorgebirge aus Eis Entlang, das sich in jedem Frühjahr im Nordosten der Jan-Mayen-Insel bildet. 18
Überall traf sie Robbenkolonien. Alle diese Tiere glichen ihr und waren doch anders. Die Verschiedenheit beunruhigte Rina und machte sie schreckhaft und ängstlich. Der Stamm, dem sie angehörte, bevölkerte das Gebiet zwischen Spitzbergen und dem Weißen Meer. Ein unglücklicher Zufall hatte sie von ihm getrennt und zwischen Robbenherden verschlagen, die zwischen Spitzbergen, der Jan-MayenInsel und Island lebten. Diese Tiere duldeten sie, obgleich sie etwas kleiner waren. Aber sie nahmen sie nie ganz in ihre Gemeinschaft auf. Und Rina fühlte sich selbst stets als Fremde.
Eskimo-Jagd Wochen vergingen, in denen die Fremdrobben und mit ihnen Rina südwärts wanderten, bis die schwarzgraue Ostküste Grönlands mit Schären und Riffen vor ihnen auftauchte. In sommerlicher Wärme tummelten sich die Robben vor den engen Fjords und den steilen Bergen. Größere und kleinere Eisschollen schwankten auf den Wellen, und die Lebenslust der Robben steigerte sich von Tag zu Tag. Das stärkste Robbenmännchen führte das Volk an. Diese Reise verlief nach keinem Fahrplan. Verlockten die Schollen gar zu sehr, dann unterbrach der Anführer die Wanderung und kletterte als erster auf das Eis. Genießerisch streckten sich die Robben neben ihm in der Sonne aus, rollten auf den Rücken und ließen sich von der Strömung weitertreiben. Rina und ein kräftiger Jungbulle, die in der letzten Reihe geschwommen waren, begriffen nicht, warum die älteren Tiere heute ausgerechnet die größte und schönste Scholle mieden. Eine solche „Liegewiese" konnten sich die Jährlinge nicht entgehen lassen. Sie wüßten nicht, daß die „Scholle'' ein Teil des Küsteneises war und unmittelbar in das Land überging. Ohne zu zögern, schwammen sie um die Wette auf dieses vermeintliche Paradies zu. Und weil sie eine lange Tagesstrecke hinter sich hatten, schliefen sie auf der „Scholle" ein, kaum daß sie sich einige Male wohlig gedehnt hatten. Da sie keine Wachen ausgestellt hatten, sah niemand den pelzbekleideten kleinen Mann mit der eingedrückten Nase, der sie aus der Ferne beobachtete. Der Eskimo hatte sich hinter einem Eisblock versteckt. Schnell kniete er nieder und befestigte vorn an seinem Schlitten einen Rahmen, über den ein weißes Bärenfell gespannt war. Weitere Felle wickelte er um seine Schuhe. Schließlich band er je ein Bärenfell um den linken Oberschenkel und um den linken 19
Ellbogen. Als alle Vorbereitungen getroffen waren, legte er sich hinter seinen Schlitten in den Schnee. Er war nun ausgezeichnet getarnt, denn das weiße Fell war für die schlaftrunkenen Robbenaugen nicht von dem blendenden Weiß der Schollenlandschaft zu unterscheiden. Die Pirsch begann. Der Eskimo rutschte auf der linken Hälfte voran und schob dabei den Schlitten wie einen Schild vor sich her. Langsam, unsagbar langsam, glitt der erfahrene Jäger über den Schnee. Er wußte, daß gute zwei bis drei Stunden vergehen würden, ehe er sein Ziel erreichte; aber was bedeuteten ein paar Stunden, wenn es um schmackhafte Nahrung, um Fleisch und Tranöl ging? Der Jäger kam immer näher. Rina erwachte und sah sich unruhig um. Kurz nur ruhte ihr Blick auf dem Eskimo, der jetzt bis auf etwa zwölf Meter herangekommen war. Im Wasser, das das Licht anders bricht, wäre sie stutzig geworden. An Land aber war ihre Sicht zu verschwommen, als daß sie in diesem Pelzhaufen hätte einen Feind erkennen können. Eine Minute noch wartete der Jäger, dann glitt er weiter voran. Jetzt war er in Wurfweite. Noch zwei Meter, und er konnte aufspringen, den Robben den Rückzug abschneiden und sie mit dem Messer töten! Nur noch zwei Meter . .. Da erwachten die Robben, mißtrauisch geworden durch ein kleines Geräusch, und schlitterten dem Wasser zu. War er doch unvorsichtig gewesen? Hatte eine kleine Bewegung die Arbeit von Stunden im letzten Augenblick zunichte gemacht? Doch jetzt war nicht der Zeitpunkt, darüber nachzudenken. Er sprang auf und warf die Harpune. Eine Robbe grunzte vor Schmerz. Den Wurfriemen locker um das linke Handgelenk gelegt, stürzte der Eskimo vor, um den übrigen den Weg zum Wasser abzuschneiden. In seiner rechten Hand blitzte das Messer. Rina, das harpunierte Tier und einige weitere Robben rutschten mit höchster Anstrengung auf das Land zu — so schnell sie konnten. Einige andere, die näher am Wasser gelegen hatten, konnten sich rechtzeitig ins Meer stürzen. Der Eskimo stieß einen lauten Jagdruf aus, breitete die Arme aus und versuchte, noch weitere Robben landeinwärts zu treiben. Da beging er einen verhängnisvollen Fehler! Schreiend rannte er über blaues Eis, das sich erst kürzlich gebildet hatte. Sein Instinkt, fast so fein wie der einer Robbe, sagte ihm, daß ihn das Eis tragen konnte. Doch daß die Robben in diesem Augenblick kehrtmachen und geradewegs auf ihn zukommen würden — das konnten weder Instinkt noch Erfahrung voraussagen. Auch diese Jährlinge, die noch nie mit Menschen in Berührung gekommen waren, wurden von ihrem 20
Da nahte plötzlich ein Eisbär . . : Instinkt geschützt. Eine unbekannte Macht trieb die verzweifelten Robben zu einer List, die man bei ausgewachsenen Tieren schon oft beobachtet hat: Wie auf Befehl warfen sie sich mit ihrem Gewicht von fast einer Tonne auf das dünne, blaue Eis. Die Eisdecke brach. Der Jäger warf die Arme in die Luft und sprang auf den Bruchrand zu. Aber es war bereits zu spät zur Rettung, die Eisfläche verschwand unter dem Wasser, und mit ihr verschwanden Robben und Eskimo. Der Eskimo wehrte sich verzweifelt und versuchte, den Riemen vom Handgelenk zu lösen. Aber er konnte sich in seiner schweren und durchnäßten Kleidung nur ungelenk bewegen. Erst schwamm er einige Meter und zog die verwundete Robbe'hinter sich her — dann war es das von Panik gejagte Tier, das ihn hinunterzerrte unter die feste Decke der geschlossenen Eisfläche. Rina hatte sich beruhigt, kaum daß das vertraute Wasser sie wieder umfing. Es dauerte nicht lange, da kehrte sie zurück und be21
trachtete neugierig den Kampf um Leben und Tod, der sich unter dem Eis abspielte. Die Arme des Jägers hingen schlaff herab, denn die verwundete Robbe war im Kreis geschwommen und hatte dabei ihren Verfolger eingeschnürt. Sterbend umkreiste sie ihn ein letztes Mal. Würgend legte sich der Riemen um den Hals des Jägers . . .
Wasserschlacht Der Fjord, an dem die wandernden Robben am Nachmittag vorüberkamen, sah so einladend aus, daß sie der Versuchung nicht widerstehen konnten, ihn näher zu untersuchen. Es kam ja auf ein paar Tage nicht an! Über einer Schwelle des Meeresbodens, die vor dem Fjordeingang lag, tummelte sich eine kleine Familie von Walrossen. An einem strahlenden Morgen zogen Rina und ihr Freund, der Jährling, allein aus und besuchten die Walroßfamilie. Da nahte plötzlich ein Eisbär mit weißgelblichem Fell, kletterte vom Felsen herab und glitt ins Wasser. Wenig später tauchte kaum mehr als seine schwarze Nasenspitze zwischen den Wellen auf und bewegte sich auf eine der Schollen zu, die den Walrossen als Spielplatz dienten. Der Augenblick für einen Angriff war gut gewählt, denn fast alle Walrosse waren untergetaucht. Nur eine der Mütter paddelte gemächlich durch das Wasser und drückte sich dabei zärtlich an ihr Junges. Jetzt hatte sie die Scholle erreicht und schob ihr Kind auf das Eis. Das Junge blieb einen Augenblick sitzen und rutschte dann ungelenk auf die Mitte der Scholle zu. Die Mutter sah sich nur flüchtig um und schwamm davon. Auch bei schärferem Hinsehen hätte sie den Bären nicht entdeckt, denn als erfahrener Jäger schwamm er so, daß ihn die Scholle ständig verbarg. Als die Mutter ebenfalls tauchte, schwang sich der Bär auf die Scholle und tötete das Junge mit einem einzigen Riß. Einen Augenblick lang verharrte der weiße Würger regungslos wie das leblose Wesen zu seinen Füßen, dann blickte er sich ängstlich, fast schuldbewußt um. Nur selten hatte er ein derart tollkühnes Unternehmen begonnen, in eine Walroßherde einzubrechen. Heute aber war er so hungrig gewesen, daß er alle Vorsicht vergessen hatte. Er leckte sich das Blut von den Lippen und schaute verlangend auf sein Opfer. Doch er wagte nicht, hier oben das Mahl zu beginnen, nach dem er heißhungrig lechzte. Schnell packte er seine Beute mit der Schnauze und ließ sich ins Wasser gleiten. In diesem Augenblick tauchte die 22
Walroßmutter auf. Sie brüllte, heiser und doch so wild und furchterregend, daß der Bär erschrocken zusammenfuhr. Wenn ihr schmerzerfüllter Schreckensruf auch nicht laut gewesen war, so mußten es die übrigen Tiere der Herde doch gehört haben. Schon nach Sekunden kamen sie aus ihren Jagdgründen heraufgeschossen und reckten die unförmigen Köpfe aus dem Wasser. Ihre Gesichter, die sonst so gutmütig aussahen, nahmen einen drohenden Ausdruck an. Dann stürzten sie auf den Bären los. Ein alter Bulle, der über eine Tonne wog und wie ein kleiner Schleppdampfer durch das Wasser pflügte, führte den Angriff. Er richtete sich auf und stieß mit voller Kraft auf den Räuber zu, daß das Wasser spritzte. Der Bär tauchte geschickt und entging dem mörderischen Stoß der riesigen, verlängerten Eckzähne. Gewonnen war freilich wenig, denn schon näherte sich ihm von unten her ein zweiter Angreifer. Kaum hatte er auch diesen abgewehrt, riß ihm ein dritter Bulle mit seinen Stoßzähnen eine klaffende Wunde in die Schulter. Die Augen des Bären röteten sich vor Schmerz und Wut, und mit einem kräftigen Stoß der zotteligen Beine schob er sich wieder empor. Da sah er, daß er in einer Falle saß; auf allen Seiten war er von Walrossen umgeben. Ein junger Bulle boxte ihn in die Flanke, der Bär brummte vor Schmerz, denn ein Walroß ist so kräftig, daß es in der Not eine zehn Zentimeter starke Eisschicht durchstoßen kann. Vielleicht wußte der Bär, daß es um ihn geschehen war. Er ließ sein Opfer los, reckte sich aus dem Wasser und warf sich dem alten Bullen entgegen, der ihn als erster angegriffen hatte. Mit rasendem Griff riß er dem Alten die Gurgel auf. Wasser spritzte auf, ein Todesschrei erscholl, und verendend versank das Walroß in den Fluten. Doch der Bär sollte seines Sieges nicht froh werden, denn einen Augenblick später war sein Auge nur noch eine blutende Wundhöhle. Nun war es um ihn geschehen. Sein Kopf pendelte hilflos hin und her, und er merkte es kaum noch, als ein weiterer Angreifer heranschoß und ihm den Bauch aufriß. Sterbend taumelte er in die Tiefe. Wenige Meter neben ihm röchelte der alte Bulle sein Leben aus. Die beraubte Mutter betrachtete kurz ihr totes Kind — dann schwamm sie allein ins Meer hinaus, die anderen tauchten wieder nach Fischen. Das Meer lag nach dem Kampf so friedlich in der Sonne wie zuvor. Kein Bär, kein Walroß war zu sehen. Zaghaft blickten sich die beiden Robben um; dann glitten sie über die Schwelle in den Fjord zurück. Kaum hatten sie die stillen Wasser erreicht, war ihre Furcht auch schon verflogen, und sie begannen von neuem zu spielen. Viele sorglose Tage verlebte die 23
Robbenherde in diesem Fjord. Es wurde immer wärmer, und die Sonne verschwand überhaupt nicht mehr unter dem Horizont.
Die große Wanderung Von Tag zu Tag fühlte sich Rina einsamer. Sie wurde weder gebissen noch vertrieben, aber sie war von allem ausgeschlossen, was die Herde unternahm. Wie eine Verfemte schwamm sie hinter dem Troß her. Als eines Morgens eine starke Gruppe ins Meer hinauszog, schloß sie sich den Davonschwimmenden an. Zunächst beachtete sie niemand. Doch je weiter die Robben kamen, desto feindlicher wurden sie gegen die Fremde. Als sie nach einigen Tagen eine Küste erreichten, erlaubten sie ihr nicht einmal mehr, an ihren munteren Fischjagden teilzunehmen und wandten sich geschlossen ab, sobald sie sich ihnen näherte. Rina folgte der Herde jetzt nur noch in großem Abstand. Zweimal schwammen ihr die anderen davon, und sie brauchte Stunden, ehe sie sie wiedergefunden hatte. Als sie die feindseligen Gastgeber das dritte Mal verlor, war all ihr Suchen vergebens. Langsam paddelte sie weiter, wieder einmal allein. Als sie an diesem Tage mißmutig auf einer Scholle lag und sich sonnte, schrak sie auf, als hätte sie den Ruf einer lauten Stimme gehört. Sie blickte über das Meer hinaus und sah in weiter Ferne einige dunkle Flecke. Eben noch krönten sie den Rücken einer Woge, dann verschwanden sie im Wellental. Rina bellte kurz auf, glitt ins Wasser und schwamm mit voller Kraft auf diese Flecke zu. Es waren Robben . . . In einiger Entfernung sah sie noch weit mehr ihrer Artgenossen, die aus derselben Richtung gekommen waren. Erregt blickte Rina über das Wasser und wußte nicht, was sie tun sollte. Sollte sie bei den Neugefundenen bleiben oder zu der größeren Herde schwimmen? Schließlich hielt sie es nicht länger aus und eilte zu der Hauptherde hinüber. Je mehr ihresgleichen sie umgaben, desto geborgener fühlte sie sich nach den Stunden der Einsamkeit. Sie ruhte nicht, bis sie sich in der Mitte dieser Tausende befand. Die Robben, zu denen sie sich gesellt hatte, gehörten einem dritten Stamm der Arktisrobben an, der im Sommer vor der Küste Labradors, in der Baffin-Bai und noch weiter nördlich lebt. Als die Herbstzeit begann, hatte der Wandertrieb auch sie erfaßt. 24
Der Eskimo sprang auf und warf die Harpune Sie zogen in der Labrador-Strömung gen Süden, erst in Gruppen, dann in Geschwadern und schließlich als riesige Flotte. Mit demselben Instinkt, der die Zugvögel treibt, folgten sie dem über dreitausend Kilometer langen Weg, der wohl schon in der Vorzeit der Wanderweg ihrer Art gewesen war. Rina blieb nur kurze Zeit in der Mitte des Trosses. Einige ältere Tiere schwammen beiseite und ließen sie durch, so daß sie zu den Zweijährigen gelangte. Bei ihren Wanderungen halten nämlich die Robben streng darauf, daß die Altersklassen getrennt bleiben. Die ausgewachsenen Tiere bilden eine Gruppe, die Zweijährigen finden sich zusammen, und auch die Jährlinge schwimmen für sich. Alle Robben sind heitere Tiere. Die Zweijährigen aber, die annähernd die Größe und Kraft, nicht aber die Erfahrung der älteren haben, sind von allen die ausgelassensten. Für sie ist das Leben ein ewiges Spiel. Als Rina und ihre neuen Freunde an einem dieser Tage auf einer Scholle schliefen, näherte sich schnell ein Kajak — eines der fellbespannten Eingeborenenboote. Der Eskimo, der es führte, wandte 25
keine Listen an und verließ sich darauf, daß die Robben in der warmen Mittagssonne meist weniger wachsam sind als sonst. Er paddelte sein Boot behutsam heran, ohne bemerkt zu werden, kletterte auf das Eis und zog den Kajak hinter sich hinauf. Indem er sich auf allen Vieren, in seinen Pelz gehüllt, an die Schlafenden anpirschte, glich er fast einem Bären. Er kam bis auf zehn Meter an die Robben heran. Da hob eines der Tiere den Kopf — und im nächsten Augenblick war die Scholle leer. Der Eskimo empfand weder Ärger noch Groll, ließ gelassen sein Boot zu Wasser und paddelte davon. Das war eines der Mißgeschicke, mit denen ein Jäger rechnen muß . . . Die Zeit der großen Stürme setzte ein. Je bewegter das Meer war, desto wohler fühlten sich die Robben. Immer häufiger begegneten sie jetzt Eisbergen, die so groß waren, daß des Sommers Hitze sie nicht hatte schmelzen können. Sie hatten Bogen und Säulen und glichen uralten, verlassenen Tempeln, die zeitlos und anscheinend in alle Ewigkeit über die Meere schwanken. Auf dem Vorgebirge eines solchen Eismassivs sah man einen Eisbären vorübergondeln. Wie ein Gespenst saß er im fahlen Mondlicht da. Offenbar gefiel ihm diese Fahrt, denn von Zeit zu Zeit erhob er seine Tatzen und wirbelte sie spielerisch umeinander. Rina hatte sich inzwischen bei ihren neuen Freunden so gut eingelebt, als wäre sie mit ihnen aufgewachsen. Die Vergangenheit kümmerte sie nicht, sie sorgte sich auch nicht um die Zukunft. Nahrung gab es in Hülle und Fülle, und wenn sie satt war, fand sie stets Kameraden, die zum Spielen nicht minder aufgelegt waren als sie selbst.
Robbenschlag Kaum vier Wochen hatten sich die Robben in südlichen Gefilden getummelt, als sie erneut unruhig wurden. Ständig streckten sie die Köpfe aus dem Wasser und blickten wie gebannt in eine bestimmte Richtung. Anderntags begaben sie sich wieder auf große Wanderung. Schnell und unaufhaltsam schwammen sie ihrem unbekannten Ziel entgegen. In der dritten Nacht nach dem Aufbruch vernahm Rina wieder ein langgezogenes Wimmern . . . Robbenbabys! In der Ferne tauchte ein Märchenland auf. Wieder zeigten sich Eisberge auf dem Meer. Sie waren mit Neuschnee überzuckert, und ihre Kristalle funkelten im Sternenlicht blau wie Saphire. 26
Die Sonne ging auf. In ihren ersten feurigen Strahlen wurden die Eiskristalle zu Rubinen, erblaßten dann zu Mondsteinen und glitzerten, als die Sonne höher stieg, wie Brillanten. Doch die Robbenbabys, deren Mütter als große Herde eine der unübersehbaren Eisinseln zum Ruheplatz erwählt hatten, beachteten die Edelsteine nicht. Die Kleinen krochen umher und stießen hungrige Schreie aus. Die braunäugigen Mütter säugten ihre Jungen morgens, abends und manchmal auch noch während des Tages. Dazwischen verschliefen sie viele Stunden auf dem Eis, und zufrieden kuschelten sich die runden Babys an ihre weichen Flanken. Die Tage waren erfüllt von Frieden und Wohlsein. Die Jungen wuchsen heran, die Mütter nährten sie und fingen Fische — und die stolzen Bullen jagten einander durch das Meer. Aber das Leben kennt keinen Frieden. Das erfuhren auch die Bewohner dieses Märchenlandes, denn schon dampfte von Süden her ein Robbenfänger heran, mächtiger als der größte Wal und gefährlicher als der grausamste Hai. Er erschien am südlichen Himmel als ein dunkles Etwas, das wie eine kleine Wolke aussah. Als die Wolke immer größer wurde, hob einer der erfahrenen alten Bullen den Kopf und starrte das seltsame Gebilde an. Mehr noch als die Wolke beunruhigte ihn ein leises Surren. Das Surren verstärkte sich, und auch die Wolke wuchs. Es dauerte nicht lange, da erkannten die Robbenaugen auf dem Wasser einen finsteren Schatten, der sich langsam auf sie zu bewegte. Mit mahlenden Schrauben kam das Schiff näher und näher. Die erwachsenen Tiere, die ins Wasser geglitten waren und sich in ihrem feuchten Element sicher fühlten, reckten neugierig die Köpfe und betrachteten den Eindringling. Die Jungen krochen indes auf dem Eis umher oder lagen auf dem Rücken und schliefen. An Bord des Robbenfängers wurden Stöcke ausgegeben, die am Ende einen eisernen Haken hatten. Befehle erschollen. Sechzig Mann gingen über Bord aufs Eis und machten sich auf den Weg. Sie trugen Gummistiefel, Handschuhe, Mützen und gefütterte Kleidung, in der sie dick und unförmig aussahen. Als die Männer herankamen, lagen nur noch zwei ausgewachsene Tiere auf dem Eis. Der Führer einer Gruppe hob sein Gewehr, zielte und drückte ab — einmal, und dann noch einmal — die beiden Robben rollten, tödlich getroffen, auf die Seite. Die Männer gingen paarweise und planmäßig an die Arbeit. Mit schnellen Schlägen töteten sie die Jungrobben, die nichts von dem ahnten, was ihnen bevorstand und deren Ende schmerzlos und wie ein Blitz kam.
2?
Der zweite Mann zog den getöteten Tieren das Fell ab. Er tat seine Arbeit schnell und gewandt: ein Schnitt mit dem Messer, ein kurzer, kräftiger Ruck, und schon hielt er den weißen Pelz in der Hand. Die erbeuteten Felle reihte er auf eine Leine auf, die er hinter sich her über das Eis zog. Nach dem Abbalgen wurde den Kadavern die Leber herausgeschnitten und in den Behälter geworfen, der an dem Leibriemen des Pelzjägers hing. Frische Robbenlebern sind ein Leckerbissen, wie ihn kein Pariser Restaurant besser liefern könnte. Aus den Robbenfellen werden nicht nur Jacken und Mäntel, sondern auch Stiefel, Skifelle und Besätze aller Art gemacht. Die Felle der älteren Tiere werden zu tausenderlei Dingen des täglichen Lebens verarbeitet, andere Teile des Robbenkörpers dienen zur Herstellung von Seife, Medizin und Parfüm. Unermeßlich ist die Zahl der Robben, die alljährlich getötet werden, weil der Mensch ihre Schätze verwerten will. Es hat Dampfer gegeben, die von einer einzigen Ausfahrt mehr als 20 000 Robbenfelle heimbrachten. Allein in der Gegend von Neufundland wurden einmal in zehn Tagen über eine halbe Million Robben getötet. Drei russische Eisbrecher sollen in einem Jahr über 90 000 Felle erbeutet haben. Bei ungünstigem Wetter kann die Beute allerdings auch nur zweihundert bis dreihundert Stück betragen. In London, New York und Montreal, in St. Louis, Paris und Kopenhagen finden alljährlich Auktionen statt, auf denen Robbenfelle aller Art versteigert werden. Durch die vielen Jagden nehmen allerdings die Bestände der Tiere stark ab. Welche Folgen das für die Eskimos haben wird, deren Leben von der Robbenjagd abhängt, läßt sich noch nicht übersehen.
Ruf der Heimat Als der Robbenschlag begonnen hatte, waren die meisten erwachsenen Robben in wilder Panik davongeschwommen. Am nächsten Morgen fanden sie sich nach und nach wieder ein. Sie verweilten freilich nicht lange, denn wenn sie das Gemetzel auch nicht selbst gesehen hatten, so waren ihnen doch die Schollen, auf denen sie so friedliche Wochen verlebt hatten, plötzlich nicht mehr geheuer. Geschlossen zog die Herde am Rand des Packeises dahin. Um diese Zeit bemerkte Rina wieder, daß ihr die anderen Zweijährigen mit offener Feindschaft begegneten. Scheu und verängstigt 28
Achtzig Meter hoch ragt der Gletscherbruch über das Nordmeer
zog sie sich an den Rand der Herde zurück. Zum zweiten Male verlor sie jetzt ihr Fell, und wiederum bemächtigte sich ihrer jene Lustlosigkeit, die auch das schmackhafteste Fischmahl nicht vertreiben konnte. Die Angst, die Rina überfiel, war anders als früher. Damals war sie zaghaft und vertrauensvoll gewesen und hatte die Herde, bei der sie sich befand, trotz allen Zurückweisungen erst sehr spät verlassen. Jetzt aber, da sie fast ausgewachsen war, gebärdete sie sich trotzig und mied voller Zorn die anderen. Sie schwamm allein ins Meer hinaus und blieb zwei Tage fort. Als sie zurückkam, schnappten die Robben nach ihr. Da schwamm sie davon — und diesmal gab es keine Rückkehr. Wohin sie zog, das wußte sie nicht. Ein Gefühl, stark wie der Lebenswille, trieb sie, diejenigen zu suchen, die ihres Stammes waren, unter denen sie geboren war, zu denen sie gehörte. Doch der Zwang, der sie suchen hieß, zeigte ihr nicht die Richtung an, in der sie das Gesuchte finden würde. So kam es, daß sie sich stündlich mehr von ihren Stammmesgenossen entfernte, die sich um diese Jahreszeit in den nördlichen europäischen Gewässern befanden. Sie durchschwamm den St. Lorenz-Golf und erreichte die zerklüftete Küste von Neu-Schottland, der viele große und kleine Inseln vorgelagert waren. Zu anderen Zeiten hätte sie jede dieser Buchten untersucht und manche Stunde in den Strudeln am Fuß der Felsen verspielt. Aber die Wärme des Wassers, die einer Arktisrobbe fremd sein mußte, trieb sie weiter. Und wenn sie hungrig war und Fische fing, tat sie es hastig und ohne Freude an der Jagd. Schließlich gelangte sie in den Golf von Maine. Die vielen Boote und Dampfer, die die Bucht auf der Fahrt nach Boston durchquerten, beunruhigten sie. Sie schwamm daher in diesen Tagen meist tief unter Wasser und tauchte nur zum Atmen auf. So wenig wohl sich Rina in diesen warmen, von fremdartigen Tieren bevölkerten Gewässern fühlte, so unfähig war sie doch, Ursache und Wirkung zu begreifen. Unentwegt schwamm sie weiter nach Süden, bis sie eines Tages, erschreckt durch die furchtbare Erscheinung eines lichtumfluteten, lärmerfüllten Passagierschiffes, scharf nach Osten und dann nach Norden abdrehte. Wochenlang furchte sie die Wellen des Nordatlantik, bis sie an der Südspitze Grönlands wieder auf Land stieß. Rina war nun fast ausgewachsen und hatte sich in den letzten Monaten nicht nur äußerlich verändert, auch in ihrem Körper waren große Wandlungen vor sich gegangen. Da sie nun fast zweieinhalb Jahre alt war, regten sich in ihr mächtige neue Kräfte. Vielleicht 30
war es daraus zu erklären, daß sie sich vor der zerklüfteten Grönlandspitze, wie magnetisch gezogen, nach Osten wandte. Die Unruhe, die Rina so lange gequält hatte, war verflogen. Zwei Jahre lang war sie Fremden gefolgt wie ein Hund, der sich verlaufen hat und sich jedem anschließt, der ihn nicht verjagt. Beschwingt und so sicher zog sie davon, als führte eine Straße über das Meer, gerade, wie der rote Widerschein der aufgehenden Sonne. Ihr Wohlgefühl erhöhte sich, als das Wasser endlich wieder kälter wurde. Es fiel Schnee, und die weißen Flocken erregten sie so, daß sie den Kopf emporstreckte, die Schnauze öffnete und die duftigen Kristalle auf der Zunge zergehen ließ. Vor ihr blitzte etwas im Mondlicht hell auf. Nur noch einige hundert Meter mußte sie schwimmen — dann erklomm sie zum ersten Male seit langer Zeit wieder eine Eisscholle. Mit einem unbeschreiblichen Gefühl des Wohlseins wälzte sie sich auf der leichten Schneedecke hin und her. Plötzlich drehte der Wind. Rina reckte den Kopf und lauschte. Einen Augenblick noch blieb sie steif und unbeweglich liegen — dann sprang sie vom Eis und verschwand im Meer. Die Schollen mit den kleinen weißen Flaumbällen waren so weit entfernt, daß das Geplärr der Jungrobben Rina nur als schwache Schwingungen erreicht hatte — aber sie sprachen zu ihr in den Lauten, die sie in ihrer Kindheit vernommen hatte, und in einem Takt, der der Takt ihres eigenen Lebens war. Sie war am Ziel ihrer langen Reise, glückselig kletterte sie auf eine Scholle und streckte sich aus. Über ihr leuchteten dieselben Sterne, die bei ihrem Eintritt in die Welt das weite Meer, den Schnee und die Eisberge mit funkelndem Licht Übergossen hatten. Bald wird der Tag kommen, an dem Rina selbst ein kleines, weißes Robbenjunges betreuen und ihre Mutterpflichten mit derselben instinkthaften Treue erfüllen wird wie alle Robbenmütter seit Millionen Jahren . .. Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Fotos: Ullstein-Bilderdienst. Abb. aui Seite 17 nach einem Farbbild von TT. Eigner im Aprilheft 1957 der Zeitschrift ORION, Verlag Sebastian Lux. Der Leser findet in diesem Heft aus der Feder von Dr. Georg Steinbacher einen von "W. Eigner reich illustrierten naturwissenschaftlichen Aufsatz über das Hobbenvolk, den wir als Ergänzung zu dem vorliegenden erzählenden Lesebogen sehr empfehlen. L u x - L e s e b o g e n 260 ( N a t u r k u n d e ) — H e f t p r e i s 25 Pfg. Natur- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (vlerteljährl. 6 Hefte DM 1.58) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, Murnau (Oberbayern), Scidl-Park — Druck: Buchdruckerei Auer, Donauwörth 31
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