C. J. Tramontana Bill Slavicsek Torg Band 01
Ritter Der Stürme
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C. J. Tramontana Bill Slavicsek Torg Band 01
Ritter Der Stürme
scanned by dawn corrected by Yfffi Bei einem Überraschungsangriff auf New York kommt plötzlich eine Brücke aus Pflanzen vom Himmel, auf der sich intelligente und recht räuberische Echsenwesen tummeln. Die Menschen stellen entsetzt fest das ihre Waffen nicht mehr funktionieren da Diese in der Heimatwelt der Echsen den Naturgesetzen widersprechen und diese neue Realität nun auch in New York gilt. Selbst die Bewohner sind gegen diese wenig subtilen Änderungen nicht gefeit und verwandeln sich zu Urmenschen zurück. ISBN 3-442-24581-8 Originalausgabe »Torg. The Possibility Wars. Book 1. Storm Knights« Aus dem Amerikanischen von Bettina Zeller 1993 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlaggestaltung: Design Team München
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
FANTASY Nach einer Idee von Greg Gorden und Bill Slavicsek TORG – Die Möglichkeitskriege beginnen Band 1: Ritter der Stürme (24581) Band 2: Tag der Apokalypse (24582; Juni 1993) Band 3: Jäger des Todes (24583; Juli 1993)
Für Scott, Denise und Rieh, die uns die Chance gegeben haben, eine neue Welt zu kreieren. Und für den Rest des Torg-Teams –Greg Corden, Doug Kaufman, Chris Kubasik, Ray Winninger, Jonatha Caspian, Mike Stern und Paul Murphy –, weil erst die Zusammenarbeit ein Ganzes möglich machte.
Prolog: Die Fast-Gegenwart Heute, etwas später, morgen früh, irgendwann nächste Woche beginnt das Ende der Welt... Wenn sie einen scheuchten, dann mußte man rennen. Und wenn man etwas zu langsam war oder sich einen Knöchel verstauchte und auf dem heißen Sand landete, dann war man tot. Falsch. Wenn sie begannen, einen zu scheuchen, dann war man schon tot. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Herz zu schlagen aufhörte und das rote Blut dort, wo man hingefallen war, in den Boden sickerte. Der junge Mann wußte das alles nicht. Er rannte einfach. Schneller und schneller rannte er unter den sich zusammenbrauenden Wolken, bis er Seitenstechen bekam und sein Brustkorb schmerzte. Er machte sich keine Gedanken darüber, in welche Richtung er wohl rannte. Er wollte nur weg. Weg von dem Schrecken, der hinter ihm lag, weg von der Grausamkeit, von der sein Verstand wünschte, daß er ihr nie begegnet wäre. Er rannte so lange, bis bei jedem Schritt Schmerzen durch seinen Körper fluteten. Und dennoch bewegte er sich weiter. Doch sein Laufen war in ein Traben übergegangen und hatte sich dann in ein schnelles Gehen verwandelt. Später in ein Schlurfen. Nur einen kurzen Augenblick, sagte er sich, als er im Sand zusammenbrach. Nur ein bißchen Luft schnappen. Seine Augen fielen vor Erschöpfung zu. Nachdem er die ganze Nacht und auch noch den Morgen über gerannt war, konnte ihn nicht einmal mehr die Furcht weitertreiben. Und so schlief der junge Mann im heißen Sand unter der gleißenden Sonne ein, nur ein paar Meter von den plätschernden Wellen -4-
entfernt. Er merkte nicht, wie die Zeit verging, und rührte sich auch nicht, als dunkle Wolken aufzogen und sich vor die Sonne schoben. Das Flügelschlagen, das immer näher kam, hörte er nicht, und er spürte auch nicht den fauligen Atem, als es näher kam. Aber er spürte das Gewicht, das sich auf seinen Rücken legte, und das brachte ihn wieder ins Bewußtsein zurück. Der junge Mann öffnete die Augen und versuchte aufzustehen, aber das Gewicht hinderte ihn daran. Er konnte das schwere Atmen über sich hören und den moderigen Gestank riechen, der sich beim Luftholen in seine Lunge brannte. Er hustete, und seine Augen tränten. Als der junge Mann blinzelte, sah er eine Gestalt aus dem Dschungel treten. Langsam näherte sie sich. Die Gestalt war groß und hager, so dünn wie ein Skelett. Vom Blickwinkel des jungen Mannes aus, der im Sand lag und mit tränenden Augen aufblickte, schien die Gestalt verzerrt zu sein, als blicke man in einen Zerrspiegel auf dem Rummelplatz. Der Fremde trug einen langen, schwarzen Mantel und einen hohen, schwarzen Hut. Die feuchtschwüle Hitze schien ihm nichts anzuhaben. Ein Schultercape bauschte sich hinter ihm, als er auf den jungen Mann zukam. Lässig schwenkte er einen kunstvoll verzierten Spazierstock. Er blieb nur ein paar Schritte vor dem jungen Mann stehen, dessen Gesicht sich in den auf Hochglanz polierten, schwarzen Stiefeln widerspiegelte. Der große Mann ging in die Hocke und legte den Spazierstock auf seine Knie. Er lächelte den jungen Mann an, und seine ausgemergelten Gesichtszüge wurden noch straffer, bis das hagere Gesicht unter der breiten Hutkrempe an einen Totenschädel erinnerte. »Sie haben uns zu einer fröhlichen Jagd eingeladen, junger Mann«, sagte der Hagere Mann, der sich ganz offensichtlich derselben Sprache wie der junge Mann bediente. Zumindest hatte der den Eindruck, daß es seine Sprache sei. »Aber wie alle Stürmer sind Sie müde und leichtsinnig geworden. Das ist zu -5-
keiner Sekunde eine wirkliche Herausforderung gewesen, soviel müssen Sie zugeben.« »Lassen Sie mich aufstehen, dünner Mann, und dann werde ich Ihnen zeigen, was eine Herausforderung ist!« entgegnete der junge Mann und vergaß für einen Moment seine Angst. Das Gewicht auf seinem Rücken preßte ihn auf die Erde, und etwas Scharfes und Spitzes ratschte durch sein Hemd und schrammte über seine Haut. Er unterdrückte einen Schmerzensschrei und versuchte, nicht auf das heiße, klebrige Gefühl auf seinem Rücken zu achten. »Nein, noch nicht«, warnte ihn der Hagere Mann und richtete sich auf. Mit ausgestreckten Armen drehte er sich auf dem Absatz um und atmete tief durch. »Riechen Sie die Möglichkeiten, die in der Luft liegen!« rief der Hagere Mann aus. »Oh, diese Welt ist reich! Diesmal habe ich eine sehr gute Wahl getroffen, mein Streber, eine sehr gute Wahl, in der Tat.« Dann wirbelte er herum, und sein Gesicht hatte sich wieder verwandelt. Wut blitzte in seinen kalten Augen auf, und einen Augenblick lang sah der junge Mann, daß seine Kleidung zerrissen und mottenzerfressen war. Aber plötzlich kam der Knauf des Spazierstocks seinem Gesicht bedrohlich näher. »Was soll ich nur mit dir machen, Stürmer?« fragte der Hagere Mann. Der Spazierstock wirbelte gefährlich vor seinem Gesicht, und der junge Mann konnte den geschnitzten Drachenkopf sehen, der sich vor seinen Augen bewegte. Der Drache hielt etwas in seinem Maul, biß mit den Zähnen fest darauf. Es war ein seltsamer, wunderschöner Edelstein, der von blauen und roten Adern durchzogen war. Dann riß der Hagere Mann den Spazierstock weg. »Vielleicht würde dir die Maschine gerecht werden, Stürmer. Ja, die Maschine.« »Wovor haben Sie Angst, dünner Mann?« fragte der junge Mann. »Mache ich Ihnen angst?« -6-
Der Hagere Mann antwortete nicht. Er trat einfach zurück und hieb mit seinem Spazierstock in den Sand. Und dann bewegte sich das Gewicht auf dem Rücken des jungen Mannes, und er spürte Klauen. Scharfe, eifrige Klauen. In seinen weit aufgerissenen Augen waren Angst, Schmerz und Licht zu sehen. Und doch beobachtete er fast unbeteiligt, wie ein hellroter Spritzer die polierten, schwarzen Stiefel des Mannes vor ihm verschmierte. Das Licht in seinen Augen verblaßte allmählich, als der Regen einsetzte. Aber das Reißen hatte noch lange kein Ende.
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Die Wolken ziehen sich zusammen Ich habe zugesehen, wie sich die dunklen Wolken zusammenbrauen. Ich habe zugesehen, wie sie den Himmel einnahmen. Ich habe die Donnerwellen gespürt. Die Blitze logen nicht... Eddie Paragon Es gibt nicht immer einen Silberstreifen, der sich hinter einer dunklen Wolke verbirgt. Manchmal ist das, was dahinter ist, viel, viel schlimmer. Quin Sebastian
1 Mario Docelli fluchte laut. Er stand am Fenster und betrachtete den dunklen Himmel. Da zog ein Sturm auf. Aber vielleicht hatte der ja die Freundlichkeit, bis zum Ende des Spiels zu warten. Die Sturmwolken waren allerdings so schwarz, daß draußen fast dunkle Nacht herrschte. Großartig! Und das auch noch am ersten Spieltag! Er schaltete sein Radiogerät ein und suchte einen Nachrichtensender. Vielleicht gab es da gleich einen -8-
Wetterbericht. Verdammt, heute war der Empfang wieder beschissen! Nur Knistern und Rauschen. »... um die Welt... mit Indonesien...« Das ist er, dachte Docelli und drehte weiter. »Wir wiederholen unsere Schlagzeile: Jegliche Verbindung zu Indonesien ist abgebrochen«, drang die Stimme des Nachrichtensprechers zu ihm. »Eine amerikanische SatellitenBodenstation zeichnete das Ereignis auf. Man erwartete, die Verbindung wieder aufnehmen zu können, nachdem IndoCon Sat Drei ausgerichtet war. Aber jetzt melden auch andere Länder, daß der Satellit tadellos funktioniert beziehungsweise funktionieren würde, wenn es irgendwelche Signale gäbe. Was Radiowellen, Telefonleitungen und alle anderen Möglichkeiten elektronischer Kommunikation anbelangt, existiert Bali nicht mehr. Ebenso Sumatra, Java, Borneo, Celebes, die Molukken und alle anderen Inseln des Malayischen Archipels. Wir schalten jetzt zu Arthur Cross in Australien. Arthur...« Eine andere Stimme drang aus dem Radio. »Heute morgen standen die Faxgeräte still. Die Satelliten übermitteln keine Radio- oder Fernsehsignale mehr. Von dem Teil der Welt, den wir Indonesien nennen, wurde nur noch ominöse Stille übertragen...« »Wen interessiert’s«, schimpfte Docelli wütend und schaltete das Radiogerät ab. »In dieser Stadt kann man nicht mal mehr einen vernünftigen Wetterbericht kriegen. Hoffentlich kriegen sie überhaupt ein bißchen was hin.« Docelli machte eine Dose Bier auf, legte eine Schüssel Popcorn in seine linke Armbeuge und machte es sich in seinem Lieblingssessel bequem. »Dann laßt uns mal Ball spielen«, murmelte er.
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2 Police Officer Rick Alder sollte sich für den Rest seines Lebens an diesen ersten Spieltag erinnern. Laut Dienstplan mußte er draußen vor dem Shea-Stadion zu Pferd die Zuschauermengen kontrollieren. Über ihm zogen sich immer noch mehr riesige, schwarze Wolken zusammen und verdüsterten den Himmel. Sicher würde er tropfnaß werden. Er hatte vergeblich gehofft, daß das Spiel ausfallen würde, aber die Fans kamen jetzt zu Tausenden aus der U-Bahn und von den dicht gedrängten Parkplätzen. Sie alle kamen hierher, um zu sehen, wie Walter »The Truth« Jones den ersten Ball in der neuen Baseballsaison warf und wie David »Sky-High« Glass der erste Homerun gelang. Und obwohl Officer Alder die Mets genauso liebte wie jeder andere New Yorker, säße er doch lieber wie Millionen andere Fans zu Hause, anstatt hier inmitten eines Sees aufgeregter Menschen auf dem Rücken eines Pferdes. Plötzlich zuckte ein Blitzstrahl durch den Himmel. Sein Pferd wurde unruhig, und Alder mußte sich anstrengen, das Tier im Zaum zu halten. Eigentlich war die Stute schon den ganzen Tag über nervös gewesen. »Ruhig, Simone«, flüsterte er, »diese Wolken machen mir auch angst.« Schließlich lenkte er das Tier zum Eingang des Stadions hinüber. Von dort aus konnte er über den Zaun blicken und die Menge beobachten, obwohl er kaum mehr sehen konnte als ein Meer von schwankenden, wogenden Körpern. Aber er stellte sich vor, wie die Fans lachten, winkten, sich schubsten und scherzten. Er stellte sich vor, wie sie in der Mittagsschwüle schwitzten und darauf warteten, daß das Spiel begann. Die Energie war greifbar, und selbst auf diese Entfernung spürte Alder die fast religiöse Inbrunst. Das Gemurmel klang -10-
jetzt anders, und er wußte, daß der Gastsänger herausgekommen war, um die Nationalhymne zu singen. Heute war es der junge Rockstar Eddie Paragon, ein Teenageridol und Video-Superstar. Die Menge jubelte und wurde dann für einen kurzen Augenblick still und ruhig, als Paragon vor das Mikrofon trat. Es entstand eine kurze Pause, und dann fing er an zu singen. Alder lauschte, wie Paragons volle Stimme aus den Lautsprechern des Stadions widerhallte. Die hohen, eigenwilligen Noten am Schluß der Hymne gelangen ihm besser als den meisten anderen. Gleich darauf schwoll das Raunen der Menge erneut an. Es war jetzt lauter und wilder als zuvor. Es war verrückt, aber Alder merkte, daß auch er von dem Augenblick gefangengenommen wurde. Ein Brezelverkäufer kam mit seinem Wagen näher. Er nickte Alder zu, während er an seinem Radiogerät herumspielte. »Da kommen sie«, verkündete der Sprecher, »die New York Mets!« Die Menge stand jetzt und bereitete dem Heimteam, das eine neue großartige Saison vor sich hatte, einen jubelnden Empfang. Aber Alder hörte nicht mehr zu. Er beobachtete den Himmel, über den wilde Blitze zuckten. »Mein Gott«, sagte der Brezelverkäufer, »was geht hier eigentlich vor? Sagen Sie mir doch, was hier vorgeht!« Das Pferd bewegte sich nervös, aber Alder bemerkte es nicht. Plötzlich registrierte er zwei ganz verschiedene Ereignisse, die gleichzeitig passierten. Seine Augen waren auf den Himmel gerichtet und verfolgten gebannt die Wolkenformationen und Blitze. Gleichzeitig formten sich in seinem Kopf Bilder aus dem Stadion, die er sich aus den Worten des Reporters zusammenreimte. Er sah, wie die Wolken verwirbelten, als der Wind heftiger wurde. Er hörte, wie die Ränge unter dem Applaus vibrierten, als Walter »The Truth« Jones auf das Wurfmal trat. -11-
Er erkannte Angst in den Augen des Brezelverkäufers, als ein Blitz den Himmel durchzuckte. Er spürte die unheimliche Stille, als »The Truth« den Arm nach hinten führte, als jedes Auge sich auf den Fuß von »The Truth« konzentrierte, als er langsam sein Gewicht verlagerte. Nur noch wenige Sekunden bis zum ersten Ball dieser BaseballSaison! Der Augenblick war voller Versprechung und Erwartung. Voller Möglichkeiten. Alder verfolgte fasziniert, wie sich hinter den Wolken etwas bewegte. »Und das ist der Wurf«, kreischte der Kommentator, »wie eine Rakete, die in direktem Kurs auf Salters Handschuh zufliegt! Was für ein schneller Ball! Was für ein Wu...« Plötzlich brachen die Wolken auseinander und spuckten eine Welle knisternder Energie aus, die sich über das Stadion ergoß. Im Shea erreichte der Ball das Mal nicht mehr, und der Kommentator beendete seinen Satz nicht mehr. Abrupt hörte die Radioübertragung auf, die Scheinwerfer im Shea gingen aus, und selbst Alders Walkietalkie gab keinen Ton mehr von sich. Doch er nahm das alles kaum wahr, denn die Wolken teilten sich auf einmal, und ein... Loch tat sich im Himmel auf. Er konnte es nicht anders beschreiben. Ein Loch! Und in diesem Loch tobte ein noch wesentlich heftigerer Sturm. Das Pferd trabte vom Stadion weg. Es schnaubte und wieherte. Alder versuchte nicht, das Tier zu zügeln. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf die Ereignisse am Himmel gerichtet. Unter tosendem Donner und unzähligen Blitzen fiel irgend etwas vom Himmel. Es fiel auf das Shea-Stadion, zertrümmerte einen Großteil der Anlage und des angrenzenden Parkplatzes. Da war auf einmal eine verdrehte, lebende Masse aus Grün- und Brauntönen, die gut eine halbe Meile breit war, wie der Bohnenstengel aus dem Märchen, der bis zum Himmel reicht. -12-
Wäre er ein paar Meter weiter drüben gelandet, hätte es Alder auch erwischt. Das Gewächs machte einen weiten Bogen nach oben und bildete eine Leiter aus kabeldicken Ästen mit breiten, mannsgroßen Blättern und langen, scharfen Dornen. Die Leiter war so riesig, daß ihr Ende in den dunklen Wolken untertauchte. Das Pferd galoppierte jetzt, und Alder klammerte sich unbewußt fest. Er konnte den Blick nicht vom zerstörten Shea-Stadion abwenden. Wie viele sind dort drinnen wohl umgekommen, fragte er sich. Aber sein Kopf wollte die Bilder nicht wirklich wahrhaben, und so schaute er einfach nur zu. Neben dem Loch im Himmel rollte eine zweite Energiewelle den Bohnenstengel hinunter und explodierte in den Überresten des Stadions. Dann breitete sie sich in alle Richtungen aus, strömte über Alder und sein Pferd hinweg und warf sie um. Quälende Schmerzen überwältigen den Polizisten, aber es gelang ihm dennoch, den Kopf zu heben und das Geschehen weiter zu verfolgen. Grauenhafte Kreaturen marschierten, krabbelten, rutschten, polterten und klapperten die Treppe aus dichter Vegetation herunter. Alder brauchte einen Moment, bis er die Biester einordnen konnte. Es waren Dinosaurier und andere prähistorische Monster, oder wenigstens eine abartige Version davon. Selbst diejenigen, die auf zwei Beinen liefen und Speere und andere Waffen trugen, waren nicht anders. Sie kamen diese Pflanzenleiter herunter, ein unendlicher Strom von Monstern, die aus dem Sturm kamen und ins Shea hinunterstiegen. Sie schritten über den Weg, der sich da gebildet hatte. Im Gegensatz zu dem Bohnenstengel aus dem Märchen war das hier eigentlich keine Leiter, sondern eher eine Brücke, die die Erde mit... etwas anderem verband. Alder konnte nicht ins Stadion sehen, aber er hörte die -13-
Schreie. Wer auch immer bisher überlebt hatte, wurde nun von den Kreaturen getötet, und zwar schnell und offensichtlich gnadenlos. Riesenschlangen, über zehn Meter lang, glitten die Dschungelbrücke hinunter. Ihre grünen und braunen Schuppen spreizten sich bei der Bewegung ab. Kleine Echsen mit Federn hüpften von einem Ast zum anderen. Vierbeinige Biester mit Greifarmen an den Schnauzen schoben sich durch das Gewirr der Äste. Und eine seltsame Ansammlung von Halbwesen stürmte ins Shea hinunter. Sie ähnelten den Spielzeugdinosauriern, mit denen Alder als Junge gespielt hatte, obwohl sie beängstigend anders waren. Es gab ein Tier, das fast wie in Tyrannosaurus Rex aussah und große Godzilla-Dornen auf dem Rücken hatte. Dort eine Kreatur mit drei dornigen Schwänzen, die durch das Blätterwerk zischten. Und dann noch ein Wesen wie ein Flugsaurier, das mit seinen riesigen Flügeln schlug und auf den Boden hinunterstürzte. Alder rappelte sich wieder auf. Er hatte seinen Dienstrevolver, sein Funkgerät und seinen Schlagstock. Einen Augenblick lang spielte er verzweifelt mit dem Gedanken zu handeln. Aber dann sah er, wie sich der Monsterstrom teilte und für ein riesiges Wesen Platz machte. Das einhörnige Monster erinnerte ihn an den Dinosaurier mit den drei Hörnern und dem gepanzerten Kopf, den er als Kind geliebt hatte. Aber es gab auch Unterschiede: zum Beispiel den riesigen Dinosauriermann, der auf seinem Rücken ritt, und das einzelne Hörn, das aus seinem Kopf ragte. Der Dinosauriermann führte die Monster an, das wußte Alder. Er spürte es im Bauch. Und es gab nichts, was der Polizist Rick Alder jetzt noch tun konnte, um die Leute im Shea-Stadion zu retten. Simone war in der Nähe stehengeblieben, als Rick Alder -14-
hinunterfiel. Die Stute hatte wohl entschieden, sich in all dem Durcheinander auf etwas zu konzentrieren, das ihr bekannt war. Wie der blaugekleidete Typ, der hin und wieder auf ihr ritt und ihr ein paar Zuckerwürfel gab. Also kletterte Alder wieder in den Sattel und versuchte den Schmerz in seinem rechten Knie zu ignorieren. Dann ritt er los, ohne noch einen Blick hinter sich zu werfen. Sie waren erst ein paar Sekunden galoppiert, als sich der Himmel wieder öffnete und es zu regnen begann. Alder bemerkte mürrisch, daß der Sturm genauso schlimm war, wie er befürchtet hatte. Er wußte nicht, daß der Sturm erst der Anfang war. Es sollte noch viel schlimmer kommen.
3 Christopher Bryce schlug den Kragen seines Mantels hoch. Eigentlich war es eher ein Herbsttag. Mit Frühling hatte das Wetter nichts zu tun. Der Himmel war grau, und ein frostiger Wind blies durch die ruhigen Straßen von Queens. Zu allem anderen hätte nur noch gefehlt, daß er sich beim Spazierengehen eine Erkältung einfing. Ohne ein bestimmtes Ziel lief er weiter. Wie immer, wenn sein Geist in Bewegung war, mußte er laufen. Auf einmal war er in einer Einkaufsstraße und blieb aus Gewohnheit vor dem Schaufenster eines Buchladens stehen. Was er sah, war sein Spiegelbild: Seine üppige Nase und sein roter Bart waren unter seinem Hut sichtbar, sein Mantelkragen stand offen, und sein weißer Priesterkragen war zu sehen. Vierunddreißig Jahre alt, dachte Bryce, und jedes einzelne Jahr hat seine Spuren auf meinem Gesicht hinterlassen. Er schlug den Mantelkragen zu, so daß er nicht als Priester zu erkennen war. -15-
Meine Berufung, dachte Bryce, war das nicht der zentrale Punkt, um den seine Probleme kreisten? Er wollte sich gerade abwenden, als sein Blick auf ein Buch über König Artus und die Ritter der Tafelrunde fiel. Die Illustration auf dem Umschlag zeigte einen königlichen Artus in seiner schönsten Rüstung. Seine Hände ruhten auf dem schweren Knauf Excaliburs. Wie einfach war doch jene Zeit, als die Ritter um Ritterlichkeit und Ehre kämpften. Damals konnte man noch die Guten von den Bösen unterscheiden. Ein Blitzstrahl erleuchtete den Himmel. In Kürze würde Regen fallen, und Bryce wollte dann nicht mehr im Freien sein. Er marschierte wieder los und lief sogar noch ein wenig schneller, um dem Sturm zu entgehen. Das sollte ihm jedoch nicht gelingen. Während er so durch die Straßen eilte, hing er seinen Träumen nach. Er hatte gerade Urlaub und besuchte seine Eltern zu Hause, während er auf seine nächste Mission wartete. Er war weit herumgekommen und folgte seinem Gelöbnis wie jene Ritter. Allerdings hatte er gelobt, in Armut, Keuschheit und Gehorsam zu leben. Es war seine Pflicht, jeden Dienst zu versehen, den der Heilige Vater ihm auferlegte. In letzter Zeit hatte er jedoch begonnen, gewisse Dinge in Zweifel zu ziehen. In letzter Zeit? Nein, nicht erst in letzter Zeit. Bryces Zweifel waren schon im College gekeimt. Sie waren ihm in jedes fremde Land gefolgt, hatten ihn gedrängt, Antworten auf seine Fragen zu suchen. Aber er hatte nie welche gefunden. Er war inzwischen sicher, daß er darum bitten wollte, den Orden verlassen zu dürfen. Vielleicht würde er auf sich allein gestellt die wirkliche Bedeutung dessen erfahren, was ihn am meisten faszinierte. Und erschreckte. Er war immer noch ein Stück vom Haus seiner Eltern entfernt, als eine Energiequelle durch das Viertel floß. Bryce drehte sich um und beobachtete, wie die glühende Welle die Straße -16-
hinunterrollte. Lichter und Motoren gingen aus, und dann traf die Welle Bryce und schmetterte ihn zu Boden. Bevor er wieder aufstehen konnte, platschten riesige Regentropfen auf den Gehweg. Nur wenige Sekunden später war Pater Christopher Bryce bis auf die Knochen durchnäßt.
4 Der Fernsehapparat, die Lampen, die Digitaluhr im Radio – alles hatte gleichzeitig zu funktionieren aufgehört. Und der Sturm war endlich da. Unmengen von schwarzem Regen gingen auf die Erde nieder. Soviel zum Baseballspiel, grunzte Docelli. Er riß sein Fenster auf, steckte den Kopf nach draußen und brüllte die Elemente an, ohne sich bewußt zu sein, daß er noch vor wenigen Minuten so etwas nicht getan hätte. Dann blickte er zum Shea-Stadion hinüber und sah auf einmal die Dschungelbrücke. Sie schien direkt aus dem Sturm zu fallen; ein Ende verschwand hinter Häusern, das andere hing im Himmel. Er war sich nicht sicher, was es war. Aber irgend etwas sprach ihn an und berührte ihn merkwürdig. Docelli lief die drei Treppen hinunter auf die Straße. Als er sich an den dichtgedrängten Autos und kreischenden Menschen vorbeischob, veränderte er sich plötzlich. Seine Schultern wurden hochgezogen, sein Kinn reckte sich vor, und er trottete mit gebeugten Kniekehlen zu den Ruinen des Shea-Stadions.
5 »... Asche zu Asche, Staub zu Staub. Amen.« Andrew Jackson -17-
Decker ließ die Rose in das schwarze Loch fallen und sah zu, wie sie verschwand. Dann wurde Erde hineingeschaufelt, und die Menschen gingen langsam weg. Die meisten von ihnen bekundeten ein letztes Mal Respekt, nickten mit dem Kopf, als sie Decker gegenüber ihr Beileid ausdrückten, und gingen dann weiter. So war die Welt nun einmal. »Ace?« Decker schaute auf. Neben ihm stand Jonathan Wells, der Sprecher des Repräsentantenhauses. Er war einer der wenigen, die sich an Deckers alten Spitznamen erinnerten und ihn immer noch benutzten. »Kommen Sie«, sagte Wells, »Sie haben später noch Zeit zu trauern. Jetzt müssen wir zum Kongreß.« »Zum Kongreß?« fragte Decker. »Ich muß nach Hause gehen. Dort warten ein paar Leute auf mich und...« Wells packte Deckers Arm. »Ace, ich weiß, was Sie im Augenblick empfinden. Vicky war eine wunderbare Frau. Aber es hat einen Zwischenfall gegeben. In einer halben Stunde versammeln sich die beiden Häuser zu einer Sondersitzung.« »Einen Zwischenfall? John, wovon reden Sie?« Wells blickte zu dem jungen Kongreßabgeordneten aus Pennsylvania auf. »New York ist... tja, wir sind nicht sicher, was geschehen ist. Terroristen, eine ausländische Macht, Jugendbanden, ein einfacher Stromausfall, wir wissen es einfach nicht. Zum Nordosten der Vereinigten Staaten ist jede Verbindung abgebrochen, Teile Ihres Wahlkreises sind davon ebenfalls betroffen. Ace, der Präsident und der Vizepräsident sind in New York. Wir... haben keine Information darüber, wie es ihnen geht.« Möglicherweise ein Angriff auf die Vereinigten Staaten? Decker konnte sich das einfach nicht vorstellen. Das war unglaublich. Irreal. »Ich verstehe nicht...« »Ich auch nicht, Ace«, sagte Wells. »Aber sie brauchen uns, wir müssen uns etwas ausdenken und entscheiden, was zu tun -18-
ist, bevor jemand anderer einen furchtbaren Fehler macht.« Decker nickte. »In Ordnung, John, in Ordnung. Geben Sie mir nur eine Minute Zeit, okay?« John Wells lächelte zustimmend. »Nehmen Sie sich zwei, Ace. Aber dann müssen wir gehen.«
6 Bryce schlitterte und rutschte, aber es gelang ihm immer wieder, die Balance zu halten. Er wußte nicht, was geschah, aber wenn das das Ende der Welt war, dann wollte er die letzten Augenblicke vor dem Jüngsten Gericht mit seinen Eltern verbringen. Er platschte durch tiefe Pfützen und hastete an Männern und Frauen vorbei, die sich eher wie Tiere als wie Menschen verhielten. Schließlich bog er in die Straße ein, in der er aufgewachsen war. Und Christopher Bryce, geweihter Priester des Jesuitenordens, drehte durch. Zumindest war das die einzige Erklärung, die sein Verstand akzeptierte. Die Häuser in der Straße waren zerstört. Der Anblick erinnerte ihn an Nachrichtenbilder nach Erdrutschen oder Bombardierungen. Aber weder Menschen noch Naturgewalten hatten das angerichtet, sondern Kreaturen, die wahrlich dämonisch waren. Die größten Biester waren zwei Echsen, von denen jede fast doppelt so groß war wie ein Panzer. Auf ihren schweren Schuppen saßen spitze Dornen, und beide zerstörten mit stachelbewehrten Schwänzen Häuser und Telefonmasten. Sechs Dämonen dirigierten – ja, dirigierten, dessen war Bryce sich sicher – die Monster. Sie ähnelten den Echsen, waren groß und muskulös und wesentlich breitschultriger als Männer, obwohl sie auf zwei Beinen standen. Einer ritt auf einem der -19-
gepanzerten Ungeheuer und trieb die anderen an. Die anderen folgten und zogen ihre langen Echsenschwänze hinter sich her. Und gerade in dem Moment, als Bryce das Haus seiner Eltern sah, wurde es von einem der Biester zertrampelt, als wäre es aus Streichhölzern gebaut. Der Anblick der Zerstörung, als sein Elternhaus, Kirche und Schule unter dem Gewicht der Höllenkreaturen zusammenbrachen, war mehr, als Bryce ertragen konnte. »Nein!« kreischte er. Seine Stimme übertönte den lauten Regen. »Neeeein!« Die vier Echsenmänner drehten sich zu ihm um. Jetzt konnte Bryce ihre seltsam geformten Keulen sehen. Er konnte ihre regennassen grünen Schuppen erkennen und, schlimmer noch, konnte in ihre gelben Augen schauen. Die Echse, die am nächsten stand, drehte sich auf ihrem langen Schwanz um. Sie schwang ihre Keule, und Bryce sah, daß an dem Prügel noch Blätter und Wurzeln hingen. Rissen die Echsen einfach nur Pflanzen aus dem Boden, um sie dann als Waffen zu benutzen? Bryce ging davon aus, daß nicht einmal der kleinste Echsenmann, der aber auch noch über einsneunzig groß war, irgendeine Waffe nötig hatte, um ihn zu Brei zu schlagen. Doch dann passierte etwas Seltsames. Die Echse, die immer noch auf ihrem Schwanz stand und mit dem Knüppel auf ihn zeigte, riß den schnabelähnlichen Kiefer auf und rief: »Sssstürmer!« Und Pater Christopher Bryce drehte sich um und rannte blindlings in den Sturm.
7 Rick Alder beobachtete, wie die Dinosauriermänner an der Brücke, 59. Straße, auf der Manhattanseite ein primitives Lager -20-
unter der Straßenbahnstation errichteten. Sie waren überall auf der Straße und der Brücke, ein unendlicher Strom von Echsen, die aufrecht gingen, auf ihren langen Schwänzen schaukelten, ihre Echsenkörper aufgeregt drehten und wanden und unter Zischen und Rasseln eine Hymne schmetterten. Offensichtlich feierten sie. Um Gottes willen, die Echsen feierten eine Party! Alder trat von dem Fenster zurück. Er war in einem Büro irgendwo im sechsten Stock eines Gebäudes, von dem aus man die Stadtbahn im Auge behalten konnte. Er erinnerte sich an die Zeit, als sie gebaut worden war. Das mußte schon über zehn Jahre her sein. Es war die alte Welt. Alder verstand nicht, was jetzt geschah, aber er war überzeugt, daß die alte Welt verloren war und einer neuen Zeit Platz machen mußte. Er setzte sich mit dem Rücken zur Wand auf den Boden, damit er die Tür beobachten konnte. Wieder spürte er Freude darüber, daß er Manhattan vor den Dinosauriern erreicht hatte, denn sie bewegten sich schnell vorwärts. Alder wäre sogar noch schneller gewesen, wenn das Pferd ihn nicht im Stich gelassen hätte. Die arme Simone hatte ihm in Queens das Leben gerettet. Sie war einfach im Galopp geflohen, während er nur entsetzt fasziniert zugeschaut hatte. Aber er hatte sie zurücklassen müssen, als sich ihr Huf in einem Gitter verfing. Das Pferd stürzte schwer, und er konnte von Glück sagen, daß er fliehen konnte. Gedankenversunken rieb er sich sein Knie und versuchte so, den Schmerz zu vertreiben. Mittlerweile wurde es langsam dunkel. Der unablässige Regen hatte ihn bis auf die Knochen durchgeweicht, und er fühlte sich scheußlich. Jetzt mußte er entweder ein Versteck finden, oder er mußte in der Dunkelheit und zu Fuß weiter. Mit den Dinosauriern auf den Fersen. -21-
Er beschloß, in dem Gebäude unterzutauchen. Es war einfach perfekt. Als er es betreten hatte, war es augenscheinlich leer gewesen, und er war seither auch nicht auf andere Bewohner gestoßen. Außerdem hatte man von hier aus einen guten Blick auf die Brücke. Alder war umsichtig und hielt es für klug, die Monster im Auge zu behalten. Er wollte möglichst viel über sie herausfinden. Vielleicht hing sein Überleben von derlei Informationen ab. Er hatte immer noch seinen Gürtel mit seinem Dienstrevolver, die Stablampe und den Schlagstock. Seine Uhr zeigte an, daß es zehn vor sieben war. Wieder versuchte er, ob sein Walkietalkie funktionierte, aber er hörte nur ein Knistern und Rauschen. Daraufhin ließ er das Gerät zu Boden gleiten und lehnte den Kopf zurück. Schlaf überwältigte seinen müden Körper und Geist. Aber ein unbekanntes Geräusch zwang ihn bald wieder, die Augen zu öffnen. Das Summen draußen hatte sich verändert. Es war jetzt aufgeregter als zuvor und noch intensiver. Alder kroch wieder zum Fenster und spähte nach draußen. Jetzt war es dunkler, und der Regen erschwerte den Blick, aber im Lager der Außerirdischen brannte Licht. Glühende Feuerbälle hingen dort unten in der Luft, so daß es hell genug war, daß er die Vorgänge beobachten konnte. Das Lager war größer geworden. Jetzt schwebten auch riesige Seesterne über der Meute. Die Kreaturen waren betörend schön und sahen aus, wie aus bunten Glas geblasen. Wenn sie sich im Lichtschein bewegten, funkelten sie. Außerdem hatten sich nun Menschen eingefunden, die mit den Echsen sangen und tanzten, als ob sie zu dieser Feier der Außerirdischen dazugehörten. Das wenige, was Alder erkennen konnte, verunsicherte ihn. Die Menschen schienen brutaler... primitiver als er es aus New York gewöhnt war. Die Kleider, die sie noch am Leib hatten, waren zerfetzt und verschmiert und klebten an ihren Körpern. Alder -22-
schaute zu, und für einen Augenblick hatte er Lust, dort hinunter zu gehen, die Fesseln der Zivilisation abzuschütteln und nackt durch den Regen zu rennen. Er mußte sich zusammenreißen, um dieses Bild loszuwerden. Plötzlich teilte sich die Menge, und das große, einhörnige Biest tauchte auf, das Alder schon zuvor gesehen hatte. Auf ihm thronte ein Echsenmann, der diese Meute zu leiten schien. Er warf seine klauenartige Hand in die Luft, und die Menge raste. Echsen, Seesterne und Menschen antworteten ihm mit einem verrückten Tanzen und Geschrei. Das Benehmen der Wesen war ungeheuer animalisch. Alder spürte sein Herz rasend schnell schlagen. Es war wie bei einem Rockkonzert, nur viel intensiver. Er konnte spüren, wie er zu dem primitiven Rhythmus hüpfte. Er wollte losschmettern und in dieses Lied einstimmen, das alle in Hochstimmung versetzte. Das Ganze war irgendwie real. Der große Echsenmann zerrte eine junge Frau hinter sich hervor. Sie trug ein Sweatshirt und Jeans, aber es war anders als bei den anderen Menschen. Sie war bekleidet und versuchte zu kämpfen. Doch der Echsenmann war viel stärker. Er hob die junge Frau über seinen Kopf und drehte sie der Menge zu, damit alle sie sehen konnten. Selbst in dieser Situation kämpfte und zappelte sie unablässig weiter. Ihr Verhalten heizte die Meute nur noch mehr an, und das echsenartige Getanze wurde schneller. Auch die Menschen bewegten sich erregt im Takt. Hinter dem verdunkelten Fenster schlug Alder den Takt mit. Er sah, wie die junge Frau sich mit aller Kraft zur Wehr setzte, und ein Teil von ihm bewunderte ihre Widerstandskraft. Aber sein Körper bewegte sich und vibrierte, während er am Fenster stand. Auf einmal hörte die Gegenwehr der Frau auf. Mit einem Brüllen zerfetzte der große Echsenmann ihren Körper und hob seine Schnauze, um ihr Blut aufzufangen. -23-
Totales Chaos breitete sich dort unten aus. Alder bewegte sich nicht mehr. Sein Verstand setzte plötzlich wieder ein. Auf einmal wußte er wieder, wer er war und was geschah. Seine stillte Dumpfheit verwandelte sich in stumme Wut, und er stellte fest, daß er die Echsen und ihre Führer haßte. Er haßte, was sie waren und was sie taten. Er haßte, was sie mit ihm gemacht hatte. Er würde sie für das Blut der jungen Frau bezahlen lassen. Das schwor er sich. Er beobachtete das Treiben bis tief in die Nacht, bis die Meute schließlich zusammenbrach und erschöpft einschlief.
8 Voller Entschlossenheit schlich Christopher Bryce von Schatten zu Schatten. Er ging dabei bewußt den Trümmern aus dem Weg, die überall auf der dunklen Straße verstreut waren. Seit dem grauenhaften Augenblick am Nachmittag, als der Dämon ihn angesprochen hatte, rannte er umher. Er war naß, müde und wütend, aber er glaubte nicht mehr, verrückt zu sein. Nach all der Rennerei war er wieder nach Hause zurückgekehrt. Er war den Monstern entkommen, aber sie waren beharrlich, und er mußte davon ausgehen, daß sie ihn immer noch suchten. Das Haus seiner Eltern war zerstört. Doch bevor er weiterziehen konnte, wollte er alles über das Schicksal seiner Eltern in Erfahrung bringen. Soviel war er ihnen schuldig. Aus Gewohnheit trat er dort ein, wo früher einmal die Veranda gewesen war. Jetzt lagen nur noch Holzbalken herum. Als er durch die Trümmer stapfte, fiel sein Blick auf den Koffer, den seine Mutter ihm geschenkt hatte, als er die Priesterausbildung beendet hatte. Der Koffer war schwarz und glich einem Arztkoffer. Darin bewahrte er die Sakramente auf. -24-
Er hatte nie den Mut gehabt, seiner Mutter zu sagen, daß er wohl nicht sehr oft eine Messe abhalten würde, weil er ja keine Gemeinde übernommen hatte. Und so hatte er den Koffer von einem Missionarsposten zum nächsten mitgeschleppt. Zu seiner Überraschung hatte er wesentlich öfter eine Messe abhalten müssen, als er sich vorgestellt hatte. Er streckte die Hand aus, um den Koffer aus dem Schutt zu ziehen. Er war schwer, und das vertraute Gewicht wirkte in dieser befremdlichen Zeit beruhigend. Doch dann stellte er den Koffer erst einmal zur Seite und fuhr mit seiner Suche fort. Dreißig Minuten später fand er seine Eltern unter einem Dachbalken. Sie waren nicht unter Tonnen von Schutt begraben, sondern von dem schweren Holzträger erschlagen worden. Der Regen durchweichte ihre Körper. Bryce verbrachte die nächsten Stunden damit, die Leichen seiner Eltern aus dem zerstörten Haus zu ziehen, das ihnen so am Herzen gelegen hatte. Er trug sie über die Straße und dann in die Ruinen von Sankt Ignatius. Ein Teil der Kirche stand noch, eine Wand und ein Teil des Kirchturms, und bot Schutz vor dem unablässigen Regen. Der Priester holte seinen Koffer und gab seinen Eltern die Sterbesakramente. Die Pflichten seiner Berufung führte er mit liebevoller Sorgfalt durch. Dann begrub er sie voller Ehrfurcht in einem improvisierten Grab, das er aus den Steinen der zerstörten Kirche baute. »Auf Wiedersehen, Mutter, Vater«, flüsterte Bryce den Steinen zu. Er küßte die Pyramide und wischte sich die Tränen aus den Augen. Lange Zeit stand er einfach nur da und betrachtete das Grabmal.
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9 »Dr. Hachi Mara-Zwei stellt dem Obersten Konzil der Akademie der Wissenschaften ihre Theorie über das Kosmoversum vor...« Mara, dachte sie, als die Bilder langsam in ihren Kopf flossen. Nennen Sie mich Mara. »Der Kosmos. Eine Dimension, in der jeweils bestimmte Gesetze Macht haben. Eine bestimmte Realität kann sich von einer anderen Realität extrem stark unterscheiden.« Mara lauschte ihrer eigenen Stimme, wie sie vor zwei Jahren der Akademie der Wissenschaften ihre Theorie vorgetragen hatte. Das war kurz nach ihrem vierzehnten Geburtstag gewesen, und das Oberste Konzil hatte ihre Ergebnisse als Verirrungen eines jungen Mädchens abgetan. Ein sehr begabtes Genie, das gaben sie zu, aber trotzdem nur ein junges Mädchen. »Unser eigener Kosmos ist nur eine Vielzahl von Dimensionen, die zusammen genommen das ergeben, was ich als Kosmoversum bezeichne. So wie unser Universum die Ganzheit unserer Realität beinhaltet, beinhaltet das Kosmoversum die Gesamtheit aller Realitäten. Und was hier möglich ist, die Naturgesetze, die wir wissenschaftlich erforscht haben, mag in einem anderen Kosmos ganz und gar unmöglich sein, weil dort ganz andere Gesetze das Funktionieren jener Welt bestimmen.« Mara regulierte die Klarheit des Inputs, indem sie unbewußt das Kabel überprüfte, das ihren Kopf mit dem Hauptterminal verband. Oh, sie waren beeindruckt, als das Wunderkind im Alter von zehn Jahren vom College abging. Sie applaudierten endlos, als sie mit zwölf ihr Diplom in Physik entgegennahm. Und sie machten sich vor Freude fast in die Hose, als ihr kindliches Genie ein Jahr später sein zweites Diplom in -26-
Mikroelektronik erhielt. Aber als ihr Wunderkind, ihr trainiertes Schoßhündchen, etwas Wichtiges herausfand, etwas, das den Status quo in Frage stellte, taten sie ihre Erkenntnisse einfach ab. »Meine Ergebnisse legen nahe, daß diese Kosmen miteinander verbunden werden können. Das ermöglicht uns, zur Erkundung in eine andere Dimension zu reisen und Kontakt aufzunehmen, wann immer wir das für wichtig erachten. Aber meine Ergebnisse haben noch eine andere Seite: So wie wir zu einem anderen Kosmos reisen können, können auch die Bewohner anderer Kosmen hierher, in unsere Realität, reisen.« Die junge Frau brach ihre Verbindung zu dem Terminal ab, riß das Kabel heraus und atmete tief durch. Sie hatte ihre Untersuchungsberichte von vorn nach hinten und umgekehrt durchgearbeitet, wieder und wieder. Und sie war immer wieder zu dem gleichen Ergebnis gekommen. Die Invasion war ihr Fehler gewesen. Sie war an dem ganzen Töten und der Zerstörung schuld. Und es würde wieder passieren.
10 Kurz vor dem Morgengrauen marschierte Christopher Bryce auf die Hochhäuser auf der anderen Seite des Wassers zu. Während der Nacht war er ein gutes Stück vorwärts gekommen, weil die meisten Monster sich ausruhten. Er kam dicht an ihren primitiven Lagern vorbei, aber nur wenige bewegten sich, wenn sie ihn sahen. Ein paarmal hörte er, wie jemand in der Dunkelheit herumstrich, aber sehen konnte er nichts. Wenn er Geräusche wahrnahm, lief er einfach weiter. Aber als sich der nachtschwarze Himmel langsam grau tönte, begannen sich die Kreaturen zu regen. Und je näher er der Brücke an der 59. Straße kam, desto mehr Echsenmännern begegnete er. Ihm wurde plötzlich klar, daß er es niemals -27-
schaffen würde, durch diesen unablässigen Strom über die Brücke zu gelangen. Doch vielleicht gab es ja noch einen anderen Weg, dachte Bryce. Er griff in seine Tasche. »Ich habe sogar eine Münze für die U-Bahn«, flüsterte er und lief in die dunkle Station hinunter. Die Lampen brannten nicht. Mit einer Hand tastete er sich an der gekachelten Wand entlang, mit der anderen umklammerte er den schwarzen Koffer. Da es keinen Strom gab, konnte er sich an die Gleise halten. Falls er sich dabei nicht den Knöchel verstauchte. Falls er nicht einem Dinosaurier über den Weg lief. Falls er nicht über einen Straßenräuber stolperte. Auf einmal mußte er lachen und erschrak vor seinem eigenen lautstarken Heiterkeitsausbruch. Bryce blieb stehen und lauschte, aber er konnte nichts hören. Nur von ganz weit weg drangen undeutliche Echos zu ihm. Nach einer kurzen Ruhepause hastete er tiefer in die Dunkelheit. Zumindest regnet es hier unten nicht, dachte er. Ganz langsam arbeitete er sich zur Schranke vor und atmete ein paarmal tief durch. »Man kann Christopher Bryce nicht nachsagen, daß er für seinen Weg nicht bezahlt«, sagte der Priester, als er das Drehkreuz gefunden hatte und die Münze in den Schlitz steckte. »Dort unten muß irgendwo noch eine andere Treppe sein.« Er fand sie und stieg noch tiefer hinunter. Eins, zwei, drei, zählte er, während er vorsichtig einen Fuß nach dem anderen auf die Stufen setzte. Acht, neun, zehn. Als er den Fuß auf die nächste Stufe setzen wollte, streifte sein Bein etwas, das dort herausragte. Bryce stolperte und flog mit wirbelnden Armen in die Dunkelheit. Er landete nur knapp zwei Meter weiter, aber die Landung war trotzdem hart. Bevor er aufstehen konnte, wurde ein kalter Gegenstand gegen seinen Hals gedrückt, während sich ein dünner, sehniger Arm um seinen Brustkorb legte. -28-
»Was treiben Sie hier unten, Mann?« fragte ihn eine junge Stimme. »Wissen Sie nicht, daß das unser Revier ist?« »Es tut mir leid«, entschuldigte Bryce sich vorsichtig, »aber im Augenblick ist es oben nicht gerade sicher.« »Da hat er wohl recht, hm, Coyote?« rief eine zweite Stimme aus der Dunkelheit. »Sei ruhig, Ratte«, antwortete die erste Stimme. »Laß uns mal Licht machen.« Eine Fackel wurde angezündet und beleuchtete den Bahnsteig. Da stand ein zierlicher Teenager mit einem Baseballschläger, um dessen oberes Ende Stoffetzen gewickelt waren, die jetzt brannten. Er trug Jeansklamotten und Turnschuhe und war ungefähr vierzehn. Der ältere Jugendliche, der vielleicht sechzehn war, trat von Bryce weg, ohne sein Schnappmesser loszulassen. Er war ähnlich gekleidet wie der, den er Ratte nannte, aber er trug auch noch eine Lederjacke. »Was ist in dem Koffer, Mann?« fragte Coyote, während er die Hand nach dem Handkoffer ausstreckte. »Sind Sie ’n Doktor oder so was, Mann?« »Bitte, ich brauche ihn«, protestierte Bryce und griff nach dem Koffer. Als er sich bewegte, öffnete sich sein Mantel. »Heilige Scheiße, Coyote«, platzte Ratte heraus, »der Kerl ist ein Priester.« Coyote langte mit seiner freien Hand zu und schlug Ratte auf die Backe. »Ich habe dir doch gesagt, daß du aufpassen sollst, was du sagst, oder etwa nicht?« Bryce trat einen Schritt vor, und sofort schoß Coyotes Klinge nach oben. Der Priester blieb stehen und sah, wie das Licht der Fackel sich auf dem scharfen Stahl widerspiegelte. »Sind Sie ein Priester, Mann? Sind Sie einer?« Bryce nickte. »Ja. Ich heiße Christopher Bryce.« »Pater Bryce, hm? Sagen Sie, Pater Bryce, ist das das Ende -29-
der Welt? Ist das hier die Appoklüpse?« »Apokalypse. Es heißt Apokalypse. Ich weiß selber nicht, was hier passiert.« »Wohin gehen Sie, Pater? Wo wollen Sie denn hin?« »Zur Penn-Station. Ich will versuchen, von dort aus durch den Lincoln-Tunnel nach Jersey zu kommen. Vielleicht sind die Echsenmänner noch nicht so weit gekommen. Vielleicht hat die Armee sie in Manhattan und Queens eingekesselt.« Ratte, der noch immer seine Backe rieb, schaute zu dem älteren Teenager auf. »Allein wird er sich nie zurechtfinden.« Seine Stimme klang sanft, aber er ließ Coyote trotzdem nicht aus den Augen. »Was glotzt du mich so blöde an?« fragte Coyote. Der Blick des Jungen verunsicherte ihn, und er trat von einem Bein aufs andere. »Sollen wir dem Pater helfen, Coyote? Was ist?« Einen Augenblick lang herrschte Stille. Bryce ahnte, welche Gedanken ihnen durch den Kopf schossen. Waren sie einsam und verzweifelt genug, um sich einem Mann im Priestergewand anzuschließen? Coyote räusperte sich. »Ja, Ratte, wir werden ihm helfen«, sagte er und warf Bryce seinen schwarzen Koffer zu. Und dann steckte er sein Schnappmesser ein.
11 Als sich der nachtschwarze Himmel langsam grau färbte, stand Baruk Kaah auf, um den neuen Tag zu begrüßen. Was für Dinge hatten er und sein Volk bereits erlebt, obwohl die Eroberung doch erst gestern stattgefunden hatte! Oh, Lanala würde zufrieden sein! -30-
Der große Echsenmann reckte und streckte sich, bis er die morgendliche Müdigkeit abgeschüttelt hatte. Er ließ seinen Blick über das Lager schweifen und stellte fest, daß seine Gefolgsmänner sich ebenfalls erhoben hatten. Sie alle sind wahre Jakatts, meine Leute, Anhänger der Göttin Lanala, dachte Baruk. Und wie groß der Stamm geworden war! Heute befand sich auch schon eine große Anzahl Kinder dieser Welt unter ihnen. Sie hatten wie viele andere, denen seine heiligen Jihad begegnet waren, ihre leblose Existenz abgeschüttelt, um in das Leben einzutauchen, für das er, der Erstgeliebte Lanalas, eintrat. Aus dem Augenwinkel seines großen, runden Auges sah Baruk Kaah, daß der Stalenger näher kam. Er stammte aus einer anderen Welt, er war einer, der zum Leben konvertiert war, das die Jakatts predigten. Die sternenförmige Kreatur glitt leise auf ihren fünf Armen näher und drehte sich langsam in der Morgensonne. Seine durchsichtigen Membranen waren dunkel getönt, ihr bläuliches Schwarz verriet seine Stimmung. Die Neuigkeiten müssen verheerend sein, wenn er so dunkel ist, dachte der Echsenmann. Er ließ den Stalenger näher kommen und ließ ihn dann für einen kurzen Augenblick schweben, bevor er sich umwandte, um seinen Diener anzusprechen. »Was für Nachrichten bringst du mir?« fragte Baruk. Der Stalenger wickelte lange, dünne Fangarme aus den Taschen an seiner Unterseite. Die Tentakel fuhren aus und berührten sanft Baruk Kaahs geschuppte Hand. Es war eine Mischung aus Vibrationen, Reibung und Klopfen, und auf diese Art und Weise kommunizierte das Wesen mit dem Echsenmann. Es erklärte, daß Abgesandte des Torg angekommen seien. Der Echsenmann wandte sich von dem Stalenger ab und reckte den Hals, um einen Blick über die Menge zu werfen. Die drei großen Wesen standen jedoch bereits neben ihm. Jedes hatte einen kleinen Kopf auf einem langen Hals, eine breite, mächtige Brust und lange, dünne Beine. Flügel hingen wie dunkle Umhänge an ihnen, und scharfe, spitze Zähne ragten aus -31-
ihren langen Schnauzen. Vor allem aber war Baruk Kaah von ihren Augen überrascht. Sie hatten schwarze, intelligente Augen, in denen Spuren von Grausamkeit und Schlimmerem zu erkennen waren. Der Echsenmann mochte diese Augen. »Der Torg übermittelt sein Willkommen, Baruk Kaah, Hoherpriester der Jakatts und Saar der Edeinos«, sagte der erste Ravagon. »Er ist von der Macht Ihrer Realität beeindruckt und übermittelt seine Wünsche für eine erfolgreiche Kampagne«, fügte der zweite hinzu. Der dritte stand einfach nur da und beobachtete ihn. Seine schwarzen Augen fixierten den Echsenmann. Der Schwanz des Hohenpriesters zuckte nervös, und er hatte alle Mühe, seine Bewegungen zu kontrollieren. Der Torg, sagten sie. Diese Abgesandten behaupteten, ein Wesen zu repräsentieren, das nicht existierte – nicht existieren konnte. »Der Torg...?« begann Baruk Kaah, aber der erste Ravagon brachte ihn mit einem Seitenblick zum Schweigen. »Leugnen Sie den Anspruch unseres Herrn? Weisen Sie die Macht von Lord Byron Salisbury, dem Hageren Mann, zurück?« Baruk Kaah versuchte nachzudenken, und sein dicker Schwanz zuckte heftig. In dieser Realität war er allmächtig und konnte die Ravagon mühelos töten. Aber er brauchte die Macht und den Sachverstand des Hageren Mannes so sehr, wie er sich vor ihm fürchtete. Im Vergleich zu der des Hageren Mannes war seine eigene Macht nichts, und seine Sachkenntnis war die eines Neugeborenen, während der andere ein erwachsener Krieger war. Vor solch einer Macht mußte sich sogar der große Baruk Kaah beugen. Der Hohepriester der Jakatts verneigte den geschuppten Kopf. »Ich... akzeptiere den Anspruch des Hageren Mannes.« »Sehr gut«, zischte der zweite Ravagon. »Man hat uns -32-
aufgetragen, bei Ihnen zu bleiben und Ihren Wünschen zu entsprechen, bis uns der Torg zurückruft. Bis dahin steht Ihnen unsere Kraft zur Verfügung.« Baruk Kaah nickte. Wenn diese großen Dämonen seinem Befehl unterstanden, dann mußte er sich nicht länger hinter dem Deckmantel der Diplomatie verbergen. Und außerdem galt es, ein Reich zu erobern. Er stieg auf seinen getreuen Udatok und richtete sich hinter dessen Kopf ein. Er ließ seinen Blick über das Lager schweifen, das sich in alle Himmelsrichtungen ausbreitete und bis zu der Mahlstrombrücke reichte, die in dem Gebiet lag, das früher einmal unter dem Namen Flushing Meadows bekannt gewesen war. Ja, alles lief nach seinem Plan. Alles war gut. Und mit der zusätzlichen Macht der drei Ravagon konnte sein Überfall nicht fehlschlagen. Er stieß ein gewaltiges Gebrüll aus, dem seine Gefolgsleute schnell nacheiferten. Baruk Kaah, Saar von Takta Ker, Anführer der Edeinos, einer der sieben getreuen Hohenpriester, riß sein Maul weit auf und labte sich am Regen. Dann brüllte er noch mal. »Vorwärts, Edeinos! Für Lanala! Für Baruk Kaah!« Die Ravagon breiteten ihre Schwingen aus und folgten der rasenden Meute.
12 Mara betrachtete sich prüfend in ihrem Spiegel. Ihre silberne Haarmähne wirkte wild und unbändig, schwarzes Makeup rahmte ihre Augen ein, und ihr schwarzer Lederoverall schmiegte sich hauteng an ihren Körper. Vielleicht war sie ein Genie, ein typischer Teenager war sie auf jeden Fall. Sie verließ ihre Wohnparzelle und trat in ihr Labor. Nachdem sie an einer der elektronischen Stationen Platz genommen hatte, stöpselte sie sich in den funktionsbereiten Computer ein und senkte ihr modifiziertes Auge, um durch das Mikroskop blicken zu können. Die Datendiskette war eingelegt und wartete nur -33-
darauf, daß weitere Informationen abgespeichert wurden. Sie wechselte in einen anderen Datenspeicher und sah zu, wie die kodifizierte Information von der Diskette auf den Bildschirm geladen wurde. Dabei erinnerte sie sich. »Ich kann einfach nicht glauben, daß das Oberste Konzil meine Ergebnisse wegen dieser Diskettenfehler abtut, Alec«, sagte Mara, während sie wie eine Furie in ihrem Apartment herumlief. »Beruhige dich, Mara«, beschwichtigte Dr. Kendal Alec-Vier sie, »mit deinen Modifikationen könntest du etwas kaputtmachen.« »Ich will etwas kaputtmachen. Ich will ihnen die Wichtigkeit meiner Ergebnisse in den Kopf hämmern.« »Sei fair, Mara. Im Augenblick kannst du nur Berechnungen und Theorien vorweisen. Ja, ich habe deine Untersuchungen überprüft, und ich stimme deinen Ergebnissen zu, aber das Konzil wird dich erst ernst nehmen, wenn du einen stichhaltigen Beweis hast.« »Wenn sie einen Beweis brauchen, dann werde ich den eben beibringen müssen, nicht wahr?« Die kodifizierten Eintragungen flossen in einem magnetischen Datenstrom auf die silberne Platte, während Mara sie mit ihrer geschickten Hand und mit computergesteuerten Reflexen lenkte. Sie kontrollierte den Elektronenfluß, veränderte die Einstellung leicht und tauchte dann wieder in ihre Erinnerungen ein. Mara und ihr Team hatten ein Spezialteleskop gebaut. Damit konnte man die Grenzen zwischen den Kosmen überwinden und andere Wirklichkeiten betrachten. Während einer der Aufnahmen hatte Maras »Kosmoskop« eine Welt im Visier, die ihrer eigenen ähnlich war. Dabei handelte es sich um eine der Ähnlichkeiten, auf die sie mit ihren Berechnungen gestoßen war. -34-
Doch aus Maras Aufzeichnungen konnte man auch schließen, daß das Gegenstück zurückblickte. Ihre neuen Erkenntnisse brachte Mara vor das Oberste Konzil, das sie dann dem Weltkonzil vorlegte. Diesmal hörten sie auf Dr. Hachi. Umsichtig bereitete sich der Planet Kadandra darauf vor, einer neuen Realität zu begegnen. Und obwohl das Weltkonzil hoffte, daß das Treffen freundlicher Natur sein würde, insistierte es darauf, daß man auch auf jegliche Form von Feindseligkeit vorbereitet sein müsse. Diese Vorsicht rettete Kadandra. Der Krieg, der folgte, dauerte nur drei Monate. Die fremde Realität durchbrach die Grenzen und formte seltsame Brücken, über die man nach Kadandra gelangen konnte. Und dann kamen die Alpträume. Mara schauderte es, und sie hielt den Gedankenfluß auf. Mit ihrer rechten Hand fuhr sie sich durch die Silbermähne und versuchte sich zu beruhigen. Sie ließ die Muskeln ihrer linken Hand spielen und hörte, wie der Lederhandschuh sich quietschend dehnte, als sie eine Faust ballte. Sie hielt sich die Hand vors Gesicht und beobachtete, wie sich ihre Finger wieder streckten. Ganz langsam und vorsichtig zog sie den Handschuh ab. Die Hand war aus Metall. Schaltungskreise waren auf sie aufgedruckt, und Leitungen durchzogen sie. Nach einem kurzen Augenblick sprangen Krallen aus den Fingern, fünf scharfe Spitzen, die im hellen Lichtschein des Labors glitzerten. Eine der beiden Mahnungen, die Dr. Hachi Mara-Zwei an den Krieg gegen die Sims erinnerten, daran, was sie getan hatte... »Es ist fast vorbei«, berichtete Alec aufgeregt, als er ins Labor stürmte. »Wir haben die letzte Brücke zerstört. Jetzt müssen wir nur noch die letzten Sims auslöschen und...« Mara wandte sich blitzschnell von ihrem Computerbildschirm ab und drehte sich Dr. Kendall zu. »Hier mag es vorüber sein, Alec, aber es braut sich etwas viel Schlimmeres zusammen. Ich -35-
bin auf einen weiteren Kosmos gestoßen. Und die Sims haben ihn auch entdeckt.« Es zählte nicht, daß sich das Ganze in einem anderen Universum abspielte. Entfernung milderte den Schmerz nicht, den sie bei jedem weiteren Toten empfand. Denn wie auf Kadandra war die drohende Zerstörung ihre Schuld. Tränen flossen auf ihrem einen natürlichen Auge, und sie wischte sie schnell weg. Doch die Erinnerungen konnte sie nicht wegwischen.
13 Alder beobachtete, wie eine seltsame Prozession an seinem Versteck in einem Hifi-Geschäft vorbeizog. Er wollte sich auf die West Side vorkämpfen, doch als er sich hier verborgen hatte, hatte er noch keine sonderlich große Strecke zurückgelegt. Jetzt trottete eine Dinosaurierparade in Richtung Central Park. Auf dem Rücken der Riesenechsen stapelten sich Leichen, Menschen, die von den Echsenmännern geschlachtet worden waren. Hinten im Laden krachte es auf einmal. Alder zog seinen Schlagstock aus der Gürtelschlaufe und trat von der Tür zurück. In dem Geschäft war es ziemlich dunkel. Die regengraue Straßenbeleuchtung, die durch das Schaufenster hereinfiel, war die einzige Lichtquelle. Der Polizist griff mit seiner anderen Hand nach der Taschenlampe und schaltete sie ein. Ihr heller Strahl fiel auf aufgetürmte Autos, auf Regale, in denen Kabel und andere technische Zubehörteile verstaut waren. Ein Stapel Taschenrechner war umgefallen. Alder blieb unvermittelt stehen, als er in ein Paar leuchtende Augen blickte. Sie gehörten einer kleinen, grauen Katze mit einem roten -36-
Halsband. Der Blick, den sie Alder zuwarf, bedeutete: »Gib mir was zu fressen oder verzieh dich.« Der Polizist lächelte. Seine angespannten Muskeln lockerten sich. Im selben Moment warf sich etwas Großes auf ihn. Alder flog in hohem Bogen in ein Computerregal. Die Taschenlampe polterte über den Boden und warf seltsame Umrisse an die Wand. Alder sah drei Schatten, die sich gegen das Fenster abhoben. Als dann der Lichtstrahl auf sie fiel, erkannte er Menschen in zerfledderter Kleidung. Es waren zwei Männer und eine Frau, und sie schienen sich gegenseitig an Brutalität übertreffen zu wollen. Der größere der beiden Männer kam näher. »Bulle«, grunzte er. »Lustig«, kicherte die Frau. Ihre kaputten, spitzen Zähne funkelten. Alder sagte sich, daß es zwecklos war, sich mit der Gruppe zu unterhalten. Statt dessen stieß er dem größten Angreifer den Fuß in den Bauch. Dann rollte er hinter einen Stapel Uhrenradios und stand schnell wieder auf. Der kleinere Mann und die Frau näherten sich vorsichtig, während sich ihr Kamerad stöhnend auf dem Boden wälzte. Die Frau hielt ihre Hände wie Klauen. Wieder konnte man ihre Zähne sehen. Sie lachte, aber in dem Lachen war keine Spur Humor. Dafür hörte Alder primitive Leidenschaft heraus, und das erinnerte ihn an die Szene, die sich in der vorigen Nacht an der Brücke abgespielt hatte. »Was ist denn mit euch passiert?« fragte er. »Lanala«, lachte die Frau. »Baruk Kaah!« Gleichzeitig machte der kleine Mann einen Satz und stieß ein Regal um, als er die Hand nach Alders Hals ausstreckte. Es gelang ihm jedoch nicht, Alder zu schnappen. Ein dicker, schuppiger Arm packte den Mann mitten in der Luft und warf -37-
ihn an die Wand. Alder riß erstaunt den Mund auf, als sich der Echsenmann zu ihm umdrehte. In seiner anderen Hand hielt das Monster eine Taschenlampe, deren Lichtstrahl er auf Alders Gesicht richtete. Das Gebrüll der Frau erinnerte den Polizisten an die drohende Gefahr, aber sie war auf ihn gesprungen, bevor er reagieren konnte. Zusammen fielen sie zu Boden. Sie war stark, das mußte er zugeben. Es gelang ihr, Alder ihre linke Hand zu entreißen, und sie schlug mit ihren dreckigen Fingernägeln auf ihn ein und bohrte sie in seine rechte Wange. Tiefe, blutrote Furchen zogen sich über sein Gesicht. So plötzlich, wie sie ihn angegriffen hatte, war sie wieder verschwunden. Der Polizist blickte auf und sah, wie der Echsenmann mit seinem schweren Unterarm auf sie einschlug. Ohne großen Protest fiel sie in sich zusammen. Anscheinend hatte sich der erste Angreifer mittlerweile wieder ein bißchen erholt, aber zum Kämpfen schien er keine Lust mehr zu haben. Er floh auf die Straße und ließ seine Kameraden im Stich. Alder und der Echsenmann schaute sich argwöhnisch und neugierig an. Die Echse untersuchte kurz die Stablampe, drehte sie mit ihren dicken Fingern hin und her und reichte sie dann Alder. Der Polizist hätte sich gern einen Reim auf die Absichten der Kreatur gemacht, aber mit seiner herkömmlichen Erfahrung konnte er hier nichts ausrichten. Also nahm er die Lampe und bedankte sich mit einem Nicken. »Tal Tu«, sagte der Echsenmann. Dann wiederholte er die beiden Silben und klopfte sich auf die Brust. Das muß der Name des Dings sein, dachte Alder. Nein, kein Ding. Er nahm an, daß es sich hier um einen Er handelte. »Rick Alder«, stellte der Polizist sich vor, indem er sich auf die Brust klopfte, wie Tal Tu es zuvor getan hatte. »Du hast mir -38-
das Leben gerettet. Danke.« Die graue Katze rieb sich an Alders Bein. Er bückte sich, hob die Katze hoch und kraulte sie sanft hinter den Ohren. »Du bist nicht wie die anderen, nicht wahr, Tal Tu?« fragte Alder. Eine Antwort erwartete er nicht. Aber Tal Tu gab sie ihm trotzdem. Der Echsenmann streckte die Hand aus und liebkoste die Katze.
14 Der Marsch über die U-Bahn-Gleise wirkte auf Bryce wie die Erinnerung an einen Traum. Sobald sie die Gleise erreicht hatten, knipste Ratte die Taschenlampe aus. Die Dunkelheit schien endlos und still. Anfangs versuchten die beiden Jungen mit ihm zu plaudern, doch bald verfielen sie alle in tiefes Schweigen. Bryce konzentrierte sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Zur Sicherheit hatte er eine Hand auf Coyotes Schulter gelegt. Außerdem lauschte er auf Rattes schnalzenden Kaugummi. Bryce hatte den Bezug zur Zeit verloren. Nur der Schmerz in seinem rechten Bein und die Lederjacke, an der er sich festhielt, waren für ihn noch wirklich. Seine Gedanken wandten sich anderen Dingen zu. Er dachte an die Erfahrungen der letzten beiden Tage und versuchte sie zu verstehen. Konnten das die letzten Tage vor dem Weltuntergang sein? Sicherlich gab es Ähnlichkeiten zwischen dem, was er sah, und dem, was Johannes in seiner Offenbarung beschrieben hatte. Aber handelte es sich bei diesen Echsen um Dämonen? Stand der Tag des Jüngsten Gerichts bevor? Bryce versuchte, sich an bestimmte Textstellen zu erinnern, versuchte, die Worte stumm aneinanderzureihen. Sein -39-
Gedächtnis ließ ihn jedoch im Stich. Er wollte beten, aber nicht einmal das Gebet beruhigte ihn. Coyote blieb abrupt stehen. Bryce stieß gegen ihn. Er wußte nicht, was er vorhatte. Plötzlich war der Junge verschwunden. »Coyote!« rief Bryce, der plötzlich Angst hatte, im Dunkeln allein zu sein. »Immer mit der Ruhe, Pater«, flüsterte Ratte und suchte Bryces Hand. »Wir haben Lexington Avenue erreicht, und Coyote überprüft nur mal schnell die U-Bahn-Station, bevor wir weitergehen.« Lexington Avenue. Die erste Haltestelle auf Manhattan, wenn man mit den Linien E und F fuhr, dachte Bryce. Er spürte das vertraute Gewicht seines schwarzen Koffers. Die Minuten verstrichen. Schließlich fragte Bryce: »Warum bist du hier unten, Ratte?« »Aus demselben Grund wie Sie, Mann«, flüsterte er mit leiser Stimme. »Aber was ist mit deinen Eltern?« »Hab’ keine. Ich meine, wir haben keine mehr. Wir sind Waisen, Mann. Wir haben nur uns, aber wir passen ganz gut auf uns auf.« »Das tun wir unter Garantie«, drang Coyotes Stimme durch die Dunkelheit. »Wonach hast du gesucht, Coyote?« »Nach Banden, Echsen, Pennern... hier unten fleucht alles mögliche Gesocks rum.« »Ja«, sagte Ratte, »wenn man schläft, machen sie einen manchmal fertig.« Bryce war sich nicht sicher, aber es kam ihm vor, als ob Ratte lächelte. Dann gingen sie weiter. -40-
15 Sergeant Dykstras Funkgerät funktionierte nicht. Es gelang ihm auch nicht, den Jeep zu starten. Sein Kompaß funktionierte nicht. Eigentlich schien überhaupt nichts zu funktionieren. »Verdammt noch mal«, schimpfte er. »Was machen wir jetzt?« Corporal Wilson drückte die Motorhaube des Jeeps zu und zuckte mit den Schultern. »Keinen Schimmer. Sie haben die Verantwortung für diese Operation.« Ja, dachte er, was für ein Privileg. Sie waren gerade auf einem Übungsmanöver gewesen, als der Funkruf sie erreichte. Man hatte ihnen einen Jeep und ein Funkgerät zugeteilt und ihnen aufgetragen, vorauszufahren und die Gegend auszukundschaften. Bis die Armee startbereit war, mußte die Nationalgarde herhalten und die Situation in den Griff kriegen. »Man könnte doch meinen, daß die ein paar Einheiten auftreiben, die in der Nähe von New York sind«, murmelte Wilson und machte sich wieder am Funkgerät zu schaffen. »Das haben sie ja versucht. Aber sie konnten in einem Umkreis von dreihundert Meilen niemanden erreichen. Kein Funk, kein Telefon, rein gar nichts.« »Genau wie bei uns.« »Ja. Genau wie bei uns.« Sie waren ganz gut vorangekommen. Sie wollten Elmira erreichen, bevor es allzu dunkel wurde. Aber etwa fünfundzwanzig Meilen vor dem Ort fiel alles aus. Sie hingen lest und konnten nicht einmal ihre Einheit benachrichtigen. »Also, was machen wir jetzt, Sarge?« »Wir warten. Was könnten wir sonst tun?« -41-
16 Kürst war kontrolliertes Chaos in stofflicher Form. Nicht, daß er so wirkte, aber in seinen Augen loderte eine Spur Wildheit, und sein Schweiß erinnerte an den Geruch von dichten Wäldern. Wenn man ihn lang genug betrachtete, konnte man seine primitive Natur erkennen. Ein kompakter, kraftvoller Körper war die Hülle für seine Wildheit. Er war knapp einsachtzig groß, ziemlich muskulös, aber nicht dick. Er bewegte sich mit fließenden, grazilen Bewegungen, fast wie ein Wolf. Bei jedem Schritt hatte man den Eindruck, daß sich seine angespannten Muskeln bald lockern würden und daß er durch die Nacht jagen würde. Aber er ließ sich nicht hinreißen, sondern hatte jede einzelne Bewegung unter Kontrolle. Sein dichtes, braunes Haar endete auf Kinnhöhe. Ein warmer Wind blies es zurück, so daß die spitz zulaufenden Ohren sichtbar wurden. Seine leicht schräg stehenden Augen funkelten im trüben Zwielicht. Er blieb kurz stehen. Der Regenguß machte ihm nichts aus. Er bückte sich, hob eine Handvoll Erde auf und schnüffelte daran. Ein Schritt. Wieder eine Handvoll Erde. Dann rannte er los und lief leise durch die hereinbrechende Dunkelheit. Die Spur führte zu einer kleinen Höhle. Der Höhleneingang lag hinter einem Busch versteckt. Aber Kürst wußte, daß es die Höhle gab. Er konnte den Schatten ausmachen, der ein wenig dunkler war als die anderen. Er bemerkte, daß der Wind ein bißchen anders klang, als er an der Öffnung vorbeistrich. Und er konnte die Angst seines Opfers riechen. Dieser Geruch trieb ihn an. Er zwängte sich durch das Gebüsch und blieb in der Höhlenöffnung stehen. Der Stürmer in der Höhle zog sich -42-
zurück, damit die dunkle Gestalt, der Jäger, ihn nicht sah. Diese Welt unterscheidet sich von den unzähligen anderen überhaupt nicht, dachte der Jäger. Selbst jene, die die Macht hatten, sich ihm oder seinem Herrn zu widersetzen, hatten solche Angst, daß sie nicht um ihr jämmerliches Leben kämpften. Vielleicht war das der Grund, weshalb es dem Hageren Mann bestimmt war, seine großartige Vision umzusetzen. War es nicht auf jeder Realitätsebene so, daß die Stärkeren das, was sie brauchen, den Schwächeren abnahmen? Tötet der Wolf nicht das Wild, um satt zu werden? Warum sollte der Hagere Mann nicht das, was er braucht, diesen mitleiderregenden Wesen abnehmen? So war es nun einmal – egal, auf welcher Welt man sich befand. Der Jäger betrat die kleine Höhle. Das Spiel war vorbei. Er mußte nur noch eines erledigen. Dann konnte er in den Bergfried zurückkehren. »Komm mit mir, Stürmer«, sagte Kürst. Er bediente sich der Sprache dieser Welt. Der Hagere Mann hatte sie ihm beigebracht. »Du hast keine Sekunde lang eine Chance gegen mich gehabt. Du bist das Wild, ich bin der Wolf, und der Ausgang unserer Jagd war von Anfang an klar.« Vielleicht war der Jäger unachtsam geworden. Vielleicht blockierte seine Selbstsicherheit die Signale seiner Sinne. Was immer auch der Grund war, der Jäger reagierte langsamer als gewöhnlich, doch gerade noch rechtzeitig, als der Stürmer ein langes Messer herauszog. Die scharfe Klinge war durch Kürsts Tunika gedrungen und hinterließ eine blutende Schramme auf seiner Brust. Er konnte sein eigenes Blut riechen, konnte seine Hitze spüren, als es aus der Schramme quoll. Sie war nicht tief, und er hatte schon viel stärkere Schmerzen ertragen, aber es war schon lange her, daß ein Opfer sein Blut vergossen hatte. Noch ungewöhnlicher war es, daß das Opfer ihm zuvorgekommen war. -43-
»So«, knurrte der Jäger. Er trat einen Schritt zurück. »Der Stürmer hat also Krallen.« Trotz der Dunkelheit in der Höhle konnte der Jäger das Weiß in den Augen des Stürmers sehen. Und er konnte auch die intensiven Gefühle riechen, die von dem Mann ausgingen. Eine Mischung aus Angst, Aufregung und Wut. Auf einmal war die Jagd wieder interessant. »Ich habe auch Krallen, Stürmer«, erklärte Kürst mit tiefer, drohender Stimme. Dann trat er vor.
17 In der Penn-Station drängten sich die Menschen, als Bryce mit den Jungen von den U-Bahn-Gleisen nach oben stieg. Überall waren Fackeln, und die Menschen scharten sich um die Flammen, die aus Mülltonnen loderten. In den letzten Jahren waren immer mehr Obdachlose darauf gekommen, in der Station zu schlafen. Hier trieben sich jetzt jedoch so viele Menschen herum wie zu den Stoßzeiten, doch niemand hatte es eilig, noch einen Zug zu kriegen oder zur Arbeit zu kommen. Diese Menschen wärmten sich an den Feuerstellen auf oder schliefen auf dem gekachelten Boden. Manche schritten nervös auf und ab. »Coyote, wer sind all diese Leute?« fragte Ratte. »Waisen«, flüsterte Coyote. »Hasen, die sich im Bau verstecken, bis die Echsen abhauen.« Bryce und die beiden Jungen streiften eine Weile umher. Der Priester blickte in verängstigte und verwirrte Gesichter. Aber er hatte keinen Trost, den er diesen Leuten spenden konnte. Ihm fiel nichts ein, was er sagen konnte. Die Obdachlosen konnte der Priester problemlos erkennen. -44-
Sie kamen hierher, um den Straßen und dem Wetter zu entfliehen. Aber jetzt teilten sie ihr Quartier mit Geschäftsleuten in durchweichten Anzügen, mit jungen Müttern und ihren kreischenden Kindern, mit alten Frauen und ihren Haustieren. Sie teilten ihre Bänke mit Lehrern und machten in ihren Ecken Platz für Büroangestellte. Wegen der Dinosaurier war plötzlich jeder dem anderen etwas ähnlicher geworden. Bryce fragte sich, warum es solcher Katastrophen bedurfte, damit die Menschen sich näherkamen. Er bemerkte eine junge Frau, die ihr kleines Mädchen trug und ziellos umherwanderte. Der Priester beobachtete, wie sie einmal, zweimal stolperte. Beim dritten Mal war er bei ihr und fing sie auf, bevor sie mit dem Mädchen fallen konnte. Er drängte die junge Frau, sich an die Wand zu lehnen. »Sind Sie in Ordnung, Fräulein?« fragte Bryce. Coyote und Ratte standen hinter ihm und wußten nicht, ob sie bleiben oder gehen sollten. »Ich muß mich nur ein bißchen ausruhen«, antwortete die Frau. Dann fiel ihr Blick auf Bryces Kragen. »Ich danke Ihnen, Pater.« »Ist doch gern geschehen.« Das kleine Mädchen streckte die Hand aus und berührte die Nase des Priesters. »Bist du ein Priester?« fragte sie leise. »Ja, das bin ich.« »Ich gehe nicht in die Kirche.« »Liebling!« protestierte die junge Frau, doch Bryce winkte nur ab. »Das ist schon in Ordnung. Laß mich dir ein kleines Geheimnis anvertrauen.« Bryce beugte sich weiter hinunter, als wollte er ihr etwas wirklich Wichtiges sagen. Auch sie lehnte sich vor und drückte ihren kleinen Kopf gegen seine Stirn. »Ich gehe nur, wenn sie mich dazu zwingen.« -45-
Das kleine Mädchen kicherte, und ihre Mutter lächelte, als sie das hörte. »Wissen Sie, was passiert, Pater? Wissen Sie, wann die Züge wieder fahren werden?« Bryce schüttelte den Kopf. Er hatte für die junge Frau keine Antwort, keine Worte der Hoffnung. Ratte zog eine Packung Kaugummi aus einer seiner vielen Taschen und bot dem kleinen Mädchen einen an. Mit gierigen Augen betrachtete sie das Päckchen, dann wanderte ihr skeptischer Blick zu Ratte hoch. »Ohne Zucker?« fragte sie. »Vier von fünf Ärzten empfehlen sie«, antwortete er. Flink riß das Mädchen ihm die Kaugummis aus der Hand. Coyote tippte Bryce auf die Schulter. Er zeigte auf einen zerlumpten Mann auf einer Bank, der unkontrolliert zitterte und schließlich aufstand. Ein wilder Blick lag in seinen Augen. Während er auf Bryce zukam, griff er nach oben und versteckte seine Faust in einem dichten, ungepflegten Bart. Er begann, an dem Bart zu ziehen, schien die Schmerzen zu genießen und zog immer fester. »Überall sind Leichen!« rief er aus. Sein Blick fixierte Bryce. »Ich sitze im Reich der Toten fest!« Coyote stellte sich vor den Zerlumpten. »Aber ich habe Lanalas Stimme gehört«, plapperte der zerlumpte Mann weiter. Er blieb ein paar Schritte vor Coyote und Bryce stehen. »Ich höre das Lied, das die Jakatts singen! Sie singen von Baruk Kaah! Sie singen vom Leben!« »Was wollen Sie?« fragte Bryce und versuchte, Coyote beiseite zu schieben. Aber der Junge rührte sich nicht von der Stelle. »Ich will alles«, sagte der zerlumpte Mann. Seine Stimme wurde immer wilder, und er zog immer noch an seinem Bart. -46-
Bryce fiel auf, daß Blut von seiner Faust hinuntertropfte. »Ich will alles!« Dann beugte sich der Mann langsam vor. Seine Gliedmaßen schienen sich umzuformen, während Coyote und Bryce ihn im Auge behielten. Seine Arme wurden länger und die Beine kürzer. Auch sein Gesicht veränderte sich. Die Kinnpartie trat hervor, und unter den Brauen wurde die Stirn wulstiger. »Alles«, wiederholte er und preßte das Wort durch seine schiefen Zähne. »Rennen Sie«, warnte Coyote, ohne den Blick von dem Zerlumpten abzuwenden. »Aber...«, Bryce wollte wiedersprechen, aber Ratte packte ihn am Arm. »Wenn Coyote sagt, daß Sie rennen sollen, dann rennen Sie«, erklärte Ratte und drückte dem Priester das kleine Mädchen in den Arm. Bryce schaute die junge Frau an. Sie hob seinen schwarzen Koffer auf, und dann rannten sie los. Schon nach kurzer Zeit blieb Bryce jedoch wieder stehen. Die junge Frau warf ihm einen verwunderten Blick zu. Bryce setzte das kleine Mädchen in eine leere Ecke. Er wandte sich der Frau zu und wollte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter legen. Doch irgendwie gelang ihm nicht einmal diese einfache Geste. »Hier werden Sie sicher sein«, versicherte er ihr und ließ die Arme fallen. »Wo gehen Sie hin, Vater?« »Achten Sie auf meinen Koffer«, sagte er nur. »Und geben Sie auf Ihr kleines Mädchen acht.« Dann lief er den Weg zurück. Zurück zu Coyote und Ratte. Als Bryce die anderen erreichte, traf er auf eine Menschenmenge. Viele Leute schrien, und ihr Verhalten machte ihm angst. Er brauchte Kraft, sich durch die Menge zu drängen. Als er in der Mitte ankam, sah er gerade noch, wie sich der -47-
Zerlumpte auf Coyote stürzte. Der Jugendliche schlug gewalttätig mit den Füßen aus, aber jeder Tritt schien den Zerlumpten nur zu amüsieren, denn jedesmal lachte er lauthals heraus. Dann schoß die große, haarige Hand des zerlumpten Mannes mit unerwarteter Schnelligkeit hervor. Dicke, knotige Finger umklammerten Coyotes Arm, und er hob den Jugendlichen hoch. »Ich bringe ein Geschenk«, sagte der zerlumpte Mann, dem das Sprechen offenbar schwerfiel. Er verstärkte die Umklammerung, und Coyote schrie auf. »Ich gebe dir Gefühle.« Wieder drückte er zu, und einige der Umstehenden stimmten in das Schreien des Jugendlichen ein. Ratte sprang plötzlich auf den Zerlumpten und schlug mit seinen kleinen Fäusten auf dessen Rücken ein. Aber der Mann spannte einfach seine Muskeln an, und Ratte landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden. Bevor er aufstehen konnte, hatte der Zerlumpte ihn schon gepackt. Bryce dachte verzweifelt darüber nach, was er tun konnte. Plötzlich sah er, daß der Mann neben ihm sich auf ein langes Metallrohr stützte und damit im Takt zu den Bewegungen des Zerlumpten auf den Boden klopfte. Ohne zu zögern, entriß der Priester dem überraschten Mann das Rohr. »Vielleicht werde ich euch Lanala zum Geschenk machen, als Zeichen meiner Liebe für die Göttin«, sagte der Zerlumpte gerade und packte die beiden Jungen fester. »Vielleicht auch nicht«, brüllte Bryce, als er ihm das Rohr in das brutale Gesicht haute. Der zerlumpte Mann krachte auf den Boden. Im Fall ließ er die beiden Jugendlichen los. Bryce warf voller Entsetzen über sich selbst das Rohr weg, schnappte die beiden Jungs und brüllte: »Los, wir rennen!« Die Frau und das kleine Mädchen waren verschwunden, als Bryce mit den Jungen an die Stelle kam. Der schwarze Koffer stand allein in der leeren Ecke. Er hob ihn auf und drückte ihn -48-
an sich. »Sie ist abgehauen«, sagte Coyote. »Wir sollten auch Leine ziehen.« Bryce nickte und folgte Coyote und Ratte zum Ausgang.
18 Alder hatte sich einen kleinen Proviantsack über die Schulter gehängt. Neugierig streckte die graue Katze ihren Kopf aus der offenen Klappe heraus. Alder schaute sich immer wieder um. Der Echsenmann schlurfte in gleichbleibendem Tempo hinter ihm her. Tal Tu war über einsfünfundachtzig groß und wesentlich breiter als Alder. Sein Kopf erinnerte an den eines Vogels, weil seine Schnauze in einem scharfen Schnabel auslief. Der Körper war reptilienartig, und er hatte einen langen Schwanz. Er trug einen Sack, der mit Sachen aus dem Laden vollgestopft war. Was der Echsenmann mit Leitungen, Taschenrechnern und Batterien vorhatte, konnte Alder sich nicht vorstellen. Alder dachte jedoch nicht weiter über Tal Tu nach, sondern wandte sich einem Lieferwagen zu, auf den sie gestoßen waren. Er legte die Hand auf den Türgriff und stellte fest, daß das Fahrzeug nicht abgeschlossen war. Na, in New York war es nicht gerade klug, ein Auto offen und unbeaufsichtigt stehen zu lassen. Alder glitt auf den Fahrersitz. Zu seiner Überraschung steckte der Zündschlüssel noch, und die Automatik war auf »Fahren« eingestellt. Warum bloß stand der Wagen mitten auf der Straße? Jemand klopfte an das Fenster, und Alder machte einen Satz, als er sah, daß ein Echsenmann sein Gesicht an das Glas drückte. Dann hielt der den Proviantsack, aus dem der Kopf einer Katze schaute, hoch, und Alder erkannte, daß es Tal Tu -49-
war. »Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt«, brüllte Alder, und Tal Tu wich zurück. Er neigte seinen vogelartigen Kopf, damit er Alder anschauen konnte. »Schau mich nicht so unschuldig an. Du solltest dich nicht so anschleichen.« Auf einmal bebte der Boden. Alder wurde in den Lieferwagen geschleudert. Tal Tu neigte sich auf seinem Schwanz nach hinten. »Was zum...« »Udatok, Rick Alder, Udatok«, rasselte Tal Tu und zeigte die Straße hinunter. Alder erkannte, daß sich wieder einer dieser einhornigen Dinosaurier näherte. Echsenmänner begleiteten das Untier. Und auch Menschen, die sich vollkommen verändert hatten. Und fliegende Seesterne. Die Invasoren kamen. Zu Fuß konnte Alder ihnen nicht mehr entwischen. Hastig riß er Tal Tu den Proviantsack weg und legte ihn nach hinten. Dann führte er Tal Tu zur Schiebetür. Der Laderaum war leer. »Steig ein«, befahl er und half Tal Tu, sich in den Wagen zu quetschen. Das war sicher nicht gerade bequem, aber Alder hatte den Eindruck, daß die anderen den Echsenmann töten würden, wenn er ihn zurückließ. Dann kletterte der Polizist wieder auf den Fahrersitz, legte den Schalthebel auf Parken und griff nach dem Schlüssel. Es gab keinen Grund, warum der Wagen nicht funktionieren sollte, sagte er sich. Der Tank war voll, und er hatte den Schlüssel. Man mußte ihn nur starten. Alder warf einen Blick in den Rückspiegel und sah, daß die Horde jeden Augenblick bei ihnen sein würde. Er drehte den Zündschlüssel, um den Wagen zu starten. Der Motor stotterte und ging wieder aus. -50-
Er trat aufs Gaspedal und drehte den Schlüssel noch einmal. »Komm schon, spring an.« Diesmal sprang der Wagen an. Alder sprach ein stummes Dankgebet und raste davon. Weg von dem Schrecken, der ihn verfolgte.
19 Sergeant Dykstra starrte durch die Windschutzscheibe des Jeeps. Er hoffte, auf der Route 17 ein Zeichen von Zivilisation zu entdecken, aber er sah nur eine Regenwand. Kurz nach der Abenddämmerung hatte der Regen eingesetzt. Wilson und er hatten hektisch die Dachplane aufgezogen. Jetzt wurde der graue Himmel zunehmend heller, doch es regnete immer noch. Riesige Wellen von Regenwasser platschten über den Autobahnasphalt, so weit er sehen konnte. Wilson schlief. Er schnarchte, aber Dykstra beschwerte sich nicht, denn er war sicher genauso laut, wenn er schlief. Vielleicht sogar noch lauter. Abwesend rieb er mit Daumen und Zeigefinger über das kalte Metall des Zündschlüssels, während er mit unbeweglichen Augen den Regen beobachtete. Er drehte den Zündschlüssel um und hoffte, daß der Motor ansprang. Oder hustete. Oder stotterte. Doch er hörte nur Wilsons Geschnarche und den hämmernden Regen. Seufzend lehnte Dykstra sich auf dem Sitz zurück, schloß die Augen und ließ sich von dem gleichförmigen Regen in den Schlaf lullen. Die Zeit verstrich, und die Geräusche veränderten sich. Dykstra riß die Augen auf. Der Regen hatte aufgehört, aber der Tag war immer noch dunkel und grau. Wilson schlief und schnarchte immer noch. Aber in den Wolken ging etwas vor sich. Dykstra -51-
beobachtete, wie sie schnell vorbeizogen. Dann teilten sie sich und irgend etwas fiel vom Himmel. Irgendeine Pflanze. Sie wuchs aus den Wolken, ihre Äste und Ranken flochten und drehten sich ineinander und schlängelten sich zum Boden herunter. Schließlich bohrte sie sich auf der Suche nach weichem Erdreich durch den Asphalt. Der Sergeant wußte nicht, daß diese Pflanzenbrücke wesentlich kleiner war als die in Queens. Er ahnte nicht einmal, daß genau solche Brücken im Umkreis von dreihundert Meilen vom Himmel heruntergefallen waren und daß Unmengen von Echsenmännern und Dinosauriern diese Brücken herunterstiegen und sich ausbreiteten, um die Kontrolle zu übernehmen. Man hatte Dykstra und Wilson vorgeschickt. Sie sollten herausfinden, womit es ihre Einheiten in der stummen Zone aufnehmen mußten. Jetzt wußte Dykstra Bescheid, doch er saß in der stummen Zone fest und konnte seine Einheit nicht informieren. Die Dinosaurier strömten die Pflanzenbrücke herab, eine unendliche Streitmacht gepanzerter Echsen und Reptilien mit Schwingen. Einem der größeren Kreaturen fiel der winzige Jeep auf. Das Monster war groß und stand auf den Hinterbeinen. Es wedelte mit einem gezackten Schwanz und riß seine riesigen Kiefer auf. Dann setzte es sich in Bewegung. Mit riesigen, kraftvollen Schritten überwand es die Distanz zwischen der Brücke und dem Jeep. »Wilson«, sagte der Sergeant, »wach auf, Wilson!« »Was? Was um... mein Gott!« Dann fing Wilson an zu schreien, und Dykstra bereute, daß er ihn geweckt hatte. Das große Biest riß das Dach auf. Dykstra zielte mit seiner Pistole auf das aufgerissene Maul. Aber die Pistole funktionierte nicht, wie auch der Jeep und das Funkgerät nicht funktionierten. Eine Welle der Enttäuschung überschwemmte den Sergeant. Nicht, daß er erwartet hatte, das Untier mit der Pistole aufhalten -52-
zu können, aber er wollte die Befriedigung haben, auf das Untier geschossen zu haben, bevor es ihn tötete. Dann war der Kiefer über ihm und riß ihn aus dem Jeep. Sein Geschrei vermischte sich mit dem von Wilson, aber das Gebrüll verstummte schon bald. Die Kompanien Bravo und Charlie trafen sich an der Stelle, wo die Schnellstraße 415 auf die Autobahn 17 stieß. Von ihren Spähtrupps hatten sie nichts gehört, also marschierten sie vorsichtig weiter. Und sie kamen voran. Schließlich konnten sie den Feind am Horizont ausmachen. Da waren Riesenechsen und Reptilien aller Art. Die Kreaturen bewegten sich. Aufgeregt liefen sie vor und zurück, blieben stehen und trampelten auf der Stelle. Aber hören konnte man sie nicht. Die Männer von der Nationalgarde kontrollierten ihre Waffen und setzten sich in Bewegung. Dann brach der Sturm los. Hinter den Dinosauriern begann es zu regnen. Das dunkle Wasser durchweichte die Soldaten bis auf die Knochen. Auf den Regen folgte eine Welle glühender Energie. Sie rollte über die Soldaten und schmetterte sie zu Boden. Wenige Augenblicke später fingen einige der Soldaten an, sich zu verändern. Sie wurden brutal und bestialisch und ähnelten kaum noch Menschen. Sie zerrten an ihren Uniformen herum und stießen wilde, leidenschaftliche Laute aus. Die Echsenmänner brüllten ihnen eine Antwort zu. Dann glitten die Echsen vor und griffen an. Die Soldaten drückten ihre Waffen ab und warfen Granaten, aber die modernen Waffen reagierten nicht. Einige der Männer benutzten die nutzlosen Waffen als Keulen. Manche feuerten einfach weiter. Andere machten auf dem Absatz kehrt und flohen. Keiner von ihnen entkam den Echsenmännern. -53-
20 Die Welt Kadandra erstaunte Thratchen immer noch. Er lief unter ihren Neonschildern hindurch, nur ein weiteres Gesicht in der Menge. Solange er seinen Hut tief ins Gesicht zog und seinen Regenmantel zugeknöpft hielt, nahmen sie keine Notiz von ihm. Ihn und seinesgleichen nannten sie Sims, Wesen, die den Menschen auf Kadandra ähnlich waren. Wesen, die in einer ähnlichen Realität operierten. Aber die Sims stammten aus einer anderen Dimension. Und sie wollten diese Welt und ihre Energie für sich haben. Thratchen tauchte in die dunkle Schatten einer kleinen Gasse. Er rollte den rechten Ärmel seines Mantels bis zum Ellbogen hoch. Ein Metallarm kam zum Vorschein. An seinem rechten Handgelenk ließ er eine kleine, dünne Metallklappe aufklappen. Darunter verbargen sich ein kleiner Bildschirm und eine InputStation. Er schob seine linke, pinkfarbene Steckvorrichtung in die Station. Der Bildschirm leuchtete auf und zeigte seltsame Markierungen. Die Zeit verging schneller, als er gedacht hatte. Er war einer der letzten Sims auf Kadandra und hatte noch viel zu erledigen. Diese Leute hatten eine kämpferische Natur, das mußte er ihnen zugestehen. Sie waren für Thratchens Meister bereit. Als die Mahlstrombrücken durch die Dimensionen krachten, stießen sie auf Krieger, die entschlossen waren, die Feinde zurückzuschlagen. Das waren keine Schafe, die sich bereitwillig erobern ließen. Der Hagere Mann würde über das Versagen des Meisters nicht erfreut sein, wenn der zu dem Treffen mit den Hohen Herrn in der Welt Erde zu spät kam. Aber Thratchen sagte sich, daß er zumindest einen kleinen Sieg für seinen Meister einheimsen konnte. Er würde den Satansbraten finden, der vor dem Überfall gewarnt hatte. Er -54-
würde sie finden und Rache üben. Er warf noch mal einen Blick auf den Bildschirm und las den Namen, der dort auftauchte. »Dr. Hachi Mara-Zwei.« Er würde sie langsam sterben lassen, das gelobte er seinem Meister in der Ferne.
21 Coyote führte sie zum Eingang des Lincoln-Tunnels. Überall standen verlassene Fahrzeuge herum, aber da der Sturm am späten Nachmittag eingesetzt hatte, waren es nicht besonders viele Autos. Obwohl nirgends Menschen zu sehen waren, hatte Bryce das Gefühl, als ob er beobachtet würde. Er schob den Gedanken beiseite und musterte den Tunneleingang. Die dunkle, lichtlose Öffnung wirkte wenig einladend und verstärkte sein Unbehagen nur noch. »Ist irgendwie, wie wenn man ins Maul des Löwen läuft«, erklärte Ratte. Coyote wandte sich an den Priester. »Sie haben mir gerade eben das Leben gerettet. Und Sie haben auch Ratte gerettet. Ich bin Ihnen was schuldig, Pater.« Bryce schüttelte den Kopf. »Nein, Coyote, du bist mir nichts schuldig. Du hast genug für mich getan. Wenn ihr nicht mitkommen wollt, dann werde ich euch nicht überreden.« Ein lauter Seufzer verriet seine Qualen. »Was ist denn, Pater?« fragte Ratte mitfühlend. »Bis jetzt habe ich noch nie einen Mann geschlagen«, sagte Bryce mit bebender Stimme, »besonders nicht absichtlich und mit solcher Gewalt. Mein Gott, ich hätte ihn töten können!« Mit den Händen bedeckte er sein Gesicht und schluchzte. -55-
»Aber, Pater Bryce, Sie haben mir und Coyote das Leben gerettet. Wenn Sie diesen durchgeknallten Typen nicht geschlagen hätten, dann wären wir beide jetzt mausetot.« »Das entschuldigt mein Handeln nicht, Ratte. Das beweist nur, daß es notwendig war.« »Pater Bryce, wir haben Gesellschaft«, flüsterte Coyote. Der Priester blickte auf und schaute in die Richtung, die der Jugendliche mit dem Kopf anzeigte. Dort saß ein Reptil mit Schwingen und beobachtete sie mißtrauisch. Bryce stand vorsichtig auf, und das Reptil breitete seine gefiederten Flügel aus. Es kreischte einmal, zweimal. Sein Ruf wurde von einer Kakophonie ähnlicher Schreie und dem Schlagen vieler Flügelpaare beantwortet. Weitere Reptilien tauchten am Himmel auf und setzten zu einem Sturzflug an. »Los, Jungs«, drängte Bryce, »wir müssen von hier verschwinden.« »Was sind das für Viecher, Pater?« fragte Ratte. Coyote konnte Angst aus seiner Stimme heraushören. »Das ist egal. Wir müssen den Tunnel erreichen. Dort werden wir in Sicherheit sein.« »Werden wir das, Pater Bryce?« fragte Coyote, als weitere Reptilienvögel in ihrer Nähe landeten. »Wirklich?« Bryce hatte für den Jungen keine Antwort. Er hatte nur ein Ziel. »Rennt in den Tunnel. Jetzt.«
22 Sie war jetzt ruhig und friedlich. Die Schmerzen waren vorbei. Sie hatte sie zusammen mit ihrer Furcht hinter sich gelassen, an einem Ort, der nicht mehr war als eine Erinnerung, die verblaßte. -56-
Sie versuchte sich darauf zu konzentrieren, wo sie jetzt war, aber ihr kam nichts bekannt vor. Sie schwebte, allein, in einer konturlosen Sphäre. Aber die Sphäre war warm und ruhig. Die Gefahr war vorbei, das wußte sie, aber sie konnte sich nicht erinnern, was das für eine Gefahr war. Da war ein Klang, irgendeine Musik. Majestätisch, dachte sie, die Musik war majestätisch. Und schön, so wunderschön. Sie hatte das Gefühl, daß sie für alle Ewigkeit so schweben könnte. Es war so ganz anders als der Ort, der in ihrer Erinnerung verschwamm. Aber dann setzte ein anderes Geräusch ein, ein grausames Summen, das die Musik niederschrie. Sie versuchte vergeblich, das Summen zu ignorieren. Plötzlich verwandelte es sich in den schlimmsten Schmerz, den sie je erfahren hatte. Es war schlimmer als das, was sie zurückgelassen hatte. Dann war da auf einmal ein dunkler Bereich in ihrer Nähe. Er kam immer näher, berührte sie und tauchte sie in eine Kälte, die die Wärme vertrieb. Die Dunkelheit roch nach Aas, und sie bemühte sich, sie abzuschütteln. Schwaden der Dunkelheit strichen unendlich langsam über ihre Augen und blendeten sie. Wolken von diesem Zeug drangen in ihre Nase und in ihren Mund. Sie erstickte beinah. Die Wolken dieser fauligen Süße schnürten ihr den Hals zu. Der dunkle Bereich trieb vor ihr her, umgab sie, behinderte sie und verlangsamte ihre ziellose Reise. Eine sanfte Brise wehte zu ihr herüber. Sie sah Bilder von feuchter, tiefer Erde, die durchsetzt war von Vegetation, die sich zersetzte. Der dunkle Bereich verwandelte sich in einen Tunnel, und sie spürte, wie sie hineingezogen wurde. Sie schrie, aber ihr Schrei verlor sich in dem Widerhall der anderen Geräusche. Sie waren die Vibrationen der Erinnerung, Echos von einem Leben, das gewesen war und nun nicht mehr war. Dann stürzte sie hinab. Sie fiel schneller und immer schneller und rauschte durch den -57-
dunklen Tunnel auf ein unbekanntes Ziel zu. Während sie durch die Dunkelheit raste, spürte sie, wie die Spinnennetze, die sie festhielten, zerrissen. Für Sekundenbruchteile sausten dunkle Gestalten an ihr vorbei, die sie zu erkennen glaubte. Aber sie schienen erbost und rachsüchtig zu sein und streckten die Hände nach ihr aus, als sie vorbeiflog. Dennoch fiel sie weiter. Sie bewegte sich mit einer Geschwindigkeit, die sie nie zuvor erlebt hatte. Es war gleichzeitig aufregend und beängstigend. Schließlich sah sie ein Licht. Es war trübe, wurde aber bald unglaublich hell, gleißend hell, bezwingend. Das Licht war die Quelle der Wärme und des Friedens, und während sie sich ihm näherte, ließ die Kälte des dunklen Bereichs nach und verschwand ganz. Dann endete ihr Fall. Vor ihr war das Licht. Hinter dem Licht lauerte der dunkle Bereich und trieb auf seine tiefe Quelle zu. Das Licht funkelte, und sie stellte sich ein sanftes Lächeln vor. Aber der dunkle Bereich schickte seine spinnenartigen Schwaden nach ihr aus, und sie fiel wieder. Der Sog war zu stark. »Nein«, sagte sie, und der Sog wurde schwächer. »Noch nicht«, sagte sie. Und das Licht wurde strahlender. Sie wußte sicher, daß es so war. Der Sog hatte nachgelassen.
23 Alder lenkte den Lieferwagen schnell, aber vorsichtig durch die teilweise blockierten Straßen. Beide Insassen waren die Fahrt über still. Alder hatte schon vor einiger Zeit aufgehört, sich um eine Unterhaltung mit dem Echsenmann zu bemühen. Statt dessen konzentrierte er seine ganze Aufmerksamkeit auf die Straße. Nicht nur, daß er auf Fahrzeuge achten mußte, nein, er mußte auch transformierten Fußgängern und hin und wieder -58-
einem Dinosaurier ausweichen, der auf die Straße rannte – oder sich dort riesenhoch auftürmte. Aber Alder hatte jetzt wenigstens ein Ziel und wußte, wie er das Ziel erreichen konnte. »Nur guten Mutes, Tal Tu«, sagte er. »Ich glaube, New Jersey wird dir gefallen. Wahrscheinlich ist es dem Ort, von dem du kommst, sehr ähnlich.« Schließlich erreichten sie die Abzweigung. Alder ging vom Gas herunter. Die Zufahrt war gefährlich. »Deliksss, Rick Alder«, rasselte Tal Tu, als sie die lange Kurve hinter sich gebracht hatten. Alder trat auf die Bremse und brachte den Lieferwagen zum Stehen. Reptilien mit Schwingen sammelten sich vor den Tunnelzufahrten. Jede dieser Kreaturen war in etwa ein Meter dreißig groß, hatte einen schlangenähnlichen Körper und riesige Flügel. Ihre langen, dürren Beine liefen in spitze Krallen aus, und zwei Giftzähne ragten aus den Mäulern ihrer kleinen Schlangenköpfe. Alder drehte sich um und warf Tal Tu, der sich im Lieferwagen zusammengerollt hatte, einen Blick zu. Die graue Katze lag auf dem Schoß des Echsenmannes. »Deliks?« fragte er. »Deliksss«, antwortete Tal Tu. »Ist’s nicht das eine, dann ist’s was anderes.« Alder trat wieder aufs Gaspedal, und der Lieferwagen schoß vorwärts. Die Deliks, die nicht aufflogen, wurden von den Rädern des Lieferwagens zermalmt. Alder spürte, wie ihm jedesmal, wenn ein Delik vom Gewicht des Lieferwagens zerquetscht wurde, die Galle hochkam. Wenigstens hatten sie die richtige Richtung eingeschlagen. Irgend etwas schlug gegen die rechte Seite des Lieferwagens. Gleich darauf noch einmal. Ein paar Deliks griffen den Lieferwagen an und schlugen mit ihren Krallenfüßen dagegen. -59-
Alder ignorierte sie und trat aufs Gas. Einige der Echsen knallten laut gegen die Windschutzscheibe. Mit ihren Krallen und Zähnen versuchten sie das Glas zu zertrümmern, um an Alder heranzukommen. Auf einmal krachte es, und Alder sah, wie sich von einer Ecke der Windschutzscheibe Risse ausbreiteten. Er riß das Fahrzeug scharf nach links und dann nach rechts. Einige Deliks fielen hinunter, aber es blieben immer noch so viele da, daß er nichts sehen konnte. Dann schaltete er den Scheibenwischer ein, und die plötzliche Bewegung verscheuchte wieder ein paar der Monster. Aber da waren immer noch ein paar ganz Hartnäckige, die ihm den Blick versperrten. »Verdammte, sturköpfige Echsen«, fluchte Alder, »dann wollen wir doch mal sehen, ob euch das hier gefällt!« Er drückte auf die Hupe, und das laute Plärren vertrieb die letzten Angreifer. Jetzt konnte Alder wieder sehen. Und da standen auf einmal drei Gestalten direkt vor ihm, mitten auf der Fahrbahn. Er reagierte blitzschnell und trat auf die Bremse. Der Lieferwagen schlitterte noch ein Stück weiter und blieb dann kurz vor dem Trio stehen. Einer war ein Priester, zumindest war er so gekleidet. Die anderen beiden waren Jugendliche, offenbar Angehörige irgendeiner Bande. »Irgendwie habe ich das Gefühl, daß ich das hier bereuen werde, Tal Tu.« Tal Tu erwiderte nichts. Er streichelte einfach die Katze und versuchte, den Schrecken zu überwinden, den die Deliks ihm eingejagt hatten. Alder schaute sich nach allen Richtungen um. Er sah, daß die Deliks offensichtlich wieder Mut faßten. Sie würden sicher bald einen neuen Angriff starten. Er streckte die Hand aus und öffnete die Beifahrertür. »Steigt ein, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
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24 Andrew Jackson Decker saß im Flur. Die Sitzung war immer noch in vollem Gange, aber er mußte sich für ein paar Minuten zurückziehen. In drei Tagen war viel geschehen, und es gab immer noch vieles, worüber sie gar nichts wußten. Was spielte sich in New York ab? Wo war der Präsident? War er noch am Leben? Und daneben nagte eine andere Frage an ihm. Warum war Vicky gestorben? Warum, warum, warum? Im Augenblick gab es in Deckers Leben viele Fragen und nicht annähernd so viele Antworten. Er mochte die Geheimnisse und Puzzles nicht. Sie paßten ganz einfach nicht in seinen Spielplan. Die Tür des Sitzungssaals ging auf, und Senatorin Ellen Conners kam heraus. Sie war mittleren Alters, sah aber überhaupt nicht matronenhaft aus. Solange Decker denken konnte, gehörte sie dem Senat an. Sie mußte Mitte Fünfzig sein, aber sie sah immer noch gut aus. Decker konnte nur ahnen, wie sie früher einmal ausgesehen haben mußte. Sie trug ihr rabenschwarzes Haar, unter das sich nur vereinzelt graue Haare geschmuggelt hatten, kurz geschnitten. Ihre Kleidung war ziemlich konservativ, aber bei Ellen Gönners wirkte das umwerfend. Sie setzte sich neben ihn und lehnte den Kopf gegen die Wand. Plötzlich sah sie genauso müde aus, wie Decker sich fühlte, und er fragte sich, warum sie auf dem Hill hier jeder Old Lady Medusa nannte. Seit er nach Washington gekommen war, hatte er wenig Gelegenheit gehabt, mit ihr zusammenzuarbeiten, aber er hatte sie bei verschiedenen Gelegenheiten getroffen. Doch er hatte sich ihr gegenüber immer vorsichtig verhalten. Es hieß, daß man Ellen Gönners nicht leicht für sich einnehmen konnte. -61-
»Also, Kongreßabgeordneter«, sagte sie schließlich, »was halten Sie von alldem?« »Was ich davon halte?« begann Decker. Er hatte sich noch keine Meinung gebildet, aber offensichtlich wollte die Senatorin etwas hören. »Aufgrund welcher Fakten kann man sich denn überhaupt eine Meinung bilden, Senatorin? New York und ein Großteil des Nordostens sind vom Rest des Landes abgeschnitten. Der Präsident und der Vizepräsident sind irgendwo in dieser Zone des Schweigens. Gerüchte über Invasoren verbreiten sich. Meiner Meinung nach brauchen wir zusätzliche Informationen, um uns eine Meinung bilden zu können.« Sie drehte sich Decker zu und schaute ihn an. Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. »Mein lieber, junger Mann, wir müssen uns aber Meinungen bilden, damit der Rest des Landes weiß, was er zu denken hat. Das ist die Pflicht der gewählten Repräsentanten.« »Selbst wenn wir keine soliden Informationen zur Verfügung haben?« »Gerade dann, Mr. Decker, wird unsere Meinung am dringlichsten gebraucht.« Die Tür des Sitzungssaales ging wieder auf, und ein Protokollführer streckte den Kopf heraus. »Kongreßabgeordneter, Senatorin, ich glaube, daß Sie jetzt anwesend sein möchten.« Decker und Ellen Gönners betraten den Saal und gingen zu ihren Plätzen. Jonathan Wells trat gerade an das Podium. Der Sprecher des Hauses wartete, bis das Gemurmel aufhörte, testete dann das Mikrofon und begann seine Rede. »Hochverehrte Kongreßmitglieder. Wir benötigen zusätzliche Informationen, bevor wir uns für irgendwelche Leitlinien in dieser Krise entscheiden. Aber in einem Punkt habe ich schon eine Entscheidung getroffen. Zum jetzigen Zeitpunkt werde ich -62-
das Präsidentenamt noch nicht übernehmen. Es gibt nicht genug Beweise, daß ein derartig definitiver und endgültiger Schritt richtig ist. Wir alle schulden Präsident Douglas Kent und Vizepräsident Gregory Farrel zu viel, als daß wir sie schon zu einem so frühen Zeitpunkt abschreiben dürfen.« Wells machte eine Pause und trank einen Schluck Wasser. Dann ließ er den Blick über die Menschen schweifen und fuhr fort. »Ich werde jedoch während Präsident Kents Abwesenheit die Geschäftsführung übernehmen. Im Augenblick braucht das Land eine feste Zielrichtung. Daher ist es meine Aufgabe und meine Pflicht, diese Zielrichtung zu bestimmen. Aus diesem Grund werde ich für die bewaffneten Streitkräfte den Status DefCon Zwei ausrufen. Mehr brauche ich dazu wohl nicht zu sagen. Wenn wir wenigstens etwas vom Verteidigungsministerium hören würden...« Decker lehnte sich zurück. Die Stimmen um ihn herum wurden immer leiser. Es gab soviel zu tun, soviel zu entscheiden, und der Kongreß hier tat das, was er am besten konnte – reden und reden und reden. Wenigstens war Wells im Augenblick noch nicht bereit, den Präsidenten und den Vizepräsidenten abzuschreiben. Aber was ging denn nur in New York vor sich? Er wünschte, er wüßte, was es war.
25 Dr. Kendal Alec-Vier stöpselte seine Fingersteckvorrichtung in die Buchse neben seiner Wohnungstür. Die Eingangstür glitt auf, aber aus irgendeinem Grund wurden die Lampen in der Eingangshalle nicht eingeschaltet. »Wenn dieser Computer wieder abgestürzt ist, dann werde ich...« -63-
Eine starke Hand, wahrscheinlich kyberausgestattet, schoß aus der Dunkelheit und legte sich um Alecs Hals. Er wurde hart gegen die Wand gedrückt, und seine Füße baumelten einen halben Meter über dem Boden in der Luft. »Wehren Sie sich nicht, Dr. Kendal«, warnte ihn eine ruhige, beherrschte Stimme. Es war die Stimme eines Wesens, das gewohnt war, Schmerz ganz selbstverständlich einzusetzen. »Ich benötige ein paar Daten, die Sie mir liefern können.« »Wer... wer sind Sie? Was wollen Sie?« »Sie sind doch der Dr. Kendal Alec-Vier, der am Kosmoversum-Projekt beteiligt war, nicht wahr? Natürlich sind Sie das. Soweit ich weiß, war die Projektleiterin irgendein Wunderkind. Ein wahres Genie, wie man mir erzählt hat. Aber ich bin im Computernetz nicht näher an sie herangekommen, da waren nur Sie aufgeführt. Wo ist sie, Alec?« »Mara? Was wollen Sie von Mara?« »Ich möchte diese Mara kennenlernen. Ich möchte mich dem Genie vorstellen, das herausgefunden hat, daß wir diese bemitleidenswerte Welt besuchen würden.« Alec hielt die Luft an. Sein Herz krampfte sich zusammen. »Sie sind ein Sim!« »Ich bin Thratchen, Sie Virus!« rief die bedrohliche Stimme. »Ich möchte diese Mara für ihre brillante Arbeit belohnen. Und dann werde ich ihr pochendes Herz aus ihrer hübschen, kleinen Brust reißen.« Alec hörte, wie eine Input/Output-Steckvorrichtung aus einem versenkten Hohlraum fuhr. »Was machen Sie?« fragte er, als er sah, wie die Steckvorrichtung auf seinen Kopf zielte. »Das ist ungesetzlich!« »Ungesetzlich?« Thratchen grinste böse. »Irgendwo in Ihrem pathetischen System haben Sie Daten abgespeichert, die ich brauche. Ich werde einfach Ihre Erinnerung durchforsten. -64-
Natürlich wird das für Sie nicht gerade angenehm sein, und ich kann mir vorstellen, daß nicht viel von Ihrem Verstand übrig sein wird, wenn ich ihn aufgerümpelt habe. Aber so ist das Leben nun mal.« Thratchen stöpselte sich unter Alecs rechtem Ohr ein. Dann verstärkte er den Druck auf Alecs Hals, damit der Wissenschaftler nicht um Hilfe rufen konnte. Und Alec wollte tatsächlich nichts mehr, als um Hilfe rufen.
26 Bryce saß auf dem Beifahrersitz neben dem Fahrer, dessen Kleidung noch vage an eine Polizeiuniform erinnerte. Hinter ihnen saßen Ratte und Coyote dem Echsenmann gegenüber. Der Echsenmann betrachtete die beiden Jugendlichen neugierig, während er abwesend eine große, graue Katze streichelte. Die Jungen wußten nicht genau, ob sie Angst haben sollten, achteten aber darauf, daß ihr Abstand zu der Echse so groß wie möglich war. Seit sie eingestiegen waren, hatten sie sich kaum miteinander unterhalten. Zum einen waren der Priester und die Jugendlichen froh gewesen, den Flügelreptilien zu entwischen. Sie waren verblüfft, daß der Lieferwagen tatsächlich funktionierte. Zum anderen war der Fahrer vollständig damit beschäftigt, den Wagen durch den Lincoln-Tunnel zu steuern, er konnte daher keine Fragen beantworten. Die Fahrbahn war ziemlich oft versperrt, und der Polizist mußte den Lieferwagen durch enge Öffnungen fädeln oder gar andere Fahrzeuge aus dem Weg schieben. Die Flügelreptilien verfolgten sie, solange der Tunnel noch vom Tageslicht erhellt wurde, folgten ihnen aber nicht in die Dunkelheit. Das kam Bryce und ihnen allen sehr zupaß. -65-
Der Priester strich die Regentropfen aus seinem Bart. »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Officer. Das war gerade noch rechtzeitig. Ich bin Pater Christopher Bryce. Und diese beiden jungen Männer sind Coyote und Ratte.« Der Polizist warf dem Priester kurze Seitenblicke zu. »Ich bin Rick Alder. Ich bin mir nicht sicher, ob die New Yorker Polizei noch existiert, ansonsten gehöre ich zu dem Verein. Tja, ich denke, einmal ein Bulle, immer ein Bulle, hm? Der große Typ dort hinten ist Tal Tu. Er hat mir aus der Klemme geholfen, und daher habe ich ihn behalten.« Alder wich einem verlassenen Honda aus und fuhr dann weiter. »Haben Sie irgendeine Ahnung, was sich hier eigentlich abspielt, Pater?« erkundigte er sich wenig später. »Wenn ich auf diese Frage nur eine Antwort wüßte«, seufzte Bryce. »Ich habe sie ein paarmal gestellt bekommen, seit das hier angefangen hat.« »Was ist mit euch beiden Rowdys? Wieso streunt ihr mit einem Pater herum?« Ratte wollte gerade etwas sagen, aber Coyote brachte ihn mit einem Klaps zum Schweigen. »Wir unterhalten uns nicht mit Bullen, Mann«, fauchte er. »Wie ihr wollt. Aber wenn ihr ’ne große Lippe riskieren solltet, dann werde ich Tal Tu auftragen, euer Gesicht anzuknabbern.« Coyote wurde plötzlich bleich, und Ratte versteckte sich hinter ihm. »Sie machen doch Witze, oder?« fragte Bryce. Alder grinste unfreundlich. »Was glauben Sie denn?« Und Tal Tu, der sich offensichtlich über die Aufmerksamkeit freute, die er erregte, riß sein Maul mit den gewaltigen Zahnreihen auf. -66-
Eine Stunde später steuerte Alder den Lieferwagen auf die Interstate 95 in Richtung Süden. Es regnete immer noch, aber lange nicht mehr so heftig wie zuvor. Sie näherten sich der Ausfahrt nach Newark, als Bryce auf der rechten Seite ein Lichtschein auffiel. Der Lichtschein war ein breiter Streifen und wirkte natürlich, weil er nicht die Kälte hatte, die künstliche Beleuchtung immer mit sich brachte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Bryce begriff, was es mit dem Glühen auf sich hatte, aber dann geriet er in Panik. »Officer, dort drüben brennt es.« Rauch hing in der Luft. Dicke, schwarze Wolken verdunkelten den grauen Himmel. Das Feuer mußte groß sein, wenn sie es aus dieser Entfernung sehen konnten. »Biegen Sie hier ab«, bat der Priester. »Vielleicht können wir helfen.« Der Polizist fuhr auf die Ausfahrtsrampe. Von dort konnten sie die Silhouette von Newark erkennen, das lichterloh brannte. »Mein Gott, Bryce«, sagte Alder, »die ganze Stadt steht in Flammen.« Am Ende der Ausfahrt mußte Alder anhalten, denn die Straße war von Menschen übersät. Überall waren Menschen, die aus der Stadt gekommen und vor dem Feuer geflohen waren. Aber sie waren alle tot. »Schauen Sie sich den Ruß und die Verbrennungen an«, sagte Bryce. Seine Stimme zitterte. »Das Feuer hat diese Menschen aber nicht getötet. Ihre Körper... mein Gott, sehen Sie sich doch ihre Körper an.« Und wirklich, alle hatten tiefe, schwarze Löcher an der Stelle, wo einmal ihr Rumpf gewesen war. »Edeinos tun das«, erklärte Tal Tu. Seine Worte erschreckten Alder und Bryce. »Edeinos Jakatts.« Bryce schnappte sich seinen schwarzen Koffer und stieß die -67-
Tür auf. »Wo gehen Sie hin, Pater?« wollte Alder wissen. »Ich muß meine Arbeit tun«, sagte er und trat auf die mit Leichen übersäte Straßen. Alder, Tal Tu und die beiden Jugendlichen sahen zu, wie der Priester von einem Leichnam zum nächsten schritt. Wieder und wieder hörten sie die Bestattungsgebete, bis die Stimme des Priesters heiser wurde.
27 Hauptmann Nicolai Ondarew lief durch die polierten Korridore. Er betrat ein kleines Büro und hielt der korpulenten Frau hinter dem Schreibtisch kurz seinen Ausweis hin. Sie studierte ihn schnell und deutete dann mit dem Kinn auf eine Tür. Der Sowjetoffizier öffnete sie. Die Treppe dahinter führte augenscheinlich in mehrere Stockwerke unter der Erde. Er warf einen Blick zu der Frau zurück, die ihm den Rücken zudrehte. Sie hatte ihre Aufgabe erledigt, dachte er plötzlich. Jetzt mußte er die seine tun. Er lief die Stufen hinunter. Nachdem er viele Treppenstufen hinuntergestiegen war, erreichte Ondarew den untersten Treppenabsatz. Bevor er dort an die schwere Metalltür klopfen konnte, wurde die Tür schon aufgerissen. Eine Frau mittleren Alters in Krankenschwesterntracht nahm ihn in Empfang, nickte und bedeutete ihm zu folgen. Die Schwester brachte den Hauptmann zu einem kleinen Raum, der künstlich belüftet wurde und nach Krankenhaus roch. In einer Ecke standen ein Kinderschreibtisch und ein kleiner Stuhl und an der gegenüberliegenden Wand ein kleines Bett und ein Holzstuhl. Die Krankenschwester verließ das Zimmer und -68-
schloß die Tür hinter sich, damit der Hauptmann mit den beiden Personen in dem Zimmer allein sein konnte. Ein Mann in weißem Kittel erhob sich von seinem Stuhl, um den Hauptmann zu begrüßen. Doch Ondarew übersah ihn einfach. Seine Aufmerksamkeit war auf die junge Frau gerichtet, die auf dem Bett lag. Sie war jung – vielleicht zwanzig oder sogar noch jünger. Und sie überraschte ihn. Ihre Schönheit beruhte nicht auf Makeup oder schicker Kleidung, denn sie war nicht geschminkt und trug nur ein schlichtes Krankenhausnachthemd. Ihr Haar hatte die Farbe von strahlendem Sonnenschein, und ihre Augen, die ins Nichts starrten, aber alles zu sehen schienen, waren hellblaue Seen. »Willkommen im Projekt Omen, Hauptmann Ondarew. Ich bin Dr. Kazan«, sagte der Mann im Kittel. »Und das hier ist Katrina Towarisch.« Der Hauptmann betrachtete die junge Frau immer noch. Nach all den Jahren der Forschung war dieses zierliche Persönchen die Kulmination der Arbeit und des Geldes, das die Regierung in die Abteilung Psychische Forschung gesteckt hatte? Und selbst wenn sie das war, konnte sie ihm denn wirklich helfen? Er nahm den Globus vom Tisch und studierte ihn einen Augenblick lang. Dann legte er ihn der jungen Frau in die Hand, kniete sich dann neben sie und flüsterte ihr etwas ins Ohr. »Was haben Sie gesehen, Katrina Towarisch?« »Hauptmann, ich fürchte, Sie verstehen nicht«, mischte der Doktor sich ein. »Katrina ist vollkommen blind.« Der Hauptmann warf Dr. Kazan einen wütenden Blick zu. Dann wiederholte er sanft seine Frage. Er sprach: »Was haben Sie gesehen?« Mit einer Stimme, die Hauptmann Ondarew niemals im Leben -69-
vergessen würde, erklärte die junge Frau: »Ich habe gesehen, wie sich die Wolken des Sturmes über der Erde zusammengebraut haben. Ich habe gesehen, wie dunkler Regen fiel. Sieben Überfälle werden stattfinden – sieben Invasoren werden kommen, um die Erde anzugreifen. Und sie werden sieben unterschiedliche Regionen angreifen.« »Diese Vision hat sie jetzt schon seit mehreren Monaten«, erklärte der Arzt. »Ich habe es jedesmal bei Ihren Vorgesetzten gemeldet, aber ich wurde immer abgewiesen.« »Jetzt bin ich hier, Doktor«, sagte Ondarew. »Bitter unterbrechen Sie uns nicht wieder. Katrina? Darf ich Sie Katrina nennen?« Wieder ertönte die fesselnde Stimme. »Das dürfen Sie, Hauptmann. Sie haben auch einen sehr hübschen Namen. Nicolai hat mir schon immer gut gefallen.« Ondarew konnte sich nicht daran erinnern, daß er seinen Vornamen genannt hatte, seit er in das Zimmer gekommen war. Aber das mußte wohl der Fall gewesen sein, weil sie ihn ja kannte. »Wo werden diese Invasionen stattfinden, Katrina?« Sie neigte den Kopf, als höre sie weit entfernte Stimmen. Dann drehte sie den Globus und ließ ihre Finger über die geprägte Oberfläche gleiten. »Hier«, sagte sie und zeigte auf Borneo. »Hier.« Ihr Finger zeigte auf New York. »Hier, hier, hier.« Großbritannien, Frankreich, die Sowjetunion. »Und hier und hier.« Ihr Finger lag zuerst auf Ägypten und dann auf Japan. Hauptmann Ondarew stand auf und nahm Katrina den Globus ab. Der Umriß seines geliebten Vaterlandes stierte ihn an. Erst beim fünften Mal hatte sie darauf gezeigt. Also war immer noch -70-
Zeit. »Hauptmann, der Sturm hat schon begonnen«, fügte sie hinzu, »die Invasoren fallen zusammen mit giftigem Regen auf unsere Welt.« »Machen Sie sie fertig, Doktor«, befahl Ondarew, »sie wird mich begleiten.« »Wieso?« fragte der Arzt nervös. »Ich begreife nicht? Was geht hier vor?« »Wir haben keine Verbindung mehr zu Singapur und seinen indonesischen Nachbarn. Die Vereinigten Staaten werden von unbekannten Streitkräften angegriffen. Verstehen Sie nicht? Ihr Sturm hat begonnen, und ich werde ihre Hilfe brauchen, wenn unser Land überleben soll.« Als Ondarew gerade das Zimmer verlassen wollte, hielt Katrinas Stimme ihn auf. »Der Sturm hat einen Namen, Hauptmann Nicolai Ondarew.« Er zwang sich, die junge Frau anzuschauen, obwohl ihm kalter Schweiß den Rücken hinunterlief. »Er nennt sich Torg.«
28 »Zeit zu gehen, Zeit zu gehen, Zeit zu gehen«, lief es rotblinkend an der Innenseite ihres linkes Auges entlang. Irritiert schlug sie die Augen auf. Die Alarmanzeige lief blinkend durch ihr Blickfeld, als sie sich in dem Raum umschaute. Nebelhafte Visionen flossen von dem Sensover-Chip, der in die erste Buchse hinter ihrem rechten Ohr eingelegt war, in ihr Gehirn, durch ihre optischen Nerven bis zu den Netzhäuten. Sie zwinkerte einmal mit ihrem linken Auge, um die Alarmanzeige abzuschalten, und aktivierte dann die Schlummerkontrolle. Jetzt konnte sie für weitere zehn Minuten in die Bilderwelt des Sensover zurückkehren, bevor der Alarm sie erneut herausriß. -71-
Der Raum verblaßte vor ihren Augen, während die durchsichtigen Bilder konkreter wurden. Sie hatte die Augen geschlossen und war wieder bei der Aufnahme eines Konzerts des Philharmonischen Orchesters von Kios City. Hartels PostInvasions-Symphonie wurde aufgenommen, und sie spielte das erste Klavier. Sie wollte gerade zu ihrem Solo ansetzen, als eine Stimme aus der Gegensprechanlage neben der Tür drang. Die Stimme drängte sich in die Musik und rief ihren Namen. »Dr. Hachi?« fragte der Sicherheitsmann, der siebenundvierzig Stockwerke weiter unten Türdienst hatte. »Verdammt noch mal«, murmelte sie, als sie sich im Bett aufsetzte und den Sensover-Chip der Symphonie herauszog. Sie warf ihn auf eine Ablage, auf der sich ein Durcheinander aus elektronischen Geräten, Papieren, Büchern, Programmierchips und Datendisketten stapelte. »Was?« fragte sie, nachdem sie aus dem Bett gestiegen war, durch die Gegensprechanlage. Das Bett registrierte ihre Abwesenheit, klappte hoch und verschwand in der Wandnische. »Ihr Fahrer ist da, Dr. Hachi.« »Wo?« erkundigte sie sich. »In der Garage, fünftes Geschoß, Abstellplatz dreiundzwanzig.« »Gut. Sagen Sie ihm, daß ich mich beeilen werde.« »Geht in Ordnung... äh, Dr. Hachi?« »Ja?« »Viel Glück, Mara.« Sie konnte auf diese letzte Bemerkung nicht reagieren, weil sie einen so schwer faßbaren, willkürlichen und unbestimmbaren Begriff wie Glück nicht fassen konnte. Wieviel Glück war nötig, um eine Welt zu retten? Ihr fiel ein, daß sie Glück weder berechnen noch mathematisch definieren konnte, -72-
sondern nur von dessen Wahrscheinlichkeit ausgehen konnte. Auf jeden Fall würde sie soviel Glück brauchen, wie sie nur haben konnte. »Danke, Randin-Sechs. Randy.« »Gern geschehen, Mara. Soll ich Ihr Gepäck hochtragen, wenn Sie zurückkommen?« Zurück. Das Wort hallte in ihr nach, stieß auf Dunkelheit und Angst. Zurück. Das eine Kosmoversum verlassen und dann wieder zurückkehren. Einfach so. Keine große Sache. »Ja, sicherlich. Bis dann, Randy«, sagte sie und nahm den Finger von dem Sprechknopf.
29 Baruk Kaah äußerte zischend seine Zustimmung. Die neuen Stammesmitglieder machten ausgezeichnete Fortschritte. Mit den Händen hoben sie Löcher auf diesem Feld aus, das früher einmal Central Park geheißen hatte. In jedes dieser Löcher, das sechs Schritte lang, drei Schritte breit und eine Armlänge tief war, wurde ein Gospog-Saatkorn gelegt. Dann wurde ein Toter dieser Welt dazugebettet. Links von dem Hohenpriester kam ein Dinosaurier näher, auf dessen großen, flachen Rücken weitere Leichen gestapelt waren. Nachdem er seine schreckliche Lieferung abgeladen hatte, zottelte er zurück zu den Leichenbergen am Feldrand, um die nächste Lieferung abzuholen. Baruk Kaah schaute wieder aufs Feld hinaus. Ein paar Reihen weiter hinten schaufelte ein neues Mitglied von Baruk Kaahs Stamm voller Begeisterung Löcher. Der Mann trug eine dunkelblaue Hose und ein hellblaues Hemd mit dem Abzeichen der New Yorker Transportgesellschaft. Seine Uniform, seine verspiegelte Sonnenbrille und sein glattrasiertes -73-
Gesicht wirkten deplaziert. Er bückte sich, um ein neues Loch auszuheben. Baruk Kaah hob den Kopf hoch und atmete tief ein. Beim Ausatmen schloß er eine Klappe seiner Atemwege und leitete die Luft durch einen hohlen Knochen mitten in sein Gesicht. Der Trompetenton, den er von sich gab, war als Salut an die Arbeitenden gedacht. Die Arbeiter schauten von ihren Platz auf und beantworteten das Lob des Hohenpriesters mit Geschrei: »Was für eine Saat säst du aus?« erkundigte Baruk Kaah sich zischend bei dem Edeinos-Pflanzer neben ihm. »Das hier ist Gospogsss von der ersten Pflanzung, Sssaar«, antwortete der Pflanzer. »Nach sieben Sonnen wird eine Armee von Gospogsss hinter Ihnen herschreiten.« »Wie lange wird es dauern, bis wir die Gospogsss der fünften Pflanzung haben werden?« Seine Frage wurde von dem Ravagon beantwortet, der ganz in der Nähe gelandet war. »Wenn Sie mehr Land für die Pflanzungen gewonnen haben, Baruk Kaah. Dann wird das Geschenk des Hageren Mannes wahrlich Früchte tragen.« »Der Hagere Mann hat gut geplant«, sagte Baruk Kaah so, daß der Ravagon ihn hören konnte. Er zollte dem Herrn des Dämons widerwillig Respekt. Der Hagere Mann sah den weichhäutigen Eingeborenen dieses Kosmos, die so leicht zu besiegen waren, ähnlich, aber er dachte und handelte genau wie ein Edeinos. »Gutes Wachstum, Pflanzer«, sagte der Hohepriester, als er sich auf den Weg machte. Den Ravagon ließ er links liegen.
30 Auf der Insel Borneo hatte eine neue Realität die Macht ergriffen. Die Gesetzmäßigkeiten der Erde waren verschwunden -74-
und wurden durch die Axiome von Orrorsh ersetzt. Im dunklen Innern der Insel bildete eine gewundene Brücke eine Verbindung vom Himmel zur Erde. Neben der Brücke war hastig eine Kleinstadt hochgezogen worden, die aussah, als würde sie schon seit Ewigkeiten existieren. Die Stadtmitte wurde von einem eingezäunten Anwesen dominiert, das die anderen Gebäude leicht überragte. Bei der Bevölkerung von Orrorsh hieß das Anwesen Salisbury Manor. Aber für den Besitzer des Hauses war es Illmound Keep. Hinter den Mauern stand ein viergeschossiges Herrenhaus. Unzählige Türme, mit Spitz- oder Kuppeldächern oder auch ohne Dach, ragten in den Himmel. Mit Zinnen versehene Bogengänge verbanden die einzelnen Türme oder endeten im Nirgendwo. Fenster, dunkel oder erleuchtet, aus hauchdünnem Hörn und geöltem Pergament, aus buntem oder durchsichtigem Glas, gingen auf die weiten Rasenflächen und den dichten, dunklen Wald hinaus, die zum Anwesen gehörten. Mansardenfenster waren im Dach und an den Längsseiten des Hauses zu finden. Und hier und dort stützte ein Strebepfeiler die Decke ab. In einem Zimmer im obersten Stock des Herrenhauses, dessen Wände mit schwerem, dunklem Holz vertäfelt oder von Holzregalen mit ledergebundenen Büchern eingerahmt waren, stand Kürst, der Jäger. Er stand mit dem Rücken zu den dunkelgrünen Polstermöbeln und dem schweren Eichenschreibtisch. Der Raum wurde von der gelben, leise zischenden Flamme eines Messingleuchters beleuchtet. Er blickte aus dem Fenster mit den Bleifassungen in den Garten hinab und ließ den Blick durch das Heckenlabyrinth schweifen, das den westlichen Teil des Gartens einnahm. Vorsichtig, als liefe er wirklich über den spitzen Kies, folgte sein Blick dem verwinkelten und gekrümmten Pfad. Und als wolle er die Aufgabe nicht zu leicht gestalten, vermied er es, den Mittelpunkt des Labyrinths, einen kleinen, quadratischen Platz, anzuschauen. -75-
Auf diesem Platz lag der Preis für alle die, die sich im Labyrinth nicht verirrt hatten. Nachdem gestern der Gärtner den Weg verändert hatte, hatten sie eine junge Frau, eines der dunkelhäutigen Eingeborenenmädchen dieser Insel, an die Eisenbank gekettet, die in der Mitte des quadratischen Platzes stand. Kürst hatte das Geheimnis beinah gelüftet. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er in den Garten gehen und durch die irreführenden Heckengänge wandern würde, um den Preis abzuholen, den der Hagere Mann für ihn dort bereitgestellt hatte. Bis jetzt war es ihm noch immer gelungen, die Preise einzuheimsen, die für ihn gedacht waren. Er war sich nicht sicher, ob der Hagere Mann von diesem Aussichtspunkt in dem hohen Westturm wußte. Gerade in dem Augenblick, als er sich vom Fenster abwandte, klopfte jemand zögernd an die Tür. »Ja?« rief Kürst. Der hochgeknöpfte Tweedanzug, den er trug, paßte gar nicht zu ihm, obwohl der Stoff teuer war und der Anzug perfekt gearbeitet. Seine leicht spitz zulaufenden Ohren und länglichen Augen, die schräg geschnitten waren, veränderten sein wildes Aussehen kaum. »Sir, der Meister wünscht Sie zu sehen«, sagte die Stimme auf der anderen Seite der Tür. »Sehr gut«, erwiderte Kürst. Durch das Glasfenster hinter ihm drang leise das Heulen eines Wolfes. Kürsts Nackenhaare standen zu Berge, und seine Finger krümmten sich. Wie sehr dürstete es ihn, sich dem Wolf anzuschließen. Aber das mußte noch warten. Er verließ das Zimmer und marschierte leise durch die düsteren Korridore des Herrenhauses. Seltsam, dachte Kürst, daß niemand das Herrenhaus als das erkannte, was es wirklich war. Denn wenn sie dazu in der Lage wären, würde keiner von ihnen jemals in dessen dunklen Schatten treten, geschweige denn die gewölbten Eingänge durchqueren, dessen war er sich -76-
sicher. Der Jäger stieg in das Kellergeschoß, wo der Hagere Mann sein Laboratorium eingerichtet hatte und arbeitete. Als er an der verglasten Galerie vorbeikam, von der aus man einen Blick auf den östlichen Teil des Anwesens hatte, konnte er die Mahlstrombrücke erkennen, die sich in den Himmel reckte. Die Brücke führte in seine Welt zurück, in den Kosmos von Orrorsh. Dann wandte er den Blick ab und ging weiter. Warum in der Vergangenheit schwelgen, beschloß er, denn wenn er die Pläne des Hageren Mannes richtig verstanden hatte, würde keiner von ihnen jemals die Heimat wiedersehen. An der eisenverstärkten Tür der Kammer angekommen, in der der Arbeitsplatz des Hageren Mannes untergebracht war, druckte Kürst leise dagegen. Dann schlich er sich in den Raum und stand still und unbeweglich in einer dunklen Ecke. Kaltes, gelbes Licht von Glühbirnen ergoß sich über seltsame Maschinen. Und über drei Gestalten. Kürst ging weiter und trat in den Schatten eines Steinpfeilers, der die hohe Decke der Kammer stützte. Er sah, wie zwei Gestalten um eine dritte herumliefen, die auf einem altarähnlichen Steintisch festgeschnallt war. Sie peinigten ihn mit Speeren. Jede Farbe, die Kürst je gesehen hatte, tauchte auf den Speeren auf und lief über ihre Oberfläche. Worte in einer alten, obskuren Schrift, die in die leuchtenden, fließenden Farben getaucht waren, wanden sich um die Speergriffe. Der Mann war jener Stürmer, den Kürst gejagt hatte, das Schaf, das im letzten Augenblick seine Krallen entdeckt hatte. Unter dem Steintisch waren ein paar rotierende Schwungräder und Nocken, elektrische Zündspulen und Meßinstrumente mit unruhigen Zeigern. Dieses Sammelsurium nahm gut ein Viertel des Raumes ein und verschwand irgendwo unterhalb der Decke. Kürst hörte, wie der Hagere Mann sagte: -77-
»Das hier ist der letzte und tapferste von ihnen, Scythak. Und der stärkste. Schauen Sie ihn sich jetzt an. Er zittert in seinem Fleisch und windet sich in seinem Geist.« »Sehen Sie, was sie mit diesem Stürmer gemacht haben«, sagte der Hagere Mann befriedigt, und betrachtete den leidenden Mann, »und auch Kürst.« »Dieser Schwächling! Warum behalten Sie ihn hier? Töten Sie ihn, oder schicken Sie ihn in die Moore zurück, wo er hingehört.« »Er hat sich wahrlich verdient gemacht. Na, dann wollen wir mal sehen, was wir noch aus dem hier herausholen können.« Der Hagere Mann trat an die Maschine und veränderte die Einstellung. Der Geruch von verbranntem Fleisch und Ozon wehte zu der Stelle hinüber, wo Kürst stand, und seine Furcht vor den Speeren und der Maschine löste einen Gestaltwandel bei ihm aus. Die Finger seiner rechten Hand wurden länger. Die Nägel verwandelten sich in Krallen. Dichtes, dunkelbraunes Fell wuchs auf seinem Handrücken und Handgelenk; die Haare stellten sich auf. Kürst fürchtete sich vor den Speeren und der Maschine wegen der Dinge, die der Hagere Mann ihm mit ihnen angetan hatte. Er konnte das wieder tun. Kürst wußte nicht, was die Maschine aus ihm herausgeholt hatte, aber er schwor sich, daß er der Maschine oder dem Hageren Mann nicht noch mehr davon überlassen würde. Er zügelte seine Angst, zwang seine linke Hand mit Willenskraft in ihre menschliche Form zurück, und lief aus dem Schatten auf den Hageren Mann zu. Auf der Welt Orrorsh, der Welt, auf der Kürst geboren und rekrutiert worden war, kannte man ihn unter dem Namen Lord Byron Salisbury, Earl von Waterford. Aber für die, die in seinem Dienst standen, für die, die die Geheimnisse der Kosmen begriffen, war er der Hagere Mann. Der Hagere Mann war zwei Meter groß, nur ein paar -78-
Zentimeter kleiner als der korpulente Scythak, der neben ihm stand. Sein schmaler Kopf mit dem hohlwangigen Gesicht saß auf einem dünnen, langen Hals, der in schmale Schultern überging. Sein hagerer Körper, an dem lange Arme herunterhingen, steckte in einem weißen Laborkittel, den er in dieser Kammer immer trug. Kürst stellte sich leise neben den Hageren Mann an den Steintisch und verbeugte sich vor seinem Herrn, während er Scythak geflissentlich übersah. »Ah, Kürst, wie nett, daß du dich uns anschließt«, sagte der Hagere Mann. Ein höhnisches Grinsen lag auf seinem Gesicht. Scythak kicherte böse. »Sie haben nach mir geschickt, Meister«, sagte Kürst. »Womit kann ich Ihnen dienen?« »Ich wollte, daß du das letzte Stadium der Existenz dieses Stürmers miterlebtst. Das ist einer deiner Fänge, nicht wahr?« Kürst betrachtete den jungen Mann genau. Unbewußt strich seine Hand über die schnell verheilenden Narbe unter seinem Hemd. »Ich bin hier fast fertig«, sagte der Hagere Mann. »Dieser Stürmer ist es nicht wert, permanent an die Maschinen angeschlossen zu werden, aber für seine Fähigkeiten habe ich immer noch Verwendung. Paß auf.« Der Hagere Mann stellte die Instrumente der Maschine fein ein. Die Energieentladungen, die auf den runden Speerenden tanzten, die dem Stürmer aus der Brust schauten, wurden stärker. »Jetzt werde ich alles aus ihm herausziehen«, sagte der Hagere Mann und drückte einen Hebel herunter. Daraufhin schrie der Stürmer auf und schlug wild um sich. Kürst glaubte auf einmal, die Gestalt des Stürmers in einer Wolke zu sehen, aber ehe er sich versah, wurde die Energie in -79-
das riesige Gitterwerk aus Messing und Glas gesaugt, aus dem die Maschine zum größten Teil bestand, und verschmolz mit dem Licht, das konstant auf das Gitterwerk spielte. »Jetzt«, seufzte der Hagere Mann, als er die Skalen erneut verstellte, »gehören seine Fähigkeiten mir.« Kürst warf einen Blick auf den Steintisch, aber alles, was von dem Stürmer übrig war, war ein trockener, lebloser Haufen. Seine Fähigkeiten hatte man ihm herausgerissen.
31 Mara verließ ihre Wohnparzelle und ging durch das Labor auf die Tür zum Korridor zu. Obwohl sie Angst hatte, Angst davor, zu versagen, zu sterben, vielleicht nie mehr heimkehren zu können, zwang sie sich weiterzugehen. Das flaue Gefühl in ihrem leeren Magen sagte ihr: »Geh nicht.« Trotzdem öffnete sie die Tür. Zu packen gab es nichts. Die Kybertechniker würden ihre Stromkreise, ihre Zusatzausstattung und ihre Energiequelle kontrollieren, wenn sie die Transfereinrichtung erreichte. Aber bevor sie ihr Apartment endgültig verließ, ließ sie ihre Hand in die rechte Gesäßtasche ihres schwarzen Overalls gleiten, griff durch einen Schlitz und schob die kaum erkennbare Abdeckung der Speichermulde in ihrem rechten Schenkel beiseite. In dieser Speichermulde lag eine Diskette, auf der Aufzeichnungen über die Welt abgespeichert waren, die sie jetzt verließ. Sie strich kurz über die Diskette. Die Aufzeichnungen waren nicht vollständig, aber sie konnte an der Diskette weiterarbeiten, wenn sie einmal über etwas anderes als kosmoversale Physik und Kriege nachdenken wollte. Sie würde dasein, falls sie sich einstöpseln und Kadandra sehen wollte, auch wenn es sich dabei nur um Bilder handelte, die in ihr Gehirn gespeist wurden. -80-
Schließlich verließ sie das Apartment und steckte ihren rechten Zeigefinger in den kreisrunden Sicherheitssteckkontakt an der Tür. Ein leichtes elektrisches Kribbeln strömte vom Ellbogen durch den Arm und Finger in die Tür, die mit einem gut hörbaren Klicken verschlossen wurde. »Es hat irgend etwas Sexuelles«, hatte sie einmal zu Kendal Alec-Vier gesagt. In seinem Blick hatte Widerwillen gelegen oder auch Belustigung. Bei Alec war es oft schwer, diese beiden Reaktionen zu unterscheiden. Bei dem Grav-Schacht angekommen, drückte sie auf den Abwärtsknopf. Als die Kapsel da war, trat sie ein und sagte: »Garage, fünftes Geschoß.« »Sofort, Dr. Hachi Mara-Zwei«, antwortete die synthetische männliche Kapselstimme. Die Kreisläufe der Kapsel hatten ihre Stimme analysiert und bestätigt, daß sie den Grav-Schacht benutzen durfte. Der Fahrer lehnte an einem funkelnden Luftschlitten aus rostfreiem Edelstahl, als sie endlich den Abstellplatz dreiundzwanzig erreicht hatte. Fragend hob er eine Augenbraue. »Vordersitz«, sagte sie und ging zur Beifahrerseite. Der Fahrer ließ sie einsteigen, stieg auf der Fahrerseite ein, nahm den Controlstick in die Hände und fragte: »Fahrzeugschacht oder Fast drop?« »Fast drop«, lautete Maras Antwort, die schon das Sicherheitsnetz anlegte und nach den Handgriffen am Armaturenbrett tastete. »Kriegen Sie«, sagte der Fahrer und grinste. Dann befestigte er sein eigenes Sicherheitsnetz. Er gab den Startkode auf der Tastatur ein, drehte den Geschwindigkeitswiderstand auf Maximum und schaltete die Gebläseumlenkbleche ein. Der Luftschlitten schwebte nun dreißig Zentimeter über dem Betonboden der Garage. Das Fahrgebläse surrte leise, während das Fahrzeug durch die deckenhohe Öffnung der wandlosen Garage schoß. Maras Körper wurde vom Sitz hochgehoben, ihr -81-
Magen schien bis zum Hals hochzufahren. Sie wollte vor Aufregung laut aufschreien, als der Luftschlitten dreißig Fuß tief fiel, bevor sein Anticrash-Mechanismus den Fall verlangsamte. Der Schlitten setzte mit einem sanften Ruck auf und stieg dann auf die Normalhöhe von dreißig Zentimetern. Lachend schaltete der Fahrer wieder die Geschwindigkeitswiderstände ein und steuerte den Schlitten dann durch die Straßen von Cape City in Richtung Transfereinrichtung. »Danke, Mara. Das kann ich leider nicht oft machen«, sagte der Fahrer. »Ist mir eine Freude«, antwortete Mara, deren sechzehn Jahre alter Körper, der den Intellekt eines Genies beherbergte, von Lachen geschüttelt wurde. Mit ihren einmeterdreiundsechzig, ihrer hellen Haut, ihrer silbernen Haarmähne, die weich über ihre etwas zu spitzen Ohren fiel, war Mara ein lebender Widerspruch. Zwangsgeschult mit Injektionen, die man ihr schon früh aufgrund ihres bemerkenswert hohen Intelligenzgrades verabreicht hatte, war sie an das Weltkonzil ausgeliehen worden. Das hatte sie mit kybernetischen Sonderaustattungen ausgerüstet. Eigentlich war sie noch ein Kind, auf dessen Schultern die Last der Welt ruhte. Nein, die Last der Welten. Wenn sie ihre Moleküle im Rhythmus beatbeatstopbeat klappern ließ, führten ihre diagnostischen Implantate eine Systemkontrolle ihrer Schaltkreise durch. Neben dem Sicherheitsimplantat und den Mikrofäden in ihrem rechten Ellbogen und Arm und der Speichermulde in ihrem rechten Oberschenkel hatte Mara sich noch mit einigen weiteren Instrumenten ausstatten lassen: diagnostische Displays an der Netzhaut ihres rechten Auges, ein hochauflösendes Scannerzusatzteil an ihrem linke Auge, Molybdänfasern, elektronisch verstärkt, die in ihre Schneidezähne gewoben -82-
waren, zwei Standardinput-Steckkontakte mit Isotopenindikatorenfäden hinter dem rechten Ohr, die mit dem analytischen Teil ihres Gehirns verbunden waren, leicht verstärkte Nackensehnen nach einem Skiunfall und ein Hochleistungsnetzteil in ihrer rechten Schulter, das alle zwei Jahre ausgetauscht werden mußte. Von ihm gingen dirigierende Stromleitungen aus, unter anderem ein dünnes Kabel, das in ihre rechte Hand lief. Aber die Ausstattung ihres linken Arms und der dazugehörigen Hand waren es, die sie in Zukunft zehn Jahre ihres Lebens kosten würden. Der linke Unterarm und die Hand, die jetzt wie eine Klaue aussah, waren von Drähten durchzogen und hatten aufgedruckte Schaltkreise, die es ihr ermöglichten, an den Mikrochips, die sie entwarf, Tests durchzuführen und ein Feedback zu erhalten. Die kleine, quadratische Auswölbung auf der Spitze ihres Daumes hielt den Chip fest. Elektrische Mikrosonden im Zeigefinder suchten nach Bruchstellen auf den Chips. Die hauchdünnen Auswölbungen am Mittelfinger, der auf der Arbeitsplatte dem Daumen gegenüber stand, führte die Feinarbeit aus. Mit ihm brannte sie neue Linien in die Magnetblasen des Chips. Mit ihrem Sichtverstärker konnte sie den Mittelfinger mikromillimeterfeine Bewegungen ausführen lassen, wie sie für diese Reparaturen notwendig waren. Dazu mußte sie ihre analytische Sonderausstattung vollständig ausschöpfen, was deshalb auch nur für kurze Zeit möglich war. Aus ihrem Ringfinger kam der Strom, mit dem sie die Chips öffnete und versiegelte, außerdem auch die statische Ladung, die den chipzerstörenden Staub von ihrer Hand fernhielt. Der kleine Finger, den sie am wenigsten unter Kontrolle hatte, hatte ein Hochspannungsstromkabel, mit dem sie ganze Testreihen durchführen konnte. Und genau diese Hand erlaubte es ihr, an der SensoverDiskette zu arbeiten, die sie in ihrer Schenkelspeichermulde mit sich herumtrug. Damit konnte sie in magnetischem Fluß die -83-
Welt so erschaffen, wie sie sie liebte. Sechzehn Jahre alt, Genie, Wunderkind, zwei Doktortitel in drei Jahren. Zwei Jahre lang hatte sie im Invasionskrieg gegen die Sims gekämpft. Sechzehn Jahre alt, und wenn sie wie eben beim Fall mit dem Luftschlitten ihre Schuldgefühle vergessen konnte, klang ihr Gelächter frisch und unschuldig.
32 Baruk Kaah wippte auf seinem Schwanz und sah zu, wie eine Beschwörerin Lanala um Sonnenbälle anbetete, die den Nachthimmel erhellen sollten. Die Edeinos-Priesterin wiegte sich vor und zurück und sang von ihrer Liebe zur Göttin. Dann, als ihr Schaukeln wilder wurde, riß sie eine Klauenhand hoch, und ein Sonnenball schwebte in der Luft. »Ausgezeichnet«, rief der Hohepriester, »heute nacht ist deine Liebe stark.« Ein Stalenger stieß aus der Dunkelheit herunter und schwebte vor Baruk Kaah in der Luft. Heute nacht erinnerten seine Membrane an gefärbtes Glas, das den Lichtschein des Sonnenballs in einer Unzahl von Farben reflektierte. Baruk Kaah nickte und forderte den Diener auf zu sprechen. Daraufhin ließ der seine Tentakel fallen und streckte sie aus, um den Hohenpriester zu berühren. »Wir haben den Stürmer gefunden, den Sie gesucht haben, Saar«, sagte der Stalenger mit seinem Geklopfe und seinen Vibrationen. »Zwei Edeinos bringen ihn her. Sie werden jeden Augenblick eintreffen.« Wortlos wischte Baruk Kaah die Tentakel weg und entließ seinen Diener. Dann richtete er sich zu voller Größe auf und machte sich bereit hofzuhalten. »Ja, Sie werden wie ein Eroberer aussehen, wenn der Eroberte -84-
zu Ihnen gebracht wird.« Baruk Kaah drehte sich wütend um. Sein kraftvoller Schwanz war aufgerichtet und konnte jede Sekunde zuschlagen. Aber er hielt sofort inne, als er sah, daß der Sprecher einer der Ravagons war. »Hüten Sie Ihre Zunge, Ravagon.« »Ihr Verhalten ist gefährlich, Hoherpriester. Warum wählen Sie einen einzelnen Stürmer aus?« »Was ich vorhabe, geht Sie nichts an. Aber ich werde Sie trotzdem einweihen, weil es mir gefällt, wenn Sie Bescheid wissen. Dieser Stürmer ist ein Beschwörer dieser Weichhäutigen. Er hat vor Tausenden gesungen, und sie haben mit Jubelschreien und Freude darauf reagiert. Solch ein Beschwörer muß mir dienen, oder er muß sterben.« Wenige Minuten später näherten sich die beiden Edeinos mit einem weichhäutigen Mann in zerfledderten Kleidern. Baruk Kaah rief sich die Sprache dieser Wesen in Erinnerung, erinnerte sich an die Worte, die Rec Pakken ihm in seinem Kosmos, auf Takta Ker, zugeflüstert hatte. »Bist du ein Beschwörer des weichhäutigen Stammes?« Der Mensch wirkte benommen. Er hatte den Kopf geneigt und blickte zu Boden. Als er nicht antwortete, gab Baruk Kaah dem Stalenger ein Zeichen. Der streckte seine langen Fangarme aus und legte sie um den Kopf des Menschen. Dann hob er den Kopf sanft hoch, so daß der Mensch den Saar anschauen mußte. »Ich frage dich noch mal, bist du ein Beschwörer?« Der Mensch erschauderte und versuchte dann, sich zusammenzunehmen. Als er sprach, klang seine Stimme dünn und verängstigt. »Ich bin Eddie Paragon«, rang er sich schließlich ab. »Ich bin nur ein Sänger. Bitte, töten Sie mich nicht.« »Nein, Sänger Paragon, ich werde dich nicht töten«, sagte -85-
Baruk Kaah so sanft wie möglich, »wenigstens nicht, solange du mir dienst.« Die beiden Edeinos legten ihre Hände auf Paragons Schultern und zwangen ihn auf die Knie. Aber das brauchten sie eigentlich nicht. Der Sänger hatte verstanden. Er verneigte sich vor dem Saar der Edeinos und sprach mit tränenerstickter Stimme die Worte, die ihm nur schwer über die Lippen kamen. »Ich... werde Ihnen dienen.« Baruk Kaah warf dem Ravagon sein Echsenlächeln zu. Daß die Bekehrung so leicht vonstatten gegangen war, erfreute ihn. Die Tränen, die Paragons Gesicht hinunterliefen, sah er allerdings nichts. Aber der Ravagon bemerkte sie.
33 Alle Farben des Regenbogens glitzerten auf dem regenverschmierten Kuppeldach des Luftschlittens, der auf seinen Anti-Grav-Triebwerken durch die überfüllten Straßen von Cape City rutschte. Die Farben stammten von blinkenden, leuchtenden, gasgefüllten Röhren und Flüßigkristallanzeigen von Schildern und häuserhohen Bildschirmen mit Werbung. Mara stierte durch die Farben auf die zerstörte Gegend, wo vor einiger Zeit die Mahlstrombrücke vom Himmel gefallen war. »Wie ich höre, will das Konzil den Brückenkopf als Denkmal stehen lassen«, sagte der Fahrer. Mara wandte ihrem Blick von dem verdrehten Metall ab. Obwohl es zerstört war, schien sich seine Oberfläche noch wie das Wasser eine kleines Tümpels zu kräuseln. Und unter der Oberfläche glaubte sie immer noch die gequälten Seelen sehen zu können, die dem Metall seine Form gaben. »Ein Mahnmal für meine Dummheit und all die Qualen und -86-
den Tod, die sie verursacht hat«, sagte sie bedrückt. »Das Konzil hat Sie freigesprochen. Sie sagten, daß es sich nur um einen Zufall gehandelt hat.« »Ja«, sagte sie und erinnerte sich an ihren törichten kindischen Stolz, als ihr Referat veröffentlicht wurde. Sie hatte darin die Hypothese eines kosmoversen Modells vertreten und erklärt, daß das Universum nur ein Kosmos in einem Kosmoversum war, das aus unendlichen Reflexionen einer unendlichen Anzahl von Realitäten bestand. Ihre mathematischen Berechnungen waren fehlerlos, ihre Schlußfolgerungen unwiderlegbar gewesen, aber einen Beweis hatte sie nicht vorlegen können. Ihre Theorie wurde erst bewiesen, als die Mahlstrombrücke in der Stadt landete und der Invasionskrieg begann, ein Krieg, den, Maras Welt gegen Armeen einer dieser Parallelwelten austragen mußte, deren Existenz sie mathematisch dargelegt hatte. Ein handfester Beweis für ihre Theorie. Seither fühlte sie sich schuldig, denn sie fing an zu glauben, daß sie den Invasionskrieg verursacht hatte, weil sie die Möglichkeit anderer Welten angenommen hatte, aus der die Invasoren dann auch gekommen waren. Sie glaubte, daß sie durch das Loch geströmt waren, daß sie mit ihrem Kosmoskop geschaffen hatte. Und deshalb hatte sie den Chip für multidimensionale Physik und den Kosmoversum-Chip in die Schlitze hinter ihrem Ohr gelegt und war in ihre Berechnungen eingetaucht. Als ihre Berechnungen sie zum Auftauchen zwangen, schrieb sie ein neues Papier, in dem sie die volle Verantwortung für den Invasionskrieg übernahm. Aber ihre Neugier zwang sie, wieder in das Kosmoversum zu schauen, und diesmal sah sie eine andere Welt. Aber sie berechnete, daß auch die Sims sie sahen. Wenn sie Kadandra nicht haben konnten, dann würden sie die ahnungslose Welt, die Erde hieß, erobern. Mara schlug vor, daß ein Berater auf diese Welt geschickt -87-
werden sollte, um ihr zu helfen, die Sims zu vertreiben. Mit Hilfe der Mathematik hatte sie eine Möglichkeit errechnet, durch das Kosmoversum zu reisen, indem man sich die Kräfte zunutze machte, die einige Kadrandaner im Verlauf der Simschen Realitätstürme demonstriert hatten. Mit Hilfe der Chips, die Mara entworfen und gefertigt hatte, bauten Dr. Kendall und die anderen Mitglieder ihres Teams eine Maschine, mit der der Ratgeber den irdischen Kosmos erreichen konnte. »Dr. Hachi, können Sie uns einen Kandidaten für diese Aufgabe vorschlagen?« hatte das Weltkonzil sie gefragt. »Mich«, hatte sie geantwortet.
34 Auf einem Felsvorsprung an der Kimberley-Küste von Australien saß ein älterer Aborigine und stierte auf die TimorSee hinaus. An diesem Tag sind die Wellen schwarz und ungestüm, dachte Djilangulyip, sie krachen wütend an Land. Die See klopft an die Tür der Menschen und warnt sie vor Gefahr. Sie aber haben die Fähigkeit zu sehen verlernt. Doch Djil sah, und das machte ihn verantwortlich. Weit draußen auf See, wo die Inselwelt Indonesiens den Wellen Einhalt gebot, war das Böse in die Welt gekommen. Und der Welt gefiel das nicht. Daher rief sie ihre Kinder um Hilfe. Aber die Kinder hatten zu hören verlernt. Aber Djil hörte, und es ängstigte ihn sehr. Er schaute zum Horizont hinaus, und dort, am Rande seines Sichtfeldes, konnte er die Sturmfront sehen, wo die Welt gegen die Invasoren rebellierte. Seine Hände glitten über die Schnur, die er hielt und in die er unbewußt Knoten machte. Er betrachtete das verknotete Seil und wußte, was es ihm sagte. Die Welt mußte dort wieder -88-
zusammengeknotet werden, wo die Invasoren sie aufgefranst hatten, genau wie die Schnur. Aber wie, Welt? fragte er stumm. Wie knotet man die Realität wieder zusammen? Während der langen Nacht dachte er über die Knoten nach.
35 Der Luftschlitten erreichte die Parkgarage der Transfereinrichtung nach drei Sicherheitskontrollen. »Gehen Sie und retten Sie eine Welt«, sagte der Fahrer und schüttelte zum Abschied traurig Maras Hand. »Wenn ich Glück habe«, murmelte sie, weil sie sich an Randin-Sechs erinnerte. »Und entscheiden Sie sich immer für den Fast drop«, grinste er und gab ihr damit den besten Rat, der ihm einfiel. Mara lächelte ihm zu und sagte: »Ist doch das einzige, was man tun kann.« Dann drehte sie sich um und betrat die Haupthalle der Einrichtung, die nur aus einem Grund gebaut worden war: Von hier aus wurde sie in einen anderen Kosmos geschickt. Die Kybertechniker hatten sich in sie eingestöpselt und sie durchgeschüttelt und die Medtechniker in ihr herumgestochert und herumgebohrt. Dann hatten sie sie mit einer Laserpistole und einer Reihe von Modifikationschips ausgestattet, die sie in ihrer Schenkelspeichermulde und in den Taschen ihres Overalls verstaute. Danach wurde sie in die Hauptkammer gebracht. Entlang der Kammerwände waren die anderen kybernetischmodifizierten Freiwilligen in Konsolen eingestöpselt. Ihre Köpfe ruhten auf den Kopfstützen ihrer Sitze. Ihre Augen waren geschlossen, und sie wußte, daß sie in die funkelnde, glitzernde Matrix des Kybernets abgetaucht waren. Ihre bioelektrischen Schaltkreise und ihre logischen Bahnen -89-
verliehen der Transfermaschine die Energie. Aber diese Leute waren noch mit etwas anderem ausgestattet, einer kaum greifbaren Konstanten. Es war ihr zwar gelungen, diese Konstante zu messen, identifizieren konnte sie sie jedoch nicht. Und gerade diese Konstante gab der Maschine den Zusatzantrieb, der sie in eine andere Dimension bringen würde. Sie versuchte, nicht daran zu denken, daß sie auf der Erdenwelt allein sein würde, ohne diese komplizierten Maschinen und die modifizierten Mentalitäten, die ihr allerdings dabei helfen würden, wieder nach Hause zu reisen. Sie nickte Dr. Mikkos zu, der an der Hauptkonsole saß. Aber Alec – Dr. Kendal –war nirgends zu sehen. Das schmerzte sie, aber die Zeit war knapp. Mara beobachte, wie Dr. Mikkos die letzten Codes für den Start eingab. Verabschiedungsszenen konnte er nicht ausstehen, und so ging sie nicht zu ihm hinüber, um adieu zu sagen. Während der Theorie- und Konstruktionsphase des Transfermaschinenprojekts hatte er sie fast behandelt, als wäre sie seine eigene Tochter. Mara, die ihren Vater seit der Scheidung ihrer Eltern nicht mehr gesehen hatte, reagierte auf Dr. Mikkos, wie sie auf ihren richtigen Vater reagiert hätte. Am Abend zuvor hatten sie sich bei einem ruhigen Essen voneinander verabschiedet, und sie beide waren gewillt, es dabei zu belassen. Vielleicht hatten sie auch einfach Angst, daß er sagen könnte: »Geh nicht«, oder daß sie sagen würde: »Ich will nicht gehen.« Mara ging zu der Kyberdrive-Konsole hinüber und steckte ihren rechten Zeigefinger in den Sicherheitsstecker auf der Konsole. Das Implantat in ihrem Ellbogen schickte kodierte Impulse in die Mikrofäden ihres Armes und Fingers, die dem Transfersystem die letzten Informationen durchgaben. In ihrer Hand bebten gerade die letzten elektrischen Impulse, als sie hinter sich ein Geräusch wahrnahm. Ohne den Finger aus dem Stecker zu nehmen, drehte sie sich um, um nachzusehen, was -90-
dort vorging. Dr. Mikkos war über der Tastatur der Hauptkonsole zusammengebrochen. Blut sickerte aus seinem Hals auf die weißen Tasten. Neben dem toten Physiker stand eine der Kreaturen, gegen die sie zwei Jahre lang gekämpft hatte, einer der Dämonen, die über die Mahlstrombrücke gekommen waren, um Chaos und Verwüstung in Maras Welt zu bringen. Ein Sim. Der Sim hatte grausame Gesichtszüge. Seine blauschwarze Haut leuchtete in dem gleißenden, flackernden Lichtschein, der von der Hauptkonsole ausging. Seine Hände hatten Krallen. Von der linken, mit der der Sim Dr. Mikkos Kehle durchgeschnitten hatte, tropfte Blut. Sein rechter Arm war genauso wie bei Mara kybernetisch modifiziert. Die militärische Tunika und Hose, die er trug, wirkten an seiner wilden Gestalt unpassend. »Ich grüße Sie, Dr. Hachi. Erlauben Sie mir, mich vorzustellen«, sagte der Sim. Er verbeugte sich leicht, ohne Mara auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Dabei grinste er heimtückisch. Mara konnte seine gelben, spitz zulaufenden Zähne erkennen. Sie schaute sich nach Hilfe um, aber die Freiwilligen waren allesamt im Kybernet eingeschlossen und bekamen von den Vorgängen in der Kammer nichts mit. Sie wußte, daß keiner der Sicherheitsbeamten mehr am Leben war, wenn der Sim so weit vorgedrungen war. Sie war ganz auf sich selbst gestellt. »Mein Name ist Thratchen. Und ich fürchte, ich muß Sie bitten, von diesem Kontrollpult wegzutreten.« »Warum sollte ich?« fragte Mara. Sie spielte auf Zeit, weil sie hoffte, dadurch etwas über sein Anliegen herauszufinden. »Äh«, lächelte Thratchen, »weil ich von Ihnen – aus erster Hand – erfahren möchte, wie Sie hinter unsere Invasionspläne gekommen sind. Dr. Kendall ist nicht sonderlich kooperativ gewesen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Es ist ihm -91-
gelungen, sein Gehirn abzuschalten, bevor ich mehr als den Standort dieser Einrichtung in Erfahrung bringen konnte. Wirklich, ein bemerkenswerter Mann.« »Alec?« rief Mara erschrocken aus. »Sie haben auch Alec verletzt?« Thratchen zuckte mit den Schultern. »Ich habe sein Gehirn durchforstet. Für den Fall, daß er noch am Leben sein sollte, dürfte er wohl lediglich ein Fleischklumpen sein, der nichts im Kopf hat, worüber sich noch zu sprechen lohnte. Treten Sie jetzt von der Maschine weg!« Der Sim spannte die Muskeln seiner Krallenhand an und trat an die nächste Konsole. Dort musterte er den Hals eines der Freiwilligen. »Sie haben also eine interessante Verwendung für die Stürmer gefunden«, kicherte Thratchen. »Wir sind dazu nicht in der Lage gewesen.« Maras Verstand raste. Sie wußte, daß sie nicht schnell genug an ihre Laserpistole gelangen würde, um die Freiwilligen zu retten. Vielleicht konnte sie nicht einmal sich selbst retten. Mara hatte gegen diese Kreaturen gekämpft und wußte, wie schnell sie waren. Doch vielleicht konnte sie noch eine Welt retten. Sie spannte die Muskeln ihres Arms an und drehte den Finger in dem Sicherheitssteckkontakt herum. Auf den Bildschirmen der Konsolen blitzten Lichter auf, Drucker surrten los, und die Alarmglocken läuteten. Die Einstiegsluke am Transferzylinder sprang auf. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde Thratchens Aufmerksamkeit von ihr und den Freiwilligen abgelenkt. Diese kurze Zeitspanne nutzte Mara aus – sie sprang in den Zylinder und drückte die Luke zu. Thratchen war mit zwei Sätzen bei dem Zylinder und drückte seine beiden Klauen – eine natürliche, eine kybernetische – in den Falz an der Tür. Dann stemmte er die Füße seitlich gegen den Zylinder und spannte seine Muskeln an. Seine -92-
Schultermuskeln, Rückenmuskulatur und die Muskelstränge an seinen Beinen traten heraus und blähten den Stoff seiner Kleidungsstücke auf. Er löste die Tür, als wäre es die weiche Haut einer überreifen Frucht. Aber er kam zu spät – der Zylinder war leer. Dr. Hachi war verschwunden. Thratchen brüllte vor Wut laut auf und sprang mit ausgestreckten Klauen auf den nächsten Freiwilligen zu, dann wieder auf den nächsten und so weiter...
36 Coyote hatte auf dem Beifahrersitz des Lieferwagens Platz genommen. Auf dem Fahrersitz neben ihm schnarchte der Bulle. Es hörte sich tatsächlich so an, als ob jemand Holz sägte, genau wie in den Cartoons. Früher einmal – es war schon eine Kindheit her – hätte er darüber gelacht. Jetzt seufzte er nur. Hinten im Lieferwagen schlief Ratte. Coyote warf einen Blick nach hinten und sah, daß die gelben Augen des Echsenmannes auf ihn gerichtet waren. Ängstlich drehte er sich wieder um und betrachtete die brennende Silhouette von Newark. Er blickte immer nach oben, damit er die Leichen nicht sehen mußte. Von all den vielen Körpern, die den Lieferwagen umgaben, bewegte sich nur eine. Pater Bryce schleppte sich von Leiche zu Leiche und blieb bei jeder kurz stehen, um ein kurzes Gebet zu sprechen und den Segen auszuteilen. Der Junge öffnete langsam die Tür. Auf Fußspitzen ging er den Gestalten aus dem Weg, die überall herumlagen. Er zwang sich, nicht auf ihre aufgerissenen Körper, nicht in ihre glasigen Augen zu blicken. Schließlich hatte er Pater Bryce erreicht. Er blieb gut einen Meter entfernt stehen, weil er die feierliche Zeremonie nicht unterbrechen wollte. -93-
»... Amen«, hörte Coyote schließlich Bryce sagen, und schnell trat er auf ihn zu: »Genug, Pater. Sie haben mehr als ihre Arbeit getan.« Vorsichtig berührte er den Arm des Priesters und brachte ihn zu einem Wagen in der Nähe. Als Bryce stolperte, mußte Coyote feststellen, daß er nicht genug Kraft hatte, sich und den Priester auf den Beinen zu halten. Aber Tal Tu war stark genug. Der Edeinos muß mir vom Lieferwagen aus gefolgt sein, dachte Coyote, als der Echsenmann sie auffing. »Danke, Tal Tu«, sagte Bryce. Seine Stimme kratzte. Der Priester lehnte sich an den Wagen, und Coyote sprang neben ihm auf die Motorhaube. »Wißt ihr«, sagte Bryce nach einer Weile, während er in seinen schwarzen Koffer starrte, »mir sind schon vor Stunden die Hostien ausgegangen.« Es reicht auch, dachte Coyote, sprang vom Wagen hinunter und legte dem Priester erneut die Hand auf den Arm. »Lassen Sie uns gehen, Pater. Es ist an der Zeit, sich ein bißchen auszuruhen.« Der Priester schaute sich ein letztes Mal um und nickte dann. »Ja, ich muß mich ausruhen. Ich bin unendlich müde.« Pater Bryce ließ es zu, daß Coyote ihn zum Lieferwagen zurückbrachte. Tal Tu folgte den beiden.
37 Old Man Baker beobachtete den Mann in Arbeitsschuhen, der dort drüben den Priester und seine Kameraden beobachtete. Früher hatte man ihm nachgesagt, daß er gemein und mürrisch sei, aber jetzt war Old Man Baker einfach nur noch ein alter Mann. Er war gerannt und hatte sich versteckt, als die Dinosauriermänner mit dem Töten anfingen. Er lag auf dem -94-
Boden eines Autowracks und hielt die Augen geschlossen. Aber die Geräusche blieben. Zuerst hörte er die Schreckensschreie der Menschen, ihr ersticktes Schluchzen, ihr unkontrolliertes Gegröle. Dann ertönten die Rufe der Dinosauriermänner und ihr endloser, zischender Gesang. Und schließlich hörte er die Schreie, unzählige menschliche Schmerzensschreie. Die ganze Zeit über betete er, daß die singenden Ungeheuer ihn nicht fanden. Als die Geräusche schließlich verstummten, blieb er mit geschlossenen Augen auf dem Wagenboden liegen und bewegte sich nicht. Old Man Baker würde wahrscheinlich immer noch dort liegen, wenn der Mann mit den Arbeitsschuhen nicht aufgetaucht wäre. Er mußte eine ganze Zeit lang rufen, doch schließlich schlug Baker die Augen auf. Die Autotür neben seinem Kopf stand einen Spalt weit offen, und das erste, was Baker sah, war ein Arbeitsschuh, nur ein paar Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Sein benommener Blick wanderte weiter, und er sah einen großen Mann mit blondem Haar. Auf dem Unterarm des Mannes war eine tätowierte Kobra. Der große Mann half Baker aus dem Wagen und zwang ihn dann, mit ihm durch die Leichen zu gehen. Und so war Old Man Baker gezwungen, den Geräuschen, die er gehört hatte, ein Bild zuzuordnen, aber die Realität war noch viel grauenhafter als das, was er sich zuvor ausgemalt hatte. Während des langen Spaziergangs drehte Old Man Baker sich einmal um, um den blonden Mann anzuschauen. Er sah, wie der grinste und die Wunden der Leichen ganz genau studierte. Daraufhin wandte er sich ab, denn er wußte ganz genau, daß der Blonde diesen gräßlichen Spaziergang genoß. Als der Lieferwagen angefahren kam, zwang der Mann Baker, sich hinter einem Kombi zu verstecken. Dort blieben sie lange Zeit. Der Blonde sah zu, wie der Priester seine Runden drehte. -95-
Der alte Mann beobachtete den Beobachter. Schließlich kehrte der Priester zu seinem Lieferwagen zurück, und der Tätowierte wandte sich an Baker. »Der Priester ist mir ziemlich ähnlich«, flüsterte der Mann. »Er arbeitet mit den Toten, ich arbeite auch mit den Toten. Das ist meine Berufung.« Dann zog er ein langes Jagdmesser aus einer Scheide unter seinem Hosenbein. »Diese Echsenmänner sind Künstler«, fuhr er fort, »jeder Tod ist ein Meisterwerk. Ich bewundere ihren Stil.« Und damit stieß der Mann sein Sägemesser in den Brustkorb von Old Man Baker, drehte das Messer und schnitt ein Loch, das denen der Leichen glich, die hier überall herumlagen. Er lächelte über seine Technik und wischte dann das Messer ab. Das letzte, was der Alte sah, waren metallverstärkte Arbeitsschuhe, die sich entfernten.
38 Rennen. Sehr rasch. Schnell. So schnell er konnte. Er versuchte, Vicky zu finden. Er versuchte, ihnen zu entkommen. Und zu überleben. Rennen. Und andere, die mit ihm rannten. Andere, die er nicht richtig sehen konnte. Wieder andere, deren Namen er nicht kannte. Sie flohen vor dem Flügelschlagen. Dem Geruch von Schwefel und Feuer. Vor den Klauen. Fliehen. Aber etwas rief von oben herunter. Etwas... Wunderbares. Es hatte die Farbe von poliertem Türkis, und es leuchtete von innen heraus. Es hatte die Farbe von leuchtendem Karmesin, das -96-
sich wie Adern durch das Türkis zog. Er mußte dieses wunderbare Ding erreichen. Er wollte sein Lied aus der Nähe hören. Aber die Schwingen waren lauter. Schrecklich laut. Sie erstickten das Lied. Und dann spürte er die Klauen. Decker setzte sich schweißüberströmt in seinem Bett auf, atmete tief durch und beruhigte sich. Der Alptraum verblaßte schon, aber er wußte, daß er nicht so schnell wieder Schlaf finden würde. Er griff nach der Fernsteuerung auf seinem Nachttisch und schaltete den Fernsehapparat an. »Dieser Augenblick vor fast sechsundneunzig Stunden, als jede Verbindung mit New York City abbrach, wird als Tag der Katastrophe in die Geschichte eingehen«, sagte der Nachrichtensprecher, während ein Video vom Shea-Stadion gezeigt wurde, das schließlich einfach abbrach. »Die Katastrophe wurde von dem totalen Ausfall aller Telefonverbindungen und Funksignale begleitet«, fuhr der Nachrichtensprecher fort. »Alle großen Medieneinrichtungen haben von diesem Zeitpunkt an ihre Kommunikationsnetze umstrukturiert, aber vieles ist unwiederbringlich verloren. Aus dem betroffenen Gebiet, das ungefähr sechshundert Meilen im Durchmesser mißt, gibt es auch weiterhin kaum Informationen. Der Präsident und der Vizepräsident werden weiterhin vermißt.« Decker verfolgte die Bilder, ohne die Worte zu hören. In Gedanken ging er noch einmal alle Informationen durch, die er hatte. Er wußte, daß Aufklärungsflugzeuge und Satelliten, die über das Gebiet flogen, ein sechshundert Meilen breites, diamantförmiges Gebiet an der Ostküste ausgemacht hatten, in dem keine elektrische Aktivität nachweisbar war. -97-
Der nationale Notstand war ausgerufen und alle Truppen aufgefordert worden, sich DefCon Zwei anzuschließen. Auch in diesem Augenblick waren Reserveeinheiten, die Nationalgarde und die reguläre Armee auf dem Weg nach Detroit, Cleveland, Pittsburgh, Philadelphia und Washington D. C. unterwegs, um diese Städte zu verteidigen, falls die »Todeszone« sich ausbreiten sollte. Bemühungen, das Shea-Stadion und dessen unmittelbare Umgebung abzufliegen, waren durch einen schweren Sturm vereitelt worden. Decker hatte die Aufnahmen genau studiert, aber er konnte sich auf das, was er sah, keinen Reim machen. Er hatte die letzten Gesprächsaufzeichnungen der beiden Einheiten der Nationalgarde abgehört, die an jenem ersten Tag auf Truppenmanöver gewesen waren. Aber deren letzter Bericht war merkwürdig. Der Funker hatte durchgegeben, daß eine Reihe »großer Echsen« unweit von ihnen Stellung bezogen hätte. Dann wurde die Verbindung unterbrochen, und die Einheiten gaben seither keinen Ton mehr von sich. Städte und Dörfer entlang der Toten Zone wurden seit Tagen von unzähligen Flüchtlingen heimgesucht. Diese Leute erzählten allesamt Geschichten von Freunden und Verwandten, die sich wie Wilde gebärdeten, von riesigen Dinosauriern, die Autos und Gebäude zertrampelten, und von Echsenmännern, die aus purer Freude töteten. Aber jeder Versuch, diese Berichte mit Aufklärungshubschraubern und dem Einsatz von Sondereinheiten zu überprüfen, schlug fehl. Hubschrauber und Flugzeuge, die zu tief flogen, hatten Energieausfälle und stürzten ab. Der Kontakt zu Soldaten, die in in der Toten Zone absprangen, wurde gleich darauf unterbrochen. Decker wußte nicht, was er von den unzähligen Theorien halten sollte, die verbreitet wurden, aber eines war sicher: Etwas Schreckliches geschah in der sechshundert Meilen breiten Zone -98-
des Schweigens. Schließlich schlief er wieder ein, doch Hunderte von Fragen gingen ihm durch den Kopf. Und er hatte nicht eine einzige Antwort.
39 Am Morgen des fünften Tages, nachdem Baruk Kaah seinen Klauenfuß auf die Erde gesetzt hatte, stand Sergeant Richard Macklin von der Royal Canadian Mounted Police am Südufer des Mackenzies und hielt sein Pferd an den Zügeln fest, während er auf die Fähre wartete, die träge über das Wasser glitt. Zerrissene Fragmente schwarzer Wolken zogen schnell am klaren, blauen Himmel vorbei. Macklin zitterte unwillkürlich, als er merkte, daß sich noch dunklere Wolken am Horizont formierten. Das Pferd wieherte und scharrte mit seinem rechten Vorderhuf im losen Kreis an der Anlegestelle. Macklin beruhigte es mit einem Streicheln. Wieder blickte er zum Himmel hoch und sah, daß sich die Wolken über ihm zusammengebraut und den Tag in Nacht verwandelt hatten. »Na, da kommt ja ein gewaltiger Sturm auf uns zu«, sagte der Sergeant laut. Ein tosender Donner rollte schnell über den Fluß und war wenige Sekunden später schon wieder verstummt. Macklin war irritiert, weil es hier eigentlich kein Gewitter gab. Er wandte den Kopf, um wieder über den Fluß zu schauen. Der Anleger auf der anderen Flußseite war nicht mehr da. Die Gebäude daneben waren nicht mehr da. Die kleine Stadt wurde von einem riesigen Stengel verdeckt, der eine halbe Meile breit war, sich in einem sanften Bogen nach oben reckte und weit oben im dunklen Himmel verschwand. Die Motorengeräusche der Fähre verstummten. Das Schiff -99-
kam nicht mehr gegen den Strom an und trieb langsam flußabwärts. Die Fähre war immer noch so nah, daß Macklin das Indianergesicht des Fährmanns im Ruderhaus erkennen konnte. Die Gesichter der beiden Deckshelfer konnte er ebenfalls sehen. Der Steuermann, der nicht wußte, was um ihn herum vorging, sprang behend aus dem Ruderhaus, rannte zur hinteren Reling und betrachtete wie gebannt den riesigen Stengel, der in Fort Providence eingeschlagen war. Auch die Augen der Deckshelfer klebten an dem Stengel. Doch nun erkannten sie, daß es sich in Wirklichkeit um Hunderte von Ästen, Zweigen und Blätter handelte, die ineinander verwoben waren. Als das Boot weiter flußabwärts trieb, sprangen sie über die Reling und versuchten, zum Nordufer des Flusses zu schwimmen. Doch die Strömung trug sie schnell weg. »Zur Hölle, was geht hier vor?« fragte Macklin das Pferd. Das Tier bäumte sich auf und wollte die Flucht ergreifen. Mit der linken Hand zog Macklin an den Zügeln, griff dann nach der Mähne und zog sich hoch. Nachdem er bequem im Sattel saß und die Füße in die Steigbügel geschoben hatte, fiel es ihm leichter, das verängstigte Tier in Zaum zu halten. Er starrte zur Pflanzenbrücke hinüber und sah, wie merkwürdige Wesen hinuntergestiegen kamen. Was Macklin für Menschen gehalten hatte, war offenbar eine Art Reptilien. Aber Macklin entdeckte auch haarige, elefantenartige Biester mit Stoßzähnen, die große Bahren zogen. Und die vielen Reptilienwesen wurden von großen, goldbraunen Kreaturen begleitet, die sich mit der geschmeidigen Grazie von Löwen bewegten. Ein paar Echsen ritten außerdem auf einhörnigen Biestern, die wie Dinosaurier aussahen. Macklins Pferd fing an, mit den Zähnen zu mahlen, zu stampfen und zu tänzeln. Um das Pferd zu beruhigen, ließ Macklin es ein kurzes Stück am Flußufer auf und ab gehen, aber -100-
die ganze Zeit über behielt er das Treiben bei der zerstörten Stadt im Auge. Er sah auch, daß sich ein Teil der Kreaturen vom Fluß entfernte. »Sachte, Junge«, flüsterte Macklin dem Pferd zu. Er wußte, daß die Männer unten im Hay-River-Posten Einzelheiten hören wollten und auf eine Panikgeschichte über Echsenmänner, Mammute, Säbelzahntiger und Dinosaurier, die am Mackenzie ihr Lager aufgeschlagen hatten, verzichten konnten. Nach einer Weile wurde Macklin bewußt, daß am anderen Flußufer eine Kreatur stand, die ihn beobachtete. Ihr intensives Interesse an ihm war nicht zu übersehen. Auf einmal winkte der Saurier mit einem klauenartigen Gliedmaß und zeigte nach hinten, als riefe er jemanden herbei. Leise schwangen sich in der Ferne zwei geflügelte Reptilien in die Luft und flogen auf Macklin zu. »Scheiße«, fluchte Macklin. »Es ist wohl an der Zeit, Bericht zu erstatten.« Er lenkte sein Pferd nach rechts und galoppierte flußabwärts. Dabei schlug er den kürzeren Weg ein, der quer übers Land nach Hay River führte. Seine Dienstpistole hatte er schon gezogen, als die erste Echse mit Flügeln ihn erreichte. Macklin drehte sich auf dem Sattel um und sah, daß auf der geflügelten Kreatur ein Echsenmann mit einem Speer in der Hand ritt. Mit ausgestrecktem Arm zielte Macklin und drückte ab. Der Rückschlag riß seine Hand nach oben, und der Knall hallte vom Fluß wider. Der Echsenmann schrie laut auf, fiel zu Boden, krachte auf einen Felsblock und blieb regungslos liegen. Macklin galoppierte weiter. Das zweite Reptil flog einen hohen Borgen und war dann plötzlich über Macklin. Es legte plötzlich die lederartigen Schwingen an und stürzte wie ein Adler auf Macklin nieder. Die Fußkrallen waren gespreizt und fangbereit. Macklin traf erst mit dem zweiten Schuß. Die Kugel drang in den Schädel der Kreatur -101-
ein. Doch bevor das sterbende Flügelreptil auf dem Boden landete, warf der Echsenmann seinen Speer. Das Wurfgeschoß drang tief in die Brust des Pferdes ein. Die Vorderläufe des Tieres knickten ein, und es stürzte vornüber. Macklin ließ seine Pistole los, die durch eine Kordel gesichert war, und zog mit aller Kraft an den Zügeln, um den Sturz noch abzufangen. Doch das Pferd fiel. Macklin riß die Füße aus den Steigbügeln und purzelte über den Hals und Kopf des Pferdes, als es zusammenbrach. Macklin hatte sich gerade auf einem Knie niedergelassen, als ihm ein reißender Schmerz durch die linke Schulter fuhr. Unter Qualen erhob er sich, brach aber bald wieder zusammen. Dann fand er seine Pistole wieder und wartete. Er konnte sehen, wo das Reptil gelandet war, aber von dem Echsenmann gab es keine Spur. Er verfluchte sich, daß er ihn aus dem Blick verloren hatte, als das Pferd gestürzt war. Macklin mußte jedoch nicht lange warten. Nur einen Augenblick später tauchte er hinter einem Felsblock auf. Er brüllte vor Freude und rannte auf ihn zu. Macklin zielte und feuerte, doch seine Schmerzen waren so stark, daß er sein Ziel verfehlte. Wieder schoß er, diesmal aus kürzerer Entfernung. Die Kugel drang in den linken Arm des Echsenmenschen, aber das beeindruckte ihn nicht. Wenn die Kugel überhaupt eine Wirkung zeigte, dann schien der Echsenmann den Schmerz zu genießen. »Wo die herkam, da gibt’s noch mehr, Monster«, fluchte Macklin durch die zusammengebissenen Zähne. Der stechende Schmerz beeinträchtigte jedoch sein Konzentrationsvermögen. Daher gingen die nächsten beiden Schüsse voll daneben. Und dann war der Echsenmann über ihm. Er drückte die Hand hinunter, in der die Pistole lag, und Macklins letzter Schuß riß die Erde auf. Während der -102-
Echsenmann sich mit Macklins Körper vergnügte, landete das Flugreptil auf dem Pferd und riß ihm langsam den Hals auf. Die Invasion ging weiter und hörte erst ein paar Tage später auf. Fünf Edeinosstämme drangen von Fort Providence in nordwestlicher und nordöstlicher Richtung vor. Sie wanderten achtzig Meilen weit auf die Provinzhauptstadt Yellowknife zu. Bisher hatten sie noch keine Furt über den Mackenzie gefunden. Doch sie würden eine finden, und dann würden sich die Edeinos auch im Norden weiter ausbreiten. Als die Beschwörer sich mit den Bäumen und anderen Lebewesen der Natur verbanden, floß der Glaube der Jakatts in das Land und machte es zu ihrem und Lanalas Land. Die wenigen Indianer, die noch in diesem Gebiet lebten, nahmen schnell den Glauben der Neuankömmlinge an. In ihren Köpfen war das Leben immer so gewesen und würde immer so sein. Falls einer der Einheimischen jemals gemeint hatte, daß Götter andere Namen und eine andere Gestalt hätten, dann wußte er jetzt, daß die Götter Götter waren und sich verhielten, wie es ihnen gerade paßte. Nachdem sie sich niedergelassen hatten, bearbeiteten die Edeinos und ihre neuen Stammesmitglieder das Land, um Gospog auszusäen. Denn das entsprach dem Willen ihres Saar, Baruk Kaah.
40 In Trenton stießen Pater Bryce und seine Kameraden auf andere Flüchtlinge. Sie flohen vor dem Wahnsinn, der in New York wütete, und vor den plündernden Echsen. Auf den Straßen waren nun auch andere Fahrzeuge unterwegs. Insofern fiel der Lieferwagen nicht mehr so auf wie in Manhattan oder Newark. Die Gruppe beschloß, Tal Tu sicherheitshalber vor den Flüchtigen zu verstecken. -103-
In Bristol fuhr Alder an eine Tankstelle, die auch einen Kiosk hatte. Die Tankstelle wirkte verlassen. Aber Alder hielt trotzdem neben den Zapfsäulen und schaltete den Motor aus. »Wir haben nicht mehr viel Benzin«, sagte er, »und wer weiß, vielleicht ist in den Dingern ja noch was drin. Wir werden’s erst wissen, wenn wir’s probiert haben.« Inzwischen musterte Coyote den Kiosk. Die Fenster waren eingeschlagen, und sicherlich fehlte ein Großteil des Warensortiments. Coyote zuckte mit den Schultern. »Wir werden’s erst wissen, wenn wir’s probiert haben.« Alder lächelte, und Coyote, Ratte und Tal Tu rannten hinüber, um einen Blick in den kleinen Laden zu werfen. Doch Bryce fiel etwas weitaus Wichtigeres auf. Auf der anderen Straßenseite war ein Spirituosengeschäft. Es war in einem weit schlimmeren Zustand als der Kiosk. Dennoch war es möglich, daß drinnen noch was zu finden war. Der Priester lief hinüber. »Wo wollen Sie hin, Pater?« fragte Alder, während er die Zapfsäulen und Einfüllstutzen untersuchte. »Ich habe keinen Wein mehr«, rief Bryce hinüber. »Wie soll ich ohne Wein und Hostien den Sterbenden Trost spenden?« In dem Spirituosengeschäft herrschte ein riesiges Durcheinander. Bryce schritt vorsichtig durch das ausgeräumte Gebäude und lief um die Glasscherben und umgekippten Regale herum. Schluck um Schluck, dachte er, hatte der gesegnete Wein, den er in seinem Koffer mit sich trug, die Lippen der Sterbenden benetzt. Und jetzt war nichts mehr übrig. Wenn er etwas finden könnte, das ihm als Ersatz dienen konnte, dann würde er sich weitaus besser fühlen. Plötzlich entdeckte er eine Flasche, die noch heil war, eine Flasche Mögen David. -104-
»Die werde ich nehmen.« Die Stimme erschreckte den Priester, doch obwohl seine Hände zitterten, gelang es ihm, die Flasche festzuhalten. Dann drehte er sich um. Im kaputten Türrahmen stand ein großer, blonder Mann in verschmutzter Arbeitskleidung und mit schweren Arbeitsschuhen. Auf seinen rechten Unterarm war eine Kobra tätowiert, und in der Hand hielt der Mann ein großes, gezahntes Jagdmesser. »Los«, sagte der Mann, »oder wollen Sie, daß ich Sie aufschlitze?« Stotternd versuchte Bryce zu erklären, wozu er die Flasche brauchte, aber über seine Lippen kam nur unzusammenhängendes Gebrabbel. »Vielleicht werde ich Sie ohnehin aufschlitzen«, sagte der Mann und kam auf Bryce zu. Bryce schaute ihm in die Augen und sah bodenlose Seen von Wahnsinn, die ihn mehr ängstigten als jede Waffe. Hastig reichte er dem Mann die Flasche. Der studierte das Flaschenetikett ein paar Minuten lang, dann fiel sein Blick auf Bryces verdreckten, weißen Priesterkragen, der aus dem Mantel herausschaute. »Sie sind der Priester«, rief der Mann plötzlich. Bryce nickte nur, denn es gelang ihm noch immer nicht, die richtigen Worte zu finden, und er hatte keine Ahnung, woher ihn der Mann kannte. »Ich habe noch nie einen Priester abgemurkst«, sagte der Mann, und Bryce war sich sicher, daß seine Augen dabei aufleuchteten. »Aber ich will es nicht mit all Ihren Freunden aufnehmen.« Er reichte Bryce die Flasche. »Nehmen Sie sie und verschwinden Sie von hier, Pater.« -105-
Als Bryce vorsichtig an dem Tätowierten vorbeilief, sagte der Mann: »Wir sind uns ganz schön ähnlich, Vater. Wir beide schicken die Menschen heim.« Sein Blick streifte wieder die Flasche in Bryces Hand. »Ich hoffe, daß er jemandem guttut«, fügte er dann noch hinzu. Das hoffe ich auch, dachte Bryce, als er das Etikett auf der Flasche ansah. Vielleicht war es gar keine schlechte Idee, die Menschen mit so einem süßen Zeug auf den Weg zu schicken. »Vielleicht werden wir es nächstes Mal auf die andere Tour durchziehen, Vater«, rief der Mann Bryce noch hinterher, doch der ignorierte die Bemerkung, lief weiter und hoffte, daß der tätowierte Mann nicht erkennen konnte, wie sehr er zitterte. Die anderen saßen bereits im Lieferwagen. Bryce kletterte hinein. Er war sich nicht sicher, ob er von seiner Begegnung erzählen sollte. »Pater«, sagte Ratte, »Tal Tu hat was für Sie.« Überrascht nahm der Priester den kleinen Karton entgegen, den der Echsenmann ihm reichte. Es war eine Schachtel Cracker. »Hostien«, sagte Tal Tu, und der Priester lächelte. Den Zwischenfall im Spirituosengeschäft hatte er bereits vergessen.
41 Hauptmann Ondarew fuhr in einem Lastwagen durch die Felder und Wälder in der Umgebung von Gorki. Er konzentrierte sich auf die Straße und auf die junge Frau neben ihm. Katrina Towarisch saß ganz aufrecht auf dem Beifahrersitz, die blinden Augen hatte sie auf den Horizont gerichtet. Den Kopf hielt sie leicht schräg geneigt, als ob sie irgend etwas hören würde. Ondarew bewunderte ihre Schönheit, die dadurch betont wurde, daß sie richtige Kleider und nicht mehr das -106-
Krankenhausnachthemd trug. Seit dem Zeitpunkt, als Katrina ihn angewiesen hatte, in Richtung Norden nach Kirow zu fahren, hatte sie nicht mehr gesprochen. Jetzt folgte er einfach den Straßen oder steuerte den Lastwagen über die leeren Felder, auf der Suche nach irgend etwas, von dem Katrina wußte, daß es dort draußen war. Was oder wo es war, war immer noch ein Geheimnis. Er hoffte nur, daß sie ihn wirklich dorthin lotsen konnte. »Halt, Hauptmann Ondarew«, sagte Katrina plötzlich. Ondarew bremste hastig. Er wandte sich ihr zu und wollte sie fragen, was los war, aber sie stieg schon aus. Er sprang aus dem Wagen und lief zu ihr hinüber. Er wollte ihr helfen, doch sie brauchte das nicht. Sie legte die Hand auf die Motorhaube des Lastwagens, fühlte die Wärme und Vibrationen des Motors und wandte ihren Kopf nach links. Er bildete sich ein, spüren zu können, wie ihr Verstand arbeitete und sie ihre Sinne einsetzte. »Ich weiß, daß Sie meine Hilfe bezweifeln, Hauptmann«, sagte Katrina, »aber falls Sie sich dadurch besser fühlen, kann ich Ihnen sagen, daß ich Ihnen nicht wirklich behilflich bin.« »Wem helfen Sie denn, Katrina Towarisch?« Die junge Frau zögerte und zeigte auf einmal einen Hauch Unsicherheit. »Ich bin mir nicht sicher, aber ich höre ihren Schmerz und ihre Angst. Sie ruft nach mir. Sie hat solche Angst vor den Invasoren. Ihr helfe ich, Hauptmann, einer Stimme, die keine Stimme ist, ein Hilfeschrei, den nur ich hören kann.« Ondarew begriff nicht, wovon die junge Frau sprach, aber die Art und Weise, wie sie redete, überzeugte ihn davon, daß sie weder ein Scharlatan noch eine Schwindlerin war. »Dort draußen, Hauptmann«, sagte Katrina und zeigte auf das offene Feld vor ihnen. »Dort werden wir es finden.« »Was finden?« -107-
Katrina zögerte und suchte nach Worten, um das zu beschreiben, was sie im Geiste sah. »Das... fremdartige Wesen. Es ist dort draußen und wartet auf den Sturm, um ihn hierher zu führen. Es handelt sich... um irgendeinen Wegweiser oder vielleicht auch um einen Götzen. Es widersetzt sich meinen Anstrengungen und läßt sich nicht genauer untersuchen. Es versucht sich zu versteckten.« »Dann ist es an der Zeit, die Suchmannschaft ins Spiel zu bringen«, sagte Ondarew und griff nach seinem Funkgerät. Während er die Meldung durchgab, sah er dunkle Wolken am Horizont auftauchen.
42 Pater Christopher Bryce betrachtete die Menschenmenge, die sich auf den Straßen und Gehsteigen tummelte, während Alder den Lieferwagen durch Philadelphia steuerte. Dies ist die Stadt der Flüchtlinge, dachte er, und wir sind hierher gekommen, um uns in dieser überfüllten, dreckigen, wunderhübschen Bastion der Zivilisation diesen Menschen anzuschließen. Auf der Fahrt hierher waren sie nur langsam vorangekommen, denn er hatte Alder immer wieder anhalten lassen, damit er anderen Reisenden helfen konnte. Bryce trug immer noch seine schwarze Jesuitentracht. Nach allem, was sich ereignet hatte, fragte er sich, warum er immer noch eine Soutane trug. Und dann lächelte er müde. Gerade deswegen trug er sie noch. Was war alles geschehen! Er hatte die Zerstörung von New York mitverfolgt, war vor Dinosauriern und Verrückten geflohen und reiste nun mit einem New Yorker Polizisten, zwei Straßenjungen und einem abtrünnigen Edeinos durchs Land! -108-
Bryce griff nach dem schwarzen Koffer neben seinen Füßen. Als er sich bückte, wurde ihm schwindelig. Die Müdigkeit, der Schlafmangel und die Gebete bei so vielen Sterbenden hatte ihn ausgelaugt. Sieben Tage waren seit der Invasion von New York vergangen. Sieben Tage war es her, seit der Regen eingesetzt hatte. Er und seine Kameraden hatten sich fast pausenlos um die Verwundeten und Sterbenden gekümmert. »Selbst Gott hat am siebten Tag geruht«, murmelte Bryce scherzend. »Haben Sie was gesagt, Vater?« fragte Alder. Bryce antwortete ihm nicht. Sie waren müde, durchnäßt und unsicher, wie ihr nächster Schritt aussehen sollte, und auf einmal wirkte sein Humor fehl am Platz. »Was bedeutet Christopher, Pater?« fragte Tal Tu, der hinten im Lieferwagen saß. Nach dieser relativ kurzen Zeit beherrschte er ihre Sprache schon sehr gut, doch der Edeinos hatte erklärt, daß es sich dabei weniger um eine angeborene Fähigkeit handelte, als um die Konditionierung durch seine ehemaligen Hohenpriester. »Der, der Christus gebracht hat«, sagte Bryce. Bei diesen Worten wurden Bilder der Vergangenheit heraufbeschworen. Christusbringer. Er hatte Christus schon zu mehr sterbenden Seelen gebracht, als er es jemals erwartet hatte. Und jetzt war er hier, in Philadelphia, und wußte nicht, wohin er sie schicken sollte. Er wußte nicht, wer auf der anderen Seite dieses dünnen Schleiers wartete, der sich Leben nannte. Seine Gedanken purzelten weiter, aber er registrierte dennoch, was sich draußen auf der Straße abspielte. Bryce sah, wie ein blauer Ford in hohem Tempo auf die Kreuzung vor ihnen rauschte. Er hörte, wie die Bremsen des Lieferwagens quietschten, und hörte, wie Alder »Festhalten« rief. Er beobachtete, wie der Ford ihren Kühlergrill nur um wenige -109-
Zentimeter verpaßte und durch die tiefen Pfützen rauschte, daß das Wasser hochspritzte. Er hörte Schreie und ein beängstigendes dumpfes Geräusch, und dann hörte er, wie der Ford abdrehte. Kurz darauf verhallte das Motorengeräusch. Weder Alder noch Bryce bewegten sich, so erstaunt waren sie. Der ganze Vorfall hatte nur wenige Sekunden gedauert. Doch Ratte und Coyote rissen gleich die Seitentür auf, sprangen auf den Bürgersteig und rannten los, um nachzusehen, welchen Schaden der Wagen angerichtet hatte. Alder drehte sich um, um Tal Tu zurückzuhalten, denn er war sich sicher, daß die Menschenmenge in Panik geraten würde, wenn sie den Echsenmann zu Gesicht bekam. Bryce schnappte seinen schwarzen Koffer und folgte den Jugendlichen. Die drei zwängten sich durch einen Kreis, der sich um eine Frau auf dem kalten, nassen Asphalt gebildet hatte. Ihr Körper wirkte merkwürdig verdreht, und Blut sickerte in ihr langes, dunkles Haar. »Das war ein Unfall mit Fahrerflucht«, sagte Ratte traurig. »Wenn wir nicht bald was tun, dann ist sie tot«, rief Coyote und trat näher, um das Opfer genauer zu betrachten. Bryce betete zu Gott, daß er nicht auch diese Person mit einem Cracker auf den Weg schicken mußte.
43 Andrew Decker wartete darauf, daß die Lampen im Saal ausgingen. Heute würden sie Bildmaterial aus Kalifornien zu sehen bekommen, das dem Kongreß erlauben würde, mit Fakten anstatt aufgrund von Spekulationen weiterzuarbeiten. Der Kongreßabgeordnete beobachtete, wie Jonathan Wells seinen Platz einnahm. Es war der Platz, von dem aus der Präsident gewöhnlich seine Ansprachen vor dem Kongreß und dem Senat -110-
hielt. Decker hoffte nur, daß die Nation sich in einem besseren Zustand befand, als es den Anschein hatte. »Werte Kongreßmitglieder«, begann Wells, »vor ein paar Stunden ist die Gegend um Sacramento, Kalifornien, von denselben Kreaturen überfallen worden, die den Berichten nach den Nordosten unseres Landes angegriffen hatten. Die Vereinigten Staaten werden angegriffen. Der Film, den Sie jetzt sehen werden, wurde von Captain Eugene Johnson vom Flugzeug aus aufgenommen. Captain Johnson wird ein paar Dinge erläutern, während der Film abgespielt wird. Bitte wenden Sie Ihren Blick den Monitoren zu.« Die erste Szene, die auf den Bildschirmen zu sehen war, zeigte einen dunklen, wolkenverhangenen Himmel. Die Wolken explodierten silbern, als Blitze in ihnen aufleuchteten. »Ich flog gerade den Luftstützpunkt McClellan an, als ich bemerkte, daß sich am Horizont ein Sturm zusammenbraute«, erklärte Captain Johnson. »Er war sehr stark und intensiv, und ich dachte mir, die Jungs im Labor würden sich über ein paar aktuelle Bilder freuen, deshalb schaltete ich die Kamera ein.« Riesige, krachende Blitze sausten durch den Himmel. Der Wind wurde stärker, und das Flugzeug schwankte. Die nächsten Sekunden waren die Bilder verschwommen. Und dann sah man eine wirbelnde Energiewelle über der Erde, der ein Dschungel mutierter Gewächse folgte. »Von diesem Augenblick an war ich ziemlich verwirrt und mehr als nur ein bißchen erschrocken. Das war kein normaler Sturm mehr. Aber ich hatte keine Zeit, meinen Gefühlen nachzuhängen, denn in diesem Moment versagte der Motor. Ungefähr zwanzig Sekunden lang kämpfte ich mit den Kontrollen herum und versuchte, die Maschinen und Instrumente zu irgendeiner Reaktion zu zwingen. Das Flugzeug sackte ab. Und außerhalb des Cockpits wütete der Sturm.« Die Bilder auf den Monitoren bewegten sich wieder, wurden -111-
schwarz, zeigten atmosphärische Störungen und dann den mutierten Dschungel. Der Film zeigte, daß das Flugzeug ganz in der Nähe des Dschungels war und in einem seltsamen Winkel flog. »Nachdem ich ungefähr zweitausend Fuß abgesackt war, gelang es mir, die Motoren wieder anzulassen. Jetzt konnte ich mich wieder auf das konzentrieren, was um mich herum geschah. Das Bild, das Sie jetzt gerade sehen, ist eine Nahaufnahme dessen, was ich die ›Dschungelbrücke‹ nenne. Sie fiel durch ein Loch in den Wolken und landete dicht bei McClellan auf der Erde. Sie war über eine halbe Meile breit, und Pflanzen und Äste wucherten nach unten, bis ein Weg zum Boden geebnet war.« Die Kamera wirbelte herum, als das Flugzeug den Horizontalflug verließ. Auf einmal konnte man eine Menge Dinosaurier sehen, verschiedene Arten riesiger Echsen, die über die Dschungelbrücke liefen. Eine der Flugechsen stürzte sich von der Brücke und hielt direkt auf die Kamera zu. Auf ihrem Rücken saß ein kleinerer, menschenähnlicher Echsenmann, der den Flug zu steuern schien. Bevor die beiden fremdartigen Wesen näher kommen konnten, feuerte die Bordwaffe des Flugzeugs eine Reihe Schüsse ab, die die Echsen in Stücke rissen. Dann wurden die Bildschirme schwarz, und die Lampen im Saal gingen wieder an. »Man hatte uns kurz über das informiert, was sich in New York zugetragen hatte, und ich habe den Eindruck, daß diese Erscheinung ähnlicher Natur ist«, fuhr Johnson fort. »Ich habe über der Brücke meine Bomben abgeworfen und bin dann weiter nach Süden geflogen. Schließlich verließ ich die stille Zone und erstattete in dem Lemoore Naval Luftstützpunkt zum ersten Mal Bericht.« Fast gleichzeitig fingen alle im Saal zu sprechen an. Sie stellten ihre Fragen und verlangten, daß man endlich handelte. Wells bat um Ruhe und sagte dann: »Sie haben jetzt gesehen, -112-
womit wir es zu tun haben. Genau wie an der Ostküste ist zu einem dreihundert Meilen großen Gebiet in Kalifornien jede Verbindung unterbrochen. Wir müssen davon ausgehen, daß das Bildmaterial und der Augenzeugenbericht von Captain Johnson etwas Ähnliches widerspiegelt, wie es vor sieben Tagen in New York geschehen ist. Ich habe schon angeordnet, daß die bewaffneten Streitkräfte mobilmachen.« Wells machte eine Pause und fuhr dann fort: »Meine Damen und Herren, ich bin für andere Vorschläge offen.«
44 Schwingtüren gingen auf. Ein Arzt und eine Krankenschwester kümmerten sich bereits um die junge Frau auf der Krankenbahre, während Alder die Bahre noch durch die Korridore des University of Pennsylvania Krankenhauses schob. Bryce bemühte sich vergeblich, mit dem Polizisten Schritt zu halten. Coyote, Ratte und Tal Tu hatten sie im Lieferwagen zurückgelassen. Alder hatte ihnen aufgetragen, im Fahrzeug zu bleiben, während er und Bryce das Unfallopfer schleunigst ins Hospital brachten. Im Operationssaal trat Bryce beiseite, damit der Arzt ungehindert arbeiten konnte. Er entdeckte dabei sein Spiegelbild auf einem Gefäß aus rostfreiem Edelstahl. Das Spiegelbild zeigte ihn so, wie er sich fühlte. Er sah scheußlich aus. Nicht genug Schlaf, nicht genug Essen und zu viele geistliche Aufgaben. All das zusammen forderte von Pater Bryce Tribut. Rufe von dem Operationstisch rissen Bryce aus seiner Selbstbetrachtung. »Schwere Kopf- und Rückenverletzung«, sagte der Doktor. »Ihr autonisches System bricht zusammen.« -113-
Bei diesen Worten machte Bryces Herz einen Satz. Die Monitore, an die die Frau angeschlossen war, zeichneten ihre Körperfunktionen auf, aber die unregelmäßigen Piepser deuteten an, daß sie schwächer wurde. Weil er etwas tun mußte, schaute er in die Brieftasche der jungen Frau. Nach ihrem Führerschein hieß sie Wendy Miller und war sechsundzwanzig Jahre alt. Er betrachtete das lächelnde Gesicht auf dem Foto und blickte dann zu der sterbenden Frau hinüber. Wendy Miller sollte auf den Beinen sein, lachen und das Beste aus ihrem Leben machen, anstatt in einem überfüllten Krankenhaus um ihr Leben zu kämpfen. Sie hatte glänzendes, haselnußbraunes Haar, das ihr, wenn sie stand, wahrscheinlich bis über die Schultern fiel. Aber sie stand eben nicht. Sie lag auf einem Tisch, ihr Haar war blutverschmiert und klebte an ihrem Kopf fest. »Wir verlieren sie«, fluchte der Arzt, der alles versuchte, um ihren Zustand zu stabilisieren. Bryce studierte die Frau aus der Nähe. Sie hatte eine bräunliche Haut, ihre Augenbrauen waren gerade und dunkel und ihre Nase lang und schmal. Sie hatte ein markantes, kantiges Kinn und einen breiten Mund mit vollen Lippen. Ihr Körper verriet, daß sie viel Sport trieb. Aber nichts in der Welt konnte einen Wagen daran hindern, einen Menschen umzufahren und zu töten. »Vater«, rief der Arzt leise, »wir brauchen Sie.« Bryce kam näher. Die Monitore piepsten hektisch. Wendy Miller war tot. »Wir haben sie verloren, Vater. Die Verletzungen sind einfach zu gravierend gewesen.« Der Priester blickte auf die junge Frau und versuchte, seine Gefühle hinunterzuschlucken. Er mußte ihr die Sterbesakramente spenden, bevor er trauern konnte. -114-
Er wollte seinen schwarzen Koffer öffnen, hielt aber plötzlich inne. »Nein«, flüsterte er. Dann lauter: »Nein!« Bryce machte den Koffer wieder zu. »Keine weiteren Toten mehr!« Dann wandte er sich der Frau auf dem Tisch zu. »Leben Sie!« rief er, packte ihre Arme und schüttelte sie, als wolle er sie aus dem Schlaf reißen. »Sterben Sie nicht! Bitte, sterben Sie nicht!«
45 »Tolwyn. Ich heiße Tolwyn.« Sie verspürte eine gewaltige Freude darüber, daß sie sich an so etwas Gewöhnliches wie ihren Namen erinnern konnte. Sie schwebte immer noch neben dem Licht, und die Dunkelheit lauerte noch in ihrer Nähe. Aber sonst hatte sich nichts verändert, seit der Sog nachgelassen hatte. Bis jetzt. Jetzt hatte sie einen Namen, der ihr eine Identität gab und sie wirklicher machte. Und während sie den warmen Lichtschein betrachtete, tauchte etwas anderes auf. Neben ihr schwebte ein kleiner Gegenstand im Licht. Und während sie entzückt hinsah, entfaltete sich der Gegenstand. Er verwandelte sich in eine Blume, deren Blätter sich vor ihren Augen entfalteten. Es handelte sich um eine der seltenen Crys-Blumen, die es dort gab, wo sie herkam. In ihrer Heimat. Sie streckte die Hand aus und nahm die zarte Pflanze in die Hand. Sie bewunderte die überhängenden Blütenblätter, die türkis leuchteten und durch die zinnoberrote Adern liefen. Sie hielt sie sich vor das Gesicht und atmete den Geruch von offenen Feldern und strahlendem Sonnenschein ein. Es war der Geruch eines Sommertages, so voll von Versprechungen, daß -115-
ihr Herz schmerzte. Der Geruch machte ihren Kopf klar, und ihr fiel ein, was noch zu tun war. Nicht deutlich, nicht in voller Gänze, aber doch so, daß sie wußte, weshalb sie noch nicht in den dunklen Bereich eindringen konnte. »Sie brauchen mich«, flüsterte sie, »sie haben mich weggeschickt, damit ich zurückkehren und ihnen helfen kann. Ihnen helfen...« Dann wurde der Tunnel größer und länger, und sie ging den Weg zurück, den sie gekommen war, und raste durch die Dunkelheit. Schützend schloß sie die Blume in ihrer Hand ein. Dieses Geschenk wollte sie um keinen Preis verlieren. Sie flog zurück, immer weiter zurück, schneller und schneller, bis der Tunnel nur noch ein verschwommener, schwarzer Fleck war. Der nahm bald wieder Gestalt an, und sie rannte mit bloßen Füßen in kurzem Rock über Felder, die mit den Crys-Blumen übersät waren, durch Grünanlagen, die zum Hof eines Schlosses gehörten, rannte durch Flure und Korridore, stürmte die ausgetretenen Steinstufen in diesem Schloß hoch und hinunter, tanzte zwischen Gruppen von älteren Menschen hindurch, die sich schwerfällig bewegten und die Flure und Wege versperrten. Ihre buntleuchtenden Roben und Umhänge bewegten sich, wenn sie an ihnen vorbeirannte. Ihre Hüte und Schleier verrutschten leicht, und das zauberte ein leises Lächeln auf die tiefernsten Gesichter um sie herum. Das Licht war jetzt näher, und sie fiel noch tiefer. Es war so, als ob sie niemals eine Zeit ohne Bewegung gekannt hätte. Einmal fiel sie, dann wieder rannte, rutschte oder glitt sie dahin, schneller als jemals zuvor. Der verschwommene Fleck bewegte sich, und dann war sie wieder in dem dunklen Tunnel, dessen konturlose Wände jetzt auf sie zukamen. Sie erstickte fast. Angst und Schmerz kehrten wieder zurück, stechend und heiß. Das Licht war jetzt direkt über ihr, und sie -116-
raste darauf zu, entkam dem dunklen Bereich. Das Licht schien zu glitzern und funkeln, als verstecke es sich hinter einem Wasserschleier, als wäre sie eine Schwimmerin unter der Wasseroberfläche. Plötzlich war eine andere Schwimmerin neben ihr, eine junge Frau mit braunen Augen, die ihr selbst ähnlich war. Die junge Frau lächelte und berührte sanft ihre Wange. »Hilf ihnen«, sagte die junge Frau, und dann verschwand sie wieder in die Richtung, aus der Tolwyn gekommen war. Das Licht war jetzt noch näher. Es winkte ihr zu und forderte sie auf, ihm zu folgen. Tolwyn entfernte sich immer mehr von dem dunklen Bereich. Die Helligkeit des Lichts blendete sie. Als sie darauf zuraste und glaubte, sie würde in dem Licht explodieren, hörte sie eine Stimme, die nach ihr rief. Die seltsamen, fremden Worte klangen sanft und lieblich und erleichterten ihr die letzten Augenblicke ihrer Reise aus der Tiefe. Neben der Stimme, dem Schmerz, der Geschwindigkeit und dem Licht war das letzte, woran sie sich erinnerte, daß ihre Hände immer noch die Crys-Blume schützten.
46 Alder und der Doktor versuchten, Bryce von dem Tisch wegzuziehen. Die junge Frau war tot, und das hatte den Priester diesmal besonders stark mitgenommen. »Pater Bryce, es reicht jetzt«, sagte Alder. »Das wird weder Ihnen noch ihr helfen.« Der Priester hörte nicht auf ihn und schüttelte die junge Frau immer noch. »Bitte«, flehte er, »sterben Sie nicht!« »Vater«, bat der Arzt, »lassen Sie sie doch los.« Und dann piepste der Monitor plötzlich wieder in -117-
gleichmäßigem Rhythmus, und Wendy Miller bewegte sich. »Gütiger Gott!« rief Bryce, als die junge Frau ihre grünen Augen öffnete und sich aufsetzte, als wache sie aus einem bösen Traum auf. Etwas fiel auf den Tisch, als sie ihre Hände dem Priester entgegenstreckte. Die Krankenschwester sprang zurück. Ein Schrei kam über ihre Lippen. Sie stierte die junge Frau an und versuchte zu begreifen, wie die sich aufsetzen – wie sie am Leben sein konnte. Aber Bryce blickte jetzt nicht die Frau an, er schaute auch nicht auf die Monitore oder auf Alder oder den Arzt. Er blickte auf den Tisch. Dort zeichnete sich eine wunderschöne Blume gegen das Weiß ab.
47 Ondarew reichte dem Soldaten neben sich die Karte. Dann wandte er sich dem Wagen zu, der die Straße entlangkam. Das Fahrzeug war lang und schwarz wie die der Politiker oder hohen Parteimitglieder. Wie auch immer, es bedeutete, daß sie ihn kontrollieren wollten. Der Wagen hielt an, und der Ministerpräsident höchstpersönlich stieg aus. Zusammen mit einem Japaner. Ondarew versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. »Hauptmann Ondarew, das hier ist Botschafter Nagoya aus Japan. Er will uns helfen, mit dem Problem fertig zu werden, an dem Sie gerade arbeiten. Ich werde ihn hier bei Ihnen lassen.« Der Ministerpräsident stieg wieder in den Wagen, und das Fahrzeug raste davon. Nagoya, der wesentlich kleiner als Ondarew war, trug eine dunkle Sonnenbrille. Ondarew konnte -118-
sein Alter nicht bestimmen. Er trug einen schwarzen Aktenkoffer. »Sie haben eine Menge Soldaten auf dem Feld, Hauptmann«, sagte Nagoya in passablem Russisch. »Weshalb sind Sie hier, Herr Botschafter?« fragte Ondarew, der beschlossen hatte, auf formelle Höflichkeiten zu verzichten. »Wie Ihr Ministerpräsident erklärt hat, bin ich hier, um Ihnen behilflich zu sein. Unsere Regierung hat ebenfalls entdeckt, daß unserem Land von unbekannten Kräften Gefahr droht. Und zwar schon sehr bald. Durch den Einsatz moderner Technologie sind wir in der Lage gewesen, eine Methode zu entwickeln, mit der Gefahr umzugehen, bevor sie so zuschlägt – wie in den Vereinigten Staaten.« »Fahren Sie fort.« Nagoya bückte sich und stellte seinen Aktenkoffer ab. Er klappte den Deckel hoch, und ein kleiner Computer mit Monitor wurde sichtbar. Auf dem Computer war ein schlichtes Logo, ein »K« aus Chrom auf einem roten Kreis. »Wir sind davon ausgegangen, daß die Bedrohung von einem Punkt jenseits unserer Realität ausgeht, von etwas, das wir unter dem Stichwort alternative Dimensionen zusammenfassen. Es handelt sich um Invasoren, die aus einem unbekannten Grund unseren Planeten angreifen. Uns ist es gelungen, ihre Energiemuster zu identifizieren und diese Muster zu benutzen, um ihren Zielort zu finden. Außerdem konnten wir die Vorrichtungen entfernen, die ihnen den Zugang zu unserer Welt ermöglichen. Auf drei solche Vorrichtungen sind wir in Japan gestoßen.« »Diese Vorrichtungen, Herr Botschafter, können Sie mir etwas darüber erzählen?« »Wir nennen so eine Vorrichtung ›Stele‹, und sie sind physikalische Manifestationen der eindringenden Dimension. Nachdem wir eine gefunden haben, haben wir sie ausgiebig -119-
studiert und sind zu dem Ergebnis gekommen, daß die Stelen, wenn sie in einem Dreieck aufgestellt sind, einen Raum bilden, der mit dieser alternativen Energie gefüllt werden kann. Wir glauben, daß das in den Vereinigten Staaten passiert ist.« »Wieso sind Sie hier, Botschafter?« fragte Ondarew, »und wieso wissen Sie soviel über diese Dinge?« Der Japaner rückte seine Sonnenbrille zurecht, bevor er antwortete. »Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, Hauptmann, denn es ist zu spät, das für die Vereinigten Staaten zu tun. Kollegen von mir sind in Länder unterwegs, die auch in Gefahr sein könnten. Wir versuchen, die Welt zu retten. Ich weiß von diesen Dingen, weil unsere Wissenschaft uns darüber aufgeklärt hat.« Irgend etwas an dem Botschafter störte Ondarew. aber er konnte nicht den Finger darauf legen. Doch bevor er noch weitere Fragen stellen konnte, ertönte auf dem Feld ein Triumphschrei. Er hob ein Fernglas vor die Augen und suchte nach dem Grund für diesen Jubel. Neben einem Kran und einer Planierraupe zogen ein paar Soldaten jubelnd etwas aus dem Boden. Katrina Towarisch war bei ihnen und koordinierte ihre Arbeit. Sie ist eine faszinierende junge Frau, blind und doch sehend, dachte er. Der Hauptmann nahm das Fernglas herunter und wandte sich an Nagoya. »Herr Botschafter, ich danke Ihnen für Ihre Anteilnahme und für Ihr Hilfsangebot. Wie Sie hören können, brauchen wir Sie jedoch nicht. Außerdem können wir es uns sicher nicht leisten, den Preis für Ihr Gerät zu bezahlen.« Nagoyas Miene verdüsterte sich, aber der Japaner sagte kein Wort. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden! Ich bin sicher, daß einer meiner Soldaten Sie gern zum Ministerpräsidenten bringen wird.« Ondarew ließ den Botschafter stehen. Er war schon ziemlich weit weg, als der Japaner noch etwas loswerden mußte. -120-
»Sie scheinen wirklich in der Lage zu sein, hiermit allein fertig zu werden, Hauptmann«, rief Nagoya. »Aber denken Sie an meine Worte. Zerstören Sie die Stele schnell. Wenn Sie das tun, dann hat sich unsere Unterhaltung für mich bezahlt gemacht.«
48 Dr. Michael Forkner vom Kitt-Peak-Observatorium hatte gerade zum dritten Mal alle Instrumente überprüft. Er rieb sich die müden Augen und lehnte sich zurück, um einen Moment lang seine Gedanken zu ordnen. Er mußte seine Ergebnisse von Dr. Eisner bestätigen lassen und dann in Erfahrung bringen, ob die anderen Observatorien dieselben Beobachtungen gemacht hatten. Aber auch ohne all das war er überzeugt, daß seine Tests ausreichten. Ihre Aufgabe bestand darin, bestimmte Himmelsabschnitte zu bestimmten Zeiten, bei Tag und Nacht, zu beobachten. Aber während der letzten vierundzwanzig Stunden zeigte das Teleskop plötzlich in die falsche Himmelsrichtung. Nachdem Dr. Forkner diverse Kontrollen vorgenommen hatte, war er zu dem Ergebnis gekommen, daß sich die Drehbewegung der Erde verlangsamt hatte. Und sie verlangsamte sich immer mehr. Dr. Forkner hatte Berechnungen angestellt. Wenn sich die momentane Geschwindigkeitsabnahme ungehindert fortsetzte, dann würde der Planet in dreiundachtzig Tagen stillstehen. In diesen dreiundachtzig Tagen würde sich das Wetter extrem verändern, und die Temperaturen würden zwischen den beiden Extremen schwanken. Tod und Zerstörung würden um sich greifen, wie es seit dem Verschwinden der Dinosaurier vor fünfundsechzig Millionen Jahren nicht mehr dagewesen war. Forkner wußte nicht, wie die Menschheit diesem Schicksal entgehen konnte. -121-
49 Bryce stierte die Blume an. Sie leuchtete türkis und zinnoberrot. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, wie sie hierher gekommen war. Er erinnerte sich an Wendy Millers heftige Bewegungen. Sie hatte ihn weggestoßen, und er war nach hinten getaumelt. Auch Alder und der Arzt waren gestürzt. Es summte und piepte, als Wendy Miller sich von den Geräten losriß, die ihre Körperfunktion aufzeichneten. Als er zusammen mit der Frau auf dem Boden landete, dachte er einen Augenblick daran, daß der Arzt sie für tot erklärt hatte, daß die Monitore nur noch eine gerade Linie aufgezeichnet hatten und daß sie kurz darauf die Augen aufgeschlagen hatte. Aber eigentlich begann er Argumente zu sammeln, die gegen die Rückkehr der Frau aus dem Reich der Toten sprachen. Dabei schien er wenigstens zum Teil genau an diese Rückkehr zu glauben. Aber sein Verstand, der ihn schon immer an seinem Glauben hatte zweifeln lassen, wehrte sich gegen die Auferstehungstheorie. Während Bryce mit Wendy kämpfte und sie zu beruhigen versuchte, ohne ihr weh zu tun, packten der Arzt und Alder sie von hinten und versuchten, sie vom Priester wegzuziehen. Doch die junge Frau ignorierte sie, warf sich auf Bryces Körper und zwang ihn auf den Boden. Ihre Daumen suchten seine Luftröhre. Sein Kopf wurde nach unten gedrückt. Er bäumte sich auf, und das Kreuz an seiner Halskette rutschte zwischen die Hände der Frau. Als sie es sah, riß sie die Augen auf und ließ ihn plötzlich los. Erst dann konnten Alder und der Doktor sie wegziehen. Bryce stemmte sich hoch. Wendy Miller setzte sich nun nicht mehr zur Wehr. Sie warf ihm einen Blick zu, betrachtete das baumelnde Kreuz und sagte: »Dunad. Sintra vas Dunad?« Sie sprach langsam, als habe sie Mühe, die einzelnen Silben auszusprechen. -122-
»Was für eine Sprache ist das?« fragte Alder. Bryce zuckte mit den Achseln und schüttelte den Kopf. Dann widmete er seine ganze Aufmerksamkeit der jungen Frau. Ihr Gesicht war jetzt ausdruckslos, ihr Körper ruhig, aber er konnten an ihren Augen ablesen, wie irritiert sie war. Dann sprach er ganz langsam mit ihr. »Miss Miller, sprechen Sie Englisch?« Die Frau hob den Kopf und schaute Bryce und sein Kreuz an. Sie versuchte ganz vorsichtig, Alders Hand abzuschütteln, als wollte sie ihnen klarmachen, daß sie nun friedlich sei. Bryce nickte dem Polizisten zu. Als ihr Arm frei war, streckte sie behutsam ihre Hand aus und berührte das Kreuz. Dann sprach sie wieder. Es war klar, daß diese Sprache nicht ihre Muttersprache war. »Dunad. Man hat mich nach Dunad geschickt.« Und urplötzlich brach die Frau in Alders Armen zusammen. »Legen wir sie wieder auf den Tisch, damit ich sie untersuchen kann«, sagte der Arzt. »Schwester, räumen Sie das Durcheinander auf, und helfen Sie mir dann, die Monitore und Tropfflaschen wieder anzuhängen.« Vorsichtig löste Bryce Wendys Finger von seinem Kreuz. Als Alder und der Doktor sie auf den Tisch hoben, trat er zurück. Während die beiden sie stützten, bemerkte Bryce, daß sie ein Stück größer war als er. Stärker war sie ja auch. Auf einmal fiel die Blume vom Tisch. Bryce bückte sich, hob die Pflanze auf und betrachtete die eigenwillige Färbung der Blüte genau. So eine Blume hatte er noch nie gesehen. Außerdem hatte sie einen starken Duft, der den Priester an einen klaren Frühlingstag erinnerte. Als der Arzt und die Krankenschwester sich an die Arbeit machten, stellte Alder sich neben den Priester. Auch er betrachtete die Blume. Sein Blick traf den von Bryce. »Was ist hier passiert, Pater?« fragte Alder. »Ich weiß es nicht, Rick. Ich wünschte, ich wüßte es, aber ich -123-
habe keine Ahnung.« Der Arzt trat zu den beiden Männern. Er wirkte abgespannt und schien durcheinander zu sein. »Ihr Puls ist regelmäßig und stark. Ihr Atem geht gleichmäßig«, berichtete er. »Aber sie war tot, für ein paar Sekunden war diese junge Frau weg. Und jetzt sind die schlimmen Verletzungen, die sie erlitten hat, fast weg, und das, was noch zu sehen ist, heilt schnell. Ich weiß wirklich nicht, was ich davon halten soll, es sei denn...« Der Arzt hielt inne, als schämte er sich. »Es sei denn, was?« fragte Bryce. »Es sei denn, sie hat Sie gehört, Pater. Vielleicht sind Ihre Gebete erhört worden.« Alder hob die Brieftasche der jungen Frau vom Boden auf. Er öffnete sie und überprüfte ihren Führerschein, wie Bryce es zuvor getan hatte. »Wissen Sie was? Die haben einen Fehler gemacht, als sie ihren Führerschein ausgestellt haben«, sagte Alder. »Hier steht, daß Wendy Miller braune Augen hat, aber diese junge Dame hier hat die grünsten Augen, die ich jemals gesehen habe.« Bryce hatte plötzlich Angst. Er mußte wissen, ob seine Gebete irgend etwas mit Wendy Millers wundersamer Rückkehr ins Leben zu tun hatte, das war wichtig für ihn. Er zwängte sich an Alder und dem Doktor vorbei. Die junge Frau war wach. Ihre grünen Augen bewegten sich und suchten seinen Blick. »Wendy, Miss Miller, wie geht es Ihnen?« fragte er. Er mußte sie berühren und das Leben in ihr spüren. Er legte seine Hand auf ihren rechten Unterarm und spürte dabei gezackte Narben unter seiner Handfläche. Er konnte sich nicht an sie erinnern, aber vielleicht waren sie ihm während des ganzen Durcheinanders auch nicht aufgefallen. »Dunad«, sagte sie. Sie sprach mit einem Akzent, den er nicht einordnen konnte. »Die Worte in meinem Kopf führen Krieg. Alles, was ich höre oder sagen möchte geht durcheinander. Meine Erinnerung weist große Lücken auf. Ich kann mich nur an -124-
wenig erinnern. Dunkelheit, die nach mir greift, ein strahlendes Licht, eine wunderschöne Crys-Blume...« Bryce reichte ihr die Blume. »Danke, Dunad«, sagte sie, »Sie geben mir damit eine meiner Erinnerungen zurück. Werden Sie mir auch die anderen geben?« »Miss Miller«, begann Bryce. Er fühlte sich von ihren seltsamen grünen Augen angezogen und mußte sich zurückziehen, mußte sich von dieser Frau entfernen, die gestorben und vor seinen Augen wieder zum Leben erwacht war. »Ich heiße nicht Dunad«, sagte er, obwohl ein Teil von ihm wünschte, daß er es wäre. Wenn sie den Namen aussprach, lag soviel Liebe und Vertrautheit darin, als spreche sie mit jemandem, den sie seit frühester Jugend gekannt hatte. »Mein Name ist Christopher Bryce.« »Oh«, murmelte sie. Ihre Augen wanderten zu dem silbernen Kreuz. »Aber Sie sind doch ein Gefolgsmann von Dunad.« »Nein«, antwortete er. »Ich bin ein Jesuitenpriester.« Er hielt das Kreuz hoch. »Das hier ist das Symbol des Kreuzes, an dem Unser Herr Jesus Christus gekreuzigt wurde. Es tut mir leid, Miss Miller, aber von Dunad habe ich noch nie etwas gehört.« »Warum nennen Sie mich Miss Miller, Christopher Bryce, der Sie Jesuitenpriester sind?« Bryce war ziemlich verwirrt und stotterte: »Aber so heißen Sie doch. Das steht in Ihrem Führerschein.« »Darin steht aber auch, daß sie braune Augen hat, Pater«, fügte Alder hinzu. »Nein. Ich kann mich zwar nicht an sehr viel erinnern, aber einer Sache bin ich mir ganz sicher – ich heiße Tolwyn, Tolwyn vom Hause Tancred.« Bryce starrte sie an. Ihm fiel das Summen der Monitore ein, als sie gestorben war, die Blume, die er niemals zuvor gesehen hatte, die Narben an ihrem Arm, die ihm vorher nicht -125-
aufgefallen waren, ihre grünen Augen. Und er wußte, daß sie die Wahrheit sprach. Sie schaute ihm in die Augen und fragte: »Können Sie, Christopher Bryce, der Sie nicht Dunad sind, mir meine Erinnerungen zurückgeben?« »Nein, es tut mir leid.« »Aber Sie haben mir die Crys-Blume gegeben.« Ihm fiel ein, daß die Blume aus ihrer Hand gefallen war, als sie sich aufgesetzt hatte. »Sie haben sie mitgebracht«, sagte er. Ihr bohrender Blick ruhte auf ihm. »Von woher, Christopher Bryce?«
50 Andrew Decker Johnson lauschte, wie der heftige Regen auf die Kuppel der Rotunde prasselte. Nervös klopften die Finger seiner rechten Hand im Takt der Regentropfen gegen sein Bein. Das Klopfen beruhigte ihn. In den letzten neun Tagen hätte er sich schon fast einen kleinen Krater ins Bein geklopft. Natürlich war er auch früher schon mal im Weißen Haus gewesen, aber niemals unter solchen Umständen. Wann wären je Invasoren in die Vereinigten Staaten eingefallen. Aber jetzt war in New York etwas passiert, und es breitete sich aus. Niemand wußte, wie es enden würde. Bisher waren alle Kontrollmaßnahmen fehlgeschlagen. Die Tür ging auf, und ein Marine-Offizier trat ein. »Abgeordneter Decker, der Präsident wird Sie jetzt empfangen«, sagte er. Decker nickte und folgte dem jungen Mann. Zum ersten Mal seit Beginn der Krise war Wells »Präsident« genannt worden. -126-
Das konnte alles mögliche bedeuten, aber Decker nahm an, daß der Sprecher des Hauses die Bestätigung erhalten hatte, auf die er gewartet und um deren Ausbleiben er selbst gebetet hatte. Es bestätigte wohl auch die Gerüchte der letzten Tage, daß Jonathan Wells, der ehemalige Sprecher des Hauses, jetzt augenscheinlich Präsident der Vereinigten Staaten, den Kongreßabgeordneten Andrew Jackson Decker zum Vizepräsidenten vorschlagen würde. Warum sonst war er ins Weiße Haus gerufen worden? Der Marine-Offizier blieb vor einer Tür stehen. »Sie können gleich eintreten, Sir«, erklärte er. Decker atmete tief durch. Er warf dem Mann einen Seitenblick zu und stellte fest, daß der ihn beobachtete. Der Kongreßabgeordnete warf ihm jenes Grinsen zu, das die Presse jungenhaft unschuldig nannte. »Ich danke Ihnen«, sagte er so freundlich, wie er nur konnte, »man wird ja nicht jeden Tag ins Weiße Haus gerufen, um mit dem Präsidenten zu sprechen.« »Nein, Sir«, stimmte der Marine-Offizier zu und lächelte nun auch. Decker öffnete die Tür. »Hören Sie, John, wir müssen etwas unternehmen. Wenn Sie mich nicht von etwas Besserem überzeugen können, dann müssen Sie mir Ihre Unterstützung gewähren.« Decker erkannte die Stimme, bevor er die Sprecherin sah, Senatorin Ellen Connors, die liebevoll Old Lady Medusa genannt wurde. Die Senatorin sprach nicht weiter, als Decker eintrat, und warf ihm einen ihrer berühmtberüchtigten Blicke zu. Er schluckte und hoffte, daß es nicht allzu offensichtlich war. Gönners stand neben einem großen Schreibtisch, der mit Tausenden von Dingen übersät war. Hinter dem Schreibtisch saß John Wells. Seit dem letzten Mal, als Decker sich mit ihm -127-
unterhalten hatte, schien er gealtert zu sein. Dennis Quartermain, der Verteidigungsminister der USA, saß links von Wells. Decker konnte den Mann nicht ausstehen, aber er respektierte ihn aufgrund seiner Fähigkeiten in Krisensituationen. Und im Augenblick hatten sie eine Krise. »Ellen, Dennis, Sie beide kennen den Kongreßabgeordneten Decker«, sagte Wells und beugte sich vor. Sein Lächeln verjüngte sein Aussehen ein wenig, doch von seiner jugendlichen Energie kehrte nur eine Spur wieder. »Wie geht’s, Ace?« Ace. Es gab nur noch sehr wenige, die Decker mit diesem Namen anredeten, einem Überbleibsel aus seinen BaseballTagen. »Mister President, bitte...«, begann Connors, aber Wells schmetterte sie ab. »Ich habe Ihren Vorschlag zur Kenntnis genommen und werde ihn bedenken«, sagte er. Decker war von der Strenge seines Tonfalls überrascht. »Jetzt habe ich erst einmal etwas mit Ace zu besprechen. Es wäre nett, wenn Sie uns allein lassen würden, Ellen, Dennis. Und schließen Sie bitte die Tür hinter sich.« Die beiden gingen, und Wells deutete Decker, daß er sich setzen sollte. »Ich kann mir denken, daß Sie sich fragen, warum ich Sie hierher gerufen habe, Ace«, fing Wells an. Er stand auf und streckte die Hand nach der Kaffeekanne aus. »Möchten Sie ’ne Tasse?« fragte er, als er seinen Becher nachfüllte. »Der Chef? Ich? Wenn Sie meinen.« stand auf dem Becher. Decker mußte grinsen und lehnte dankend ab. »Wir haben jetzt die Bestätigung erhalten, daß wir New York abschreiben können«, sagte Wells. In seiner Stimme schwang Schwermut und Einsamkeit mit. »Präsident Kent und Vizepräsident Farrell sind in der Stadt gewesen, um einer Konferenz der Vereinten Nationen zum Thema Terrorismus beizuwohnen, zusammen mit anderen wichtigen Führern dieser -128-
Welt. Sie wollten ein Abkommen ratifizieren und unterschreiben, das Geschichte gemacht hätte. Ein neues Zeitalter des Friedens und der Zusammenarbeit sollte beginnen. Was jetzt passieren wird, weiß ich nicht. Einige Länder bieten uns Hilfe an, andere behaupten, daß die ganze Invasion eine Art Trick sei, und fordern, daß ihre Landsleute zurückkehren sollen. Bei Gott, ich wünschte, er wäre nur ein Trick.« Wells hielt inne und trank einen Schluck Kaffee. »Die Invasoren haben New York und das Umland fest im Griff. Den Berichten zufolge haben sie den Großteil der Einwohner umgebracht. Ich... ich habe keinen Grund zu der Annahme, daß der Präsident noch lebt. Widerwillig übernehme ich das Präsidentenamt für den Rest von Kents Amtsperiode. Ich habe Quartermain gebeten, mir als Vizepräsident zur Hand zu gehen. Er hat die Fähigkeiten und die Erfahrung, die ich brauche, wenn ich diese Situation einigermaßen in den Griff kriegen will. Ace, selbst ich kann den Dreckskerl nicht ausstehen.« Decker versuchte zu begreifen, was Wells da gesagt hatte. Kent, Farrell, eine ganze Stadt, sie alle wurden abgeschrieben? Er wollte es einfach nicht glauben. »John, was sagen Sie da?« fragte er und baute sich vor dem Schreibtisch auf. »Wie können Sie so ohne weiteres beschließen, daß diese Menschen und der Präsident unsere Hilfe nicht mehr brauchen? Wie?« Wells erhob sich ebenfalls. Neben Decker wirkte er klein. »Ohne weiteres? In den vergangenen neun Tagen ist nichts ohne weiteres geschehen, Ace. Sie sollten das besser wissen als jeder andere! In Manhattan laufen Dinosaurier herum, Ace. Scharenweise steigen sie eine Brücke hinunter, die vom Himmel gefallen ist. Das ist ein Alptraum, Mann, und nichts daran ist einfach! Es gibt keine Funkverbindung, keine Telefonanrufe, keine Nachrichtenleitungen. Nichts dringt aus New York zu uns herüber! Nichts, bis auf die Flüchtlinge! Und wissen Sie, was hinter den Flüchtlingen kommt? Die Dinosaurier! Sie schieben die Überlebenden wie eine Vorhut vor sich her, während sie -129-
immer neue Gebiete an sich reißen. Sie sind schon bis Ohio und bis nach Kanada vorgedrungen. Die Bilder aus Kalifornien haben Sie ja gesehen. Es scheint keine Möglichkeit zu geben, sie aufzuhalten. Und während ihre Front weiter vordringt, funktionieren unsere Waffen nicht richtig oder gar nicht. Wir wissen noch immer nicht, was wirklich vorgeht, aber bis wir es wissen werden, werden wir Land und Leben an diese Invasoren verlieren. Mein Gott, wir befinden uns im Krieg und haben es noch nicht begriffen.« Der Präsident fiel in seinen Sessel zurück. Die Aussichtslosigkeit lastete schwer auf ihm und ließ ihn kleiner erscheinen. Der Präsident. Das war Wells nun, und er brauchte Deckers Hilfe und Unterstützung. Aber er fühlte sich so hilflos. »Sie haben Quartermain gebeten, Vizepräsident zu werden«, sagte Decker, »was erwarten Sie dann von mir?« »Enttäuscht, Ace? Seien Sie’s nicht. Für Sie habe ich eine andere Aufgabe im Sinn. Aber lassen Sie mich zuerst erzählen, was ich noch erfahren habe. Vor der Invasion in New York haben wir jegliche Verbindung nach Indonesien verloren. Wir nehmen allerdings an, daß dort dasselbe geschehen ist wie in New York. Der Nordosten, die Westküste, der Südpazifik – wir haben keinerlei Verbindung zu den Gebieten, wo die Invasion stattgefunden hat.« »Was wollen Sie von mir, Mister President?« »Seien Sie bitte nicht so förmlich, Ace. Und bitte, haben Sie etwas Geduld mit mir.« Der Präsident trank den letzten Schluck Kaffee und schwieg einen Moment lang, um sich zu sammeln. »Haben Sie jemals einen Traum gehabt, der sich Nacht für Nacht wiederholte?« fragte er. »Ich habe so einen, seit das ganze -130-
Durcheinander angefangen hat. Jedesmal, wenn ich die Augen schließe, kommt er. Wußten Sie, daß ich indianische Vorfahren habe? Crow, um genau zu sein. Dieser Traum hat auch mit Indianern zu tun – wenigstens mit einer ihrer Legenden. Haben Sie jemals etwas von Coyote gehört? Er war ein Schwindler, aber er war auch ein Held, der der Menschheit geholfen hat. Die Geschichten besagen, daß er für die Menschheit Teile der Welt verwandelt hat. Aber in meinem Traum begegnet Coyote dem Tod. Der Traum ist ein scheußliches Wesen, das einen kurzen Umhang und einen altmodischen Hut trägt. Und er steht in einem Wirbelsturm und holt Energie aus einer wirbelnden Luftsäule. In meinem Traum sucht der Tod nach einem großen Stein, einem Stein, der wichtig ist. Coyote, der wieder einmal einen Streich spielt, stößt als erster auf den Stein. Er stiehlt ihn, bevor der Tod ihn findet, und legt ihn irgendwo weiter westlich ab.« Präsident Wells beugte sich vor und blickte Decker unverwandt in die Augen. »Dann, kurz bevor ich aufwache, dreht Coyote sich mir zu und sagt etwas ganz Seltsames. Er sagt: ›Was gegeben ist, ist gegeben.‹« »Und was bedeutet das alles, John?« »Ace, ich habe nicht die leiseste Ahnung. Aber ich weiß, daß es wichtig ist und daß Sie das für mich herausfinden, weil ich ganz sicher nicht gehen kann.« »Gehen? Wohin gehen?« »Nach Westen, junger Mann. Sie müssen nach Westen gehen.« Decker spürte, wie seine Stirn feucht von Schweiß und seine Kehle trocken wurde. »Der Stein, erzählen Sie mir von dem Stein.« »Der sieht wirklich eigenartig aus. Er ist so blau, als ob ein Stück Himmel feste Form angenommen hätte, und...« Bevor Wells weitersprechen konnte, sagte Decker: »... und -131-
rote Adern ziehen sich durch das Blau.«
51 Dar Ess war eine Gotak von großer Macht und tiefer Traurigkeit. Dieser Titel, der ein Wesen bezeichnete, das »keine Passion empfindet«, existierte erst seit kurzer Zeit in der Religion der Edeinos. Bevor die Edeinos ihren ersten Überfall im Kosmoversum durchgeführt hatten, hatte Barak Kaah diesen Titel erfunden, der in Widerspruch zu allem stand, was die Edeinos glaubten. Aber der Saar hatte diesem Rang eine Bedeutung und einen Stellenwert zukommen lassen, und nur wenige wagten es, sich ihm, der über so viele Stämme herrschte, zu widersetzen. Im Gegensatz zu den Beschwörern, den Priestern des Lebens, waren die Gotaks die Wächter über alles, was tot war. Dieser Titel trug ihnen nicht gerade viel Respekt ein. Die Edeinos bemitleideten die Gotaks, weil man sie dazu degradiert hatte, sich der Dinge anzunehmen, die nicht Lanala, der Edeinosgöttin, unterstanden. Doch Respekt war für Dar Ess auch nicht wichtig, um ihre Gefolgsleute in die Welt der Toten zu führen. Sie verließ sich nur auf ihre Macht, die Furcht verbreitete. Sie reiste mit Beca und Tred, die die Stele trugen, mit dem Stalenger Two Taps, der die Grabungsstellen aussuchte, und mit dem Benthe Geebo, dem kleinen amöbenartigen Wesen, das die Pheromone, die Gefühle, manipulieren konnte. Dar Ess führte sie an, und es gehörte zu ihrer Aufgabe, die Zeremonie am Grabungsort abzuhalten, mit der die Stele aktiviert wurde. Sie hatten die Grenzen ihrer eigenen Realität und das lebende Land hinter sich gelassen und marschierten jetzt durch das Tote Land, die Realität der Erde. Keiner der Gefolgsleute fühlte sich hier wohl, aber sie kannten ihre Aufgabe, ihre Pflicht als Gotaks, derer sie sich so schämten. -132-
Two Taps wirbelte vor ihnen durch die Luft. Seine Sternengestalt glühte in einem wunderhübschen Leuchtfeuer, das ihnen den Weg wies. Dar Ess fiel auf, daß Two Taps eine andere Farbe angenommen hatte. Zuvor waren sie nicht besonders auffällig gewesen, aber jetzt schillerte er in den Regenbogenfarben, und das bedeutete Freude oder Aufregung. Die Gotak klatschte dreimal hintereinander kurz in die Klauen, um die anderen zu einer schnelleren Gangart anzutreiben, dann eilte sie nach vorn, um sich mit dem Stalenger zu unterhalten. Sie achtete nicht darauf, ob die anderen ihr folgten. Sie war sich dessen sicher, denn Ungehorsam hatte den Tod zur Folge. Dar Ess blieb neben Two Taps stehen, der sie mit seinem langen Tentakel berührte. »Was hast du herausgefunden, Two Tapsss?« wollte Dar Ess erfahren. Wann immer sie es mit Gefolgsleuten zu tun hatte, die noch keine Gotaks waren, trat sie relativ selbstherrlich auf. »Ich habe die Stelle gefunden, an der wir graben müssen, die Stelle, wo die Grenzen sich treffen«, antwortete Two Taps mit Vibrationen voller Demut. »Kennzeichne sie«, befahl die Gotak, wandte sich ab und schüttelte die Tentakel des Stalengers, bevor er noch etwas erwidern konnte. Sie ging davon aus, daß Beca hinter ihr wartete, und sie wurde nicht enttäuscht. Der junge Edeinos, das neueste Mitglied in ihrem Team, stand zitternd bereit. Offensichtlich war er nervös, aber er gierte gleichzeitig danach, die Freude der Grabung zu erleben. »Beca, sucht die Stelle, die Two Tapsss markiert hat. Dort wirst du deinem Sssaar Ehre erweisen können, indem du das Loch aushebst. Geebo, paß auf, was der Junge tut. Los.« Beca verbeugte sich respektvoll vor dem Benthe und wartete darauf, daß der Ältere ihm ein Zeichen gab, ihn hochzuheben. Nachdem er es bekommen hatte, hob Beca den Benthe sanft hoch und setzte ihn auf seine Schulter. Dann lief er los, um Two -133-
Taps zu suchen. »Nimm deine Ssstele, Tred, und folge mir«, befahl Dar Ess dem letzten Gefolgsmann. Die Gotak nahm ihren Steinschößling in die Hand, dessen Wurzeln noch an einem Ende herunterbaumelten. Tred ging voran. Als Dar Ess und Tred an der Grabungsstelle eintrafen, arbeitete Beda schon schwer. Mit seinen Klauen schaufelte er die Erde heraus. Dabei nickte er hin und wieder, um zu zeigen, daß er Geebos Instruktionen hörte. Two Taps ruhte sich in der Nähe auf dem Boden aus und gab auch ein paar Ratschläge durch seine fast unsichtbaren Tentakel, die er auf Becas Kopf gelegt hatte. Während Beca weitergrub, inspizierte Tred die Stelen, denn er wollte sichergehen, daß sie noch funktionierten. Auch Dar Ess untersuchte sie genau, denn falls sie eine fehlerhafte Stele in das Loch legten, würde Baruk Kaah sie alle bestrafen. Die Stele war ungefähr vier Fuß lang. Von außen sah sie aus wie ein ovales Bündel aus Ästen, Blättern und Dornen. Darin lagen Knochen und Skelette von Wesen aus dem Lebenden Land. Wenn drei Stelen in einer Dreiecksform ausgelegt waren, war der Platz bereit, die Realität des Kosmos aufzunehmen, die die Stele geschaffen hatte, das Lebende Land. Dar Ess beobachtete, wie die Riten ausgeführt wurden, und war zufrieden. Sie konnte schon die Aufregung spüren, die sie dabei immer ergriff, und dieses Gefühl erinnerte sie daran, daß selbst sie, die unter den Toten arbeiteten, das Leben kannten. Voller Spannung wartete sie auf ihren Part in der Zeremonie. Plötzlich flog Two Taps hoch. Dar Ess bemerkte es sofort und schaute nach, welche Gefahr der Stalenger gespürt hatte. Über einen Hügel in der Nähe liefen zwei weichhäutige Wesen aus dem Toten Land. Sie trugen tote Decken und Gegenstände, die Dar Ess nicht kannte. Die Gotak und ihre Gefolgsleute waren ihnen noch nicht aufgefallen. Daher -134-
brauchte die Zeremonie nicht unterbrochen werden. Die Gotak klatschte einmal, damit die anderen wußten, daß sie weitermachen konnten. Dann entfernte sie sich von der Grabungsstelle und betete stumm zu Lanala. Gleich darauf spürte sie die Anwesenheit ihrer Göttin, denn ein angenehmes Prickeln lief durch ihren Körper. Sie konzentrierte sich und bat den steinernen Schößling in ihrer Hand, sich zu verändern, denn nur dann konnte er ihr nützlich sein. Daraufhin bildete der Trieb eine scharfe Spitze aus, mit der man selbst einen Utadok verletzten konnte. Als die Umwandlung beendet war, stieß Dar Ess einen lauten Schrei aus, um die weichhäutigen Wesen herauszufordern. Die beiden blickten erschrocken auf. Die Menschenfrau wollte wegrennen, aber Two Taps fing sie mit seinen Tentakeln ein und hielt sie fest. Der Mann dagegen war so verwirrt, daß er regungslos stehenblieb. Dar Ess hörte den weichhäutigen Mann brabbeln. Wenn sie sich Mühe gab, dann konnte sie seine primitive Sprache verstehen. Aber sie hatte keine Lust, sich zu konzentrieren. Ihrer Meinung nach war es vollkommen unsinnig, diese Fähigkeiten hier einzusetzen. Es gab keinen Grund, sich das Betteln dieser toten Wesen anzuhören. Die Gotak brüllte zu Lanalas Ehren und zielte dann mit dem Steinspeer auf den Weichhäutigen. Der bohrte sich dem Mann in den Brustkorb und warf ihn zu Boden. Als das Blut hervorquoll, lief ein Zittern durch den Körper der Gotak. Sie hatte noch ein weiteres Gebet gesprochen, damit dem Schößling Dornen wuchsen, nachdem er ins Ziel getroffen hatte. Die Dornen fügten dem zerbrechlichen Wesen noch weitere Schmerzen zu. Sie lief zu dem Mann hinüber, aber er war bereits tot. Die Dornen hatte sofort gewirkt. Zu dumm, dachte sie, daß sie dem Weichhäutigen nicht noch andere Empfindungen hatte nahebringen können, bevor er gestorben war. Sie umklammerte -135-
den Steinspeer und riß ihn aus dem Körper des Toten heraus. Seine Spitze nahm wieder seine ursprüngliche Form an. Dann fiel Dar Ess die kleinere Frau ein. Two Taps hielt sie immer noch fest. Die weichhäutige Frau erinnerte Dar Ess an eine Fliege im Spinnennetz. »Dir, Frau aus dem Toten Land«, erklärte Dar Ess in der zischenden Sprache der Edeinos, »werde ich Empfindungen als eine Art Belohnung zukommen lassen. Genieße diese letzten Gefühle, die du in deinem Leben verspüren wirst.« Der Stalenger fühlte mit seinen Fangannen, die er um die Frau geschlungen hatte, jedes Quentchen Schmerz in ihr. Das Gefühl war so stark, daß er wußte, daß die Gotak der Weichhäutigen wirklich im letzten Augenblick vor ihrem Tod wirkliches Leben geschenkt hatte. Die Gefühle dauerten fast zehn Minuten an, und dann starb die Weichhäutige. Dar Ess kehrte zu der Ausgrabungsstelle zurück. In ihren gelben Augen lag ein wildes Glitzern. Sonst verrieten nur das Zittern, das durch ihren Körper lief, und der Blutspritzer auf ihrem rechten Arm, daß etwas geschehen war. Ohne ein Wort an die anderen griff die Gotak nach der vorbereiteten Stele und richtete ein Gebet an Lanala. Dann zog sie einen Steindolch hervor – wahrlich ein Werkzeug der Toten – und richtete ein zweites Gebet an Baruk Kaah. Beca wandte seinen Blick von dem Dolch ab. Auch Dar Ess war einmal von dem toten Werkzeug zurückgewiesen worden, doch sie hatte gelernt, damit umzugehen. Das war ihre Pflicht als Gotak. Auch Beca würde es lernen. Mit dem Steindolch kratzte die Gotak einen Schnitt in die Stele, und falls ihre Gebete erhört worden waren, würde Blut aus der Wunde sickern und ihr das Lebenszeichen geben. Und so war es. Blut drang aus dem Schlitz und floß in kleinen Bächen durch die verflochtenen Äste. Mit einem Triumphschrei legte Dar Ess die blutende Stele in das vorbereitete Loch. Dann -136-
trat sie zurück, damit ihre Helfer Erde auf die Stele schaufeln konnten. Sie sangen bei dieser Arbeit. Dar Ess betete noch einmal, und Lanala bewirkte, daß Gras und Pflanzen auf der frisch aufgeschütteten Erde wuchsen. Innerhalb weniger Minuten sah die Ausgrabungsstelle so aus, als ob sie niemals berührt worden wäre. Dar Ess freute sich über den Erfolg ihrer Mission und trug Two Taps auf, in die Luft zu steigen. Bis zur nächsten Grabungsstelle mußten sie einen langen Weg zurücklegen. Je eher sie losmarschierten, desto früher konnte sie ins Lebende Land zurückkehren.
52 Während der ersten Woche von Wendy Millers Genesungsphase war Pater Christopher Bryce jeden Tag an ihrer Seite, es sei denn, seine Pflichten hielten ihn davon ab oder die Ärzte schickten ihn aus dem Zimmer. Er freute sich darüber, wie schnell sie wieder zu Kräften kam, weil er sonst nur den Sterbenden Sakramente spenden konnte. Er genoß es, einfach bei ihr zu sein und sich an seiner Beziehung zu ihr zu ergötzen. Er war wie ein Vater, der bei der Geburt des Kindes anwesend gewesen war. Doch manchmal empfand er für sie auch wie ein Mann für eine Frau. Diese Gefühle waren ihm erlaubt, er durfte ihnen jedoch nicht nachgeben. Sie glaubte, Tolwyn vom Hause Tancred zu sein, und konnte sich wirklich nicht an den Namen Wendy Miller erinnern, obwohl die Ärzte beharrlich diesen Namen benutzten. Bis auf Doktor Monroe, der die Ereignisse miterlebt hatte und geneigt war, ihr zu glauben. Bryce ging es kaum anders als den Ärzten. Rick Alder nannte sie Tolwyn und verbrachte einen Teil seiner Zeit bei ihr, und auch Coyote und Ratte besuchten sie. Nur Tal Tu hielt sich fern, weil Alder darauf bestand, daß er sich auch -137-
weiterhin im Lieferwagen versteckt hielt. Am elften Tag nach dem Beginn der Invasion betrat Pater Bryce mit einem Tablett das Zimmer der jungen Frau. Es ging ihr gut, und sie würde bald entlassen, hatte Dr. Monroe gesagt. Aber zuvor wollte Bryce die Wahrheit erfahren. Sie schlief, als er eintrat. Deshalb stellte Bryce das Tablett neben der Vase mit der geheimnisvollen Blume ab und setzte sich. Er betrachtete sie ziemlich lange und beobachtete, wie sich die Umrisse ihres Körpers unter dem Leintuch abzeichneten. Auf einmal bemerkte er, daß sie ihn mit derselben Direktheit musterte. »Hallo, Miss Miller«, stammelte er. »Wir fühlen Sie sich heute?« »Ich weiß nicht, wie sich Miss Miller fühlt«, erwiderte die junge Frau mit ihrem fremden Akzent, »aber ich fühle mich gut.« »Natürlich«, sagte Bryce und spielte mit einem Apfel. Er reichte ihn der Frau. »Falls Sie wirklich Tolwyn aus dem Hause Tancred sind...« »Das bin ich.« »... falls Sie wirklich Tolwyn sind...«, fuhr Bryce fort und bemühte sich, seine Nervosität vor ihr zu verbergen, »... was ist dann mit der Frau mit den braunen Augen passiert, die Wendy Miller hieß?« Die Frau wollte etwas sagen, kam davon aber gleich wieder ab. Tiefes Leid spiegelte sich auf ihrem Gesicht wider. Sie betrachtete ihre Hand, drehte sie hin und her, als sehe sie sie zum ersten Mal, und spreizte ihre Finger. »Ich bin Tolwyn vom Hause Tancred«, sagte sie schließlich mit dem Brustton der Überzeugung. »Aber wer ist Tolwyn aus dem Hause Tancred?« wollte Bryce wissen. -138-
Frustration und Wut tauchten in ihren Augen auf. »Ich kann mich nicht erinnern.« »Wer ist Dunad?« »Ich kann mich nicht erinnern.« »Woher kommen Sie?« »Ich weiß es nicht!« schrie sie, stieß das Tablett beiseite und sprang aus dem Bett. Die nächsten beiden Tage verbrachte er an ihrem Bett, ohne Fragen zu stellen. Manchmal saßen auch Alder und die Jungs bei ihnen. Er nannte sie Tblwyri und redete sich ein, daß er das tat, um sie nicht zu verwirren. Er sprach mit ihr, erzählte ihr von Dingen, die sie nicht verstand, und beantwortete Fragen, die sie nicht stellen konnte. Es machte ihm nichts aus, daß sie die meiste Zeit die Crys-Blume anstarrte. Er erzählte ihr von New York City und dem Beginn der Invasion, von Coyote und Ratte, von Rick Alder und seinen Eltern. Wann immer Bryce auf seine Eltern zu sprechen kam, verstummte er bald, aber Tolwyn wollte ihn nicht allein trauern lassen. »Erzählen Sie mir, worüber Sie nachdenken, Christopher Bryce?« fragte sie. Ihr Tonfall verriet jedoch, daß sie Willfährigkeit erwartete, und zwar sofort. »Ich bin nie dazu gekommen, mit meinen Eltern über die wirklich wichtigen Dinge zu reden«, erklärte er, »ich habe nicht gedacht, daß sie früh sterben würden.« »Der Tod kommt nie, wenn man ihn erwartet«, sagte Tolwyn. »Deshalb müssen wir immer darauf vorbereitet sein.« »Ich bin nicht nur nach New York gekommen, um sie zu besuchen, wissen Sie. Ich wartete dort auf eine neue Aufgabe von der Kirche, aber ich wollte mir auch ein wenig Zeit nehmen, um über meine Berufung nachzudenken. Ich hatte... Zweifel. Ich glaube, ich habe sie immer noch.« -139-
»Jeder zweifelt von Zeit zu Zeit, Christopher Bryce. Auch wenn es sich um eine Berufung handelt.« Als sie das sagte, runzelte sie die Stirn. Bryce wußte, daß sie sich an etwas erinnern wollte, das mit einer Berufung zu tun hatte, aber sie war noch nicht soweit. »Da gibt es etwas, an das ich mich nicht erinnern kann, Christopher, der Sie das Zeichen von Dunad tragen. Die Dinge, die Sie mir erzählen, verunsichern mich tief im Innern. Der Bericht von der Invasion Ihrer Welt verursacht... ein vages Gefühl der Erinnerung in mir. Aber diese Erinnerungen verstecken sich in den Schatten meines Verstandes und wollen nicht an die Oberfläche kommen. Das ist mir auch früher schon passiert.« »Wo?« »Ich weiß nicht«, sagte sie und schlug wütend auf die Matratze ein. »Versuchen Sie, sich zu erinnern...« »Pater!« Coyote stand in der Tür. »Sie werden in Zimmer 128 gebraucht.« »Liegt wieder jemand im Sterben?« Coyote nickte. »Bin schon unterwegs«, sagte Bryce, nahm seinen Koffer auf und wollte aus dem Zimmer laufen. Im Türrahmen blieb er kurz stehen. Er wollte etwas sagen, aber Tolwyn betrachtete die Blume, und so ging er wortlos.
53 Tief im Innern von Illmound Keep im Reich Orrorsh saß der Hagere Mann auf seinem Knochenthron. Er war allein. Nur das eintönige Lied der Dunkelheitsmaschine war zu hören. Es -140-
handelte von Eroberung und Unsterblichkeit, von Dunkelheit und Herrschaft. Und es besang die Größe des Hageren Mannes, der der Erste unter den Hohenpriestern war. Er war die personifizierte Prophezeiung, der Torg. Nachdem er eine Zeitlang zugehört hatte, erhob sich der Hagere Mann beinah erfrischt von seinem Thron. Er trat vor die Maschine, ein Obsidianherz, das in dunkelster Nacht aus härtestem Stein gehauen worden war. Es war vier Fuß lang und ebenso breit, und seine Oberfläche war so glatt, als ob man sie poliert hätte. Der Hagere Mann konnte sein Spiegelbild auf ihr sehen. Ganz behutsam fuhr er mit den Fingerspitzen über den Stein und spürte die Hitze, die aus dem Innern des Herzens aufstieg, spürte den Schlag des Herzens, das seit jeher und für alle Zukunft existierte. Der Hagere Mann streckte die Hand nach einem Silberkelch auf dem Kaminsims aus. Dann hielt er den Kelch unter eine der Arterien und sprach leise zu dem Artefakt. »Gepriesen seist du, Obsidianherz, die Dunkelheitsmaschine, die mich gefunden und mein großartiges Schicksal vor mir ausgebreitet hat. Ich bitte dich, mir Nahrung zu gewähren, die mich stärken wird.« In dem Herz glühte ein Feuer auf, und sein Lied wurde lauter. Aus der Arterie tropfte hellrotes Blut in den Kelch. Jeder Tropfen war wie flüssiges Feuer, fiel zischend in den Trinkkelch. »Ich danke dir, Heketon, für das Blut der Unendlichkeit.« Der Hagere Mann hielt den Kelch an die Lippen und nahm einen tiefen Zug. Noch einmal sah er sein Spiegelbild auf dem schwarzen Herz. Aber jetzt war da auch noch eine zerstörte Landschaft, ein Planet, dessen Energie abgezogen worden war, damit der Hagere Mann die nächste Stufe der Existenz erreichen konnte. In dieser Zerstörung stand der Hagere Mann und triumphierte. -141-
»Ja, das soll unser Schicksal sein«, sagte er und trank den letzten Schluck aus dem Kelch. Nachdem er ihn wieder auf den Kamin gestellt hatte, lief er quer durch das Zimmer, um vor einen großen Spiegel zu treten. »Ich werde Helfer auf dieser Welt brauchen, Heketon, Bauern, die mir den Rücken decken und für mich die Stellung halten. Zeig mir in dem Spiegel, den ich Verhext nenne, welche Seelen es nach Dunkelheit hungert und nach Macht dürstet. Denn das sind die Seelen, die uns gehören werden!«
54 Der Tätowierte marschierte nach Westen. Seine Arbeitsschuhe klapperten dumpf auf dem asphaltierten Highway. Bis jetzt hatte kein Fahrzeug angehalten, doch das machte ihm nichts aus. Über kurz oder lang würde bestimmt jemand anhalten. Auf einmal fuhr ein stechender Schmerz durch seinen Kopf. Der Tätowierte fuhr mit seinen Händen zum blonden Haar hoch und fiel auf die Knie. Der Schmerz war intensiv. Er konnte nicht mehr richtig denken, und sein Blick wurde trüb. Dann drang eine Stimme durch den Schmerz. »Malcolm Kane, sieh deinen neuen Herrn an!« Mit tränennassen Augen erblickte der tätowierte Mann ein skelettartiges Gesicht vor sich. Später konnte er sich nicht an die Gesichtszüge erinnern, sondern nur an die tiefliegenden, stechenden Augen. Das Gesicht nannte wieder seinen Namen. »Woher kennen Sie mich?« fragte Kane. »Wer sind Sie?« »Für dich bin ich der Hagere Mann«, sagte die Stimme, »und falls du mir richtig dienen wirst, werde ich dich mit einem Stück von diesem Planeten belohnen, der dann dein eigen sein wird.« Als er dieses Angebot hörte, verdrängte Kane den Schmerz. -142-
Er wollte nicht, daß so etwas Triviales seine Unterhaltung störte. »Was soll ich für Sie tun?« fragte Kane, »Meister.«
55 Am zwölften Tag, nachdem New York sich in die Zone des Schweigens verwandelt hatte, beobachtete Andrew Decker, wie Soldaten die Jeeps für seine Reise nach Westen ausrüsteten. Er hatte den Trupp höchstpersönlich zusammengestellt, indem er mit Sergeant Lewis unzählige Personalakten durchgearbeitet hatte. Dann hatten sie eine Gruppe von elf Spezialisten zusammengestellt, die ihn auf seiner Mission begleiten und schützen sollten. Sie wußten allerdings nicht, daß Decker einen Geheimauftrag von Präsident Wells zu erledigen hatte. Und sie wußten natürlich auch nicht, daß er einen Stein suchen sollte, den die beiden Männer im Traum gesehen hatten. Sergeant Lewis salutierte schließlich und meldete: »Die Einheit ist zum Abmarsch bereit, wann immer Sie den Befehl geben, Sir.« Decker hatte bei dieser Mission zwar den Oberbefehl, hatte Lewis aber die Aufgabe übertragen, sich um die Männer zu kümmern. »Dann, denke ich, sollten wir...« »Kongreßabgeordneter Decker, könnte ich mich kurz mit Ihnen unterhalten?« Decker erkannte die Stimme, ohne sich umdrehen zu müssen: Dennis Quartermain, der ehemalige Verteidigungsminister und jetzige Vizepräsident. »Wenn Sie mich entschuldigen würden, Sergeant«, sagte Decker. Lewis nickte und ging dann zu den Männern hinüber. »Was kann ich für Sie tun, Dennis?« fragte Decker in ziemlich informellem Ton. »Es ist gut möglich, daß Sie mich nicht mögen, Kongreßabgeordneter, aber ich bin jetzt Vizepräsident.« »Worum geht es, Dennis? Ich hab’ es ziemlich eilig.« -143-
»Mir geht es darum, Decker, daß ich Sie auch nicht mag. Sie sind nichts als ein glorifizierter Sportheld, der eine PublicRelations-Tour vorhat, damit Wells sie nicht selbst machen muß. Über nichts würde ich mich mehr freuen als über die Nachricht, daß Sie irgendwo in der Zone des Schweigens verlorengegangen sind. Das hieße aber leider auch, daß wir auch elf gute Soldaten verlieren würden.« Quartermain musterte Decker, als suche er nach einem versteckten Geheimnis. »Warum hat er Ihnen elf Spezialisten gegeben? Was werden Sie dort draußen wirklich treiben?« »Es ist ganz genau, wie Sie es sagen, Dennis«, antwortete Decker, »ich werde dort draußen lächeln, Hände schütteln und Babys küssen. Vielleicht werde ich ja sogar ein paar Reden schwingen und den Leuten erzählen, daß es die Regierung immer noch gibt.« »Ich glaube Ihnen nicht. Als Vizepräsident habe ich das Recht, Bescheid zu wissen. Ich fordere, zu erfahren, was hier vorgeht.« »Mir ist scheißegal, wer Sie sind oder was Sie fordern. Ich habe einen Auftrag zu erledigen, und Sie halten mich davon ab.« Decker wandte Quartermain den Rücken zu und ging durch die große Garage zu den Soldaten hinüber, die bei ihren Fahrzeugen warteten. »Drehen Sie mir nicht einfach den Rücken zu, Decker«, brüllte Quartermain wutentbrannt. »Ich bin noch nicht mit Ihnen fertig.« Der Kongreßabgeordnete ignorierte den Vizepräsidenten und wandte sich an Lewis. »Sergeant«, sagte er, »lassen Sie uns von hier verschwinden.«
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56 Die Stele bot einen bestürzenden Anblick. Dennoch zwang Hauptmann Nicolai Ondarew sich dazu, ihre Oberfläche genau zu betrachten. Er sah ein zylindrisches Metallstück, silbern, knapp vier Fuß lang. Schwarze Schaltkreise waren dicht unter der Oberfläche sichtbar. Sie setzten sich zu komplizierten Mustern zusammen, den wirren Gedanken eines verrückten Gehirns. Wenn Ondarew eine Stelle aufmerksam betrachtete, kam es ihm vor, als ob die Oberfläche sich kräuselte. Und unter der sich stets ändernden Silberschicht glaubte der Hauptmann gequälte, angstverzerrte Gesichter sehen zu können. Erschreckt wandte er seinen Blick ab. »Es macht Ihnen angst, Nicolai«, sagte Katrina Towarisch. »Dies Ding verstört mich und fasziniert mich dennoch«, erklärte Ondarew. »Haben Sie jemals etwas gegessen, das viel zu heiß war, Katrina? Man verbrennt sich den Gaumen, und die Stelle schmerzt, wenn man sie berührt, aber man muß immer wieder mit der Zunge darüber fahren. So ungefähr geht es mir mit der Stele.« »Wir sollten sie zerstören, Nicolai. Wenn sie so etwas bewirkt, dann ist sie gefährlicher, als ich dachte.« »Die Wissenschaftler haben aber noch nicht alle Tests durchgeführt«, sagte Ondarew. »Wir haben noch nicht viel über diesen Gegenstand erfahren. Woher ist er, wozu ist er da?« Katrina packte seine Hand und hielt sie fest. Während sie sprach, mußte er in ihre blinden Augen blicken. »Da gibt es nichts zu erfahren! Diese Stele ist nicht von dieser Erde, und sie dient nur der Zerstörung. Können Sie nicht das Böse spüren, das von ihr ausgeht? Erkennen Sie nicht, welches Leid sie verursacht? Schauen Sie die Erde darunter an, Nicolai! Erzählen -145-
Sie mir, was Sie sehen!« Ondarew untersuchte die Erde, auf der die Stele gelegen hatte. Er hob eine Handvoll auf. Sie fühlte sich mürbe an und trocken und hatte keine Farbe mehr. Sie war nicht fruchtbar, dunkel und voller Aroma wie die Erde überall sonst auf diesem Feld. »Sie ist tot, Katrina.« »Sie müssen Ihren Männern befehlen, die Stele zu zerbrechen, Nicolai. Sie müssen es tun, bevor der Sturm losgeht.« Über ihnen hingen große, dunkle Wolken am Himmel. Der Sturm würde tatsächlich jeden Augenblick losbrechen. »Der Japaner hat genau dasselbe vorgeschlagen, Katrina.« Der Gesichtsausdruck der jungen Frau veränderte sich abrupt. »Der Japaner?« »Ja. Sein Name war Nagoya. Die japanische Regierung hat ihn geschickt. Er sollte uns helfen, die Stele zu finden. So hat er dies Ding genannt: eine Stele. Aber Sie hatten sie schon gefunden, deshalb habe ich ihn weggeschickt.« »Nehmen Sie sich vor Nagoya in acht, Nicolai. Das Bild von ihm, das ich in Ihrem Kopf sehe, macht mir angst.« Auf einmal sah sie wie ein kleines Mädchen aus, verletzlich und klein. Ondarew wollte die Arme ausstrecken und sie umarmen und beruhigen. Aber seine Arme reagierten einfach nicht. Nicht im Schatten der Stele. Er hörte jemand kommen. Es war einer der Soldaten seines Trupps. Ondarew hatte seinen Namen vergessen. Der Soldat blieb in einem vorsichtigen Abstand zu der Stele stehen. Hinter ihm konnte Ondarew ein Meer aus Weizen sehen, dessen Halme in der Abendbrise wogten. »Was kann ich für Sie tun, Soldat?« fragte Ondarew. Er war irritiert. Warum fiel ihm der Name des Mannes nicht ein? Der Soldat salutierte. »Hauptmann, das Wissenschaftlerteam hat...« -146-
Während Ondarew ihn anblickte, durchbohrten vier Metallklingen die Brust des Soldaten. Blut quoll hervor, und er konnte nicht weitersprechen. Ondarew dachte, daß er vor Schmerz oder Angst eigentlich laut aufschreien müßte. Die Stille verschlimmerte den Anblick noch. Der Soldat brach auf dem Boden zusammen. Wo er eben noch gestanden hatte, ragte eine schreckliche Gestalt auf, ein Mann, der schwarzes Leder und Ketten trug. Metallene Flügel ragten aus seinem Rücken, und Metallklingen sprangen aus seinen Fingern. Teile seines Körpers waren aus Metall. Man sah Schaltkreise. Dort hüpften elektrische Impulse. Der restliche Körper war grau oder eher aschfahl. Die Haut war rauh und ähnelte altem, brüchigem Leder. Ondarew schob Katrina hinter sich, während er gleichzeitig seine Dienstpistole zog. Die Kreatur grinste, und er sah, daß sie scharfe, spitze Zähne hatte. Er bemerkte auch, daß eine Art Metallstollen aus seinem Nacken und den Schläfen ragten. Wie in Zeitlupe hob Ondarew seine Pistole. Aber die Kreatur war schneller und schlug mit den Metallklauen um sich, an denen immer noch Blut klebte. Die Klauen erwischten den Lauf der Pistole. Er war ein kurzes Klirren zu hören, und dann flog die Waffe Ondarew aus der Hand. Doch der Hauptmann wartete nicht ab, bis die Klauen ein zweites Mal zuschlugen. Er machte einen Satz nach vorn und hieb seine Faust mit voller Wucht in den Magen der Kreatur. Sein Gegner stolperte, fiel aber nicht, sondern packte Ondarews Nacken und drückte ihn nach unten. Dann hob das Wesen die Klaue, sprach aber noch mit Ondarew, bevor er zuschlug: »Du hättest beinah gewonnen, Stürmer. Wenn ich nicht doch noch nach der Stele gesehen hätte, dann hättest du einen riesigen Systemzusammenbruch ausgelöst. Das wäre doch dumm, nicht wahr?« Doch dann hörte Ondarew, wie die Pistole abgefeuert wurde. -147-
Ein zweiter Schuß fiel. Und noch einer. Auf der Brust der Kreatur tauchten drei Blutflecken auf. Überrascht blickte das Klauenmonster auf und fiel dann auf den toten Soldaten. Ondarew atmete tief durch. Katrina stand mit der Pistole in der Hand einfach nur da. »Ich habe auf seine Stimme gezielt, Nicolai«, schluchzte sie. »Können wir jetzt die Stele vernichten?« »Ja, Katrina, ja.« Doch zuerst hielt er sie fest, damit sie sich an seiner Schulter ausweinen konnte. Er blickte auf die beiden Leichen, und plötzlich fiel ihm wieder der Name des Soldaten ein. »Ruhen Sie in Frieden, Dvorak«, flüsterte er, »ruhen Sie in Frieden.«
57 »Bereut!« schrie der Mönch. »Dunkle Zeiten stehen uns bevor, und ein neuer Prophet wird auftauchen, um uns ins Licht zu führen. Aber zuerst müßt ihr bereuen!« »Erdlinge«, murmelte Yukira und zwängte sich durch das Gedränge auf dieser Pariser Straße. Mit seinem Lederkoffer stieß er hin und wieder einen Mann oder eine Frau an, die dem Mönch zuhörten, aber die meisten reagierten nur mit einem bösen Blick oder ein paar gemurmelten Worten. Schließlich war er nur noch ein paar Häuserblocks von seinem Zielort entfernt. Yukira konnte es nicht ausstehen, wenn er zu spät kam, aber da ihm in diesem Kosmos nur primitive Fortbewegungsmittel zur Verfügung standen, blieb ihm keine andere Wahl. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und fixierte das Armband doppelt. Daraufhin trübte sich das Uhrenglas ein. Aber nur wenige Sekunden später war es wieder klar, und die Digitalanzeige war einem Gitterwerk mit zwei -148-
blinkenden Punkten gewichen. Das gelbe Licht markierte Yukiras Standort, das rote seinen Bestimmungsort. Er konnte eine Abkürzung durch die Gasse vor ihm nehmen. Dann würde er ein bißchen früher im Elysee-Palast sein als nach der ursprünglichen Planung. An einem Straßencafe blieb er kurz stehen. Er legte seinen Aktenkoffer auf einen freien Tisch und hob den Deckel hoch. Das Gerät schien nicht beschädigt zu sein, doch das chromfarbene Firmenzeichen war verschmiert. Er wischte den Schmutz fort, damit sich das »K« auffällig vom roten Kreis abhob. Das kleine Gäßchen war nur eine Durchfahrt hinter den kleinen Geschäften und Cafes. Yukira eilte weiter. Er war völlig überrascht, als ein Küchenjunge mit einem Eimer voller Essensreste aus einer Tür trat. Yukira rannte in den Jungen, und die beiden fielen zusammen mit dem Aktenkoffer, dem Eimer und den Essensresten zu Boden. Yukira bürstete sich Obstschalen vom Revers, packte den Jungen unwirsch und schleuderte ihn gegen die Wand. »Ord!« schrie er den Jungen an. In seiner Aufregung sprach er japanisch. Der Junge verstand das Wort zwar nicht, aber Yukiras Tonfall sprach Bände. »Du wagst es, einem Diener von Kanawa in die Quere zu kommen? Ich sollte dafür sorgen, daß die Inquisitoren hier auftauchen, damit du erfährst, was wahre Furcht ist! Aber mein Herr wird das nicht wollen.« Der Junge war verwirrt und verängstigt und bemühte sich vergeblich freizukommen. »Sprich, Ord! Bettle um dein wertloses Leben!« »Du dienst deinem Herrn wahrlich gut, Heide«, ertönte plötzlich hinter Yukira eine Stimme. Der Mann sprach fließend japanisch. »Einen Jungen in einer Sprache zu rügen, die er nicht versteht, ist wahrhaftig frevelhaft.« Der Japaner wollte weglaufen, aber ein spitzer Metallgegenstand in seinem Kreuz ließ ihn stehenbleiben. -149-
»Du bist in dieses Land gekommen, um die Arbeit meines Herrn zu beeinträchtigen«, fuhr die Stimme fort. »Vielleicht wolltest du die Regierung warnen? Vielleicht wolltest du ihnen ein paar geheime Informationen zustecken, wie man die Stelen findet? Wie dem auch sei, ich habe dich gefunden, und ich werde deine heidnische Seele retten. Sag mir, ob du deine Sünden bereust?« »Ich bereue nicht!« rief Yukira. »Ich widersetze mich dir und deinem Herrn! Als der Vertreter eines Hohenpriesters fordere ich meine Freilassung!« »Sicher werde ich dich freilassen«, sagte die Stimme und bohrte den spitzen Metallgegenstand in Yukiras Rücken. Der fiel nach vorn, und dabei wurde der Gegenstand herausgerissen. Er nahm seine ganze Kraft zusammen, um sich umzudrehen und seinen Gegner anzusehen. Es war der Mönch, der zu den Menschen auf der Straße gepredigt hatte. Jetzt stand er mit dem blutverschmierten Messer über ihn gebeugt. Dann wurde es dunkel um Yukira.
58 In einem anderen Kosmos, auf einer anderen Welt, stand Lady Pelle Ardinay auf der Zinne ihres Schlosses, von der aus sie einen hervorragenden Blick auf die Menschen der Welt von Aysle hatte. »Sie sind bereit, meine Herrin«, sagte der Elfenzauberer mit einer Verneigung. »Sind sie das, Delyndun?« fragte Ardinay. Obwohl dieser Tag ihr Ruhm und Ehre einbringen sollte, war ihre Stimmung düster und reserviert. »Wenn wir nicht in Hörweite anderer Leute sind, nennen Sie mich bitte nicht ›Lady‹. In diesem weiblichen Körper bin ich immer noch Lord Angar Uthorion.« -150-
»Natürlich, Lord Uthorion, bitte verzeihen Sie mir meinen Fehler«, bat Delyndun. »Genug«, befahl Ardinay, die Uthorion war, »treten Sie vor die Reihe und lassen Sie die Mahlstrombrücke hinunter.« »Wie Sie wünschen, Lord Uthorion.« Uthorion, der heute den Körper von Ardinay trug, blickte auf die Wesen, die unter seinem Befehl standen: Menschen, Zwerge, Drachen und die Dämonen der Wilden Jagd. Nur die Riesen entzogen sich seinem Zugriff, und die Mehrheit der Elfen. Ardinay verachtete sie. Bevor der Elfenzauberer die Turmtreppe hinunterstieg, rief Ardinay, die Uthorion war, ihm einen letzten Befehl hinterher. »Denken Sie daran, Delyndun«, sagte er. Seine weichen, roten Lippen bewegten sich kaum. »Sie sollen als erster die Brücke hinuntersteigen. Ich werde Ihnen erst folgen, wenn Sie mir versichert haben, daß sie nicht auf dieser Welt, die Erde heißt, ist.« »Aber, Lord«, fragte Delyndun, »erwartet der Hagere Mann nicht von Ihnen, daß...?« »Zum Teufel mit dem Hageren Mann! Ihm hat man nicht prophezeit, daß er bis in alle Ewigkeit verfolgt werden wird!« Uthorion, im Körper von Ardinay, vergrub sein weiches, hübsches Gesicht in seinen weichen, hübschen Händen. »Sie ist auf keiner der Welten aufgetaucht, die wir seit jenem Tag erobert haben, mein Meister«, suchte der Elf seinen Herrn mit Worten zu beruhigen. »Was nur bedeutet, daß es die nächste oder übernächste sein könnte. In vielerlei Hinsicht wünsche ich mir, daß sie auf dieser Welt ist. Dann hätte es wenigstens mit den Prophezeiungen ein Ende.« »Ich werde mir Gewißheit verschaffen, mein Herr.« »Dann«, sagte Uthorion, dessen düstere Stimmung sich jetzt -151-
in Ardinays funkelnden Augen spiegelte, »sollten wir endlich die Brücke herunterlassen.« Zwölf Tage nachdem die Dschungelbrücke auf die Erde gefallen und in New York gelandet war, dreizehn Tage nachdem eine Brücke gequälter Seelen auf Borneo herabfiel, brach eine dritte Brücke aus dem Sturm. Diese war aus riesigen Steinblöcken zusammengesetzt. Sie krachte auf England hinunter, und es dauerte nicht lange, bis die Realität von Aysle die Brücke hinunterfloß, um dort einen neuen Platz zu finden. Plötzlich war Magie das vorherrschende Gesetz der Natur, und eine Welle bizarrer Kreaturen zog von einem anderen Kosmos in das eben erst errichtete Reich von Aysle.
59 Tolwyn lief nervös in dem kleinen Krankenzimmer auf und ab. Ihre Ärzte entließen sie nur widerwillig aus der Beobachtung, obwohl sie ganz und gar gesund, nur noch ein wenig erschöpft zu sein schien. Sie wollten nicht zugeben, daß irgend etwas, was sie nicht mit Hilfe der Medizin erklären konnten, mit ihrer Patientin geschehen war. Pater Bryce stand im Türrahmen und sah zu, wie sie rastlos im Zimmer herumlief. Sie wirkte auf ihn wie eine Löwin im Käfig, die sich noch nicht daran gewöhnt hat, daß sie eingesperrt ist, und die nur darauf wartet, daß die Käfigtür aufspringt, sie in die Freiheit entkommen kann. Als er ihr einmal in die Augen schauen konnte, wußte er, daß sie diesem Käfig noch nicht entfliehen konnte. In ihren Augen spiegelten sich Verwirrtheit, Frustration und Wut. Sie wußte, daß sie in der Falle saß, aber sie wußte nicht, wer sie einsperrte oder in welche Richtung sie entfliehen konnte. Ihre tief gebräunten Beine blitzten unter dem kurzen, blaßblauen Stoff ihres Krankenhausnachthemdes hervor. Er bemühte sich, seinen -152-
Blick von ihr abzuwenden, aber er mußte einfach zusehen, wie sich die Muskeln ihrer Beine streckten und entspannten, und er mußte den Atem anhalten, als sie sich umdrehte und das Nachthemd, das hinten offen war, weiter aufging. Seine Männlichkeit regte sich in ihm. Die Gelübde, die er abgelegt hatte, verlangten zwar nicht, daß er seine Sexualität verleugnete. Sie verlangten jedoch, daß er seinen Bedürfnissen nicht nachgab. Er griff auf erprobte Techniken der Selbstkontrolle zurück und besiegte ganz langsam und bewußt seine Begierde. Er betrachtete Tolwyns Beine immer noch, aber jetzt lagen Verwunderung und Zweifel in seinem Blick. Ihre Beine waren mit Narben überzogen, die sie gestern noch nicht gehabt hatte, mit Narben, die alt, weiß und gut verheilt waren. »Guten Morgen«, sagte er schließlich. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit nun auf ihn und stellte sich vor das leere Krankenhausfenster. Das Morgenlicht drang durch den Stoff ihres Nachthemdes und zeichnete ihre Körperkonturen ab. Bryce trat in den Raum und setzte sich zögernd auf eine Ecke ihres Bettes. Von hier aus hatte er einen anderen Blickwinkel. Für einen kurzen Augenblick schien es, als wisse sie nicht, wer Bryce war. Doch dann erkannte sie ihn: »Einen guten Morgen wünsche ich Ihnen, Christopher Bryce.« »Wohin des Wegs? Und dann in solch einer Eile und mit solcher Bestimmtheit!« scherzte er. »Ich weiß es nicht«, sagte sie nach einer Pause. Dabei fuhr ihre Hand zum Nachttisch und zu der Vase mit der geheimnisvollen Blume. Bryce stellte plötzlich verblüfft fest, daß die Blume noch ebenso frisch aussah wie an dem Tag, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. »Na, egal, wie geht es Ihnen heute?« fragte er und untersagte sich alle weiteren Fragen. -153-
Ihre Lippen öffneten sich zu einem breiten Grinsen, und Bryce konnte ihre weißen, ebenmäßigen Zähne sehen. »Hunger«, lautete ihre Antwort. Bryce mußte über ihren kräftigen Appetit lachen. »Coyote und Ratte werden gleich das Frühstück bringen. Sie werden jeden Augenblick hier auftauchen.« Und während sie warteten, sprach er über Belanglosigkeiten, über das Wetter und den starken Verkehr in der Stadt. Er wußte, daß nur weniges davon für sie einen Sinn ergab, aber sein fröhliches Geschwätz schien ihre Anspannung abzubauen. Als die Jungen mit dem Essen eintrafen, setzten sie sich zu Tolwyn und Bryce und lästerten über das Krankenhausessen. Doch Tolwyn verstand ihre Witze nicht, sondern schlang das Essen gierig in sich hinein. Der Geschmack von Nahrungsmitteln hatte für sie noch nie eine Rolle gespielt. Tolwyn schob sich den letzten Rest Toast, etwas Eigelb und das letzte Fetzchen Speck in den Mund, lehnte sich zurück, schluckte und rülpste laut. Ratte und Coyote brachen in schallendes Gelächter aus, als sie sahen, wie schockiert Bryce war. Doch dann stimmte auch er in das Lachen der Jungs ein. Tolwyn lachte schließlich auch, ohne zu wissen, warum. Als sie sich wieder beruhigt hatten, wurde Tolwyn plötzlich sehr schweigsam. Ratte und Coyote schauten sich an. Es war ganz offensichtlich, daß sie immer noch herauszufinden versuchten, was es mit der jungen Frau auf sich hatte. Mir geht es nicht anders, dachte Bryce. »Christopher Bryce«, begann Tolwyn zögernd, »in letzter Zeit taucht immer wieder eine tiefe Schlucht in meinen Träumen auf. Ich bin noch niemals dort gewesen. Was bedeutet das, Christopher Bryce? Warum kann ich mich nicht erinnern?«
-154-
60 Claudine Guerault, französische Korrespondentin für die Internationale Nachrichtenagentur, inspizierte den Mordschauplatz mit professioneller Sorgfalt. Kreidestriche kennzeichneten die Stelle, wo man die beiden Leichen gefunden hatte: einen jungen Franzosen und einen japanischen Diplomaten. Beide waren erstochen worden. Vielleicht würde es internationale Verwicklungen geben, aber nach den Vorfällen in Amerika und Großbritannien glaubte Guerault allerdings nicht, daß der Tod der beiden Männer großes Aufsehen erregen würde. Sie sprach ihre Beobachtungen in ein Diktiergerät. Bis jetzt war die Polizei auf keine Verdächtigen und auf kein Motiv gestoßen. »Inspektor, ist es wahr, daß dieser japanische Diplomat auf dem Weg zu einem Treffen im Elysee-Palast war, als er ermordet wurde?« fragte Guerault den Beamten, der mit der Untersuchung beauftragt war. »Kein Kommentar, Miss Guerault«, antwortete der Inspektor und versuchte sie abzuschütteln. »Ich wehre mich gegen Spekulationen in einem Fall, in dem noch ermittelt wird.« »Inspektor, kommen Sie bitte einmal her«, sagte einer der Polizisten. Behar folgte ihm. »Sehen Sie sich bitte einmal das hier an, Sir«, sagte der Beamte: »Das hier haben wir in einer Mülltonne gefunden.« Bei dem Gegenstand handelte es sich um einen Aktenkoffer aus Leder, der sorgfältig verarbeitet war. Offensichtlich ein teures Exemplar, das sicher gut zu einem Diplomaten paßte. Der Inspektor berührte mit dem Handschuh ein Schloß und öffnete den Aktenkoffer. Er fand einen Computer. Claudine Guerault fiel das eindrucksvolle Logo auf dem Gerät auf, ein chromfarbenes »K« auf einem roten Kreis. Sie kannte die -155-
Herstellerfirma bisher nicht. »Miss Guerault, falls es Ihnen nichts ausmacht«, sagte der Inspektor. Aus seinem Tonfall wurde ersichtlich, daß er nervös war. »Entschuldigen Sie mich, Inspektor, aber für den Augenblick habe ich alles, was ich brauche. Ich werde später telefonisch nachfragen, ob es Neuigkeiten gibt.« Und dann machte Guerault auf dem Absatz kehrt und verließ eilig das kleine Gäßchen. Als sie wieder auf der Hauptstraße war, mußte sie sich durch eine Menschenansammlung um einen Prediger quälen. Der Prediger fing ihren Blick auf und starrte sie an, während er sprach. Er trug eine Mönchskutte, die sie an das Mittelalter erinnerte. »Die Wahre Kirche wird kommen, und wenn sie erst einmal hier ist, wird sie die Heiden und Blasphemisten vor sich hertreiben wie ein starker Wind«, rief der Prediger. In seiner Rede lagen Kraft und Inspiration. Aber das war in diesen Tagen nicht ungewöhnlich. »Tut Buße!« rief der Prediger. Wieder starrte er die Journalistin an. »Gesteht eure Sünden ein und sucht die Wahre Kirche!« Guerault lief es kalt über den Rücken, obwohl der Tag ungewöhnlich warm war. Sie nahm an, daß das ein Nebeneffekt der längeren Tage und Nächte war. Die Welt veränderte sich. Vielleicht hatte der Priester recht, vielleicht sollte sie Buße tun. Bei dem Gedanken mußte sie fast laut herauslachen. Sie ließ den Priester und die Menschenmenge links liegen, um ihre Geschichte zu schreiben.
61 Tolwyn
träumte.
Sie
träumte -156-
von
Verwirrung
und
Beunruhigung auf einer strahlend hellen, leicht hügeligen Ebene. Sie träumte von einer Schlacht, bei der die Crys-Blumen zertrampelt und vom Blut der Krieger rot gefärbt wurden. Ein schönes Land wurde von Füßen, Klauen und gespaltenen Hufen niedergetrampelt. Es gab noch weitere Erinnerungen, die mit der Schlacht zusammenhingen, aber sie drangen noch nicht an die Oberfläche, und so reiste ihr Geist tiefer in den Tunnel der Zeit. Dann träumte sie von dem Tag, an dem sie ihre Kindheit abgeschüttelt hatte und in ihrem Leichtsinn direkt auf dem Rücken des Grafen Tancred gelandet war. Er lustwandelte nachdenklich auf den schmalen gepflasterten Wegen, die sich durch den Schloßgarten zogen. Tolwyns leichtgewichtige Gestalt prallte von der schweren Kriegergestalt des Grafen ab. Sie wirbelte herum und blieb vor einem stark duftenden Minzebeet stehen. Der Graf war nicht auf der Hut gewesen, purzelte vom Pfad, und seine Hände pflügten das weiche Erdreich um, als er seinen Sturz abzudämpfen versuchte. Tolwyn legte die Hand auf den Mund und riß die Augen auf, während sie die Folgen ihres Leichtsinns beobachtete. »Tolwyn!« brüllte der Graf lachend. Der feindselige Ausdruck, die kampfbereite Härte, die in seinen Augen kurz aufgeblitzt hatten, verschwanden sofort, als er das Mädchen sah. »Niemals«, grunzte er, während er sich aufrappelte und die Erde und Blätter von seinen Kleidern bürstete, »niemals mußte ich in all meinen Feldzügen einen solchen Schlag hinnehmen. Siehst du, Kind, daß dir etwas gelungen ist, was den vereinigten Heerscharen der kontinentalen Ritterlichkeit nie gelungen ist? Du, Tolwyn vom Haus Tancred, hast den mächtigen, unbesiegten Grafen Tancred zu Boden geworfen.« Kichernd fügte er hinzu: »Ich denke, ich werde den letzten Zusatz ändern müssen. Ich bin sicher immer noch mächtig, aber offensichtlich nicht mehr unbesiegt.« »Oh, wie tief der Mächtige gestürzt ist«, platzte Tolwyn belustigt heraus. -157-
Das Gelächter des Grafen verstummte, als seine Gedanken zu seinen Problemen zurückkehrten. Bisher waren es nur Verwicklungen, aber bald schon würde man sie den Krieg der Kronen nennen. Nachdenklich betrachtete er Tolwyn und fragte sie dann abrupt: »Wie alt bist du jetzt, Mädchen?« »Zwölf, Vater«, antwortete Tolwyn. Zuerst sprach sie ganz leise, aber als sie dann weitersprach, wurde sie zusehends sicherer. »Doch zur Zeit der Sommersonnenwende werde ich dreizehn, und dann habe ich das Recht, das doppelte Jungfernhaarband zu tragen, während ich darauf warte, daß mich jemand zur Frau nimmt.« »Besser als deine Mutter hat nie jemand an meiner Linken gekämpft«, sagte Graf Tancred. Er studierte Tolwyn, als habe er ihre Antwort auf seine Frage gar nicht gehört. »Ich kann mich nicht an sie erinnern, Vater.« »Wir beide sind uns dessen stärker bewußt als wir es jemals sein wollten, Tochter.« Der Graf zuckte mit den Achseln. »Nun, du siegreiche Jungfer aus dem Haus Tancred, was wünscht du zu tun?« fragte er leichthin und versuchte damit den Fluß seiner Gedanken in seichtere Kanäle zu lenken. »War der Schlag, den ich ausgeteilt habe, wirklich so stark?« »Der stärkste«, antwortete er mit gespielter Ernsthaftigkeit. »Dann, Vater, sollte ich vielleicht ein Soldat und Krieger wie meine Mutter werden.« Der Graf streckte die Hand nach seiner Tochter aus. Als Tolwyn ihm ihre Hand entgegenstreckte, sah sie, daß sich seine Hand zimtbraun verfärbte und die Haut schwarz wurde. Sie blickte auf, und ihr Vater war verschwunden. An seiner Stelle stand ein alter, schwarzer Mann in einem Löwenfell. Sie schaute sich nach ihrem Vater um und sah, daß die Gärten und das Schloß verschwunden waren. Sie stand mit dem schwarzen Mann hoch über einem tobenden Ozean. -158-
Der schwarze Mann war groß und drahtig und hielt ein geknotetes Seil in der rechten Hand. Auf seinem breiten Gesicht tauchte ein Lächeln auf, und Tolwyn sah, daß ihm ein Zahn fehlte und er ein Loch in der Zunge hatte. »Guten Tag, meine Liebe, wo sind die Jungen, die eigentlich bei dir sein sollten?« fragte er. Als Tolwyn nicht antworten konnte, betrachtete der Aborigine sie ganz genau und wiegte den Kopf hin und her, so daß seine weiße Haarmähne tanzte. »Keine Sorge, schon bald wirst du im Niemandsland wohnen. Es ist besser, wenn du jetzt zurückgehst.« Der Aborigine zeigte in Richtung Osten, und Tolwyn spürte, wie sie durch die Luft gewirbelt wurde. Sie flog über ein Wüstenland, über blaue Wellen mit weißen Schaumkronen, über einen felsigen Strand, über riesige Städte mit großen Gebäuden und unzähligen Menschen und landete dann auf Händen und Knien in orangenem Sand, wo nur hier und da ein knorriger Busch wuchs. Von irgendwoher aus den langen Schatten des späten Nachmittags hörte sie ein Heulen. Felsen ragten aus dem orangefarbenen Sand in den schwarzen Himmel auf. »Ich bin in einer Schlucht«, erkannte Tolwyn. Tiefer unten sah sie in einer Spalte einen schwachen blauroten Lichtschein, der aus einer Höhle drang. Das Licht sprach zu ihr, aber sie konnte es nicht verstehen. Sie spürte nur den Schmerz und die Angst und den unerforschlichen Hilferuf. »Ich komme«, flüsterte sie, »ich gelobe, daß ich meine Mission vollenden werde.« Dann fiel sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
62 Tolwyn wurde vom Sonnenlicht und dem Geruch von Speck -159-
aufgeweckt. Sie blinzelte und sah dann Christopher Bryce am Fenster stehen. »Nun sind Sie also endlich wach«, sagte er fröhlich. »Sie haben beinah den ganzen Morgen verschlafen.« Er schien sich zu freuen, daß sie aufgewacht war. »Ich erinnere mich an meinen Vater, Christopher Bryce«, sagte Tolwyn. »Ich habe letzte Nacht von ihm geträumt.« »Das zeigt, daß Sie Fortschritte machen«, sagte Bryce. »Wie war er denn?« Tolwyn überging seine Frage. »Was für eine Art Biest ruft denn da?« fragte sie ihn. »Welches Biest?« fragte Bryce. »Hören Sie das Heulen nicht? Dieses wilde Schreien draußen vor den Wänden dieses Schlosses.« »Oh, das ist der Wind. Seit das hier alles angefangen hat, hat es unglaubliche Stürme gegeben. Und jetzt scheint es, als ob der Planet sich langsamer dreht. Ich begreife nicht, was mit dieser Welt vorgeht.« »Sie meinen, daß es länger dauert, bis das Licht einmal die Reise um die Welt gemacht hat?« Jetzt war Bryce verwirrt. »Kommen Sie her. Werfen Sie einen Blick aus dem Fenster.« In einen blauen Krankenhausbademantel gehüllt stand Tolwyn neben Bryce, der um einiges kleiner war als sie, und schaute aus dem Fenster: Wirbelwinde trieben Abfälle, Blätter und zahlreiche andere Gegenstände durch die Straßen, die von hohen Backsteingebäuden gesäumt wurden. Regen prasselte unablässig gegen die Fenster, und Wolkenberge rasten atemberaubend schnell am Himmel vorüber und über die hohen Häuserdächer hinweg. Die Wolken wirkten bedrohlich. Auf den Straßen unter ihnen kämpften ein paar Fahrzeuge des Militärs und der Polizei gegen den Wind an, doch sie kamen kaum -160-
vorwärts. Unsinnigerweise versuchten sie, das Kriegsrecht in einer Stadt durchzusetzen, deren Einwohner sich dort versteckten, wo sie ein wenig Sicherheit fanden und den Sturm überleben konnten. Tolwyns Blick wanderte vom Himmel zu den Gebäuden und dann zu den Fahrzeugen, die langsam durch die Straßen krochen. »Christopher Bryce«, sagte sie, »das hier ist nicht die Welt, in der ich geboren wurde und gestorben bin.« »Was...?« Aber bevor er weiter fragen konnte, sprach die junge Frau schon weiter. »Ich muß die Schlucht aus meinen Träumen suchen, Christopher Bryce. Das ist mein Auftrag, deswegen bin ich hierher gekommen.« »Ich verstehe Sie nicht.« »Ich bin Tolwyn. Mein Vater ist Graf Bordal aus dem Hause Tancred. Sonst weiß ich nur, daß mich irgend etwas vom Grund einer Schlucht ruft. Ich muß diesem Ruf folgen.« »Das ist verrückt«, rief Bryce, »ich werde Sie nicht gehen lassen. Es geht Ihnen nicht gut, und...« »Ich bin kein Kind, dem man Befehle gibt, Christopher Bryce!« brüllte Tolwyn. Ihre Stimme war kraftvoll und voller Autorität. Bryce hielt inne. »Ich möchte Ihnen helfen, Tolwyn, sehen Sie das denn nicht?« »Dann helfen Sie mir die Schlucht zu finden, Christopher«, flehte Tolwyn. Plötzlich wirkte ihre Stimme vollkommen kraftlos. »Bitte.«
63 An diesem Nachmittag brachte Pater Christopher Bryce -161-
Tolwyn auf ihr Zimmer zurück, nachdem sie mit Rick Alder, Ratte und Coyote in der Cafeteria gegessen hatten. »Sind Sie wirklich tot gewesen, Tolwyn?« fragte er, um seine Gedanken zu ordnen. »Ja«, sagte sie, ohne zu zögern. »Und Sie sind nicht Wendy Miller?« »Nein.« »Sie sind es nie gewesen, nicht wahr?« »Ich bin immer die gewesen, die ich bin: Tolwyn aus dem Hause Tancred.« »Wissen Sie, was mit der jungen Frau passiert ist, deren Körper sie haben?« Tolwyn betrachtete ihre Arme und Hände. Dann schaute sie ihr Gesicht in einem Spiegel über einer kleinen Kommode an. »Das ist mein Körper«, sagte sie und zeigte auf die Narben auf ihren Armen. »Das hier sind meine Narben. Soweit ich weiß. Und das dort in dem Glas ist mein Gesicht.« Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Aber meine Haare wurden abgeschnitten.« »Woher kommen Sie, Tolwyn vom Hause Tancred, und weshalb sind Sie hier?« fragte Bryce zögernd, als sorge er sich, daß seine Fragen sie aufregen könnten. Doch sie seufzte nur, und die Muskeln in ihrem Gesicht entspannten sich, als sie den Kopf schüttelte. Offensichtlich hielt sie nicht die Antworten für ihn bereit, die er suchte. »Was für ein Land ist das hier, Christopher Bryce?« fragte Tolwyn, während sie aus dem Fenster blickte. »Es ist schwer zu sagen, was Sie wissen und was Sie nicht wissen«, erwiderte er. »Mir geht es nicht anders«, sagte sie und nahm die Vase mit der geheimnisvollen Blume in die Hand. »Wissen Sie, was das ist?« -162-
»Ich glaube nicht, daß ich jemals solch eine Blüte gesehen habe. Aber andererseits kenne ich mich mit Blumen nicht besonders gut aus. Sie haben sie Crys genannt, nicht wahr? Das ist ein seltsamer Name...« »Nicht für mich, Christopher. Als ich ein Kind war, bin ich über Felder gerannt, die mit ihnen übersät waren. Sie wurden in jener Schlacht zertrampelt, in der ich gestorben bin.« »Was für eine Schlacht war das, Tolwyn?« Und dann bemerkte er, wie die Wut zurückkehrte, weil sie sich nicht erinnern konnte. Ihre Augen logen nie. »Ich... warte... nicht... Aysle...« Tolwyn hatte Mühe, diesen Namen auszusprechen. Doch als sie ihn dann ausgesprochen hatte, war sie etwas ruhiger. »Meine Heimat ist Aysle.« Sonst kamen keine Erinnerungen mehr an die Oberfläche. Sie hatte nichts – nur einen Namen und scheußliches Heimweh. »In meinem Kopf herrscht Krieg, und ich bin müde.« Plötzlich wandte sie sich an Pater Bryce. »Das Bett hier ist schmal, aber ich habe schon auf schmaleren geliebt. Möchten Sie sich zu mir legen, Christopher Bryce?« Bryce spürte, daß ihm das Blut ins Gesicht stieg. Er wurde rot vor Scham und suchte nach den richtigen Worten, um seine Berufung und die Gelübde zu erklären, die er abgelegt hatte. »Wie seltsam«, sagte sie verwundert, nachdem er die richtigen Worte gefunden und herausgebracht hatte. »Gelübde verstehe ich ja, aber die eigene Natur zu verleugnen...« »So ist es nun einmal«, sagte er leise. Sie zuckte mit den Achseln. »Es hätte mir Spaß gemacht, Christopher Bryce.« »Meine Freunde nennen mich Chris. Das ist die Kurzform für Christopher.« Sie blickte ihn verwirrt an und fragte dann: »Heißt das, daß Sie mich Toi nennen müssen?« Bryce lachte laut heraus und dankte ihr stumm, daß sie die -163-
Situation geklärt hatte. »Ich werde Sie dann später sehen, Tolwyn«, sagte er und verließ das Zimmer. »Bis später... Chris«, sagte sie, ließ sich aufs Bett fallen und schloß die Augen.
64 Strahlende Energie flickerte und funkelte, und Dr. Hachi Mara-Zwei tauchte in fließende dimensionsübergreifende Strahlen ein. Dann hörte das Flickern auf, das Funkeln verblaßte, und Mara spürte, daß sie im Platzregen vor einem Backsteingebäude stand. Sie zog einen Chip aus ihrer Tasche, auf dem Sprachen und allgemeine Logik abgespeichert waren, und steckte ihn in einen der Schlitze hinter ihrem Ohr. Der Chip begann zu arbeiten, und die Metallbuchstaben an der Gebäudewand verkündeten ihr auf einmal ganz eindeutig, daß das hier das Krankenhaus der Universität von Pennsylvania war. »Giga-Strahlung«, rief Mara in die menschenleere Straße. »Es hat geklappt. Ich bin hier.« Plötzlich vergaß sie ihre Besorgnis über das Gelingen ihrer Reise. Sie erinnerte sich aber noch an den Zwischenfall in der Transferenzkammer und schaute sich schnell um, ob Thratchen ihr gefolgt war. Die Straßen waren leer. Mara rollte ihren Lederhandschuh herunter und öffnete ihr linkes Handgelenk an der Innenseite. Nachdem sie eine Faust geballt hatte, konnte sie die Tastatur und die Displayzeile benutzen. Der Code auf dem Display verriet ihr, daß das Programm immer noch funktionierte, mit dem die Sensoreinheit in ihrem linken Auge kontrolliert wurde. Mara hatte die Sensoreinheit entworfen, als der Krieg gegen die Sims gerade angefangen hatte. Es war auffällig gewesen, daß -164-
die Individuen ihrer Welt eine Veränderung durchgemacht hatten, die im Zusammenhang mit der eindringenden Realität stand. Alle Individuen – auch sie selbst – hatten angefangen, eine Energieform zu lagern, die Mara zwar messen, aber nicht identifizieren konnte. Selbst die Sims wurden von dem Sensor registriert, zumindest einige von ihnen. Der Sensor identifizierte tatsächlich die Energie, die in allen Lebewesen oder Dingen war, doch meistens war sie so gering, daß man sie bis dahin gar nicht lokalisieren konnte. Ihrer Theorie nach verbarg sich hinter dem Energievorrat ein natürlicher Verteidigungsmechanismus. »Dieser Sturm gefällt mir nicht«, murmelte Mara, und die Stürme fielen ihr wieder ein, von denen Kadandra vor dem Eintreffen der Sims heimgesucht worden war. »Okay, dann wollen wir uns mal den Energiezustand der Erde ansehen.« Sie drückte auf ein paar Tasten, und die Sensorlinse über ihrer Pupille bewegte sich. Auf einmal explodierte die Welt ringsum, und Mara wurde von einem blauroten Licht geblendet. Sie schloß sofort das Auge, aber die grellen Farben hatten sich in ihre Netzhaut gebrannt. Selbst mit geschlossenem Auge sah sie das Nachbild. »Verdammt, diese Welt glüht ja! Energie in Hülle und Fülle«, murmelte sie in sich hinein. Sie modifizierte das Programm, schaltete auf stärkere Konzentration und öffnete das Auge wieder. Jetzt konnte sie wieder ganz normal sehen. Das blaurote Licht war verschwunden. Um den Sensor zu testen, hielt sie sich die Hand vor das Auge. Sie war in einen blauroten Lichtschein getaucht. »Da es hier eine derartige Energiemenge gibt, scheine ich einen Teil davon zu absorbieren. Giga-Strahlung.« Mara ließ ihren Blick über das Gebäude schweifen, vor dem sie stand, und entdeckte einen schwach pulsierenden Lichtschein an einem der oberen Fenster. Okay, dachte sie. Rein und rauf. Offenbar schenkte niemand der jungen Frau im schwarzen Overall größere Beachtung. Zielbewußt lief Mara durch die Gänge und schlug den Weg ein, den das Display in ihrem Auge -165-
anzeigte. Im vierten Stockwerk des Krankenhauses bemerkte sie, daß ein hohes Maß an Energie aus einer offenen Tür strömte. Wer immer der Auserwählte sein mag, dachte sie, der muß ja ungeheuer aufgeladen sein. Leise näherte sie sich der Tür und warf einen Blick in das Zimmer.
65 »Ziehen Sie diesen Bademantel an, Tolwyn«, flehte Pater Bryce. Tolwyn drehte sich um und fauchte: »Wenn Sie mir noch einmal sagen, was ich tun soll, Christopher Bryce, dann werde ich höchstpersönlich siebenundzwanzig Möglichkeiten demonstrieren, wie man einen Mann außer Gefecht setzen kann, ohne eine Waffe zu benutzen.« Bei dieser Drohung mußten Ratte und Coyote kichern, aber Bryce hörte aus Tolwyns Stimme heraus, daß es ihr ernst war. Das machte ihm angst, aber nicht um seinetwillen, sondern um ihretwillen. »Tolwyn, erzählen Sie mir noch mal, wohin Sie gehen wollen«, sagte Rick Alder. »Es gibt irgendwo eine breite, tiefe Schlucht. Ganz tief unten schlängelt sich ein rauschender Fluß. In dieser Schlucht gibt es eine Höhle, und in dieser Höhle ist das Wesen, das mich auf diese Welt gerufen hat. Es hat Schmerzen. Es hat Angst. Und ich muß ihm helfen«, schloß Tolwyn. »Das ist nicht gerade viel, um weiterzumachen«, sagte Alder. »Wir wissen ja nicht mal, in welche Richtung wir gehen müssen.« Erregt sprang Tolwyn auf: »Doch, doch, Rick Alder! Das wissen wir! In meinen Träumen ziehe ich immer nach Westen. Wir müssen nach Westen gehen!« -166-
»Es war ein Traum, Tolwyn«, suchte Bryce sie zu beruhigen. »Ich muß diese Schlucht suchen, Chris. Ich muß!« »Warum?« fragte Coyote. Bevor Tolwyn antworten konnte, rief Ratte plötzlich. »Coole Haare!« Bryce, Tolwyn, Alder und Coyote musterten die junge Frau mit der silbernen Haarmähne, die in der Tür stand. Sie trug einen seltsam geschnittenen, schwarzen Overall mit unzähligen Taschen. Die Fremde blickte Tolwyn unverwandt an. »Sie muß den Ort aus ihrem Traum finden«, sagte sie. Ihre Stimme hatte einen Akzent, der genauso fremd war wie der von Tolwyn, aber er hatte einen ganz anderen Ursprung. Bryce bemerkte, daß sie eine Gesichtsmaske trug. Die junge Frau wandte ihren Blick von Tolwyn ab und sah die anderen an. »Sie muß gehen, und ich werde sie begleiten.«
66 Djil erhob sich von seinem Platz, von dem aus er das Meer überblicken konnte. Er hatte lang genug dort gesessen, der Erde zugehört und in Träumen gewandelt. Er warf einen Blick auf das Seil, mit dem er sich beschäftigt hatte, und untersuchte die sechs Knoten, die er geknüpft hatte. »Wir werden die Knoten sein, die die Realität wieder zusammenbinden«, sagte er zu dem Seil, aber es war deutlich, daß er zu jenen sprach, die die Knoten repräsentierten. »Aber der Pfad des Seils wird nur schwer zu gehen sein. Ach, so schwer.« Er ging in sein Dorf. In seiner Behausung packte er seine wenigen Habseligkeiten in einen kleinen Sack, den er sich über die Schulter warf. Dann wollte er das Dorf verlassen. »Wohin gehst du, alter Mann, ohne ein Wort zu sagen?« -167-
fragte ihn schließlich eine Dorfbewohnerin, die den Mut hatte, den Schamanen anzusprechen. »Es ist an der Zeit, einen Spaziergang zu machen.« Damit verließ der Aborigine das Dorf. Er sagte nichts mehr. Er ging wohl davon aus, daß alles gesagt sei.
67 Der Elfenzauberer Delyndun betrat den Boden einer neuen Welt. Hinter ihm waren die Kräfte von Aysle, auf einer Brücke, die in den Himmel aufragte, und vor ihm lag der fremdartige Anblick der Realität dieser Welt, aber er konnte in der Nähe der Brücke schon Anzeichen für die Realität von Aysle sehen. Er konnte die Drachen mit ihren Reitern sehen, die jeglichem Widerstand mit Feuerstürmen begegneten. Krieger aus vielen Häusern zogen aus, um das Reich zu sichern, und die Kreaturen aus Aysle strömten in das Land. »Zu mir, Helfer«, rief Delyndun. Nur wenige Sekunden später tauchten junge, menschliche Zauberer auf, seine Lehrlinge. »Bereitet den Kreis vor«, ordnete er an. Mit Hilfe ihrer geheimen Kräfte schufen sie Bereiche des Wissens und den suchenden Kreis. Als Delyndun mit ihrem Zauber zufrieden war, trat er in den Kreis. Durch seinen eigenen Zauber wurde der Kreis von einer blauen Sphäre glühender Magie durchdrungen. Von dort aus konnte er fast alles sehen, was er auf der Wölbung der Sphäre zu sehen wünschte –wenn er das richtige Artefakt hatte, um den Zauber auszulösen. Er zog einen Panzerhandschuh aus einer Tasche an seinem Gürtel. Der Handschuh war sehr alt. Offensichtlich hatte er einmal einem Ritter von hoher Herkunft gehört. Delyndun sprach Worte einer Sprache, die nur die Zauberer kannten, und der Handschuh warf Licht auf die Wände der Sphäre. -168-
»Falls der Ritter aus der Prophezeiung, der Ritter, der in den Gedanken meines Meisters ist und ihn verfolgt, auf dieser Welt weilt, dann zeig mir, wo er ist!« Das Gesicht einer Frau mit glänzendem haselnußbraunen Haar und grünen Augen tauchte vor dem Elfen auf. Sie wurde von einem Mann in schwarzer Kleidung, einer Frau in Schwarz, noch einem Mann und zwei Jungen begleitet, aber der Zauberer war viel zu sehr an Tolwyns Bildnis interessiert, als daß er den anderen viel Aufmerksamkeit geschenkt hätte. »Es hat funktioniert«, flüsterte er voller Ehrfurcht. »Nach den unzähligen Versuchen auf den vielen Welten hat es endlich funktioniert.« Er prägte sich ihren Aufenthaltsort ganz genau ein. Einer der Lehrlinge stützte den Zauberer, der einer Ohnmacht nahe war. »Was ist denn, Meister?« fragte der Lehrling. »Was habt Ihr gesehen?« »Sie ist hier, Conkin«, flüsterte der Zauberer. »Ich muß Lady Ardinay darüber informieren, daß Tolwyn aus dem Hause Tancred endlich zurückgekehrt ist.«
68 Thratchen saß zwischen den Computern in der Hauptkammer der Transfereinrichtungen. Er hatte gerade den letzten Freiwilligen getötet. Vielleicht hätte er das nicht tun sollen. Aber er wußte, daß es keinen Unterschied machte. Er hätte ihnen nicht trauen können, wenn er mit ihrer Hilfe Dr. Hachi gefolgt wäre. Wahrscheinlich hätten sie so getan, als würden sie seinen Wünschen entsprechen, aber wenn er im Transferzylinder gewesen wäre, hätten sie sicher seine Atome in alle Kosmen gepustet. Er und sein Hohepriester hatten einen Krieg gegen Dr. Hachis Volk geführt, obwohl die Invasoren nie in den Krieg -169-
zogen. Sie eroberten gewöhnlich schnell und gründlich. Aber jetzt saßen ihre Soldaten in der Gefangenschaft oder waren geflohen. Die Mahlstrombrücken waren zerstört worden. Nach dem, was Thratchen wußte, war er der Letzte seines Volkes, der lebte und noch auf Kadandra war. Aber nun mußte er weiter. Jeden Augenblick würden Kadandra-Soldaten eintreffen. Dann mußte er verschwunden sein. Thratchen zog einen schwarzen Würfel aus einer seiner Taschen. Er mußte damit nur die Energie bündeln, um an die Seite seines Herrn zurückkehren zu können. Doch plötzlich sah er ein blinkendes Licht auf dem Armaturenbrett. Thratchen erkannte, daß der Transferzylinder noch genug Restenergie von den Stürmern hatte, um eine zweite Reise ins Kosmoversum zu ermöglichen. Vielleicht handelte es sich dabei um eine Sicherheitsvorkehrung, überlegte er, um Dr. Hachi nach einer gewissen Zeit wieder zurückzuholen. Statt dessen würde er ihr folgen. »Ich weiß nicht, wohin Sie so schnell verschwunden sind, Mara«, sagte Thratchen laut. »Das konnte ich nicht aus Dr. Kendal herausholen, bevor er zusammengebrochen ist. Aber ich werde Ihnen folgen. Ich muß noch ein paar Dinge mit Ihnen diskutieren. Ich möchte wissen, wie Sie herausgefunden haben, daß wir hierherkommen.« Er konnte allerdings auch in seinen eigenen Kosmos zurückgehen. An der Seite seines Hohenpriesters wartete Macht auf ihn. Sie hatten hier vielleicht versagt, aber irgendwo anders in diesem Kosmoversum fand gerade eine neue Invasion statt. Schon bald wollten sich die Sims an dieser Invasion beteiligen und Partner des Hageren Mannes werden. Thratchen mußte nur den schwarzen Würfel benutzen, und schon bald würde er bei seinem Hohepriester sein. Aber er hatte noch andere Möglichkeiten, Macht zu gewinnen. Dr. Hachi war eine dieser Möglichkeiten. Der Sim trat in den Transferzylinder. Energiewellen flössen in den leeren -170-
Raum, und dann war auch Thratchen verschwunden.
69 »Wer sind Sie?« fragte Pater Bryce die junge Frau im schwarzen Overall. »Dr. Hachi Mara-Zwei«, antwortete die Frau. »Sind Sie mit Tolwyns – mit Miß Millers – Fall betraut, Dr. Marazwei?« wollte Bryce wissen. »Dr. Hachi«, korrigierte sie ihn und fügte dann hinzu, »ja, ich habe ihn gerade übernommen.« Er versuchte ihren leichten, befremdlichen Akzent einzuordnen. Dann studierte er ihre Gesichtszüge. Sie sah umwerfend aus, aber er war sich nicht sicher, ob das an ihrer wilden Haarmähne, ihrem Makeup oder an ihrem Auftreten lag. Die leicht schräg gestellten Augen deuteten auf asiatische Vorfahren hin, und das erklärte wohl auch ihren eigenwilligen Namen. Und sie war jung, sehr jung im Vergleich zu Bryce, der vierunddreißig Jahre alt war. »Entschuldigung, Dr. Hachi, aber Sie sind sehr jung für einen Doktor«, sagte er. »Ein Wunderkind«, antwortete sie kurz, denn sie konzentrierte sich ganz auf Tolwyn. »Sind Sie zum Aufbruch bereit, Tolwyn?« fragte sie. »Ja.« »Warten Sie!« sagte Bryce, als Tolwyn die Vase mit der CrysBlume hochhob. »Sie wissen doch nicht, wie Sie dorthin gelangen können.« »Doch, das weiß sie«, meldete sich Rick Alder zu Wort. »Was sagen Sie da, Rick? Sie werden sich doch nicht diesen beiden in dieser verrückten Angelegenheit anschließen?« -171-
protestierte Bryce. »Wer kann denn noch beurteilen, was verrückt ist, Chris? Ich glaube, daß Tolwyns Traum etwas bedeutet, und ich möchte erfahren, was das ist. Falls es tatsächlich eine Möglichkeit gibt, an diese Monster heranzukommen, die New York zerstört haben, dann will ich dabeisein. Ich habe das mir und einer armen, jungen Frau geschworen.« »Wir auch, Pater«, sagte Coyote, und Ratte nickte. »Wir werden es herausfinden, Christopher Bryce«, sagte Tolwyn. Sie drehte sich um und wollte gehen. »Warten Sie! Sie brauchen doch noch Kleidung«, sagte Bryce. Tolwyn blickte an sich hinunter. »Ja. Falls meine Träume einen Hinweis geben, dann liegt die Schlucht in einem sehr wilden Landstrich. Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde Kleider finden.« »Warten Sie«, sagte Bryce wieder. »Was denn nun noch?« fragte Mara voll jugendlicher Ungeduld. »Warten Sie... auf mich«, sagte Bryce schließlich. »Das heißt, falls ich eingeladen bin...« Tolwyn lächelte und legte ihren rechten Arm Bryce um die Schulter. Dann drückte sie ihn an ihre Brust. »Gut«, sagte sie. »Jetzt sind wir fast vollzählig.« Bryce wollte nicht wirklich mitgehen, denn er hielt diese Reise für närrisch. Aber er wollte auch nicht, daß Tolwyn ohne ihn ging. Vielleicht hatte sie die Antwort, die er suchte. Er glaubte, daß Tolwyn gelebt hatte, gestorben war und nun wieder lebte. Er mußte erfahren, was nach dem Leben kam. Er mußte es von jemandem erfahren, der es erlebt hatte. Er mußte wissen, ob es etwas gab, an das er glauben konnte, in das er sein Vertrauen setzen und an dem er seinen Glauben ausrichten konnte. -172-
Tolwyn kannte vielleicht die Antwort. Sie war sich dessen selbst noch nicht bewußt, aber das würde vielleicht noch kommen. Deswegen mußte er bei ihr sein, wenn ihre Erinnerungen zurückkehrten. »Bleiben Sie hier«, sagte er und fügte dann hinzu: »Nur für einen kurzen Augenblick. Wir werden Kleider für Tolwyn besorgen, außerdem ein paar Vorräte.« Er hielt inne und schaute Tolwyn an. »Werden Sie warten?« Tolwyn nickte. »Ich kann Ihre Hilfe gebrauchen, Christopher Bryce. Ich werde warten.« »Coyote, Ratte, laßt uns mal sehen, was wir auftreiben können.« »Ich werde mich um den Lieferwagen kümmern«, sagte Alder. Dann verließen die Männer das Zimmer und ließen Tolwyn und Mara allein.
70 »Die Fahrzeuge sollen anhalten.« Dieser Befehl von Decker war eigentlich nicht nötig gewesen, denn die Fahrer des Lieferwagens und der beiden Jeeps hielten von allein an. »Was ist das?« fragte Soldat Rider, Deckers Fahrer. Der Kongreßabgeordnete schaute durch ein Fernglas. Vor ihnen lag eine Sturmfront, die den ganzen Horizont einnahm. Zuckende Blitze schossen durch die Wolken, und es regnete heftig. Außerdem sah es aus, als ob sich die Landschaft im Sturm dauernd veränderte, doch Decker nahm an, daß es sich dabei um eine optische Täuschung handelte. »Sergeant, was halten Sie davon?« fragte Decker Lewis, der mit seinem Jeep gerade neben ihm gehalten hatte. -173-
»Nach den letzten Erkenntnissen unseres Nachrichtendienstes ist das hier die Grenze zu der Zone des Schweigens«, erklärte der Sergeant. »Glauben Sie, daß dieser Sturm irgend etwas mit den Invasoren zu tun hat?« »Wir können nur Vermutungen äußern«, sagte Decker, »aber Stürme sind offensichtlich ein wichtiges Element.« Decker und die Soldaten verfolgten das Schauspiel, ohne ein Wort zu sagen. Dann meinte Decker: »Wir werden nichts herausfinden, wenn wir hier nur rumsitzen. Sergeant, lassen Sie uns anfangen.« »Sie sind der Chef, Kongreßabgeordneter«, murmelte Lewis. Dann gab er den Befehl. »Wir fahren weiter!« Die kleine Kolonne fuhr langsam auf den Sturm zu. Einmal blickte Decker zurück, aber die Skyline von Harrisburg war wegen der dichten Wolken schon nicht mehr zu sehen. Also richtete er seine Aufmerksamkeit auf das, was vor ihnen lag. Dabei versuchte er, sich von dem tosenden Wind und den Blitzen nicht irritieren zu lassen. »Sind Sie sicher, daß wir das Richtige tun, Kongreßabgeordneter?« fragte Rider. Der Wind war so stark, daß er laut brüllen mußte. »Überhaupt nicht«, schrie Decker zurück. »Aber manchmal muß man eben ein Wagnis eingehen.« Die Sturmfront rückte näher, und Decker entdeckte zu seiner Überraschung, daß sie wirklich eine Wand aus wirbelnden Wolken bildete. Das erinnerte ihn an einen Tornado, nur daß der Sturm diesmal an Ort und Stelle verharrte. »Das ist wie im ›Zauberer von Oz‹, Kongreßabgeordneter.« »Was für ein wunderschöner Gedanke, Rider.« Nachdem sie die Sturmwand durchfahren hatten, bewegten sie sich im Herzen des Orkans. Die Straße unter ihnen war uneben und holprig, wurde manchmal unglaublich schmal und dehnte -174-
sich dann wieder wie eine riesige Decke aus. Rider gelang es, das Fahrzeug gerade und ruhig zu halten, obwohl die Straße kaum sichtbar war. Decker versuchte nach vorn zu schauen. Er wollte den unrealistischen Ausblick ignorieren. Doch seine Augen wanderten herum, ohne daß er es wollte. Die Landschaft veränderte sich ständig. Unermeßlich hohe Bergkämme ragten auf, um nach einem Blinzeln wieder in sich zusammenzufallen, und überall schlugen Blitze ein. »Was geht denn hier nur vor?« brüllte Decker. Der Kongreßabgeordnete sah, daß Riders Handknöchel sich weiß verfärbt hatten, weil er das Lenkrad so fest umklammern mußte. Er fragte sich, ob sie hier vielleicht wahnsinnig werden würden. Und er betete, daß sie bald das Zentrum des Sturms hinter sich lassen könnten. Wieder regnete es. Riesige, häßliche Wassertropfen platschten auf die Windschutzscheibe und die Motorhaube. Auf einmal verwandelten sich die Tropfen in kleine menschliche Gestalten. Jede der Figuren sah aus wie ein kleines »X« mit zwei erhobenen Armen und zwei flinken Beinen. Nur kurze Zeit später war die ganze Motorhaube mit den kleinen Gestalten übersät. Sie fingen an, über die Windschutzscheibe zu klettern. Der Kongreßabgeordnete schnappte sich ein Maschinengewehr, um auf die kleinen Gestalten einzuschlagen, wenn sie in das Fahrzeug eindrangen. Die Figuren mühten sich schweigend ab, und das machte Decker noch nervöser. »Fahren Sie einfach nur weiter, Soldat«, befahl Decker. Die erste der Wassergestalten war über die Windschutzscheibe geklettert. Ihr kopfloser Körper war wie ein Miniatursturm, voll von prasselndem Regen und Dreck. »Verschwinde von meinem Jeep!« rief Decker und schwenkte das Maschinengewehr wie einen Baseballschläger. Der Griff sauste durch die Gestalt; es spritzte, und Regen und Dreck -175-
wurden in alle Richtungen geschleudert. Auf einmal stürmten die Regentropfengestalten gemeinsam vor. Sie überwanden die Windschutzscheibe schneller, als Decker zuschlagen konnte. Sie klammerten sich an ihnen fest und schlugen mit ihren winzigen Fäusten auf sie ein. Ein einzelner Hieb tat nicht weh, aber Decker wußte, daß die Figuren sie töten konnten, wenn sie so viele waren. »Wir werden ertrinken, Decker!« rief Rider. Decker hörte seiner Stimme an, daß er langsam in Panik geriet. »Fahren Sie einfach weiter, Soldat! Wir müssen doch langsam aus diesem Sturm herauskommen!« Decker war jetzt fast vollständig von den Regengestalten übersät. Eine feuchte Faust berührte die Haut auf seiner Wange, und er versuchte sie abzuwehren. Sie fühlte sich schleimig, dreckig und kalt wie der Tod an. Auch Decker bekam richtig Angst, und er mußte sich zusammenreißen, sonst wäre er sicherlich aus dem Jeep gesprungen. Wenn er jedoch das Fahrzeug verließ, seine Insel der Realität in diesem Sturm des Wahnsinns, dann würde er für immer und ewig verloren sein. Wasserarme und beine schlugen auf sein Gesicht ein. Er konnte die Kälte der Stürme fühlen, die in ihnen tobten. Sie bedeckten seinen Mund und seine Nase, und plötzlich mußte Decker kämpfen, um atmen zu können. Doch dann brach der Jeep auf einmal durch die Wolkenwand. Und gleich darauf konnte Decker die Veränderung spüren. Die bisherige Landschaft war verschwunden, und ein gleichförmiger Horizont hatte ihren Platz eingenommen. Die Wassergestalten hielten sich nur noch kurz fest, brachen dann aber in einer Pfütze unter Deckers Sitz zusammen. Er war völlig durchweicht, konnte aber wieder atmen. Glücklich sog er frische Luft in seine Lungen. »Gut gefahren, Rider«, keuchte Decker. »Aber wie Sie das -176-
geschafft haben, wird mir ewig ein Rätsel bleiben...« Decker hielt inne. Der Soldat neben ihm war über dem Lenkrad zusammengebrochen. Seine Uniform war tropfnaß, und er bewegte sich nicht. Decker wollte seinen Puls fühlen, aber da war keiner. »Oh, Rider, warum sind Sie gestorben und haben mich im Stich gelassen?« stöhnte Decker. Dann sah er, daß Riders Fuß sich am Gaspedal verfangen hatte. Das erklärte, warum der Jeep weitergefahren war. Ziemlich distanziert fiel ihm ein, daß der Jeep eigentlich immer noch in Bewegung sein müßte, doch aus irgendeinem Grund war der Motor ausgegangen. Decker lehnte sich zurück, denn die Reise durch den Sturm hatte ihn ausgelaugt. Doch er schaute sich um, denn er wollte wissen, wo er gelandet war. Die Landschaft kam ihm ziemlich bekannt vor. Sie sah wie das Pennsylvania aus, das er kannte. Aber irgend etwas stimmte nicht. Der Kongreßabgeordnete wandte den Kopf, als er hörte, wie die anderen Fahrzeuge hinter ihm eintrafen. Der Lastwagen und der Jeep brausten aus dem Sturm. Aber auch ihre Motoren starben plötzlich ab. »Ich glaube, wir haben es geschafft; wir sind in der Zone des Schweigens«, dachte er. Doch dann kam aus dem Wald vor ihnen eine riesige Echse, auf deren Rücken und Schwanz Zacken zu sehen waren. Da sie nicht auf die Fahrzeuge zuhielt, blieb Decker still sitzen und beobachtete sie. »Tja, Rider«, sagte er zu dem toten Soldaten, »ich glaube, wir sind nicht mehr in Pennsylvania.«
71 Zu reisen, ohne die Brücke zu benutzen! Diese Vorstellung erregte Thratchen und beunruhigte ihn gleichzeitig. Ihm fielen -177-
die frühen Experimente des Hageren Mannes ein, damals, als er und sein Hohepriester dem mächtigen Lord von Orrorsh dienten. Der Hagere Mann hatte mehrmals versucht, seine Kundschafter in andere Kosmen zu schicken, indem er sie durch dimensionsübergreifende Portale schleuderte. Nur eine Handvoll dieser armen Wesen überlebte, und sie kehrten als verbogene, gekrümmte Parodien ihrer früheren Gestalt wieder. Es sah so aus, als ob sie auseinandergerissen und wieder zusammengesetzt worden wären, als ob ein Kind sich an ihnen vergriffen hatte, das noch nie das unbeschädigte Ganze zu Gesicht bekommen hatte. Beide Arme waren auf einmal an einer Seite des Körpers, die Beine ragten aus der Taille heraus, und die inneren Organe waren sichtbar. Diese Gedanken gingen Thratchen durch den Kopf, obwohl die Reise für ihn nicht länger als ein paar Sekunden dauerte. Dann hatte er wieder festen Boden unter den Füßen. Es regnete. Thratchen haßte Regen. Das war das Schlimmste, wenn man andere Kosmen überfiel – wenn man dort ankam, regnete es zwangsläufig. Er schaute sich um und stellte seine Sinne auf die neue Umgebung ein. Aber schon nach einem kurzen Blick wußte er, daß Mara nicht in der Nähe war. Sie war sicher mehrere Kilometer von seinem Ankunftsort entfernt. Das hätte ich voraussehen müssen, dachte sich Thratchen. Der Transferzylinder und der Kyberdrive waren für jemanden gebaut worden, der viel kleiner und leichter war als er. Möglicherweise war er viele tausend Meilen abgedriftet. »Das ist der Preis von raschen Entscheidungen«, murmelte er, während er seinen Körper auf irgendwelche Schäden untersuchte. All seine Gliedmaßen schienen dort zu sein, wo sie hingehörten. Dann untersuchte er das Gebiet, in dem er gelandet war. Er war in einer antiquierten technologischen Kultur, was zumindest die Gebäude anbelangte, die er sah. Aber seine Sensoren sagten -178-
ihm, daß er in einer unentwickelten Axiomzone war. Sie war primitiv, und er würde hier vielfach nicht auf seine Ausrüstung zurückgreifen können. Aber Thratchen konnte seine eigene Realität behalten, und genau das hatte er auch vor. Zwei Gestalten mit Speeren kamen auf ihn zugelaufen. Ohne nachzudenken, aktivierte Thratchen sein eingebautes Beinholster. Sofort hatte er Zugang zu seiner Schmerzpistole. Die Waffe flog in seine Klauenhand, und er feuerte. Die Kreaturen fielen zu Boden. »Edeinos«, sagte Thratchen, als er Echsenmänner erkannte. In der Ferne sah er die Mahlstrombrücke, die dort aus einer Art Atena aufragte und in den Wolken verschwand. »Ich bin auf der Erde. Und die Invasion hat schon begonnen. Aber wie konnte ich...« Thratchen hielt inne. Er wußte, was geschehen war. Mara. Die verhexte Göre hatte nicht nur vorausberechnet, daß ihre Welt überfallen wurde, sondern sie hatte auch entdeckt, daß dieser Planet der vielen Möglichkeiten auch heimgesucht werden würde. Deshalb packte Thratchen eiskalte Wut, aber dann kam ihm langsam eine Idee. »Doch ohne Unterstützung werde ich sie nie finden. Und da mein Herr noch nicht eingetroffen ist, werde ich zu einer höheren Autorität gehen müssen.« Thratchen lief auf die Brücke zu.
72 Kürst hetzte durch Illmound Keep. Er war vom Hageren Mann gerufen worden, und er wußte, daß er eine Bestrafung herausforderte, wenn er seinen Meister warten ließ. Kürst schob sich an Dienern vorbei und betrat dann den großen Saal des Bergfrieds. -179-
Der Hagere Mann stand neben einem riesigen Bankettisch. Mit ausgebreiteten Armen beugte er sich über den Tisch und studierte verschiedene Karten. Scythak räkelte sich wie eine träge Katze auf einem der geschnitzten Eichenstühle. Auf der anderen Seite des Tisches stand ein Dämon von Tharkold. Die Haut des Dämonen schimmerte blauschwarz. Er trug eine schwarze Ledertunika. Kürst registrierte auch die zahllosen mechanischen Implantate am Körper des Dämons. »Ah, Kürst«, sagte der Hagere Mann, »komm näher.« Er deutete auf den Dämon. »Das hier ist Thratchen. Er hat dem Hohenpriester von Tharkold als Erster Lieutenant gedient, wurde aber auf Kadandra festgehalten, nachdem es jener Welt gelungen war, die Mahlstrombrücken zu zerstören.« Wortlos, aber neugierig kam Kürst näher an den Tisch heran. Er hörte Scythak leise und höhnisch kichern. Thratchens Lippen öffneten sich zu einem schmalen Spalt, so daß die anderen seine spitzen, gelben Zähne sehen konnten. Kürst fragte sich, ob der Dämon ihn zur Begrüßung angrinste oder ihm drohte. Dann sagte er sich, daß es sich wahrscheinlich um eine Drohung handelte und daß Thratchen sich der Hackordnung bediente, die unter den Dienern des Hageren Mannes üblich war. Kürst scherte sich nicht darum. Als Jäger des Hageren Mannes unterstand er nicht der Hierarchie im Hause. »Erzählen Sie uns, was auf Kadandra geschehen ist, Thratchen«, sagte der Hagere Mann. »Das kann ich Ihnen erzählen. Sie haben verloren«, lachte Scythak spöttisch. Der Hagere Mann beäugte den Dämon und wartete ab, ob seine Reaktion ihn als schwach oder närrisch entlarven würde. Auch Kürst wartete ab, aber er bemerkte nichts anderes als die Zeichen von Zuversicht und Macht. »Der Plan meines Herrn und Meisters ist sehr gut gewesen«, sagte Thratchen. »Alles wurde ausgeführt wie früher, wie Sie es -180-
uns gelehrt haben, Hoherpriester. Wie hätten wir auch annehmen sollen, daß die Kadandrianer mit unserer Ankunft rechneten.« Kürst registrierte, daß Scythak sich bei dieser Bemerkung aufrichtete, der Hagere Mann aber regungslos blieb. »Die Schuld an unserem Versagen ist einer Stürmerin zuzuschreiben, und ich wurde geschickt, diese zu vernichten, bevor sie noch mehr Schaden anrichten kann.« »Erklären Sie das, Dämon«, forderte der Hagere Mann. »Unter den Kadandrianern war eine junge Frau – ein Wunderkind, wenn Sie so wollen –, die eine Theorie ausgearbeitet hatte, mit der sie das Kosmoversum erklären konnte. Dann baute sie ein Instrument, mit dem man in andere Kosmen schauen konnte. Denjenigen, den sie sich zur genaueren Betrachtung aussuchte, gleich ihrem eigenen Kosmos sehr. Er hatte eine ähnliche Axio, einen vergleichbaren Technologielevel, eine ähnliche Geschichte. Aber während ihre Welt ein Ort des Friedens geworden war, hatte sich der Kosmos, den sie entdeckt hatte, genau in die andere Richtung entwickelt. Es war Tharkold.« Der Dämon fuhr mit seiner Erklärung fort und berichtete, daß das junge Genie festgestellt hatte, daß Tharkold zurückschaute. Die Kadandrianer hatten eine freundliche Begegnung im Sinn und warteten darauf, daß die erste Mahlstrombrücke heruntergelassen wurde. Gleichzeitig bereiteten sie sich aber auch darauf vor, daß der andere Kosmos vielleicht nicht freundlich war. Und so konnten sie sich dann gut verteidigen. »... und so wurden wir zurückgeschlagen und besiegt, weil sie auf uns warteten und wir nicht darauf vorbereitet waren«, schloß Thratchen. Der Hagere Mann spielte abwesend mit seinem Spazierstock herum, dessen Knauf aus einem Drachenkopf bestand. Das Licht spiegelte sich auf der blauroten Gemme zwischen den -181-
Drachenzähnen. »Warum sind Sie hier, Thratchen?« fragte der Hohepriester schließlich. »Weil mein Kosmos bis jetzt noch nicht hier ist, und weil ich Hilfe brauche. Das junge Genie, das ich suche, ist von Kadranda geflohen, bevor ich es erwischen konnte.« »Geflohen?« Im Blick des Hageren Mannes spiegelte sich Verwirrung wider, was nur äußerst selten vorkam. »Wie? Und wohin?« Kürst hörte einen Hauch Triumph aus Thratchens Antwort heraus. »Diese Stürmerin hat einen anderen Kosmos gefunden und ist außerdem auf eine Verwendung für Stürmer gestoßen, an die wir nie auch nur gedacht haben.« Der Hagere Mann schlug mit seinem Spazierstock auf den Tisch. »Genug von diesen Spielchen, Dämon! Was hat sie gefunden? Wohin ist sie gegangen? Berichten Sie, oder ich werde Sie auf der Stelle vernichten!« »Sie hat ein Tor entdeckt, Hoherpriester«, erklärte Thratchen flink. Vielleicht war ihm klar, daß er sein Spiel zu weit getrieben hatte. »Unter Zuhilfenahme von Stürmern und deren Energie hat sie ein Tor zwischen den Kosmen geöffnet. Sie ist auf die Erde gekommen, Hoherpriester, und ich fürchte, daß sie hier dasselbe vorhat, was sie auf Kadandra getan hat. Sie ist hierhergekommen, um diesem Kosmos zu helfen, seine eigene Realität zu behalten.« Der Hagere Mann erhob sich und wanderte um den Tisch. »Und Sie, Thratchen? Wie sind Sie in diese Welt gekommen?« »Durch dasselbe Portal, Hoherpriester. Dann durch Baruk Kaahs Kosmos zur Mahlstrombrücke, die Takta Ker mit Orrorsh verbindet, und da bin ich.« -182-
Kürst überprüfte im Geiste Thratchens Route. Der Dämon hatte tatsächlich die schnellste Strecke gewählt, um von der anderen Seite der Erde, wo er angekommen war, zum Reich des Hageren Mannes zu gelangen. »Gibberfat!« rief der Hagere Mann, und ein kleiner, aufgedunsener Dämon tauchte in einer Schwefelwolke auf dem Tisch auf. Gibberfat war einen Fuß hoch, hatte rotglimmende Haut und Schwimmhäute an den Füßen und Händen. Hinten an seinem schwabbeligen Genick waren sogar winzige Kiemen zu sehen. Er verbeugte sich und fiel sofort über die Schalen und Platten her, auf denen das Essen angerichtet war. Erst als der Spazierstock sich in seinen Bauch bohrte, hörte er damit auf. »Geh los und organisiere einen Ravagonflug, Gibberfat«, sagte der Hagere Mann. »Sie sollen flugbereit sein, wenn ich Nachricht gebe.« »Natürlich, Meister«, murmelte Gibberfat kauend. »Was immer Sie wünschen.« Er wandte sich einer Fleischplatte zu. »Los.« »Oh, gut«, rief der Dämon. Sein Abgang wurde von einer faulig riechenden Wolke begleitet. »Hoherpriester«, sagte Thratchen. »Ich halte es nicht für sinnvoll, daß diese Stürmerin auf der Stelle getötet wird.« Scythak sprang über den Tisch und packte Thratchen. »Sie wagen es, die Anweisung des Hageren Mannes in Frage zu stellen?« Kürst lehnte sich zurück, um in aller Ruhe das Schauspiel zu verfolgen. Der große Jäger baute sich vor Thratchen auf, doch das schien den nicht zu beeindrucken. Stahlkrallen fuhren aus den Fingern seiner rechten Hand, und er schlitzte Scythaks Arm von der Schulter bis zum Ellbogen auf. Der schrie vor Schmerz auf, ließ Thratchen los und umklammerte seinen Arm, um den Blutfluß -183-
zu stoppen. Daraufhin verwandelte sich Scythak langsam von einem Mann in einen riesigen Tiger. Er stand auf zwei Beinen, breitete die pelzigen Arme und seine Krallen aus. Die Geste war bedrohlich. Jetzt sah er aus wie eine schwarzgelb gestreifte Riesenkatze in Männerkleidung. Der Wertiger wollte gerade zuschlagen, als der Hagere Mann ihm mit seinem Spazierstock auf die Brust schlug. »Verwandele dich wieder zurück, Scythak. Und zwar auf der Stelle.« Der riesige Tiger schrumpfte wieder auf die Größe eines Mannes zusammen, und Scythak wich zurück. Aber Kürst wußte ganz genau, daß der Streit zwischen den beiden noch nicht beendet war. Vielleicht hatte er ja einen Verbündeten gegen den Wertiger gefunden. »Sprechen Sie, Thratchen. Ich hoffe, Sie haben eine gute Erklärung für mich«, sagte der Hagere Mann warnend. »Selbstverständlich wollte ich mich Ihnen gegenüber nicht respektlos verhalten, Hoherpriester. Ich glaube allerdings, daß jemand mit einem so stark ausgeprägten wissenschaftlichen Interesse wie Sie an dieser neuen Energie interessiert sein müßte. Sie sollten vielleicht diese Stürmerin gefangennehmen und zu weiteren Testversuchen hierherbringen lassen.« Der Hagere Mann stützte sich auf seinen Stock und marschierte einmal um den Tisch herum. Stumm ging er dabei ein Dutzend Pläne durch. Vor Kürst blieb er stehen. »Geh und bereite dich vor, Jäger«, sagte der Hagere Mann und legte seine Hand auf Kursts Schulter. »Ich habe einen Auftrag für dich.« Thratchen wandte sich an Kürst und fragte: »Und was für Tricks hast du auf Lager, Kleiner?« Scythak lachte laut heraus, als Thratchen darauf anspielte, daß Kürst ein gutes Stück kleiner war als die anderen drei Anwesenden. Der Jäger warf Thratchen nur einen bösen Blick -184-
zu. Vielleicht war der doch nicht sein neuer Verbündeter. Vielleicht wurde seine Hoffnung enttäuscht. »Geh, Kürst«, wiederholte der Hagere Mann. »Ich werde nach dir schicken lassen, sobald ich den Aufenthaltsort der Stürmerin herausgefunden habe.« »Nein! Ich bin Ihr bester Jäger! Schicken Sie mich los«, flehte Scythak, der inzwischen begriff, was der Hagere Mann im Sinn hatte. »Wenn das so ist, Scythak, dann ist es nur sinnvoll, daß du hier an meiner Seite bleibst«, beschwichtigte ihn der Hohepriester. Scythaks Brustkorb schwoll vor Stolz über dieses Lob an. Als Kürst sich erhob und gehen wollte, hörte er noch, wie der Hagere Mann sich an Thratchen wandte: »Kommen Sie, Dämon, lassen Sie uns gehen und Ihre Stürmerin suchen. Dann können wir den Wolf auf die Jagd schicken.«
73 Auf einem kleinen australischen Flughafen inspizierte Tom O'Malley sein Flugzeug. Das machte er gern selbst, denn er traute seinen Augen mehr als denen seines Mechanikers. »Wohin geht es dieses Mal, O'Malley?« fragte Jimmy Hogan im Vorbeigehen. »Großbritannien«, antwortete Tom fröhlich. Dabei warf er einen letzten Blick auf den rechten Motor. »Ich hoffe, daß Sie diesmal Fracht für beide Richtungen haben«, lachte Hogan. »Letztes Mal haben Sie ja nur draufgezahlt.« »Machen Sie sich um mich keine Gedanken, Jimmy. Passen Sie lieber auf sich selbst auf, denn die O’MalleyTransportgesellschaft wird Ihr windiges Unternehmen schon -185-
bald überrunden.« »Träumen Sie nur weiter, Tom. Sie haben nur dieses eine Flugzeug. Ich habe sechs.« Während die beiden Piloten sich unterhielten, tauchte ein Aborigine auf der Landebahn auf. Er war nur dürftig bekleidet. Offenbar war er sehr alt, doch sein Gang war aufrecht, und er strahlte eine Kraft aus, die seine weiße Haarmähne und seine verwitterten Gesichtszüge Lügen strafte. Der Alte musterte Toms Flugzeug gründlich und lief dann einmal herum. »Ja, das wird schon in Ordnung gehen«, murmelte er, während er mit einer Hand das Flugzeug sanft berührte. »Bitte kommen Sie wieder rechtzeitig zurück, Mr. O’Malley.« Dann machte der alte Mann auf dem Absatz kehrt und ging wieder den Weg zurück, den er gekommen war. »Das war ja wirklich ziemlich verrückt, Tom«, stieß Hogan hervor. »Was soll das Ihrer Meinung nach denn heißen?« O’Malley zuckte mit den Achseln. »Daß ich mich auf die Socken machen und schnell zurückkehren soll, denke ich.«
74 Toolpin stolperte hinter seinen Kameraden her. Wie immer bildete er die Nachhut. Für einen Zwerg war er von durchschnittlicher Größe, aber mit der Spitzhacke wußte er hervorragend umzugehen. Er und seine Kameraden waren unterwegs, um die Erleuchtung der Lady Pella Ardinay und von Aysle in eine neue Welt zu tragen. Doch Toolpin konnte wegen dieser Mission nicht in Jubel ausbrechen. »Warum nennt sie es Erleuchtung«, hatte er einmal gefragt, »wo das Land doch so düster geworden ist?« Die einzige Antwort, die er darauf von Pluppa erhielt, war ein Schlag auf den Kopf und die Warnung, daß er seine Zunge hüten solle, -186-
damit der Jägersmann sie nicht als Souvenir auswählte. Die Brücke war ein Stück weiter vorn. Sie war die Verbindung zu einer anderen Welt, und Toolpin bekam es mit der Angst zu tun, wenn er über eine dieser Verbindungen schreiten mußte. Wenn man über eine dieser Mahlstrombrücken lief, mußte man immer geradeaus schauen und die Füße gleichmäßig bewegen. Doch Toolpin konnte das Gefühl der Steine unter seinen Füßen nicht ausstehen. Er hatte einmal gefragt, ob die anderen auch spürten, wie die Steine sich von allein bewegten, als ob sie atmeten oder sich vor Schmerzen krümmten. Alle anderen hatten den Blick abgewandt, als er diese Frage stellte, und auch Pluppa hatte nur tief geseufzt. Sie hatte ihm nicht einmal einen Schlag auf den Kopf verpaßt. Die Sagen erzählten davon, wie Lady Ardinay die Brücken gebaut hatte, erzählten davon, daß man Gesichter sah, wenn man einen Blick auf die Steine warf – die Gesichter der Seelen, die die Brücke zusammenhielten und in den schmerzverzerrten Steinen gefangen waren. Wenn man ihrem Blick begegnete, lautete die Legende, dann mußte man sich ihnen anschließen, dann wurde man zu einem Teil der Brücke. Toolpin schaute nie hin. Aber er warf einen Blick über seine Schulter. Dort war Lady Ardinays Turm zu sehen, der sich über den Armeen auftürmte, die in die Schlacht zogen. Er entdeckte sie auf den Zinnen. Sie beobachtete den Zug wie gebannt. »Pluppa?« fragte Toolpin und klopfte der Zwergin vor ihm auf die Schulter. »Warum beobachtet Lady Ardinay uns die ganze Zeit über?« »Weil das so ihre Art ist«, flüsterte Pluppa. Und dann schlug sie Toolpin auf den Kopf. »Dreh dich jetzt um und paß auf, wohin du gehst. Und hör auf, so dumme Fragen zu stellen«, sagte sie mit strenger Miene. »Was ist dümmer«, dachte Toolpin, aber er wagte es nicht, -187-
laut zu sprechen, »zu fragen oder einfach blind zu folgen, während unsere Welt immer dunkler wird?«
75 Baruk Kaah, Saar der Edeinos und Hohepriester des Lebenden Landes, aalte sich in der Kraft der frisch gepflanzten Stele. In den Energiewellen konnte er die Liebkosung Lanalas spüren, in ihrem stummen Rufen die Anwesenheit von Rec Pakken. »Du fühlst Lanala noch nicht, Eddie Paragon«, sagte der Hohepriester zu dem Menschen neben ihm. »Du hast das Leben noch nicht gefunden.« »Es tut mir leid, aber abgesehen von ein bißchen Sport hier und da habe ich wenig Lust, auf allen vieren durch den Wald zu kriechen.« »Ich möchte ja auch nur, daß du mir alles über diesen Kosmos erzählst, Sänger. Mit zusätzlicher Information kann ich mein Territorium und meine Macht vergrößern.« Baruk Kaah hielt inne, als er das kraftvolle Schlagen vernahm, das die Ankunft der Ravagons ankündigte. Die drei Repräsentanten des Hageren Mannes landeten in der Nähe des Hohenpriesters und traten dann näher. »Wir grüßen Sie, Hoherpriester«, sagte der erste Ravagon. »Ihr Reich wird von Tag zu Tag größer. Der Torg ist erfreut.« Baruk Kaah erwiderte das Kompliment mit einem Nicken. Aus dem Augenwinkel heraus registrierte er, daß Paragon hinter ihn getreten war. Der Mensch fürchtete sich vor den Ravagons und gab sich wenig Mühe, seine Empfindungen zu verbergen. »Bringen Sie mir die Informationen, um die ich gebeten habe?« erkundigte sich der Hohepriester. »Natürlich«, antwortete der Ravagon mit einem höhnischen Grinsen und faltete seine Schwingen zusammen. -188-
»Zwölf Gebiete sind mit Stelen gekennzeichnet worden. Von dort aus breitet sich die Realität des Lebenden Landes aus und nimmt einen Großteil dieses Kontinents ein. In den nächsten Tagen werden noch weitere eingegraben. Das östliche Land hat schnell aufgegeben, und Ihre Stämme haben sich multipliziert.« Der Hohepriester schaukelte auf seinem Schwanz und schnaufte erfreut. »Dann ist es an der Zeit, daß ich dem westlichen Land meine Aufmerksamkeit schenke.« Baruk Kaah unterhielt sich durch die Stele mit Rec Pakken, seiner Dunkelheitsmaschine, die immer noch im Kosmos von Takta Ker war. Er bat um einen Pfad, um an Rec Pakkens Seite zurückkehren zu können. Daraufhin fiel plötzlich eine dünne Brücke aus lebendem Dschungel aus dem Himmel auf die Erde. »Nun komm, Sänger Paragon«, befahl Baruk Kaah, »jetzt wirst du etwas sehen, was noch niemand von dieser Welt zu Gesicht bekommen hat.« Er legte einen seiner geschuppten Arme um Paragons Taille und hielt ihn so fest. Den anderen schlang er um den dunklen Strahl. Dann wurde die Brücke wieder in den Himmel gezogen, und der Hohepriester und der Sänger verschwanden. Auch die Ravagons hielten sich an dem dunklen Strahl fest, ohne daß sie dazu aufgefordert worden waren. Und so wurden alle dorthin gezogen, wo die Dunkelheitsmaschine auf Takta Ker ihren Platz hatte.
76 Lord Angar Uthorion, der den Körper von Lady Pella Ardinay trug, wartete voll ängstlicher Erwartung auf seinem Turm. Vor einem Überfall ging es ihm immer so. Auch damals vor ungefähr dreihundert Jahren, in der letzten Schlacht vor der endgültigen Eroberung von Aysle, war es ihm nicht anders -189-
ergangen. An jenem Tag hatte Tolwyn vom Hause Tancred gelobt, zurückzukehren und Uthorion hinzumetzeln. Als der Carredon mit seinem tödlichen Schlag Erfolg hatte, hatten ihre Kampfgefährten ihren Geist ins Kosmoversum geschickt. Seit jenem Augenblick rechnete Uthorion mit ihrer Rückkehr. Er sah zu, wie die Krieger die Mahlstrombrücke hinunterliefen und voller Eifer in eine andere Welt marschierten, weil ihre geliebte Ardinay es so befohlen hatte. Wenn die Narren nur wüßten! Er sah den Kreis der spektralen Ritter, die um seinen Turm kreisten, und seine Gedanken kehrten zu Tolwyn zurück. Ihm wäre wohler, wenn der Hagere Mann den Carredon nicht nach Orrorsh zurückgerufen hätte, nachdem Aysle unterworfen worden war. Damals war ihm keine Möglichkeit eingefallen, wie er das Biest halten konnte, denn leider war es das Lieblingstier des Hageren Mannes. Aufregung in der Menge unter ihm riß Uthorion aus seinen Gedanken. Er ließ den Blick über den Brückenkopf schweifen und sah schließlich durch Ardinays liebliche Augen das Flugwesen, das über der Menge schwebte und langsam auf den Turm zuhielt. Nachdem das Wesen ein Stück näher gekommen war, erkannte der Hohepriester den Elfzauberer Delyndun, der ihn offenbar so schnell wie möglich erreichen wollte. Lord Uthorion erlaubte Delyndun auf der Zinne zu landen. Der Flug hatte ihn ausgelaugt, aber Uthorion hatte weder Zeit noch Lust, ihm eine Ruhepause zuzugestehen. »Sprich, Magier«, knurrte Uthorion durch Ardinays volle, rote Lippen. »Was hast du in Erfahrung gebracht?« Delyndun schaute Uthorion nicht an. Statt dessen legte er die Hände auf die Brüstung und starrte auf die düstere, entstellte Landschaft hinaus. Früher einmal war das Land rein gewesen, und selbst in den tiefsten Wäldern war Licht gewesen. Jetzt, nachdem Uthorion das Land seit Jahrhunderten verwaltete, war das Land verpestet und voller Schatten. Der Elf griff in eine der -190-
Taschen an seinem Gürtel und holte einen alten Panzerhandschuh heraus und warf ihn vor Uthorions geschmückte Füße – Füße, die eigentlich Pella Ardinay gehörten. »Die Zeit ist gekommen, Lord Uthorion«, sagte Delyndun traurig. Er sprach die Zauberworte. Ein Bild von sechs Personen schwebte aus dem Panzerhandschuh und blieb dann vor Ardinays Augen hängen, damit Uthorion es genau betrachten konnte. Uthorion mußte nach Luft schnappen, als er das Gesicht einer Frau mit glänzendem haselnußbraunem Haar und funkelnden grünen Smaragdaugen erkannte. »Tolwyn«, keuchte Uthorion. »Nein! Das heißt noch gar nichts!« wütete er nach einer Weile. »Das macht einfach nur jede Hoffnung zunichte!« Er wirbelte in seiner weiblichen Gestalt herum und ging durch den Eingang in den Turm. »Lord?« fragte Delyndun vorsichtig, denn er wollte nicht, daß sich die Wut des Hohenpriesters auf ihn richtete. »Komm mit, Zauberer«, rief Uthorion, ohne sich umzudrehen. »Wir müssen uns mit meinem alten Meister unterhalten. Denn er hält die Ketten, die die Macht binden, die Tolwyn schon einmal vernichtet hat. Der Hagere Mann muß mich mit dieser Macht ausstatten. Sollte er das nicht tun, dann wird Aysle aus seinem großen Plan herausfallen.«
77 Thratchen folgte dem Hageren Mann durch die gewundenen Korridore von Illmound Keep bis zu einer schweren Holztür – so erschien sie zumindest ungeübten Augen –, in die obszöne Bilder des Todes und der Qual geschnitzt waren. Als der Hagere Mann näher trat, fiel die Tür weit auf, und Thratchen konnte den -191-
Knochenthron sehen. Ein Stuhl aus Schädeln stand in der Mitte des Saals, und ein großer, verzierter Spiegel nahm fast eine ganze Wand ein. Neben dem Knochenthron stand die Dunkelheitsmaschine, Heketon. Der Hagere Mann drängte Thratchen in den Saal und schloß die Tür hinter ihnen. »Bevor wir mit der Suche beginnen, Thratchen, müssen Sie eine Sache für mich erledigen.« »Was immer Sie befehlen, Lord Salisbury«, erwiderte der Dämon. Der Hagere Mann überging die vertrauliche Anrede des Dämons geflissentlich und führte ihn zu dem dunklen Herz. Als sie näher kamen, schien es wärmer zu werden und irgendwo tief aus seinem obsidianischen Innern hell zu strahlen. »Schwören Sie mir die Treue, mir, dem Hageren Mann«, befahl der Hohepriester. »Geben Sie Ihre Bindungen an Tharkold auf und schwören Sie, dem Torg als getreuer Hauptmann zu dienen.« Diese Worte des Hageren Mannes ließen Thratchen zurückrollen. Hatte er richtig gehört? Hatte der Hagere Mann den Titel des Torg für sich beansprucht? Das hatte er noch nie gehört –es war unmöglich. »Ich weiß, was Sie jetzt denken müssen, Thratchen. Sie müssen den Eindruck haben, daß der Hagere Mann schließlich verrückt geworden ist. Aber ich bin bei Sinnen wie eh und je. Und jetzt wird mein Jahrhunderte alter Plan endlich in Erfüllung gehen. Werfen Sie einen Blick in Heketons schwarze Oberfläche, und Sie werden die Wahrheit sehen.« Der Dämon sah einen kurzen Augenblick lang nur sein eigenes Spiegelbild in der glänzenden Dunkelheit. Dann tauchte plötzlich eine öde Landschaft auf. Es war dieser Planet, dessen Energie abgesaugt und unter einem fortdauernden Sturm begraben war. Der Hagere Mann stand über diesem Land. Er hatte alle Kraft in sich aufgenommen, die einmal diesem reichen -192-
Kosmos gehört hatte. Einer, der solche Macht hatte, mußte wahrlich der Torg sein. Thratchen wandte sich von dem Bild ab und fiel vor dem Hageren Mann auf die Knie. »Meister, vergeben Sie mir meine Arroganz und meine Skepsis. Ich möchte Ihnen dienen und mich in dem dunklen Licht aalen, das von Ihnen ausgeht.« Dann schaute er auf und begegnete dem Blick des Hageren Mannes. »Ich möchte dem Torg dienen.« Lord Salisbury lächelte. »Erheben Sie sich, Thratchen. Willkommen daheim im Verließ des Hageren Mannes. Sie werden mein Stellvertreter sein und für mich dieses Reich regieren, sollte ich anderswo gebraucht werden. Wie Uthorion vor Ihnen, wie Ihr Meister vor ihm sollen Sie mein Hauptverwalter sein. Jetzt lassen Sie uns die Stürmerin suchen, die Sie durch das Kosmoversum verfolgt haben.« Der verzierte Spiegel lief dunkel an, als die beiden ihre Kräfte auf ihn konzentrierten. Dann bemühte er sich, Dr. Hachi MaraZwei zu suchen. Nach einiger Zeit teilten sich die Wolken, und ein kahler, weißer Raum war zu sehen. In dem Raum stand eine Gruppe von Leuten. Eine der Personen hatte eine silberne Haarmähne. Der Spiegel rückte die Frau in den Mittelpunkt. »Das ist die Stürmerin«, rief Thratchen aus. »Natürlich«, erwiderte der Hagere Mann. »Nachdem wir nun ihren Aufenthaltsort kennen, können wir Kürst losschicken, um sie aufzugreifen.« »Wo ist sie?« »Irgendwo jenseits von Baruk Kaahs Reich, an einem Ort, an dem immer noch die Axiome dieser Welt gelten. Ich habe ein paar Ravagons, die mit den Edeinos zusammenarbeiten. Vielleicht sollte ich sie vorausschicken, damit sie sie festhalten können, denn es kann einige Zeit dauern, bis Kürst bei ihr ist. Ja, ich werde die Ravagons schicken.« Der Hagere Mann hielt auf einmal inne und neigte den Kopf, -193-
als vernehme er einen Ruf aus der Ferne. Seine Hand kreiste vor dem Spiegel, und die Szene veränderte sich. Aus dem Glas blickte eine schöne Frau in königlichen Kleidern. Neben ihr stand ein Elfenzauberer. Daran konnten sie erkennen, daß die beiden Wesen aus dem Ayslekosmos stammten. Aber die dunklen Augen der Frau kamen Thratchen bekannt vor. »Angar Uthorion!« Der Dämon brach in Gelächter aus. »Himmel! Sie sehen heute abend aber wunderschön aus! Ihr Aussehen paßt gut zu Ihnen. Weitaus besser jedenfalls als die letzte Gestalt, die Sie angenommen haben.« »Ich bin nicht in der Stimmung für Ihre Scherze, TharkoldAbschaum«, schimpfte Uthorion durch Ardinays Mund. »Hoherpriester, ich muß Sie um einen Gefallen bitten, damit ich meinen Teil unserer Abmachung erfüllen kann.« »Sprechen Sie, Uthorion«, sagte der Hagere Mann unwirsch. »Ich brauche den Carredon, Hohepriester, denn die Prophezeiung hat sich erfüllt. Tolwyn vom Hause Tancred ist von den Toten zurückgekehrt und ist auf dem Planeten, der sich Erde nennt.« Der Hagere Mann schwieg einen Augenblick lang und dachte über die Bitte nach. »Ich werde mich um Ihre Prophezeiung kümmern, Uthorion. Achten Sie nur darauf, daß Sie Ihr neues Reich nach Plan errichten.« Der Hagere Mann wedelte mit der Hand, und der Spiegel zeigte wieder das Zimmer mit Mara. Dann waren auf einmal alle Personen zu sehen. Der Hagere Mann studierte die andere Frau längere Zeit. »Das hier ist Tolwyn Tancred, Thratchen. Sie ist mit Ihrer Stürmerin zusammen. Es gefällt mir gar nicht, wie sich das hier entwickelt.« Thratchen war ziemlich verwirrt, denn es war schon ziemlich lange her, daß er oder sein Meister an den Angelegenheiten Uthorions oder des Hageren Mannes Anteil genommen hatte. -194-
»Es ist Zeit für die Jäger«, beschloß der Hagere Mann.
78 Eddie Paragon hielt sich an dem riesigen Echsenmann fest, denn er hatte Angst herunterzufallen, als der dunkle Dschungelstrahl sie in eine andere Welt trug. Er wußte nicht, was ihm mehr angst machte – Baruk Kaah, die seltsame Reise oder die drei Ravagons, die sich auch an den ineinander verschlungenen Ästen und Wurzeln festhielten. »Mach deine Augen auf, Sänger«, brüllte Baruk Kaah fröhlich, »und schau dir die Welt Takta Ker an.« Paragon tat, wie ihm befohlen, und zwang sich, seine Augen wenigstens einen Spalt zu öffnen. Sie stiegen über einem nebelverhangenen Land aus der Urzeit ab. Riesige Pflanzen ragten aus dem Dunst. Die Luftfeuchtigkeit war so hoch, daß Paragons Kleidung schon völlig durchnäßt war. Doch bevor er noch mehr erkennen konnte, fielen sie schon durch den Nebel, und dann berührten ihre Füße den Boden. »Willkommen auf Vandast, dem Kontinent, der Rec Pakken beherbergt«, prahlte Baruk Kaah mit stolzgeschwellter Brust. Eddie fiel auf, daß die Ravagons sich hingekniet hatten. Er mußte sehen, was so mächtig war, die abscheulichen Flügelmonster zu Fall zu bringen, und ging ein Stück vor. Baruk Kaah stellte sich vor ihn. »Bereite dich vor, Sänger. Du wirst gleich Rec Pakken kennenlernen, die Dunkelheitsmaschine, die mir dient.« Der Nebel teilte sich, und vor ihnen erschien ein knorriger Wald aus dicken Bäumen mit verdrehten, unglaublich starken Wurzeln. »Diese Bäume«, keuchte Paragon, »sind ja schwarz wie die Nacht.« -195-
»Es ist nur ein Baum«, erklärte Baruk Kaah, »ein einzelner Baum, der aus einem einzelnen Saatkorn geboren wurde. Sieh den Ursprung meiner Macht. Sieh Rec Pakken!« Erst jetzt sah Eddie, daß die verdrehten Äste alle zu einem Stamm gehörten. Sie wickelten sich umeinander, waren miteinander verflochten und verwoben und bildeten einen Baldachin. Die Äste, der Stamm und die Wurzeln bestanden aus einem reflektierenden, schwarzen Stein, und die Blätter erinnerten an einen Nachthimmel mit feurigen Sternen. Die Ravagons hatten ihre stummen Gebete beendet und stellten sich neben den Hohenpriester und den Sänger. »Rec Pakken singt von Nacht und Eroberung«, erläuterte der erste Ravagon. »Er stimmt in Heketons großes Lied über die Zerstörung ein, in das Lied der Dunkelheitsmaschine des Hageren Mannes«, sagte der zweite Ravagon. Der dritte Ravagon schwieg. Der Nebel bewegte sich, und ein dunkler Strahl aus angsterfüllten Seelen fiel auf den Boden. Daran konnten sie erkennen, daß er von Orrorsh stammte. Schließlich explodierte auf der kleinen Brücke eine Schwefelwolke, und Gibberfat erschien. »Er hat mich, Gibberfat, zu einem gewöhnlichen Nachrichtenübermittler degradiert«, schimpfte der aufgeschwemmte, rote Dämon. »Dann werde ich es auch schnell hinter mich bringen. Heil, Baruk Kaah! Ich soll Grüße vom Hageren Mann übermitteln, der jetzt der Torg ist!« Baruk Kaah betrachtete ihn neugierig. »Was kann ich für einen weiteren der vielen Diener des Hageren Mannes tun?« »Absolut nichts, Hoherpriester«, flötete der Dämon. »Ich bin hier, um Befehle an die Ravagons zu übermitteln.« Gibberfat sprach einen Zauber und formte aus dem dichten -196-
Nebel ein Bild. »Der Hagere Mann wünscht, daß diese Stürmerin gefangengenommen wird. Aber sie muß am Leben bleiben.« Er machte eine kurze Pause, damit die Ravagons sich ihr Bild einprägen konnten, und fuhr dann fort: »Zuletzt wurde sie in der Erdenstadt Philadelphia gesehen, in einem Gebäude, das sich Krankenhaus der Universität von Pennsylvania nennt.« Ein zweiter Zauberspruch, und der Nebel nahm die Gestalt einer anderen Frau an. Diese hatte haselnußbraunes Haar und smaragdgrüne Augen. »Auch diese Stürmerin muß festgenommen werden. Der Hagere Mann hat ihnen beiden Fragen zu stellen. Sie reisen zusammen.« »Was ist mit den anderen?« fragte er erste Ravagon. »Die Stürmerinnen werden doch von Menschen begleitet. Was sollen wir mit denen machen?« »Was ihr wollt«, kicherte Gibberfat böse. »Fliegt los, Ravagons.« Zwei der Flügelmonster stiegen auf und verschwanden im Nebel, das dritte blieb zurück. Gibberfat spazierte zu dem Ravagon hinüber und klopfte ihm mit seiner Krallenhand auf die zusammengefalteten Flügel. »Und was machst du noch hier? Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?« Der Ravagon stand einfach da und beäugte den roten Dämon, ohne ein Wort zu sagen. »Hmmph! Wenn es so sein soll, dann ist's halt so.« Gibberfat verschwand in einer Schwefel wölke, und die Seelenbrücke tauchte im Nebel unter. Eddie Paragon hatte keinen Schimmer, was da geschah, und nach seinem verwirrten Zucken zu urteilen, verstand Baruk Kaah auch nichts. Doch der Edeinos war Hoherpriester und hatte ein eigenes Programm, das es zu erfüllen galt. -197-
»Komm, Sänger«, sagte der Hohepriester, »komm und lerne Rec Pakken kennen.« Der Hohepriester führte Eddie Paragon in den schwarzen Steinwald. Wenige Sekunden später folgte ihnen der Ravagon.
79 Pater Christopher Bryce brachte Tolwyn und Mara zum Hintereingang des Krankenhauses, wo der Lieferwagen wartete. Rick Alder öffnete für sie die seitliche Schiebetür. Beide Frauen schienen ziemlich neugierig zu sein. Tolwyn hielt kurz inne, um mit der Hand über das glatte Metall zu streichen. »Hinein mit Ihnen, Tolwyn«, sagte Alder. »Es ist dort drin zwar ein bißchen voll, aber es ist auf alle Fälle tausendmal besser, als zu Fuß zu gehen.« Tolwyn, die nun Blue Jeans, ein Paar Turnschuhe und ein Sweatshirt trug, fragte: »Was für ein Ding ist das hier, Christopher?« »Das ist ein Lieferwagen, Tolwyn, ein Fahrzeug«, sagte der Priester. Aber er konnte sehen, daß die Worte der jungen Frau nicht viel weiterhalfen. »Das ist ein Wagen, Tolwyn«, rief Coyote hinten aus dem Lieferwagen, »eine Kutsche ohne Pferde.« Tolwyn mußte bei der Vorstellung laut herauslachen. »Ist das so, junger Coyote? Und wer von Ihnen hat die Magie, damit dieser Zauber funktioniert?« Alder schwenkte die Schlüssel vor ihren Augen hin und her. »Ich«, sagte er und grinste. Aber Bryce riß Alder die Schlüssel aus der Hand. »Ich denke nicht, Rick. Sie haben die ganze Nacht geschuftet, um den Lieferwagen herzurichten. Deshalb werde ich den ersten Streckenabschnitt fahren, während Sie ein bißchen schlafen.« -198-
»Wie Sie meinen, Pater.« Bryce hüpfte auf den Fahrersitz und steckte den Schlüssel ins Schloß. Aber bevor er den Motor starten konnte, hörte er, wie Tolwyn nach Luft schnappte. Im Rückspiegel sah er, daß Alder und Ratte sie auf ihren Platz drückten, während Tal Tu sie neugierig betrachtete. »Tolwyn, beruhigen Sie sich doch! Das ist nur Tal Tu! Wir haben Ihnen doch von ihm erzählt«, erklärte Alder ihr, während er alle Mühe hatte, sie festzuhalten. »Er ist ein Freund, Tolwyn, er wird Ihnen nichts tun«, sagte Ratte. Tal Tu, der Edeinos, streichelte die graue Katze mit der einen Hand. Die andere streckte er Tolwyn zur Begrüßung hin. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Tolwyn aus dem Hause Tancred«, sagte der Edeinos. Bryce fiel wieder auf, daß sein Englisch von Tag zu Tag besser wurde. Coyote und Ratte unterrichteten ihn gut. Nachdem Tal Tu mit ihr gesprochen hatte, beruhigte sich Tolwyn ein wenig, doch Bryce sah, daß sie immer noch zitterte. Sie setzte sich, lehnte sich an die Wand des Lieferwagens, warf den Kopf zurück und schloß die Augen. »Es tut mir leid«, bemühte sie sich, »aber die Gestalt von Tal Tu erinnert mich an etwas Gewalttätiges. Vielleicht werden meine Erinnerungen konkreter, wenn wir in die Nähe der Schlucht kommen.« Sie blickte zu Mara hinüber, die sie besorgt beobachtete. Tolwyn verscheuchte die bösen Bilder, die ihr durch den Kopf gingen, und lächelte. »Dann wollen wir doch mal sehen, wie diese Zauberkutsche funktioniert, Christopher Bryce.« Bryce erwiderte ihr Lächeln und startete den Motor. »Entspannen Sie sich, Tolwyn«, sagte er zu ihr, »das ist nur der -199-
Zauber. Haltet euch alle fest.« Nach einer Stunde fuhr Bryce auf dem Pennsylvania Turnpike in Richtung Westen. Der wilde Sturm hatte etwas nachgelassen, aber der Himmel war immer noch grau und wolkenverhangen. Im Scherz fragte er laut: »Wohin soll es gehen?« »Zu der Schlucht, Christopher Bryce«, antwortete Tolwyn. In ihrer Stimme lag nicht ein Hauch von Humor, und ihre weit aufgerissenen Augen blickten ernsthaft in die Welt hinaus.
80 Andrew Decker ließ seinen Blick über die sieben Männer schweifen, die den Sturm überlebt hatten. Sie hatten die ganze lange Nacht in den Fahrzeugen zugebracht, waren aber noch nicht bereit, tiefer in die Zone des Schweigens vorzudringen. »Sergeant, wie lautet Ihre Diagnose?« fragte Decker. »Mit der Mechanik der beiden Jeeps und des Lastwagens ist alles in Ordnung«, erwiderte der Sergeant, »aber die Motoren wollen nicht anspringen. Wenn wir weiterziehen wollen, dann werden wir das zu Fuß tun müssen.« Der Gedanke, die Fahrzeuge zurücklassen zu müssen, behagte Decker gar nicht. Was auch immer die Funk- und Fernsehsignale blockierte, es hatte offensichtlich auch Einfluß auf ihre Transportmittel. »Wir können entweder hier herumsitzen, wieder in den Sturm tauchen oder in Richtung Norden gehen«, sagte Decker. »Ich bin fürs Weitergehen.« Der Sergeant nickte. »Hört sich meiner Meinung nach vernünftig an.« Und so marschierte die Gruppe, nachdem sie die toten Soldaten begraben hatten, den Highway 15 entlang. Der -200-
Susquehanna lag rechts von ihnen, und ungefähr fünfunddreißig Meilen weiter nördlich würden sie auf die Interstate 80 treffen. Dort wollte Decker sich dann nach Westen wenden, bis sie die Zone des Schweigens verlassen hatten. Doch sie hatten nicht einmal zwei Meilen zurückgelegt, als sie auf eine Flüchtlingsgruppe stießen. Die Menschen waren dreckig und abgerissen und schleppten einen Teil ihres Besitzes mit sich herum. Decker befahl den Soldaten stehenzubleiben und trat dann vor, um mit den Flüchtlingen zu sprechen. »Wohin wollen Sie?« fragte er in der Haltung eines Politikers. »Gehen Sie uns aus dem Weg«, sagte einer der Männer und trat zwischen Deckers Gruppe und die Frauen und Kinder. »Ich bin der Kongreßabgeordnete Andrew Decker, und ich bin hier, um Ihnen zu helfen.« »Pah«, fauchte der Mann, »sehen Sie sich doch um, Kongreßabgeordneter. Amerika existiert nicht mehr. Zumindest hier nicht, hier oben im Norden. Dinosaurier und Wilde haben sich das Land unter den Nagel gerissen. Deshalb ziehen wir ja nach Süden.« »Was ist dort oben auf der Autobahn?« fragte Decker. »Was werden wir dort finden?« »Den Tod«, antwortete eine Frau aus der Gruppe. Und dann marschierten die Flüchtlinge an ihnen vorbei. Sie ließen Decker und seine Soldaten allein zurück. Sollten sie doch selbst entscheiden, wie es weiterging.
81 Thratchen fuhr mit den Fingern seiner natürlichen Hand über die glatte Steinoberfläche des Obsidianherzens. Er blickte tief in die spiegelnde Schwärze. Die Bilder dort faszinierten ihn. Besonders der ausgelaugte Planet, dessen Energie abgezogen -201-
worden war, gefiel ihm. Vor allem jener Augenblick, als er sein Spiegelbild sah, wie er über der ruinierten Landschaft stand. »Warum soll ich ein Diener sein, wenn ich auch ein Meister sein kann«, fragte er sich. Dann hörte er Schritte und trat schnell von dem Herzen zurück, bevor der Hagere Mann in den Saal gelaufen kam. »Die Ravagons sind ausgeschwärmt, um die Stürmerinnen in Gewahrsam zu nehmen, und Kürst ist aufgebrochen, um sie zu uns zu bringen«, berichtete er. »Da das nun organisiert ist, kann ich mich auf meine Arbeit konzentrieren.« »Erzählen Sie mir von Heketon, Meister«, bat Thratchen plötzlich. Einen Augenblick lang glaubte er, er habe etwas Falsches gesagt, doch der Hagere Mann schien nicht verärgert zu sein. Er stand neben dem Obsidianherz und sprach mit einer Stimme, die von weither zu kommen schien. »Das Herz gelangte aus einer Welt zu mir, die sehr weit von hier entfernt ist, sowohl in der Zeit als auch im Raum. Von dem Moment an, als ich sein Lied der Nacht gehört hatte, wußte ich, daß jene Welt mein sein würde.« »Und was ist mit der Legende, Meister?« fragte Thratchen, der die Geschichte um jeden Preis noch mal hören wollte. »Die Dunkelheitsmaschine behauptet, von einem namenlosen Gott abzustammen, der auf dem Boden der Zerstörung gedeiht. Sie hat mir gesagt, daß mir unermeßliche Macht gehören würde, wenn ich sie benutze, um zu zerstören. Jeder Akt der Zerstörung gab mir neue Kraft, und als ich die Welt zerstörte, auf der ich zu Hause war, erhielt ich unermeßliche Macht. Dem namenlosen Gott bin ich niemals begegnet, auf keiner meiner Reisen durch das Kosmoversum. Falls dieses Wesen jemals existiert hat, dann muß es schon vor langer Zeit gestorben sein.« »Glauben Sie das tatsächlich, Meister? Ist der Namenlose wirklich nicht mehr als ein Mythos?« »Wenn der Namenlose mehr wäre, hätte er dann nicht -202-
irgendwann mit mir Kontakt aufgenommen? Bin ich nicht der Größte der Kosmeninvasoren gewesen? Habe ich nicht seine Religion der Zerstörung auf hundert Welten verbreitet? Nein, der Namenlose ist nicht mehr, Thratchen, und an seiner Stelle wird Torg sich erheben – wie es in der Legende geschrieben steht. Und der werde ich sein.« Der Blick des Hageren Mannes erschreckte Thratchen. Dieser Hohepriester war die Inkarnation der Macht, und das Spiel, das er selbst vorhatte, war wahrlich selbstmörderisch. Aber der Antwort auf seine dringlichste Frage war er niemals näher gewesen. Er würde das Spiel bis zum letzten Zug spielen, ohne Rücksicht auf das Ergebnis. »Lassen Sie mich jetzt in Ruhe, Thratchen«, befahl der Hagere Mann. »Ich habe noch viel Arbeit zu erledigen.«
82 Der Lieferwagen fuhr auf der Interstate 76 in westlicher Richtung und kam trotz des heftigen Regens gut voran. Pater Bryce saß am Steuer und unterhielt sich leise mit Coyote. Im Rückspiegel sah er, daß Rick Alder und Tal Tu schliefen. Sie erholten sich nach einer arbeitsamen Nacht, in der sie den Lieferwagen auf Vordermann gebracht hatten. Mara fummelte an irgendeinem kleinen Gegenstand herum. Sie hatte kein Wort gesagt, seit sie Philadelphia verlassen hatten. Ratte las in einem Comic und kaute lautstark einen Kaugummi. Tolwyn, die in Bryces Augen jetzt wirklich nicht mehr Wendy Miller war, betrachtete fasziniert die Landschaft. Er mußte über ihren Gesichtsausdruck lächeln, doch dann konzentrierte er sich wieder auf die Fahrt. Der Verkehr nach Osten war wesentlich stärker. Autos und Lieferwagen platzten beinah aus allen Nähten, so vollgestopft waren sie mit Besitztümern aller Art und Flüchtlingen. Viele -203-
waren auch in kleinen Grüppchen zu Fuß unterwegs. Falls sie vor den gleichen Kreaturen flohen, die Bryce und die anderen aus New York vertrieben hatten, dann war ihr Problem wesentlich größer, als sie angenommen hatten. Am nördlichen Horizont lauerte eine massive Sturmfront, die bedrohlich aussah. Sie begleitete sie, seit sie Harrisburg hinter sich gelassen hatten. Bryce warf immer wieder einen Blick dorthin, aber die Sturmfront schien sich nicht zu bewegen. Die Blitze an ihrem Rand zuckten und erschreckten ihn mehr als der eigentliche Sturm. Er fühlte sich unbehaglich. Bryce warf wieder einen Blick in den Rückspiegel. Seine Verwunderung über Tolwyn ließ nicht nach, und die Vitalität ihres Körpers und ihre Stärke weckten immer wieder seine Neugier. Eine Reklametafel an der Straße verriet, daß es dort etwas zu essen gab. Bryce und Coyote schauten sich gleichzeitig an. Auf ihren Gesichtern spiegelte sich Vorfreude. »Warum nicht?« murmelte Bryce, als er langsam auf die Ausfahrt zurollte. Sturmwolken zogen rasend schnell am östlichen Horizont vorbei, als Bryce mit dem Lieferwagen auf den Parkplatz von McDonald’s fuhr. »Aufwachen, Hamburger fassen«, rief er und schaltete den Motor aus. Mara schaute von dem Gegenstand auf, an dem sie gearbeitet hatte. »Was ist ein Hamburger?« wollte sie wissen und rieb sich müde die Augen. »Und warum wollen wir sie fassen?« fragte Tolwyn verdutzt. »Ein Hamburger ist etwas zu essen«, antwortete Bryce, während er Mara anstarrte. Er fragte sich, wo sie wohl aufgewachsen war, wenn sie nicht mal einen Hamburger kannte. Tolwyns Unwissenheit konnte er gerade noch nachvollziehen, -204-
denn sie konnte sich an kaum etwas erinnern, aber Hamburger hatten die Welt erobert – das hatte er auf seinen Reisen gelernt. Andererseits spürte er, daß Mara nicht log. Aber selbst ein Wunderkind, das aufs College und auf die Universität ging, um Medizin zu studieren, hatte schon mal was von Hamburgern gehört oder gar einen gegessen. Der Anblick von Maras rechter Hand faszinierte ihn aber noch weitaus mehr. Die Hand sah aus wie eine Klaue, die Finger waren gestreift und mit glänzenden Spitzen versehen; der Daumen war abgeflacht und erweckte den Anschein, als müßte etwas darauf gelegt werden. Im Krankenhaus hatte sie Handschuhe getragen. Der eine lag jetzt auf ihrem Schoß. »Was ist denn mit deiner Hand passiert?« fragte Coyote, bevor Bryce ein Wort herausbekam. »’ne chirurgische Weiterentwicklung«, antwortete Mara nonchalant, als ob es das Normalste auf der Welt wäre. »Aus welchem Grund?« fragte Bryce. »Damit mir das, was ich tue, leichter fällt«, sagte Mara und blickte Bryce direkt in die Augen. Ihre Augen sagten ihm, daß sie nicht log. Aus irgendeinem Grund war sie hier, um Tolwyn zu helfen. »Was machen Sie denn?« Die Frage stellte Rick Alder, der tief im Innern immer noch Polizist war. Er saß jetzt aufrecht da. Durch die Unterhaltung war er wahrscheinlich aufgewacht. »Ich entwerfe und baue Mikrochips.« Bryce war ziemlich überrascht, weil er sie für eine Medizinerin gehalten hatte. »Was für einen Doktorrang haben Sie eigentlich, Dr. Hachi?« »Einen in Physik und einen in Mikroelektronik.« »Zwei Doktortitel? Und wie alt sind Sie?« »Sechzehn.« »Das begreife ich nicht«, sagte Bryce, den eine andere Frage -205-
beschäftigte. »Warum hat das Krankenhaus Ihnen dann die Verantwortung für Tolwyns Fall übertragen?« »Ja«, sagte Tolwyn und schaute Mara an. »Wer sind Sie?« Mara atmete tief durch und seufzte. »Das ist eine lange Geschichte«, sagte sie und hielt die rechte Hand hoch, um Bryces Einwand abzuschmettern. »Holen Sie mir einen von diesen Hamburgern, und ich werde Ihnen alles beim Essen erzählen.« »Ich werde Ihnen ein Dutzend Hamburger ausgeben, wenn Sie unsere Fragen beantworten«, versprach Alder. »Seien Sie vorsichtig, sonst nehme ich Ihr Angebot vielleicht sogar an«, sagte Mara und grinste hintergründig. »Ich denke nicht, daß wir uns Sorgen machen müssen, Rick. Sie ist zu schmächtig, um richtig viel essen zu können«, sagte Bryce kichernd. Sein Mißtrauen wurde von Maras ansteckendem Humor immer mehr zerstreut. »Ja, aber ich bin gigahungrig!« rief Mara aus, schob die Schiebetür auf und sprang auf den Kiesparkplatz. Die anderen außer Tal Tu kletterten auch aus dem Lieferwagen. Der Edeinos blieb zurück, denn sie hatten immer noch das Gefühl, daß er sich von öffentlichen Plätzen besser fernhielt. Er war damit einverstanden, aber als die anderen gerade im Begriff waren, die Tür wieder zuzuschließen, ermahnte er sie: »Bringt auch für Tal Tu und Katze etwas zu essen mit.« »Was ißt du?« fragte Ratte. »Fleisch«, antwortete Tal Tu. »Aber ich werde das Essen, das Pater Bryce Hamburger nennt, gern einmal probieren.« »Genug mit diesem ›Pater Bryce‹-Getue«, rief der Priester. »Es wäre mir viel lieber, wenn mich alle einfach Chris nennen würden!« Als sie auf die Glastür des Restaurants zugingen, hielt Mara -206-
Bryce am Arm zurück. »Ich kann nicht all Ihre Fragen beantworten, Chris. Ich kann Ihnen nur sagen, was ich weiß.« »Das ist mehr als fair, Dr. Hachi«, lautete Bryces Antwort. »Genug mit diesem ›Dr. Hachi‹-Getue«, sagte sie lächelnd. »Nennen Sie mich Mara.« »Nicht Marazwei?« Mara seufzte. »Ich werde wohl mehr erklären müssen, als ich dachte.«
83 Die beiden Ravagons standen in dem Gäßchen hinter dem Krankenhaus der Universität von Pennsylvania. Sie waren über die Mahlstrombrücke von Takta Ker gereist und waren dann von New York nach Philadelphia geflogen. Die Krankenhausbelegschaft war nicht sonderlich hilfsbereit gewesen, sondern beim Anblick der beiden mächtigen Wesen schreiend geflohen. Die Ravagons fanden das Zimmer, in dem sich die beiden Stürmerinnen getroffen hatten, jedoch ohne große Probleme. Doch als sie entdeckten, daß es leer war, wurden sie wütend, und einen Großteil dieser Wut ließen sie an den Patienten und Krankenhausangestellten aus. »Dieses Blutbad soll ihnen eine Warnung sein«, erklärte der erste Ravagon. »Es macht aber keinen besonderen Spaß, Dummköpfe auseinanderzunehmen«, bemerkte der zweite Ravagon. Der erste Ravagon durchsuchte das Gäßchen bis in die letzten Ecken, berührte den Boden und setzte seine übernatürlichen Kräfte ein. Dann breitete er seine schwarzen Schwingen aus. »Ich habe die Spur gefunden«, erklärte er seinem Partner. »Folge mir.« -207-
Die Ravagons stiegen in den Himmel auf und flogen dann nach Westen, um die Stürmerinnen und ihre Reisebegleiter abzufangen.
84 Bryce fragte sich, ob Alders Angebot wirklich klug gewesen war, als er sah, daß Mara sich über ihren vierten Hamburger hermachte. Außerdem war sie schon bei der zweiten Portion Pommes frites und beim zweiten Milkshake. Tolwyn verschlang noch mehr als das Mädchen, aber das konnte Bryce noch verstehen. Tolwyn war eine große, athletische Frau, und ihr Stoffwechsel brauchte wohl eine große Menge an Nahrung. Aber er hatte keine Ahnung, wo Mara das alles hinsteckte. Selbst Ratte und Coyote hatten nach dem zweiten Burger gepaßt. Bryce hatte nur einen Hamburger, ein paar Pommes und eine Tasse Kaffee zu sich genommen. Jugendliche können anscheinend mehr vertragen, dachte er bei sich, das lag wahrscheinlich am Wachstum und anderem Unsinn. Mit vollen Bäuchen und dampfendem, heißen Kaffee in den Styroporbechern vor ihnen lehnten sich Bryce, Alder, Mara und Tolwyn in ihrer Nische zurück und entspannten sich. Ratte und Coyote waren zur Bestelltheke gegangen, um etwas für den Weg, Tal Tu und die Katze zu bestellen. Der Priester beobachtete, wie Tolwyn ihren Becher Kaffee nahm, vorsichtig an der heißen, schwarzen Flüssigkeit nippte und das Gesicht verzog. Dann nippte sie noch mal. Mara hatte den Kaffee auch schon probiert, den Becher aber sofort wieder abgestellt und weggeschoben. »Die Milkshakes waren besser«, sagte Tolwyn. »Ja«, sagte Mara, »und die Hamburger sind auch nicht -208-
schlecht gewesen.« »Na, dann erzählen Sie uns mal von sich«, schlug Alder vor. Mara saß einen Augenblick lang da und sagte dann: »Lassen Sie mich Ihnen zuerst etwas zeigen.« Zuerst drehte sie den Kopf so, daß Bryce, Alder und Mara ihr rechtes Ohr gut sehen konnten, und dann schob sie ihre silberne Haarmähne weg und legte es frei. Bryce glaubte seinen Augen nicht trauen zu können, als er die beiden Metallschlitze unter dem Ohrläppchen entdeckte. In den Schlitzen steckten kleine Chips, die Bryce an Miniaturdisketten erinnerten, die in Laufwerke geschoben waren. Mara zog einen Chip heraus, zeigte ihn den anderen und schob ihn wieder in den Schlitz zurück. Schließlich drehte sie sich wieder herum, schaute sie an und ließ das Haar herunterfallen. »Diese Chips verbessern meine Ausstattung«, erklärte sie. Und dann begann sie, ihre Geschichte zu erzählen. Mara berichtete ihnen von ihrem sozialen und beruflichen Aufstieg, den sie persönlichen Fähigkeiten und Wunderdrogen verdankte. Sie erzählte ihnen von Kadandra und wie sie das Kosmoversum entdeckt hatte. Und dann berichtete sie ihnen davon, daß die Sims gekommen waren und daß es zur Schlacht gekommen war. Zum Schluß erklärte sie, wie sie die Erde entdeckt hatte und auf Reisen gegangen war, um die scheußlichen Ereignisse, die sie verursacht hatte, wiedergutzumachen. »Aber Sie haben die Invasoren doch besiegt«, lautete Tolwyns Kommentar, nachdem Mara schwieg. Tolwyn bezog sich auf das wenige, was sie verstehen und nachvollziehen konnte. »Ja, mit unserer Technologie und unserer Wissenschaft. Wir haben ihre Brücken abgerissen und somit ihre Verbindung zu ihrem Heimatkosmos zerstört. Dann haben wir sie fertiggemacht. Aber Millionen Angehörige meines Volkes sind dabei gestorben.« -209-
»Aber Sie haben gewonnen«, wiederholte Tolwyn noch einmal. »Ja, aber um welchen Preis?« »Und wie hoch ist der Verlust, wenn man verliert?« hakte Tolwyn nach. »Der Krieg hätte nicht stattgefunden, wenn ich nicht gewesen wäre, und dann hätten wir auch nicht dafür bezahlen müssen.« »Das kann ich einfach nicht glauben«, sagte Alder. »Nur weil Sie etwas entdeckt haben, heißt das noch lange nicht, daß Sie daran schuld sind, daß es überhaupt existiert. Sind Sie denn nie auf die Idee gekommen, daß die Invasoren schon längst auf dem Weg zu Ihrer Welt waren und daß Sie sie nur rechtzeitig entdeckt haben?« »Aber ich habe sie doch auch hierher geführt!« Bryce sah, daß die junge Frau, die sich Dr. Hachi Mara-Zwei nannte, den Kopf senkte und schluchzte. Er wußte noch nicht, was er von alldem, was sie erzählt hatte, glauben sollte, aber er wußte ganz genau, daß es keinen Grund dafür gab, daß ein so junges Wesen die Schuld der Welt – ja der Welten – auf ihre Schultern lud. »Mara«, sagte Bryce ganz sanft, »nichts davon ist Ihre Schuld. Ich werde es nicht zulassen, daß Sie sich für etwas verantwortlich fühlen, worüber Sie keine Kontrolle hatten.«
85 Im kalifornischen Sacramento saß Kerr Naru in sich gekehrt da und grübelte, während er zusah, wie die Krieger die Eroberung der Reinen Zone feierten. Lanala hatte die Edeinos wahrlich gesegnet, dachte er erfreut. Und er als Beschwörer war doppelt gesegnet. Er lehnte sich auf seinen Schwanz zurück. Wind und Regen -210-
liebkosten seinen schuppigen Körper. Dieses Gefühl war wunderbar! Seine Krieger hatten den Menschen dieser Welt zu außerordentlichen Erfahrungen verhelfen! Vielleicht würden sie sich den Edeinos und ihren Leben anschließen. Ganz in der Nähe brüllte ein Utadok, und die Krieger warfen einen Blick zu der Mahlstrombrücke hoch. Kerr Naru folgte ihren Blicken. Irgend etwas donnerte die Brücke herunter und schob sich mit Riesenschritten durch die Äste und Blätter. »Baruk Kaah!« rief einer der Krieger. »Und Rec Pakken!« rief ein anderer. Die Menge erschauerte. Rec Pakken, dachte Kerr Naru. Der Saar bringt seine Dunkelheitsmaschine in dieses Reich, und die Edeinos zucken vor Schreck zurück. Aber dann kam ihm der Gedanke, daß sie sich vielleicht zu Recht fürchteten, denn auch ihn schauderte es plötzlich. Rec Pakken war schließlich ein totes Ding, und Edeinos konnten Dinge, die nicht vor Leben sprühten, nicht ertragen. Bis auf die Gotaks natürlich, jene Edeinos, die Baruk Kaah zu Priestern der Toten ernannt hatte. Jetzt konnte Kerr Naru sehen, wie es die Brücke hinunterkrabbelte wie eine riesige, schwarze Spinne. Rec Pakken war ungefähr fünfhundert Meter breit, ein beweglicher Wald, der aus einem einzelnen schwarzen Steinbaum bestand. Der bewegliche Wald hatte unzählige Wurzeln, die ihm als Beine dienten und die Dunkelheitsmaschine über die Dschungelbrücke trugen. Er war gräßlich anzusehen, und es war ein Affront gegen Lanala. Vielleicht sollte er sich Baruk Kaah und dessen neuer Angewohnheit, tote Gegenstände zu benutzen, entgegenstellen, überlegte Kerr Naru. Er wußte, daß Lanala mit dem, was ihr Erstgeliebter tat, nicht zufrieden war, er wußte, daß viele Edeinos beunruhigt über die neuen Methoden waren. Wenn sie sich zusammenschließen würden... -211-
Rec Pakken kam immer näher, und Kerr Naru konnte bereits seine nachtschwarzen Äste erkennen. Was konnten sie gegen die Macht des Toten ausrichten? fragte er sich. Einer der Gotaks trat neben ihn. Der Priester der Toten streckte seine Klaue hoch und rief: »Heil, Baruk Kaah, Saar der Edeinos, Hoherpriester von Takta Ker! Heil, Rec Pakken, der das Volk Dinge erfahren ließ, von denen es nie geträumt hat!« Die anderen stimmten in den Singsang ein, und bald darauf besangen sie den Hohenpriester und seine Dunkelheitsmaschine. Lanala hingegen bedachten sie nur mit einem kurzen Nicken, und das taten sie auch nur aus Höflichkeit. Das Schauspiel quälte den Beschwörer. Und trotzdem, eine Stimme konnte nichts verändern. Kerr Naru wandte den Blick von dem näherkommenden Wald ab und hob die Stimme, um in den Gesang einzustimmen: »Heil, Baruk Kaah, heil, Rec Pakken!«
86 Kürst zupfte seine Jeansjacke zurecht. Sie paßte ihm nicht so richtig, war ihm ein gutes Stück zu groß und deshalb ziemlich komfortabel. An dieser ungewohnten Bequemlichkeit lag es, daß Kürst sich unwohl fühlte. Doch er hatte beschlossen, die Jacke in jedem Fall zu behalten. Schließlich hatte er einige Unbequemlichkeiten auf sich genommen, um sie zu ergattern, und der vorherige Besitzer konnte ohnehin nichts mehr mit ihr anfangen. Er konnte es gar nicht leiden, wenn er unvorbereitet in einen neuen Kosmos kam. Der Hagere Mann hatte ihn mit der Sprache dieser Welt ausgestattet, hatte aber keine Zeit mehr gehabt, ihn mit ihren Konventionen vertraut zu machen. Doch Kürst würde das schon hinkriegen. Er kriegte immer alles hin. Das hier ist also Philadelphia, überlegte er. Er konnte die -212-
Tradition und die Stimmung der Stadt spüren. Die Essenz der Welt war hier deutlich vorhanden. Hier roch es nach Gedanken, die dem Jäger fremd waren: Freiheit, Offenheit, die Jagd nach persönlichem Glück. Ja, über diese Ideale hatte man in Orrorsh gesprochen, und einige der dummen Viecher hatten sogar daran geglaubt. Aber das war nur eine Illusion, die von seinem Herrn, dem Hageren Mann, propagiert und kontrolliert wurde. Doch hier war es anders. Was in seinem Kosmos kalte, leere Worte waren, war hier lebendige Wahrheit, wenn er auch nicht wußte, was das für einen Unterschied machte. Als er das Krankenhaus gefunden hatte, schob er diese Gedanken beiseite. Das hier war die Stelle, die der Hagere Mann genannt hatte, und der Geruch der Stürmer war stark. Kürst stand vor dem Gebäude und las die Buchstaben, die es kennzeichneten. Ja, dachte er, hier war besagte Dr. Hachi angekommen. Er atmete tief durch, damit ihr Geruch seine Sinne anregen konnte. Sie roch nach Technologie und Jugend, fast wie eine süßere Version von Thratchen, und ihr Geruch prickelte vor Macht und Möglichkeiten. Das Bild, das der Hagere Mann ihm gegeben hatte, war gut, aber jetzt hatte er ihren wahren Geruch, und es gab keinen Ort mehr, wo sie sich verstecken konnte. Der Jäger betrat das Gebäude und bewegte sich leichtfüßig durch die verwüsteten Korridore. Er ließ die Ärzte und Krankenhausbelegschaft ungestört arbeiten, während er zu dem Zimmer ging, das der Hagere Mann ihm gezeigt hatte. In diesem Stockwerk war das Durcheinander besonders groß. Der Gedanke, daß das etwas mit den Stürmern zu tun hatte, beunruhigte Kürst. Er haßte es, wenn sein Auftrag von Dingen beeinflußt wurde, die er nicht kontrollieren konnte. Mit Hilfe seines Geruchsinns folgte er Dr. Hachis Spur durch das Krankenhaus. Plötzlich war da ein anderer Geruch. »Ravagons«, murmelte er. Er hatte gehofft, sie einholen zu können, aber er hätte wissen -213-
müssen, daß sie vor ihm eintreffen würden. So wie es aussah, waren sie schon in Baruk Kaahs Reich, während er über die Brücke nach Orrorsh hatte gehen müssen, dann über eine zweite Brücke nach Takta Ker und schließlich über die dritte Brücke hinunter nach New York. Von dort hatte er nach Philadelphia Weiterreisen können. Wenn er das Blut genauer untersucht hätte, wüßte er allerdings auch, daß der Vorsprung der Ravagons nicht sonderlich groß war. Aber was war mit den Stürmern? Der Jäger lief im Zimmer umher, um jeden einzelnen Geruch aufzunehmen. Ein Geruch, der fast so stark war wie der von Dr. Hachi, gehörte dieser anderen Frau, die Tolwyn hieß. Sie ist eine Kämpferin, sagte er sich, und sie roch nach Ehre und Adel. Die anderen hatten auch alle einen eigenen Geruch, an dem er sie erkennen konnte, wenn er sie endlich eingeholt hatte, aber ihr Duft war lange nicht so deutlich. Da gab es einen Mann der Gedanken, der Lehre und der Religion. Aber er war im Augenblick voller Zweifel und Verwirrung. Gut. Das bedeutete, daß er unkonzentriert war. Wenn seine Gedanken in verschiedene Richtungen gingen, dann war das mit seinen Sinnen kaum anders. Er würde kein Problem darstellen. Der zweite Mann war voller Mißtrauen. Er hatte die Härte der Straße verinnerlicht. Er roch nach Autorität, aber darunter lauerte Wut und das Bedürfnis nach Rache. Der hier ist ein Kämpfer, sagte sich Kürst, wahrscheinlich ein Soldat oder irgendein Wächter. Der konnte sich als gefährlich erweisen. Der dritte und der vierte Geruch gehörten zusammen. Sie gehörten zu sehr jungen Menschen. Die Straße hatte sie hart gemacht wie den argwöhnischen Mann, aber ihnen fehlte die Erfahrung oder die Stärke, die mit dem Alter einhergehen. Auf sie mußte er aufpassen, aber das reichte dann auch schon. Das also waren die Beschützer der Stürmerinnen – ein verunsicherter Priester, ein wütender Wächter und zwei -214-
unerfahrene Jungen. Kürst mußte fast lachen. Wo war die Herausforderung, die diese Welt versprochen hatte? Wo war die Prüfung, die er so verzweifelt suchte? Er atmete noch einmal ein, und dieses Mal berührte ihn ein anderer Geruch. Er war frisch, klar und kraftvoll. Es war der Geruch der Möglichkeiten, und ihm fiel auf, daß jede Person aus dem Zimmer ihn hatte. Einen kurzen Moment wurde Kürsts Zuversicht erschüttert. Niemals zuvor war er so vielen Wesen in einem Zimmer begegnet, die so voller Möglichkeiten steckten. Was konnte das bedeuten? Er würde die Bedeutung schon noch herauskriegen, sagte sich Kürst und folgte eilig der Spur der Stürmerinnen.
87 Bryce studierte hastig die Straßenkarte und entschied, daß sie am besten in Richtung Westen vorankamen, wenn sie zunächst auf der Interstate 76 blieben. Während der Fahrt versuchte er Mara ein paar Instruktionen für das Autofahren zu geben, da sie interessiert jede seiner Bewegungen verfolgte und ihn fragte, warum er den Fuß bewegte oder warum er die Position des Schalthebels der Automatikschaltung veränderte. Ratte belächelte ihre Fragen, aber Coyote starrte sie nur wie gebannt an. Der junge Mann fing offenbar an, sich für das Mädchen mit der wilden Haarmähne zu interessieren. Bis jetzt hatte sie allerdings wenig Interesse an ihm gezeigt. Bryce warf dann einen Blick in den Rückspiegel, um Tolwyn betrachten zu können. Sie blickte aus dem Heckfenster. Bryce fiel auf, daß ihre Schultern angespannt waren und daß sie zitterte. Er verrückte den Spiegel, damit er sie besser sehen konnte. So hatte er auch die Straße im Blick. Zuerst sah alles aus wie gehabt, eine leere Straße hinter ihnen und auf der Gegenspur ein Verkehrschaos. Auf einmal registrierte er jedoch eine flatternde -215-
Bewegung weit hinter ihnen. »Sie kommen, Christopher Bryce«, sagte Tolwyn mit Angst in der Stimme. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. »Ich erinnere mich an das Leid, das sie verursachen, an die Furcht, die sie säen.« Bryce fuhr einfach weiter und erhöhte unbewußt die Geschwindigkeit, um die Entfernung zu vergrößern. Die anderen bemühten sich, das zu sehen, wovon Tolwyn sprach. »Wer kommt, Tolwyn?« »Fahren Sie einfach weiter, Chris«, erklärte Rick Alder und zog seinen Revolver heraus. Dem Priester lief ein Schauder den Rücken hinunter. »Sie schlagen eine Furche durch die Flüchtlinge«, sagte Tolwyn. »Sie sind uns auf der Spur, aber sie haben uns noch nicht ausgemacht. Doch all diese Menschen sterben. Bei Dunads Schwert! Ich wünschte, ich hätte mein eigenes dabei!« Ratte wollte wissen, wovon sie sprach. Tolwyn wandte sich an den Jungen. »Es gab ein Schwert, das aus einem schweren Brocken Nickeleisen geschmiedet wurde. Das Metall war ein Geschenk von unten, von den Zwergen von Aysle. Es war aus einem bestimmten Stück Erz, und man glaubte, daß es ein Teil des Landes war. Das Schwert hieß Schlachtstern, und es war auf dem Amboß von Tanglan getrieben worden, einem Zwergenschmied, der mit Feuer und Eis und unablässigem Hämmern die magische Klinge in Form gebracht hat. Nachdem der Schmied aus dem glühenden Metall Stahlstangen geformt und sie ineinander geflochten hatte, hämmerte er sie flach und faltete den Stahl immer und immer wieder. Dann überreichte er das fertige Schwert Solgal, dem Begründer des Hauses Tancred. Das Schwert hatte eine breite Klinge und war schwer genug, um wie ein Hackebeil verwendet zu werden, doch seine Spitze und damit seine Stoßkraft war überwältigend. Außerdem war es so -216-
leicht, daß man es mit einer Hand führen konnte. Doch der Griff war auch breit genug, um zwei Händen Platz zu bieten, wenn man zusätzliche Schlagkraft brauchte. Er war außerdem schwer genug, um das Gewicht der strahlenden Klinge auszugleichen. Der Knauf war aus Eisen gefertigt und hatte die Form eines neunzackigen Sterns. Er konnte im Kampf als Keule oder Morgenstern herhalten – daher auch der Name des Schwerts, Schlachtstern.« Tolwyn schwieg. Dann sagte sie: »Ich weiß nicht, warum mir das alles einfällt, aber so ist es.« »Da kommen sie«, sagte Coyote. Bryce riskierte einen Blick nach hinten, und diesmal sah er sie. Zwei geflügelte Schatten zuckten durch den Himmel und hielten auf den Lieferwagen zu. Der Priester drückte noch stärker auf das Gaspedal. »Diese Kiste hat seit Jahren nicht mehr eine solche Geschwindigkeit erreicht«, rief er nach hinten. »Ich bin mir ziemlich sicher, daß sie es vertragen kann, Chris«, erwiderte Alder. »Lassen Sie sich aber nicht zu gefährlichen Manövern hinreißen.« Alder und Mara krochen zu der Hecktür. Sie hatten beide eine Waffe in der Hand, was Bryce sowohl beruhigte als auch erschreckte. Das erste Flügelmonster schwebte über dem Dach des Lieferwagens und setzte mit einem lauten Getöse auf. Das zweite näherte sich im Sturzflug der Hecktür. Alder zielte durch das Fenster und feuerte schnell zwei Schüsse ab. Falls er die Kreatur getroffen hatte, dann war das nicht zu erkennen. Sie flog immer noch auf die Tür zu und polterte so stark dagegen, daß sie nach innen gedrückt wurde. Bryce konnte sehen, wie sich die Krallen durch das Metall bohrten. Der Priester hatte alle Hände voll zu tun, das Fahrzeug auf der Straße zu halten. Das Monster hatte sie getroffen wie ein Lastwagen, und der Lieferwagen -217-
schlitterte wild über den Asphalt. »Halten Sie durch, Pater«, rief Coyote. »Sie können es schaffen.« Während der Priester sich bemühte, den Lieferwagen abzufangen, hoffte er, sich das Vertrauen der Jugendlichen verdienen zu können. Und dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Eine der Türflügel am Heck fiel in den Wagen, und das Dach wurde abgerissen. Beide Aktionen wurden von dem gräßlichen Geräusch reißenden Metalls begleitet. Plötzlich strömte kalter Wind in das Innere des Fahrzeugs. Die Kreatur in der Türöffnung war zu groß, um aufrecht stehen zu können. Sie hatte einen kleinen Kopf auf einem schmalen Hals. Ihr mächtiger Brustkorb zeugte von übermenschlicher Stärke, und ihre Flügel hingen wie ein lebender Umhang an ihrem Körper herunter. Mit ihren Klauen verpaßte die Kreatur Alder einen Schlag. Der Polizist wurde gegen die Wand geworfen und rutschte dort stumm hinunter. Dann streckte die Kreatur ihre Klauen nach Mara aus. »Kommt, Stürmerin«, rasselte sie, »ist das alles, was ihr könnt?« Der andere Schwingendämon griff durch den Riß im Dach. Er packte Bryce an den Schultern. Seine scharfen Krallen ritzten die Haut auf, und Blut quoll aus den Kratzern. Der Priester blickte dem Wesen ins Gesicht, sah aber nur die spitzen Zähne und die humorlosen, toten schwarzen Augen. Es hätte ihn aus dem Fahrersitz gehoben, wenn Tal Tu nicht im selben Augenblick zugeschlagen hätte. Der Edeinos schlug mit seinen Krallen zu und zwang das Ungeheuer, den Priester loszulassen. Und dann verstrickten sie sich in einen zähen Kampf, jeder auf seiner Seite des aufgerissenen Metalls. Bryce trat auf die Bremse. Der Lieferwagen wurde herumgerissen und blieb dann unvermittelt stehen. Die anderen -218-
verloren das Gleichgewicht, aber er hoffte, daß sein Manöver ihnen nutzen würde. Als die Räder des Lieferwagens quietschend blockierten, lockerte sich der Griff des Ravagons, der Mara festhielt, für einen Sekundenbruchteil. Mehr brauchte die junge Frau jedoch auch nicht. Sie wirbelte herum und bohrte ihre Laserwaffe in den Bauch des Biestes. Dann schoß sie viermal. Das Monster verdrehte die Augen, ließ los und landete hinter ihnen auf der Straße. Inzwischen hatte Tolwyn den Kreuzschlüssel in einem Fach mit Werkzeug gefunden. Sie stürmte nach vorn und schwenkte ihn, als sei er das Schwert, von dem sie eben noch gesprochen hatte. Mit voller Wucht hieb sie damit auf die Kreatur ein, mit der Tal Tu kämpfte. Der Dämon ließ den Edeinos mit einem Schmerzensschrei los, rollte vom Dach und verschwand. »Mein Gott, was waren das für Dinger?« fragte Bryce. »Ich glaube, sie nennen sich Ravagons«, sagte Tolwyn. Anscheinend hatte der Kampf Erinnerungen in ihr geweckt. »Ich kann mich erinnern, daß sie an der Schlacht um Aysle beteiligt waren.« »Tolwyn, passen Sie auf!« kreischte Ratte. Der Ravagon vom Dach ragte plötzlich wieder am Seitenfenster des Lieferwagens auf. Bevor Tolwyn sich umdrehen und verteidigen konnte, stieß er seine kraftvollen Klauen durch das Glas. Bryce kämpfte mit der Zündung, doch nach seinem verzweifelten Manöver hatte der Motor den Geist aufgegeben. »Laß... los«, rief Tolwyn und hieb mit dem Kreuzschlüssel in das Gesicht des Ravagons. Der ließ sie los, und sie taumelte nach vorn. Durch ihre Bewegung entstand die Öffnung, auf die Mara und Alder gewartet hatten. Gleichzeitig pumpten sie Kugeln und Laserstrahlen in die grauenerregende Kreatur, bis sie vom Lieferwagen fiel. »Ich hab’s geschafft!« rief Bryce, als der Motor endlich -219-
ansprang. »Dann bringen Sie uns mal von hier weg, Pater«, grinste Alder, bevor er bewußtlos zusammenbrach.
88 »Das ist lächerlich, Henri!« rief Claudine Guerault über die lautstarke Menge hinweg. Ihr Beruf hatte sie an viele seltsame Orte gebracht, aber was sie jetzt in ihrem eigenen Land miterlebte, überstieg ihre Vorstellungskraft. »Ich glaube, du hast da recht«, sagte Henri Dupuy, ihr Fotograf. »Hier wuselt es nur so vor Menschen. Durchfahren kann man da nicht. Ich schlage vor, daß wir zu Fuß gehen.« Sie waren im Südosten von Frankreich, in Avignon. Claudine hatte den Mord an dem japanischen Diplomaten nicht gern abgegeben, aber ihr Herausgeber hatte darauf bestanden, daß sie die Sache in Avignon übernahm. Es hatte den Anschein, als ob die plötzliche religiöse Inbrunst in Avignon eine Art Höhepunkt erreicht hatte. Jetzt waren auch Claudine und ihr Fotograf dort, um herauszufinden, was dort geschah. »Halte dich dicht hinter mir«, warnte Dupuy, während er eine Schneise durch die Menschenmenge pflügte. »Das Zeichen, das Zeichen kommt, das Zeichen!« Diesen Ausruf hörte sie überall. Die Leute flüsterten ihn ehrfurchtsvoll oder riefen ihn sich überglücklich zu. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wovon die Rede war, aber die Intensität in der Luft war beinah greifbar. »Schneller, Henri«, brüllte sie ihrem Begleiter zu. »Ich will wissen, worum sich die Leute hier scharen.« Sie schoben und zwängten sich durch, kamen langsam, aber stetig voran, bis sie vor dem alten Palace Papal herauskamen, der einst von den Avignoner Päpsten bewohnt wurde, und -220-
Claudine fragte sich, ob dieser Ort, der an die Zeit der Gegenpäpste erinnerte, eine tiefere Bedeutung barg. Sie nahm ihr Notizbuch heraus und fing an, ein paar Eindrücke niederzuschreiben, die das Gedränge ihr vermittelte. Dupuy stand neben ihr und schoß ein Foto nach dem anderen, um das Schauspiel auch in Bildern einzufangen. Dann trat ein Mönch aus der Kirche, und die Menge wurde plötzlich still. Über ihnen braute sich ein schwerer Sturm zusammen. Der Mönch trug ein schlichtes Gewand, genau wie die anderen Männer, die in den vergangenen Wochen überall im Land aufgetaucht waren. Ein paar Sekunden lang betrachtete er die Menschenmenge, und dann begann er zu sprechen. »Diese Welt liegt im argen, ist voll von Sünde und Sündern. Die Heiden haben lange genug regiert, doch jetzt steht das Jüngste Gericht bevor!« Der Mönch sprach sehr kraftvoll und konnte die Menschen fesseln. Selbst Claudine wurde von den Gefühlen überwältigt, die er hervorrief. »Wir haben nach einem Zeichen gesucht, und ich sage euch, im Augenblick gibt es sehr wilde Zeichen. Im heidnischen Amerika, in Großbritannien haben die Sünden der Menschen die Strafe Gottes hervorgerufen. Doch bevor solch eine Katastrophe das französische Volk heimsucht, habe ich gute Nachrichten!« Die Menge drängte nach vorn und wartete begierig, daß der Mönch weitersprach. Er hielt sie hin, um die Erwartung noch zu steigern. Claudine sah, daß Dupuy immer noch knipste. Endlich sprach der Mönch weiter. »Wie Lot und seiner Familie, wie den Juden in Ägypten wird uns das grausame Schicksal des Jüngsten Tags erspart bleiben! Denn jemand wird kommen, um uns von unseren Sünden zu befreien. Jemand, der uns auf eine neue Erde führen wird, die auf der Asche der alten Welt errichtet werden wird!« Claudine hatte zu schreiben aufgehört. Was sagte der Mönch da? Über wen sprach er? Sie zog ihre Jacke fester um sich, -221-
damit ihr ein wenig wärmer wurde. Der Wind wurde immer heftiger und der Himmel dunkler. Die Wolken türmten sich auf und jagten über die Köpfe der Menschen hinweg. Plötzlich hatte sie große Angst. »Er wird die Dunkelheit verbannen!« rief der Mönch. »Er wird das Böse in dieser Welt vertreiben und die Technologie, die ein Werk des Teufels ist. Er wird das Einfache zurückbringen, das in Vergessenheit geraten ist. Das hier wird das Zeichen seines Kommens sein!« Damit teilten sich die Wolken, und ein Bogen aus goldenem Licht fiel auf die Erde. Er landete auf der Kirche und tauchte sie in einen überirdischen Schein. Eine Energiewelle rollte in die Menschenmenge und fuhr durch sie hindurch. Und dann gingen auf einmal die Straßenlaternen aus, als die Energie sich ausbreitete. Nicht einmal Henris Kamera funktionierte mehr. Die Menschen fielen vor dem goldenen Bogen auf die Knie. Claudine mußte sich zusammenreißen, um es ihnen nicht nachzumachen. »Seht das Zeichen unseres Hirten, meine Brüder und Schwestern!« rief der Mönch. »Haltet euch bereit, denn der Heilige Vater wird bald kommen!« Sie arbeitete sich zu dem Fotografen vor. »Los, Henri«, sagte sie. »Wir müssen von hier verschwinden. Diese Menschen werden alles tun, was dieser Mönch sagt.« »Ist es nicht wunderbar, Claudine?« fragte Dupuy. Er ließ seine Kamera fallen, die auf dem Betongehweg aufsprang. »Er kommt!« »Nein, nicht auch du, Henri!« Claudine drängte den Fotografen beiseite und eilte durch die Menschenmenge. Sie begriff nicht, was passierte, aber sie wußte, daß sie fliehen mußte, solange ihr noch Zeit blieb. Sie mußte jemandem erzählen, was sie erlebt hatte – und sie mußte darüber nachdenken, ob der Himmel das bewirkt hatte oder ob etwas viel -222-
Schlimmeres die Hand im Spiel hatte.
89 Nachdem Kürst die Karte studiert hatte, beschloß er, daß es am sinnvollsten war, durch das Lebende Land zu reisen. Er konnte sich eine Flugechse ausborgen und die Stürmer dann irgendwo in der Gegend einer Stadt namens Columbus abfangen. Dort traf die Straße, auf der sie durchs Landesinnere fuhren, jene Straße, die er nehmen wollte. Sein Rang erforderte es, daß er Baruk Kaahs Reich Respekt zollte, aber mit Hilfe seiner Klauen konnte er seine Identität beweisen. Er mußte nur zwei Edeinos in Stücke reißen, um seinem Wunsch Gehör zu verschaffen. Jetzt saß er auf einer Flugechse und folgte der Straße mit der Nummer 80. Die übrigen Edeinos waren so freundlich gewesen, ihm auch noch einen Benthe zur Verfügung zu stellen. Das kleine, kugelförmige Wesen saß auf dem Hals des Lakten und gab ihm die Befehle. Daher hatte Kürst nichts zu tun und konnte die Landschaft betrachten, über die sie flogen. Kürst fiel auf, daß diese Welt fortschrittlicher war als seine eigene und weitaus stärker von Technologie abhängig. Zwar hatte Orrorsh Industrie und mechanische Hilfsmittel, aber das war erst eine relativ neue Entwicklung. Die großen Städte unter ihm wichen Feldern und Wäldern, die sich auf dem großen Kontinent ausdehnten. Alles war größer und weitläufiger, als er es gewohnt war. Doch die Nähe des Lebenden Landes war bereits spürbar. Die Felder und Wälder waren wilder und sahen ursprünglicher aus, als sie es wohl normalerweise waren. Neue größere Lebensformen, waren überall zu sehen. Und dann richtete sich das Interesse des Jägers auf einmal auf zwei Gruppen unter ihm. -223-
»Ziehe hier einen Kreis und lande dann vor jenen Kreaturen«, befahl Kürst dem Benthe. Der fuhr einen seiner Fühler aus, um zu zeigen, daß er den Befehl gehört hatte, und gab dem Lakten dann entsprechende Anweisungen. Die Flugechse beschrieb einen weiten Kreis, so daß Kürst die beiden Gruppen beobachten konnte, die sich dort begegneten. Die erste Gruppe setzte sich aus einem halben Dutzend EdeinosKriegern und einem riesigen Tresir zusammen, die in Wartestellung verharrten, um die zweite Gruppe aus dem Hinterhalt zu überfallen. In der zweiten Gruppe waren Erdlinge in Militäruniform. Sie liefen auf der Straße genau in die Richtung, in die Kürst flog. Sie würden geradewegs in den Hinterhalt laufen. Das könnte interessant werden, dachte Kürst. Dann landete der Lakten auch schon in der Nähe der Edeinos. Der Jäger stieg ab und lief zu den Echsenmännern hinüber. Sie warfen ihm neugierige Blicke zu, weil sie nicht genau wußten, was sie von seinem überraschenden Auftauchen halten sollten. Es war offensichtlich, daß er nicht aus dem Lebenden Land stammte, aber er ritt einen Lakten. Ihr Anführer, ein älterer Edeinos, baute sich selbstbewußt vor Kürst auf. Er zielte mit seinem Steinspeer auf dessen Brust und fragte in der Sprache des Lebenden Landes: »Wer bist du, Toter, und was gibt dir das Recht, einen Lakten zu befehligen?« Kürst lächelte und antwortete dem Echsenmann in dessen Sprache: »Ich bin Kürst, Jäger für den Hageren Mann, und Baruk Kaah höchstpersönlich hat mir die Reise durch dieses Reich gestattet.« Die jüngeren Krieger erschauderten, als der Hagere Mann erwähnt wurde, und rissen erstaunt die Augen auf, als sie hörten, wie vertraulich dieser Weichhäutige von ihrem Saar sprach. »Erlügt«, platzte einer der jungen Edeinos heraus, der neben dem Tresir stand, und das riesige Biest brüllte zustimmend. -224-
Schneller als die anderen reagieren konnten, setzte Kürst zum Sprung auf den Krieger an. Während des Sprunges veränderte sich sein Körper, und er war blitzschnell mit Fell überzogen. Er wurde größer und breiter, bekam Krallen und eine Schnauze. Als seine scharfen Krallen den Echsenmann durchbohrten, hatte er sich vollständig in einen dämonischen Werwolf verwandelt. Der junge Krieger stürzte krachend zu Boden. Kürst stand über ihm und sah zu, wie das Licht des Lebens in seinen Augen erlosch. Der Anführer war tief beeindruckt. »Schließ dich uns an, ehrenwerter Jäger. Wir werden gleich zum Angriff blasen.«
90 Andrew Jackson Decker konzentrierte sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die sieben Soldaten waren geübter im Marschieren als er. Er wünschte sich sehnlich eine kurze Pause, aber er wollte keine Schwäche zeigen. Er wollte sie sich nicht einmal selbst eingestehen. »Kongreßabgeordneter«, sagte auf einmal Sergeant Lewis, »mit Ihrer Erlaubnis möchte ich eine fünfminütige Pause vorschlagen.« »Macht die ganze Anstrengung Sie langsam fertig, Sergeant?« keuchte Decker. »Nein, Sir«, erwiderte der Sergeant. »Wir können durchaus weitergehen, wenn Sie wollen.« »Geht schon in Ordnung«, warf Decker schnell ein. »Ich denke, eine kurze Pause könnte ganz sinnvoll sein.« Decker ließ sich neben der Autobahn nieder, griff nach seiner Feldflasche, schraubte den Verschluß ab und setzte zu einem langen Zug an. Zufrieden beobachtete er, daß Lewis und seine Männer es ihm gleichtaten. -225-
»Sie haben früher mal Baseball gespielt, nicht wahr, Sir?« fragte ein Soldat. »Das ist schon lange her, Soldat. Sie und Präsident Wells sind wahrscheinlich die einzigen, die sich daran erinnern. Ich war auch nicht besonders gut.« »Unsinn!« warf Sergeant Lewis ein. »Sie waren einer der vielversprechendsten Werfer Ihrer Zeit. Doch dann haben Sie das Baseballspiel an den Nagel gehängt. Weshalb eigentlich?« Decker hängte die Feldflasche wieder an seinen Gürtel. »Dann muß ich jetzt wohl mit dem Rest der Geschichte herausrücken. Gleich nach der High School habe ich mit dem Baseballspielen angefangen. Ich war ein Jahr in der Unterliga und wurde dann für die Oberliga ausgewählt. Für mich war ein Traum wahr geworden. Aber nach der ersten Saison beschlich mich das Gefühl, daß das alles zu trivial sei und ich mein Leben besser anders ausfüllen sollte. Und so habe ich mich bei der Armee gemeldet, das College beendet und bin dann später ins politische Leben eingetreten.« Plötzlich wurde Decker von einem gewaltigen Lärm unterbrochen. Er stand auf, um nachzusehen, was da durch das Gebüsch neben der Straße stapfte. Er sah eine Bewegung, etwas Großes und Schnelles, das kurz darauf aus dem Blätterwerk brach. In Grazie und Geschwindigkeit ähnelte es einem Raubtier, aber obwohl es schlank und sehnig war, hatte es kein Fell, sondern glänzende, schwarze Schuppen. Alle vier Gliedmaßen liefen in Krallen aus. Auch der Kopf gehörte eindeutig einem Reptil. Es hatte die Zähne eines Fleischfressers, und eine schwarze Fellmähne fiel vom Kopf auf die mächtigen Schultern. Das Ungeheuer krachte gegen Decker und traf ihn mit seinem Bein. Etwas Haut am linken Arm und am Brustkorb wurde abgeschürft, und er landete mit einem harten Schlag auf dem Boden. Dann wurde die Welt schwarz. -226-
Sergeant Lewis und seine Männer sprangen gleichzeitig mit Decker auf. Aber sie hatten kaum eine Chance. Das riesige Biest, das an eine Kreuzung zwischen einem Krokodil und einem Löwen erinnerte, ging mit seinen Krallentatzen auf zwei der Männer los. Zwei andere wollten mit ihren Maschinengewehren auf die Kreatur feuern. Sie drückten auf den Abzug, doch nichts passierte. Die Kreatur stürzte sich auch auf die beiden und schnappte den einen mit seinen überdimensionalen Fängen. Sein Freund wollte helfen, indem er mit seinem ansonsten nutzlosen Gewehr auf das Monster eindrosch. Aber das Unwesen warf sich schnell herum, stürzte sich auf den Soldaten, riß ihn zu Boden und fing an, an ihm herumzunagen. Lewis blickte sich um. Nur noch ein Soldat stand neben ihm und blickte schockiert und gebannt um sich. Der letzte seiner Männer lief die Straße in die Richtung hinunter, aus der sie gekommen waren. Gleichzeitig kamen noch mehr Monster aus dem Gebüsch gelaufen, und sie mußten es auch noch mit fünf Echsenmännern und einem riesigen Werwolf aufnehmen. »Wir sind tot, Sarge«, schrie einer der Soldaten. »Oh, Gott, sehen Sie doch, was sie den anderen angetan haben!« Sergeant Lewis zückte seine Waffe und feuerte. Nichts! »Ich will in der Hölle schmoren, wenn ich hier einfach rumstehe und zulasse, daß sie mich töten!« rief er und stürmte nach vorn. Mit seinem Gewehrkolben zerschmetterte er den Schädel eines Echsenmannes. Eine der Echsen brüllte etwas, das sich fast wie eine Rede anhörte, und warf dann seinen Speer. Einer der übrigen Soldaten taumelte nach hinten, als die schwere Spitze durch seinen Brustkorb drang. »Tut mir leid, Sergeant«, murmelte er noch. Dann brach er zusammen. -227-
Der Sergeant schwenkte sein Gewehr wie eine Keule, so daß die Echsenmänner Distanz hielten. Er hoffte, daß der letzte Überlebende dem Wolf durch die Lappen gegangen war. Doch diese Hoffnung wurde nur wenige Sekunden später zerstört, als er den Schrei hörte. Meine Männer, dachte Lewis, sie haben meine Männer getötet. Dann machte er einen Satz auf die Echsenmänner zu. Noch eines der Monster ging unter den wilden Schlägen des Sergeant zu Boden, aber dann wurde er von drei Speeren gleichzeitig aufgespießt. Zumindest habe ich ein paar von ihnen mitgenommen, dachte er, als ihm schwarz vor Augen wurde. Decker schlug die Augen auf und sah den Himmel, dunkel und wolkenverhangen über sich. Aber zumindest der Regen hatte aufgehört. Irgendwie schien ihm das wichtig zu sein, obwohl er nicht wußte, warum. Sein Körper schmerzte, und er konnte die warme, klebrige Flüssigkeit auf seiner Brust und seinem Arm spüren. Er sagte sich, daß es das beste sei, wenn er blieb, wo er war. Er wollte sich ausruhen. Vielleicht würde sich der Schmerz dann verflüchtigen. Aber der Himmel war mehr als seltsam. Die Wolken überschlugen sich und zogen immer schneller vorbei. Sie formierten sich zu einem Bild, das Decker in letzter Zeit häufig gesehen hatte. Fast jede Nacht tauchte es in seinen Träumen auf. Jetzt hing es über seinem Kopf am Himmel. Der blaue Stein mit den roten Adern war darin eingebettet. »Was willst du von mir?« fragte Decker. Der Stein blieb stumm vor ihm hängen. Dann veränderte sich das Bild und verwandelte sich in das Gesicht einer Frau. Ihre Gesichtszüge konnte er nicht deutlich erkennen, aber sie hatte auffallend grüne Augen. »Ich habe es versucht, aber jetzt ist es vorbei.« Dann hörte er plötzlich die Stimme seines alten Trainers. Es ist erst vorbei, wenn’s vorbei ist, Ace. Geh wieder hinein und gewinn das Spiel! Decker seufzte und setzte sich auf. Er hob sein Gewehr auf und wollte aufstehen. -228-
Sanders, Dalles, Teagle, Burton, Jones, Miller und Sergeant Lewis – alle waren tot. Drei Echsenmänner standen über die Soldatenleichen gebeugt, und die schwarze Katzenechse war nur ein paar Schritte entfernt. Decker ließ sich wieder zu Boden sinken. Er wollte sich verstecken, bis er eine Chance hatte, sie auszulöschen. Plötzlich kam ein Mann auf der Straße näher. Es war von mittlerer Größe, aber ziemlich breitschultrig. Seine Kleidung war ihm ein wenig zu groß, deswegen hielt Decker ihn für einen Flüchtling. Die Katzenechse reckte den Kopf, als der Mann näher kam. »Ihr habt all diese Soldaten getötet, ihr Hundesöhne, aber ich werde es nicht zulassen, daß ihr noch jemanden tötet!« schrie Decker und riß seine M-16 hoch. Das Automatikgewehr explodierte, und die Kugeln fraßen sich durch die Schuppen des Untiers. Dann drehte Decker sich blitzschnell um und mähte die Echsenmänner um, bevor sie ihre Speere zücken konnten. »Sind Sie in Ordnung?« rief Decker dem Mann zu. Der wirkte einen Moment lang ziemlich verwirrt, und Decker konnte ihn ganz gut verstehen. »Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde Ihnen nichts antun. Mein Name ist Andrew Decker. Ich bin Kongreßabgeordneter.« Der Mann nickte, lächelte dann schwach und zeigte die Zähne. Als er sprach, fiel Decker sein britischer Akzent auf. »Mein Name ist Kürst, Kongreßabgeordneter Decker.«
91 »Wie geht es ihm, Dr. Hachi?« Mara schüttelte den Kopf. »Er hat eine Menge Blut verloren, aber ich habe seine Wunden sauber gemacht und sie verbunden. Es müßte ihm bald -229-
besser gehen, wenn er es langsam angehen läßt, sonst werden die Wunden wieder aufplatzen.« »Ich werde mich schon zusammenreißen, Doc«, sagte Alder. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. »Es hat doch sein Gutes, daß wir gerade auf einem Erholungstrip sind. Das wird mir bestimmt guttun.« Bryce grinste. »Ruhen Sie sich ein bißchen aus, Rick, und bleiben Sie bei ihm, Mara.« Die junge Frau nickte. Die Abenddämmerung hatte eingesetzt. Bryce war sich nicht darüber im klaren, wie sie sich in der Nacht verhalten sollten, obwohl sie ja keine Wahl hatten. Selbst wenn die Welt sich von Tag zu Tag langsamer drehte, gab es immer noch Nacht und Tag. Er stieg aus und musterte den Lieferwagen. Ein Großteil der Metall Verschalung war auseinandergerissen oder fehlte. Die Fenster waren eingeschlagen. Die Hecktür fehlte. Schließlich trat er zu Tal Tu, Coyote und Ratte, die sich am Motor zu schaffen machten. »Na, wie läuft’s?« erkundigte er sich. Coyote zuckte mit den Schultern. »Vielleicht macht er noch ein paar Meilen, vielleicht aber auch nicht. Das ist ’ne alte Kiste, Pater, und heute hat er ganz schön was abgekriegt. Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen sagen soll. Wir haben davon wirklich zu wenig Ahnung.« Tal Tu, um dessen Beine die Katze strich, stimmte ihm zu. »Rick Alder hat mir ein bißchen gezeigt, aber deshalb wird dieser Motor noch lange nicht ewig laufen. Wir werden uns wohl eine andere Transportgelegenheit suchen müssen.« Bryce ging bald darauf los, um nach Tolwyn zu suchen. Er machte sich Sorgen. Der Kampf hatte ihr anscheinend tatsächlich Spaß gemacht. Und das machte ihm angst. Sie saß ein bißchen abseits vom Lieferwagen im Dunkeln und studierte -230-
mit grimmiger Entschlossenheit eine Reklametafel. »Wir suchen noch ein paar gute Männer!«las er ihr vor. »Das ist eine Werbung der Armee der Vereinigten Staaten.« »Hallo, Christopher«, begrüßte sie ihn, ohne die Augen von der Reklametafel zu wenden. Darauf war ein Soldat abgebildet, der sich auf ein Schwert stützte. »So eins will ich.« »Na, dann wollen wir mal sehen. Tal Tu und die Jungen wollen einen neuen Lieferwagen. Sie wollen ein Schwert. Wenn ich schon dabei bin, Bestellungen aufzunehmen, dann kann ich ja auch Rick und Mara fragen, was sie wollen.« »Es werden noch mehr von ihnen kommen«, sagte sie. Sie hatte nicht verstanden, was er meinte. »Vielleicht können wir sie beim nächsten Mal aufhalten.« Bryce setzte sich neben sie. Eine Zeitlang blieben sie beide stumm. Die Dunkelheit nahm zu und hüllte sie ein. Schließlich fragte Bryce ganz leise: »Heute haben Sie sich wieder an etwas erinnern können, nicht wahr?« »Ich erinnere mich an ein wenig mehr. An Kämpfe mit Ravagons. An das Schwert meiner Familie. Aber ich weiß immer noch nicht, warum ich hier bin und weshalb mich diese Kreaturen verfolgen.« »Sie haben es genossen, nicht wahr?« fragte er. »Was genossen, Christopher?« »Das Kämpfen, die Wut, das Blut, alles.« Sie schaute ihm unverwandt in die Augen. »Ich bin im Kampf sehr gut gewesen. Die Schlacht heute hat bewirkt, daß mir das wieder eingefallen ist. Die Bewegungen waren mir vertraut und angenehm. Habe ich es genossen? Vielleicht. Irgend etwas sagt mir, daß ich das am besten kann. Stört Sie das?« »Ja«, lautete seine Antwort, aber er verfolgte das Thema nicht weiter. Und sie auch nicht. -231-
Bryce blickte auf und sah Mara näher kommen. »Ich hoffe, daß ich nicht störe«, sagte Mara, »aber das Abendessen ist fertig. Ratte hat gekocht.« »Mara, warum haben die Ravagons uns Stürmer genannt?« wollte Tolwyn wissen. Die junge Frau seufzte. »Sind Ihnen die Stürme aufgefallen, die überall toben? Wenn die Realität der Invasoren sich über eine Welt ergießt, dann entsteht ein Konflikt mit der Realität dort. Die beiden Realitäten krachen aufeinander, und dieser Kampf wird von extremem Wetter und anderen Veränderungen der Natur begleitet.« »Irgendwie so, als ob die Welt sich wehrt und versucht, sich zu verteidigen?« fragte Bryce. »Ganz genau«, antwortete Mara. »Wenn die Stürme weitergezogen sind und die Realität der Invasoren Fuß gefaßt hat, dann unterwirft sich das Land in vielem – selbst die Menschen dort – der neuen Realität. Alles paßt sich an.« Dem Priester fielen die Wilden ein, denen er in New York begegnet war, Menschen, die sich in Höhlenbewohner zurückverwandelt hatten. »Aber es gibt auch noch welche, die sich nicht anpassen«, fuhr Mara fort. »Diese Individuen halten auch noch an ihrer Realität fest, wenn die Stürme alles verändert haben. Daher auch der Name Stürmer.« Bryce stand auf und streckte sich. Sein Rücken und seine Schultern waren leicht verspannt. »Los, lassen Sie uns Rattes Kochkünste testen.« »In Ordnung«, sagte Tolwyn, blieb aber im Dunkeln sitzen und grübelte dort noch bis tief in die Nacht.
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92 Kaum fünfzig Meilen entfernt schlugen Andrew Decker und Kürst ihr Lager auf. Kürst hatte keine eigenen Vorräte, aber Decker hatte Vorräte von den toten Soldaten geborgen. Sie hatten ein Lagerfeuer entfacht, und ihr Essen kochte bereits. Kürst studierte den Mann, während er sich mit dem Essen beschäftigte. Er schaute ihn nie direkt an, registrierte aber trotzdem jede Kleinigkeit. Decker war groß und schlank, und unter seiner grünen Kleidung spielten Muskeln. Natürlich waren das die Muskeln eines zivilisierten Mannes, aber dennoch Muskeln. Er war ein Stürmer, daran bestand kein Zweifel. Kürst konnte es riechen, der Duft war ebenso deutlich wie das Feuer zu seinen Füßen. »Wer sind Sie, Mr. Kürst?« fragte Decker ihn schließlich. Er hatte gerade das Zelt aufgebaut, zwei Schlafsäcke ausgebreitet und saß nun neben dem Feuer. Auf seinem Schoß lag ein Schwert, dessen Klinge noch in einer Hülle aus feinem Leder steckte. »Ich bin Kürst, ein Reisender fern der Heimat, der in einem seltsamen Land festsitzt.« »Haben Sie auch einen Vornamen, Mr. Kürst?« »Nur Kürst. Solange ich denken kann, hat man mich nie anders genannt.« Decker schwieg einen Augenblick, während er die Waffe genauer betrachtete. »Einer der Soldaten hatte den hier in seinem Rucksack«, sagte er schließlich. »Ich habe keine Ahnung, warum er den Säbel mitgenommen hat, aber ich verspürte irgendwie den Drang, ihn mitzunehmen. Wer weiß? Vielleicht kann ich darauf zurückgreifen, wenn mein Gewehr versagt.« Wieder schwieg Decker einen Moment lang und fuhr mit den Fingern über die polierte Messingscheide. Schließlich -233-
fragte er: »Was hat Sie nach Amerika geführt, Kürst?« Der Jäger blickte vom Topf über dem Feuer auf. Er warf Decker einen kritischen Blick zu, erwartete Mißtrauen, konnte aber nur ehrliche, gutmütige Neugierde entdecken. »Ich bin auf der Suche nach jemandem«, erwiderte er, nachdem er beschlossen hatte, ehrlich zu sein. »Wirklich? Mir geht es ebenso, jedenfalls fast so.« Decker goß sich eine Tasse Kaffee ein und hängte die Kanne dann wieder über das Feuer. »Eigentlich suche ich einen Gegenstand, aber je länger die Suche dauert, desto sicherer bin ich mir, daß auch Menschen etwas mit meiner Suche zu tun haben. Wenn ich's mir recht überlege, muß Ihnen das alles ein wenig merkwürdig vorkommen. Ich habe nur in letzter Zeit viel geträumt, und in diesen Träumen sehe ich den Gegenstand, den ich jetzt suche. Und ich sehe eine Frau. Sie hat langes, braunes Haar und wunderschöne Augen. Ich weiß nicht, was es bedeutet, aber ich habe das Gefühl, daß sie irgendwo dort draußen ist und denselben Gegenstand sucht wie ich.« Kürst verschluckte sich. Decker hatte Tolwyn beschrieben – die Frau, die mit Thratchens Gegenspielerin reiste. Er hatte noch nie gehört, daß sich Stürmer so verhielten! Decker kam besorgt ums Feuer gelaufen und klopfte Kürst auf den Rücken. »Sind Sie in Ordnung? Hab’ ich was Falsches gesagt?« In der Stimme des Mannes lag echte Besorgnis, und das beunruhigte Kürst. Er wischte sich den Mund ab und fragte sich, wie weit er dies Theater treiben sollte. Bis zum bitteren Ende. »Mir geht’s gut, Mr. Decker. Es ist nur so, daß ich die Frau, die Sie beschrieben haben, ebenfalls suche.« »Was? Wie kann das sein?« Kürst zuckte mit den Achseln. »Vielleicht werden wir das zusammen herausfinden.« -234-
Sie unterhielten sich, bis das Feuer ausging und der Kaffee kalt wurde.
93 Bryce und Mara saßen vor dem Lieferwagen. Die anderen hatten sich drinnen schlafen gelegt, und Tolwyn saß immer noch allein im Dunkeln. Und so blieben der Priester und die junge Wissenschaftlerin von einer anderen Realität allein und unterhielten sich leise. »Es bedurfte sicherlich einer Menge Mut, Ihre Welt zu verlassen und hierher zu kommen«, sagte Bryce. Mara schürzte die Lippen. Offensichtlich hatte er da einen wunden Punkt angesprochen. Inzwischen trug sie das maskenartige Makeup nicht mehr, und Bryce fiel auf, daß sie ein hübsches, junges Gesicht hatte. »Erzählen Sie mir von Tolwyn, Chris«, bat Mara. »Was gibt es da zu erzählen? Früher ist sie mal jemand gewesen, der Wendy Miller hieß, aber diese Frau habe ich nie kennengelernt. Ich hatte nur das Vergnügen, Tolwyn zu begegnen, einer jungen Frau, die anscheinend von den Toten zurückgekehrt ist.« »Und von einem anderen Kosmos stammt«, fügte Mara hinzu. »Aber jetzt bin ich hier«, sagte Tolwyn, die plötzlich aus der Dunkelheit trat. »Heute nacht habe ich lange nachgedacht. Wir müssen auf jeden Fall aufbrechen. Ich will sehr bald den Stein erreichen.« »Und was ist noch dabei rausgekommen?« fragte Bryce leichthin. »Und wir werden nie wieder den Begriff›Stürmer‹verwenden«, sagte Tolwyn ernst. -235-
Bryce und Mara schauten sie erwartungsvoll an, ob sie das erklären würde. »Wir werden uns ›Ritter des Sturms‹ nennen, das ist ein besserer Begriff. Mit mehr Kraft.« Tolwyn wandte sich ab. Sie wollte gerade in den Lieferwagen steigen, drehte sich aber noch einmal um und erklärte: »Und, Christopher, ich will ein Schwert.«
94 Das Feuer war heruntergebrannt. Nur die Scheite glühten noch und tauchten die nähere Umgebung in sanftes Licht. Kürst hüllte sich in die Nacht und beobachtete Decker, der neben ihm schlief. »Eine äußerst interessante Situation, das muß ich schon sagen«, flüsterte plötzlich Thratchen dicht an Kürsts Ohr. Der hatte kaum mitgekriegt, wie der Dämon sich genähert hatte. Thratchen war gut. Er würde sich das merken. Kürst bewegte seine Hand, die sich in eine behaarte Pfote verwandelte. Öffnete er die Hand wieder, dann war sie wieder menschlich. Diese Bewegung wiederholte er mehrmals. »Was wollen Sie, Thratchen?« fragte er leise, aber drohend. »Sehen Sie nicht, daß ich beschäftigt bin?« »Auch ich habe eine Aufgabe zu erledigen. Ich suche eine Frau, an der der Gestank von Apeiros klebt. Ich möchte, daß Sie ganz genau wissen, was Sie zu tun haben, wenn Sie sie finden.« »Ich kenne meinen Auftrag, Dämon«, warnte Kürst ihn. »Natürlich«, sagte Thratchen. »Aber kennen sie auch die Legenden von Apeiros und den Namenlosen?« »Kindergeschichten, mehr nicht.« »Vielleicht.« Thratchen drehte sich um, um Decker genauer -236-
zu betrachten. Dann streckte er eine Hand aus, und es war fast so, als wollte er die Möglichkeiten, die über der schlafenden Gestalt schwebten, einfangen. »Die Stürmer dieser Welt sind stark, Jäger.« Kürst nickte nur. »Töten Sie den hier nicht, Kürst. Er kann Sie zu Hachi und der Frau von Aysle führen.« Kursts Pfote verwandelte sich wieder in Fleisch. »Sie verstehen mich doch, nicht wahr, Kürst?« fragte Thratchen. Eine geballte Faust. Die Hand wurde zur Pfote. »Decker wird leben. Zumindest bis die Jagd vorbei ist und ich sie alle habe.«
95 Die Armee hatte sich im Kreis um den Platz aufgestellt, wie Katrina Towarisch es angeordnet hatte. Die Stele war mit Sprengstoff versehen worden. Plötzlich blies ein kühler Wind, und Ondarew schauderte. »Ist Ihnen kalt, Katrina?« fragte er die junge Frau neben ihm. Sie hielt den Kopf leicht geneigt, als ob sie lauschen würde. »Sie kommen, Nicolai«, sagte sie. Seine Frage hatte sie nicht einmal gehört. Ondarew schaute zum Himmel hoch. Dicke, schwarze Wolken verdrängten das Tageslicht. Der Wind war stärker geworden und heulte über das Feld, als ob er fliehen wollte. Er mußte zugeben, daß auch er fliehen wollte. Katrina streckte wortlos die Hand aus und griff nach seiner. Die Wolken über ihren Köpfen jagten dahin, als ob irgend etwas Gewaltiges sie vor sich herscheuchte. Dann donnerte es, und die Wolken teilten sich. Seltsamerweise fiel kein Licht -237-
durch die Öffnung, sondern es war in dem Loch noch wesentlich dunkler. »Irgend etwas geht hier vor«, brüllte Ondarew. Mit ihren blinden Augen schaute Katrina zu dem Loch in den Wolken auf, und Ondarew wußte, daß sie mehr sah, als er jemals sehen würde. »Zerstören Sie die Stele«, befahl sie. Ondarew gab das Zeichen. Die Wolken zogen jetzt noch schneller vorbei, und Blitze zuckten in dem schwarzen Himmel. Dann rollte ein Nebel aus gleißendem Licht aus dem Loch im Himmel und breitete sich auf dem Boden aus. Eine metallische Masse sprudelte aus dem Loch und bildete einen Bogen, der vom Himmel herunterkroch und schließlich auf dem Feld landete. Hinter ihm ertönte eine Explosion, die jedoch im Wind und Donner kaum zu hören war. Ondarew wußte, daß die Stele jetzt zerstört war. Als der gleißende Nebel den Boden berührte, bildeten sich kleine Sturmwirbel. Es war fast so, als ob der Nobel um Einlaß kämpfte, aber die Stürme ließen ihn nicht herein. »Ohne die Stele kann die feindliche Realität nicht eindringen«, erklärte Katrina. »Die Erde selbst kämpft für uns.« Ondarew sah, wie die Metallmasse weitersprudelte. Sie schien vom Himmel zu tropfen. Es gab Blasen in dem Metall, und darin konnte der Hauptmann schmerzgekrümmte menschliche Gestalten erkennen. »Mein Gott«, rief er, »es lebt!« »Es ist eine Abscheulichkeit, Nicolai«, sagte Katrina. »Das Böse hat es geschaffen.« Sie hatte recht, das wußte er, und es quälte ihn, zu sehen, daß die fürchterliche Konstruktion den Boden berührte. Aber fast gleichzeitig explodierten die Sturmwirbel. Der gleißende Nebel rollte sich auf und prallte gegen den Metallbogen. Eine zweite -238-
Explosion erschütterte alles ringsum, und der Bogen brach entzwei, als der Nebel in den Himmel zurückfloß. Für einen kurzen Augenblick glaubte Ondarew etwas auf der Brücke gesehen zu haben. Aber dann traf der Nebel auf den Spalt in den Wolken. Blitze fielen wie Regen zu Boden. Jeder einzelne traf mit seiner zuckenden Energie auf ein Stück Metall. Und dann explodierte in den Wolken Licht. »Was geht denn hier vor?« schrie einer der Soldaten. Andere rannten weg. Doch die meisten beobachteten gebannt das gewalttätige Schauspiel vor ihren Augen. Schließlich erreichten die zuckenden Blitze irgendwo hinter dem Horizont ihre Grenzen. Wie an einem Gummiband kehrten sie ruckartig um, flatterten in den Wolken und verschwanden wieder in der Himmelsöffnung. Die dunklen Wolken folgten den Blitzen und wurden mit tosendem Donner in die Öffnung eingesaugt. Gleich darauf sah Ondarew, daß die Öffnung, die Wolken und der Metallbogen verschwunden waren. Die Sonne schien, und der böse Sturm war vorüber. Die Soldaten brachen in Jubelgeschrei aus, aber dieser Lärm war wohltuend. Ondarew lachte aus vollem Herzen. »Wir haben es geschafft, Katrina! Sie haben es geschafft!« rief er. Die junge Frau brach in seinen Armen zusammen und schluchzte.
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Ritter des Sturms Sie nennen uns Stürmer. Wenn ich schließlich diese Hohenpriester treffen werde, werde ich mich als Ritter des Sturms vorstellen. Und ich werde nacheinander jeden von ihnen mit meinem Schwert töten. Tolwyn aus dem Hause Tancred Stürmer widersetzen sich der natürlichen Ordnung. Aber sie sorgen für äußerst amüsante Unterhaltung. Der Hagere Mann
96 Thratchen krümmte sich vor Schmerzen und brach auf dem dicken Teppich in seinem Raum in Illmound Keep zusammen. Der Schmerz fiel wie ein wildes Tier über ihn her und drang aus allen Richtungen auf seinen Körper ein. Er hatte alle Mühe, nicht laut herauszuschreien. Dann verschwand der Schmerz ebenso plötzlich wieder, wie er aufgetaucht war. Er drehte sich auf den Rücken und ruhte sich kurz aus. Bis jetzt hatte er derartige Schmerzen erst einmal erlebt. Das war auf Kadandra gewesen, als eine Stele vernichtet worden war und die Verbindung zu seinem Kosmos abbrach. Konnte etwas Ähnliches auf der Welt passiert sein? An der Tür klopfte es. Thratchen überhörte das, während er versuchte, wieder zu Kräften zu kommen und einen klaren Gedanken zu fassen. Es klopfte erneut, und dann ertönte eine Stimme. »Thratchen, Sir? Ich bin es, Picard, Sir. Der Hagere Mann hat mir aufgetragen, Sie zu rufen«, sagte die ängstliche Stimme. -240-
»Verschwinden Sie«, rief Thratchen. Er hoffte nur, daß Picard nicht hörte, wie dünn seine Stimme klang. »Ich fürchte, das kann ich nicht. Der Hagere Mann war ziemlich bestimmt, Sir.« Ja, dachte Thratchen. Das ist er immer. Thratchen zwang sich, aufzustehen. Er würde erscheinen. Wenn er das nicht tat, würde das seine Pläne beeinträchtigen. Der Hagere Mann erwartete Thratchen im Großen Salon. Er stand am Erkerfenster, von dem aus man einen Blick auf die Mahlstrombrücke nach Orrorsh hatte. Als Picard Thratchen ankündigte, wirbelte der Hagere Mann wutentbrannt herum. »Ihr alter Meister ist ein Narr!« rief der Hagere Mann. »Er hat es den Erdungen erlaubt, ihn wieder die Brücke hochzutreiben. Für uns war es wichtig, daß er sein Reich errichtet, nur dann können wir sichergehen, daß unseres wirklich auf dieser Welt bleibt. Wenn nur vier Reiche eine Verbindung zur Erde haben, dann besteht eine gute Chance, daß der Planet eine Möglichkeitswelle von solchem Ausmaß produziert, daß unsere Realitäten ausradiert werden. Tharkold sollte das verhindern.« »Tharkold ist zurückgeschlagen worden?« fragte Thratchen. »Zurückgeschlagen? Nach allem, was Ihrem alten Meister auf Kadandra passiert ist, hat die Energie dieser Welt Tharkold vielleicht total vernichtet.« Thratchen ließ sich auf eine Couch fallen. Darüber mußte er erst einmal nachdenken. Er mußte sich klarwerden, was das für ihn und seine eigenen Pläne bedeutete. Doch der Hagere Mann ließ ihn nicht in Ruhe. »Die nächsten Tage werden entscheidend sein. Ich werde tun, was in meiner Macht steht, um die vier Reiche zu halten, aber eines der anderen muß einen Durchbruch erzielen, sonst werden wir eine Niederlage erleiden. Wie konnte Ihr Hoherpriester nur so dumm sein, Thratchen? Warum hat er am Tage vor dieser Eroberung denn noch versucht, auch noch Kadandra zu -241-
nehmen?« »Er ist nicht mehr mein Hoherpriester«, erwiderte Thratchen. »Ich habe Ihnen die Treue geschworen. Warum er diesen Weg eingeschlagen hat, wer kann das schon sagen? Ich vermute, daß es derselbe Grund ist, der alle Hohenpriester antreibt. Er versprach sich Macht davon, die ihn über die anderen stellen würde, die auf die Erde kommen.« »Aber jetzt hat er gar nichts«, tobte der Hagere Mann. Mitten im Saal gab es eine Explosion, und als der Rauch sich gelegt hatte, konnten sie Gibberfat sehen. Er fiel vor dem Hageren Mann auf die Knie. »Verzeihen Sie mir mein Eindringen, Meister, aber ich habe Nachrichten, die Sie interessieren dürften«, sagte der kleine Dämon. »Rede, Gibberfat«, befahl der Hagere Mann. »Aber wenn es nicht von allergrößter Wichtigkeit ist, dann werde ich dich in die Hölle zurückschicken, aus der ich dich geholt habe.« Bei dieser Vorstellung wurde der Dämon plötzlich blaß. »Die Ravagons, die die Stürmer gefangennehmen sollten, sind getötet worden.« Er duckte sich, um einem Schlag mit dem Spazierstock auszuweichen. Oder Schlimmerem. Doch der Hagere Mann schlug nicht zu. »Die Stürmer. Haben die das getan?« »Ja, Meister. Sie haben zwei Ihrer besten Ravagons besiegt.« »Und Tolwyn und Hachi? Was ist mit ihnen?« »Da waren keine anderen Leichen. Nur die Ravagons.« Der Hagere Mann trat wieder ans Fenster und betrachtete sein neues Gut. Eine Zeitlang schwieg er, und das machte Thratchen ziemlich nervös. »Das irritiert mich, Thratchen«, sagte der Hagere Mann, ohne sich umzudrehen. Unablässig blickte er aus dem Fenster. »Diese Stürmer verhalten sich nicht wie Stürmer. Bis jetzt haben sie erst -242-
einmal derartige Fähigkeiten gezeigt. Und damals ist diese Tolwyn ebenfalls dabeigewesen. Das kann ich im Augenblick überhaupt nicht gebrauchen. Es läuft schon zuviel schief.« Er drehte sich blitzschnell um, marschierte aus dem Salon und ließ Gibberfat und Thratchen zurück, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen.
97 Präsident Jonathan Wells hielt mit seinen Ratgebern eine Konferenz ab. Unter anderen waren auch Senatorin Ellen Gönners und Dennis Quartermain, der Vizepräsident, beteiligt. Seit das ganze Chaos angefangen hatte, war Wells gealtert. Aber er tat alles, was in seiner Macht stand, um das Land zu retten. Er hatte die bewaffneten Streitkräfte mobilisiert. Er hatte veranlaßt, daß entlang der Sturmfront Flüchtlingslager eingerichtet wurden, die die Zone des Schweigens vom Rest des Landes abriegelten. Und er hatte Ace Decker losgeschickt, damit der seinem Traum nachjagte. Trotzdem gab es noch unendlich viel zu tun. »Wir haben die jüngsten Daten analysiert, Mister President, und wir glauben, daß die Überfälle der Invasoren einem ganz bestimmten Muster folgen«, erklärte gerade General Clayton Powell vor einer Karte von Nordamerika. Ein graues Dreieck, das von New York bis Michigan reichte, war darauf eingezeichnet. Das war die Zone des Schweigens. Ein anderes Dreieck in einem helleren Grau war ebenfalls eingetragen. Es lag nördlich der kanadischen Grenze und reichte bis zu den Großen Seen. Powell fuhr fort. »In dem heller getönten Gebiet finden im Augenblick die meisten Kämpfe statt. Die Invasoren haben sich in diese Gebiete gedrängt, und wir erfahren jetzt sehr viel über sie. Im Gegensatz zu der Zone des Schweigens sind wir in -243-
diesem Gebiet, das von Tag zu Tag größer wird, in der Lage, uns gegen die Invasoren zur Wehr zu setzen. Aber wir sind auch mit den unterschiedlichsten Problemen konfrontiert: häufig auftretende mechanische Pannen, der Verlust von Truppenzusammenhalt und andere seltsame Vorgänge.« »Was versuchen Sie zu sagen, General Powell?« fragte Wells, der direkt auf den Punkt kommen wollte. »Kurz gefaßt, Sir, wir verlieren. Wenn unsere Waffen funktionieren, dann können wir die Invasoren zurückschlagen. Wenn sie versagen – was eigentlich immer der Fall ist –, dann müssen wir den Rückzug antreten oder werden hingemetzelt.« »Ihr Vorschlag?« »Washington evakuieren.« Im Raum wurde es ganz still. Wells betrachtete die Gesichter seiner Ratgeber. Keiner von ihnen wollte die Hauptstadt den Eindringlingen überlassen. Das wollte Wells auch nicht, aber abwägen, was das Beste war. Er stand auf. »Haben wir eine Alternative, wo wir die Regierungsgeschäfte erledigen können, Clay?« »Ja, Sir. Montgomery, New Orleans oder Houston. Ich halte Houston wegen der Entfernung und der Einrichtungen für die beste Wahl.« Wells nickte. »Ich auch. Meine Damen und Herren, so soll es sein.« Und plötzlich bekundeten alle ihre Einwände. Jeder hatte neue Argumente. Wells schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich habe in dieser Angelegenheit nicht um Ihre Meinung gebeten.« Die Ratgeber verließen nach und nach den Sitzungssaal und gingen daran, die Evakuierung vorzubereiten. Quartermain, Gönners und Powell blieben zurück. »Clay«, setzte Wells ein, »ich möchte, daß Sie und Ihre Jungs weiterarbeiten. Ich will, daß den Invasoren Einhalt geboten -244-
wird. Wenn wir das erreicht haben, dann können wir uns darüber Gedanken machen, wie wir das Land zurückerobern.« »Ich werde mein Bestes geben, Sir.« »Dessen bin ich mir sicher.« Dann ging auch Powell, und der Saal wirkte plötzlich ziemlich leer. »John, wir müssen unseren Vorschlag noch einmal diskutieren«, sagte Ellen Gönners. »Ellen, Sie wissen, was ich davon halte. Dieser Vorschlag ordnet die Macht neu. Ich habe Angst, daß die Macht mißbraucht wird.« »Gefährliche Zeiten erfordern gefährliche Maßnahmen, John«, gab Quartermain zu bedenken und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Die Einrichtung des Delphi-Rats ermöglicht, daß alle wichtigen Entscheidungen getroffen werden können, ohne daß der Kongreß eingeschaltet wird. Verzögerungen könnten schließlich bewirken, daß wir diesen Krieg verlieren.« Wells schaute zuerst Gönners, dann Quartermain an. Beide nickten, und Gönners schob ihm das Dokument zu. »Unterzeichnen Sie es«, sagte sie. »Unterzeichnen sie es, John«, drängte Quartermain. Wells las die erste Zeile. Das Dokument machte ihm angst, aber die Argumente, die Gönners und Quartermain ihm vorgetragen hatten, enthielten auch ein Stück Wahrheit. Er hoffte, daß er das Richtige tat. Er griff in seine Jackentasche, suchte einen Augenblick und lachte dann leise. »Anscheinend habe ich meinen Füllfederhalter verloren.« Quartermain zog seinen eigenen heraus und reichte ihn dem Präsidenten. »Hier, John, nehmen Sie meinen.« »Na, dann wollen wir mal den Delphi-Rat gründen«, sagte Wells und unterschrieb. -245-
98 Thratchen schob vorsichtig die Tür auf. Im Turmzimmer des Hageren Mannes strahlte die Dunkelheitsmaschine Heketon hell. Thratchen beobachtete sie vom Türrahmen aus, denn er hoffte etwas zu erfahren, bevor der Hagere Mann ihn bemerkte. Der kniete vor dem schwarzen Herz und starrte wie gebannt auf die glänzende Oberfläche und beobachtete dort eine Szene. Er sah eine breite Schlucht, die in die Erde gefräst zu sein schien. »Nach dorthin sind sie unterwegs, Thratchen«, sagte der Hagere Mann, der sich Thratchens Anwesenheit wohl bewußt war. »Zu einem Loch in der Erde, in dem eine Unendlichkeitsscherbe liegt. Aber meine Kräfte werden diese Stelle zuerst erreichen. Es interessiert mich nicht mehr, etwas von diesen Stürmern zu erfahren. Ich will sie nur noch tot sehen.« »Wer soll denn vor ihnen die Schlucht erreichen, Meister? Kürst verfolgt sie, und wenn man andere Ravagons schickt, wird das...« Der Hagere Mann stand auf und trat vor den Spiegel an der Wand. »Das geht Sie nichts an. Gehen Sie jetzt.« »Wie Sie wünschen«, erwiderte Thratchen und schloß langsam die Tür. Aber bevor sie ins Schloß fiel, bemerkte Thratchen noch, wie der Hagere Mann ein Bildnis im Spiegel heraufbeschwor. Er hörte, wie er nach Malcolm Kane rief.
99 Pater Bryce wußte hinter dem Steuer ganz genau, daß das -246-
Fahrzeug bald versagen würde. Sie waren ein paar Meilen vor Columbus, am Rand der Sturmfront, und er wußte, daß sie einen anderen Lieferwagen auftreiben mußten. Das Schild kündigte die Ausfahrt Fiat Rock an, und er fuhr darauf zu. »Was haben Sie vor, Pater?« fragte Alder. Er erholte sich langsam von seinen Verletzungen, war aber noch vorsichtig. »Der Motor läuft heiß, und da ist ein seltsames Summen aufgetaucht. Ich glaube nicht, daß wir mit dieser Kiste noch weit kommen. Ich glaube außerdem, daß eine Stadt ein besserer Ort ist, um hängenzubleiben, als eine Autobahn.« Ein zweites Schild verkündete, daß Fiat Rock vierhundertsechsunddreißig Einwohner habe. Bryce lächelte. »Wie idyllisch! Eine richtige Kleinstadt in der Mitte von Amerika.« Seine Fröhlichkeit schwand jedoch, als sie näher kamen. Irgend etwas stimmte nicht. Es konnte nicht an den Dinosauriern liegen, denn die waren noch hinter ihnen. Aber das ungute Gefühl ließ ihn nicht mehr los. »Sehen Sie«, rief Mara und zeigte aus dem Fenster. Schaufensterpuppen hingen überall an den Gebäuden, baumelten von Straßenlaternen und von Telefonmasten. Doch als der Lieferwagen näher kam, sah der Priester, daß es keine Schaufensterpuppen waren, die da hingen. »Mein Gott, was ist denn hier passiert?« Die Leichen waren alle an den Füßen aufgehängt, und allen war das Herz herausgeschnitten worden. »Das sieht genauso aus wie das, was wir in Newark gesehen haben«, sagte Coyote. »Aber die Echsen können doch keine Seile an die Toten knoten.« »Die Echsen sind noch nicht bis hierher vorgedrungen, Coyote«, erklärte Alder, »und selbst wenn es so wäre, glaube ich nicht, daß sie Seile verwenden würden.« -247-
»Seile sind tote Gegenstände. Edeinos benutzen keine toten Gegenstände. Edeinos tun so etwas nicht«, erklärte Tal Tu. Bryce brachte den Wagen zum Stehen, und Ratte schob die Seitentür auf. »Das sind mehr als fünfzig«, zählte Ratte, während sie ausstiegen. Tal Tu blieb aus Gewohnheit drinnen. Tolwyn sah wütend aus. »Die Ungeheuer, die das hier getan haben, müssen bezahlen.« Plötzlich hörten sie ein lautes Klingeln, und in den Türrahmen der Gebäude tauchten Gestalten auf und kamen auf die Gruppe zu, wobei sie mit Stöcken auf den Boden klopften und einen Heidenlärm produzierten. Mara und Rick zogen ihre Waffen hervor. Die Horde bestand aus einem Haufen abgerissener Männer, Frauen und Kinder. Sie schienen Flüchtlinge zu sein, die die Stadt zu ihrem Territorium erklärt hatten. Vor der Gruppe blieben sie stehen und bildeten einen Halbkreis. »Ganz genau, wie Kane gesagt hat«, rief einer der älteren Männer. »Da kriegen wir noch mehr Opfergaben.« »Mehr Opfergaben!« schrie ein zweiter, und die anderen stimmten in das Gebrüll ein. »Rick, wir können sie doch nicht alle abknallen«, sagte Mara. »Schon gar nicht, bevor sie sich auf uns gestürzt haben«, stimmte Alder zu. »Aber wir können es auch nicht zulassen, daß sie uns kampflos kriegen.« Der alte Mann hob seinen Stock hoch, und das Gebrüll verstummte. Er schaute die Gruppe an und lächelte. »Wir haben eine Möglichkeit gefunden, uns die Echsen vom Hals zu halten. Sie können diese Stadt nicht betreten, solange wir diese Warnungen ausgehängt haben.« »Laßt uns weitere Warnungen aushängen! Laßt uns weitere Warnungen aushängen!« wiederholten die anderen. -248-
»Kane hat uns das gezeigt. Er hat uns gelehrt, wie man Warnungen aushängt, die die Echsen verstehen.« Bryce fühlte sich krank. Wer hatte diese verängstigten Menschen nur dazu überreden können, daß Mord ein Mittel war, die eigene Haut zu retten? »Er hat uns gesagt, daß wir auf einen Lieferwagen achten sollen, in dem ein Priester reist«, fuhr der Alte fort. »Diese Warnungen müssen wir als nächstes aushängen.« »Gefällt mir gar nicht, wie sich das hier entwickelt, Pater«, sagte Alder und hob die Pistole. Die Horde kam langsam näher. Plötzlich drehte sich Coyote zum Lieferwagen um und rief: »Tal Tu, komm heraus!« »Was tust...?« setzte Bryce an, aber er brach ab, als die Meute alarmiert aufschrie. »Kane hat gelogen!« rief eine Frau. »Die Warnungen haben nichts bewirkt«, stöhnte ein Mann. »Die Echsen sind gekommen!« rief ein anderer, und alle flüchteten in die Gebäude. Bryce drehte sich um und sah, wie sich Tal Tu auf seinem Schwanz aufstützte. Er hatte eine äußerst zufriedene Miene. »Los«, warnte Alder, »steigen wir lieber wieder ein, bevor sie mitkriegen, daß wir nur eine Echse haben.«
100 Andrew Decker lenkte den Minibus um die beiden toten Flügelechsen auf der Straße. Kürst saß neben ihm auf dem Beifahrersitz und beäugte neugierig jede seiner Bewegungen. »Was ist denn los, Kürst?« scherzte Decker. »Haben Sie bis jetzt noch nie jemanden fahren sehen?« »Nein«, erwiderte Kürst. -249-
Auf der Interstate 80 waren sie auf den Minibus gestoßen, und Decker hatte nachgesehen, ob der Wagen funktionierte. Als die Jeeps ausgefallen waren, war er nicht auf den Gedanken gekommen, sie selbst noch einmal zu überprüfen, aber nun war es ihm gelungen, die M-16 einzusetzen, obwohl die Soldaten ihnen keine Kugel hatten entlocken können. Deshalb öffnete er jetzt die Tür und entdeckte erfreut, daß der Zündschlüssel steckte. Beim dritten Startversuch sprang der Motor an. Eine Zeitlang fuhren sie, ohne ein einziges Wort zu wechseln. Kürst schien nicht gerade geschwätzig zu sein, obwohl sie sich die Nacht zuvor lange unterhalten hatten. Er war ein seltsamer Kumpan, dabei aber nicht unsympathisch. Wenn man das, was sich um sie herum abspielte, in Betracht zog, benahm er sich nicht sonderlich seltsam. Ohne genau zu wissen, warum, fuhr Decker von der Autobahn ab. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß er diese Straße nehmen mußte. Decker folgte immer seinen Gefühlen, schon während seiner Zeit als Baseballspieler. »Folgen Sie Ihren Gefühlen, Decker«, sagte Kürst, als habe er die Gedanken des Kongreßabgeordneten lesen können. Die Straße schlängelte sich durch die Landschaft. Trotzdem behielt Decker seine Geschwindigkeit bei, denn er hatte plötzlich den Eindruck, daß er das Ende der Straße so schnell wie möglich erreichen mußte. Dann sah er das Schild. »Wir müssen nach Fiat Rock«, erklärte er. »Es hat den Anschein, ja«, erwiderte Kürst. Zuerst sahen sie die verstümmelten Leichen, dann sahen sie die Horde von Menschen. Dutzende Flüchtlinge hatten sich um einen verbeulten Lieferwagen geschart. Hin und wieder wurde ein Schuß abgefeuert und trieb die Menschen in die Gebäude. Decker gab Vollgas und blieb dann mit quietschenden Reifen neben dem Lieferwagen stehen. Er warf einen Blick in das offene Fenster und sah die junge Frau mit den smaragdgrünen -250-
Augen. »Ich habe einen langen Weg zurückgelegt, um Sie zu finden, Miß«, brachte er schließlich heraus. »Ich auch«, warf Kürst ein. »Dann machen Sie mal ein bißchen Platz in Ihrer Zauberkutsche, bevor wir auch da oben baumeln«, sagte die Frau mit den smaragdgrünen Augen und deutete mit dem Kinn auf die verstümmelten Leichen. Zusammen mit ihren Reisegefährten – einem Priester, einem Verwundeten, zwei Jungen, einer Frau mit wildem, silbernem Haar und einem Echsenmann mit einer Katze – drängte sie sich in den Minibus, und Decker gab Gas.
101 Nachdem gut zwanzig Meilen zwischen ihnen und Fiat Rock lagen, fuhr Decker von der Straße ab und brachte den Minibus zum Stehen. Er ließ seinen Blick über die zusammengewürfelte Gruppe schweifen und stellte dann Kürst und sich selbst vor. »Ich bin Tolwyn aus dem Hause Tancred«, sagte die Frau mit den grünen Augen. »Und das hier sind meine Kameraden: Christopher Bryce, Rick Alder, Dr. Hachi Mara-Zwei, Tal Tu, Coyote und Ratte.« Decker betrachtete sie der Reihe nach und versuchte zu erahnen, was sie verband. Nachdem auch die Echse einen Namen hatte, gab er auf. Er schwieg kurz und entschied dann, daß er ihnen gegenüber ehrlich sein würde. »Ich habe Sie in meinen Träumen gesehen, Miß Tolwyn«, begann er und hoffte, daß ihr das, was er zu sagen hatte, nicht ebenso verrückt vorkam wie ihm selbst. »Ich wußte, daß ich Ihnen helfen mußte.« »Was?« rief der Priester. Decker beachtete ihn nicht. »Aber Sie sind dennoch nicht das Wichtigste in diesem -251-
Traum.« Decker sah, daß Tolwyn ihn anstarrte und daß die anderen sie verwundert beobachteten. »Ich suche einen Stein. Er ist blau, eigentlich türkis, und er ist...« »... mit roten Adern durchzogen«, beendete Tolwyn seinen Satz. Die Gruppe verfiel in ein längeres Schweigen. Jeder einzelne versuchte zu verstehen, was dieses Zusammentreffen bedeutete. Dann sagte Tolwyn: »Ich habe auch auf Sie gewartet, Decker. Die Knoten...« »Ich fürchte, daß das nicht in meinem Traum auftaucht«, gestand Decker. »Wissen Sie denn, wo der Stein ist?« fragte Tolwyn hoffnungsfroh. Decker schüttelte den Kopf. »Irgendwo dort draußen im Westen, mehr weiß ich nicht.« »Ja, in einer großen Schlucht.« »Das ist mehr, als ich weiß.« »Falls der Traumvergleich damit beendet ist, schlage ich vor, daß wir weiterfahren«, sagte der Priester. »Ich zum Beispiel würde gern vor Einbruch der Dunkelheit aus dieser Gegend verschwunden sein.« Die anderen stimmten zu, und Decker startete den Minibus.
102 Der Hagere Mann lehnte sich an den großen Brunnen hinter seinem Anwesen. Sein Durchmesser betrug dreißig Fuß, ein riesiges Loch, das in Dunkelheit versank. Das Loch wurde von riesigen Steinblöcken eingerahmt, die Kampfszenen mit Männern und Monstern zierten. In einiger Entfernung stand Scythak, der große Jäger. Er hielt einen Gefangenen fest, einen der Eingeborenen von der Insel. Neben ihnen stand Thratchen. -252-
»Bringen Sie den Stürmer her«, befahl der Hagere Mann, ohne den Blick von dem schwarzen Loch abzuwenden. Scythak schob den Eingeborenen zu dem Hageren Mann hinüber, und der Hohepriester des Schreckens stellte den Eingeborenen sanft vor das dunkle Loch. »Ich muß auf das Schlimmste vorbereitet sein«, erklärte der Hagere Mann, packte den Gefangenen beim Arm und hielt ihn über den Brunnen. Dann zog er lässig die Klinge eines Dolchs über die Haut des Gefangenen. Blut tropfte in den Brunnen. Von tief unten drang lautes Brüllen zu ihnen hoch. Der Hagere Mann ließ den Gefangenen in den Brunnen fallen und rief: »Komm heraus, Carredon! Komm heraus, mein Zerstörer!« Pechschwarzes Wasser schwappte über den Brunnenrand, und ein Wesen wie aus einem Alptraum stieg aus der Tiefe herauf. Das Monster hatte Schwingen, so schwarz wie die Nacht, und gepanzerte Schuppen. Es trat aus dem Brunnen heraus und war so riesig, daß selbst Scythak klein und schmächtig wirkte. »Sie haben mich gerufen, mein Meister?« brüllte der Carredon. In seiner Stimme schwang Furcht mit, die selbst Thratchen spürte. »Ich habe einen Auftrag für dich, Carredon«, sagte der Hagere Mann. »Hör gut zu, was ich sage.« Während der Hagere Mann sprach, trat Scythak vor und übergab dem Drachen ein Paar Runenstäbe. Carredon nahm sie vorsichtig in Empfang, wiederholte die Befehle und breitete dann seine schwarzen Schwingen aus. »Wie Sie es befohlen haben, mein Meister, soll es sein.« Und dann flog er davon.
103 Tom O’Malley hatte seine Waren abgeliefert und wartete jetzt -253-
auf die Dinge, die er nach Australien transportieren sollte. Immer wieder schaute er zum südlichen Himmel hoch, zu dem Ausschnitt, der über London lag. Die schwarzen Wolken waren ihm unheimlich. Der Mann, der die Fracht abgeholt hatte, hatte etwas gefaselt, daß sich Terror in London breitmache. Das hatte O'Malley schon über Funk vom Kontinent erfahren, als es ihm nicht gelungen war, mit dem Tower in London Kontakt aufzunehmen. Wieder warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Er konnte seinem Auftraggeber nur noch ein paar Minuten zugestehen. Wenn er dann nicht auftauchte, würde er starten und nach Hause fliegen, Fracht hin oder her. Im Augenblick gingen einfach zuviel seltsame Dinge vor. Das war zumindest seine Meinung. Amerika, England, Frankreich und selbst die indonesische Inselwelt wurden angegriffen oder heimgesucht. Gerade in dem Augenblick, als Tom O’Malley starten wollte, sah er einen Wagen auf die Landebahn rasen. Er bewegte sich in Schlangenlinien, schien aber auf ein bestimmtes Ziel zuzuhalten, direkt auf Toms Flugzeug. O’Malley bangte jetzt um sein geliebtes Flugzeug, sprang vor den Wagen und forderte ihn brüllend auf, anzuhalten. Doch der fuhr unbeirrt weiter. Tom streckte die Hände aus, um sich zu schützen, und hörte dann, wie die Räder kreischten und die Bremsen quietschten. Er öffnete das linke Auge einen Spalt und sah, daß der Wagen endlich angehalten hatte – und zwar direkt vor ihm. Es war ein viertüriges Modell, das nicht sonderlich alt aussah, aber mehr Dellen und Kratzer hatte, als Tom jemals an einem Fahrzeug gesehen hatte. Dann wollte er sehen, wer am Steuer saß, aber der Wagen war leer. »Was zum Teufel geht hier vor?« brüllte er und rannte zur Fahrertür. Doch bevor er den Türgriff zu fassen bekam, flog die Tür auf, und eine kleine, korpulente Frau stieg aus. Sie war -254-
weniger als vier Fuß groß, hatte geflochtene schwarze Haare und trug so etwas wie eine Rüstung, in der sie sehr gefährlich aussah. Außerdem trug sie eine Axt, eine Keule, eine Reihe von Dolchen und eine große Pistole. »Wer? Was?« stammelte O'Malley. Und dann stiegen sechs weitere kleine Leute aus. Sie waren also zu siebt! Und sie fuhren einen Wagen! Tom hatte den Eindruck, als ob ihm jemand einen grausamen Streich spielte. Die Frau kniete sich vor ihn, und die anderen folgten ihrem Beispiel. Sie streckte die Axt aus und bot sie ihm an. »Wir bitten auf Ihrem Kosmos um Asyl«, sagte die Frau. Sie hatte einen schweren Akzent, aber da schwang auch noch etwas anderes mit, das er nicht einordnen konnte. »Wir haben von all den Eroberungen genug und bitten Sie, uns zu Ihrem Hohenpriester zu bringen.« Dann neigte sie den Kopf, und die anderen Zwerge folgten auch dieses Mal ihrem Beispiel. Alle bis auf einen, der Toms Flugzeug voller Ehrfurcht beäugte. Die Frau schlug auf seinen Metallhelm, und auch er senkte gehorsam den Blick. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, sagte Tom ruhig. »Worum geht es?« Einer der älteren Zwerge sprang auf. »Ich hab’ doch gesagt! Im Vergleich zu den Menschen in diesem Kosmos sind Trolle ziemlich intelligent. Wie oft noch sollen wir die gleiche Rede halten, Pluppa? Wie oft noch?« Die Frau wandte sich an Tom. »Bitte, guter Mann. Die Mächte von Aysle könnten uns auf den Fersen sein. Sie werden Sie nur töten. Was Lady Ardinay Verrätern antut, möchte ich Ihnen lieber nicht beschreiben. Wir können die Zauberkutsche aber nur schlecht lenken, und wir müssen schnellstens von hier verschwinden.« Tom überlegte kurz und schaute die Zwerge an. Sie sahen -255-
wirklich nicht aus, als ob sie zum Scherzen aufgelegt wären. Und er brauchte dringend eine Fracht. »Können Sie den Transport denn bezahlen?« fragte er. »Oh, Sir, wir sind fähige Krieger, und wir sind Ingenieure und Handwerker von außerordentlichem Geschick«, prahlte Pluppa. »Und wir haben Gold.« Sie warf ihm einen kleinen Beutel zu. Tom öffnete ihn und schüttelte sieben Goldklumpen in seine Hand. »Na, dann kommen Sie mal«, sagte er, obwohl er immer noch kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache hatte, »Sie haben gerade eine Passage nach Australien bezahlt.«
104 Decker steuerte den Minibus ohne bestimmtes Ziel nach Westen. Er vertraute darauf, daß Tolwyn wußte, wohin es ging, wenn die Zeit reif war. Aber er mußte bald tanken, und er mußte sich mit Präsident Wells in Verbindung setzen. »In Indianapolis werden wir anhalten«, erklärte er. »Ich muß einen Telefonanruf erledigen, und wir könnten auch ein paar neue Vorräte gebrauchen. Achten Sie nur darauf, daß keiner den Echsenmann sieht.« Bei der Tankstelle war auch ein kleiner Kiosk, und während Decker zum Münztelefon ging, rannten die anderen zum Laden. Er warf eine Handvoll Münzen ein und wählte die Privatnummer von Wells. Zweimal hörte er das Telefon klingeln, dann ertönte ein eigenartiges Summen. Er hängte ein und wählte neu. Diesmal klingelte es gar nicht, sondern es summte von Anfang an. Er mußte es später noch einmal probieren. Der Kongreßabgeordnete betrat den Kiosk, der mit riesigen Drucken von amerikanischen Landschaften dekoriert war. Da -256-
hing Old Faithful. Dort drüben war Mount Rushmore. Tolwyn stand vor einem der Drucke und starrte ihn regungslos an. Decker lief zu ihr hinüber. »Tolwyn? Sind Sie in Ordnung?« »Das ist der Platz«, sagte sie. »Dorthin müssen wir fahren.« Und dann zeigte sie auf ein Bild, auf dem der Grand Canyon abgebildet war.
105 Baruk Kaah saß zwischen den schwarzen Wurzeln Rec Pakkens und aalte sich in dessen böser Aura. Eddie Paragon war bei ihm. Der Rocksänger erklärte ihm alles, was die Erde betraf. Baruk Kaah konnte Paragon nur selten folgen, doch Rec Pakken verstand sehr viel. Nach der Meinung des Hohenpriesters reichte das. Ein Edeinos kam in den dunklen Wald »Warum störst du uns?« wollte der Hohepriester wissen. »Unsere Unternehmung stockt, Saar.« »Was?« schrie Baruk Kaah und sprang auf. »Mitten in unserem Reich gibt es einen Platz der Toten. Dort können wir die Krieger nicht bekämpfen.« »Verschwinde. Ich werde mich gleich darum kümmern.« Der Gotak trollte sich. Baruk Kaah öffnete seine Sinne für Rec Pakken und bat ihn um Führung. Die Dunkelheitsmaschine zeigte ihm einen Punkt auf der Erde innerhalb des Gebiets, das von den Stelen markiert wurde, das sich weigerte, die eigene Realität aufzugeben. Die Maschine schlug vor, sich nicht darum zu kümmern und die Expansion außerhalb des Gebietes voranzutreiben. »Nein!« wütete der Hohepriester. »Ich werde diesen festen -257-
Punkt zerstören und ihm persönlich meine Realität aufzwingen! Begleite mich, Paragon. Du wirst die Macht eines Hohenpriesters kennenlernen. Danach wirst du Baruk Kaahs Macht besingen!« Die Stämme ruhten in ihrer eigenen Realität in jenem Gebiet, das Silicon Valley einrahmte. Baruk Kaah konnte das tote Land fühlen. Es war wie eine eitrige Wunde in seinem gesunden, lebendigen Reich, und er wollte die Wunde heilen. Der Hohepriester trat vor. Einen kleinen Wirbelsturm seiner eigenen Realität trug er wie einen Umhang. »Sei bei mir, Lanala«, betete Baruk Kaah. »Steh mir bei, Rec Pakken.« Die Realität von Takta Ker drang in die Realität der Erde. Ein heftiger Sturm umhüllte Baruk Kaah. Eine Welle irdischer Energie ließ den Hohepriester jedoch stolpern und nach hinten taumeln. Daraufhin breitete er die Arme aus und dehnte seinen eigenen Sturm aus. Er wollte ihn immer größer werden lassen, bis er den irdischen Sturm überwältigte. Während die beiden Realitäten miteinander kämpften und sich zu behaupten versuchten, schlugen neben Baruk Kaah Blitze ein. Schließlich kam der Sturm zurück und brach über Baruk Kaah herein. Ein Stamm preschte nach vorn, um den Hohenpriester zu schützen. Gewehrschüsse knallten, und viele Edeinos fielen im Kampf. Den wenigen, die überlebten, gelang es jedoch, ins Reich zurückzukehren und Baruk Kaahs leblosen Körper mitzunehmen. Eddie Paragon eilte zum Saar. Er sah, daß auch der schweigsame Ravagon bei ihm war. Der Hohepriester schien tot zu sein, aber dann schlug er seine gelben Augen auf. »Rec Pakken«, flüsterte er. »Bringt mich zu Rec Pakken.« Die Gotaks traten näher, hoben den Saar hoch und eilten dorthin zurück, wo die Dunkelheitsmaschine wartete. -258-
»Deine Realität ist stark, Sänger«, sagte der Ravagon zu Paragon. »Und Baruk Kaah ist ein Narr. Wenn all das hier erledigt werden soll, wird mein Meister einen hohen Preis bezahlen müssen.« Dann breitete er seine Schwingen aus und flog den Gotaks hinterher.
106 Auf der Suche nach dem Hageren Mann lief Thratchen durch alle Räume. Zum Schluß stieg er in die unteren Geschosse hinab und betrat das Laboratorium. Die Maschinen und Geräte des Hageren Mannes summten böse. »Interessante Anlage, nicht wahr?« fragte Gibberfat. Der kleine Dämon ruhte sich auf einem Pult mit Schaltern aus. »Hast du den Hageren Mann gesehen?« fragte Thratchen. »Er ist weg. Er hat den Bergfried verlassen. Sollte bald zurück sein. Oder auch nicht. So ist er eben, weißt du.« Fluchend drehte Thratchen sich um und wollte gehen. Aber Gibberfat rief ihn zurück. »Warum bist du zurückgekehrt, Thratchen? Du bist vor langer Zeit gegangen. Was bringt dich jetzt zurück?« Der andere zuckte mit den Schultern. »Ich will dort sein, wo die Macht ist.« »Es ist doch wohl eher so, daß du die Macht für dich selbst willst.« Der Dämon kicherte. »Mir ist der Blick aufgefallen, mit dem du Heketon anschaust. Ich habe gehört, wie du dich nach den alten Legenden erkundigst. Allerdings hast du noch nicht gefragt, wie lange ich wohl schon hier bin.« Auf diese Idee war Thratchen wirklich nicht gekommen. Aber sie war gut. -259-
»Nun denn, Dämon. Was kannst du mir über die Legenden erzählen?« Gibberfat lachte. »Genau das. Daß sie Legenden sind und weiter nichts. Aber ich kenne die Geschichte, wenn du sie hören willst.« Thratchen nickte. »Die Legenden«, begann Gibberfat zu rezitieren, was Teil seiner jahrhundertealten Erinnerung war, »berichten von DEM PLATZ, von der Zeit, die keine war. Die Leere war an DEM PLATZ allein und hatte einen unermeßlichen Hunger, den sie nicht stillen konnte. Dann tauchte die Unendlichkeit an DEM PLATZ auf, voller Träume und Möglichkeiten, die in ihrem unendlichen Augenblick gefangen waren. Und es gab keine Möglichkeit, sie freizulassen. Die Leere und die Unendlichkeit trafen sich, und der Mahlstrom entstand. Die Leere kostete vom Wesen der Unendlichkeit und erfuhr, wonach sie gierte. Die Unendlichkeit verdampfte in der Leere, und Milliarden von Möglichkeiten wurden vernichtet. Ganze Galaxien kamen und gingen, während die Leere fraß. Der Mahlstrom hörte nicht auf, Möglichkeiten hinauszuschleudern, die in den Wirbelstürmen der Schöpfung zerstört wurden. Doch am Ende überlebten zwei Möglichkeiten. Der Namenlose, ein Wesen, das der Leere ähnelte, war Zerstörung. Apeiros, der aus erkannten Möglichkeiten hervorgegangen war, ähnelte der Unendlichkeit. Und dann führten die beiden Krieg um Schöpfung und Zerstörung – Apeiros schuf die Möglichkeiten, der Namenlose labte sich an ihrer Macht. Doch so schnell wie der Namenlose fressen konnte, so schnell konnte Apeiros schaffen. Einen Sieg konnte es nicht geben. Dann beschwor der Namenlose die Leere. Da keine andere Möglichkeit bestand, verließ Apeiros DEN PLATZ. Das gefiel der Unendlichkeit, die eine unendliche Anzahl von Möglichkeiten für Apeiros eröffnete. Apeiros ergriff -260-
sie alle und verteilte die Möglichkeiten an dem neuen Platz – im ganzen Kosmoversum. Der Namenlose, der jetzt mit der Leere allein an DEM PLATZ war, schwor, Apeiros und die Unendlichkeit zu verfolgen, wie lange es auch dauern mochte. Im Krieg gegen Apeiros nutzte er seine begrenzten Fähigkeiten, um die Dunkelheitsmaschinen zu schaffen. Dann schickte er diese Gegenstände des Bösen ins Kosmoversum, um die Zerstörung fortzusetzen und die verstreuten Unendlichkeitsbruchstücke aufzulesen.« Thratchen kam näher. »Sprich weiter, Dämon. Erzähl, wie die Geschichte endet.« »Die Legenden«, fuhr Gibberfat fort, »berichten von der Entdeckung der ersten Dunkelheitsmaschine und wie sie ihren Besitzer zu einem Hohenpriester machte, ihn dann in andere Kosmen führte, um deren Möglichkeiten zu zerstören. Und so kam es zum ersten aller Möglichkeitsüberfälle. Es hieß in der Prophezeiung, ein Hoherpriester werde auferstehen, der das Wissen und die Macht habe, soviel Energie zu absorbieren, daß er ein Gott werden würde. Und dieser Hohepriester würde dann Torg heißen. Aber das sind alles nur Legenden.«
107 Auf der Welt Terra, in einem Kosmos, der weit von der Erde entfernt ist, spazierte der Hagere Mann durch schattige Straßen. Diese Realität ist lächerlich, dachte der Hagere Mann, der Entwurf eines Verrückten. Und das war der Hohepriester von Terra auch. Verrückt. Der Hagere Mann betrat eine heruntergekommene Behausung in einer ziemlich schäbigen Gegend der Stadt Terran. Warum hält der Hohepriester diese Farce aufrecht, fragte er sich. Warum -261-
spielt er mit den Stürmern dieser Welt diese Spiele? Der Hagere Mann ging diesen Gedanken nicht weiter nach. Wie ein Hoherpriester in seinem Kosmos schaltete und waltete, ging ihn nichts an. Nur wie er jeweils seine eigenen Pläne unterstützte, war für ihn von Bedeutung. Tief im Innern der Behausung marschierte der Hagere Mann durch Steindurchgänge, die mit ägyptischen Hieroglyphen dekoriert waren. Männer, in traditionelle, ägyptische Gewänder gehüllt, versuchten erfolglos, ihm den Weg zu versperren, und büßten schwer dafür. Er betrat eine große Kammer. Ein schwerer schwarzer Götze überragte sieben Sarkophage. Der Hagere Mann verbeugte sich vor dem Götzen, denn er erkannte in ihm die Dunkelheitsmaschine. Dann drang er tiefer in die Kammer vor. Er sah, daß in den offenen Sarkophagen die mumifizierten Überreste der ägyptischen Pharaonen dieser Welt lagen. Doch der siebte Sarg war leer. »Willkommen in meinem Heim«, rief eine gedämpfte Stimme. Der Hagere Mann drehte sich um und sah einen großen Mann näher kommen. Er trug ägyptische Kleider, die an die Kleiderordnung eines alten Reichs erinnerten, aber er trug eine Pistole bei sich, und eine Maske bedeckte seinen Kopf. »Ich grüße dich, Möbius, Hoherpriester von Terra und den Neun Imperien«, sagte der Hagere Mann. »Was führt dich ohne Voranmeldung hierher, Lord von Orrorsh?« »Ich bin gekommen, um nachzusehen, was dich aufhält. Hast du deine Verabredung auf der Erde vergessen?« »Nein«, antwortete Möbius und zeigte auf eine Gestalt, die in den Schatten saß, »wir haben gerade darüber diskutiert.« Der kleine japanische Geschäftsmann stand auf, verbeugte -262-
sich und kehrte zu seinem Platz zurück, ohne ein Wort zu sagen. »Übermitteln Sie Ihrem Meister meine Grüße«, sagte der Hagere Mann. »Ich hoffe, daß es Kanawa gutgeht.« Dann wandte er sich wieder an Möbius. »Ich fordere von dir, daß du sofort die Mahlstrombrücken öffnest und dein Reich errichtest. Tharkold hatte einige Schwierigkeiten, und wenn wir den Zeitplan einhalten wollen, dann muß ein weiteres Reich errichtet werden, bevor die Energie der Erde die vier kompensiert, die schon errichtet sind.« »Tharkold hat es nicht geschafft?« Möbius lachte wie ein Wahnsinniger. »Das bedeutet dann, daß mehr Energie für mich übrigbleibt.« »Natürlich, mein Freund«, versprach der Hagere Mann. »Aber falls du nicht rechtzeitig an Ort und Stelle bist, werde ich dich persönlich vernichten und deine Dunkelheitsmaschine zur Belohnung einem meiner Statthalter schenken.« Der Hagere Mann trat zurück, und eine Ranke seiner Seelenbrücke fiel aus der Luft. »Denk daran, Möbius.« Dann war er verschwunden.
108 Vierzehn Stunden nachdem Tolwyn das Bild vom Grand Canyon in dem Kiosk in Indianapolis gesehen hatte, traf die Gruppe in Fort Riley in Kansas ein. Decker hatte erklärt, daß Fort Riley der Ort war, wo er sich melden mußte. Da er diesen Teil seiner Mission immer noch nicht erledigt hatte und die Behörden dort sicherlich in der Lage sein würden, ihnen eine andere Transportmöglichkeit nach Arizona zu bieten, beschloß er, daß es sinnvollerweise ihr Etappenziel sein sollte. Während die anderen sich ausruhten, traf Decker mit General Edward Talbot zusammen. Er erstattete dem General Bericht, -263-
schilderte die Reise durch Pennsylvania, erzählte vom Tod der Soldaten und dem Zusammentreffen mit Kürst und den anderen. Der General hörte aufmerksam zu, machte hin und wieder eine Notiz und unterbrach Deckers Bericht kein einziges Mal, bis der Kongreßabgeordnete mit seiner Schilderung fertig war. »Präsident Wells hat mich gebeten, mit Ihnen auf jede nur erdenkliche Art zusammenzuarbeiten«, erklärte er dann. »Ich soll Sie darüber informieren, daß die Hauptstadt nach Houston verlagert worden ist, also nach Texas, und dort bleibt, solange die Krise andauert.« Diese Neuigkeit schockierte Decker. Wahrscheinlich hatte sich die Zone des Schweigens nach Süden ausgebreitet, so daß Wells eine derart gravierende Entscheidung treffen mußte. »General«, sagte Decker, »wir müssen irgendwie nach Arizona kommen. Vielleicht mit einem Hubschrauber oder einem Frachtflugzeug.« »Das ist eine große Bitte, Kongreßabgeordneter. Aber ich habe meine Befehle. Morgen früh wird ein Hubschrauber samt Piloten für Sie bereitstehen. Ruhen Sie sich bis dahin ein wenig aus. Sie sehen aus, als ob Sie’s nötig hätten.« Decker nickte. »Ja, Sir. Vielen Dank.« Dann ging er los, um die anderen zu suchen und ihnen zu erzählen, was er ausgemacht hatte.
109 Mara beobachtete Kürst beim Essen. Sie hatte die Ultraschallaufnahmen von ihm dreimal durch ihren internen Computer laufen lassen. Schließlich ging sie hinüber und setzte sich zu ihm. »Sie tragen Ihr eigenes Axiom mit sich, Kürst«, sagte sie. Alder und Bryce schauten von ihrem Tellern auf. »Wovon -264-
sprechen Sie, Mara?« fragte Bryce. »Kürst ist ein Stürmer... Verzeihung, ein Ritter des Sturms. Wie ich, wie Tolwyn, wie Alder und Decker. Er trägt seine eigene Realität bei sich, doch diese Realität habe ich noch nie gesehen«, schloß sie. Kürst wartete erst einmal ab, wie die anderen reagierten. Einen kurzen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken zuzuschlagen, doch dann hielt er es für besser, sich weiter zu verstellen. »Ich bin wie Sie, Mara«, begann er vorsichtig. »Ich stamme aus einem anderen Kosmos. Doch dieser Kosmos ist auf der Erde angekommen. Er heißt Orrorsh. Das ist eine grauenhafte Welt voll böser Dinge, die Sie Monster nennen würden. Andererseits ist sie eine der mächtigsten Realitäten, die die Erde angreifen. Zumindest behauptet das unser Hoherpriester.« »Der Hohepriester? Sie arbeiten für diese Invasoren?« schnaubte Alder und baute sich wutentbrannt vor Kürst auf. Kürst mußte sich ungeheuer anstrengen, um seine Instinkte zu unterdrücken. Nur aus diesem Grund lebte Alder noch. Anstatt zuzuschlagen, sagte er einfach: »Ich habe das Reich Orrorsh verlassen. Wie Mara bin ich hier, um zu helfen. Wie Decker und Tolwyn folge auch ich einem Traum.« »Ist das so, Mr. Kürst?« fragte Bryce, ohne eine Antwort zu erwarten. »Wir sollten uns ausruhen«, schlug Mara vor. »Das hier können wir morgen früh ausführlich diskutieren.«
110 Tolwyn lief Decker im Korridor über den Weg. Er hielt eine Schwertscheide in den Händen. Beim Anblick der Waffe riß sie die Augen auf. -265-
»Andrew Decker, darf ich die Waffe einmal ansehen?« fragte sie. »Natürlich«, antwortete Decker und überreichte sie ihr. Tolwyn drehte die Waffe in den Händen herum und betrachtete die Handarbeit auf der Hülle. Dann zog sie langsam das Schwert aus der Scheide und beobachtete, wie das Licht auf der polierten Oberfläche tanzte. »Was für eine hervorragende Waffe«, sagte sie voller Bewunderung. »Es ist zwar nicht so großartig wie mein eigenes Schwert, aber es wird schon reichen. Woher haben Sie es?« »Es gehörte einem jungen Soldaten, der mich zu Anfang meiner Reise begleitete. Ich wollte es gerade dem General bringen, damit er es an seine Familie weitergeben kann.« Tolwyn schob die Klinge wieder in ihre Hülle zurück. »Darf ich es haben?« fragte sie. »Das Schwert eines Kriegers sollte von einem Krieger benutzt werden. Ich werde das Andenken Ihres Soldaten in Ehren halten, indem ich es bei den richtigen Gelegenheiten einsetze.« Tolwyns Bitte überraschte Decker. Aber irgend etwas sagte ihm, daß das der Grund war, weshalb er es so lange bei sich getragen hatte. »Ja, setzen Sie es richtig ein, Tolwyn«, sagte er. »Aber denken Sie daran, daß es nicht für Kämpfe bestimmt ist. Das hier ist nur ein Ziersäbel.« Tolwyn fuhr mit der Hand über das weiche Leder. »Es wird reichen, Decker. Es wird reichen.«
111 Malcolm lief am Südrand des Grand Canyon entlang und ließ sich den Wind durch das Haar blasen. Er kam in seinen Arbeitsschuhen gut voran. Und als die Sonne auf die -266-
zerklüfteten Felsformationen zu seiner Rechten knallte, hatte er den Eindruck, als ob sie blutverschmiert waren. Auf Befehl des Hageren Mannes war er hierhergekommen. Mehrere Gefolgsleute begleiteten ihn, die die Kunst des Todes zu seinen Füßen lernten. Sie würden ihm behilflich sein, wenn der Priester mit seiner Gruppe auftauchte. Und dann konnten sie endlich in Wettstreit treten und herausfinden, wer von ihnen beiden dem Tod besser diente. Der Priester hatte seine Art, Kane eine andere. Der Hagere Mann hatte ihm aufgetragen, alle umzubringen, und Kane würde aus jedem einzelnen Tod ein Meisterwerk machen. »Bald sind wir am Ende der Straße angekommen, Priester. Verteilen Sie Ihre Sakramente«, flüsterte Kane in den Canyon. Gleichzeitig zog er sein gezacktes Messer aus der Scheide. »Und ich verteile meine.«
112 Tom O’Malley hatte sein Flugzeug in der Luft und beförderte die eigenwilligste Fracht, die er jemals an Bord gehabt hatte: sieben Zwerge in Rüstungen. Sie trugen Waffen und waren an Fragen der Technik außerordentlich interessiert. Sie saßen auf dem Boden der Ladefläche, studierten seinen Werkzeugkasten und lasen seine Handbücher. Hin und wieder hörte er sie aufseufzen, doch die meiste Zeit unterhielten sie sich darüber, wie man das Flugzeug verbessern könnte. »Wie kommt es, daß Sie das lesen können?« rief Tom nach hinten. »Ich dachte, daß Sie von woanders kommen.« »Wir kommen wirklich aus einem anderen Land«, sagte die Frau, die Pluppa genannt wurde. »Wir kommen aus Aysle. Aber der Hohepriester bereitet uns immer auf das Land vor, dem wir die Erleuchtung bringen.« -267-
»Nennt Ihr Hoherpriester das Erleuchtung? Also, ich nenne es Tyrannei.« »Ja, Tom O’Malley, genau das ist es«, seufzte Pluppa. »Aber so ist es nicht immer gewesen. Früher einmal haben die Zwerge Aysle regiert, und in jenen Tagen war der Himmel strahlend und das Land lebendig.« »Erzähl es uns, Pluppa!« schrie Toolpin. »Erzähl uns von den Göttern!« »Was für Götter?« fragte Tom. »Wir sollten Tom O'Malley die Geschichte erzählen, dann wird er wissen, woher wir stammen. Gutterby kann sie am besten erzählen.« »Ja, Gutterby erzählt sie so gut!« stimmte Toolpin zu. Der alte Zwerg blickte seufzend von dem Flugzeughandbuch auf. »Nun ja, gut. Ich werde die Geschichte erzählen. Doch hört gut zu, denn ich werde sie die nächsten zehn Jahre bestimmt nicht mehr erzählen.« Und Gutterby erzählte. Zu Anfang gab es das Nichts. Das Nichts war schon immer dagewesen, endlos, unverändert, unendlich, für immer und ewig. Dann kamen die Schöpfer. Mächtige Erbauer. Sie hatten lange und hart und gut für andere gearbeitet. Aber ihre Herren hatten sie bespuckt und beschimpft, und so waren sie geflohen. Während ihrer Reise hatten sie viel Elend ertragen müssen und waren unablässig von den Kreaturen ihrer rachesüchtigen Herrn gejagt worden. Die Schöpfer suchten einen Ort, wo sie in Freiheit leben und für sich und nicht für andere bauen konnten. Nachdem sie lange umhergereist waren, entdeckten sie schließlich den Ort. Sie wußten, daß ihre Herrn sie niemals inmitten des Nichts suchen würden. Sie wußten, daß sie dort sicher waren. Sie beschlossen, etwas für sich zu schaffen. Etwas aus dem Nichts zu schaffen, war selbst für die Schöpfer -268-
eine schwere Aufgabe, obwohl sie die fähigsten Handwerker von allen waren. Sie nahmen jedoch nur eine kurze Mahlzeit ein, sogen ein paarmal an ihren Pfeifen, krempelten dann die Ärmel hoch und fingen an. Fordex, der Älteste, schaute sich um. »Dieses Nichts stört mich!« rief er, griff in seinen Sack und holte ein einzelnes Staubkorn heraus. Dann legte er es in das Nichts vor sich. »Ich verbanne dich!« rief er. Jetzt enthielt es etwas, wenn es auch nur ein einzelnes Staubkorn war, das Nichts war nicht mehr. Denn das Gesetz besagt: Wenn es eine Sache gibt, dann kann es auch eine andere geben. Nichts kann nicht Nichts sein, wenn etwas darin ist. Und das Nichts war für immer und ewig verbannt. Von seiner Arbeit erschöpft, ruhte Fordex sich aus. Der mächtige Errog machte sich als nächster an die Arbeit. »Ja, da ist jetzt das Etwas, aber es besteht für alle Zeiten. Nicht einmal wir können immer wir sein! Ich werde eine Grenze schaffen!« Und dann griff er in seinen Sack und holte eine Handvoll Sand heraus. Den Sand stopfte er in seine Pfeife, sog dann heftig an ihr und erhitzte den Sand, bis er schmolz und Glas wurde. Das Glas formte er zu einem riesigen Ball, der das Staubkorn einschloß, und dann sagte er: »Das soll die Grenze und das Ausmaß unserer Schöpfung sein!« Erschöpft von der Arbeit, ruhte Errog sich aus. Terrin war als nächster dran. Er griff in seinen Sack und zog einen runden, flachen Stein heraus. Mit seinem kleinen Finger bohrte er vorsichtig ein Loch in dessen Mitte. Dann legte er den Stein in die Glaskugel, in dessen Mitte das Staubkorn lag. »Ist das nicht schön?« rief er. Erschöpft von seiner Arbeit, ruhte Terrin sich aus. Novin und Weebe arbeiteten als nächste. Sie griffen in ihre -269-
Säcke, zogen Meißel heraus und bearbeiteten den Stein. Sie formten tiefe Schluchten, hohe Berge, Meere und Flußbetten. Dann ruhten auch sie sich aus. Ghanthor steuerte einen Flakon Wasser bei und goß das Wasser über den Stein. Charon holte einen Zweig heraus und pflanzte ihn am Wasser ein. Mhyrron zog ein Ei heraus und legte es neben den Zweig. Plantir zog ein Messer heraus und schnitt sich die Fingerkuppe ab. Dann schnitzte er das Ebenbild der Schöpfer daraus und legte sie neben das Ei und den Zweig. Und auch sie ruhten sich aus. Nun war Harp an der Reihe. Er schaute in seinen Sack, aber der war leer! »O je! Ich kann nichts zu unserer Schöpfung beitragen«, rief er traurig. Doch schnell wurde er wieder froh. »Ich weiß etwas! Ich werde Leben spenden!« Nachdem er das verkündet hatte, blies er den Zweig an, und siehe da, er verwandelte sich in eine mächtige Eiche! Er blies das Bildnis der Schöpfer an, und es wurde ein Zwerg! Während Harp Leben spendete, starb er. Als die anderen Schöpfer aufwachten, waren sie zutiefst bestürzt. »Seht nur! Harp ist tot! Er hat unserer Schöpfung Leben gegeben! Aber seht doch! Die Eiche verdorrt, der Vogel kauert sich auf den Zweigen zusammen, der Zwerg fürchtet sich! Unsere Schöpfung ist fehlerhaft!« Fordex, der Älteste, lächelte. »Narren! Lebewesen können nicht im Dunkeln überleben. Wir müssen unserer Schöpfung Licht geben!« Nachdem er das gesagt hatte, streckte er die Hand aus und griff nach dem einzelnen Staubkorn inmitten der Schöpfung. Er legte es in seine Pfeife und sog hektisch an ihr. Durch die Hitze des Feuers begann es zu glühen. Als das Staubkorn brannte, legte er es in die Mitte der Schöpfung zurück. Dann stieß er es mit dem Finger an, so daß es sich in der Kugel bewegte. Die Schöpfung hatte Tag und Nacht. -270-
Die Eiche blühte im Licht auf und gebar alle anderen Baumsorten und Gras und Blumen. Der Vogel blühte im Licht auf und gebar alle anderen Arten von Tieren und Fischen. Der Zwerg blühte im Licht auf und schenkte vielen Töchtern und Söhnen das Leben. Wirklich zufrieden mit ihrer Schöpfung ruhten die Schöpfer sich aus. Doch schon bald regte sich Unzufriedenheit in ihnen. »Das ist ja schön«, sagte Errog, »aber mit den Grenzen bin ich nicht richtig glücklich. Vielleicht sollte man etwas mit der Unendlichkeit anstellen...« »Wißt ihr«, fügte Terrin hinzu, »das Flache gefällt mir nicht so gut. Vielleicht eine runde Welt...« Movin und Weeble begannen aufgeregt eine Diskussion über die Möglichkeiten kontinentaler Verschiebungen. »Laßt es uns einfach probieren!« forderten sie. Die anderen stimmten zu. Ihre Schöpfung war sehr schön, aber sie waren sich ganz sicher, daß es ihnen das nächste Mal besser gelingen würde. Und so schulterten sie ihre Rucksäcke und zogen fröhlich von dannen, um es woanders von neuem zu probieren. »... und seit damals«, schloß Gutterby, »haben die Zwerge ohne Hilfe überlebt, ohne die Hilfe von Göttern.« »Bis auf den Lebensfunken, den Harp uns gegeben hat«, setzte Toolpin hinzu. »Und so gefällt es uns auch.« Tom O’Malley lächelte. »Was für eine wundervolle Geschichte.« Toolpin sprang auf. »Zeigen Sie uns jetzt, wie diese Zauberflugmaschine funktioniert?« Das kann ein langer Flug werden, dachte Tom. -271-
113 Präsident Jonathan Wells war im Flugzeug nach Houston unterwegs. Er versuchte ein bißchen zu schlafen, als sein Berater an ihn herantrat. »Sir, ich habe einen Anruf von General Powell.« »Sehr gut, Carter«, sagte der Präsident. »Stellen Sie den Anruf durch.« Die Stimme am anderen Ende klang weit entfernt, aber Wells konnte sie dennoch hören. »John, ich habe gerade neue Berichte von ein paar Flüchtlingen erhalten. New York ist nicht ganz so tot, wie wir dachten.« »Was sagen Sie da, Clay? Was haben Sie herausgefunden?« »Dort sind immer noch Leute am Leben, John. Nach den Berichten haben sie in Lower Manhattan eine kleine Regierung gebildet.« »Was bedeutet das, Clay?« »Ich bin mir nicht sicher, John. Erst einmal bedeutet es, daß noch Menschen am Leben sind. Vielleicht ist es ja nur Wunschdenken, aber wenn es eine Form von Regierung gibt, dann hat vielleicht auch Douglas Kent überlebt.« »Das wollen wir fürs erste mal für uns behalten, Clay. Ich werde mich bald wieder mit Ihnen in Verbindung setzen.« Der Präsident hängte ein. Er brauchte jemanden, der für ihn eine zweite Reise machte, jemanden, dem er vertrauen konnte. Decker war schon beschäftigt. Wells überlegte kurz und rief dann nach seinem Berater. »Carter«, sagte er, »finden Sie heraus, wie wir Quin Sebastian erreichen können.«
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114 Die Abenddämmerung setzte bereits ein, als sie den Grand Canyon erreichten. Tolwyn saß am Fenster ihres Hubschraubers und hielt nach den Felsformationen aus ihrem Traum Ausschau. Vielleicht würden damit auch die anderen Erinnerungen auftauchen. Sie überflogen eine Ebene, deren Felder und Wälder ihr bekannt vorkamen. Gelegentlich sahen sie eine malerische Schlucht, aber keine von ihnen ähnelte dem Canyon in ihren Träumen. Pater Bryce saß neben ihr. »Das hier ist Ihnen richtig fremd, nicht wahr?« »Ja, Christopher«, murmelte sie. »Ich habe die Welt noch nie von oben betrachtet. Der Zauber Ihrer Welt ist wahrlich bemerkenswert. Und die Sonne bewegt sich anders als in meiner Erinnerung. Sind Sie sicher, daß sie nicht durch den Mittelpunkt der Erde wandert?« »Ich bin mir sicher.« Sie starrte wieder angestrengt hinaus. Auf einmal war der Canyon da. Seine Größe überraschte sie. Der Sonnenuntergang tauchte die Wände der Schlucht in strahlende Rot- und Orangetöne. Die nackten Felsen, die sich gegen den Himmel abhoben, waren atemberaubend. »Christopher...?« stotterte sie. »Ja, Tolwyn. Das ist der Grand Canyon.« Ein Park Ranger empfing den Hubschrauber am Landeplatz. Er hatte bereits alle Vorbereitungen für sie getroffen. Während er sich mit Decker und dem Piloten unterhielt, trat Tolwyn vorsichtig an den Rand des Canyons. Tolwyn konnte den offenen Raum unter dem Schluchtrand spüren, auch wenn sie ihn in der Dunkelheit nicht sehen konnte. -273-
Und plötzlich wurde sie von Erinnerungen überwältigt. Sie sah eine Schlacht toben. Sie sah ein grauenerregendes Ungeheuer, das auf der Suche nach ihr eine Schneise durch die Krieger pflügte. Sie hörte den Gesang, in den ihre Kameraden eingestimmt hatten, hörte die Worte, die sie aus ihrem Körper geschickt hatten, bevor die Krallen zuschlugen. Wieder spürte sie den unermeßlichen Schmerz. Doch das Bild löste sich auf. Später wollte sie darüber nachdenken, was das alles zu bedeuten hatte. Jetzt ließ sie es erst einmal zu, daß die gewaltige Größe des Canyons sie in seinen Bann zog. Sie konnte es kaum erwarten, ihn im Tageslicht zu sehen. Und dann hörte sie auf einmal das Lied aus ihrem Traum. Von ganz tief unten drang es zu ihr hoch. »Ich komme«, flüsterte sie.
115 Als die Sonne aufging, wurde der Canyon in ein wundervolles Licht getaucht. Tolwyn war schon draußen, um den Sonnenaufgang zu begrüßen, und die anderen folgten ihr schon bald. Sie freute sich über ihre Gesellschaft. Sie wußte, daß es zwischen Kürst und einigen anderen knisterte, aber sie vertraute darauf, daß sich die Spannung von allein legte. Er war dem Traum gefolgt, und er war sogar in ihrem eigenen erwähnt worden. Ihrer Meinung nach gehörte er dazu. Sollten die anderen ihr doch erst einmal das Gegenteil beweisen. Sie überprüfte den Säbel und steckte ihn gerade wieder in die Scheide zurück, als der Ranger mit den Maultieren angelaufen kam. »Die Höhle, die Sie suchen, kann überall sein«, erklärte er. »Der Canyon ist zweihundertsiebenundsiebzig Meilen lang. Er ist vier bis zehn Meilen breit und zwischen fünf- und -274-
sechstausend Fuß tief. Die Höhle könnte auf natürliche Art entstanden sein, es könnte sich aber auch um einen AnasaziKornspeicher handeln. Diese Speicher sind über den ganzen Canyon verstreut. Hier etwas Bestimmtes zu finden ist fast unmöglich.« »Ich werde sie finden«, sagte Tolwyn und schwang sich auf das Maultier. Decker lächelte dem Ranger zu. »Sie haben gehört, was die Lady gesagt hat.« »Ich werde Sie auf dem Ritt begleiten«, sagte der Ranger, als die anderen aufstiegen. Und dann begann der Abstieg in den Canyon. Einige Stunden später hatten sie die Hälfte der Strecke zum Grund der Schlucht hinter sich gebracht. Tolwyn schien immer noch ganz genau zu wissen, wohin sie wollte. Nur der Ranger war irritiert. »Sind Sie sicher, daß das hier richtig ist?« erkundigte er sich. Bevor sie ihm antworten konnte, hallte ein lautes Krachen durch den Canyon. Blut sickerte langsam durch das Hemd des Rangers. Er starrte es an und blickte dann zu Decker hinüber. »Ich glaube, ich bin angeschossen worden...« Dann plumpste er von seinem Maultier. Decker sprang ab und untersuchte den Mann, während die anderen in Deckung gingen. »Wie geht es ihm denn?« fragte der Priester. »Er ist tot!« Deckers Stimme klang merkwürdig. »Bleiben Sie unten.« Sie warteten fast eine Stunde lang, hielten sich hinter Felsen oder Bäumen versteckt oder lagen flach auf dem Boden. Schließlich hatte Tolwyn das Warten satt und schwang sich auf ihr Maultier. »Ich gehe«, erklärte sie. »Ich ziehe jetzt weiter.« Und dann ritt sie auf dem Pfad davon. -275-
Die anderen folgten ihr, weil ihnen nichts anderes übrigblieb. 116 Die Sonne brannte immer heißer. Tolwyn hatte den Hauptpfad verlassen und führte die Gruppe nun auf einem Kamm entlang, von dem aus man einen herrlichen Ausblick auf den Colorado Fluß hatte. Es war atemberaubend schön, aber keiner von ihnen konnte es genießen. Pater Bryces Gesicht war schweißüberströmt, und er sehnte sich nach einer Rast. Er wußte aber auch, daß Tolwyn nicht auf sie warten würde, und er wollte bei ihr sein, wenn sie ihr Ziel erreichte. »Wir werden beobachtet«, sagte Kürst. Mehr verriet er nicht. Danach ritten sie lange Zeit schweigend und ließen die Maultiere den Rhythmus der Reise bestimmen. Es war Mittag, und die Sonne brannte. Auf einmal ertönte wieder ein Schuß. Sie sprangen alle von ihren Maultieren und suchten Deckung. Bryce schaute schnell von einem zum anderen. Alle schienen in Ordnung zu sein. »Willkommen in meinem Canyon«, ertönte plötzlich eine Stimme ganz in der Nähe. »Ich bin Malcolm Kane, und ihr werdet Heiligtümer meiner Kunst werden.« Pater Bryce kannte die Stimme, aber er konnte sie nicht einordnen. Den Namen jedoch hatten sie in Fiat Rock gehört. Das war der Mann, der den anderen erklärt hatte, gehenkte Menschen würden die Edeinos fernhalten. »Ich habe Ihnen ja gesagt, daß wir uns wiedersehen werden, Priester«, rief die Stimme. »Nun werden wir sehen, wer von uns dem Tod besser dient. Wie hat Ihnen die Botschaft gefallen, die ich für Sie in Fiat Rock hinterlassen habe, Pater? Was halten Sie von meiner Arbeit?« »Zeig dich, Ganove!« rief Tolwyn. Ein böses Lachen war die einzige Antwort. »Auch ich habe eine Gruppe um mich geschart, Pater«, -276-
meldete sich die Stimme wieder. »Meine Schüler werden meine Kunst in die Welt hinaustragen.« Und als ob das das Stichwort gewesen wäre, sprang ein Echsenmann von dem überhängenden Felsen über ihnen. Er schwenkte einen langen Speer, den er in Tal Tus Magen und dann in den Baum hinter ihn trieb. Dann wirbelte er herum, um Ratte anzugreifen. Doch Mara war schon bereit, den Jungen zu verteidigen. Sie stellte sich mit ihrer Laserpistole vor Ratte und wartete nicht einmal ab, was der Echsenmann vorhatte. Drei Schüsse explodierten, und der Edeinos fiel zu Boden. »Von uns gibt es noch mehr, Priester«, rief die Stimme zum letzten Mal. »Und ihr seid jetzt einer weniger.« Danach war die Stimme nicht mehr zu hören.
117 Die Gruppe zog vorsichtig weiter, nachdem sie Tal Tu bequem hingebettet hatten. Er war zwar nicht tot, aber doch schwer verletzt. Er hatte die anderen gebeten weiterzuziehen. Für Tolwyn war es wichtig, den Stein zu finden. Widerwillig stimmten sie zu. Nachdem sie sich wieder auf den Weg gemacht hatten, erzählte Pater Bryce ihnen von seinem kurzen Zusammentreffen mit dem Mann, der wahrscheinlich Malcolm Kane war. In Newark war er in einem demolierten Schnapsladen auf ihn gestoßen. »Ich wußte damals schon, daß er nicht alle beisammen hat, aber er ist wirklich geisteskrank«, schloß er. Tolwyn war ein Stück vorangeritten und brachte jetzt ihr Maultier zum Stehen. Sie zeigte auf einen Kamm, der direkt über ihnen aufragte. »Da. Das ist die Höhle, in der der blaurote Stein liegt.« -277-
Decker stieg ab. »Mit den Maultieren kommen wir nicht weiter. Wir werden zu Fuß gehen müssen.« Die Gruppe kletterte langsam den schmalen Pfad hinauf. Tolwyn hatte die Führung übernommen, dann folgten Kürst, Decker, Bryce, Mara, Alder, Ratte und Coyote. Als sie ein paar Schritte zurückgelegt hatten, wirkte Kürst plötzlich verkrampft. Dann machte er einen Satz nach vorn, sprang gegen Tolwyn und warf sie zu Boden. Bryce wollte zu ihr, um ihr beim Aufstehen zu helfen, als die Welt sich auf einmal veränderte. Ein Netz, das unter Erde und Steinen versteckt war, wurde hochgehoben. Sie saßen in der Falle und wurden in die Luft gehoben. Ohne jede Fluchtmöglichkeit konnten Bryce und die anderen von oben nur zusehen, wie plötzlich ein Mann in Uniform auf den Pfad hinaustrat. Der Soldat hielt ein Gewehr. Neben ihm stand ein großer, blonder Mann in Arbeitsschuhen. Auf seinen Arm war eine Kobra tätowiert, und ein bösartiges Grinsen umspielte seine Lippen. »Seien Sie vorsichtig, Tolwyn«, rief Bryce aus dem Netz. »Das da ist Kane.« Bevor der Soldat reagieren konnte, stürzte Kürst sich auf ihn. Sie rangen um das Gewehr. Kane wollte seinem Jünger helfen und zog ein großes Messer aus einer verdeckten Scheide. Er hob die Klinge, um sie in Kürsts ungeschützten Rücken zu stoßen, als eine andere Klinge ihm das Messer aus der Hand schlug. Tolwyn hielt ihren Säbel bereit, um auf den Wahnsinnigen einzuschlagen. »Das hier ist für die Menschen, die du getötet hast, Schurke«, drohte sie. Aber bevor sie zuschlagen konnte, fielen kräftige Tentakel herunter und legten sich um ihre Beine. Sie warf einen Blick nach oben und erblickte eine seesternartige Kreatur. Gleich darauf wandte sie den Blick wieder ab, damit sie Kane im Auge behalten konnte. Doch dieser Sekundenbruchteil hatte ihm gereicht. Er war verschwunden. -278-
118 Alder sah, wie der Stalenger seine Tentakel enger um Tolwyn schnürte, um sie zu ersticken. Kürst und den Soldaten konnte er nicht sehen, aber er hörte sie kämpfen. Er überprüfte das Netz, konnte sich aber nirgends abstützen. Er würde es wohl kaum aufreißen können. »Mara, können Sie mich anfassen?« fragte er. Der jungen Frau gelang es, die Hand auszustrecken, aber es lagen noch ein paar Zentimeter zwischen ihren Fingerspitzen und seinem Gesicht. »Ich glaube, ich weiß, was Sie vorhaben«, sagte sie, und spitze Nägel sprangen aus ihren Fingerkuppen. Sie schlitzte das Netz auf, und Alder fiel auf den Boden. Tolwyn setzte sich immer noch zur Wehr, aber ihre Bewegungen waren bereits schwächer. Alder zog seine Pistole, zielte auf den Körper des Biestes und feuerte zweimal. Das Ungeheuer landete unsanft auf dem Boden neben Tolwyn und starb. Alder rannte zu der jungen Frau hinüber und half ihr, die Tentakel von Hals und Gliedmaßen zu lösen. »Das Biest ist stark gewesen, Rick Alder«, keuchte Tolwyn. »Nicht so stark wie Sie«, sagte er. Sie hörten Lärm weiter oben auf dem Pfad. Alder zückte seine Waffe, nahm sie aber wieder herunter, als Kürst auftauchte. Er hatte das Gewehr des Soldaten bei sich. »Kane ist weg«, erklärte er. »Er hat sich in Richtung Höhle zurückgezogen.« Mit Maras Unterstützung befreiten sich auch die anderen aus dem Netz. Alder half Tolwyn auf die Beine und gab ihr das Schwert zurück. »Das wird ein ganz schön langer Aufstieg mit dem Wahnsinnigen dort draußen.« Schweigend zählte er ihre Waffen -279-
– seine Pistole, Kürsts Gewehr, Deckers Pistole, Maras Pistole und Tolwyns Schwert. Die anderen waren unbewaffnet. »In Ordnung, dann wollen wir uns mal mit Verstand aufstellen, bevor wir weiterziehen.«
119 Möbius kontrollierte seine Truppen ein letztes Mal. Die Stoßtruppen, die Panzer, die Agenten, die mit Supermacht ausgestattet waren, die Mumien – alle waren bereit. Er wandte sich an den Priester. »Machen Sie die Brücken auf, Ahmed«, ordnete er an. »Es ist hohe Zeit, daß das Nil-Imperium sich auf der Erde ausbreitet. Lassen Sie uns das Zehnte Imperium errichten!« Daraufhin trat die Realität des Pharaos Möbius in Kontakt mit der Erde und verwandelte Ägypten und den Mittleren Osten in ein neues Reich. Die fünfte Realität machte sich auf der Erde breit. Und der Zeitplan des Hageren Mannes stimmte wieder.
120 Vorsichtig kletterten sie den Pfad bis zu dem Felsvorsprung hoch. Unter dem riesigen Felsen lag eine Öffnung. Sie war dunkel und wenig einladend. »Dort ist der Stein«, sagte Tolwyn. »Dort könnte auch Kane sein«, warnte Bryce. »Der Schurke ist ein Feigling, den ich mit Leichtigkeit töten kann.« Dessen war Bryce sich nicht so sicher, aber Tolwyn war nicht umzustimmen, wenn sie sich einmal zu etwas entschlossen -280-
hatte. Decker trat vor. »Kürst, Sie halten hier draußen mit Ratte und Coyote Wache. Wir anderen werden nachsehen, was uns in der Höhle erwartet.« Bryce erwartete eine negative Reaktion von Kürst, aber der nickte nur. »Worauf warten wir dann?« fragte Tolwyn. »Lassen Sie uns weitergehen.« Decker blieb bei ihr, und Mara, Alder und Bryce folgten den beiden dicht auf den Fersen.
121 Kürst wartete mit den Jungen vor dem Höhleneingang. Er richtete seine Sinne in jede Richtung und achtete auf Anzeichen von Gefahr. Er betrachtete die Waffe in seiner Hand und wußte gleich, daß er sie nicht benutzen wollte. Deshalb übergab er sie Coyote. »Coyote, hm?« fragte Kürst. Der Junge nickte. »So nennt Decker den Stein, den sie suchen«, erklärte der Jäger den Jungen. »Er sagt, daß es eine der Legenden dieser Welt sei, daß er Herz des Coyoten heißt.« »Sie sind nicht von hier, nicht wahr?« fragte Coyote. »Nein. Ich stamme von einem Ort, der Orrorsh heißt. Dort bin ich ein Jäger des Hohenpriesters, ein einfacher Diener, der aufgrund seiner Fähigkeiten gut behandelt wird.« »Und was sind Sie davor gewesen?« hakte Ratte nach. Kürst schaute die beiden verwirrt an. »Daran kann ich mich nicht erinnern.« -281-
»Können sich denn alle Menschen von anderen Welten nur noch beschissen erinnern? Erst Tolwyn und jetzt Sie«, fragte Coyote. »Man hat mir meine Erinnerungen genommen, Junge«, antwortete Kürst. »Was mit Tolwyn passiert ist, weiß ich nicht.« Coyote hielt das Gewehr ganz vorsichtig. »Sind Sie sicher, daß ich das hier haben soll?« »Du wirst es nötiger haben als ich. Halte jetzt nach Kane und seinen Leuten Ausschau.« »Mr. Kürst, ist das einer von Ihnen?« flüsterte Ratte. Kürst drehte sich um und sah in einiger Entfernung eine Gestalt im Schatten stehen. Es war Thratchen. »Bleibt hier und bewacht die Höhle«, ordnete Kürst an und lief zu Thratchen hinüber. »Sind sie noch am Leben, Kürst?« wollte Thratchen wissen. »Was tun Sie hier? Sie werden alles verderben.« »Der Hagere Mann hat andere losgeschickt, um Ihre Arbeit zu erledigen«, erläuterte Thratchen. »Er kriegt langsam Angst vor diesen Stürmern und hat beschlossen, sie auszuradieren. Da gibt es einen, der sich Kane nennt, aber ich habe ihn noch nicht kennengelernt.« Der Jäger nickte. »Wir haben ihn und seine Bande getroffen. Sie haben uns durch den ganzen Canyon gescheucht.« »Und es gibt noch jemanden. Der Hagere Mann hat auch den Carredon zu Hilfe gerufen.« Kürst wurde blaß, als der grauenhafte Drache erwähnt wurde, das Monster von Orrorsh, die Geißel jeder Welt, die der Hagere Mann jemals erobert hatte. »Sie dürfen sie nicht sterben lassen, Kürst. Wenn wir nicht herausfinden, warum diese Stürmer anders sind, dann werden wir auch nie erfahren, wie man sie schlagen kann.« »Wenn der Hagere Mann ihren Tod angeordnet hat...« -282-
»Der Hagere Mann fürchtet, daß seine Pläne scheitern! Meinem Meister ist es nicht gelungen, rechtzeitig auf der Erde einzutreffen, und jetzt besteht die Möglichkeit, daß dieser Planet uns hinauswirft. Deshalb denkt der Hagere Mann nicht nach, sondern reagiert nur. Wir müssen jetzt an die Zukunft denken und tun, was das Beste für ihn ist.« Oder was das Beste für dich ist, dachte Kürst. Aber er sagte nur: »Ich werde tun, was in meiner Macht steht.« Thratchen grinste widerlich. »Ich weiß, daß Sie das tun.«
122 Decker hatte eine Taschenlampe, und Tolwyn ließ ihn vorangehen. Der Tunnel war völlig ebenmäßig, soweit sie in dem spärlichen Licht sehen konnten, wurde weder enger noch breiter. Viele endlos lange Minuten marschierten sie durch den Gang, bis sie in einen großen Raum kamen, der mit der Hinterlassenschaft der Indianer vollgestopft war. Alles war hervorragend konserviert, vielleicht durch die Höhle oder durch das Wetter oder durch etwas, was sie nicht kannten. »Decker, schalten Sie die Lampe aus«, rief Bryce. Auch ohne dieses Licht konnte die Gruppe immer noch sehen. Der Raum war in einen sanften blauen Schimmer getaucht. Tolwyn stellte sich wieder vor Decker und ging dann zur gegenüberliegenden Wand hinüber. »Das hier ist ein heiliger Ort«, sagte sie erregt. Der Priester trat neben sie. In einer Spalte in der Wand lag ein türkisfarbener Stein, der von roten Adern durchzogen war. Er hatte die Form eines menschlichen Herzens und auch dieselbe Größe. Der einzige Unterschied bestand darin, daß es aus dem eigenartigen Stein gefertigt war. Es strahlte leicht und beleuchtete den Raum. -283-
»Es singt zu mir, Christopher. Es grüßt uns. Aber es hat auch Schmerzen. Die Invasoren haben dieser Welt Schmerzen zugefügt, und der Stein empfindet diesen Schmerz«, erklärte Tolwyn ihnen. »Das ist das Herz des Coyoten«, erklärte Decker. »Coyote war der Held einer indianischen Sage. Er hat der Menschheit geholfen, indem er uns Dinge von den Göttern gebracht hat. Ich glaube, eigentlich hat er sie gestohlen. Die Sage berichtet, daß Coyote, als er beschloß, die Menschheit sich selbst zu überlassen, ein Stück von sich zurückließ, falls wir es einmal nötig brauchen sollten.« Mara kam nach vorn, um den Stein anzuschauen. Sie richtete ihre Sensorlinse auf ihn, und der Stein strahlte noch heller als die Welt selbst, und das auch noch, als sie die Intensität des Strahlens regulierte. Der Stein war ein Teil der Energie, die sie und die anderen Stürmer besaßen. »He«, sagte Alder. »Spüren Sie nichts?« »Sie meinen die Vibration?« fragte Bryce. Und dann explodierte auf einmal die Wand hinter ihnen, und riesige Felsbrocken purzelten in die Höhle.
123 Augenblicke bevor die Wand in tausend Stücke zerbarst, hetzte Kürst durch den schmalen Tunnel. Seine Augen waren an die Dunkelheit gewöhnt, doch selbst er mußte sich immer wieder auf seinen Tastsinn verlassen, weil schon ein paar Schritte nach dem Eingang tiefe Finsternis herrschte. Er mußte zu den anderen vorstoßen, bevor der Carredon auftauchte. Er wollte keinesfalls mit dem Monster kämpfen müssen, und außerdem war er mit Thratchen einer Meinung, daß diese Stürmer genauer studiert werden sollten. Sie hatten etwas an -284-
sich, das den Erfahrungen, die er in anderen Welten gemacht hatte, vollkommen widersprach. Nur ein paar Meter weiter konnte er riechen, wie alt die Höhle war. Mehr noch, er konnte den »Gestank von Apeiros« wahrnehmen, wie Thratchen ihn nannte. Wenn man den Geruch kannte, fiel er einem hier sofort auf. Ein Stück weiter vorn konnte er einen sanften, blauen Lichtschein erkennen. Da keine lauten Geräusche zu ihm drangen, wurde er zuversichtlicher. Vielleicht irrte Thratchen sich. Vielleicht verfolgte der Carredon die Spur der Stürmer ja doch nicht. Doch dann warf ihn eine Explosion auf den Boden. Irgend etwas passierte in dem Raum dort vorne, und Kürst wußte, daß er dort sein mußte, bevor alles vorbei war.
124 Malcolm Kane beobachtete, wie der kleine Mann an seinem Versteck vorbeihuschte. Er hatte sich in einen engen Felsspalt im Tunnel gezwängt, um darüber nachzudenken, wie er weiter vorgehen sollte. Die Aufgabe, die der Hagere Mann ihm übertragen hatte, hatte er noch nicht gelöst, und er konnte es nicht leiden, wenn er versagte. Gleichzeitig wußte er, daß es verrückt wäre, so viele Menschen ganz allein anzugreifen. Einige von ihnen waren sogar bewaffnet, und er hatte nur ein Messer bei sich. Diese Hexe Tolwyn hatte ihn verletzt, und er wollte, daß sie dafür bezahlte. Aber er mußte klug vorgehen. Er erkannte, daß er zu wenig Helfer gesucht hatte. Er hatte nicht gewußt, wie groß die Truppe des Priesters auf der Reise nach Westen geworden war. Daher war er davon ausgegangen, daß ein Echsenmann, ein fliegender Seestern und der Soldat, ein -285-
Deserteur, mehr Unterstützung als genug waren, um einen Bullen, einen Priester und zwei Jungen auseinanderzunehmen. Das hätte auch geklappt, dessen war er sich hundertprozentig sicher, doch der Priester hatte die Regeln geändert. Er hatte in sein Team mehr Spieler aufgenommen. Das war unfair. So etwas konnte Kane auf den Tod nicht ausstehen, und je länger er darüber nachdachte, desto mehr haßte er den Priester und die Hexe.
125 Als die Staubwolke und der Steinhagel sich gelegt hatten, konnte Tolwyn wieder etwas sehen. Sie wischte sich den Dreck aus den Augen und blickte sich in der Kammer um. Als sie dann sah, was die Ursache für die Zerstörung war, blieb ihr beinah das Herz stehen. In der gezackten Öffnung, wo die Rückwand gewesen war, stand der Carredon. Er paßte dort kaum hinein. Und da stand er nun. Genau wie in den Bruchstücken ihrer Erinnerung. Das war das Monster, das sie getötet hatte. Und jetzt war es da, um sie wieder zu töten. Der Stein weinte stumm in ihrem Kopf und flehte sie um Hilfe an. Aber Tolwyn konnte nicht einmal sich selbst helfen. Sie sah die riesigen, dolchartigen Krallen des Ungeheuers, und die Schmerzen fielen ihr wieder ein, die diese Klauen ihr vor einem Leben oder mehr zugefügt hatten. Sie sah das große, bleckende Maul, und sie dachte daran, wie es ihre Kampfgefährten in Stücke gerissen hatte. Und sie sah auch die gepanzerte Hülle, und ihr fiel ein, daß dagegen weder Schwert, Speer noch Pfeil irgend etwas ausrichten konnten. Die Waffen prallten ab, und das Untier hatte nicht einmal eine kleine Schramme abgekriegt. -286-
Und zum ersten Mal, seit ihr Erinnerungsvermögen zurückgekehrt war, hatte sie Angst.
126 Alder beobachtete, wie sich der Drache in die Kammer drängte. Er hatte nicht viel Bewegungsfreiheit, aber er sah furchterregend aus. Der Polizist erinnerte sich daran, wie alles begonnen hatte. Es schien ihm, als ob Jahrzehnte seit dem Vorfall im Shea-Stadion verstrichen waren. Er fühlte sich alt und müde. Die Hoffnung, sein Rachegelübde zu erfüllen, konnte er nur haben, wenn Tolwyn und die anderen mit dem Stein aus der Kammer abhauen konnten. Wenn das nicht gelang, dann war die ganze Reise von New York sinnlos gewesen. Er weigerte sich, hinzunehmen, daß alles, worum sie gekämpft hatten, hier enden sollte. Alder überprüfte seine Pistole. Drei Patronen waren noch in der Kammer. Daher beschloß er, daß drei reichen müßten. Er hob die Pistole. Doch dann hielt er neugierig inne. Der Drache sprach. »Erinnerst du dich an mich, Tolwyn aus dem Hause Tancred?« fragte der Drache. Seine Stimme klang so hohl wie ein abgrundtiefes Loch. »Ich habe dich schon einmal getötet. Ich bin gekommen, um dich wieder zu töten.« Alder sah, daß sich Tolwyn in einer Ecke zusammenkauerte. Ihre Angst war entsetzlich groß. Er konnte sich gut vorstellen, daß er auch wahnsinnig werden würde, wenn ein Monster, das ihn getötet hatte, zurückkehren würde. Aber Tolwyn war so stark, daß sie gegen das Ding ankämpfen konnte, wenn man sie dazu brachte, ihre Kraft zu erkennen. Wenn er ihr nur zeigen könnte, daß das Biest nicht unbezwingbar war! Der Polizist machte eine Rolle vorwärts und kniete sich dann -287-
mit ausgestreckter Waffe hin. Er wußte, daß die Bewegung die Wunden, die der Ravagon ihm zugefügt hatte, erneut aufriß, doch das machte ihm nichts aus. Er zielte auf den Kopf des Drachen und leerte den Revolver. Die erste Kugel prallte an dessen gepanzerter Schnauze ab und brachte ihn dazu, daß er sich in Alders Richtung drehte. Der zweite Schuß verfehlte sein Ziel. Doch die dritte Kugel traf auf weiches Fleisch und bohrte sich in das linke Auge des Drachen. Dunkle Flüssigkeit rann dessen Wange hinunter, und sein Gebrüll ließ die Kammer erzittern. »Der Stürmer ist mutig!« bellte der Drache. »Jetzt ist der Carredon an der Reihe!« Eine Krallentatze öffnete sich, und drei spitze Nägel bohrten sich in Alders Körper und hoben ihn hoch. Der Polizist hatte solchen Schmerz und derartige Angst noch nie erlebt, doch sein Ziel hatte er erreicht – er hatte gezeigt, daß das Monster verletzt werden konnte. Und obwohl es ihm unsägliche Schmerzen bereitete, bewegte sich Alder in den Klauen, damit er Tolwyn anschauen konnte. »Er kann verletzt werden, Tolwyn«, keuchte er. »Er kann verletzt werden.« Der Carredon lockerte seine Faust. Alder fiel auf den Boden und landete in einer Pfütze seines eigenen Blutes. Das letzte, was er sah, war Kürst, der in die Kammer gestürmt kam. Gut, dachte er, jetzt sind sie alle beisammen. Für Rick Alder war der Krieg vorbei.
127 Kürst kam gerade in dem Moment in die Kammer, als Alder aus der Klaue des Carredons fiel. Die anderen standen immer noch erstarrt herum, und zuerst hatte es den Anschein, als ob -288-
Alders Opfer sie nicht so aufgerüttelt hatte, wie er es gehofft hatte. Der Jäger zerbrach sich den Kopf, was sie tun konnten. Doch bei allem, was ihm einfiel, gab es immer wieder das Hauptproblem: Der Carredon war nur aufs Töten ausgerichtet, und er tötete gut. Er hatte keine Schwächen. Kürst konnte sich an keinen Kampf erinnern, in dem er sich eine Verwundung zugezogen hatte. Die Situation hier sah zwar hoffnungslos aus, aber Alder war es gelungen, den Carredon zu verletzen. Er hatte ein Auge verloren, und vielleicht konnte man ihn so schlagen. Aber eine Stimme in seinem Hinterkopf ließ Kürst innehalten. Was, fragte die Stimme, ist der Preis, wenn man sich einem Befehl des Hageren Mannes widersetzt? Bevor er darauf eine Antwort fand, meldete sich der Carredon wieder zu Wort. »Sie, den man Decker nennt«, flötete der Drache und wedelte mit der Hand, von der Alders Blut tropfte, in die Richtung des Kongreßabgeordneten. »Es ist nicht notwendig, daß unnötig Blut vergossen wird. Ich überbringe Ihnen ein Angebot des Hageren Mannes, Hoherpriester von Orrorsh und Torg des Kosmoversums.« Decker trat vor, blieb aber außerhalb der Reichweite des Carredons. »Wie lautet das Angebot?« Der Drache schien zu lächeln. »Der Hagere Mann hat die Macht, Ihnen Ihren größten Wunsch zu erfüllen.« »Und woher weiß der Hohepriester, was ich mir wünsche?« »Weil er in Ihr Herz geschaut hat.« Das schien Decker nervös zu machen. Der Hagere Mann setzte seine Macht tatsächlich ein, um herauszufinden, was in den Stürmern vorging! Bemerkenswert, dachte Kürst und beschloß, das Spiel weiterlaufen zu lassen, bevor er eingriff. »Was hat er gesehen, Drache?« »Er hat Ihre Liebe für dieses Land gesehen, und er hat Ihren -289-
Schmerz darüber gesehen, was Baruk Kaahs Invasion ihr zugefügt hat. Er hat mich autorisiert, Ihnen das hier anzubieten.« Der Carredon klatschte in die Klauen, und in der Höhle tauchte ein Bild auf, das alle sehen konnten. Es zeigte einen schwarzen Stein, dunkel wie die Nacht und formlos. Trotzdem strahlte er eine Macht aus, die dem des Steins, den die Gruppe gesucht hatte, nicht unähnlich war. Kürst wußte, was das war. Es war eine Dunkelheitsmaschine wie Heketon, und sie gehörte dem Hageren Mann. »Mit diesem Gegenstand der Macht könnten Sie der Hohepriester dieser Welt werden und dem Hageren Mann gleichrangig gegenübertreten. Anstatt diese Welt zu zerstören, könnten Sie sie retten. Sie könnten die Gesetze und Regeln aufstellen, wie es Ihnen beliebt, und zwar nicht nur in diesem Land, sondern in jedem anderen auch. Sie können Präsident werden, und dann hätten Sie die Macht, diese Welt jenem Bild anzugleichen, das in Ihrem Herz so heiß lodert. Und mehr noch, mit der Macht dieser Realität könnten Sie eine Frau namens Vicky zurückholen.« Decker senkte kurz den Kopf und blickte dann in das Auge des Carredons. »Das ist ein sehr verführerisches Angebot. Aber wenn ich diesem Land meinen Willen aufdrängen könnte, dann wäre das nicht mehr Amerika. Es wäre etwas Geringeres, wie mächtig auch immer es wäre. Es wäre eine Schande.« Der Carredon verlor die Geduld. »Wie lautet Ihre Antwort, Stürmer?« »Meine Antwort? Geh zur Hölle!« Decker hob die Pistole und schoß auf das andere Auge des Drachen.
128 Kane verfolgte die Auseinandersetzung aus dem dunklen, -290-
engen Tunnel. Wut und Enttäuschung machten sich in ihm breit. Der Hagere Mann hatte doch ihm Macht versprochen! Und jetzt bot er sie so einfach einem der Begleiter des Priesters an. Das war nicht richtig! Er mußte ihnen beweisen, daß Malcolm Kane die Macht und den Ruhm verdiente. Er mußte den schwarzen Stein der Macht suchen und ihn dann für sich beanspruchen. Dann würde er den Priester und seiner Truppe die Rechnung präsentieren. Und er würde auch dafür sorgen, daß der Hagere Mann bezahlte. Diese Gedanken schössen ihm durch den Kopf, als er durch den Tunnel zurück zum Höhleneingang rannte. Wie die Auseinandersetzung in der Höhle dort hinten ausging, interessierte ihn nicht, denn er hatte nur noch seine eigene Vision im Kopf.
129 Pater Christopher Bryce drängte sich gegen die Höhlenwand, ohne sich darum zu scheren, wie viele der Zeugnisse indianischer Kultur er dabei mit den Füßen zerstörte. Der Anblick des Monsters ließ ihn zittern, und der Tod von Rick Alder raubte ihm beinahe den Verstand. Und jetzt versuchte das Biest, Decker zu verführen, indem es seine wahre, dämonische Natur offenbarte. Doch Decker ließ sich von dem Angebot nicht einlullen. Er feuerte jetzt einen Schuß nach dem anderen auf das Biest ab, bis seine Pistole leergeschossen war. Mara übernahm daraufhin seine Rolle in dem Zweikampf und feuerte ihre Laserpistole ab, deren gebündeltes Licht ebenso wirkungsvoll war wie Kugeln. Die Lichtstrahlen verbrannten den Brustkorb des Drachens, so daß der wutentbrannt brüllte. Dann hatte es den Anschein, als ob der Carredon sich auf Mara stürzen wollte, doch die schoß unablässig weiter. -291-
»Ihr wird bald die Energie ausgehen«, sagte Kürst. »Beten Sie zu Ihrem Gott, Bryce. Ich glaube nicht, daß wir den Carredon besiegen werden.« »Sie reden so, als ob Sie die Kreatur kennen.« »Das ist richtig.« Auf einmal verwandelte Kürsts Körper sich. Fleisch wurde zu Fell. Er wuchs, bis er über zwei Meter groß war, und wurde breiter. Seine Muskeln schwollen an. Seine Gesichtszüge wurden länger und streckten sich, bis sie sich in ein Maul voll scharfer Zähne verwandelt hatten. Kürst wurde zu einem riesigen Wolf in Menschengestalt, warf dem Priester noch einen Blick zu und stürzte sich dann auf den Carredon. Mit einem langen Sprung war der Wolf auf dem Drachen und riß mit seinen mächtigen Klauen an ihm herum. Er hatte es auf die Stellen abgesehen, die Maras Laserpistole verbrannt hatte. Tiefe Schnitte zogen sich jetzt über die Drachenschuppen. Aber das Untier war stärker als Kürst. Er schnappte ihn sich mit einer Klaue und bohrte seine Fangzähne in sein Fleisch. »Du hättest mich niemals herausfordern dürfen,. Kürst«, prahlte das Untier. »Ich bin kein Stürmer, den du loswerden willst. Meine Krallen können dich das Fürchten lehren.« Und dann packte er mit seinen Krallen zu. Decker hatte seine Waffe neu geladen und fing wieder an, auf das Ungeheuer zu schießen. Er hielt sich an das Beispiel des Wolfs und zielte auf die Wunden, die die Kreatur schon hatte. Der Drache ließ den Wolf fallen, als die Kugeln aufprallten. Vor lauter Schmerz vergaß er alles, was um ihn herum passierte. »Niemals bin ich so verletzt worden, Stürmer!« schrie der Carredon. »Aber die Schmerzen, die ich erleide, sind nichts im Vergleich zu denen, die ich dir zufügen werde.« Der Kongreßabgeordnete war tapfer und wich nicht von der Stelle, sondern gab einen Schuß nach dem anderen ab, bis er keine Munition mehr hatte. Der Carredon jedoch stürmte weiter -292-
nach vorn. Er streckte seine Klauen in die Luft, aber Mara sprang zwischen sie und trieb ihre eigenen Metallkrallen in die Brust des Drachen. Voller Wut schlug der blind um sich und erwischte Mara mit der Rückseite seiner Tatze. Das war ihr Glück, denn so flog sie nur in hohem Bogen durch die Höhle, landete in einer Ecke und blieb dort liegen. »Komm nur vor, Monster«, rief Decker. »Komm nur vor und schlag mich nieder.« »Nein, Decker«, sagte der Carredon. »Meine Wut hat sich verflüchtigt, und ich habe eine andere Möglichkeit, dir nicht enden wollenden Schmerz zuzufügen.« Der Carredon hob eine Klaue hoch und legte sie auf eine Schuppe auf seiner Schulter. Dann kratzte er durch die oberste Schicht seiner Metallpanzerung ein Symbol in die Schuppe. Bryce sah, wie Kürst aufzustehen versuchte. Er hatte wieder seine Menschengestalt. Da seine Verletzung jedoch so schwer war, fiel er wieder hin. Aber er konnte die Rune lesen, die der Carredon einkratzte: »Niemals Leben.« Dann wandte sich das Monster einer zweiten Schuppe zu. Es wiederholte das Einkratzritual und malte eine zweite Rune auf seinen Körper. »Niemals Tod«, las Kürst. Er wurde jetzt immer schwächer. Dann griff der Carredon nach den Schuppen, riß sie sich aus dem Fleisch und riß dabei gleichzeitig seine Rüstung auf. Er sprach Worte, die Bryce nicht verstand, und blies die beiden Schuppen an, wobei er in Deckers Richtung zeigte. Als die Zauberworte gesprochen waren und sein Atem die Schuppen bewegte, wirbelten sie durch die Luft und wurden zu spitzen Metallstangen. Die eingekratzten Runen waren auf den ein Fuß langen Stangen deutlich zu erkennen, denn die magische Energie ließ sie hell erstrahlen. Schneller als Bryce oder Decker reagieren konnten, bohrten sich die Stangen in die Brust des Kongreßabgeordneten. Decker -293-
schrie auf, als die unermeßliche Energie über seinen Körper rollte, durch die Stangen floß und dann auf den dunklen Tunnel zuhielt. Decker brach zusammen, aber die Energie tanzte immer noch auf den Metallstangen. »Und jetzt, Priester«, lachte der Carredon, »wirst du sehen, wie ich Tolwyn das Fleisch von den Knochen reiße.«
130 Coyote und Ratte behielten den Höhleneingang im Auge. Sie waren ziemlich nervös. Die Explosion in der Höhle war ihnen nicht entgangen, obwohl sie nicht wußten, daß der Carredon sie ausgelöst hatte, als er in den Raum mit dem blauroten Stein krachte. Aber beide wußten, daß in der Höhle etwas Grauenhaftes vor sich ging, und sie rangen mit sich, ob sie warten sollten oder ob sie auch in die Höhle gehen sollten. Während sie so abwartend dastanden, bemerkten sie plötzlich eine Bewegung am Tunneleingang. »Sieh doch!« rief Ratte und stürzte los. »Nein, Ratte, warte!« schrie Coyote, doch seine Warnung kam zu spät. Ratte stürmte in den Tunnel, weil er nachsehen wollte, wer von seinen Freunden da auf dem Weg nach draußen war. Als er blonde Haare sah, wußte er, daß es keiner von seinen Freunden war, sondern Kane. Der große Mann schnappte sich Ratte und hielt ihn sich als Schutzschild vor die Brust. In der anderen Hand hielt er sein großes, gezacktes Messer, das er unter Rattes Kinn legte. »Laß die Waffe fallen, Junge«, befahl Kane. »Los!« Coyote zögerte. Was er auch tat, es war sicher falsch. Er hob das Gewehr auf Schulterhöhe hoch und richtete den Lauf auf Kane. »Lassen Sie Ratte los«, sagte er. »Falls Sie ihm -294-
weh tun, werde ich Sie töten.« Anstatt vor Wut zu schreien oder Ratte beiseite zu schieben oder etwas Derartiges zu tun, wie Coyote es erwartet hatte, lächelte Kane einfach nur. »In Ordnung, Junge, dann wollen wir doch mal sehen, wer das bessere Händchen für den Tod hat.«
131 »Nein, du Kreatur der Hölle, ich werde nicht zulassen, daß du ihr was antust!« brüllte Pater Bryce durch die Höhle. Der Carredon kicherte. »Und wie willst du mich davon abhalten, Stürmer?« Während der Drache und Bryce sich finster anstarrten, stand Tolwyn auf. Sie hatte immer noch Angst, aber sie kämpfte dagegen an und schob sie beiseite. »Ich habe es satt, das Wort ›Stürmer‹ zu hören, Carredon«, sagte sie. »Würde es dir gefallen, wenn ich dich ›Wurm‹ nennen würde?« »Aber das bist du doch, Tolwyn«, sagte der Carredon. »Ihr seid Würmer, ihr Stürmer.« »Wir sind Ritter des Sturms!« rief sie und zog ihr Schwert aus der Scheide. »Du bist schon tot, kleine Frau. Schau dich doch um. Deine Kameraden sind gefallen, genau wie vor vielen Jahrhunderten, als wir miteinander gekämpft haben. Die Geschichte wiederholt sich, und du hast offenbar nichts daraus gelernt.« »Ich habe genug gelernt, Wurm!« Tolwyn stürzte sich auf den Drachen und schlug mit dem Schwert auf ihn ein. Zuerst wich der Drache vor ihrer Bestimmtheit zurück, aber schon bald erkannte er, daß sie nicht in der Lage war, ihm etwas anzutun. Und dann schlug er zurück. -295-
Pater Bryce suchte verzweifelt nach einer Lösung, als er ein sanftes Lied hörte. Er schaute sich um und stellte fest, daß es von dem blauroten Stein gesungen wurde. »Ich höre dich«, sagte er. »Ich höre dich tatsächlich.«
132 Malcolm Kane hielt Ratte wie einen Schild vor sich und forderte Coyote auf, das Gewehr fallen zu lassen. Bis jetzt war er von dem älteren Jugendlichen ziemlich beeindruckt, denn der hatte die Waffe nicht fallen gelassen, sondern seine eigene Forderung gestellt. Aber das Spiel hatte erst begonnen, und Kane würde seinen Willen schon noch durchsetzen. Als er vorhin die beiden Jungen gesehen hatte, hatte er nur daran gedacht, an ihnen vorbeizukommen und so schnell wie möglich zu verschwinden. Aber jetzt ging es um den Tod, und das wollte er richtig genießen. »Sehr gut, Junge«, rief Kane und registrierte voller Zufriedenheit, daß die Waffe in den Händen des Jungen zitterte. »Ich sage es dir noch mal. Laß die Waffe fallen.« »Lassen Sie Ratte los«, lautete die Antwort. Kane lächelte und bohrte gelassen die Spitze seines Messers in Rattes Schulter. Der kleinere Junge schrie. »Du fieses Schwein!« rief Coyote und richtete sein Gewehr aus. »Bist du gut genug, mich fertigzumachen, Junge?« höhnte Kane. »Ich glaube nicht, daß du jemals eins abgefeuert hast. Du könntest deinen Freund treffen. Oder daneben schießen. Laß die Waffe fallen, sonst werde ich ihn so lange anbohren, bis du nachgibst.« Als der Jugendliche das Gewehr herunternahm, grinste Kane. Sobald der die Waffe weggelegt hatte, würde er den, der Ratte -296-
hieß, abmurksen, und dann würde er sich auch noch Coyote schnappen. Er würde sie beide als Beweis dafür zurücklassen, daß das Spiel noch nicht vorbei war. Er wollte, daß der Priester das nicht vergaß. Ein Geräusch über ihm veranlaßte Kane hochzuschauen. Er sah gerade noch, daß ein Echsenmann auf ihn springen wollte. Instinktiv ließ er Ratte los und zückte sein Messer. Der Echsenmann landete auf ihm, und sie fielen beide zu Boden und landeten gefährlich nah am Abgrund, unter dem der Fluß tobte. »Tal Tu!« rief Coyote erleichtert. Aber dann sah, er daß Tal Tu immer noch schwer verletzt war. Kane rang mit dem Edeinos und versuchte, mit dem Messer zuzustechen. Ihm fiel auf, daß der Echsenmann schon einen blutgetränkten Verband trug. »Du hättest bleiben sollen, wo du warst, Echse«, sagte Kane plötzlich und stieß die Klinge bis zum Griff in Tal Tus Seite. Der Echsenmann war schwach; noch ein paar Stiche, und er würde sterben. Kane riß das Messer heraus, um wieder zuzustechen. »Stirb, Echse!« kreischte Kane auf. Er genoß das Blut und den Schmerz, den er verursachte. Aber bevor er den nächsten Stich ausführen konnte, hörte Kane ein lautes Krachen. Schmerz raste von seiner Schulter durch seinen Körper und breitete sich wellenartig aus. Ihm wurde bewußt, daß er angeschossen worden war. Die Wucht des Geschosses war so stark, daß er über den Felsrand stolperte und fiel. Er sah noch das rauchende Mündungsloch des Gewehrs, als Coyote es herunternahm. Und dann war es schwarz um ihn.
133 Derartig große Angst hatte Tolwyn noch nie verspürt. Sie -297-
kämpfte tatsächlich gegen diese Kreatur, die sie schon einmal getötet hatte, und auch diesmal bestand keine Hoffnung, daß sie als Siegerin aus dieser Auseinandersetzung hervorging. Letztes Mal hatte sie ihr Schwert gehabt und eine Rüstung getragen, und nicht einmal das hatte gereicht, um den Klauen des Carredon Einhalt zu gebieten. Jetzt hatte sie nur diesen Ziersäbel und den Anblick ihrer geschlagenen Freunde: Alder, Kürst, Mara, Decker. Nur Christopher war noch da, aber der würde schnell sterben, wenn sie erst einmal tot war. Aber sie konnte nicht einfach dastehen und zulassen, daß der Drache sie tötete. Alder hatte ihr bewiesen, daß er verletzt werden konnte. Sie mußte nur herausfinden, wie sie das ausnutzen konnte. »Genug von diesen Spielchen, Tolwyn!« brüllte der Carredon. Jetzt setzte er sich zur Wehr und trieb sie Schritt um Schritt mit seinen häßlichen Klauen zurück. »Leg deine Waffe nieder, dann wird dir ein kurzer Tod vergönnt sein.« »Wie der, den du Decker gewährt hast?« Sie meinte die glühenden Runenstäbe, die aus seiner Brust ragten. Doch obwohl es so aussah, als ob er tot sei, hob und senkte sich sein Brustkorb gleichmäßig. »Ich werde mich niemals einfach ergeben, Monster!« Sie kämpfte weiter, und ihr Angriff wurde entschlossener. Sie griff auf jede Möglichkeit zurück, die ihr in den Sinn kam, auf jede Fähigkeit, auch wenn sie sich nur dunkel daran erinnerte. Sie bewegte sich in allen Richtungen und suchte nach einer Chance. Und doch wußte sie, daß sie nur so lange durchhalten würde, wie ihre Kraft reichte. Denn die Kraft des Carredon war bei weitem größer.
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134 Christopher Bryce stand vor dem Stein, den Decker das »Herz des Coyoten« nannte, und lauschte seinem Lied. Es hatte keinen Text, und er konnte nicht in die Melodie einstimmen, aber trotzdem wußte er, daß es ein Lied war. Es war das Lied des Lebens und erinnerte an das Lied der Natur, wie man es in einem Lüftchen wahrnehmen konnte, in einem rauschenden Bach, in einem friedlichen Wald. Doch dieses Lied war lauter und nachdrücklicher. Es erzählte von den Möglichkeiten, die das Leben ausmachten. Solange es Leben gab, gab es unzählige Möglichkeiten. Und auf einmal brachte das Lied ihn auf eine Idee und zeigte ihm, wie der Kampf, der hinter seinem Rücken tobte, gewonnen werden konnte. Er streckte die Hand aus und griff nach dem Stein.
135 Tolwyns Körper war längst mit Schnitten und Kratzern übersät. Blut rannte an ihrem Körper herunter und vermischte sich mit Schweiß. Keine der Verletzungen war ernst, aber es waren so viele. Sie verdrängte den Schmerz und hackte und stach unablässig auf den Carredon ein. Sie fügte ihm tiefe Wunden in seinem Panzer zu, aber es gelang ihr nicht, das weiche Fleisch darunter zu treffen. Und dann rutschte sie in einer Pfütze von Blut aus und fiel auf den Boden der Höhle. Der Carredon baute sich über ihr auf. Seine bösen Augen funkelten siegessicher. »Und jetzt hat auch das hier ein Ende, Tolwyn«, kicherte er. -299-
»Ja, Dämon, genau so ist es!« rief eine kraftvolle Stimme. Als der Carredon aufblickte, sah er Bryce. Der Priester hielt den blauroten Stein umklammert und hielt ihn dem Drachen entgegen. »Bitte, Gott«, rief er, »laß das Bild, das ich gesehen habe, wahr werden.« Ein gebündelter Strahl reinen Lichts fuhr aus dem Stein und zielte auf den Brustkorb des Carredon. Die Energie tanzte auf seinem Panzer und tauchte den Drachen in Licht. Er schrie vor Schmerz auf, doch die Energie konnte anscheinend nicht seine Schuppen durchdringen. Doch ein Teil des Lichts spiegelte sich auf dem Panzer wider. Zuerst hing es nur in der Luft, doch dann wickelte es sich um Tolwyns Säbel, als würde es von ihm angezogen wie ein Blitz vom höchsten Baum. Als der Drache sich vor Schmerzen krümmte, weil ihn das Licht getroffen hatte, entdeckte Tolwyn, daß die Klinge ihres Schwertes glühte. Es hatte dieselbe Macht. Sie wußte nicht, was das bedeutete oder warum das Licht nicht auch sie angriff. Aber sie wußte, daß sie eine Chance hatte. Der Carredon hatte sie vergessen, weil er verzweifelt versuchte, das knisternde Licht abzuschütteln. Mit aller Kraft, die ihr noch zur Verfügung stand, richtete Tolwyn ihr Schwert auf die Schulter des Carredon, wo er die beiden Schuppen abgerissen hatte. Und dann gab sie einen Kriegsruf von sich, der die Kammer erzittern ließ, und stach zu.
136 Quin Sebastian saß in einem Flugzeug nach Houston. Er wußte nicht, warum er eingewilligt hatte, den Mann zu treffen, mit dem er nie wieder etwas zu tun haben wollte. Trotzdem flog er dorthin. Es war schon lange her, seit Sebastian John Wells -300-
zum letzten Mal gesehen hatte. Damals hatte Quin seine Arbeit hingeschmissen, und Wells hatte diese Entscheidung akzeptiert. Seit jenen Tagen arbeitete Quin als Freier, als Fremdenlegionär. Weshalb also hatte er es so eilig, sich mit dem gerade eben ernannten Präsidenten Wells zu treffen? »Weil er mich darum gebeten hat«, murmelte Quin so vor sich hin. Er schloß die Augen, um ein bißchen zu schlafen, bevor das Flugzeug in Houston landete.
137 Thratchen sah die Gruppe in den Hubschrauber steigen. Er sah, daß der Mann, der Rick Alder hieß, tot war, denn sie hatten ihn in einen Leichensack gelegt. Die anderen waren unterschiedlich stark verletzt. Nur der Priester und Coyote waren unversehrt geblieben. Pater Bryce hatte die Unendlichkeitsscherbe dabei. Er glaubte, daß sie in seinem Rucksack gut versteckt sei. Narr, dachte Thratchen. Man kann die Scherbe nicht vor denen verstecken, die sie stehlen wollen. Von den anderen hatten sich Mara, Kürst und Tal Tu die schwersten Verletzungen zugezogen, aber die würden über kurz oder lang verheilen. Ratte hatte einen Arm in der Schlinge, und seine Wunde, die auf Kanes Konto ging, war verbunden. Tolwyn hatte ein gutes Dutzend Schnitte, aber sie hatte sich schon schlimmere Verletzungen zugezogen. Es war erstaunlich, daß sie in der Lage gewesen war, den Carredon zu besiegen. Darüber würde sich der Hagere Mann bestimmt ziemlich aufregen. Erheblich aufregen. Schließlich richtete Thratchen seine Aufmerksamkeit auf Deckers reglose Gestalt. Die magischen Runenstangen steckten tief in seiner Brust, nur die Enden schauten heraus. Energie -301-
tanzte auf den Spitzen, sprang von einem Stab auf den anderen und dann in die Luft. In diesem Zustand zwischen Tod und Leben würde Decker bleiben, bis jede Möglichkeit aus seinem Körper abgezogen worden war. Selbst in diesem Augenblick war die Energie unterwegs zu der Maschine des Hageren Mannes im Reich Orrorsh. Es war wirklich zu dumm, daß er nicht mehr an dem Experiment teilnehmen konnte, das Thratchen vorhatte, denn er schien ebenso mächtig zu sein wie Mara und Tolwyn. Die Hubschraubertür wurde geschlossen, und das Ding flog ab. Jetzt kann die nächste Phase des Experimentes beginnen, dachte Thratchen. Er ärgerte sich nur, daß die Leiche von Malcolm Kane im rauschenden Fluß verschwunden war. Er wollte sichergehen, daß er tatsächlich tot war, damit der Diener des Hageren Mannes ihm nicht wieder dazwischenfunken konnte. Nun gut, dachte der Dämon, ich habe andere Aufgaben, um die ich mich kümmern muß, und die Chancen, daß Kane tot ist, sind groß. Thratchen breitete seine Metallschwingen aus und verließ den Canyon.
138 Uthorion saß in seinem Thronsaal und wartete auf eine Nachricht vom Hageren Mann. Er mußte wissen, ob Tolwyn schon tot war, denn er weigerte sich, auch nur einen Fuß auf die Erde zu setzen, bevor ihr Tod garantiert war. Bei ihm saß Papst Jean Malraux, Hohepriester von Magna Verita. Das Reich des falschen Papstes war ebenso wie das von Uthorion bereits errichtet worden, aber keiner von beiden hatte sich bis jetzt an den Eroberungen persönlich beteiligt. Der falsche Papst wartete auf die Möglichkeit für einen großen Auftritt, wo er die Fallen seiner theokratischen Realität ausspielen konnte, so daß sich -302-
viele Erdlinge seiner Realität anpassen würden, ohne daß ein Krieg notwendig war. Und so warteten die Hohenpriester. Kurz darauf betrat der Zauberer Delyndun die Kammer. Er wurde von einem Ravagon begleitet. »Mein Herr«, sagte Delyndun, »dieser Ravagon kommt mit einer Bitte von Baruk Kaah.« Uthorion erhob sich, um dem Ravagon ins Gesicht blicken zu können. Lady Ardinay bewegte sich auf einmal sehr männlich. »Sprich, Dämon«, forderte er ihn mit Ardinays Stimme auf. Der Ravagon schaute von Uthorion zu Malraux und wieder zu Uthorion. »Der Hohepriester von Takta Ker mußte mit ein paar Verzögerungen fertigwerden. Während er seine Kräfte sammelt, die er gezwungenermaßen überbeansprucht hat, bittet er den mächtigen Uthorion um jene Hilfestellung, von der er vor einiger Zeit gesprochen hat.« »Was will die Echse?« fragte Uthorion ungeduldig. »Er bittet um die Wilde Jagd.« Uthorion grinste. Auf Ardinays Lippen lag ein böses Lächeln. »Sag dem Hohenpriester von Takta Ker, daß ihm die Wilde Jagd zur Verfügung steht. Sie ist schon unterwegs.« Der Ravagon verbeugte sich knapp und verließ den Thronsaal. »Ist das klug, Uthorion?« fragte Malraux. »Findest du es gut. daß dieser Wilde solch eine gewaltige Macht der Zerstörung in die Hände bekommt?« »Natürlich, mein Freund«, lachte Uthorion. »Durch diese Einladung kann ich meine mächtigste Waffe in jenes Land bringen, wo Tolwyn sich herumtreibt. Lassen wir doch die Wilde Jagd Baruk Kaahs Arbeit erledigen. Aber wenn sie Tolwyn begegnet, wird sie ihre Befehle direkt von mir erhalten. Delyndun, ruf die Jagd.«
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Epilog Der Sturm hat einen Namen.. Katrina Towarisch Der Hagere Mann stand auf dem Deck seines Schiffes und blickte vor der Küste der Weihnachtsinsel unterhalb von Java auf die See hinaus. Aus dem aufgewühlten Wasser stieg ein riesiger, wirbelnder Strudel auf, der in den dunklen Wolken am Himmel verschwand. Der Strudel war die überragendste Schöpfung des Hageren Mannes, denn er war der Beweis, daß seine Unendlichkeitsmaschine, die auf dem Grund des Meeres ruhte, funktionierte. Sie saugte die Energie der Erde ab und verlangsamte ihre Drehung. Die Energie wurde gespeichert, damit der Hagere Mann sie benutzen konnte, wenn die letzte Phase seines Planes begann. Dann würde er die Macht von Torg erhalten. Bis dahin verlangsamte sich die Erddrehung immer mehr. Bis ihre Energie vollkommen abgeschöpft war. »Ein bemerkenswerter Anblick«, sagte Scythak, als er den Strudel sah. »Nur der Hagere Mann konnte auf die Idee kommen, die Energie der Erde einzusetzen, um sie zu zerstören.« Der Dämon Gibberfat, der auf der Reling stand, war von dem außerordentlichen Schauspiel ebenfalls hingerissen. »Ihre Pläne funktionieren gut, Meister.« »Ja, Gibberfat, und für dich habe ich einen neuen Auftrag«, sagte der Hagere Mann. Der Dämon drehte sich um und schaute seinen Herrn an. »Gemäß unserer Vereinbarung stehe ich Ihnen zur Verfügung.« »Dann hör gut zu. Die Unendlichkeitsmaschine unter uns muß um jeden Preis geschützt werden. Sie ist der Kern meiner Pläne, -304-
und selbst die anderen Hohenpriester sind nicht über ihren Zweck informiert. Bis jetzt sind nur untergeordnete Wachen dort unten. Die brauchen jemanden, der sie führt. Das ist die Aufgabe, die ich für dich vorgesehen habe, Gibberfat.« Der Dämon kam ins Stottern. »Aber... aber, Meister, Sie möchten, daß ich dort hinuntergehe, in den Ozean...?« »Ja.« Und damit entfernte sich der Hagere Mann. Scythak blieb zurück. Sein herzhaftes Lachen war auf dem ganzen Schiff zu hören. »Nun denn, kleiner Dämon, dann viel Spaß bei den Fischen. Gib acht, daß sie dich nicht auch für einen Fisch halten und dich hinunterschlucken!« Der kleine Dämon warf dem Jäger einen bitterbösen Blick zu und verwandelte sich dann langsam. Er wurde immer größer, bis Scythak neben ihm wie ein Zwerg wirkte. Dann beugte er sich ganz weit hinunter, und der Jäger konnte seinen schwefeligen Atem riechen. »Du hast wohl ein Problem mit der Größe, Scythak«, murmelte er böse. »Denk dran, wie groß ein Fisch auch ist, es gibt immer etwas Größeres. Und gewöhnlich hat es Zähne.« Dann, bevor Scythak irgend etwas erwidern konnte, tauchte Gibberfat in den Ozean und verschwand in den aufgewühlten Wellen.
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