Cover DIE-Reihe, Kriminalromane ne Delikte, Indizien, Ermittlungen
Alan Winnington Ridley & Son
Kriminalroman
Edward...
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane ne Delikte, Indizien, Ermittlungen
Alan Winnington Ridley & Son
Kriminalroman
Edward Ridley, Fleischkönig von London, glaubt unantastbar zu sein: als tyrannisches Familienoberhaupt, das weder Widerspruch duldet noch gewillt ist, Nachsicht gegenüber Frau und Kindern zu üben, und als millionenschwerer Besitzer einer Ladenkette, der jede Konkurrenz bislang ausschalten konnte. Dennoch: Eines Tages gerät er in die Zwangssituation, einem geschäftlichen Gegenspieler so viele Anteile seines Unternehmens überlassen zu müssen, daß er quasi weg vom Markt wäre, würde er dem erpresserischen Druck folgen. Ridleys plötzliche Ermordung scheint alle Probleme zu lösen – wenigstens auf den ersten Blick. Auf den zweiten ist der Mord nur ein Mosaiksteinchen von vielen bei einer tödlichen Jagd nach großem Geld.
Alan Winnington
Ridley & Son
Verlag Das Neue Berlin
Titel des englischen Originals: Ridley & Son Ins Deutsche übertragen von Elga Abramowitz
„Der Laden ist gleich hinter dem Obststand da“, sagte der Fahrer. „Fahr ein Stück weiter“, befahl Ridley. „Ein Schlitten wie der hier fällt in dieser Gegend zu sehr auf.“ Fünfzig Meter hinter dem Obststand fand der Fahrer eine Stelle, wo er den Jaguar parken konnte, und beide stiegen aus. Samstag abend in den Londoner Außenbezirken: Leute, beladen mit den Einkäufen der letzten Minute, füllten die Straßen, schoben und drängten sich vorwärts, freuten sich darauf, etwas zu trinken und einen kleinen Schwatz zu machen, bevor die Lokale schlossen. Es roch nach allem möglichen, wobei Fisch und Pommes frites vorherrschten; aus einem Kebab-Restaurant kam der kräftige, appetitanregende Duft vom Lammbraten und Kräutern, und ein paar Schritte weiter mischten sich, scharf und frisch wie eine Meeresbrise, die Aromen von Miesmuscheln, Garnelen, Herzmuscheln und Aal in Gelee. Der Abend war warm, und an einem Fischstand aßen ein paar Leute ihre Miesmuscheln und ihren Aal von Plastiktellern, bevor sie ihren Durst in einer Kneipe löschten. Das war Brixton, Brixton nach Feierabend, das sich von der Arbeit des Tages erholte. Licht fiel aus noch geöffneten Läden; Stimmengewirr und Gelächter, vermischt mit Jukeboxmusik, drang aus den Kneipen. Aus 6
einer Disko fluteten jedesmal, wenn sich die Tür öffnete, Kaskaden von elektronisch verstärktem Lärm. Edward Ridley verlangte es nicht nach Entspannung und Erholung. Er wartete ungeduldig, während der Fahrer den Wagen abschloß. Die Fahrt hierher hatte etwas zu lange gedauert. Der Fahrer, ein großer, massiger Mann, etwa eins fünfundachtzig groß und über zwei Zentner schwer, bahnte einen Weg durch das Menschengewühl, und Ridley folgte ihm in der breiten Spur. Sie hielten vor einem Fleischerladen an, über dessen Front in altmodischer Schrift zu lesen stand: „Ridley GmbH – Fleisch für jeden Haushalt“. Ridley trat vor die linke Seite des Schaufensters und studierte wie ein zufälliger Kunde die Auslagen. Es war ein paar Minuten vor Ladenschluß. Alles, was mit Fleischerläden zu tun hatte, kannte er aus dem Effeff. Er brüstete sich gern damit, daß er seine Laufbahn mit Fußbodenschrubben und Fensterputzen begonnen und sich dann Schritt für Schritt hochgearbeitet hatte, bis er einen Rinderrücken mit einer Hand zerteilen konnte. Was er jetzt sah, mißfiel ihm. Das Personal machte den Laden nachlässig sauber, ohne auf den Umsatz in den letzten Minuten Rücksicht zu nehmen. An den beweglichen Stahlstangen im Schaufenster hingen nicht genug Fleischstücke zu herabgesetzten Preisen, um die Kunden anzulocken, die im allerletzten Augenblick noch günstig einkaufen wollten. Auf den weißen Emailletabletts lagen nur ein paar unansehnliche Koteletts und Steaks, verschrumpelte Nieren und blutlose Hühnchen. Verärgert beobachtete er, was im Innern des Ladens vor sich ging. Das Fleisch wurde lustlos runtergesäbelt, es gab zuviel Abfall, und die Kunden wurden nicht ge7
drängt, die hundert oder zweihundert Gramm mehr zu nehmen, die beim Umsatz so viel ausmachten. Keine Spur vom Geschäftsführer. Vielleicht war er im Kühlraum, aber am Samstag kurz vor Schluß sollte er im Laden sein, das Personal antreiben und das Fleisch an den Mann bringen, das sich übers Wochenende nicht allzugut halten würde. Er warf einen Blick auf das Stück Papier, auf dem er sich den Namen des Geschäftsführers notiert hatte. Sinclair. Bert, der Fahrer, hielt sich diskret in einiger Entfernung. Er kannte die Methode. Meist war seine Anwesenheit nicht notwendig, aber manchmal mußte er eben doch eingreifen. Bert („Klopper“) Huskins war einer der vielversprechendsten Schwergewichtsboxer von Hoxton gewesen, einem Bezirk, der für seine Boxer berühmt war. Aber das lag schon ziemlich lange zurück. Dann hatte er den Fehler begangen, sich eines Nachts stockbetrunken mit einem Polizisten anzulegen und ihm den Kiefer zu brechen. Als man ihn verhaftete, war er nüchtern und voller Reue, doch das nützte nichts mehr. Im Gefängnis hatte er sechs Monate Zeit, sich schwarz zu ärgern, denn er wußte, daß seine Boxerkarriere im Eimer war. Boxmanager investierten kein Geld in Männer, die Faustkämpfe außerhalb des Rings austrugen. Nach seiner Entlassung bekam er nur noch drittklassige schlechtbezahlte Matches, und er wußte, wenn er so weitermachte, würde er als Wrack mit einem zermatschten Gehirn enden, das in den Kneipen um ein Glas Bier bettelte. Ein Kneipier hatte ihn schließlich auf eine Annonce aufmerksam gemacht, in der ein Fahrer und Leibwächter gesucht wurde – Bert selber war kein großer Zeitungsleser –, und so war er Ridleys Fahrer, Leibwächter und Faktotum geworden. Auf ein Zeichen von Ridley näherte sich Bert jetzt der 8
Ladentür und blieb davor stehen, während sein Chef hineinging. Ridley mußte ein paar Augenblicke warten, bis ein sehr junger Verkäufer ihn nach seinen Wünschen fragte. Der Junge wandte sich zum Schaufenster. „Nein“, sagte Ridley. „Ich hab schon gesehn, es ist nichts Rechtes im Fenster. Ich will ein anständiges Lendenstück, etwa sieben Pfund schwer. Und nicht alles Knochen.“ Nach einem Blick auf die Uhr sagte der Junge: „Es muß aus dem Rumpf herausgeschnitten werden, Sir. Ich kann das nicht. Das heißt, ich kann es, aber ich darf es noch nicht, Sir.“ „Na, irgendwer wird’s doch machen können.“ „Ja, Sir, der Geschäftsführer. Aber er ist gerade nicht da, und wir schließen gleich. Darf’s nicht was anderes sein?“ „Nein.“ Ridley sah auf seine Armbanduhr und dann auf die Uhr im Laden. „Die Uhr hier geht vor. Wo steckt der Geschäftsführer? Sinclair heißt er, nicht wahr?“ „Vielleicht in den ‚Gloucester Arms‘, trinkt da ein Bier, weil ja praktisch schon Schluß ist.“ „Dann holen Sie ihn gefälligst.“ Der Junge starrte den Mann an, der da vor ihm stand, und dasselbe taten die anderen späten Kunden, die noch im Laden waren. Der Mann war etwa sechzig, schätzte er, mit borstigem grauem Haar, Armeeschnitt, kurz im Nacken und kurz an den Seiten, und einem grauen, ungepflegten, von Tabak verfärbten Schnurrbart. Sein Jackett aus rauhem, dunklem Wolltweed war offensichtlich von der Stange gekauft, und die Hosen waren altmodisch, mit Umschlägen. Doch obwohl er wie ein Niemand gekleidet war, trat er auf wie jemand, der gewohnt ist, daß ihm andere gehorchen. 9
Der Junge spürte, daß Unheil drohte. Er sagte: „Ich werde Ihnen das Lendenstück holen, Sir.“ „Und dabei die ganze Rinderhälfte ruinieren! Nein. Sie holen Mr. Sinclair, und zwar sofort.“ Der Junge zögerte. „Welchen Namen soll ich nennen, Sir?“ „Mr. Ridley. Edward Ridley.“ Aller Augen richteten sich auf ihn. Mr. Ridley. Der Boss. „Weiterbedienen, aber ein bißchen flott“, bellte Ridley die anderen weißbekittelten Verkäufer an, während der Junge flüchtete. Minuten später kam der Geschäftsführer keuchend in den Laden gestürzt. Sein weißer Kittel war blutbefleckt von der Tagesarbeit. „Tut mir leid, Sir, daß ich nicht da war. Hab gerade Bestellungen für die nächste Woche aufgenommen.“ „In der Kneipe? Jetzt, bei Ladenschluß?“ höhnte Ridley. „Ja, Sir. Sie servieren dort auch Essen. Sie kaufen praktisch ihr ganzes Fleisch bei uns. Ich muß mit ihnen Kontakt halten.“ „Erzählen Sie das Ihrer Großmutter, Sinclair. Sie sind entlassen. Jetzt. Auf der Stelle.“ Sinclair erbleichte. Er öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Als er seine Stimme wiederfand, war sie heiser. „Sie scherzen, Sir. Ich bin doch nicht mal zehn Minuten weg gewesen.“ Ridley ignorierte ihn und beäugte die übrigen Verkäufer. „Los, weiterarbeiten, ihr da. Ich werde mir übers Wochenende überlegen, was ich mit euch mache.“ Gelähmt vor Schreck, blickten sie abwechselnd auf den Geschäftsführer und auf Ridley. „Sie meinen das doch nicht im Ernst, Mr. Ridley“, sagte Sinclair. 10
„Aber gewiß. Raus mit Ihnen.“ Einer der wartenden Kunden starrte Ridley ungläubig an und sagte dann: „Sie verdammter Leuteschinder, das ist ja …“ „Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten.“ In der jetzt eintretenden Stille machten die Verkäufer einen unwirksamen Versuch, die Kunden weiterzubedienen, während der Geschäftsführer reglos dastand, starr vor Entsetzen. „Und was soll ich meiner Frau sagen?“ fragte er mit erstickter Stimme. Ridley wandte sich an den Jungen, mit dem er zuerst gesprochen hatte. „Jetzt holen Sie das Lendenstück.“ Sinclair kam wieder zu sich. „Ich habe von Ihren Methoden gehört“, sagte er bitter, „aber ich hätte so was nie für möglich gehalten, Sie Dreckskerl.“ Plötzlich streckte er den Arm aus, ergriff eine halbe Rinderkeule, die im Schaufenster an einer Stahlstange hing, und schleuderte sie nach Ridley. Sie traf den Firmeninhaber mitten ins Gesicht, und er drehte sich instinktiv um, Sinclair den Rücken zukehrend. Eine Rindsrolle flog hinterher und dann noch eine zweite, die sich mit dem Stahlhaken in Ridleys Tweed Jackett verfing. Die Kunden drängten hinaus und wurden vor der Ladentür von einer massigen Gestalt beiseite gestoßen: Bert kam seinem Boss zu Hilfe. Mit Fingern, die wie Stahlklammern waren, packte er Sinclair am Nacken, drehte dessen Kopf zu sich herum und verpaßte ihm einen Faustschlag ins Gesicht. Als er ausholte, um noch einmal zuzuschlagen, sagte Ridley: „Laß ihn los, Bert.“ Sinclair taumelte gegen die gekachelte Wand. Er starrte Ridley haßerfüllt an. „Dafür verklage ich Sie.“ „Machen Sie sich doch nicht lächerlich. Alle diese Leute draußen können beschwören, daß Sie mich ange11
griffen haben. Sie haben angefangen, haben Fleisch nach mir geworfen. Packen Sie Ihr Zeug zusammen, und scheren Sie sich raus.“ Der Junge kam mit einem Lendenstück zurück und legte es auf die Wiegeschale. „Es sind achteinhalb Pfund geworden, Sir.“ „Geworden“, höhnte Ridley. „Miserabel geschnitten. Angenommen, ich würde Sie bitten, anderthalb Pfund abzuschneiden? Was würden Sie dann tun?“ Der Junge machte einen Schritt auf Ridley zu und blieb stehen, als er sah, wie sich Berts Muskeln spannten. „Sagen Sie Ihrem verdammten Gorilla, er soll verschwinden, dann zeige ich Ihnen, was ich machen würde, Sie Schwein.“ „Sie sind gleichfalls entlassen“, sagte Ridley. „Wickeln Sie das Fleisch da ein“, befahl er der Kassiererin. In hilfloser Wut warf der junge Verkäufer das Fleisch auf den Fußboden. „Das werde ich Ihnen noch heimzahlen, Ridley“, rief ihm Sinclair nach, als der Firmeninhaber den Laden verließ. Im Jaguar entspannte sich Edward Ridley. „Richtig, daß Sie den Kerl gefeuert haben, Chef“, sagte Bert. Er bekam nicht oft Gelegenheit, seine Fäuste zu gebrauchen. „Und wohin jetzt?“ „Nach Notting Hill“, antwortete Ridley. Ihr Weg führte sie über den Trafalgar Square, durch die Regent Street und die Oxford Street, alle hell erleuchtet und voller Menschen, die aus den Theatern und Kinos strömten, in den U-Bahn-Eingängen verschwanden oder sich nach Lokalen umsahen, in denen sie den Samstagabend beenden konnten. Kurz vor dem Bahnhof Notting Hill bog Bert nach Süden ab und gleich darauf wieder nach Osten. „Du brauchst nicht reinzufahren, Bert“, sagte Ridley. „Halt hier an und begleite mich zur Tür.“ 12
Der Fahrer hielt am Anfang einer schmalen „Mews“straße, wo man ehemalige Stallungen zu eleganten Wohnungen umgebaut hatte, und stieg aus. An der Tür eines der teuren Appartements zog Ridley einen Hausschlüssel hervor und drückte Bert einen Geldschein in die Hand. „Hier ist ein Fünfer. Gefahrenzulage. Pünktlich Montag früh, Bert. Gute Nacht.“ Jack Finn ließ sich selten in „Veronica’s Kitchen“ blicken, einem der exklusivsten Londoner Spielklubs. Er war kein Spieler, und wenn er zu Pferderennen ging, wettete er nur auf Gäule, von denen er wußte, daß sie auf Grund vorheriger Absprachen das Rennen mit Sicherheit gewinnen würden. Aber „zufällig“ gehörten ihm sowohl „Veronica’s Kitchen“ wie „The Emerald“, ein anderer hochkarätiger Spielklub. Sie waren ihm, wie er es formulierte, „in den Schoß gefallen“, als einer seiner Partner in anderen Unternehmen für lange Zeit hinter Gittern verschwand und Jack Finn sich in die – für ihn – erstickende Atmosphäre der West-End-Klubs begeben hatte. Sehr bald begannen ihn die Typen, die er in den Klubs traf, zu langweilen, und nun erschien er nur noch einoder zweimal im Monat, um sich zu überzeugen, daß alles in Ordnung war. Er wäre ebensowenig imstande gewesen, ein solches Etablissement mit seinen hochmütigen aristokratischen Stammgästen zu leiten, wie er imstande gewesen wäre, ein Düsenflugzeug zu fliegen. Die Einzelheiten überließ er seinem Geschäftsführer Tony, der sich um beide Klubs kümmerte. Sie waren außerordentlich einträglich. „Gut, Tony. Scheint ja alles wie geschmiert zu laufen. Aber wer ist denn nun dieser kleine Scheißer, dieser Ridley? Wie heißt er mit Vornamen?“ fragte Finn. „Ronald. Ronald Ridley. Was er ist, Captain, ist wichtig, nicht so sehr, wer er ist.“ 13
Wer Jack Finn zuerst „Captain“ genannt hatte, war im Nebel der Geschichte des East Ends untergegangen, aber Finn gefiel diese Anrede. Sie verband Vertraulichkeit, ja Intimität mit formeller Höflichkeit. Es schmeichelte ihm, von Männern wie Tony so angeredet zu werden, die aus einem guten Stall kamen und wie Gentlemen sprachen, sich wie Gentlemen kleideten und sich wie Gentlemen benahmen. Tony trank noch einen Schluck Malzwhisky und ließ seine Blicke durch den leeren Klub wandern. Es war noch zu früh für Glücksspiele. „Nachdem er uns übers Ohr gehauen hatte, Captain, hab ich mir die Mühe gemacht, ihn zu überprüfen, und da stellte sich heraus, daß sein Vater Edward Ridley ist, dem eine Ladenkette gehört, an die hundertfünfzig Fleischerläden alles in allem. Muß ein paar Millionen schwer sein. Nichts Aufregendes. Mittleres Kaliber. Kommt von ganz unten und ist offenbar so geizig wie ein schottischer Geistlicher. Hat was gegen Glücksspiel. Hat überhaupt was gegen eine Menge Sachen, vor allem, wenn sie Geld kosten. Gehört nicht zu den Typen, über die ich genau Bescheid weiß.“ Finn schob die vollen Lippen vor und runzelte die Brauen, schwarze Augenbrauen, die über seiner Nase fast zusammenwuchsen. „Ridley. Fleischerläden. Ich glaube, da klingelt was bei mir.“ „Bei mir auch, Captain. Aber vielleicht nur deshalb, weil man den Namen so oft sieht.“ „Nein. Nein. Laß mich nachdenken.“ Finn kniff die Lippen zusammen und lächelte dann. „Ich hab’s. Er steht in meinen Büchern, oder vielmehr, er stünde, wenn ich Bücher führen würde. Ein paar seiner Läden in Westlondon wurden kurz und klein geschlagen. Irgend jemand hatte da versucht, ins Schutzgeschäft einzusteigen. Ich habe schon ein paarmal mit Ridley verhandelt – nicht 14
direkt natürlich –, und er hat daraufhin mit meinem Kassierer gesprochen. Hat seinen Beitrag erhöht, und wir haben den Schutz aller seiner Londoner Geschäfte übernommen. Es war übrigens Smoky Bacon, der da versuchte, den Bezirk Cricklewood an sich zu reißen. Ich warnte ihn – entweder er arbeitet mit mir zusammen, oder … na, du weißt schon. Also, Smoky arbeitet nun für die Firma. Ist Jahre her. Ich hatte es schon beinah vergessen.“ „Na ja, Captain, da der junge Ridley nun mal ein Millionärssohn ist, dachte ich, ich spreche lieber vorher mit Ihnen. Seinen Kredit hab ich natürlich gesperrt.“ „Wieviel schuldet er uns?“ „Hier dreihundert Pfund, und den ‚Emerald‘ hat er um vierhundert geprellt.“ „Bagatelle, bei dem Moos von dem Alten.“ „Aber mir scheint, der Knabe hat Angst, zu ihm zu gehen, und wenn er’s täte, würde er das Moos nicht kriegen. Und er verkehrt nicht in Kreisen, wo er uns nützlich sein könnte – Freunde anschleppen und so. Soll ich das Geld nun abschreiben, oder soll ich ihn durch die Mangel drehn?“ „Wie alt ist er denn?“ „Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig. Groß. Gutaussehend, aber ziemlich weich. Ein Gimpel, aber versucht zu betrügen.“ „Uns hat er immerhin um siebenhundert erleichtert.“ „Das zeigt ja, daß er noch nicht trocken hinter den Ohren ist. Er weiß einfach nicht, wer hinter diesen Klubs steht. Wahrscheinlich hat er das ganze Geld hier rumliegen sehn und sich gedacht, er könnte ein bißchen davon für sich abzweigen.“ Finn schüttelte langsam den Kopf. „Tony, niemand weiß besser Bescheid im Spielgeschäft als du. Und ich hab zwar keine Ahnung von den Finessen des West-End-Glücksspiels, aber ich seh ein, daß Verluste unvermeidlich sind – ungedeckte Schecks 15
und so weiter. Du kennst die Haute volée, kennst sie aus dem Effeff. Bloß von dem eingebildeten Bengel eines Hoxtoner Fleischhauers laß ich mir eine solche hanebüchene Unverschämtheit nicht bieten.“ Jeden echten oder eingebildeten Affront bezeichnete Finn gewöhnlich als „Unverschämtheit“ und als „hanebüchen“. Es war ein Zeichen, daß Vorsicht am Platze war. In dieser Stimmung war der Captain unberechenbar. Tony war so weit gegangen, wie er hatte gehen wollen, um die Sache friedlich zu regeln. „Was soll ich mit ihm tun, Captain?“ Finn hörte nicht zu. Im Augenblick schenkte er einer inneren Stimme mehr Aufmerksamkeit, die ihm versicherte, daß er Jack Finn war, der König der Londoner Unterwelt – gleichermaßen gefürchtet von Verbrechern und von der Polizei. „Hanebüchen“, wiederholte er. „So eine Niete aus Hoxton. Nicht mal das Söhnchen irgendeines vertrottelten Earls, der seine reichen Freunde hierherschleppen könnte, damit sie ihr Geld bei uns loswerden … Für diesen Hoxtonplebs ist mir meine Zeit übrigens immer zu schade gewesen.“ Wenn Finn in dieser Stimmung war, konnte Tony ihn nicht ausstehen. Sie erinnerte ihn daran, daß jedermann in Finns Machtbereich jederzeit ein Opfer seiner Launen werden konnte, er, Tony, nicht ausgenommen. In einer anderen Stimmung hätte Finn vielleicht gesagt: „Wenn er der Sohn eines Klienten ist, jag ihm einen Schreck ein und warne ihn, so was nicht noch mal zu tun.“ „Soll ich ihn mir also vorknöpfen, Captain?“ „Wegen dem Geld?“ „Na ja, ich dachte“, sagte Tony unsicher, aber äußerlich ganz gelassen, „ich veranlasse, daß er eine Lektion kriegt. Wir wollen doch nicht die großen Spieler abschrecken, indem wir die Sache anzeigen, nicht wahr?“ 16
„Keine Angst, Tony. Ich bin doch nicht von gestern. Überlaß ihn mir. Inzwischen – kein Kredit. Keine Schecks.“ Ronald Ridley hockte trübselig auf einem Barstuhl am Tresen des „Hungry Man“ in Soho und trank Whisky, den er mit Guiness-Flaschenbier verdünnte. Er sah aus, als sei ihm elend zumute. „Kopf hoch, Süßer. Vielleicht passiert’s nicht“, rief die Barfrau hinter dem Tresen fröhlich. „Ist schon passiert“, gab Ronald zurück. „Es gibt noch mehr Frauen auf der Welt“, sagte sie tröstend und fragte sich, welches Mädchen einem so gutaussehenden Jungen den Laufpaß gegeben haben mochte. Er war groß und schlank und verstand sich anzuziehen. Dunkelbraunes, naturgewelltes Haar fiel bis auf seinen Kragen herab. Sein Gesicht war von interessanter Hagerkeit, die durch das dunkle, glattrasierte Kinn noch betont wurde. Er hatte schöngeformte Hände und volle, sinnliche Lippen. Sein Problem hatte indessen nichts mit Mädchen zu tun, oder doch nur indirekt, weil man Geld brauchte, um welche kennenzulernen und mit ihnen auszugehen. Aber alles, was er im Augenblick in der Tasche hatte, waren fünf Pfund, der Rest vom letzten Zahltag. Nicht mal mehr ganze fünf Pfund. Ronald war direkt vom „Emerald“ hierhergekommen, wo er kürzlich einen Scheck über vierhundert Pfund ausgestellt hatte, den die Bank nicht einzulösen bereit war, da er nur noch ein paar Pennies auf seinem Konto hatte. Heute abend war er wieder hingegangen, hatte an der Tür seine Mitgliedskarte gezeigt und war eingelassen worden. Er hatte gehofft, daß er sich mit seinen fünf Pfund an der Bar einen Drink leisten und dem Spiel wenigstens zusehen könnte. 17
Der Pförtner sagte mit, wie ihm schien, unnötig lauter Stimme „Guten Abend, Mr. Ridley“, und dann umgaben ihn roter Plüsch und gedämpftes Licht. Als er auf die Bar zuging, näherte sich ihm ein schlanker, elegant angezogener Mann mit imponierend sicherem Auftreten und fragte leise: „Mr. Ronald Ridley, nicht wahr?“ Ronald nickte. „Ich muß Ihnen leider mitteilen, Sir, daß der Scheck, den Sie uns bei Ihrem letzten Besuch übergaben, von der Bank zurückgewiesen wurde. Sind Sie vielleicht jetzt in der Lage, die Sache in Ordnung zu bringen?“ Ronald blickte ihn an. Er war sich bewußt, daß er wie ein grüner Junge dastand, doch er versuchte zu bluffen. „Sie wissen doch sicherlich, wer ich bin.“ „Gewiß. Aber ich habe meine Instruktionen. Die Klubleitung kann Ihnen keinen weiteren Kredit einräumen, solange diese Schuld nicht beglichen ist. Es tut mir leid.“ „Ist das ein Rausschmiß?“ „Keineswegs, Sir. Sie sind Klubmitglied, und es steht Ihnen frei, sich hier aufzuhalten, doch natürlich gilt die Kreditsperre nicht nur für die Spielsäle, sondern auch für die Bar und das Restaurant.“ Ronald sah sich um. Es hatte keinen Zweck, dagegen anzugehen. Im Schatten des Raumes wartete ein Mann in dunklem Anzug, der sehr breite Schultern hatte. Er nickte und wollte gerade kehrtmachen, als der schlanke Mann sagte: „Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Sir – es ist unklug, sogar gefährlich, in Klubs wie diesem ungedeckte Schecks in Zahlung zu geben.“ Ronald errötete und ging. Das war eine unmißverständliche Anspielung darauf, daß er auch in „Veronica’s Kitchen“ einen ungedeckten Scheck ausgestellt hatte. Er sagte „Guten Abend“ zu dem Pförtner, in dessen ausdruckslosem Gesicht sich kein Muskel bewegte, blickte sich ein- oder zweimal um und atmete erleichtert 18
auf, als er den „Hungry Man“ mit seinem anheimelnden Gewühl von Gästen, dem freundlichen Klirren der Gläser und dem Rasseln der Kasse betrat. Glücksspiele waren was für Schwachköpfe. Jeder wußte das. Man brauchte sich nur die Gewinne der Spielsalons, sogar ganz ehrenwerter, zu vergegenwärtigen, um das zu begreifen. Natürlich gab es auch Spieler, die gewannen. Ronald hatte gesehen, wie sie Chips vor sich aufhäuften und dann mit ihrer Beute verschwanden. Das hatte ihn dazu verlockt, sich so viele Chips zu kaufen, wie man für den Anfang brauchte. Er hatte sich fest vorgenommen aufzuhören, sobald er etwas gewonnen hätte. Aber er gewann nicht. Höchstwahrscheinlich gehörten die Gewinner zu Finns Organisation, einige von ihnen todsicher. Er jedenfalls hatte laufend Pech, und es endete schließlich damit, daß er Schecks ausstellte, für die keine Deckung auf seinem Konto vorhanden war. „Trink aus und gieß dir noch einen auf meine Rechnung hinter die Binde“, sagte eine Stimme neben ihm. Fast seine Schulter berührend, stand ein Mann am Tresen, der ein paar Pfundscheine in der Hand hielt und darauf wartete, daß der Barmann zu ihm hinschaute. Es war eine Soho-Type, etwas zu flott gekleidet in einem Anzug von der Stange, nagelneuen Schuhen und einem dunkelblauen Filzhut, mager und gefährlich aussehend. Neben ihm lehnte ein größerer, schwergewichtiger Mann, der ebenfalls nach Unterwelt aussah. „Sohn von Ted Ridley, wie?“ fragte der Hagere. „Hab ich mir schon gedacht. Ted ist ein alter Kumpel von mir.“ Er warf einen Blick auf die Uhr. „Die machen hier gleich Schluß.“ In diesem Augenblick rief der Barmann: „Letzte Bestellungen, meine Herren. Letzte Bestellungen.“ „Zwei doppelte Whisky“, rief der Hagere und sah Ronald fragend an. Ronald nickte. „Also dann drei“, befahl er dem Barmann. 19
Der andere bestellte fast gleichzeitig drei neue Whisky. Ronald zögerte mit seiner Bestellung so lange, bis der Barmann sagte: „Tut mir leid, geht nicht mehr. Wir schließen.“ Draußen auf der Straße fragte der Hagere, der jetzt für Ronald „Charlie“ war: „Willst du nach Hoxton? Sollen wir dich da absetzen?“ Ihr schwarzer BMW parkte in einem Torweg neben einem Sexshop. Die beiden stiegen vorne ein, Ronald setzte sich nach hinten. Bisher hatte der schwergewichtige Mann noch kein Wort gesprochen. Er chauffierte, und von der ersten Minute an merkte Ronald, daß er vorzüglich fuhr. Er dirigierte den Wagen mit verwegener Sicherheit. Ronald machte eine lobende Bemerkung zu dem Hageren. „Ah, Dodger“, sagte der Hagere. „Klasse, was? Unser bester Türmer.“ „Türmer? Was ist denn das?“ Charlies verzweifelter Blick blieb für Ronald unsichtbar. „Mal unter uns: Er ist der Mann, der den Fluchtwagen fährt. Er reagiert blitzschnell. War früher Boxer. Kann den Schlitten rumreißen wie nichts und in die andere Richtung weiterrasen, während du noch wie irre auf die Bremse trampelst.“ „Schnauze“, knurrte Dodger. „Du redest zuviel.“ In Old Street hätten sie links abbiegen müssen, aber Dodger fuhr die Shoreditch High Street hoch und dann Bethnal Green Road entlang in Richtung Whitechapel. Als Ronald das merkte, sagte er: „He, wohin fahren wir denn?“ Keiner der beiden Männer antwortete. Ronald versuchte, die eine der hinteren Türen aufzureißen, dann die andere. Vergeblich. Auch die Fensterscheiben ließen sich nicht herunterkurbeln. Eine Falle. „Laßt mich raus! Laßt mich raus!“ schrie er und pack20
te dabei den Mantelkragen des Hageren, der vor ihm saß. Ein scharfes Schnappgeräusch, und ein Messer aus glänzendem Stahl erschien in Charlies Hand. Immer noch ohne ein Wort zu sagen, schob er die gefährlich aussehende Klinge vor, bis sie Ronalds Hand berührte. Ronald zog die Hand zurück. „Wohin bringt ihr mich?“ Seine Stimme zitterte. „Zu Jack Finn. Halt die Klappe.“ Finn. Jetzt war Ronald klar, daß er ganz schön in der Patsche saß. Jeder wußte, wer Finn war. Aber warum Finn? Was hatte er mit Finn zu schaffen? „Muß ein Irrtum sein“, sagte er nervös. Keine Antwort. Sie fuhren durch verschiedene Nebenstraßen, durch Elendsviertel, die aussahen, als hätten sie sich seit den Tagen, da Dickens seinen „Oliver Twist“ schrieb, nicht verändert, abgesehen von den erstaunlichen gelben, hell- und dunkelroten Anstrichen, die Einwanderer, meist Westindier, mit ihrem robusten Lebensgefühl und ihrem weniger heiklen Farbensinn den alten Häusern verpaßt hatten. Der Wagen hielt. Im Halbdunkel der Straßenbeleuchtung sah Ronald ein Gebäude vor sich, in dem einst – was er nicht wußte – die ersten Valentino-Filme und der erste Tonfilm „Sonny Boy“ gespielt worden waren. Seit dieser Zeit hatte die Funktion des Hauses oft gewechselt. Es war geschlossen, als Billardsalon neu eröffnet, wieder geschlossen, als Linkes Theater neu eröffnet, ein drittes Mal geschlossen und als Bingohalle wiedereröffnet worden, und jetzt hatte es Jack Finn übernommen. Nach außen hin gab es sich als ein Billardsalon, in Wahrheit war es Finns Hauptquartier. Die Polizei ließ sich hier nie blicken. Es war jetzt beinahe Mitternacht und nirgends Licht 21
zu sehen. Von irgendwoher sagte eine ruhige Stimme: „Alles klar.“ „Wenn du auch nur Piep machst …“, wandte sich Charlie an Ronald. Sie hatten Hände wie Stahlklammern. Er wurde eine bröckelige Zementtreppe hochgezerrt, zum Eingang der früheren „Plaza“, wo einst kleine Jungen an Samstagnachmittagen einen halben Penny bezahlt hatten, um sich die Heldentaten von Pearl White anzuschauen. Ein schwerer Vorhang wurde zurückgezogen, und Ronald sah, daß der Saal voller Menschen war. Mitglieder von Finns „Firma“, die gerade nichts anderes zu tun hatten, spielten in einem Nebel von Tabakrauch Billard oder Snooker und tranken Flaschenbier oder Schnaps. In einer Ecke saß, die Beine auf einem Tisch, der gefürchtetste Kriminelle Ostlondons und beobachtete die Szene. Ihn umgab jenes schwer zu beschreibende Fluidum, das allen Verbrechern seines Schlages gemeinsam war: dichter, intensiver als das eines Berufsboxers oder eines Fußballprofis, ganz anders als das eines gesetzestreuen Bürgers. Ein großer, muskulöser, Schrecken verbreitender Mann. In der „Plaza“ gab es mindestens ein halbes Dutzend ehemalige Boxer, die ihn in einem nach den Regeln ausgetragenen Match wahrscheinlich besiegt hätten, aber im East End kämpfte man ohne Regeln, und Finn hätte ohne weiteres zwei von ihnen gleichzeitig fertigmachen können, ohne selber auch nur eine Schramme davonzutragen. Sein Ruf als gefährlicher, durch nichts abzuschreckender Kämpfer hatte in der Londoner Unterwelt eine wichtige Rolle gespielt bei seinem Aufstieg zu der Schlüsselposition, die er jetzt innehatte. Er wurde ein Magnet für die verwegensten Londoner Gangster. Zudem war er ein hervorragender Organisator, mit einem 22
Gedächtnis wie ein Computer und mit einem gutbezahlten Braintrust. Jeder Angehörige der „Firma“, der verhaftet wurde, bekam die besten Anwälte, und wenn er dennoch hinter Gitter ging, wurde für ihn im Gefängnis und für seine Familie draußen vorbildlich gesorgt. Die Spielklubs „Emerald“ und „Veronica“ hatte Finn erst kürzlich gekauft. In geldlicher Hinsicht bedeuteten sie nicht viel für ihn, um so mehr aber im Hinblick auf neu zu knüpfende Kontakte. Allerdings hatte er etwas dagegen, daß sich Gäste „Unverschämtheiten“ herausnahmen. Spielkredit bekamen bei ihm stets nur solche Leute, die andere mitbringen konnten, die sich irgendwie als nützlich erweisen mochten. Als Ronald in den großen Saal mit der Bühne an einem Ende gestoßen wurde, schienen ihn die etwa zwanzig Mitglieder der „Firma“, die sich auf ihre Weise vergnügten, gar nicht wahrzunehmen, obwohl sie ihn in Wahrheit scharf beobachteten. Finn winkte Charlie und Dodger, sich etwas zu trinken zu holen; er blickte absichtlich an Ronald vorbei, der stehengelassen wurde, keinen Drink angeboten bekam und sich angstvoll fragte, was wohl als nächstes geschehen würde. Finn, der auch jetzt nur daran interessiert zu sein schien, was im Saal vor sich ging, begann ein Selbstgespräch zu führen: „Es gibt Typen, die verstehn einfach nicht, daß es zwei Sorten Menschen gibt – Schwachköpfe und reelle Leute. Sie gehn in einen Klub, und was finden sie da? Dicke Teppiche, schöne Frauen, mit Boi bezogene Tische, erstklassiges Essen, das die ganze Nacht durch serviert wird, höfliche Kellner – und sie glauben, das ist das Paradies. Wie können sie ahnen, daß dies Etablissement einem ganz gewöhnlichen Geschäftsmann aus dem East End gehört? Wie können sie ahnen, daß diese Klubs keine Selbstbedienungsläden sind?“ Er schien zu niemandem direkt zu sprechen. Sein ru23
higer Ton verstärkte die Drohung, die in seinen Worten lag. Ronalds Mund war ausgedörrt vor Angst. Alle tranken, nur er stand trocken da, Elfenbeinkugeln rollten über grünen Flanell, Karten wurden mit den dazugehörigen Ausrufen klatschend auf den Tisch geworfen. Ronald hatte eine Menge Bier getrunken, da Bier billiger war als Schnaps, und begann sich jetzt nervös hin und her zu winden, weil ihn seine Blase drückte. Die meisten der anwesenden Männer waren bullige Typen, und sogar die paar schlanken wie Charlie sahen gefährlich aus. Einige trugen die Spuren verlorener oder gewonnener Schlachten. Durch die Bank hatten sie „Jobs“: Finn sorgte dafür, daß sie sämtlich auf den Gehaltslisten verschiedener legaler Unternehmen standen. „Muß alles respektabel sein“, pflegte er zu sagen, „sonst macht’s ’n miesen Eindruck, wenn man euch mal hopp nimmt.“ Aber ihre eigentliche Aufgabe bestand darin, sich um Finns ausgedehnte „Schutz“organisation zu kümmern, Schutzgelder von Ladenbesitzern, Kneipiers, Wettbüros und dergleichen zu kassieren und die Summen an Finn abzuführen, nachdem sie ihren festgelegten Anteil abgezogen hatten. Natürlich gab es immer wieder Fälle, wo sich uneinsichtige Leute gegen den „Schutz“ sträubten. Dann war es Aufgabe der Firmenmitglieder, den Laden oder das Büro kurz und klein zu schlagen oder dem Besitzer auf andere Weise einzuheizen. Gewöhnlich aber war das nicht nötig. Eine Zahlung an Finn genügte, dann unterblieben alle anderen Versuche, durch Erpressung zu Geld zu kommen. Ronald hatte von diesen Organisationen gehört, war jedoch nie persönlich mit ihnen in Berührung gekommen. Jetzt hatte er nur ein Verlangen: zur Toilette zu gehen. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Mit lauter Stimme sagte er: „Ich mach mir gleich in die Hosen.“ 24
Ohne ihn anzusehen, antwortete Jack Finn: „Dann tu’s, du kleiner Stinker.“ Charlie goß geräuschvoll Bier aus einer Flasche in ein Glas. Das Plätschern brach die letzte Barriere. Mit übertriebenem Ekel sahen alle zu, wie sich um Ronalds Füße eine Pfütze verbreitete. „Bringt den Bubi in mein Büro“, sagte Finn. Er ging voran, quer durch den Saal, zwischen Tischen hindurch, ein paar Holzstufen hinauf, die auf die Bühne führten, und durch eine Tür im Hintergrund betraten sie einen luxuriös eingerichteten Raum mit Teppichboden, teurem Schreibtisch, teuren Sesseln und einer wohlassortierten Bar. „Du bleibst stehn“, befahl Finn Ronald. „In deinem Zustand ruinierst du mir nur die Sessel. Und halt Abstand zum Feuer, damit du nicht anfängst zu stinken.“ Finn liebte solche Auftritte. Sie erhöhten sein Machtgefühl und befriedigten seinen Sadismus, aber sie waren auch Taktik. Berichte über derartige Vorfälle, durch immer neues Erzählen abgeschliffen und verbessert, verdichteten die Atmosphäre von Gewalttätigkeit, die ihn umgab. Jeder, der einigermaßen Bescheid wußte, hatte davon gehört, daß Jack Finn eines Mittags in eine überfüllte East-End-Kneipe gegangen war und Paddy Malloy kaltblütig erschossen hatte. Kein Mensch war später bereit gewesen, vor Gericht als Zeuge gegen ihn auszusagen. Er sei nicht dort gewesen, erklärte Finn, und das Gericht war nicht in der Lage, ihm das Gegenteil zu beweisen. Zu den Legenden von Whitechapel gehörte auch die Geschichte, wie Finn Alf Tompkins in eine unterirdische Garage hatte bringen lassen, ihn dort eigenhändig bis zum Gürtel entkleidet und ihm mit einer echten neunschwänzigen Katze, wie sie einst in den Londoner Gefängnissen verwendet wurde, die Haut vom Rücken gepeitscht hatte. Das war die Strafe dafür gewesen, daß 25
Tompkins ein Mädchen vergewaltigt hatte, dessen Vater mit Finn Geschäfte machte. „Jack hat ’n guten Kern“, sagten manche Leute aus der Gegend, denn das East End verabscheute aus Tradition Sexualverbrechen und Verbrechen an Frauen. Diese Geschichten, ausgeschmückt und oft ganz und gar erfunden, gefielen Finn. Er genoß die Spannung, die in der Luft zitterte, wo immer er erschien. Jetzt saß er hinter seinem Schreibtisch und spielte mit einer Zigarette, die er nicht anzündete. Sein Anzug war dunkel und konservativ, wie immer von Harvey & Coll aus der Sackville Street, und weit genug geschnitten, um Schulterhalfter und Messer zu verbergen. Das Gerücht wollte wissen, daß Finn ein Hemd niemals zweimal trug. Sein Gesicht war ruhig und undurchdringlich; er hatte es Ronald zugewandt und starrte ihn an, offenbar ohne ihn wahrzunehmen. Dodger stand mit dem Rücken zur Tür, und Charlie saß mit einer Pobacke auf der Ecke des Schreibtischs und überlegte, was der Captain vorhaben mochte. Finn schwieg lange Zeit. Ronald konnte nur warten. Es war sinnlos, zu sagen, daß sie kein Recht hatten, ihn hier gefangenzuhalten. Er fürchtete, daß wahrscheinlich alles, was er vorbringen würde, falsch war. Finns Hand fuhr unter sein Jackett und kam mit einem Klappmesser wieder hervor. Es klappte auf, und er legte es so auf den Schreibtisch, daß seine gefährlich aussehende scharfe Stahlschneide Ronald zugekehrt war. Ronalds Körper schien vom Kehlkopf abwärts zu erschlaffen. Finn blickte abwechselnd auf das Messer und dann wieder auf Ronald und schüttelte kummervoll den Kopf. „Ted Ridleys Junge“, sagte er mit gespielter Trauer. „Ted Ridleys Junge. Und was hast du zu deiner Entschuldigung vorzubringen?“ 26
Ronald hörte, wie seine Stimme als heiseres Krächzen aus seinem Munde kam: „Entschuldigung wofür?“ „Tut so, als hätte er keine Ahnung“, sagte Finn zur Luft. „Unverschämt und außerdem niederträchtig. Das ist die heutige Jugend!“ Er machte eine Pause, um seinen Spott auszukosten, bevor er mit einer Miene geduldiger Resignation weitersprach. „Als du mich um den Zaster geprellt hast, wär es mir nie auch nur im Traum eingefallen, diesen Betrug mit einem ehrlichen alten Knochen wie Ted Ridley oder seinem Sohn in Verbindung zu bringen. Ich ließ die Sache überprüfen, und was kam raus? Millionärssohn bestiehlt einen armen, schwer arbeitenden Mann, der in der Unterhaltungsbranche sein bescheidenes Auskommen zu finden versucht.“ „Wovon reden Sie eigentlich?“ „Tu nicht, als ob du keinen blassen Dunst hättest. Das nützt dir nichts. Jeder in London weiß, daß der arme alte Jack Finn, der ein Leben lang geknappst und geknausert hat, sein ganzes Geld ins ‚Emerald‘ und ins ‚Veronica‘ gesteckt hat.“ Er fuhr mit der Hand in die Hosentasche und warf die zwei von Ronald ausgestellten Schecks auf den Schreibtisch. „Makulatur“, sagte er mit klagender Stimme und genoß seine Rolle. „Ich wußte nicht, daß die Klubs Ihnen gehören.“ „Hört, hört. Spielt’s denn eine Rolle, wem sie gehören? Eins war doch klar: einer würde das Opfer deines Betrugs sein. Vielleicht eine arme alte Witwe.“ Charlie unterdrückte nur mit Mühe einen Lachanfall und murmelte: „Tut mir leid, Captain.“ „Da gibt’s nichts zu wiehern, Charlie. Es ist ungeheuerliche stinkende Niedertracht. Geh raus, sieh nach, ob Tom noch da ist, und bring ihn rein.“ 27
Keiner sprach ein Wort, bis Charlie wieder hereinkam, gefolgt von einem Mann, der sagte: „’n Abend, Captain, ’n Abend, ihr alle.“ Er hielt ein Blatt Karten in der Hand und hatte das Gesicht zur Seite gewandt. „Nicht so schüchtern, Tom“, sagte Finn. „Komm, zeig dem Herrn hier deine kosmetische Behandlung.“ Tom zeigte seine rechte Wange. Durch sie zogen sich zwei tiefe weiße Narben bis zum Kinn hinunter. „In Ordnung, Tom. Das war alles.“ Finn wandte sich wieder an Ronald. „Das passierte, bevor Tom zu unsrer Firma kam. Weißt du, was mit dem Typ wurde, der das getan hat? Wir klemmten seine Hand in einen Schraubstock und zogen den immer weiter an. Jetzt zum Geschäft: Wann krieg ich meine siebenhundert Piepen?“ „Ich hab nicht mal drei Pfund.“ „Erzähl das deiner Großmutter. Deinem Alten gehört doch die Ridley GmbH!“ Ronald lachte bitter. „Der stirbt noch vor Geiz. Wir müssen alle für einen Klacks in seinen Scheißbüros arbeiten. Ich verdiene nicht mehr als ein kleiner Büroangestellter.“ Finn klopfte gegen seinen Kopf. „Deine Blödheit, mein Freund. Dein Problem ist, wie du mir meine siebenhundert zurückzahlst. Mach lange Finger. Fälsch Pappas Unterschrift. Kauf ein Auto auf seinen Namen und verscheure es. Es gibt tausend Wege, zu Kleingeld zu kommen. Aber es ist deine Sache, dir darüber den Kopf zu zerbrechen.“ Er nahm sein Messer und klappte es zu. Ronald atmete wieder. Finn drückte auf den Griff, sah zu, wie es aufund zuklappte. Angstvoll verfolgte Ronald jede seiner Bewegungen. Finn erhob sich. „Hör zu, Ridley“, sagte er. „Niemand kann Jack Finn nachsagen, daß er kein Verständnis für jemand hätte, der in Schwierigkeiten ist. Ich bin großzügig.“ 28
Er machte eine Pause. „Ich laß dir einen Monat Zeit, das Geld aufzutreiben, und ich verlange nicht mal Zinsen. Fairer geht’s wohl nicht.“ Wieder eine Pause, während er das Messer erneut auf dem Schreibtisch kreiseln ließ. „Aber ich möchte nicht, daß du mein Entgegenkommen mißverstehst. Gutherzigkeit wird meistens ausgenützt, finde ich.“ Er warf die noch immer unangezündete Zigarette in den Kamin. „Deshalb, nur um dir klarzumachen, daß ich es ernst meine, werde ich dir einen kleinen Schnitt im Gesicht beibringen.“ Ronald stieß einen schrillen Schrei aus und machte einen Satz zur Tür hin. Der Atem stockte ihm, als Dodgers Faust ihn in den Solarplexus traf und zurückstieß. Nach Luft ringend, versuchte er zu schreien: „Nein, nein.“ Charlie half, ihn festzuhalten, und sagte: „Schnauze, du Mistkerl.“ „Halt seinen Kopf fest“, befahl Finn. „Also, Ridley“, fuhr er fort, und seine Lippen bewegten sich im Vorgenuß des Kommenden. „Wackle nicht, damit mir die Hand nicht ausrutscht. Es wird ein ganz kleiner Schnitt, nur zur Erinnerung. So was wie ’n Knoten im Taschentuch. In einer Woche ist nichts mehr davon zu sehen. Bloß um dir zu zeigen, daß es mir ernst ist. Und wenn ich nicht binnen vier Wochen die siebenhundert kriege, verpasse ich dir ein paar Straßenbahnschienen wie die von Tom. Haltet ihn fest“, sagte er plötzlich. Ronald fühlte einen Druck auf seiner Wange und dann einen kurzen scharfen Schmerz. Sie ließen ihn los. Er fuhr mit der Hand in sein Gesicht. Die Hand wurde blutig. 29
„Setz den Scheißer an der Kingsland Road ab“, befahl Finn Charlie. „Hier. Willst du was trinken?“ Er schob Ronald seinen Gin hin. Ronald trank ihn aus. Der Krieg hatte den Grundstein zu Edward Ridleys Reichtum gelegt, und der Reichtum hatte ihn aus einem ganz gewöhnlichen Ostlondoner in einen Geizkragen verwandelt. Er hatte keine Ahnung, was man mit Geld anfangen konnte, außer mehr Geld damit zu machen. Geldmachen wurde bei Ridley zur Besessenheit. Bis zu jenem Sonntagmorgen, an dem Neville Chamberlain voller Trauer verkündete, Hitler habe sein Vertrauen enttäuscht, hatte sich Edward Ridley seinen Lebensunterhalt auf den Märkten und durch Gelegenheitsarbeiten verdient. Der Krieg stellte ihn vor ein Problem: In seinem Alter würde er mit zu den ersten gehören, die man einzog. Aber im East End stiegen nur Trottel in die Uniform. Abgesehen von physischer Untauglichkeit, gab es nur zwei Wege, dem Militärdienst zu entgehen. Die erste Möglichkeit war, im Jargon der Zeit gesprochen, „u.k. gestellt“ zu werden, und das wurde man, wenn man eine Arbeit nachweisen konnte, die kriegswichtig war. Die andere Möglichkeit bestand darin, „unterzutauchen“, ein Mensch ohne Adresse, ohne Lebensmittelkarten, ohne Sozialversicherung zu werden, einfach aufzuhören, offiziell zu existieren. Niemand im East End würde einen solchen Menschen an die Polizei verraten. Jemand bei den Bullen zu „verpfeifen“ war eine Todsünde, vergleichbar etwa den blutschänderischen sexuellen Exzessen eines Papstes. Aber als Untergetauchter lebte es sich recht unbequem, es sprang nichts dabei heraus, und man lief ständig Gefahr, bei einer Razzia in den Kneipen gefaßt zu werden. Nachdem die Fleischrationierung eingeführt worden war, hatte Ridley eine Quelle für den Bezug von ge30
fälschten Fleischmarken entdeckt und sie einem Freund weitervermittelt, der von Beruf Fleischer war, einem gewissen Charlie Hopkins. Als Gegenleistung hatte ihn Hopkins in seiner Schlächterei angestellt. Hopkins beantragte Ridleys u.k.-Stellung mit der Begründung, die Fleischversorgung sei kriegswichtig. Doch sich selber u.k. stellen zu lassen, gelang Hopkins nicht, und an dem Tag, an dem er einrücken sollte, verschwand er im Ziegel- und Betondschungel Ostlondons. Ridley und Mrs. Hopkins führten das Geschäft weiter und versahen Charlie mit Geld, doch das größere Problem war, daß jeden Augenblick auch Ridleys Einberufungsbefehl kommen konnte. Er ließ seine Bekannten wissen, daß er sich Sorgen machte, und eines Tages faßte ihn ein alter Kumpel, der gerade aus einer Kneipe kam und einen äußerst wohlbetuchten Eindruck machte, beim Jackettaufschlag. „Hallo, Sid“, sagte Ridley. „Weißt du irgendwas?“ „Nicht genau, Ted. Komm mit, einen trinken.“ An der Bar sagte Sid: „War ganz schön dämlich vom alten Charlie Hopkins, sich drankriegen zu lassen, nicht wahr.“ Ridley trank einen Schluck Bier und sagte: „Um dir die Wahrheit zu gestehn, mir ist auch ziemlich mulmig zumute. Ich steh nur etwas tiefer im Alphabet als er. Weißt du was?“ „Meinst du’s ernst?“ „Na und ob! Sieh dir die an!“ „Die“ waren zwei frisch eingezogene Männer in steifen Khakiuniformen, rauh wie Pferdedecken, mit nagelneuen Webgürteln, unbequemen Käppis und schweren Tornistern. Sid starrte zur Decke hoch und murmelte zwischen den Zähnen: „Kannst du zweihundert lockermachen?“ „Erzähl mir mehr.“ 31
„Geht nicht. Schweigen ist Gold. Ich kenn da jemand, der könnte dafür sorgen, daß deine Akte verlorengeht. Nicht wirklich verlorengeht, sondern ’n Stempel kriegt, ‚Zurückgestellt‘ oder so was, und dann hörst du nie wieder was von der Armee.“ „Hast du das auch getan?“ „Hat mich ’n Hunderter gekostet.“ „Aber du verlangst zweihundert.“ „Na und? Ich kann schließlich nicht umsonst arbeiten. Aber ich bin bereit, mit dir halbe-halbe zu machen bei jedem neuen Kunden, den du mir bringst.“ „Dein Ernst?“ „Hundertprozentig. Du weißt, wo ich wohne. Wenn ich versuchen sollte, dich anzuschmieren, brauchst du ja bloß der Polente zu stecken, daß an meiner Akte was nicht koscher ist, nicht wahr.“ Ted Ridley blieb in Hopkins’ Laden. Es war wie eine Lizenz für das Drucken von Banknoten. Die Fleischrationierung hatte einen riesigen schwarzen Markt zur Folge. Pfundscheine wurden stillschweigend über den Ladentisch geschoben und dafür Fleisch unter dem Ladentisch hervorgeholt. Natürlich mußte Mrs. Hopkins versorgt werden, und alle paar Wochen rief Charlie Hopkins an und verlangte Geld. Aber keiner von beiden konnte Edward Ridley auf die Finger sehen, und bei Kriegsende, als er Charlie den Laden wieder übergab, gehörten ihm selber zwei Läden in anderen Bezirken Londons, die von Geschäftsführern geleitet wurden. 1950 besaß er bereits fünf Läden. Die Kassiererin des fünften Ladens war ein blasses Mädchen mit einem Puppengesicht, das Winifred hieß. Er gewöhnte sich an, donnerstags mit ihr auszugehen, an dem Tag, da früher geschlossen wurde, und manchmal auch sonntags, aber das nicht allzuoft, denn es blieb einem nicht allzuviel freie Zeit übrig, wenn man fünf Läden beaufsichtigen 32
und darauf achten mußte, daß man von seinen Angestellten nicht übers Ohr gehauen wurde. Winifred wurde schwanger. Sie heirateten. Die Tochter Mary wurde geboren. Ted legte sich neue Läden zu. Der Sohn Ronald wurde geboren. Ridleys Fleischimperium wuchs und gedieh. Schließlich gehörten ihm hundertfünfzig vor Fleisch überquellende Läden in allen Teilen Englands, und er hatte bereits mehrere Übernahmeangebote großer Firmen abgelehnt. Der Laufjunge aus Hoxton war Millionär geworden. Er blieb in Hoxton wohnen, weil er sich darüber klar war, daß er sich in einer vornehmeren Wohngegend wie ein Fisch auf dem Trockenen fühlen würde. Aber auch in Hoxton war er weder Fisch noch Fleisch. „Ehrlich“ verdientes Geld hatte den einstigen Proleten verwandelt. Der Ton der Gespräche änderte sich, wenn er, was ziemlich selten geschah, in seiner Gegend eine Kneipe betrat. Die nervöse Spannung, in der er lebte, hing auch mit solchen für ihn mysteriösen Dingen wie Computern und elektronischer Datenverarbeitung zusammen. Bis zu einem gewissen Punkt war es möglich, eine große Ladenkette allein mit Erfahrung, gesundem Menschenverstand und Wachsamkeit zu leiten. Aber allenthalben hörte er von neuen Methoden, Bestellungen per Computer und Computer-Buchhaltung, von Delegierung der Verantwortung, Ausnutzung der Handelsgesetze und Steuerhinterziehung – eine ganze neue Welt, die ihm wegen seiner Unwissenheit und seiner Knauserigkeit verschlossen blieb. Seine Unsicherheit wuchs. Winifred Ridley lag im Bett und wehrte sich erfolglos gegen das Wachwerden. Neben dem Schlafzimmer lag das Badezimmer, Teds architektonisches Zugeständnis an sie, doch seit dem Umbau hatte sie jeden Tag bedauert, daß ihre Forderung erfüllt worden war. In diesem 33
Badezimmer spritzte, prustete, krächzte Edward Ridley und gab noch eine Reihe anderer Geräusche von sich. Er war in einem Milieu aufgewachsen, wo der Besuch eines öffentlichen Bades ein recht seltenes Ereignis war, wo man das Hemd einmal in der Woche wechselte und die Kragen aus Zelluloid waren, wenn man überhaupt welche trug. Sein eigener Vater hatte Kragen nur zu Hochzeiten, Begräbnissen und ähnlichen Gelegenheiten getragen. Ridley hielt immer noch an dicker Unterwäsche fest, aber kragenlose Hemden gab es schon lange nicht mehr, und er zog jetzt täglich ein frisches Hemd an. Winifred, darüber nachdenkend, sagte sich, das hänge sicherlich mit dem zusammen, was sie unlängst herausgefunden hatte. Edward Ridley war ihr untreu. Er hatte, wie die Leute im East End zu sagen pflegten, da etwas nebenbei, etwas in Reserve, eine Geliebte. Ridley steckte den Kopf durch den Türspalt. Das Gesicht unter dem gesträubten eisengrauen Haar war mit dichtem Seifenschaum bedeckt, bis auf die Stelle, wo der Schnurrbart durchstieß, und in der Hand hielt er ein Rasiermesser, das er, wie sie genau wußte, seit ihrer Heirat benutzte. „Es wird spät“, sagte er. „Ich fahr heut nicht rein.“ „Schon wieder nicht? Warum?“ „Ich will nicht. Genügt das nicht? Ich habe Lust, den Morgen im Bett zu verbringen. Wir haben so viel Geld – warum soll ich es mir da nicht ein bißchen angenehm machen?“ „Wessen Geld ist das? Sei nicht albern.“ Dann hörte sie das Kratzen des Rasiermessers. Er hielt nichts von Rasierapparaten. Er behauptete, sie rasierten nicht richtig, aber sie wußte, warum er sich keinen kaufte: weil ihm jeder Penny leid tat, den er nicht 34
wieder ins Geschäft stecken konnte, um noch mehr Geld zu machen. Wenigstens hatte das Haus seit einiger Zeit Doppelfenster. Jemand hatte ihn überzeugt, daß man dadurch Geld für die Heizung sparte; aber der Verkehrslärm der Kingsland Road war trotzdem zu hören. Nach der Geburt des zweiten Kindes, Ronalds, hatte sie ihren Mann dazu zu bewegen versucht, aus der Holford Road wegzuziehen, einer jener Straßen mit einförmigen Reihenhäusern aus gelben Ziegeln – jedes Haus hatte zwei Zimmer im Erd- und zwei Zimmer im Obergeschoß –, die man im vorigen Jahrhundert für die wachsende Armee der Industriearbeiter errichtet hatte. Sie waren abscheulich häßlich, ohne den mindesten Komfort, hatten keine Badezimmer und Toiletten auf dem Hof. Ted war in so einem Haus geboren worden und hatte sein ganzes Leben darin verbracht. Im Krieg, als das East End schwer bombardiert wurde, konnte man diese Häuser für etwa den gleichen Betrag kaufen, den sie hundert Jahre zuvor gekostet hatten; also erwarb er die Häuser, die links und rechts an sein Geburtshaus angrenzten, und weigerte sich hartnäckig, umzuziehen. Als Grund gab er an, er sei und bleibe nun mal ein East-Ender, ein echter Prolet. „Es geht nichts übers East End“, war seine ständige Redensart. „Im East End kümmert sich einer um den andern.“ Durch eine im East End ansässige Firma ließ er die drei Reihenhäuser zu einem Haus umbauen. Brandmauern wurden niedergerissen, zwei Badezimmer eingebaut, und ein großes, Wohnzimmer entstand, das nach Cockneygeschmack pseudoorientalisch eingerichtet wurde. Die an Gefängnisse erinnernden Ziegelmauern wurden verputzt. Das Haus war ein architektonisches Monstrum und wurde von den Nachbarn Ridleys Ritz und manchmal auch Ridleys Tollhaus genannt. 35
Winifred hörte Teds Stimme aus dem Badezimmer. „Daß ich mein ganzes Leben lang geschuftet habe, um etwas Geld zu machen, ist für euch noch lange kein Grund, faul auf eurem Arsch zu sitzen. Keine Arbeit, kein Geld, das ist nun mal so im Leben.“ „Ach, halt doch um Gottes willen den Mund.“ Sie stopfte sich ein zweites Kissen unter den Kopf. „Wie oft müssen wir uns diese Platte noch anhören? Was hättest du denn damals ohne mich angefangen? Und jetzt läßt du die Kinder für dich schuften, als wären sie nicht dein eigenes Fleisch und Blut …“ „Hätten sie’s denn woanders besser?“ „Das hab ich auch schon oft genug gehört. Ich hab genausoviel Recht auf das Geld wie du.“ „Pah! Was warst du denn schon?“ Er kam halb rasiert zur Tür. „Eine Ladenkassiererin mit fünf Pfund Wochenlohn.“ Er ging ins Bad zurück. Winifred betrachtete sich in dem Spiegel, der ihr gegenüber an der Wand hing. Auch wenn sie von der Gazehaube absah, die sie im Bett trug, um ihre Frisur zu schützen, mußte sie zugeben, daß nicht viel von dem flotten, hübschen Ding übriggeblieben war, das Edward Ridley vor dreißig Jahren angezogen hatte, als er den Laden übernahm, in dem sie angestellt war. Und auch daran war er schuld. „Und was bin ich jetzt?“ schrie sie. „Die Frau eines Millionärs, und muß um jeden Penny betteln. Ich sollte es in die Zeitung bringen, wie du mich behandelst. Fleischmillionär läßt seine Familie darben. Nette Schlagzeile, was?“ „Mach dich nicht lächerlich. Glaubst du, die Zeitungen wollen meine Inserate verlieren?“ Winifred wußte selber, wie töricht die Idee war. Es machte sie ganz verrückt, daß er immer die Oberhand behielt. Aber vielleicht in Zukunft nicht mehr. Sie überlegte, wie sie die Stunden bis zum Mittag 36
verbringen sollte. Um ein Uhr würde sie sich mit dem Detektiv treffen. Ihr mageres Gesicht starrte ihr aus dem Spiegel entgegen, mit Falten der Unzufriedenheit und einem Teint, der durch mangelnde Pflege und falsche Ernährung verdorben war. „Also!“ kam Ridleys Stimme aus dem Badezimmer. „Ich bin fertig. Mach hin, wenn du im Auto mitfahren willst!“ „Ich hab dir doch gesagt, Ted, ich komm heut nicht mit. Ich will noch etwas liegenbleiben. Wenn du ein guter Ehemann wärst, würdest du mir das Frühstück ans Bett bringen.“ Er antwortete nicht, zog sich weiter an, kämmte sich, stieg in seine Hosen, die er immer noch mit Hosenträgern trug und in denen lange Unterhosen steckten. Nicht gerade ein Adonis, dachte Winifred. Aber das spielte keine Rolle bei Männern, die Geld hatten. Die Läden in allen Teilen Englands, die er angeblich persönlich inspizieren mußte! Wer weiß, vielleicht hatte er in jeder Stadt eine – sie würde sich nicht darüber wundern! Ihr Argwohn war erwacht, als er den Laden in Leeds besucht hatte. Der Geschäftsführer in Leeds hatte angerufen, weil irgendein Problem aufgetaucht war, und sie hatte den Anruf entgegengenommen. Dabei stellte sich heraus, daß Ridley zeitig genug aus Leeds abgefahren war, um abends wieder in London zu sein. Aber er war nicht nach Hause gekommen. Sie hatte versucht, ihm nachzuspionieren, doch das führte zu nichts. Einmal hätte er es fast gemerkt, daß sie ihm folgte. Ridley war fertig. Winifred lag da, die Augen fast geschlossen, aber so, daß sie immer noch seine untere Hälfte sehen konnte. Er ging noch einmal ins Badezimmer. „Also dann“, sagte er eine Minute später. „Angenehme Bettruhe, meine Liebe.“ 37
Ein Strahl kalten Wassers ergoß sich über sie und gleich darauf ein zweiter. Sie fuhr hoch, geschockt, verstört, und sah ihren Mann mit zwei leeren Zahnputzgläsern neben dem Bett stehen. „Ich wollte es dir nur gemütlich machen“, höhnte er. Erst nach langem Zögern hatte sich Winifred entschlossen, die Dienste eines Privatdetektivs in Anspruch zu nehmen. Es war, ganz abgesehen von den Kosten, ein Schritt, der wohlbedacht sein wollte. Aber schließlich hatte sie etwas von dem Geld hervorgeholt, das sie vom Haushaltsgeld abgezweigt hatte, das Branchentelefonbuch genommen und einen Detektiv mit einem angenehm klingenden Namen gewählt – Mr. Nicholson. Sie war auf einen jener lautmäuligen, trinkfesten, abgebrühten Privatdetektive gefaßt gewesen, wie man sie im Fernsehen serviert bekam, aber Mr. Nicholson war ganz anders. Als sie ihn sah und sprechen hörte, wußte sie sofort, daß sie es mit einem „echten Gentleman“ zu tun hatte. Er war ein großer, gutaussehender Mann mit graumeliertem Haar und leichtem Bauchansatz, der ihm eine höchst imponierende Haltung verlieh. Dennoch hätte sie die ganze Sache beinahe fallengelassen, als sie entdeckte, daß sein Büro aus einem einzigen Raum in einem schäbigen Haus in einer Nebenstraße der Shaftsbury Avenue bestand, aber er zerstreute ihre Bedenken sofort. „Ich brauche dies Büro nur als postalische Adresse“, sagte er mit seiner wohlklingenden Stimme, „und fürs Telefon. Ich denke, es ist angenehmer, wir gehen rasch über die Straße in ein sehr nettes, kleines Restaurant, ganz dicht beim Leicester Square.“ Winifred sah, daß er irischen Whisky trank, und hielt Schritt mit ihrem Lieblingsgetränk, Gin mit Tonic. Sie war etwas – eigentlich mehr als nur etwas – erstaunt gewesen über die Summe, die er zuzüglich Spesen 38
von ihr forderte, aber als diese Frage aufs Tapet kam, hatte sie bereits einiges getrunken und war nicht in der Stimmung zu feilschen. Am Nachmittag vor dem Morgen, an dem Ridley das Wasser über sie ausgoß, hatte Mr. Nicholson sie angerufen und mit ihr für den nächsten Tag, dreizehn Uhr, eine Verabredung getroffen, und deshalb hatte sie ihrem Mann erzählt, sie wolle im Bett bleiben. „Ja oder nein?“ Sie konnte nicht anders, sie mußte diese Frage am Telefon stellen. „Es tut mir leid, Mrs. Ridley: ja.“ Seitdem hatte sie hin und her überlegt, welchen Gebrauch sie von dieser Information machen sollte. Sie empfand keine Eifersucht, nur Neid, daß Ted sich so etwas leisten konnte und sie nicht, Haß und das Verlangen nach Rache. Sie war jetzt fünfzig und passe, nachdem sie zwei Kinder geboren und ihm geholfen hatte, das Unternehmen aufzubauen. Das lasse ich mir nicht bieten, schwor sie sich. Erbittert stieg sie aus dem nassen Bett und machte sich für die Begegnung mit Mr. Nicholson sorgfältig zurecht. Da sie früher aufgestanden war, als sie eigentlich beabsichtigt hatte, blieb noch Zeit, zum Friseur und in einen Kosmetiksalon zu gehen. Aber das alles hilft der armen alten Win auch nicht mehr viel, dachte sie niedergeschlagen. Diesmal trafen sie sich auf Mr. Nicholsons Vorschlag in einem reizenden französischen Restaurant in Soho. Er schien die Sprache zu verstehen, und es war ganz erstaunlich, wie viele Gänge sie aßen, während er ihr von der anderen Frau erzählte. Er wußte seine Worte gut zu setzen, sprach langsam, klar, mit sanfter Stimme. „Ja, es tut mir leid, daß ich Ihnen das sagen muß, aber Ihr Gatte hat eine Geliebte. Hier sehen Sie sie zusammen.“ Er schob ein Foto über das gestärkte Tischtuch. Es 39
zeigte Ridley und eine junge Frau an einem Tisch sitzend, offenbar in einem teuren Restaurant. „Wie sind Sie dazu gekommen?“ „Ich habe es mit einer Taschenkamera und einem Spezialfilm aufgenommen.“ Winifred starrte auf das Foto. Eine richtige JamesBond-Sache. „Hübsche Person“, sagte sie, unfähig, ihren Neid zu verbergen. „Ja. Jung. Kastanienrotes Haar, nicht gefärbt. Schlank. Sehr schick. Weiß sich zu benehmen – besser als Ihr Gatte, muß ich gestehen.“ „Dazu gehört nicht viel.“ Der nächste Gang wurde serviert und eine Flasche Rotwein gebracht. Die lässige Art, wie Mr. Nicholson ihn kostete und dem Kellner zunickte, beeindruckte Winifred. „Sie wohnt in einer umgebauten Remise“, fuhr Mr. Nicholson fort, „in der Nähe von Notting Hill.“ „Was ist eine Remise?“ Mr. Nicholson brachte es fertig, nicht zusammenzuzucken. „Ein ehemaliges Kutschenhaus, wo ein Kutscher mit seiner Familie wohnte, über dem Raum für Wagen und Pferde, bevor das Zeitalter der Autos anbrach.“ „Also eine Art Stall.“ „So könnte man es nennen. Notting Hill war früher eine sehr noble Gegend, wo reiche Leute lebten. Sie zogen weg, ihre Häuser wurden vermietet und verwandelten sich sogar in Slums. Diese Kutschenhäuser lagen meist in schmalen Straßen mit Kopfsteinpflaster, und noch heute ist es dort still, kein Autolärm, was in London selten ist. Sie sind jetzt höllisch teuer, wenn man sie kauft, und wurden fast alle in elegante Appartements umgebaut.“ Er drängte sie, den gigot à la Bretonne zu kosten. Er roch nach Knoblauch, und sie verabscheute Knoblauch. 40
„Ja, Mrs. Ridley. Sie hat wirklich eine reizende Wohnung. Westland Mews elf. Klein, wie fast alle diese Appartements, aber höchst geschmackvoll und komfortabel eingerichtet; ohne Rücksicht auf Kosten, würde ich sagen. Das Badezimmer im Parterre ist türkis gekachelt und hat eine eingelassene Badewanne.“ „Wollen Sie damit sagen, daß Sie in der Wohnung drin waren?“ „Ja. Ich hielt das für nützlich.“ „Aber Sie haben doch nicht …“ Er lächelte. „Selbstverständlich nicht. Ich habe mich als Vertreter einer Institution ausgegeben, die eine Meinungsumfrage durchführt.“ Der Wein war gut, und er schlürfte ihn genießerisch. Er würde ihn unter Spesen verrechnen. „Als ihren Beruf gibt sie Schauspielerin und Fotomodell an. Ihr Künstlername ist Melissa Margrove. Eigentlich heißt sie Gladys Simkins. Sie hat nicht viel zu tun, ganz bestimmt nicht genug, um sich eine solche Wohnung und einen Triumph-Sportwagen leisten zu können, geschweige denn Kreditkonten bei Harrods und bei Fortnum & Mason in Piccadilly und möglicherweise noch weiteren Luxusgeschäften.“ „Fotomodell!“ fauchte Mrs. Ridley. „Ist das nicht das moderne Wort für Hure?“ „Was das betrifft“, sagte der unschlagbare Mr. Nicholson, „so scheint ihr einziger männlicher Besucher Mr. Ridley zu sein.“ Er nahm erneut Messer und Gabel zur Hand. „Kalt schmeckt Lamm scheußlich, Mrs. Ridley.“ Er aß mit Genuß, ließ keinen Gang aus, während sie in den ausländischen Gerichten herumstocherte und so zu tun versuchte, als schmeckten sie ihr. Das war im großen und ganzen alles, was er ihr mitzuteilen hatte. „Ich hielt es für unnütz, mehr Einzelheiten zu sam41
meln, Mrs. Ridley, solange Sie sich noch nicht entschieden haben, was Sie tun wollen. Brauchen Sie diese Auskünfte für eine Scheidung? In dem Fall wäre es sehr leicht, den Beweis für Ehebruch beizubringen.“ „Noch nicht. Vielleicht später. Ich muß mich erst mal erkundigen, wie meine rechtliche Lage ist.“ Er überreichte ihr die Visitenkarte eines Anwalts, mit dem er ziemlich eng zusammenarbeitete. „Sehr zuverlässiger Mann“, sagte er, „und meine Telefonnummer haben Sie ja.“ Als sie sich von ihm verabschiedete, war sie fest entschlossen, den Anwalt aufzusuchen, doch dann bekam sie kalte Füße. Sie wollte sich noch nicht festlegen. Anwälte waren überhaupt durch die Bank Gauner. Und sie mußte nachdenken. Außerdem hatten der viele Wein und etwas, das Pernod hieß und nach Anis schmeckte, sie lethargisch gestimmt. Zwei Tage später war sich Winifred Ridley immer noch nicht darüber im klaren, was sie mit der Information des Mr. Nicholson anfangen sollte, daß ihr Mann sich eine Geliebte hielt und sie mit all dem Luxus umgab, den er seiner eigenen Familie versagte. Das machte sie so nervös wie einen Trinker, der zwar Geld in der Tasche hat, aber nicht weiß, wo er was zu trinken auftreiben kann. Sie hatte sich früh aus dem Büro verdrückt, da Ridley an diesem Tag nach Oxford gefahren war; auf dem Nachhauseweg hatte sie in einem Restaurant eins ihrer Lieblingsgerichte gegessen – Aal grün mit reichlich Petersiliensoße und dazu Kartoffelbrei, mit Essig und Pfeffer besprenkelt. Sie hatte sich sogar zwei Portionen gegönnt. Jetzt saß sie vor ihrem Farbfernseher, die bestrumpften Füße auf einem weichen Lederkissen, neben sich ein großes Glas Gin Tonic, mit Eiswürfeln darin und einer 42
Scheibe Zitrone obendrauf. Behaglichkeit war auch ein Trost, wenn schon das Leben kein Vergnügen war. Die Türklinke klickte. Es hatte kein Auto unten gehalten, also konnte es nicht Ted sein. „Hallo, Musch.“ „Hallo, Ronnie. Du kommst so spät. Ich bin früher gegangen. Wenn die Katze aus dem Haus ist …“ Sie nahm einen kräftigen Schluck. „Hast du Hunger? Speck, Eier, Würstchen und ich weiß nicht was sonst noch sind im Kühlschrank.“ „Ich hab eigentlich eher Durst als Hunger, Musch. Hab ausgiebig Tee getrunken. Ist noch mehr von dem da?“ Er blickte auf ihr Glas. Das Barfach seines Vaters war verschlossen. „Wie üblich“, sagte er angewidert. „Ich hab etwas Gin beiseite gebracht, Ron. Aber du mußt hier im Zimmer bleiben. Wenn du erst mal raus hättest, wo ich ihn versteckt habe, wär nie mehr welcher da.“ Zu komisch, daß keiner aus der Familie je dahintergekommen war, wo sie ihren heimlichen Ginvorrat aufbewahrte. „Also bleib hier.“ Sie verließ das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Sofort war Ronald auf den Beinen. Dann hörte er, daß die Tür abgeschlossen wurde, und setzte sich wieder. Sie stieg die Treppe hinauf, machte auf halbem Wege kehrt, huschte auf Zehenspitzen wieder hinunter und lautlos zum Küchenschrank. Ganz hinten zwischen Besen, Mop und Flaschen mit Reinigungsmitteln stand eine Flasche mit der Aufschrift: VIP Hocheffektiver Toilettenrohrreiniger: Achtung Gift! Sie goß etwas Gin in ein großes Glas und ging genauso zurück, wie sie gekommen war. Zur Vorsicht machte sie ein Geräusch auf der Treppe. „Du bist ja eine ganz Schlaue“, sagte Ronald. 43
„War Mary noch da, als du gingst?“ fragte Winifred. „Natürlich. Sie wollte noch bleiben, um dem Alten zu helfen. Idiotisch.“ „Unterschätz sie nicht, Ron. In ihr steckt vielleicht mehr, als du denkst, mit ihren Konzerten, ihren Büchern und ihrer komischen Musik. Ich hab mir die Platte angehört, die sie sich gestern gekauft hat. Was von Beethoven. Klang überhaupt nicht wie Beat. Natürlich mach ich mir gar nichts aus Beat. Aber so ist sie: dreißig Jahre alt, und ich wette, sie hat noch nie einen Mann gehabt.“ „Na, ich glaube, wir hocken alle aus dem gleichen Grund noch hier. Er sollte ganz plötzlich tot umfallen, dann wäre allen geholfen.“ Winifred starrte in das „Kamin“feuer, ein sich endlos wiederholendes Muster lautloser künstlicher Flammen. „Knicker leben ewig.“ „Und selbst wenn er abkratzt, Musch, stellt sich sicherlich heraus, daß er den ganzen Zaster einem Heim für herrenlose Hunde hinterlassen hat, um uns eins auszuwischen.“ Winifred schüttelte den Kopf. „Nein, das kann er nicht.“ Sie merkte, daß die Worte undeutlich aus ihrem Munde kamen. „Was kann er nicht?“ „Das Geld einem Hundeheim hinterlassen.“ „Wieso bist du so sicher?“ „Weil …“ Sie schüttelte erneut den Kopf. „Er muß einfach alles mir hinterlassen.“ „Muß?“ „Zerbrich dir nicht den Kopf darüber. Er muß.“ Auf ihren Wangen zeichneten sich rosa Flecken ab. „Verdammt, Musch, du hast ’ne ganze Menge intus. Warst du zu einer Party?“ „Lächerlich, Party! Ich hab nicht einen Menschen in diesem ganzen Hoxton. Das verdanke ich alles den Ridley-Millionen. Wenn ich Leute zu einer Tasse Tee einla44
de, ziehn sie sich fein an – wenn sie überhaupt kommen. Sie lachen über uns, Ronnie. Ridleys verdammtes Tollhaus. Wir sitzen hier fest, und er hurt im Westend herum.“ Ronald blieb stumm. „Ja“, fuhr sie fort, nachdem sie noch einen Schluck genommen hatte. „Bei seiner Familie dreht er jeden Penny dreimal um, jagt uns alle zur Arbeit und verlangt, daß wir jeder unsern Teil zum Haushaltsgeld zugeben. Wir leben von Kantinenessen, haben nur zweimal in der Woche eine Putzfrau; sein eigenes Fleisch und Blut, Ronnie, mein Junge – sein eigenes Fleisch und Blut läßt er darben, und dabei hält er sich die ganze Zeit in Notting Hill was Junges, Knuspriges.“ Sie streichelte ihr Glas und starrte mit zusammengepreßten Lippen ins Feuer. Ronald hielt den Atem an. Er wollte sie nicht erschrecken, indem er Interesse bekundete, aber sie schien in einer Art Trance zu sein. „Das kannst du mir doch nicht weismachen“, spottete er. „Er würde nicht mal ein Pfund für einen Striptease mit einer Flasche Bier inklusive ausgeben.“ „Kannst’s mir glauben, Ronnie. Ehrenwort. Er hält sich ein Flittchen in einem umgebauten Stall – Westland Mews oder so. Umgibt sie mit Luxus. Kostet ein Vermögen.“ „Du spinnst.“ „Ich spinne nicht. Sie ist jung und schlank. Fotomodell. Modell! Hat sich so’n albernen Künstlernamen zugelegt – Margrove, Melissa Margrove.“ Sie sprach den Namen in einem Tonfall aus, den sie für den der feinen Leute hielt. Kostet ein Vermögen, dachte Ronald. Sie hatte recht. Er war mit einer ganzen Horde reicher junger Knilche, die er in einem Spielkasino getroffen hatte, auf einer Party in einer Wohnung in den Westland Mews gewesen. So ein Appartement war nicht unter 45
hunderttausend zu haben. Natürlich war es auch eine Geldanlage, aber das brauchte er ja seiner Mutter nicht zu erzählen. „Egal“, sagte er, „ich glaube es einfach nicht.“ Sie brabbelte weiter. „Es bringt mich auf die Palme, Ronnie. Von mir aus können sie ihn hängen. Vorgestern war mir nicht gut, und ich wollte im Bett bleiben. Und was tut er? Gießt mir kaltes Wasser ins Gesicht.“ „Musch, du spinnst da was zusammen. Was die Frau betrifft, meine ich.“ „Es stimmt, Ehrenwort.“ „Na, dann tu was. Du kannst ihn doch jetzt wie eine Zitrone ausquetschen. Und …“ Er hielt inne. Es war nicht so einfach. Wenn sie sich von seinem Vater scheiden ließ, was wurde dann aus ihm? Und aus Mary? Was würde seiner Mutter bleiben? „Ich weiß nicht, was ich tun soll“, sagte sie. Ronalds Hirn arbeitete blitzschnell. Die Ladenkette gehörte ganz allein Edward Ridley. Erst vor zwei Wochen hatte etwas von einem Übernahmeangebot in Höhe von zwei Millionen Pfund in der Zeitung gestanden, das Ridley abgelehnt hatte. Er sah zu seiner Mutter hin, die in ihrem Sessel leise hin und her schwankte. Wenn sie sich scheiden ließ, würde sie zweifellos immerhin so viel kriegen, daß sie davon leben konnte. Und dann? Ridleys „Junges, Knuspriges“ würde dann sehr bald Mrs. Ridley sein, wenn sie ihre Trümpfe richtig ausspielte. Es würde neue kleine Ridleys geben. O Gott. Und angenommen, seine Mutter rieb dem Alten unter die Nase, daß sie von der Frau in den Westland Mews wußte, unternahm aber dann nichts. Das hätte nur zur Folge, daß er seine Familie noch rüder behandeln würde als bisher. Der Alte hielt alle Trümpfe in der Hand, darum kam man nicht herum. 46
„Ich sollte vielleicht mit einem Anwalt sprechen“, sagte Winifred achselzuckend. „Tu nichts Überstürztes, Musch. Diese Hunde lassen dich ohne einen Penny auf dem trockenen sitzen. Er kann sich mehr juristischen Beistand kaufen als du. Sag ihm vorerst kein Wort. Du und ich, wir werden uns überlegen, was wir tun können.“ In der Stille, die jetzt eintrat, drangen schwach die ersten Klänge der „Enigma Variations“ ins Wohnzimmer hinunter. „Mary ist da“, sagte Ronald. Scheinwerferlicht fiel durch die Vorhänge, und ein Wagen hielt. „Das ist er, Musch. Keine Silbe zu ihm. Reiß dich zusammen. Er hat’s faustdick hinter den Ohren. Der ist ausgekocht. Ich flitze rauf in mein Zimmer.“ „Und ich geh schlafen.“ Edward Ridley mußte geschäftlich nach Devon fahren, und Ronald wußte, daß er auch wirklich fuhr und diese Reise nicht etwa erfand, um seine eigenen privaten Interessen zu verfolgen. Ronald beabsichtigte nicht, die Geliebte seines Vaters zu besuchen, aber der Gedanke, die Mews aufzusuchen, sich anzusehen, wo sie wohnte – die Wohnung, für die sein Vater zahlte – und vielleicht sogar die Frau kommen oder gehen zu sehen, hatte ihn nachts nicht schlafen lassen. Die Westland Mews verlief zwischen zwei breiten Straßen mit Läden, Kneipen, Pensionen und Häusern aus dem viktorianischen Zeitalter, die man in kleine Wohnungen aufgeteilt hatte. Sie war nur etwa sechs Meter breit und fünfzig Meter lang, mit einem Torbogen an jedem Ende, über dem sich ebenfalls Wohnungen befanden. Die mit runden Kopfsteinen gepflasterte Straße hatte in der Mitte eine Ablaufrinne, die in regelmäßigen Abständen mit Gullis versehen war. In einer Ecke gab es 47
einen granitenen Pferdetrog, aber sonst verriet kaum etwas, daß diese zweigeschossigen Häuser einst die Kutschen und Kutscher der Reichen beherbergt hatten. Sie waren vollständig modernisiert worden, hatten jetzt Ziegel- oder Rauhputzfassaden, neue Türen und Fenster in allen möglichen Stilen, die irgendwie miteinander harmonierten, zumindest was die Kosten betraf. Nummer 11 hatte eine rote Ziegelaußenwand und Fensterläden wie die eines alten Landhauses, die in Wirklichkeit aber aus gestrichenem Stahl bestanden. Efeu rankte sich an der Mauer hoch und betonte die ländliche Note. An der schwarzlackierten Tür waren eine Messingnummer und ein Türklopfer aus Messing angebracht. Davor, nur ein paar Handbreit von der Mauer entfernt, stand ein Auto, wie Ronald es sich erträumte – ein niedriges, langgestrecktes Kabriolett, ein roter TriumphSportwagen mit Rennrädern. Sein Vater war nicht in London, und die Frau, wenn es sie gab, kannte ihn nicht. Er schlenderte an dem Haus vorbei und sah, daß auf dem kleinen Messingschild an der Tür „Margrove“ stand. Das Auto hinderte ihn daran, dicht an die Fenster zu treten und mehr zu sehen. Als er wieder zurückschlenderte, studierte er die Vorzüge des Wagens, das hölzerne Armaturenbrett, die mit echtem Leder bezogenen Sitze, den automatischen Schalthebel. „Wollen Sie kaufen, verkaufen oder stehlen?“ fragte eine Stimme von oben herunter. Aus einem Fenster beugte sich eine junge Frau mit kastanienbraunem Haar, dem zarten Teint, der oft im Verein mit diesem Haar zu finden ist, grauen Augen, einem Lächeln, das kleine weiße Zähne freigab, und vollen, leicht aufgeworfenen Lippen. Ronald brauchte ein paar Augenblicke, um sich von seiner Überraschung zu erholen, aber seine Stimme klang ganz natürlich, als er sagte: „Ich bin neidisch. Ist das Ihrer?“ 48
Er streichelte die Haube des Triumph. „Ja, meiner.“ Er seufzte. „Ein Traum ist Wirklichkeit geworden, wenn auch nicht für mich.“ „Ein herrlicher Wagen.“ Ihre Stimme hatte einen angenehm tiefen Klang. Er seufzte erneut und zuckte die Achseln. „Na, dann …“ „Gehn Sie doch nicht weg“, sagte sie. „Würden Sie gern ein bißchen mit mir spazierenfahren?“ „Sehr gern.“ „Dann warten Sie ein paar Minuten an der Ecke, bis ich mich zurechtgemacht habe. Ich kann Sie nicht hereinbitten. Ich bin allein, und man hört so allerlei.“ Sie lachte. „Damit will ich nicht sagen, daß Sie einen zweifelhaften Eindruck machen. Ganz im Gegenteil. Ich bin gleich fertig.“ So bekam Ronald keine Gelegenheit, sich anzusehen, wie sein Vater das Geld ausgab, das er ihm hätte geben sollen. Aber allein das Haus und der Wagen sprachen schon Bände, und die Garderobe der jungen Frau, die jetzt aus der Tür trat, war ebenfalls nicht billig. Sie war sehr hübsch, klein, schlank und geschmeidig. Sie hielt mit dem Wagen unter dem Torbogen am Ende der Mews, ließ Ronald einsteigen und fuhr dann die Bayswater Road entlang. „Wie lange haben Sie Zeit?“ Er sah, daß sie besser chauffierte als er. Das war kein Wunder. Er hatte noch nie ein Auto besessen. „Den ganzen Tag.“ „Wie wär’s – wollen wir irgendwohin fahren und dort essen?“ „Wunderbar.“ Seine Hand wanderte unsicher zu seiner Hosentasche. „Aber es darf nicht viel kosten. Ich hab nur etwas über vier Pfund bei mir.“ „Keine Sorge. Ich bin nicht knapp bei Kasse.“ Nein, natürlich nicht. 49
An der Hand, mit der sie schaltete, trug sie einen goldenen Ehering. Nun ja, sie nannte sich Mrs. Margrove. Sie fing seinen Blick auf. „Wahrscheinlich fragen Sie sich, warum ich plötzlich einen Wildfremden bitte, mit mir auszufahren – wenn wir mal außer acht lassen, daß Sie sehr gut aussehen.“ „Nein. Darüber hab ich gar nicht nachgedacht. Aber wenn Sie es schon mal aufs Tapet bringen – warum also?“ „Weil mir in diesen verdammten Mews die Decke auf den Kopf fällt, wenn ich allein bin.“ „Allein?“ Er streckte die Hand aus und berührte leicht den goldenen Reif an ihrem Ringfinger. „Ach, das. Ach, zum Teufel. Wir machen uns jedenfalls einen schönen Tag.“ Das Wagendach war offen, und der von der Sonne erwärmte Wind blies durch ihr Haar, als sie durch den Wald von Epping zum Robin Hood fuhren. Sie bog in Richtung High Beech ab und fuhr über den unebenen Rasen, hielt an, damit sie das betrachten konnten, was von einer einst vollkommenen Landschaft übriggeblieben war, die zum fernen Fluß Lea hin abfiel. Ein über ihnen dahinziehendes Flugzeug ließ den Boden vibrieren. „Uns bleibt nicht mehr viel, nicht wahr?“ sagte sie erbittert und starrte auf die schwachen Auspuffstreifen hinter der riesigen Maschine. „Ich fahre sehr oft hierher und lasse den Wagen hier stehen, laufe durch den Wald zu der alten Jagdhütte, esse dort zu Mittag und laufe dann wieder zurück. Es ist ein sehr schöner Weg.“ Scheinbar ganz spontan setzte sie hinzu: „Und heute ist ein herrlicher Tag. Also, wie wär’s? Ein Spaziergang und Mittagessen in der Jagdhütte?“ Sie begegneten keinem Menschen, als sie den uralten 50
Weg entlanggingen, der durch die einstigen Jagdgründe keltischer und sächsischer Könige führte, wo Königin Boadicea die alten Briten zum Kampf gegen die römischen Eindringlinge aufgeboten hatte. Riesige glattstämmige Buchen reichten bis in den Himmel, und über den dichten Blättertriften flitzten andere Eindringlinge hin und her: die grauen nordamerikanischen Eichhörnchen, die in zweimal zehn Jahren ihre roten englischen Vettern vernichtet hatten. Die junge Frau schritt voran, biegsam und feingliedrig, und Ronald versuchte das immer wiederkehrende Bild auszulöschen, wie sein Vater mit seinem tabakfleckigen Schnurrbart und seinen rauhen Händen dieses zarte Geschöpf umarmte. Es war zum Verrücktwerden. Den letzten Teil des Weges, der durch die Ebene von Chingford verlief, gingen sie nebeneinander. „Was für ein herrliches Leben“, sagte er. „Den ganzen Tag frei, einen Wagen, keine Sorgen.“ „Was tun Sie denn beruflich?“ „Ich arbeite in einem Büro. Tag für Tag. Hab nie genug Geld, um mal richtig einen flottzumachen.“ „Haben Sie eine Freundin?“ „Keine feste.“ „Ah ja“, seufzte sie. „Ich glaube, jeder beneidet den andern. Sie sehen bei mir nur das schicke Haus, das Auto, das Geld, das ich ausgeben kann. Aber glauben Sie ja nicht, daß ich das für nichts kriege.“ Ronald wartete gierig auf ihre nächsten Worte. Voller Bitterkeit fuhr sie fort: „Ich bin so richtig ein Vogel in einem goldenen Käfig – zweiundzwanzig Karat. Mein Mann ist reich. Ich seh ihn nicht sehr oft, aber er ist unheimlich eifersüchtig.“ „Verständlich.“ Sie blickte ihn scharf an. „Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle. Sie könnten ja ohne weiteres ein Privatdetektiv sein, den 51
er beauftragt hat, mich zu kontrollieren. Ich traue niemandem über den Weg.“ Ronald mußte an die Enthüllungen seiner Mutter denken. Wie war sie dahintergekommen, daß sein Vater diese Frau aushielt? Sie mußte einen Detektiv beauftragt haben. Warum also sollte der Alte sich die Gewißheit, daß man ihn nicht betrog, nicht etwas kosten lassen? „Niemand zahlt mir etwas, damit ich Sie beschatte. Aber ich wäre umgekehrt durchaus bereit, für dieses Vergnügen zu zahlen, und hier kriege ich es umsonst.“ Doch unwillkürlich warf er einen Blick zurück. Zwischen ihnen und dem eine halbe Meile entfernten Waldrand war außer einem kleinen Jungen niemand zu sehen. „Na, wenigstens machen Sie hübsche Komplimente“, sagte sie. „Wie heißen Sie?“ „Paul. Paul Fisher.“ Er hatte den Namen fertig auf der Zunge. „Und Sie, Mrs. Margrove?“ „Woher wissen Sie, daß ich Margrove heiße?“ Sie war erneut argwöhnisch. „Wenn Sie Ihren Namen geheimhalten wollen, dürfte er nicht an Ihrer Haustür stehen.“ „Na, Sie sind wirklich ein scharfer Beobachter. Ich heiße Melissa.“ „Melissa Margrove. Mmmmm. Klingt fast zu schön, um wahr zu sein.“ „Danke. Und dort ist das Restaurant – gleich neben der alten Jagdhütte. Von dort ritt Heinrich der Achte eines Tages auf die Jagd, und da hörte er die Kanonen schießen, zum Zeichen, daß seiner Frau auf seinen Befehl der Kopf abgeschlagen wurde. So sind die Männer!“ Melissas Bildung imponierte Ronald. Wie konnte er wissen, daß sie einen großen Teil ihrer Zeit mit der Lektüre von „Gutes Benehmen“ und „Was man in Restaurants bestellt“ verbrachte? Bei Tisch flüsterte sie ihm zu: „Sagen Sie dem Kellner: ein Chateaubriand mit einer gebackenen Kartoffel und 52
als Nachtisch Stiltonkäse. Ich hätte gern Rotwein – sie haben hier einen sehr anständigen Chateauneuf du Pape. Bitten Sie ihn, den Wein warm zu servieren. Und als Aperitif für mich einen Pernod.“ Es war ein einfaches, aber perfektes Mahl – einfach in Anführungsstrichen. „Sie brauchen nicht zu antworten, wenn Sie meinen, ich nehme mir zuviel raus“, sagte er, nachdem er die Bestellungen aufgegeben hatte. „Ist Ihr Mann viel älter als Sie?“ „Ja. Viel älter. Er interessiert sich nicht für Klubs, Tanzparties, Skifahren – nur für seine Geschäfte. So ist das. Armes kleines reiches Mädchen. Kein sehr interessantes Leben – ich sehe fern, gehe ins Kino, zum Friseur und in Kosmetiksalons.“ „Na, die scheinen ihr Geschäft zu verstehen.“ „Danke. Brechen wir auf?“ Ironie des Schicksals! Sie bezahlte sein Essen mit den Moneten seines Vaters! Unwillkürlich mußte er lachen, als sie ihm unter dem Tisch das Geld zusteckte. „Was ist denn so komisch daran?“ „Nichts. Es ist eher etwas peinlich.“ Sie wanderten einen anderen Weg zurück, und wieder ging sie voran. Eine Herde des nahezu schwarzen Epping-Forst-Damwilds überquerte vor ihnen den Pfad. Adlerfarn wuchs schulterhoch, golden und glänzend. Der Verkehrslärm der weit entfernten Autostraße drang nicht bis hierher. „In diesem Teil des Waldes trifft man nie eine Menschenseele“, sagte sie. „Sie haben ja gesehen, wie zahm die Tiere sind.“ Sie schwiegen beide, und Ronald spürte, wie eine unerklärliche Erregung in ihm wuchs. Als sie einen Abhang emporkletterten, reichte sie ihm die Hand, und er hielt diese Hand auch dann noch fest, als es dafür keinen Grund mehr gab. 53
Sie kroch durch eine schmale Öffnung in dem dichten Farn. Drinnen war eine Lichtung, nicht größer als drei Quadratmeter, mit weichem, feinem Grasboden. „Ist es nicht hübsch?“ fragte sie. „Manchmal geh ich hierher und nehme ein Sonnenbad.“ Zwischen zwei hohen Birken brannte die Sonne direkt auf die Lichtung. Sie setzte sich ins Gras und winkte ihm, sich ebenfalls zu setzen. Sein Herz klopfte schneller. Sie streifte die Schuhe ab und lehnte sich zurück, das Kinn zur Sonne hochreckend. Das strahlende Licht schien blutrot durch seine geschlossenen Augenlider. Es war heiß. „Ziehn Sie Ihr Jackett aus, Paul.“ Er legte sich darauf und fühlte, wie ihre Hand seine berührte und neben ihr liegenblieb. Ein Beben ging durch seinen Körper. „O mein Gott“, flüsterte sie und zog ihn zu sich heran. Sie küßte ihn. Er öffnete den Verschluß ihres Kleides, und sie ließ es zu, daß er ihren Büstenhalter aufhakte. Als sie anfing, sein Hemd aufzuknöpfen, ergriff er die Initiative, und einige Augenblicke später lagen sie nackt auf ihren Kleidern in der Sonne. Da war ein kleines leuchtendrotes Haardreieck und zwei andere winzige Haarbüschel, als sie ihn zu sich heranzog und ihr Mund sich auf seinen preßte. Auf dem Weg zurück zum Wagen sagte sie: „Tut mir leid, Paul. Es hätte nicht passieren dürfen. Meine Schuld. Heut morgen war ich ganz kribbelig. Ich rannte in der Wohnung hin und her und war halb verrückt. Dann sah ich dich das Auto bewundern, und da dachte ich, mein Gott. Du sahst so jung und frisch aus. Es tut mir leid.“ Sie gingen Arm in Arm, und er blieb stehen und küßte sie. Erst nach einer ganzen Weile liefen sie weiter. „Wieso tut dir das leid?“ 54
„Es darf nicht wieder vorkommen, weißt du.“ Er blieb erneut stehen und starrte sie an. „Das ist nicht dein Ernst!“ „Mein voller Ernst.“ „Du willst doch damit nicht etwa sagen, daß wir uns nicht wiedersehen dürfen? Nach …“ Sie zog ihn weiter. „Es ist zu riskant, Paul. Wenn er dahinterkäme, wäre das das Ende.“ „Na und? Du liebst ihn doch nicht.“ „Liebe! Wie heißt dieses alte Theaterstück: ‚Verliebt und arbeitslos‘. Ich bin nicht gerade scharf darauf, zu den anderthalb Millionen zu gehören, die sich die Hacken nach Stellungen ablaufen, die gar nicht da sind. Und in einem sogenannten Massagesalon in Soho, wo die Kunden hand relief kriegen, wie man das nennt, möchte ich auch nicht gerade enden.“ Sie schien ihre Rolle als verheiratete Frau vergessen zu haben, und Ronald erinnerte sie auch nicht daran. Die letzte Stunde hatte alles verändert. Sie war so ganz anders als die Mädchen, die er bisher gekannt hatte. „Aber ich muß dich wiedersehn.“ „Es ist doch eine wie die andere. Mädchen gibt’s in Hülle und Fülle, Paul.“ „Nicht für mich. Nicht nach dem, was heute geschehen ist.“ „Armer Paul. Erzähl mir bloß nicht, du hättest dich verliebt.“ „Wir könnten vorsichtig sein.“ „Nicht vorsichtig genug. Einmal oder ab und zu kann so was passieren. Gefährlich wird’s, wenn man versucht, es zu einer Dauereinrichtung zu machen.“ „Aber du kannst doch nicht so weiterleben. Mit einem Mann, den du …“ Sie schüttelte den Kopf. „Vergiß es, Paul. Romantik ist etwas sehr Schönes, aber …“ Sie zuckte die Achseln. „Halt mich meinetwegen 55
für eine, die den Männern das Geld aus der Tasche zieht, für ein billiges Flittchen, das keine Lust hat, in einer Dachkammer von Liebe und Küssen zu leben.“ Als sie beim Wagen anlangten, versuchte er es noch einmal. Sie streichelte seine Hand. „Nein, Paul. Wir haben zusammen einen wunderschönen Tag verbracht, und du bist ein netter Junge. Vielleicht könnte ich mich in dich verlieben, wenn die Situation anders wäre. Wer weiß?“ Auf der Rückfahrt schwiegen sie beide. Sie war beunruhigt, wie immer, wenn sie dem alten Bock Hörner aufsetzte; besorgt, daß einer ihrer Liebhaber sich nicht abhängen ließ und so die ganze Sache herauskam; voller Angst, daß eines Tages jemand den Versuch machen könnte, sie zu erpressen. Es war ein Fehler gewesen, den Jungen direkt vor ihrer Haustür aufzugabeln. Aber schließlich war es ja ganz einfach, an Hand einer Wagennummer den Besitzer zu ermitteln. „Steig lieber hier aus, Paul“, sagte sie und hielt an. Es war nicht weit von der Oxford Street. Er betrachtete sie niedergeschmettert: so begehrenswert in ihrem leichten Kleid, mit der schlanken, feingliedrigen Hand auf dem Schalthebel, am Finger den goldenen Reif. „Leb wohl, Paul. Gib mir einen Kuß.“ Seine Augen verrieten seine Trauer, als er sie küßte. „Und bitte, Paul, sei ein Gentleman und versuch nicht, mich wiederzusehen.“ Er stieg aus. „Versprichst du mir das?“ „Ja. Ich verspreche es.“ „Vielen Dank, Paul. Danke. Es war schön. Leb wohl.“ Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging er davon. Sie blickte ihm nach, bis er um eine Ecke verschwunden war. Das war der Jammer mit Männern – sie wollten immer mehr, als man ihnen zu geben bereit war. 56
Und der hier war die Mühe kaum wert gewesen. Ganz unerfahren und unbefriedigend. Die Sache begann um Mitternacht. Edward Ridley wurde durch hartnäckiges Klingeln an der Haustür aus dem Schlaf geholt. Gleich darauf hupte wie wild ein Auto. Nachbarn wurden wach, rissen die Fenster auf und brüllten, warum nicht irgendwer irgendwas dagegen unternähme und wann der verdammte Lärm endlich aufhöre. Ridley, in Pyjama und Hausschuhen, ging hinunter, legte die Kette vor und öffnete die Tür einen Spalt breit. „Wohnt hier Ridley? Telefonnummer 56 51 – 03 62?“ „Ja. Was wollen Sie?“ „Was ich will? Na, das ist gut! Sie haben für Mitternacht ein Taxi bestellt, nicht wahr? Jemand soll nach Kensington gebracht werden. Hier bin ich. Was ist denn? Haben Sie die Sache ganz vergessen?“ Bis jetzt war der Mann immer noch freundlich. Doch das änderte sich, als Ridley sagte: „Taxi? Niemand hat hier ein Taxi bestellt!“ Er wollte die Tür schließen, doch der Fahrer stellte einen Fuß in den Spalt. „Nein, nein, Freundchen. So nicht. Wenn Sie den Wagen nicht mehr brauchen, in Ordnung, Ihre Sache, aber ich will mein Geld. Macht ein Pfund, zu dieser Nachtzeit.“ „Weg von meiner Tür und zisch ab“, schrie Ridley „oder ich ruf die Polente.“ Der Fahrer ging zu seinem Auto zurück und schaltete das Radio ein. Dann fuhr er ab. Alle halbe Stunde wiederholte sich dieser Vorfall, und jedesmal gehörten die Taxis anderen Taxiunternehmen. Es wurde eine turbulente Nacht in der Holford Road, und es trug nicht gerade dazu bei, Ridleys Ansehen in der Gegend zu erhöhen. Am nächsten Morgen unterrichtete Ridley die Polizei. Sie war teilnahmsvoll, aber nicht besonders hilfreich. 57
„Jemand hat sich einen Scherz mit Ihnen erlaubt“, sagte der diensthabende Sergeant. „Fast unmöglich, den Burschen zu erwischen. Wenn Sie nicht gerade jemand Bestimmten verdächtigen – jemand, der was gegen Sie hat.“ „Jemand!“ sagte Winifred. „Da käme halb England in Frage.“ „Ärgerliche Angelegenheit“, erklärte später ein höherer Polizeioffizier, „aber wir können nicht gut unsere Leute einsetzen, um so was zu verhindern. Wir wissen einfach nicht, wo wir anfangen sollen. Vielleicht versuchen Sie’s mal mit einer privaten Detektei. Natürlich sind wir immer bereit einzugreifen, wenn was Schwerwiegendes passiert!“ Der Unfug ging weiter. Ein großer neuer Farbfernseher wurde gebracht; abends fanden sich alle möglichen Lieferanten ein, die Ridley angeblich telefonisch beordert hatte; Bücher aus dem „Sonderangebot“ wurden geschickt, Möbel, in Ridleys Namen bestellt, wurden geliefert. Die Formel Ridley, Sie wissen doch, die Fleischfirma, die der Störenfried immer gebrauchte, wirkte wie ein Zauber. Niemand verlangte Barzahlung. Alle suchten Ridley im Telefonbuch heraus, und diese Bestätigung genügte. Eines Tages erschien ein redegewandter schwarzgekleideter Mann und erklärte, daß er gekommen sei, um Ridleys Maße zu nehmen und Vorbereitungen für seine Beerdigung zu treffen. „Gehn Sie nicht wieder weg!“ sagte Winifred zu ihm. „Sie machen mir Hoffnung.“ Es gab eine ganze Menge Leute, die vielleicht auf diese Weise Rache an Ridley nehmen wollten – Leute, deren alte Familienunternehmen er durch seine Schleuderpreise ruiniert und dann billig gekauft hatte; frühere Angestellte; zwei ehemalige Chauffeure; Leute, die er auf die Straße gesetzt oder verklagt oder sonst irgendwie geschädigt hatte. 58
„Es würde ein Vermögen kosten, das durch Privatdedektive aufzuklären“, argumentierte er. „Wir müssen es eben hinnehmen, bis der, der dahintersteckt, es überhat oder einen Fehler macht.“ Die Frau, die in einer Ecke des „Clarendon Arms“ an einem runden Tisch saß, wurde von den anderen Gästen nicht beachtet. Ihre Kleidung, zeitlos und von guter Qualität, war unauffällig; ihr leichtgewelltes Haar mattbraun. Ihre Augen waren auf ein Buch geheftet und daher nicht zu sehen, aber sie waren in der Tat das Schönste an ihr: groß, klar und ruhig. Vor ihr stand ein Glas Sherry. Es war halb sieben Uhr abends. Sie blickte auf, als ein Mann erschien und einen Bierseidel auf den Tisch stellte. „Tut mir leid, Mary. Ich konnte nicht früher weg.“ „Das hab ich mir schon gedacht.“ Sie lächelte zur Begrüßung und rückte mit ihrem Stuhl ein wenig zur Seite, damit er sich setzen konnte. „Die Sache geht natürlich schief, aber dein alter Herr läßt sich ja nicht überzeugen. Es ist unglaublich, daß ein so starrköpfiger Geier wie dein Vater sich von einem geriebenen Geschäftemacher was einreden läßt. Cheers!“ Er hob den Seidel. „Cheers, Lieber.“ Sie legte eine Hand auf seine. „Du hast es schwer, mein Schatz. In jeder Beziehung.“ „Wir haben’s schwer“, verbesserte er und wischte sich die Lippen ab. „Gehn wir doch irgendwohin, wo es schön ruhig ist. Ich hab was mit dir zu besprechen.“ „Ärger?“ „Ja. Und ich muß heute abend pünktlich zu Hause sein. Mrs. Devlin kann heut nicht kommen, um Judy zu helfen.“ „Solange der Freitag noch in Aussicht ist, kann ich’s ertragen.“ „Freitag steht fest.“ 59
„Gut. Wollen wir ins Tandoori Restaurant essen gehen?“ Sie liefen Arm in Arm, dicht aneinandergeschmiegt, durch Nebenstraßen zu dem Lokal dicht bei King’s Cross. Winifred Ridley irrte sich völlig, was das Privatleben ihrer Tochter betraf. Es gab einen Mann in Mary Ridleys Leben – immer denselben in den letzten fünf Jahren. Es war Frank Blake, der Hauptbuchhalter der Firma Ridley. Als Edward Ridley die fünfzig Läden der ehemaligen Woltan-Kette übernommen hatte – sein größter Coup auf dem Weg zum Millionär –, hatte er auch Frank Blake übernommen, einen auf seinem Gebiet äußerst tüchtigen Mann. Blake war außerdem gebildet und kultiviert und liebte die gleiche Musik und die gleiche Literatur wie Mary. Er war verheiratet. Judy Blake war von der Taille abwärts gelähmt, die Folge eines Autounfalls, der sich zwei Jahre nach ihrer Heirat ereignet hatte. Mary hatte das Ehepaar regelmäßig besucht. Eines Abends, als sie gehen wollte, waren sie und Frank einander an der Tür in die Arme gefallen. Daraufhin hatte Mary ihre Besuche in Blakes Haus eingestellt. Frank und sie waren sich darüber einig, daß die an den Rollstuhl gefesselte Judy nichts von ihrer Beziehung erfahren durfte, und fortan hatten sie sich in Cafés und Restaurants getroffen und gelegentlich, wenn es sich unter einem Vorwand einrichten ließ, eine Nacht miteinander verbracht. Ihr Lieblingsaufenthalt war das indische Familienrestaurant Tandoori in der Nähe von King’s Cross. Ein kleines Mädchen mit riesigen schwarzen Augen beobachtete sie, als sie ein Hühnercurry mit Gemüsen, Dahl, Papadoms, Reis und heißen Essigfrüchten bestellten. „Nun?“ sagte Mary. Blake ließ sich Zeit. Offenbar überlegte er, wie er be60
ginnen sollte. Sein Gesicht, gut geschnitten, wenn auch keineswegs markant, wirkte für seine achtunddreißig Jahre recht jugendlich. Sein Haar aber, kraus, wellig und eisengrau, war eine wahre Pracht und verlieh ihm eine Aura von Erfahrung und Männlichkeit. Plötzlich sagte er: „Er hat mich rausgeschmissen.“ Nach einem langen, beklommenen Schweigen flüsterte Mary: „O du mein Gott. Was wird mit Judy?“ „Und was wird mit uns?“ „Was ist denn passiert, Frank? Hast du dich mit ihm wegen der Reorganisation in die Haare gekriegt?“ „Es gab keinen Streit. Voraussetzung für einen Streit ist Gleichheit oder ein gewisses Maß an Vertrautheit. Aber du hast recht, der Grund war die Reorganisation. Seit dem Übernahmeangebot von Tindall ist er völlig durchgedreht – ist außer sich vor Angst, daß er hinter der Entwicklung, der Modernisierung des Marketing zurückbleiben könnte, außer sich vor Angst hauptsächlich wegen der Kosten für die Modernisierung seines Unternehmens – und modernisieren muß er, sonst geht er unter.“ „Aber er hatte dich um deinen Rat gebeten, nicht wahr?“ „Ja. Ich habe viel Zeit darauf verwendet, jedes Detail zu eruieren und die Systeme zu analysieren, die in Frage kommen, und ich habe eine Menge Vorschläge gemacht, wie die anstehenden Probleme gelöst werden könnten und zugleich genügend Spielraum für eine weitere Ausdehnung bliebe. Nun hat ihm irgendwer Pläne untergejubelt, die all das zu tun versprechen, nur halb soviel kosten und zugleich weniger kompliziert sind. Aber sie taugen nichts, und ich habe ihm das gesagt. Er erklärte, er sei überzeugt, daß es so ginge. Patt, wie man beim Schach sagt.“ „Aber warum hat er dich gefeuert, wenn ihr euch nicht gestritten habt?“ 61
„Er saß eine ganze Weile stumm da, zog die Augenbrauen zusammen, biß auf seinem Schnurrbart herum, und schließlich sagte er: ‚Sie meinen, Mathiesons Methode taugt nichts, und ich meine, in einer anderen Stellung wären Sie besser am Platze.‘ – Ich sagte: ‚Soll das heißen, daß Sie mich entlassen?‘ Ich war wie vom Donner gerührt. – ‚Jawohl‘, sagte er ganz nüchtern und kühl. ‚Bisher‘, sagte er, ‚haben Sie gute Arbeit geleistet, aber‘, und dabei zuckte er die Achseln, ‚würden Sie Ihr Pferd von einem Jockey reiten lassen, der überzeugt ist, daß es keine Chance hat, das Rennen zu gewinnen?‘ – Er war nicht dazu zu bringen, mir zuzuhören. Er sagte: ‚Es ist meine Entscheidung, und wenn sie falsch ist, trage ich die Verantwortung. Mathieson hat da einen Fachmann, den er freistellen kann. Tut mir leid, Blake. Sie haben drei Monate Kündigungsfrist. Genug Zeit also, um den neuen Mann einzuarbeiten, und wenn Sie ausscheiden, gebe ich Ihnen noch ein Monatsgehalt ohne Steuerabzug.‘ “ „Ein ganzes Monatsgehalt!“ sagte Mary voll bitterer Verachtung. „Ist er nicht großzügig? Ach, mein Gott, Frank. Was wirst du tun? Aber“, setzte sie hoffnungsvoll hinzu, „du bist eine Spitzenkraft und findest sicherlich eine Stellung, die nicht schlechter ist als deine bisherige.“ Sie schnippte mit den Fingern. Er lachte, aber das Lachen klang nicht heiter. „Du hast vielleicht ’ne Ahnung, meine kleine Optimistin! Bei uns haben sich letzte Woche zwei Bewerber vorgestellt, einer davon mit besserer Qualifikation als ich, und beide haben erklärt, sie würden jegliche Arbeit in der Buchhaltungsabteilung übernehmen.“ Mary saß niedergeschlagen da. Das Essen auf ihrem Teller wurde langsam kalt. „Eine invalide Frau und dazu stellungslos“, flüsterte sie, während sich Tränen unter ihren Lidern sammelten. „Und dann noch wir.“ 62
Er legte seine Hand auf ihre. „Weine doch nicht, Mary. Es kommt noch schlimmer.“ Sie sah ihn angstvoll an. „Etwas, das uns beide betrifft? Du hast doch nicht etwa vor, etwas Ritterliches und total Verrücktes zu tun, nicht wahr?“ „Noch nicht. Nein, mein Liebes, es ist etwas anderes.“ Sie wartete. „Aus dem Safe in meinem Bürovorzimmer sind tausend Pfund verschwunden.“ Er sprach rasch weiter. „Du weißt, wir haben immer tausend Pfund in bar in einem Extrafach, für Notfälle. Im übrigen werden in dem Safe nur wichtige Unterlagen für die Buchhaltung und dergleichen aufbewahrt, weil er angeblich feuerfest ist.“ Sie wollte etwas einwerfen, doch er wehrte mit einer Handbewegung ab. „Wir hatten vereinbart – und das wurde auch immer so gehandhabt –, wenn einer von uns beiden, dein Vater oder ich, für irgendeinen Zweck etwas davon nimmt, wird eine Notiz darüber in das Safefach gelegt. So, und jetzt ist das Geld verschwunden und keine Notiz da. Ich wollte es ihm schon sagen, aber ich dachte, ich lasse es lieber, nach dem, was passiert ist. Er weiß nicht, daß ich weiß, daß das Geld verschwunden ist.“ „Du hast einen Schlüssel. Wer noch?“ „Dein Vater. Niemand sonst.“ Sie zog die Brauen zusammen. „Aber ich lasse den Schlüssel nie aus den Händen. Er hängt immer an dem Schlüsselring in meiner Tasche.“ „Und du hast keine Ahnung, was geschehen sein könnte?“ Er zuckte die Achseln. „Alles nur Vermutungen.“ Er zog den Schlüsselring an einer Stahlkette hervor. „Hier, das ist er. Ein gerader Schlüssel, wie Safeschlüssel so sind, mit sechs Einschnitten im Schlüsselbart. Es ist ganz leicht, davon einen Abdruck herzustel63
len – das dauert nur ein paar Sekunden – und einen Nachschlüssel anfertigen zu lassen.“ „Und du bist sicher, daß der Abdruck nicht von deinem Schlüssel gemacht worden sein kann?“ „Ganz sicher.“ „Dann bleibt ja nur seiner.“ Blake nickte. Mary sagte langsam: „Folgende Personen hätten die Möglichkeit, einen Abdruck zu machen: Ronald, Mutter, Iris, unsere Putzfrau, deine Frau und ich. Aber die einzigen, die unbemerkt in dein Vorzimmer gelangen könnten, wären Ronald, Mutter und ich. Logisch?“ „Logisch.“ „Weder Mutter noch ich wüßten, wie wir es anstellen sollten.“ Sie hielt inne und ließ den Satz in der Luft hängen. „Dann bleibt nur Ronald übrig“, sagte er. „Ja. Wenn nicht …“ „Wenn nicht?“ „Ich würde es meinem Vater ohne weiteres zutrauen, daß er das Geld selber einsteckt, für den Fall, daß du versuchen solltest, wegen deiner Entlassung irgendwas gegen ihn zu unternehmen.“ Blake lächelte und schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich kenne deinen alten Herrn besser als du. Nein. Ich hab vom ersten Augenblick an Ronald im Verdacht gehabt. Aber was nützt uns das?“ „Eben. Er würde es nie zugeben.“ Blake seufzte. „Ich glaube, ich muß es deinem Vater sagen.“ „Warum denn? Soll er’s doch selber entdecken. Das ist schon egal. Und vielleicht passiert auch irgendwas.“ Vor dem London Hospital stieg Ronald zu Dodger und Charlie ins Auto. Sie fuhren durch das Labyrinth des East End zu einer winzigen Kneipe, in der Finn manch64
mal mit Mamma und Pappa und einem kleinen Kreis von Kumpanen einen feuchtfröhlichen Abend verbrachte. Heute hatte er bereits reichlich Gin und braunes Bier getankt und war recht aufgeräumt. Eine seiner Lieblingsrollen war die des Cockney-Jungen, der es zu etwas gebracht hatte, des mächtigen Gangsters, dem die Polizei nichts anhaben konnte, des Mannes, der getötet hatte und dennoch immer noch auf freiem Fuß war, der mit Parlamentsmitgliedern verkehrte, mit Peers, reichen Intellektuellen und berühmten Bühnenstars, der aber trotzdem noch Zeit fand, sich mit Mamma und Pappa und ihrem Anhang zusammenzusetzen, und dann selbstverständlich für alle die Zeche bezahlte. Er winkte Ronald, neben ihm Platz zu nehmen. „Setz dich auf deine vier Buchstaben“, sagte er. „Das da sind meine alte Dame und mein alter Herr.“ Mamma und Pappa waren die typischen neureichen Cockneys. Ihre Kleidung war nagelneu, und beide waren sie mit Schmuck behangen. Pappa trug mehrere schwere goldene Ringe und eine große goldene Armbanduhr mit einem dicken goldenen Elastikarmband. Mammas Haar war gefärbt und glänzte von Spray. „Guten Abend“, sagte Ronald, und sie antworteten höflich: „Nett, Sie kennenzulernen.“ Finn betrachtete prüfend Ronalds Wange. „Da siehst du, ich hatte recht“, sagte er gutgelaunt. „Keine Narbe. Das ist der Vorteil eines wirklich scharfen Messers. Nichts für ungut, Sohn. Das Leben ist hart für uns alle. Du hast das Geld bei dir. Ich wußte, du würdest es bringen. Du brauchtest nur ’ne kleine Aufmunterung.“ Ronald nickte und klopfte auf seine Brusttasche. „Einen doppelten Scotch“, sagte er, als Finn ihn einlud, etwas zu trinken. „Nur zu“, ermunterte ihn der Captain, „aber es ist ein 65
schwerer Fehler, Scotch zu trinken. Reines Gift. Dieses ganze farbige Gesöff ruiniert einem glatt die Eingeweide. Außer Bier natürlich. Meine Mamma und mein Pappa trinken nur Bier. Braunbier und Guinness, darauf stehn sie.“ „Außer zu Weihnachten, Jackie“, sagte Mamma. Ronald blickte sich um. Die kleine Kneipe war ein Überbleibsel aus der Jahrhundertwende, mit Wiener Stühlen, emaillierten Reklameschildern für Biere und Tabaksorten, die längst vom Markt verschwunden waren, und einem offenen Kaminfeuer, das hinter einem gußeisernen Gitter brannte. Sie schien nicht gerade eine Goldgrube zu sein, aber sie war gemütlich. Sie hatte es auch nicht nötig, Gewinn abzuwerfen, denn sie gehörte Finn und diente einem ganz bestimmten Zweck. Wie die meisten Kneipen besaß sie einen Keller. In diesem Keller gab es eine Schiebewand, hinter der sich der Einstieg zu einem kurzen Tunnel befand, und dieser Tunnel mündete in der Außentoilette eines Hauses in der nächsten Straße, das ebenfalls Finn gehörte. Der Captain hatte verschiedene seiner Etablissements so umgebaut, daß man schnell aus ihnen entkommen konnte. „Prost“, sagte Finn. „Und wo sind die Mäuse?“ Ronald stellte sein Glas hin und griff in die Brusttasche. Es war ein dicker Packen, lauter gebrauchte 5Pfund-Noten. „Zähl’s für mich, Ted“, befahl Finn dem Mann hinter der Theke. „Genau siebenhundert“, verkündete Ted, nachdem er die Scheine mit geübten Fingern in Windeseile durchgeblättert hatte. Finn nahm ihm den Packen aus der Hand, zählte zwanzig Scheine ab und gab sie Ronald, der sich verdutzt fragte, ob das ein Trick sei. „Steck schon ein“, drängte Finn. „Ist ’ne kleine Ent66
schädigung für den Messerritz. Mach dir ’n lustigen Abend auf meine Kosten. Ich bin kein schlechter Kerl, du kommst schon noch dahinter. Aber ich kann nicht dulden, daß man mir auf die Zehen tritt. Wer in meinem Klub Kredit kriegt, entscheide ich.“ „Hast recht. Immer wachsam, Jack“, sagte Pappa, und Mamma setzte hinzu: „Ein Trottel ist sein Geld im Hui los.“ Wenn Ronald noch länger hätte bleiben dürfen, wäre ihm einer der Gründe klar geworden, warum Jack Finn in dieser Kneipe seinen Jour fix abhielt. Von Zeit zu Zeit erschien ein Gast, machte eine grüßende Handbewegung und sagte: „Hallo, Captain.“ Ihm wurde ein Glas hingeschoben, Finn ging mit ihm in eine stille Ecke, Worte wurden gewechselt, Geld wanderte von einer Hand in die andere. Das waren die Männer, die Finns Geheimdienstsystem mit Nachrichten versorgten. Finn hatte Informanten in ganz London. Von ihnen erfuhr er, wer hinter den großen Raubüberfällen steckte, wen man auffordern konnte, einen Anteil zu berappen. Spielklubs, Pornoläden, alle gefährlichen einträglichen Gewerbe waren bereit, sich den Schutz etwas kosten zu lassen, den ihnen der Name Jack Finn gab. Das Geschäft blühte. Zwei Kerle erschienen in einem verbotenen Klub und drohten, die Einrichtung zu zertrümmern, wenn sie kein Geld bekämen. Ein Anruf bei Finn. Am nächsten Tag erschienen die beiden wieder und entschuldigten sich. Finns Einkommen stieg um weitere dreihundert Pfund pro Woche. Er brauchte eine Menge Geld. Es gab eine ganze Armee von Zuträgern und Spitzeln, vom Taxichauffeur bis zum Polizisten, die geschmiert werden mußten. Finn schien wie durch einen Zauber unverletzlich zu sein, und das verstärkte seine Aura. Er bekam Wind von einem Plan, ihn durch eine selbstgebastelte Bombe aus 67
dem Weg zu räumen, die man in sein Auto legen wollte. Der Bursche, der sie legen sollte, wurde von einer Bombe, die bereits im Wagen installiert war, in Stücke gerissen. Zwei italienische Killer wurden angeheuert, um ihn umzubringen. Er erfuhr es, und die beiden wurden auf dem Flugplatz Heathrow von der Polizei verhaftet. Die Story machte die Runde. „Das ist der Gipfel“, sagten die Männer der Unterwelt und lachten selbstgefällig. „Jack Finn unterm Schutz der Bullen!“ Man fürchtete ihn nicht nur wegen der Verbrechen, die er tatsächlich verübt hatte, sondern ebensosehr wegen aller möglichen Dinge, die er getan haben sollte. Er selber verbreitete Geschichten, die weit über die Wahrheit hinausgingen – Geschichten, in denen Laster, Abnormitäten, Verstümmelungen, Grausamkeiten und Immunität bei Polizeiaktionen eine Rolle spielten und die seinen Namen zu einem Begriff machten. Finn war eine Legende. Er hatte keine Konkurrenz. Der nächste Streich war noch weniger komisch als die vorangegangenen. Es war kein Schabernack mehr, sondern ein Anschlag auf Ridleys Leben. Bert, der seinen Chef nach Hause fuhr, näherte sich dem Haus in der Holford Road. Hinter einer Telefonzelle versteckt, saß ein Mann auf einem leichten Motorrad mit laufendem Motor. Bert und Ridley bemerkten ihn erst, als er eine Armbewegung machte und ein weißer Gegenstand auf sie zugeflogen kam. Es war ein in Zeitungspapier eingewickelter Ziegelstein, der die Windschutzscheibe durchschlug und sie in eine undurchsichtige Masse winziger Glasstückchen verwandelte. In Panik riß Bert das Steuerrad herum und bremste. Jemand schrie. Der Wagen prallte gegen eine Haus68
wand, aber die Wucht des Aufpralls wurde durch etwas Weiches zwischen Wagen und Wand abgeschwächt. Es war dieses Etwas, das geschrien hatte – ein alter Mann, der im kritischen Augenblick aus seiner Haustür getreten war, weil er sich zum Abendessen eine Kanne Bier aus der nächsten Kneipe holen wollte. Sobald der Motorradfahrer den Ziegelstein geschleudert hatte, kuppelte er ein und war verschwunden, bevor der Wagen zum Stehen gekommen war. Einige Bewohner der Holford Road stürzten auf die Straße, unter ihnen Winifred Ridley, die vor dem Fernseher gesessen hatte. Ridley stieg aus der unbeschädigten Tür auf den Gehsteig. Er stürmte in die Telefonzelle und wählte 999, rief nach der Polizei und verlangte einen Krankenwagen. Beide kamen zu spät: die Polizei, um irgend etwas über das Motorrad oder seinen Fahrer zu ermitteln; der Krankenwagen, um dem Unfallopfer zu helfen, denn der alte Mann starb auf dem Weg ins Hospital. Jetzt begann sich die Presse ganz Englands für Ridley zu interessieren. Die Zeitungen brachten Einzelheiten über die „Vendetta“, die der „geheimnisvolle Unhold“ gegen die Familie führte, und berichteten, daß die Polizei die Sache keineswegs auf die leichte Schulter nehme. Sie zitierten die Erklärung des Polizeikommissars, der mit dem Fall befaßt war: „Wir betrachten das als versuchten Mord. Mr. Ridley wird Polizeischutz erhalten.“ Doch Ridley hatte Polizeischutz abgelehnt. „Bert und ich werden mit der Sache allein fertig“, hatte er der Polizei versichert. „Wer immer diesen Ziegelstein geworfen hat – ich bin ganz sicher, er wollte niemand umbringen, nicht mal mich. Dazu fuhr der Wagen zu langsam. Wahrscheinlich macht sich der Kerl jetzt vor Angst in die Hosen. Ich glaube, was passiert ist, reicht ihm – Sie brauchen nur bekanntzugeben, daß Sie die Tat mit allen Ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln 69
aufzuklären versuchen und sie als Mordversuch ansehen. Machen Sie Anschläge, daß eine Belohnung ausgesetzt ist, so was alles. Ich laß mich doch nicht von einem feigen Schubiak ins Bockshorn jagen, der mir dummdreiste Streiche spielt.“ Er erklärte sich lediglich bereit, sein Haus und sein Büro fortan zu unterschiedlichen Zeiten zu verlassen und nicht immer dieselbe Route zu fahren. Drei Tage vergingen ohne weitere Zwischenfälle, und die Presse ließ die Geschichte fallen. Es sah ganz so aus, als hätte Ridley recht gehabt. Mary hatte Frank Blake an jenem Abend, an dem er ihr von seiner Kündigung berichtet hatte, versprechen müssen, mit ihrem Vater nicht darüber zu reden. Statt dessen erzählte sie die Sache ihrer Mutter, nur zur Information. Sie wußte, daß Winifred Blake sehr schätzte. „Er ist nicht gerade meine Kragenweite, denn er ist ein ziemlich hochnäsiger Patron“, sagte Winifred, die seine Zurückhaltung als Arroganz auslegte. „Aber ich kenne ja Blakes Lage. Was gäbe ich für ein Hundertstel der Sorge und der Aufmerksamkeit, die er seiner armen Frau widmet! Er ist ein Heiliger, er tut für sie, was er kann, er zieht sie sogar um, weil sie’s in ihren Kleidern tun muß. – Wenn Ridley gelähmt wäre, ich würde ihn sich in seinem Dreck suhlen lassen. Tür zu, und soll er darin verfaulen! Aber solchen Schuften wie Ted Ridley passiert so was nicht. Niemals. Sie angeln sich knackfrische kleine Nutten, mit denen sie ihr Geld verprassen, und ihre eigenen Familien lassen sie schuften wie alle anderen. Dieser gefühllose Schuft hat also Blake rausgeschmissen! Was fängt der nun an? Arbeitslos, mit einer invaliden Frau.“ Natürlich konnte sie es sich nicht verkneifen, Ridley deswegen zur Rede zu stellen. „Halt die Klappe“, sagte er. „Sieh fern, das ist dein Ni70
veau. Es ist nicht gut, wenn man in dieser Position einen Mann sitzen hat, der gegen einen arbeitet – und genau das würde er tun, nur um zu beweisen, daß er recht hat. Überlaß das mir.“ Zuerst versuchte sie es mit Vernunft. „Aber sieh doch mal, Ted, du kennst seine Situation – die kranke Frau, die er betreut und für die er sorgen muß. Wer weiß … vielleicht bist du eines Tages in der gleichen Lage? Stell dir vor, du hättst dir bei diesem Zusammenstoß neulich das Rückgrat gebrochen! Leben und leben lassen, sag ich immer. Gib dem armen Kerl eine Chance.“ „Wenn ich auf dich hören würde, gäb’s überhaupt kein Geschäft mehr. Steck deine Nase nicht in Sachen, von denen du keinen Dunst hast.“ Winifred verlor die Beherrschung. „Geschäft! Geschäft! Du Schuft, du! Ich … ich …“ Bis jetzt hatte sie Ronalds Rat beherzigt und für sich behalten, daß sie von Ridleys Untreue wußte. Jetzt aber, außer sich vor Zorn, ließ sie ihrer Zunge freien Lauf. „Wenn du auf mich hören würdest“, kreischte sie, „würdest du dir nicht diese kleine rothaarige Hure in Notting Hill halten und sie mit Luxus überschütten – ein aufgetakeltes Flittchen, das sich Melissa Margrove nennt, nicht wahr? Modell schimpft sich so was heute.“ Ridley zeigte nicht das geringste Erstaunen. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt und drehte sich nicht einmal um. „Schrei nicht so, wenn du nicht willst, daß die ganze Straße mithört!“ „Modell!“ sagte sie etwas leiser. „Du betrügst deine Familie.“ „Ihr Stümper“, sagte er. „Was ich mit meinem Geld anfange, ist meine Sache.“ „Auch wenn du dir Huren hältst?“ 71
„Alle Frauen sind Huren, so oder so – manche sehn besser aus als andre. Aber sie haben alle was zu verkaufen, und das verkaufen sie so teuer wie möglich. Also, was willst du tun? Die Scheidung einreichen? Nur zu. Der größte Fehler, den du machen kannst, du blöde Kuh.“ Er ging zum Wandschrank, schloß ihn auf und goß sich einen doppelten Whisky ein. „Du auch was?“ fragte er, und als er keine Antwort erhielt, schloß er den Schrank wieder ab. „Du wärst doch nie imstande, ein Geschäft zu führen“, redete er weiter, und seine Stimme brachte sie wie immer zur Weißglut, „denn du kannst nur so weit sehn, wie deine Nase reicht. Nun hör mir mal gut zu: Was ich dir jetzt sage, ist sowohl zu deinem wie zu meinem Nutzen, aber mehr noch zu deinem. Als wir damals unsere Testamente machten, wonach jeder beim Tod des andern alles erbt, war da eine Klausel, daß keiner von uns beiden diese Testamente zu unseren Lebzeiten ändern kann. Aber es gab eine Bedingung: Wir müssen immer noch verheiratet sein, wenn einer von uns stirbt, nur dann kriegt der überlebende Partner alles. Kapiert?“ Sie nickte stumm. „Nun paßt es mir so, wie es ist. Ich bin verheiratet, und deshalb können diese jungen Flittchen, die du mir da vorschmeißt, nicht auf die Idee kommen, mich als reichen Ehemann an Land zu ziehn. Es ist sicherer für mich, wenn ich verheiratet bin. Und ich hab ja nichts dagegen, wenn du auch deine kleinen Abenteuer hast. Nach meinem Tod könnt ihr natürlich alle machen, was ihr wollt, aber vorläufig gedenke ich nicht abzukratzen.“ Plötzlich hörte er auf, sie zu hänseln. „Und wenn du dich scheiden lassen willst, vergiß nicht, daß ich mir bessere Anwälte als du leisten kann. Und daß mein Testament dann hinfällig wird.“ 72
Er leerte das Glas und grinste boshaft. Winifred saß stumm da, zermalmt von seinen scharfen, unerbittlichen Worten. Sie hatte zuviel gesagt, hatte ihren Trumpf verspielt, hatte zuviel verraten. Mit seiner harten, unangenehmen Stimme fuhr er fort: „Also schreib’s dir hinter die Ohren: Ich bin der Boss, und ihr tanzt nach meiner Pfeife. Merk dir, ich hab nichts dagegen, daß ihr Schlauköpfe versucht, selber zu Geld zu kommen. Und dein fauler Sohn soll sich vorsehen. Wenn der ’ne neue Stellung will, muß er erst mal richtig arbeiten, vorausgesetzt, daß er überhaupt eine findet. Aber wenn er sich nicht verdammt am Riemen reißt, wird er sich sehr bald nach einer umsehn müssen. In letzter Zeit hat er dreimal die Arbeit geschwänzt, als ich unterwegs war. Er denkt, ich bin blöd, aber ich habe meine Informationsquellen. Und was Blake angeht: Jetzt, wo du deine Nase in die Sache gesteckt hast, würd ich ihn aus Prinzip nicht wieder nehmen. Er hat drei Monate Kündigungsfrist und kriegt ein Monatsgehalt als Abfindung, und damit basta.“ Er leerte erneut sein Glas und ging zur Sprechanlage. „Bert“, sagte er, „sofort in die Mews.“ Winifred hockte niedergeschmettert vor dem stummen Fernseher, als er das Zimmer verließ. Nachdem der Wagen abgefahren war, kam Ronald herein. „Ich hab alles mitgehört, Musch.“ „Wir Armen“, sagte Winifred. Ridley starrte auf den Umschlag. Es war ein eingeschriebener Eilbrief mit der Aufschrift: Streng vertraulich. Nur für Mr. Edward Ridley persönlich. Das Kuvert enthielt ein Blatt Papier mit aufgeklebten grünen Streifen, die man mit einem kleinen Handdruckapparat bedruckt hatte – dem Typ, den man bei jedem Papierwarenhändler kaufen kann. Die Botschaft bestand infolge73
dessen nur aus Großbuchstaben, und es würde sich nie feststellen lassen, woher sie kam. RIDLEY WIR HABEN IHREN SOHN. WENN SIE IHN LEBEND WIEDERSEHEN WOLLEN KOSTET SIE DAS ZWEI MILLIONEN PFUND. WIR WISSEN SIE KÖNNEN DIESEN BETRAG AUFBRINGEN WIR HABEN DIE BERICHTE ÜBER TINDALL GELESEN. SIE HABEN SIEBEN TAGE ZEIT DAS GELD ZU ÜBERGEBEN. IN GEBRAUCHTEN SCHEINEN. WIR WERDEN SIE WISSEN LASSEN WIE. WENN SIE EINVERSTANDEN SIND INSERIEREN SIE IN DER TIMES SPALTE PERSÖNLICHES AM DIENSTAG FOLGENDES: ANFÜHRUNG EINVERSTANDEN MIT BROTSAMMELN EDWARD ABFÜHRUNG. Auf einen beiliegenden Zettel waren in der Handschrift seines Sohnes mit Bleistift die Worte gekritzelt: An meine Familie: Ich bin am Leben und werde nicht mißhandelt. Bitte, tut, was sie sagen. Ronald Ridley drückte auf einen Knopf und sprach in ein Tischmikrofon. „Molly, bringen Sie mir drei Plastikumschläge und eine Pinzette.“ Als die Sekretärin den Raum wieder verlassen hatte, praktizierte er mit Hilfe der Pinzette das Kuvert, den Brief der Entführer und den Zettel seines Sohnes jeweils in einen Umschlag und steckte alle drei in seine Aktentasche. Daheim in der Holford Road vergewisserte er sich zuerst, daß niemand zu Hause war, dann nahm er den Hörer ab und rief Scotland Yard an. „’n Abend“, sagte er mit seiner scharfen Cockneystimme. „Ich möchte den Commissioner sprechen.“ „Aber gewiß, Sir“, antwortete der Mann in der Telefonzentrale spöttisch. „Und wer ist, bitte, am Apparat? Der Premierminister?“ 74
Ridley sah ein, daß er diese Abfuhr verdient hatte, aber er war nicht willens, das zuzugeben. „Jetzt passen Sie mal auf“, sagte er. „Ich bin Mr. Edward Ridley, Generaldirektor der Ridley GmbH. Klingelt’s da bei Ihnen?“ „Ich kenne die Firma, Sir. Aber ich kenne Sie nicht.“ Der Spott war aus der Stimme verschwunden. „Ich habe sehr gute Gründe, wenn ich den Commissioner sprechen will. Es ist vertraulich.“ „Und wie soll ich wissen, ob Sie auch wirklich der sind, für den Sie sich ausgeben?“ „Jesus! Sind sie im Yard alle so? Also hören Sie: Sie suchen Edward Ridley, Holford Road, Hoxton, aus dem Telefonbuch raus und rufen zurück.“ Ridley hängte auf. Er mußte einige Zeit warten. Es war dieselbe Stimme. „Ihr laßt euch ganz schön Zeit“, beschwerte sich Ridley. „Sie wurde nicht verschwendet, Mr. Ridley. Ich habe mit dem Commissioner gesprochen, und er sagt, wenn Sie tatsächlich Mr. Ridley sind und Ihr Anliegen dringend ist, sollen Sie ihn in seinem Klub anrufen. Er hat dort Bescheid gesagt.“ „Welchem Klub?“ „Dem Athenäum.“ Der Telefonist gab Ridley die Nummer. Glück gehabt, dachte Ridley. Wenn es einen Ort in London gab, in den ein Außenseiter nicht eindringen konnte, dann war es so ein alter, stinkvornehmer Herrenklub. Niemand konnte ihm in diese heiligen Hallen folgen und ausspionieren, mit wem er sich da traf, und er wollte keine Zeit verlieren. Vielleicht beschattete man ihn, dann mußte er versuchen, den Kerl abzuschütteln. „Danke“, sagte er. „Keine Ursache.“ Die Stimme klang leicht ironisch. „Immer ein Vergnügen, einem Gentleman zu helfen.“ Ridley legte auf und wählte das „Athenäum“. Er 75
nannte seinen Namen. „Ich möchte Sir Malcolm Treddick sprechen.“ „Einen Augenblick, Sir.“ Es dauerte länger als einen Augenblick, dann sagte eine belegte Stimme: „Sind Sie’s, Ridley?“ Ridley! Für diese verdammten Aristokraten war man nicht mal „Mister“. Wie sollte man dann einen verdammten Sir anreden? Na, egal. „Ja. Spricht dort der Commissioner?“ „Ich bin sicher, Ridley, daß ein Mann Ihres Schlages nicht aus einer Mücke einen Elefanten macht. Ich habe dem Portier Anweisung gegeben, daß man Sie in einen Raum führt, in dem wir ungestört reden können. Wann werden Sie hier sein?“ „In einer halben Stunde.“ Es klappte natürlich jedesmal. Einen Millionär mußte man ernst nehmen. Sogar die Königin empfing PopMillionäre. Ridley klingelte Bert heraus und sagte ihm, wohin er fahren sollte. Zwanzig Minuten später saß er in einem Konferenzzimmer des „Athenäum“. Auf seinen Wunsch hatte ihm der Klubdiener einen großen Whisky und ein Bitterbier gebracht und dabei nicht die mindeste Überraschung angesichts einer so ungewöhnlichen Bestellung erkennen lassen. „Ich gebe Sir Malcolm Bescheid“, sagte er. Am Morgen dieses Tages hatte Winifred im Büro an ihrem Schreibtisch gesessen, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und Ridley aufgebracht hereinkam. „Dein reizender Sohn ist mal wieder nicht zur Arbeit erschienen, und gestern war er auch nicht da.“ Es war Dienstag. „Schluß“, sagte er. „Mir reicht’s.“ Winifred erwiderte nichts, und ihr Schweigen brachte Ridley noch mehr in Wut. 76
„Mir reicht’s, hörst du? Er fliegt. Er kann sich eine andere Stellung suchen. Und auch eine andere Bleibe.“ Nach einer Pause sagte Winifred: „Du kannst ihn doch nicht aus dem Haus werfen.“ „Wieso denn nicht? Das werden wir ja sehen, ob ich kann.“ „Er hat dieselben Rechte wie jeder andere Mieter. Er kann dafür sorgen, daß dein Name in den Zeitungen durch den Dreck gezogen wird, du elender alter Knicker. So was macht Schlagzeilen. Was wird die liebe Melissa von ihrem Schätzchen denken? Die Presse leckt sich doch alle zehn Finger nach so was.“ Ridley war aus dem Zimmer gestürmt. Die Tür öffnete sich, und der Commissioner trat ein. Sir Malcolm Treddick, gekleidet in dunkelgrünen Fischgrätentweed, etwas übergewichtig, mit weißem Haar und einem fast weißen Schnurrbart, war auf den ersten Blick als das zu erkennen, was er war: ein pensionierter Armeeoffizier aus der richtigen Familie, der das tat, was man von ihm erwartete, und seinem Land auf eine Weise diente, wie es nur die richtigen Leute können, sei es in der Armee, in der Kirche oder den oberen Rängen der Polizei. „Ah, ich sehe, Sie haben schon was zu trinken, Ridley. Bringen Sie mir einen großen Brandy“, befahl er dem Kellner. Ridley beschloß, Sir Malcolm den fehlenden „Mister“ heimzuzahlen. „Ich möchte Ihre Zeit nicht unnütz in Anspruch nehmen, Treddick“, sagte er und sah mit Genugtuung, wie der Commissioner ob dieses Mangels an Respekt zusammenzuckte. „Aber sehen Sie sich das hier bitte an.“ Er schob die drei steifen Plastikumschläge über den kleinen Tisch. „Ich hab es hier hineingetan, falls Fingerabdrücke drauf sind.“ „Sehr hilfreich. Sehr hilfreich“, sagte der Commissio77
ner im Ton des Fachmanns, der sich zu einem Laien herabläßt. Beim Lesen nahm er sich Zeit. Da er offenbar nicht wußte, was er sonst noch sagen sollte, herrschte Schweigen. Er starrte auf den Briefbogen und den Zettel, als enthielten sie die Lösung des Problems, das sie aufwarfen. Ridley studierte ihn, als gehöre Sir Malcolm Treddick einer anderen Spezies von Lebewesen an und nicht nur einer anderen Gesellschaftsschicht. Wenn er stand – und jetzt erhob er sich, um an ein Bild der Königin Victoria heranzutreten und es zu betrachten –, war er über ein Meter achtzig groß. Sein Körper begann allmählich den Kampf gegen die Flasche und die Speisekarte zu verlieren. Der wohlgepflegte Schnurrbart lenkte von der Unterlippe ab, die Brutalität und gutes Leben zu voll und zu dunkel gemacht hatten. Die gesunde Röte seiner Wangen trog. Aber alles in allem strahlte er die feste Überzeugung aus, daß er zum Salz der Erde gehörte, erhaben war über alle anderen Menschen auf der Welt, weil er als Engländer geboren und auf die richtige Weise erzogen worden war und über die entsprechenden Manieren verfügte. Schließlich drehte er sich auf dem Absatz um und sagte: „Ich stecke meine Nase nicht gern in die Angelegenheiten anderer Leute, aber diese Sache mit den zwei Millionen Pfund und …“, er warf einen Blick auf den Brief der Entführer, „diesem Tindall – könnten Sie mir das vielleicht etwas erläutern?“ Ridley seufzte innerlich und fragte sich, warum Schwachköpfe aus den oberen Gesellschaftsschichten immer Posten bekleideten, für die ihre Fähigkeiten bei weitem nicht ausreichten. Doch er vermerkte mit Vergnügen, daß Sir Malcolm ihn nicht mehr bei seinem Familiennamen nannte, ihn überhaupt nicht direkt anredete, und er beschloß, ein Gleiches zu tun. „Ah“, sagte er, „Sie haben die Zeitungsberichte kürzlich wohl nicht ge78
lesen, daß ich das Angebot von Tindall abgelehnt habe. Die wollten meine Firma für zwei Millionen kaufen.“ „Nein. Ich kann mich nicht erinnern.“ „Aber die Entführer haben es offenbar gelesen.“ „Ja, natürlich. Ich verstehe.“ „Ich hatte daran gedacht, mich zur Ruhe zu setzen“, sagte Ridley. „Ich bin über sechzig und noch in vorderster Front tätig, aber ich dachte: Warum nicht? Hör auf, leb da, wo die Sonne scheint, hör auf mit der Hetzjagd. Ich ließ was davon verlauten bei Leuten, für die das wichtig war, und Tindall – die Firma gehört zum größten Teil Rufus Monk – machte mir unterderhand ein Angebot, und ich sagte, ich würde es mir überlegen. So wie der Fleischhandel jetzt daniederliegt, wissen Sie, kann nur einer bestehen, Tindall oder Ridley. Zwei sind zuviel.“ Das war zu hoch oder, genauer gesagt, zu tief für Sir Malcolm, also nickte er und wartete. „Ich dachte, ich probier mal aus, wie das Nichtstun schmeckt: Reisen, Sonne, süßes Leben und,– ganz unter uns – mal anderes Weiberfleisch.“ Der Commissioner zuckte zusammen. „Aber es klappte nicht. Ich bin aus dem East End. Mir schmeckt dieses ausländische Essen nicht, dieser verdammte Knoblauch, die Schnecken, die Fischsuppe. Und aus Wein mach ich mir auch nichts.“ Sir Malcolm bekam eine Gänsehaut. „Und das eine Mal, als ich mit so einem arabischen Mädel auf ihr Zimmer gehn wollte, stürzte ihr Louis mit einem Messer in der Hand rein und nahm mir das ganze Geld weg, das ich bei mir hatte – vorher, nicht nachher.“ Sir Malcolm, der jetzt seinerseits Ridley betrachtete, als gehöre dieser einer anderen Spezies an, murmelte mitfühlend etwas in seinen Bart. „Aber das Allerschlimmste für mich war die Langeweile. Mein Leben ist das Unternehmen. Wenn ich nicht kaufen und verkaufen kann, Geschäfte planen und – na, 79
Sie kennen das ja –, dann weiß ich nicht, was ich mit mir anfangen soll, und in meinem Alter kann man nicht die ganze Zeit trinken oder huren. Also kam ich zurück. Ich kenne den Fleischmarkt besser als Tindall, bin länger im Geschäft und hab ebensoviel Kapital. Also gut, sagte ich mir, ich werd’s den Schurken zeigen.“ Seine eigenen Worte hatten ihn mitgerissen. Sir Malcolm hustete und sagte: „Und was war nun mit diesen zwei Millionen Pfund?“ „Ich lehnte das Angebot ab, machte ein Gegenangebot in Höhe von anderthalb Millionen, und das wurde ebenfalls abgelehnt. Das bedeutete Krieg. Am nächsten Tag gab’s Schlagzeilen: ‚Ridley lehnt Zwei-Millionen-PfundAngebot ab.‘ Das also brachte die Kidnapper auf den Gedanken, nehme ich an.“ „Sie meinen, diese Leute wissen, daß Sie Ihr Unternehmen für diesen Betrag verkaufen können, und haben deshalb so viel gefordert?“ „Genau. Aber dann stünde ich ohne einen Pfennig und ohne Zukunftsaussichten da – in meinem Alter. Und das alles für einen Taugenichts von Sohn, der nie auch nur einen Tag richtig gearbeitet hat.“ Sir Malcolm fühlte, daß die ganze Sache über seinen Horizont ging, und er hatte nicht die leiseste Idee, wo er anfangen sollte. Er hustete erneut. „Jedenfalls ist es gut, daß Sie zu uns gekommen sind, bevor unnötig Porzellan zerschlagen wurde.“ „Was für Porzellan?“ „Ach, durch die Einmischung von Nichtskönnern, Amateuren und so weiter. Viel besser, wenn sich die Experten mit dem Fall befassen. Nach allem, was Sie sagen, und ich hoffe, ich irre mich da nicht, haben Sie nicht die Absicht, auf die Forderungen der Entführer einzugehen?“ 80
Ridley spitzte die Lippen und schüttelte den Kopf. „Ich halte nichts davon, bei einer Erpressung klein beizugeben. Ich glaube an Gesetz und Ordnung. Ich will, daß die Polizei vom ersten Augenblick an dabei ist, und ich wünsche, daß sie mir Ratschläge gibt, wie ich mich weiter verhalten soll. Deshalb hab ich mich sofort mit Ihnen in Verbindung gesetzt. Ich finde es auch richtig, dieses Inserat in die ‚Times‘ zu geben. Dadurch kann kein Schaden entstehen, meine ich.“ Sir Malcolm nickte weise, aber nicht sehr entschieden. „Wahrscheinlich nicht. Aber trotzdem möchte ich die Sache lieber mit meinen Fachleuten in der Abteilung für schwere Verbrechen besprechen, bevor wir irgendwelche Schritte unternehmen. Am besten, wir fahren jetzt gleich zum Yard.“ Unwillkürlich stöhnte Ridley leise auf. „Glauben Sie nicht, daß wir damit rechnen müssen, beschattet zu werden?“ „Ja, ja. Natürlich. Und wenn ich allein zum Yard fahre und jemand mit hierherbringe, wäre es dasselbe.“ Ridley nickte. „Ich muß den Innenminister unterrichten.“ Die nun eintretende Stille schien darauf hinzudeuten, daß Sir Malcolm am Ende seines Lateins angelangt war. „Bis Donnerstag ist noch Zeit“, sagte Ridley, seine Gedanken im Sprechen entwickelnd. „Sie fahren jetzt zurück zum Yard. Ich vermute, Sie werden einen Beamten mit dem Fall betrauen?“ „Natürlich. Und zwar einen unserer besten Männer.“ „Das hoffe ich. Nun denn, er soll Kontakt mit mir halten, aber dem Yard fernbleiben. Wir wissen nicht, mit wem wir’s zu tun haben. Vielleicht sind es so viele, daß sie uns alle beschatten können. Ihr Mann sollte sich beschatten lassen, um festzustellen, ob sie ihm auf den Fersen sind. Sie sollten mich beschatten lassen. Vielleicht können Sie jemand fangen, der mich beschattet, 81
und ihn zum Reden bringen. Selbstredend sind dazu eine Menge Leute nötig. Aber es geht ja nicht nur um meinen Sohn und meine zwei Millionen. Wenn die Kidnapper damit durchkommen, werden Sie sich bald mit ’ner Menge Entführungen befassen müssen. Und wenn die meinen Sohn umbringen, werden sie sich höchstwahrscheinlich rächen, indem sie auch mich umbringen.“ „Wir werden in diesem Fall nicht kleinlich sein, was den Einsatz von Leuten betrifft. Wir wollen nicht, daß bei uns Zustände einreißen wie in Italien und der Bundesrepublik.“ „Richtig“, sagte Ridley, der jetzt Oberwasser hatte. „Ich glaube, es ist das beste, Sie gehn jetzt, laufen nach Piccadilly und nehmen da ein Taxi zum Yard. Ich warte hier noch eine halbe Stunde und fahre dann zu mir. Ich schlage vor, Ihr Mann kommt morgen in mein Büro, geradewegs von zu Hause, und bleibt in Verbindung mit Ihnen, ohne sich dem Yard zu nähern. Ihre Experten werden ja hoffentlich mit solchen Sachen Bescheid wissen.“ „Natürlich, natürlich“, bestätigte Sir Malcolm nickend. „Noch etwas“, sagte Ridley, „Ihr Mann soll sagen, er kommt vom Stadtbezirksamt oder von der Steuer oder so was. Ich will nicht, daß meine Frau und meine Tochter erfahren, was los ist. Und er soll mir Bescheid geben, was sie im Yard davon halten, daß ich die Annonce in die ‚Times‘ setze. Mir scheint, es ist die einzige Möglichkeit, Zeit zu gewinnen.“ „Ja, gewiß. Würde uns sicherlich einen Zeitgewinn verschaffen. Aber jetzt breche ich auf“, sagte Sir Malcolm. Der Mann war natürlich ein ganz ungehobelter Patron, aber er hatte da ein paar Ideen entwickelt, die ihm, Sir Malcolm, gegenüber den Fachleuten und bei der Unterredung mit dem Innenminister zu einem besseren Stand verhelfen konnten. Sein Dinner war natürlich verpatzt. Er erhob sich. 82
„Wir werden uns wohl erst wiedersehen, wenn diese gräßliche Geschichte vorbei ist.“ „Wenn überhaupt“, sagte Ridley. Er konnte diese verdammten arroganten feinen Pinkel nicht ausstehen, die einen immer spüren ließen, wohin man gehörte. Ridleys Begegnung mit Kriminalinspektor Gullet ähnelte der zweier zäher, wachsamer und argwöhnischer Straßenhunde. Um halb zehn Uhr morgens kam ein Anruf aus einer nahe gelegenen Telefonzelle. Die Stimme klang rauh und hatte einen Londoner Akzent. „Mr. Ridley. Mein Name ist Neil. Ich bin vom Finanzamt. Es gibt da ein paar Unklarheiten in Ihrer letzten Steuererklärung, über die ich mit Ihnen sprechen möchte. Ich bin ganz in der Nähe.“ Während Ridley auf „Neil“ wartete, vergewisserte er sich, daß sein Recorder eine volle Kassette hatte und daß das Mikrofon, das wie ein Tischfüllhalterständer aussah, eingeschaltet war. „Mr. Neil“ erwies sich als ein ungewöhnlich stämmig gebauter Mann, etwas zu klein für einen Polizisten – Ridley schätzte ihn auf etwa ein Meter siebenundsechzig –, aber äußerst muskulös. Der dunkelgraue Konfektionsanzug spannte sich über den Schultern und Oberarmen. Sein Kopf war wie ein Ei geformt – das schmalere Ende oben – und fast ebenso kahl. Über die eine Schädelhälfte lief eine kaum sichtbare blaue Narbe und eine zweite, tiefere quer über den Sattel seiner fleischigen, scharf vorspringenden Nase. Von den Nasenflügeln zogen sich tiefe Furchen zu den Mundwinkeln und dem quadratischen Kinn hinab. Seinen Augen entging nichts, obwohl nichts ihre Aufmerksamkeit zu erregen schien. Sie waren blaßblau wie ausgewaschene Jeans, fast ausdruckslos, und erinnerten an Perlmuttknöpfe. 83
Harte Finger hielten einen abgetragenen Bowler, dessen Hutband vorne vor Alter glänzte. Einer von der alten Schule, entschied Ridley, und für den Fall, daß jemand horchte, sagte er: „Kommen Sie rein, Mr. Neil. Nun, worum geht’s?“ „Guten Tag“, grüßte der Besucher, trat an den Schreibtisch, legte eine Visitenkarte mit der beschrifteten Seite nach oben darauf und drehte sie so, daß Ridley sie lesen konnte. Kriminalinspektor Percival Gullet New Scotland Yard Mit Bleistift waren die Worte daraufgeschrieben: Abteilung für schwere Verbrechen „Freut mich, Sie kennenzulernen“, sagte Ridley. „Nehmen Sie Platz, Mister …“ „Da sind Sie einer von wenigen“, sagte der Mann vom Yard mit schwerfälligem Humor. „Neil. Mr. Jack Neil vom Finanzamt.“ Er nahm die Visitenkarte und steckte sie wieder in seine Brieftasche. „Zur Sicherheit“, sagte er. Er setzte sich auf den Stuhl, auf den Ridley gezeigt hatte, und als er seinen Bowler auf den Schreibtisch legte, gab er dem Füllhalterständer mit dem Hutrand einen leichten Schubs und stellte fest, daß er auf dem Schreibtisch befestigt war. Er kannte diesen Mikrofontyp, und Ridley mit ausdruckslosen Augen anblickend, stülpte er den Hut darüber. „Zigarre? Zigarette?“ fragte Ridley. „Pfeife“, knurrte Gullet, „wenn es Ihnen nichts ausmacht.“ Sein alter Wildledertabakbeutel war an mehreren Stellen speckig und seine Pfeife stark nachgedunkelt, aber das gemaserte Holz glänzte, glatt poliert durch jah84
relangen Gebrauch. Dichter blauer Rauch wölkte sich zur Decke, als er die Glut mit einer harten Fingerkuppe niederklopfte. „Wir behandeln diesen Fall mit Vorrang. Wir betrachten ihn als sehr ernst. Es hängt eine Menge daran, und der Innenminister hat darum gebeten, ständig auf dem laufenden gehalten zu werden.“ „Ach, der“, sagte Ridley voller Verachtung. „Der kann doch seinen Hintern nicht von seinem Ellenbogen unterscheiden.“ „Darüber will ich mich mit Ihnen nicht streiten. Aber wir vom Yard möchten eine klare Antwort auf eine klare Frage: Arbeiten Sie mit uns zusammen, oder werden Sie versuchen, hinter unserm Rücken mit den Entführern zu verhandeln? Natürlich ist es eine dumme Frage.“ „Warum?“ „Weil Sie es mir nicht sagen würden, wenn Sie die Absicht hätten, diese Sache direkt zu regeln.“ „Dumm oder nicht, mein Standpunkt ist folgender: Natürlich will ich, daß mein Sohn gerettet wird und freikommt, doch ich habe nicht die Absicht, mich erpressen zu lassen. Ich werde nicht mit den Banditen verhandeln.“ Gullet lehnte sich zurück und zündete aufs neue seine Pfeife an. „Sehr gut, Mr. Ridley. Wir haben mit Entführern nicht soviel Erfahrung wie unsere Kollegen auf dem Kontinent, vielleicht weil wir auf einer Insel leben. Es ist schwieriger, über die Grenze zu kommen. Aber bei Entführungen gibt’s natürlich oft Probleme – Eltern, Ehefrauen, Kinder, die bereit sind zu zahlen, um ihre Angehörigen zurückzubekommen. Sie machen sich nicht klar, daß es gar keine Garantie gibt, wenn sie zahlen. In den meisten Fällen ist das Opfer die Gefahr Nummer eins für die Kidnapper. Es hat zuviel gesehen oder gehört. Oft ist es auch schon tot und wird nur noch als Hebel benutzt, um das Geld zu kriegen.“ 85
„Ich weiß das alles“, sagte Ridley ungeduldig. „Ich bin kein Kind.“ „Und ferner“, fuhr Gullet fort, als hätte er Ridleys Einwurf nicht gehört, „je mehr die Leute zahlen, desto sicherer können wir sein, daß die Entführungen nicht aufhören. Von unserm Standpunkt aus gibt’s nur eine Möglichkeit: Man muß dafür sorgen, daß sich die Sache nicht lohnt.“ Ridley nickte. „Sie können sich die Lektion sparen. Bestellen Sie dem Innenminister, aus mir werden sie keinen Penny herauskriegen.“ „Die Entführer haben gedroht, Ihren Sohn umzubringen. Der Minister will sicher wissen, wie Sie darauf reagieren.“ „Zum Teufel, ich bin kein Kind und auch kein sentimentaler Trottel. Mein Sohn ist vielleicht schon tot. Oder sie haben ihn nur deshalb noch nicht umgebracht, um den Beweis liefern zu können, daß er das Geld noch wert ist. Sie wollen ihn vielleicht erst umbringen, nachdem sie das Geld bekommen haben. Oder Ihr Polypen findet ihn.“ Bei diesen letzten Worten griente Ridley skeptisch und fuhr dann fort: „Das sind alles bloß Vermutungen, Spekulationen, und ich bin nie für Spekulationen gewesen. Natürlich ist es auch ein Risiko, sich auf die Polizei zu verlassen. Aber ich zahle Steuern, und ich zahle unter anderem dafür, daß die Polizei diese Arbeit macht. Also sehn Sie zu, wie weit Sie kommen.“ Gullet sagte: „Das eben wollte ich klarstellen. Geben Sie die Annonce in die ‚Times‘, aber nennen Sie in der Annahmestelle nicht Ihren richtigen Namen, und bezahlen Sie bar. Die meisten Zeitungen lassen diese Anzeigen jeden Tag durchsehen, in der Hoffnung, eine Story zu entdecken.“ Er nahm seinen Hut vom Tisch. „Ich gehe jetzt und setze ein paar Räder in Bewegung. Inzwischen machen Sie mir, und das so schnell wie mög86
lich, eine Aufstellung aller Personen, die Ihrer Meinung nach für die seltsamen Scherze, die man sich mit Ihnen erlaubt, und für den durch Ihre Windschutzscheibe geschleuderten Ziegelstein in Frage kommen. Wir werden sie überprüfen. Das dauert vermutlich eine ganze Weile. Ein Mann in Ihrer Stellung kann eine Menge Feinde haben.“ Nachdem Gullet gegangen war, setzte sich Ridley hin und begann mit der Aufstellung. Die Liste war sehr lang, und irgendwo in der Mitte stand der Name Sinclair, der Name des Geschäftsführers, den er vor ein paar Wochen fristlos entlassen hatte. Melissa kam aus einem Kino in der Oxford Street und schlenderte weiter zum Marble Arch, um etwas frische Luft zu atmen. Hinter Marble Arch verlief die Grenze zu jenem Gebiet, wo es nach zehn Uhr abends für eine gutangezogene junge Frau nicht mehr ratsam war, allein zu gehen. Also winkte sie ein Taxi heran und ließ sich in die Westland Mews fahren. Dort herrschte noch Leben: erleuchtete Schaufenster, geöffnete Restaurants. Es roch nach Fisch und Pommes frites, Bouletten, Kebab und warmen Würstchen. In einer Ecke der Mews hielt ein bärtiger Mann Exemplare einer Zeitung hoch und rief etwas aus. Sie freute sich schon auf den letzten Teil einer Fernsehserie und ein genüßliches Bad, doch ihre gute Laune schwand, als das Taxi in die Mews einbog und sie Licht in ihrer Wohnung sah. Ridley war eine Woche lang nicht dagewesen, und sie hatte sich an das leere Haus gewöhnt. Sicherlich gab er sich die größte Mühe, aber trotzdem war er kein sehr anregender Gefährte für eine junge Frau und außerdem zu schlau, als daß man ihn leicht hätte hintergehen können. Sie tastete in ihrer Manteltasche nach dem abgerissenen Kinobillet. So konnte sie wenigstens beweisen, wo sie gewesen war. 87
Sie schloß auf, stieß die Haustür auf und rief: „Bist du’s, Ted?“ „Wen hattest du denn erwartet?“ erwiderte er. Solche schwerfälligen Scherze waren die einzige Art von Humor, die er kannte. „Kein Mensch kennt sein Glück“, gab sie im gleichen Ton zurück. „Warum hast du nicht angerufen? Dann wär ich zu Hause geblieben und hätte dir was zum Abendessen gemacht. Ich bin nur aus Langeweile ins Kino gegangen.“ „Konnte nicht. Gab Gründe.“ Seine Stimme klang verschleiert, und der Whisky mit Soda, den er jetzt in sich hineinschüttete, schien hochprozentig zu sein. Melissa beeilte sich, sein Glas neu zu füllen, und goß sich selber einen Gin mit Tonic ein. Er hatte offenbar schon eine ganze Menge getrunken, und mit etwas Glück und einer geschickten Verzögerungstaktik brachte sie es vielleicht dahin, daß er einschlief, bevor irgend etwas geschah. Auf der Lehne seines Sessels sitzend, reichte sie ihm das bis zum Rand gefüllte Glas und streichelte sein borstiges Haar. „Hattest du einen schweren Tag, Lieber?“ „Kann man wohl sagen. Keine Gelegenheit anzurufen.“ „Warum hörst du nicht überhaupt auf? Du hast dein Teil getan. Wir könnten irgendwohin reisen, in ein freundlicheres Klima.“ O ja, dachte Ridley, für Scheidungsgründe sorgen und mich dann ausnehmen wie eine Weihnachtsgans. Er trank einen großen Schluck Scotch und spürte die Wirkung des Alkohols in seinem Körper. „Gute Idee“, pflichtete er ihr bei. Er kam gerade von einer geheimen Zusammenkunft mit Gullet, der ihm erzählt hatte, daß er und sein Stab in einer mit Brettern 88
vernagelten bankrotten Bingohalle ihr Hauptquartier aufschlagen würden, unter dem Vorwand, dort irgendeine ziemlich verrückte Meinungsumfrage zu organisieren. Ganz offenkundig wußte der Yard nicht recht, wo er bei dieser Entführung ansetzen sollte. Er startete Aktionen in verschiedene Richtungen. Männer, die sich alle Mühe gaben, nicht wie Kriminalbeamte auszusehen, tranken Bier auf Spesen und versuchten, Spuren ausfindig zu machen. „Wir tappen natürlich noch immer im dunkeln“, hatte Gullet zugegeben. „Und wir werden auch nicht viel weiterkommen, bis Ihre Annonce in der ‚Times‘ erschienen ist und die Entführer wieder mit Ihnen Kontakt aufnehmen. Wenn die Anzeige erscheint, bleiben Sie also am besten zu Hause oder in Ihrem Büro, wo Sie jederzeit erreichbar sind. Wenn erst mal Kontakt da ist, bessern sich unsere Chancen.“ Ridley hatte vor sich hin geknurrt und nichts darauf erwidert. Als Mann aus dem East End war er skeptisch, was die Arbeit der Polizei betraf. Er betrachtete sie mit den Augen des Cockneys. Polizeiarbeit war eine Arbeit wie jede andere – weder hochbezahlt noch hochqualifiziert. Zur Polizei gingen Leute, die gern andere herumkommandierten, Leute, die für bessere Arbeit nicht gut genug waren, oder aber Leute, deren Moral nicht besser war als die der Verbrecher, die es aber vorzogen, im Schutz des Gesetzes zu operieren. „Anständiger Film?“ fragte er gleichgültig. „Es geht.“ Er war in die Mews gefahren, weil er keine Lust hatte, Winifred etwas vorzumachen. Je länger er es hinausschieben konnte, ihr mitzuteilen, was geschehen war, desto besser. Außerdem war dieser Besuch seine letzte Gelegenheit für vielleicht unabsehbar lange Zeit. Morgen früh würde seine Annonce in der „Times“ erscheinen, und dann muß89
te er sich in seinem Büro oder in seiner Wohnung in der Nähe des Telefons aufhalten. Aus ihrem Sessel beobachtete Melissa, wie ihm die Augen zufielen, sich wieder öffneten, wieder zufielen. „Komm, Ted“, sagte sie. „Wenn du dort sitzen bleibst, muß ich dich nachher die Treppe rauf ins Bett tragen.“ Als sie aus dem Badezimmer, kam, schnarchte er bereits. In Fleet Street, wo die großen Zeitungen beheimatet waren, hielten der Nachtredakteur, der Nachrichtenredakteur, der stellvertretende Chefredakteur, der Bildredakteur und der Erste Kriminalreporter des „Daily Success“ eine hektische Konferenz über eine Botschaft ab, die ein Taxifahrer dem Portier des Zeitungshauses überbracht hatte. „’n komischer Kerl war das – hat mir zwei Pfund in die Hand gedrückt, damit ich’s hier abgebe. Sagte, es wär ’ne Sache von Leben und Tod.“ So der Taxifahrer zum Portier. Der Mann hätte eine dunkle Brille getragen und Pfeife geraucht, und einen kleinen Schnurrbart hätte er gehabt, „so einen, der runterhängt“. Der Portier hatte sich den Namen und die Autonummer des Taxifahrers aufgeschrieben. Die Botschaft war mit Schreibmaschine getippt. Diese Mitteilung ist nur für Sie bestimmt und brandheiß. Aus naheliegenden Gründen bleibe ich aus dem Spiel, aber ich lege eine halbe Spielkarte bei und behalte die andere Hälfte, für den Fall, daß es später möglich wird, eine Vermittlungsgebühr zu kassieren. Ronald Ridley, der Sohn des Fleischkönigs, ist entführt worden. Die Entführer verlangen zwei Millionen Pfund Lösegeld. Der Yard bereitet eine Großfahndung vor. Edward Ridley soll eine Annonce in die Donnerstagsausgabe der „Times“ setzen. 90
Einer der jungen Mitarbeiter, der bereits bei kleineren Spionageaufgaben ähnlicher Art eine gewisse Begabung hatte erkennen lassen, wurde mit dem Auftrag ausgesandt, sich einen Fahnenabzug von der letzten Seite der morgigen „Times“ zu beschaffen. Er war noch nicht zurück. Nach Carr, dem Chefredakteur, wurde im „Savoy“ und verschiedenen anderen seiner Lieblingsaufenthaltsstätten gefahndet, während Perkins, sein Stellvertreter, der in dieser Nacht Redakteur vom Dienst war, den Himmel anflehte, Carr möge nicht gefunden werden, damit er diese Sache, die wie eine seltene exklusive Sensation aussah, allein deichseln konnte. Perkins, der für sein Alter bereits stark ergraut war, zeigte jene erhabene Ruhe, die fanatische Journalisten immer dann überkommt, wenn schicksalsschwere Entscheidungen gefällt werden müssen. Der Bildredakteur grübelte bereits darüber nach, wie er an Fotografien von Ronald Ridley und seinen Angehörigen herankommen könnte. Der stellvertretende Chefredakteur entwarf im Kopf ein Layout, das es gestattete, die Titelseite rasch umzustellen. Der Erste Kriminalreporter war besorgt. Wenn diese Geschichte stimmte, dann war eins klar: Der Yard wollte nicht, daß sie bekannt wurde, und er wußte nur zu gut, welche Rache der Yard an Reportern nehmen konnte und auch nahm, die den komplizierten Regelkodex verletzten. Alle Anwesenden waren alte Hasen. Sie brauchten nicht viele Worte. Es war eine Menge zu tun, wenn sie die Story komplett bringen und die Konkurrenz abgeschlagen hinter sich lassen wollten – vorausgesetzt, daß das Ganze sich nicht als Ente entpuppte und daß eine Entscheidung darüber erzielt werden konnte, ob man es drucken sollte oder nicht. „Sie können zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen“, sagte Perkins zu dem Bildredakteur. „Fahren Sie zur 91
Holford Road, ermitteln Sie, ob sich irgendwas Ungewöhnliches in der Familie tut, und bringen Sie uns alle Fotos, die Sie kriegen können, vor allem von Ridley junior. Erfinden Sie irgendwas. Vielleicht erzählen Sie ihnen was von einem Totogewinn.“ Er wandte sich an den Kriminalreporter. „Und Sie lassen sich besser im Yard nicht blicken, bevor wir nicht mehr wissen. Wer hat heute mit Ihnen zusammen Dienst?“ „Charlie Biggs.“ „Na, der ist neu und kann dafür eingesetzt werden. Geben Sie ihm genaue Anweisungen, und schicken Sie ihn zum Hohlen Zahn ∗ , damit er sich dort umhört. Und Sie machen inzwischen einen Streifzug durch ein paar Kneipen und sehen zu, ob Sie irgendwas Interessantes erfahren.“ In diesem Augenblick kam der junge Reporter, der zur „Times“ geschickt worden war, aufgeregt mit einem noch feuchten Abzug von der letzten Seite der morgigen Ausgabe zurück. „Hat mich ’n Fünfer gekostet“, keuchte er. „Lassen Sie sich’s an der Kasse wiedergeben“, murmelte Perkins und schrieb eine Anweisung aus. „Sagen wir zehn, fürs Taxi.“ „Oh, danke schön.“ Sie beugten sich über den großen Bogen, der sich wellte. „Das hier könnte es sein. Nur eine Zeile. Einverstanden mit Brotsammeln, Edward. Das gibt doch einen Sinn. Brot – Geld. Und Ridley senior heißt Edward mit Vornamen, nicht wahr?“ Nach einer Weile sagte Perkins: „Es ist die einzige Annonce, die in Frage kommt. Und jetzt gehen wir an ∗
Spitzname für das neue Londoner Scotland-Yard-Gebäude
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die Arbeit. Okay“, er wandte sich an den Nachtredakteur, „bereiten Sie eine Titelseite vor, die umgestellt werden kann, so daß das hier Spitzenmeldung wird – groß aufgemacht –, wenn wir eine Bestätigung kriegen. Das ist im Augenblick alles.“ Zehn Minuten später stand Jackson, der Bildredakteur, im Haus der Ridleys. Zu dieser Stunde hatte Winifred bereits ein ganz hübsches Quantum Gin mit Tonic intus und war gerade im Begriff, zu Bett zu gehen. „Ein Glück, daß ich Sie noch erwischt habe, Mrs. Ridley“, sagte Jackson. „Obwohl ich eigentlich Ihren Sohn Ronald sprechen wollte. Ist er zu Hause?“ „Ich hab den Lümmel seit Sonntag nicht zu sehn gekriegt. Zur Arbeit ist er auch nicht gekommen. Warum? Ist irgendwas passiert?“ „Ja. Was Angenehmes, glaube ich.“ „Sind Sie von der Polizei?“ Jackson lachte herzhaft. „Die Polizei! Ich muß Ihnen ja einen schönen Schreck eingejagt haben. Tut mir leid. Ich bin vom ‚Hoxton Herald‘. Wir haben in der Redaktion was läuten gehört, daß Ihr Sohn zwanzigtausend Pfund im Lotto gewonnen hat. Ist aber noch nicht offiziell, deshalb wollte ich es nachprüfen. Das ist eine Neuigkeit, wie?“ „Was, Ronnie? Der Glückspilz! Sind Sie sicher?“ „Durchaus nicht. Aber meistens stellt sich heraus, daß es stimmt. Wir haben unsere Informationsquellen. Und der Chef meinte, ich soll für alle Fälle Fotos von Ihrem Sohn und der ganzen Familie beschaffen, damit wir sie parat haben, wenn die Meldung erscheint.“ Er setzte hinzu: „Natürlich kriegen Sie sie wohlbehalten zurück, und wir bezahlen für jedes Foto, das wir bringen.“ Das klang, wie Jackson schon des öfteren festgestellt hatte, sehr echt und vertrauenerweckend. Als Winifred aus dem Zimmer gegangen war, geneh93
migte er sich einen großen Schluck Gin aus der Flasche, die sie auf dem Tisch hatte stehenlassen. Bisher stand es fifty-fifty. Sie hatte ihren Sohn seit drei Tagen nicht gesehen, aber offensichtlich wußte sie nichts von einer Entführung. Er trank einen zweiten Schluck, und es gelang ihm gerade noch, die Flasche in dem Augenblick, als Winifred wieder hereinkam, auf den Tisch zurückzustellen und sich davor aufzubauen, so daß sie nicht sehen konnte, wie der Gin im Flaschenbauch hin und her schwappte. Sie hielt verschiedene Fotos in der Hand. „Das ist alles, was ich gefunden habe.“ Jackson blätterte sie durch. „Fabelhaft. Nicht mehr?“ „Bei uns wurde nie viel fotografiert“, sagte sie, und ihre Stimme klang bitter. „Macht’s Ihnen was aus, wenn ich sie alle mitnehme, damit der Redakteur sich morgen früh aussuchen kann, was er haben will? Ich gebe Ihnen eine Quittung.“ Jackson stand in der Fleet Street in dem Ruf, daß er vor keinem noch so schmutzigen Trick zurückschreckte, wenn es galt, sich das Foto zu beschaffen, das er haben wollte, oder aber die Konkurrenz daran zu hindern, sich ihrerseits ein Foto zu verschaffen. Wenn der „Daily Success“ die Story wirklich brachte, überlegte er, würde es die ganze Fleet Street in ein paar Minuten wissen; dann würde es in der Holford Road von Journalisten wimmeln, die sich Fotos und Details verschaffen wollten. Und in der Spanne, die zwischen dem Entschluß lag, die Geschichte zu bringen, und dem Zeitpunkt, wo sie dann tatsächlich gedruckt wurde, mußte er Fotografen bestellen, die Mrs. Ridleys Gesicht in dem Augenblick auf den Film bannten, da sie hörte, daß ihr Sohn entführt worden war. Herrgott, so machte die Arbeit Spaß! „Ja, nehmen Sie sie alle mit“, sagte Winifred. „Ich kriege sie doch aber bestimmt wieder?“ 94
„Keine Sorge, Mrs. Ridley.“ „Wie wär’s mit einem kleinen Drink, bevor Sie gehen? Leider kann ich Ihnen nur Gin anbieten.“ „Vielen Dank, aber lieber nicht. Ich habe eine lange arbeitsreiche Nacht vor mir.“ Je schneller er aus der Holford Road verduftete, desto besser. Als er in die Redaktion zurückkam, war die Lage dort kritisch. Charlie Biggs, dem es noch an Erfahrung mangelte, hatte sich offenbar wie ein Elefant im Porzellanladen bewegt und den Argwohn des Pressereferenten von Scotland Yard erregt. Dieser Beamte wußte noch nichts von der Entführung, aber er war ein schneidiger junger Kriminalist, der Karriere machen wollte, und als ihm zu Ohren kam, daß der „Daily Success“ über die Ridleys recherchierte, informierte er Gullets Assistenten, der wiederum Gullet davon in Kenntnis setzte, worauf dieser seinerseits den Commissioner unterrichtete. Inzwischen hatte man Frank Carr, den Chefredakteur des „Daily Success“, in einem Klub in Soho aufgespürt, und er war in die Redaktion geeilt, um die Sache in die Hand zu nehmen. Er war auch am Apparat, als der Commissioner anrief. „Ja. Stellen Sie durch“, sagte er zu der Telefonistin. Gleichzeitig deckte er mit der Hand die Sprechmuschel ab und flüsterte: „Es ist Treddick. Auf Tonband aufnehmen.“ Er zog die Hand fort. „Ja, Sir Malcolm. Guten Abend. Carr am Apparat. Ja, natürlich, wir tun alles, was in unseren Kräften steht, um der Polizei zu helfen, das wissen Sie ja.“ Er lächelte in die Runde. Seine Kollegen konnten das Gespräch auf dem Tonband mithören. 95
„Die Sache ist die, Carr“, sagte der Commissioner, „das hier ist eine sehr delikate Angelegenheit. Es ist mir zu Ohren gekommen, daß Ihre Zeitung Nachforschungen über die Ridleys anstellt – Ridley, der Fleischhändler. Können Sie mir mitteilen, warum?“ Carr und Perkins wechselten einen Blick und grienten. „Einen Augenblick, Sir Malcolm. Ich werde mich erkundigen. Bleiben Sie am Apparat, oder soll ich zurückrufen?“ „Ich bleibe dran.“ Wieder legte Carr die Hand über die Sprechmuschel und hielt den Hörer auf Armeslänge von sich ab, während er sich flüsternd mit seinem Stellvertreter beriet. „Soll ich sagen: Wir überprüfen eine Meldung, wonach der junge Ridley entführt worden ist?“ Perkins schüttelte den Kopf. „Zu direkt.“ „Es ist sicherer so. Wenn er uns unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt, was los ist, sind wir angeschmiert.“ Perkins spitzte die Lippen und nickte. Carr hatte recht. „Der Hochedle ist doch ein Riesentrottel“, sagte er. „Er hat die Geschichte ja schon dadurch bestätigt, daß er uns angerufen hat. Wir wissen jetzt, daß es stimmt. Aber er wird versuchen zu verhindern, daß wir es drucken.“ Carr sagte: „Und wenn er die ganze verdammte Armee mobilisiert, ich werfe doch so einen Knüller nicht auf den Mist.“ Er sprach wieder ins Telefon. „Tut mir leid, daß ich Sie warten lassen mußte, Sir Malcolm. Es ist so: Einer unserer Reporter hat versucht, die Richtigkeit einer bei uns eingegangenen Information zu überprüfen, nach der Edward Ridleys Sohn Ronald entführt worden ist und die Entführer ein horrendes Lösegeld verlangen. Da Sie jetzt selber am Apparat sind, Sir Malcolm, können Sie das vielleicht bestätigen oder verneinen. Wir haben die Sache noch nicht fertig.“ 96
Das „noch nicht“ war gut, schmeichelte er sich. „Mir wäre es lieber, Sie würden sie gar nicht bringen, Carr.“ „Soll das heißen, daß die Information stimmt, Sir Malcolm?“ Kurze Pause. „Wir versuchen das gerade herauszufinden, Carr. Höchstwahrscheinlich ist es nur ein alberner Streich. Aber da wir das noch nicht ganz sicher wissen, wäre es mir lieb, wenn Sie mir Ihr Versprechen gäben, nichts darüber zu veröffentlichen.“ „Tut mir leid, das kann ich Ihnen nicht versprechen, Sir Malcolm.“ „Aber verdammt, Carr, dadurch gefährden Sie vielleicht das Leben des Jungen!“ „Wenn man ihn entführt hat, schwebt er doch ohnehin in Lebensgefahr. Ich sehe nicht ein, wieso die Gefahr für ihn größer wird, wenn wir die Fakten bringen.“ „Die Polizei kann das wohl besser beurteilen.“ „Nicht immer, Sir Malcolm. Die Polizei hat ihre Pflichten, und unsere Pflicht ist es, die Öffentlichkeit zu informieren.“ „Dann bleibt mir nichts weiter übrig, als mich an Lord Druleigh zu wenden.“ Lord Druleigh, der Besitzer des „Daily Success“ und einer ganzen Reihe anderer Unternehmen, hielt sich für einen Superjournalisten und war entzückt über jeden Knüller, den der „Daily Success“ an Land zog. Carr zwinkerte seinem Stellvertreter zu. „Tun Sie das, Sir Malcolm. Und wenn Sie ihn finden sollten, bitte, lassen Sie mich wissen, wo er steckt. Ich versuche ihn seit einer Woche zu erreichen.“ Nach seiner Stimme zu urteilen, war Sir Malcolms niemals sehr bedeutender Vorrat an Geduld jetzt erschöpft. „Nun hören Sie mir mal gut zu, Carr. Ich habe bereits 97
mit dem Innenminister gesprochen, und er ist völlig einer Meinung mit mir. Ich muß Sie offiziell ersuchen – offiziell, betone ich –, nichts über dieses Gerücht zu drucken. Wir haben es hier möglicherweise mit einer internationalen Bande zu tun.“ Carr wartete ein paar Augenblicke, bevor er antwortete, damit es so aussah, als nähme er sich diese ernste Warnung gebührend zu Herzen. Er nickte Perkins befriedigt zu. Die Sache entwickelte sich fabelhaft. „Ich verstehe Ihre Besorgnis, Sir Malcolm. Ich verspreche Ihnen, daß ich und meine Kollegen Ihrem offiziellen Ersuchen die gebührende Beachtung schenken werden.“ „Dann also gute Nacht, Carr.“ „Gute Nacht, Sir Malcolm.“ Das Gespräch endete mit einem Knacken. Carr hörte nicht mehr, wie Sir Malcolm sagte: „Verdammtes sensationsgieriges Gullischmierblatt!“, und Sir Malcolm hörte nicht mehr, wie Carr sagte: „Aufgeblasener alter Trottel!“ Aller Augen blickten auf Carr. Perkins stellte die Frage, die alle bewegte. „Wir drucken die Story?“ „Selbstverständlich“, antwortete Carr, „aber nicht jetzt. Noch zu früh. Wir warten ab und bereiten alles für die Drei-Uhr-Morgenausgabe vor. Dann können die andern sie nur bringen, wenn sie uns zitieren. Inzwischen schicken wir ein paar Leute in die Holford Road, die die Familie benachrichtigen – Fotos, wie alle in Tränen ausbrechen, Zitate, Interviews mit Nachbarn. Dick auftragen, aber alles geheimhalten.“ „Und was soll die Bemerkung, die der Hochedle da über eine internationale Bande machte?“ fragte Perkins. „Klingt so, als könnte der Fall mit diesen Anarchisten vom Kontinent, diesen Terroristen, zusammenhängen.“ „Nein. Ich glaube, der alte Schwätzer versucht uns nur einzuschüchtern, damit wir die Sache nicht drucken. 98
Außerdem wollen wir nicht vorschnell sein. Diesen Aspekt können wir später mal ins Auge fassen. Nein. Zunächst bringen wir die nackten Tatsachen.“ „Und was ist mit dem anonymen Brief und der entzweigerissenen Spielkarte?“ „Nichts davon, bis wir wissen, wie der Hase läuft.“ „Sollten wir das nicht lieber der Polizei übergeben, Frank? Du könntest sonst als Komplize belangt werden.“ Carr nickte. „Genau. Schick beides per Boten zu Sir Malcolm, sobald die Pressen laufen. Todsicher liegt er dann schon im Bett. Lieber Gott, es ist eine ganz tolle Geschichte. Ich will jede Manuskriptzeile sehen, bevor sie in Satz geht. Und die Layouts.“ Er warf einen Blick auf die Uhr. „In zwanzig Minuten schließen die Kneipen. Los, Perk, wir zischen jetzt irgendwo ein paar Bier. Dann sieht’s so aus, als ob wir nichts Besonderes in petto haben.“ Melissa schlug die Augen auf und sah einen langen Sonnenstrahl, der durch die Ritzen der Fensterläden ins Zimmer schien. Ridley lag schnarchend und mit zitterndem Schnurrbart ein Stück von ihr entfernt in dem großen runden Bett. Sein borstiges graues Haar stand in alle Richtungen vom Kopf ab. Ein durchdringender Geruch nach schalem Whisky vermischte sich mit dem Duft des Parfüms, das sie über das Bett versprüht hatte. Vorsichtig glitt sie unter der Daunendecke hervor, suchte ihre Sachen zusammen und stieg lautlos die Wendeltreppe hinunter. Sie nahm schnell eine Dusche und zog sich an. Als sie vollständig angekleidet war, fühlte sie sich besser. Sie brühte sich eine Kanne starken Tee auf, und während der Tee zog, ging sie zur Tür und nahm die Morgenzeitung, den „Daily Success“, aus dem Briefkasten. Ohne die schreienden Schlagzeilen wahrzunehmen, 99
blickte sie auf die Titelseite und legte die Zeitung auf den Tisch. Als sie sich eine Tasse Tee eingoß, kam ihr plötzlich zum Bewußtsein, was sie da sah. Von der Titelseite starrte ihr Ridley entgegen, Edward Ridley, der schnarchend im oberen Stockwerk lag. Und das da, das war Paul Fisher, der junge Mann, der ihren Wagen bewundert hatte – mit dem sie nach Epping Forrest gefahren war … Unter diesem Foto stand: Ronald Ridley. Entführt. Der Text unter Ridleys Bild lautete: Edward Ridley, der Fleischkönig. Er unterrichtete Scotland Yard. Verstört, benommen, noch nicht ganz begreifend, las sie weiter. Mindestens die Hälfte der Seite nahmen die Schlagzeilen ein. BERICHT ÜBER DIE ENTFÜHRUNG DES FLEISCHMILLIONÄRSSOHNS ZWEI MILLIONEN LÖSEGELD GEFORDERT GROSSFAHNDUNG DES YARD „Mein Gott“, stöhnte sie und überflog rasch den Rest des Berichts, den ein Experte so geschrieben hatte, daß die Sensation voll ausgekostet und gleichzeitig alles, was als Verleumdung oder als Mißachtung des Gerichts hätte interpretiert werden können, sorgfältig vermieden wurde. Auf Seite eins stand in einem mit dicken schwarzen Balken eingerahmten Kästchen: EXKLUSIV. Wieder einmal bringt Ihnen der Daily Success den ersten Bericht über die große Story des Tages. Auf Seite 2: Die Tragödie von Ronald Ridleys Mutter. Melissa ließ sich in einen Sessel fallen und versuchte zu begreifen. Sie schlug Seite zwei auf: Fotos vom Haus in der Holford Road, das sie gesehen hatte, von Mrs. Ridley, die das Gesicht in den Händen vergrub, von Nachbarn. Ein fettgedruckter Abschnitt sprang aus der Seite heraus: Tränenüberströmt sagte Mrs. Ridley: „Das 100
Geld bedeutet nichts, wenn es um das Leben meines armen Sohnes geht.“ Melissa wandte sich wieder der ersten Seite zu und studierte Ronalds Foto, das offenbar vor ein oder zwei Jahren aufgenommen worden war. Er mußte also über sie und Ridley Bescheid gewußt haben. Deshalb war er an jenem Tag in die Mews gekommen. Aber woher hatte er es erfahren? Und als sie im Wald miteinander schliefen, hatte er gewußt, daß sie die Geliebte seines Vaters war. Sie fühlte, wie ihre Wangen brannten. Es läutete an der Tür. Sie wollte öffnen, hielt inne und unterließ es. Draußen hatte sich offenbar eine Menschenmenge versammelt. Das Telefon klingelte. Ohne jede Einleitung sagte die Stimme eines Mannes: „Ist dort Mrs. Margrove? Haben Sie etwas zu der Nachricht von heute morgen zu sagen? Ich bin vom ‚Evening Telegraph‘.“ Sofort legte sie auf. Gleich darauf schrillte das Telefon von neuem. Sie zog den Stecker aus der Wand. Wieder wurde laut an der Tür geklingelt und hartnäckig geklopft. Das Haus schien sich im Belagerungszustand zu befinden. Sie lief die Wendeltreppe hoch. Als sie oben anlangte, hörte sie ein Stöhnen. „Verdammt, mein Kopf! Mein Mund! Was bedeutet denn dieser Krach da unten?“ Sie warf die Zeitung aufs Bett. Anscheinend ohne etwas aufzunehmen, starrte er auf die erste Seite, schloß die Augen und öffnete sie plötzlich wieder. „Was? Nein!“ Mit einem Blick überflog er die Titelseite und schleuderte die Zeitung beiseite. „Mein Kopf! Hol mir um Gottes willen was zu trinken.“ „Ist das dein Sohn?“ „Verdammt. Hol mir um Gottes willen was zu trinken.“ „Ist das wahr? Ist das dein Sohn?“ 101
„Ja. Holst du mir jetzt gefälligst was zu trinken?“ Draußen flammte Blitzlicht auf, heller als das Tageslicht. Melissa lief die Treppe hinunter. Ridley sah auf die Zeitung und stöhnte. Wie hatte dieses Pack Wind von der Sache gekriegt? Von ihm hatte niemand ein Sterbenswort erfahren. Bei der Polizei mußte es eine undichte Stelle geben, das war die einzige Möglichkeit. Irgendein verdammter Kerl vom Yard hatte sich einen netten kleinen Nebenverdienst verschafft, indem er dem „Daily Success“ rechtzeitig einen Wink gegeben hatte. Melissa erschien mit einer Flasche Scotch und einem Wasserglas. Während sie eingoß, sagte sie langsam: „Wieso wissen diese Zeitungsleute über uns Bescheid?“ „Meine Frau muß es ihnen erzählt haben.“ „Und woher wußte sie es?“ Er ballte die Fäuste. „Sei still. Laß mich nachdenken.“ Er trank das halbe Glas in einem Zug leer und schüttelte den Kopf. Also wußte Ridleys Frau, was los war, und deshalb war Ronald an jenem Tag in die Mews gekommen. Er war geschickt worden, um sie auszuspionieren, und sie hatte ihn ermutigt. Ridley stürzte den Rest seines Whiskys hinunter und zog sich eilig an. Trotz seines Katers hatte er sich jetzt wieder völlig in der Gewalt. Ein zäher alter Bursche, alles, was recht war. Melissa ging zum Fenster. „Glotz nicht raus“, schrie er. „Bert kann jeden Moment hier sein.“ Er warf einen Blick auf seine Uhr. „Ich habe ihm gesagt, er soll mich um neun abholen. Er ist immer pünktlich.“ Auf der Straße näherte sich langsam, laut hupend ein Auto. Rufe wurden laut: „Paß doch auf. Du bringst noch jemand um, du Knallkopf.“ Dann schrie eine Stimme, die wie die eines Polizisten 102
klang: „Bitte weitergehen. Behindern Sie nicht den Verkehr.“ „Bist du fertig?“ fragte Ridley. Sie nickte. „Hol eine Decke, die nimmst du übern Kopf.“ An der Tür rief er: „Bist du’s, Bert?“ „Ja, Chef. Die Wagentür ist offen. Ein Polyp hält die Leute auf der einen Seite zurück und ich auf der andern. Jetzt ist der richtige Augenblick. Los, rennen Sie.“ Die Presseaufnahmen zeigten alle durch die Bank Melissa mit einer Decke über dem Kopf und Ridley, seinen Hut vors Gesicht haltend, wie sie eilig in den Jaguar stiegen. Die Polizei überprüfte die Ausweispapiere aller Leute, die in der Holford Road vorsprachen, und vermochte so die Presse fernzuhalten. Ridley aber war gezwungen, zu Hause zu bleiben, wenn er nicht wollte, daß die Medien über ihn herfielen. Und es gab keine Rettung vor Winifreds erbarmungsloser Zunge. „Du wußtest es. Du wußtest es. Du herzloser Geizhals. Du wußtest, daß unser Sohn in den Händen dieser Mörder ist, und da ziehst du einfach ab und verbringst die Nacht bei deiner Nutte.“ „Halt’s Maul, blöde Kuh“, schrie Ridley. „Es ist nur Geld“, sagte Winifred vielleicht zum tausendsten Mal. „Was ist Geld gegen das Leben unseres Kindes? Du hast kein Recht, darüber zu entscheiden, ob Ronald leben oder sterben soll. Er ist mein Sohn. Biete ihnen eine Million an – anderthalb Millionen. Dann haben wir immer noch genug zum Leben.“ „Geht das denn nicht in deinen sturen Schädel rein, daß sie ihn höchstwahrscheinlich umlegen, wenn sie den Kies erst mal haben?“ „Ausflucht. Du willst dich partout nicht von deinem Geld trennen.“ 103
„Es ist keine Ausflucht. Die Polizei meint das auch.“ „Die Polizei! Plötzlich entdeckst du dein Herz für die Polizei. Wieso gibst du jetzt plötzlich was auf deren Meinung? Sieht dir gar nicht ähnlich. Die schert sich genausowenig um Ronnie wie du. Die würde genau wie du sein Leben aufs Spiel setzen, nur um Lorbeeren zu ernten.“ Mary, durch die Ereignisse ebenfalls gezwungen, zu Hause zu bleiben, saß stumm dabei und hörte zu. Nun mischte sie sich ein. „Bei diesem Schimpfduell kommt doch nichts heraus. Es ist klar, Mutter, wenn du dich von Entführern erpressen läßt, ermutigst du sie und andere Entführer. Und natürlich würden diese Kerle Ronald ohne weiteres umbringen, wenn das für sie einfacher und ungefährlicher wäre.“ Ridley nickte, verblüfft über die unverhoffte Unterstützung von dieser Seite. „Aber“, fuhr Mary fort, „wenn es sich um die eigene Familie, den eigenen Bruder handelt, sieht die Sache eben doch anders aus.“ „Wieso?“ unterbrach Ridley sie vorsichtig. Mary ignorierte seine Frage. „Du hast oft gesagt, es ist ein Glücksspiel, Vater. Nun, auch wenn die Chancen gering sind, sind es doch immerhin Chancen. Nimm mal an, es stünde hundert zu eins, daß sie Ronnie laufenlassen, wenn wir das Geld bezahlen. Wäre das nicht den Einsatz wert? Ich sage, ja. Für dieses eine Prozent Chance oder meinetwegen auch dieses halbe Prozent. Ja. Aber nimm mal an, die Chance ist größer?“ „Ich höre dauernd: Wir bezahlen“, sagte Ridley verächtlich. „Ich bezahle. Und wenn das Geld nun gar nicht vorhanden ist? Rufus Monk, der Inhaber von Tindall, hat schon angefragt, ob ich jetzt zu verkaufen gedenke. Er sagte: ‚Natürlich hat sich die Lage geändert, seit Sie unser letztes Angebot abgelehnt haben, und ich glaube nicht, daß die Aktionäre jetzt mit derselben Summe ein104
verstanden wären.‘ Aktionäre! Die gibt’s gar nicht. Es ist glatte Erpressung.“ „Würdest du an Monks Stelle nicht dasselbe tun?“ fuhr ihn Mary an. „Seid ihr Geschäftsleute nicht alle gleich – nur am Gewinn interessiert?“ In die Stille hinein, die nun folgte, läutete die Türglocke. Es war ein Postbote, begleitet von einem uniformierten Polizisten und zwei Männern in Zivil, die, wie sich herausstellte, Sprengstoffexperten des Yard waren. „Eingeschriebenes Päckchen für Mr. Edward Ridley“, sagte der Postbote. Der Polizist grüßte. „Meine Vorgesetzten ersuchen Sie, diesen beiden Herren zu gestatten, das Päckchen zu öffnen, Sir. Nur zur Sicherheit.“ „Keine Angst“, sagte einer der Männer in Zivil, „wir verstehen unser Geschäft.“ „Eine Bombe!“ rief Winifred im Hinausgehen. An der Wohnzimmertür blieb sie stehen und blickte auf das Päckchen. Es war klein, rechteckig, ungefähr drei Zentimeter hoch. Die beiden Experten zogen damit auf die Straße und verkündeten ein paar Augenblicke später, es sei in keiner Hinsicht gefährlich. „Aber vielleicht wäre eine Bombe doch besser gewesen“, sagte der eine und deutete auf das geöffnet daliegende Päckchen. „Würden Sie es sich bitte ansehen, ohne es zu berühren. Es muß zur gerichtsmedizinischen Untersuchung.“ Als Winifred Ridley Ronalds in blutgetränkte Watte gebettete Fingerspitze erblickte, schrie sie so gellend, daß alle Nachbarn, die sich gerade in Hörweite befanden, angestürzt kamen. Einer der beiden Männer vom Yard faltete mit einer Pinzette einen Zettel auseinander, der dem grausigen Stückchen Fleisch und Knochen beigefügt war, und hielt 105
ihn so, daß die Familienmitglieder lesen konnten, was in Großbuchstaben auf Klebebandstreifen gedruckt war. RIDLEY DIES ZUM ZEICHEN DASS WIR NICHT SCHERZEN. ES IST UNSERE LETZTE WARNUNG AN SIE DIE POLIZEI NICHT EINZUSCHALTEN. VERSCHWENDEN SIE KEINE ZEIT. WIR VERLANGEN ZWEI MILLIONEN IN GEBRAUCHTEN SCHEINEN. WIR GEBEN IHNEN ZEIT BIS ZUM FÜNFZEHNTEN. AN DIESEM TAG SETZEN SIE FOLGENDE ANNONCE IN DIE TIMES: ANFÜHRUNG ALLES IN ORDNUNG TOODLES ABFÜHRUNG. WIR TEILEN IHNEN DANN MIT WAS SIE ALS NÄCHSTES ZU TUN HABEN. NOCH SO EIN UNSINN MIT DER POLIZEI UND IHR SOHN STIRBT. „Sterben“, flüsterte Winifred Ridley heiser. „Sie bringen ihn um, Ted. Sie bringen ihn um. Warte nicht länger. Zahl das Geld. Zahl das Geld.“ Ridley, der nicht die Absicht hatte, sich von zwei Millionen zu trennen, sagte: „Halt doch die Klappe, Win, und laß mich nachdenken.“ „Es gibt nichts nachzudenken. Sie bringen meinen Jungen um.“ „Natürlich muß man überlegen. Halt den Mund, ja?“ Zu einem Nachbarn gewandt, sagte er: „Gebt ihr was zu trinken. Wir werden uns alle einen genehmigen. Da drüben im Schrank steht was.“ Ridley war es nicht gewohnt, unter Druck gesetzt zu werden. Er nahm das übel und wehrte sich dagegen. Der Polizei hatte er versichert, daß er in Übereinstimmung mit ihr handeln und sich nicht hinter ihrem Rücken mit den Entführern einigen werde. Er redete sich ein, daß er das vielleicht versucht haben würde, wenn man eine vernünftige Summe von ihm gefordert hätte – einen Betrag bis zu einer Viertelmillion. Aber sie wollten sein gesam106
tes Vermögen, und er hatte keine Lust, nach einem Leben voller harter Kämpfe auf einmal mittellos dazustehen. Sein Vertrauen zur Fähigkeit der Polizei, die Entführer ausfindig zu machen, war recht gering, aber daß er sie in ihrer Politik unterstützte, der Erpressung nicht nachzugeben, befreite ihn von der Verantwortung für die eventuellen Folgen dieser Haltung. Und es gab keinen Mittelkurs. Er mußte entweder mit der Polizei zusammenarbeiten und die Entführer täuschen oder mit den Entführern zusammenarbeiten und die Polizei hinters Licht führen. Doch es war sinnlos, die Entführer in dem Glauben zu bestärken, daß er das Geld zu beschaffen versuchte, wenn er nicht Winifred und Mary dasselbe erzählte. Er fand Winifred in jeder Beziehung, auch physisch, so abstoßend, daß es ihn die größte Überwindung kostete, zu ihr hinzugehen – sie hockte in einem Sessel, und einer der Nachbarn versuchte sie zu beruhigen –, ihre Hand zu streicheln und seiner Stimme einen sanfteren Klang zu geben. „Aber Win, Liebes, beruhige dich doch. Ich verspreche dir, ich werde die Verhandlungen mit Tindall wieder aufnehmen und versuchen, das Geld zusammenzukriegen. Wer weiß, vielleicht einigen wir uns. Wenn nicht“ – er zuckte die Achseln –, „na, wie du sagst, es ist nur Geld.“ Der Mann von Scotland Yard starrte ihn verblüfft an. Ridley sagte: „Bitte, bestellen Sie Ihrem Mr. Neil, ich halte es für besser, wenn die Polizei von nun an die Finger von der Sache läßt.“ Über Winifreds Kopf hinweg zwinkerte er dem Kriminalbeamten zu. Der Mann vom Yard nickte unmerklich, zum Zeichen, daß er verstanden hatte und sich dementsprechend verhalten werde. „Sehr wohl, Sir. Es steht Ihnen natürlich frei, das zu tun, was Sie für das Beste halten. Aber es 107
wurde immerhin ein Verbrechen verübt – mehrere Verbrechen, wenn wir das hier mitrechnen.“ Er deutete auf den gräßlichen Inhalt der Postsendung auf dem Tisch. „Entführung, Erpressung und schwere Körperverletzung – zunächst einmal. Wir haben die Pflicht, unsere Ermittlungen fortzusetzen, Sir.“ „Könnt ihr denn damit nicht warten, bis der Junge wieder da ist, verdammt noch mal“, schrie Winifred. Der Kriminalbeamte tat die Fingerspitze, die Watte und das Papier in eine große Plastiktüte und nahm sie mit. Die Konferenz im Büro des Chefredakteurs des „Daily Success“ verlief alles andere als glanzvoll. Die für den Tag vorgesehenen Beiträge waren durch die Bank langweilig: Afrika, der Mittlere Osten, eine Zusammenstellung über die M 1, eine schwarze Frau, die von weißen Jugendlichen totgeschlagen worden war – letzteres hätte eine gute Story ergeben können, wenn die Frau weiß und die Jugendlichen schwarz gewesen wären. „Ridley?“ „Nichts Neues“, sagte der Nachrichtenredakteur. Seit der sensationellen Nachricht von Ronald Ridleys abgeschnittener Fingerspitze hatte das Interesse an der Entführung erheblich nachgelassen. Guter Stoff, aber nicht mehr ausreichend für die erste Seite. Die britische Polizei hatte die größte Fahndung ihrer Geschichte ausgelöst, und die Bevölkerung war aufgerufen, auf alles mögliche zu achten: auf Leute, die ungewöhnliche Einkäufe machten, auf die Sorte Wohnungen, wie sie Entführer mit Vorliebe mieteten, Appartements mit Kellergaragen und solche im zweiten und dritten Stock, auf Mieter, die zu ungewöhnlichen Stunden erschienen und es sorgfältig vermieden, irgendwelche Geräusche zu machen, auf Möbelstücke, die hinaus- oder hineingetragen wurden und so groß waren, daß sie einen menschlichen 108
Körper enthalten konnten, auf Leute mit dunklen Brillen und Perücken und so weiter. Bei begründetem Verdacht sollte die Polizei unterrichtet werden. In der Redaktion des „Daily Success“ nannte man das „Scotland Yards Ausbildungslehrgang für künftige britische Kidnapper“. Frank Carr, der Chefredakteur, zündete sich eine Zigarette am Stummel ihrer Vorgängerin an. „Hinter unserm Rücken geht was vor. Ich fühle es. Sonderbar, daß gar nichts zu dir gedrungen ist, Spinks.“ Der Erste Kriminalreporter war empört über die Kritik, die in dieser Bemerkung lag. „Zu dir etwa? Du bist doch ein Intimus des Innenministers.“ Carr ließ dieses Thema fallen und fragte statt dessen: „Warum haben die Entführer nichts unternommen?“ „Vielleicht haben sie. Die Mitteilung des Yard über die Botschaft, die sie zusammen mit der Fingerspitze schickten, war ganz nichtssagend.“ „Und dieser Ridley geht mit dicken Taschen von einer Bank zur andern. Als ob er die Moneten für das Lösegeld zusammenkratzt.“ „Und dann heute morgen die Sache mit dem jungen Biggs.“ „Was war denn los?“ „Ridley kam aus einer Bank heraus, hielt Biggs plötzlich am Arm fest und fragte: ‚Von welcher Zeitung sind Sie?‘ Biggs schaltete schnell und sagte: ‚Vom Rundblick.‘ Da packte ihn von hinten eine Hand wie aus Stahl, und er bekam links und rechts ein paar geplättet, daß er vor Tränen ganz blind war. Als er wieder etwas sehen konnte, war Ridley noch da, nicht aber der Kerl, der ihm das verpaßt hatte. Es muß dieser Schläger Huskins gewesen sein, ein ehemaliger Schwergewichtsboxer, der bei Ridley Chauffeur spielt. Ridley sagte: ‚Los, ruf die Polizei.‘ 109
,Nein‘, sagte Biggs. ,Also‘, sagte Ridley, ‚du kannst deinen Kumpanen in der Fleet Street bestellen, der nächste kleine Schnüffler, der mir nachspioniert, landet im Krankenhaus.‘ “ „Alles ganz normal“, erklärte Carr. „Aber dieses Rumgelaufe bei den Banken … Es muß eine Kriegslist sein. Ein Kerl wie Ridley erledigt so was doch an der Strippe.“ „Vielleicht ein doppelter Bluff.“ „Auf jeden Fall nichts, was man drucken könnte.“ „Die Spalte Persönliches in der ‚Times‘ gibt auch nichts her. ‚Daphne immer noch verliebt in Jollyboy‘, ‚Alles in Ordnung, Toodles‘, ‚Ich halte die Katze warm, Kay‘, ‚Sehnsucht nach Mieze, J. T.‘ Jede dieser Anzeigen könnte von den Entführern stammen.“ „Und was ist mit Ridleys Verhältnis – wie heißt sie doch noch – Melissa Soundso?“ „Margrove. Sie ist wieder in ihrer Wohnung in den Mews. Kein Kommentar. Hat übrigens bisher mit dem Fall nichts zu tun. Keine männlichen Besucher. Geht frühmorgens einkaufen. Bisher total unergiebig.“ Carr sagte: „Früher oder später tut sich was. Wir müssen die Nase am Boden behalten.“ Ein Redakteur setzte hinzu: „Ganz gewiß tut sich was. Und zwar zur rechten Zeit für die Abend- oder die Sonntagszeitungen – ich kenne das Leben.“ Fast zwanzig Meilen weiter nördlich hatten Sir Malcolm Treddick, Inspektor Gullet und Edward Ridley in dem stillen Gasthaus „The Running Horse“ in der Nähe des einstigen Dorfes Harlow eine gleichermaßen ergebnislose Zusammenkunft. Jeder von ihnen hatte eine andere Route gewählt – eine Vorsichtsmaßnahme im Hinblick auf mögliche Verfolger –, und das mißfiel Sir Malcolm gründlich. „Verdammter Räuber-und-Gendarm-Unsinn!“ Auch die Aussicht, Ridley zu treffen, diesen primitiven, analphabetischen, 110
Cockneydialekt sprechenden Fleischhändler, hatte seine Stimmung nicht gerade verbessert, und dazu kam noch dieser Inspektor Gullet, der nun ganz gewiß in eine andere gesellschaftliche Sphäre gehörte. So viele Umstände, nur um die verdammten Kidnapper in dem Glauben zu wiegen, daß Ridley tat, was sie wollten. „Nun, da kann man nichts machen, zumindest nicht mehr als das, was wir ohnehin tun, bis wir was Neues von diesen Kerlen hören.“ Sir Malcolms Stimme verriet eine gewisse Befriedigung, daß man nichts zu tun brauchte. Wenn er jetzt aufbrach, kam er gerade noch zum Dinner in seinem Klub zurecht. Es war kurz nach acht, als der Jaguar sich der Ecke Seven Sisters näherte. Wenn er jetzt in die Holford Road fuhr, überlegte Ridley, würde Winifred dort wartend vorm Fernseher sitzen und ihm die Ohren voll stöhnen. Gullet hatte ihm erzählt, daß die Reporter die Mews nicht mehr beobachteten. Zu Bert sagte er: „Fahr mich zu Mel.“ Er ließ ihn kurz vor dem nördlichen Ende der Mews halten, zog seine Brieftasche hervor und entnahm ihr zwei 10-Pfund-Scheine. „Hier“, sagte er, „amüsier dich und hol mich morgen früh Punkt neun von Nummer elf ab.“ Dann stieg er aus und ging die paar Schritte zum Anfang der Mews zurück. Bert steckte die zwanzig Pfund ein und beobachtete Ridley im Spiegel. An der Ecke stand ein Zeitungsverkäufer, der seinen Packen Zeitungen gegen die Brust gedrückt hielt. Ridley machte einen Bogen um ihn, und der Mann drehte sich um. Sein Rücken war Bert zugewandt. Der einstige Boxer hörte den Knall, brachte ihn aber nicht in Verbindung mit dem, was er im Spiegel erblickte. Dann sah er, wie Ridley wankte, der Zeitungsverkäufer machte eine Be111
wegung, und jetzt sah Bert das Aufblitzen des zweiten Schusses. Er war im Nachteil. Auto nach Auto fuhr vorbei, und um auszusteigen, mußte er auf die andere Seite hinüberklettern. Als er bei Ridley anlangte, war von dem Zeitungsverkäufer nichts mehr zu sehen. Er beugte sich über ihn. Ein paar Fußgänger blieben stehen und starrten auf den am Boden Liegenden. „Herzanfall, scheint’s“, meinte einer. Ridley versuchte etwas zu sagen. Bert beugte sich tiefer, das Ohr an Ridleys Mund. „Es … es … es war …“, flüsterte Ridley stockend. Dann wurden seine Augen glasig, und er war tot. Der „Daily Success“ erfuhr rechtzeitig von dem Mord. Man brachte ihn in großer Aufmachung, mit Fotos und einem gezeichneten Plan der Mews, auf dem ein X die Stelle bezeichnete, wo Ridley gestorben war; ein Pfeil wies zu der Stelle, wo die Mordwaffe gefunden worden war, die der Mörder weggeworfen hatte. Der Fall Ridley machte erneut Schlagzeilen. „An eure Arbeit nun, ihr Elfen all“, rief Carr und sah sich im Redaktionskollegium um. Er war in Hochstimmung, und in Hochstimmung befanden sich auch alle übrigen Anwesenden. Am Abend hatte Carr mit Lord Druleigh, dem Inhaber des „Daily Success“, dem außerdem noch dreißig andere Zeitungen in England gehörten, zu Abend gegessen. Seine Lordschaft war gerade von einer seiner zahllosen Urlaubsreisen zurückgekehrt. Es war ein splendides Essen gewesen, zu dem die allerbesten Weine serviert wurden, und Lord Druleigh hatte nicht nur Carr und dem übrigen Redaktionsstab gratuliert, daß sie als erste die Meldung von der Entfüh112
rung des jungen Ridley gebracht hatten, sondern außerdem fünftausend Pfund als Prämie für die Redakteure ausgesetzt, die an der berühmten Story gearbeitet hatten. „Es ist unsere Story“, hatte Lord Druleigh gesagt, „aber das Problem ist: Wie macht man das Beste daraus? Sohn entführt, Fingerspitze abgehackt, Vater erschossen, Polizei ohne eine Fährte. Alles drin. Aber wie halten wir die Sache am Kochen?“ Carr, inspiriert durch das erlesene Mahl, biß auf das Ende seiner Zigarette und sagte: „Ich habe mir darüber Gedanken gemacht, und ich meine, wir sollten der Sache einen politischen Drall geben.“ „Hmmmm.“ Druleigh sah ihn an, ein Auge halb geschlossen, abwartend. „Vor allem, da höchstwahrscheinlich in Kürze allgemeine Wahlen stattfinden werden.“ „Bitte, werden Sie etwas deutlicher.“ „Nun, es hat sich noch nicht ganz klar herauskristallisiert, aber zwei Dinge haben mich auf diesen Gedanken gebracht. Erstens: Als der Commissioner mich anrief und zu verhindern versuchte, daß wir die Entführungsgeschichte bringen, sagte er: ‚Vielleicht haben wir es hier mit einer internationalen Bande zu tun.‘ Zweitens: Der Mann, der Ridley erschoß, hat oft abends an der bewußten Ecke gestanden und Zeitungen verkauft. Nach den Erkundigungen, die ich habe einziehen lassen, war das eine Zeitung der äußersten Linken – trotzkistisch oder anarchistisch oder so was, ich weiß nicht genau, was, aber das spielt ja auch keine Rolle – es ist die Linke, nicht wahr? Für mich liegt das Problem darin, daß ich nicht gut eine anarchistische Bande aus der hohlen Hand zaubern kann. Wir brauchen jemand, der diesen Gedanken verbreitet, eine wichtige Persönlichkeit, die man zitieren kann, jemand, der dafür sorgt, daß im Unterhaus Fragen gestellt werden.“ Lord Druleigh zog nachdenklich an seiner Unterlippe. 113
Als er sie wieder losließ, sagte er: „Überlassen Sie das mir“ und verlangte vom Ober die Rechnung. Am nächsten Tag griff Lord Carboy, der Innenminister des Schattenkabinetts der Opposition, bei einem Arbeitsessen in Guildhall die Regierung wegen der Art scharf an, wie sie „den Feldzug gegen Entführung und Terror“ führte. Er forderte, die Polizei solle die Mitteilungen der Entführer im vollen Wortlaut veröffentlichen und das Innenministerium eine Erklärung darüber abgeben, ob es mit der Polizei anderer Länder auf dem Kontinent in Verbindung stehe und ob es Grund zu der Annahme habe, daß die Entführung von Ronald Ridley und der Mord an seinem Vater das Werk politischer Kräfte seien. Diese Art Kampagne verstand Carr vorzüglich zu lancieren. „Wir gehen jetzt in die vollen“, erklärte er in der Redaktionssitzung. Er klopfte mit dem Bleistift auf ein Negativ-Klischee, das ein Lenkrad, einen Gangster mit einer Maschinenpistole und einen Blutstrom zeigte. „Das Schlagwort heißt: Krieg gegen die Terroristen“, fuhr er fort, „und wir haben den vollen Segen Seiner Lordschaft, der für die notwendige Unterstützung durch die VIPs sorgen wird. Also: an die Arbeit.“ Er zielte mit dem Bleistift auf eine Frau mit scharfen Gesichtszügen, deren sorgfältig retuschiertes Porträt regelmäßig auf der Frauenseite erschien. „Du, Süße, brauchst wahrhaftig keine Ratschläge von mir: Interviews mit Ronnie Ridleys lieber alter Mamma und mit Pappa Ridleys lieber junger Bettgespielin. Im letzten Fall gib acht, daß du uns keine Verleumdungsklage einhandelst.“ „Gibt’s da nicht noch eine Schwester Mary?“ „Ja. Die laß bis zum Schluß. Jetzt brauchen wir zuerst was über Mamma Ridley, wie sie nachts in ihr Kissen weint, über ihren entführten Sohn und ihren ermorde114
ten Mann, und warum unternimmt niemand was und so weiter.“ Er schritt auf und ab, die Aufgaben verteilend. „Die Leitartikel schreibe ich selbst, und ihr leistet mir Schützenhilfe: Bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen für die Polizisten, die der Gefahr ins Auge sehn; gebt ihnen die Erlaubnis, tödliche Schüsse abzugeben; bewaffnet alle Polizeibeamten; verstärkt die Abteilungen, die mit Fahndung, Festnahme und Verhören zu tun haben; härtere Urteile, Wiedereinführung der Todesstrafe und so weiter.“ Er ließ seinen Blick rings um den runden Tisch wandern. „Irgendwelche Fragen?“ „Wie ist das mit den Spesen?“ „Großzügig sein, lautet die Anweisung. Keine weiteren Fragen? In Ordnung. Ihr beide bleibt noch.“ Er zeigte auf den Vertriebsleiter und den Werbeleiter. „Die Sitzung ist beendet.“ Die Redakteure gingen an ihre Aufgaben. Yvonne VanKent (ihr eigentlicher Name war Violet Edwards) ermittelte, daß Mrs. Ridley aus der Holford Road geflüchtet war, um der Presse zu entgehen. Mit ihrer professionellen Spürnase verfolgte Miss Van-Kent die Spur bis zu einem Appartement im Strand Palace Hotel, das Winifreds Vorstellung vom High Life voll und ganz entsprach. Und da man wußte, daß sie Ridleys Alleinerbin war, hatte sie unbeschränkten Kredit. Yvonne Van-Kent stand mit Ridleys Witwe sehr bald auf vertrautem Fuß. Sie bekam ihre Story, aber nicht die, die sie haben wollte und die sie erwartet hatte. Was sie von Winifred erfuhr, war zum großen Teil nutzlos für ihre Zeitung. Sie machte sich keine Notizen, sondern verließ sich auf ein kleines Tonbandgerät in ihrer Handtasche, das ihr ermöglichte, ihre Gesprächspartnerin zu beobachten. 115
„Mit Worten kann man gar nicht beschreiben, was für ein mieses Stück Ted Ridley war“, sagte Winifred und strich mit der Hand über ihr frischgekräuseltes Haar. „Ich hab nicht eine Träne um ihn vergossen, und ich werde auch in Zukunft keine vergießen. Ein hundsgemeiner Kerl, Yvonne“, fuhr sie fort. „Hundsgemein! Er war unvorstellbar niederträchtig. Ich hab ihm geholfen, die Firma Ridley aufzubauen, doch bis zu dem Augenblick, da er erschossen wurde, hab ich keinen Penny dafür bekommen, bis heute nicht! Aber das wird sich ändern.“ Sie lachte triumphierend. „Gleich nach unsrer Heirat hab ich fünftausend im Toto gewonnen, und er brauchte das Geld, um den Laden zu kaufen, in dem ich Kassiererin war. Sein gemeiner, niedriger Charakter ist damals noch nicht so zutage getreten, aber ich hab schon gesehn, daß er knickerig war, und hab drauf bestanden, daß wir beide unabänderliche Testamente zugunsten des anderen machen. Haha! Gieß dir noch Gin Tonic ein, Yvonne, Liebes.“ Sie goß zwei Gläser voll und schob der Journalistin die Zigaretten hin. „Natürlich braucht’s etwas Zeit, alles zu regeln, aber bis dahin kann ich tun, was mir gefällt. Prost! Ich würde nicht mal zur Beerdigung gehen, wenn’s nicht so dumm aussähe. Aber ich werde ein paar zur Brust nehmen, bevor ich losziehe, und mir dann noch was genehmigen, während der fiese Kerl verbrennt.“ Miss Van-Kent wechselte das Thema. „Und was tust du wegen Ronald?“ „Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Ganz unter uns, Yvonne, mein Mann hatte nicht die leiseste Absicht, das Lösegeld zu zahlen, das die Kidnapper fordern. Er tat so, als wäre er bereit dazu, aber tatsächlich arbeitete er mit den Bullen zusammen, weil er sein Geld retten wollte. Und die Entführer haben das genauso spitzgekriegt wie ich. Deshalb haben sie meinem Sohn 116
die Fingerspitze abgehackt und dann Ted erschossen, wenn du mich fragst. Aber jetzt ist wenigstens eine Chance, weil ich das Geld habe.“ „Wie meinst du das, Win?“ Ein Schauer der Erregung durchlief Miss Van-Kent. War das die Story? „Ich werde den Zeitungen und der BBC mitteilen, daß ich bereit bin, die zwei Millionen zu zahlen. Dann hab ich immer noch ’n Haufen Geld. Ich hab ein neues Angebot für die Läden bekommen – zweieinhalb Millionen. Was soll ich mit dem ganzen Kies und den verdammten Fleischbuden?“ Miss Van-Kent bebte innerlich. Hier war ein fabelhafter Knüller, wenn es ihr gelang, Winifred richtig zu steuern. Ihr Hirn arbeitete auf Hochtouren. „Ach, ich freu mich so, daß du das sagst, Win. Was ist schon Geld, verglichen mit dem Leben deines Sohnes? Ich hoffe, die Entführer werden nicht taub sein für das Flehen einer Mutter.“ Ein paar Augenblicke lang nahm ihr Gesicht einen Ausdruck tiefer Nachdenklichkeit an, dann fuhr sie fort: „Aber, Win, wenn ich du wäre, würde ich die Sache nicht der gesamten Presse und dazu noch der BBC übergeben. Wenn alle Zeitungen diese Nachricht bekommen, bringt keine sie ganz groß heraus. Wie gut, daß ich zu dir gekommen bin. Ich hab mir schon gedacht, daß du vielleicht Hilfe brauchen könntest. Trinken wir noch einen, und dann gehen wir gemeinsam an die Arbeit.“ Zwei Stunden später war Winifred Ridleys Appartement im Strand Palace Hotel der Schauplatz emsiger Tätigkeit. Friseure, Maniküren, Fotografen mit Bogenlampen taten das Ihre für Exklusivfotos von Ridleys Witwe, die die Erklärung abgab, daß sie die Firma verkaufen werde, um die Entführer zu bezahlen. Miss Van-Kent ließ den Gedanken fallen, Melissa Margrove aufzusuchen. Sie hatte zwar ihren Artikel bereits geschrieben und ihn in die Redaktion geschickt, 117
aber sie hatte nicht die mindeste Absicht, ihre Freundin Win aus den Augen zu lassen, bevor der Text endgültig durch die Druckerpressen rollte. „Häng dich an sie“, hatte Frank Carr gesagt. „Kleb an ihr wie eine Klette, wie Kaugummi im Teppich. Geh mit ihr aufs Klo. Laß sie nicht aus den Augen. Ich werd’ für euch einen Tisch im ‚Ritz‘ und Plätze in einem Nachtklub bestellen. Halt sie um jeden Preis von allen andern fern.“ Carr machte sich an den Leitartikel. „Sosehr der ‚Daily Success‘ Mrs. Winifred Ridleys Entscheidung bedauert, den terroristischen Entführern ihres Sohnes nachzugeben, wären wir doch völlig herzlos, wenn wir kein Mitgefühl für sie in ihrer schrecklichen Lage aufbrächten. Sie hat ihren geliebten Lebensgefährten Edward Ridley verloren, mit dem zusammen sie ein Familienunternehmen aufgebaut hat, auf das diese freie Gesellschaft zu Recht stolz ist; sie bekam – ein erschütterndes Erlebnis! – die abgehackte Fingerspitze ihres Sohnes durch die Post zugestellt, und immer noch hängt das Leben dieses Sohnes, ihres einzigen, von der Laune der Terroristen ab. Wir wären unmenschlich, wollten wir Mrs. Ridley verdammen, und zugleich würden wir unsere Bürgerpflicht verletzen, wenn wir ihre Entscheidung nicht verurteilten. Wir müssen einen kompromißlosen Krieg gegen den Terrorismus führen.“ Erfüllt von berechtigter Selbstzufriedenheit, schickte Carr diesen Erguß mit der Anweisung „12-Punkt-Fettdruck über zwei Spalten“ zum stellvertretenden Chefredakteur hinunter. Die Ausgabe – die erste abgefeuerte Breitseite in der Kampagne „Krieg gegen die Terroristen“ – machte sich fabelhaft, und die feuchten Abzüge, die einer nach dem anderen auf Carrs Schreibtisch landeten, waren schon rein optisch eine Wonne. Kurz vor Mitternacht klingelte Carrs Telefon. 118
„Dick Spinks am Apparat“, sagte die Telefonistin. „Klingt ziemlich beunruhigt.“ „Stellen Sie durch.“ „Frank.“ Der Kriminalreporter sprach aus irgendeinem Grund mit gedämpfter Stimme. „Du mußt alles stoppen. Ich komme sofort zu dir.“ „Was stoppen? Was ist los?“ „Nicht am Telefon, Frank. Bis gleich.“ Er legte auf, und Carr starrte auf den Apparat. „Alles stoppen!“ Er warf einen Blick auf die Uhr. Es gab nichts mehr zu stoppen. Die Matern waren unten in der Gießerei, die meisten der halbkreisförmigen Druckplatten waren auf die Rollen montiert. Nur Seite eins lag noch auf dem Metteurtisch, weil ein paar Endkorrekturen ausgeführt werden mußten. Er drückte auf den Knopf der Sprechanlage, auf dem Stellvertretender Chefredakteur stand. „Mike. Vielleicht gibt’s eine Krise. Sorg dafür, daß der Flugzeugabsturz, wenn nötig, Spitzenmeldung werden kann und unser jetziger Knüller dann an die zweite Stelle rückt. Schick die Seite weg, so wie sie ist, aber laß den neuen Satz fertigmachen.“ Der Fahrstuhl war gerade abgefahren. Der Kriminalreporter Dick Spinks raste die Treppen hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, und stürzte ins Zimmer des Chefredakteurs. „Die Pistole, Frank. Die Pistole …“ Ob der ungewohnten Anstrengung bekam er einen Hustenanfall. Carr schlug sich vor Ungeduld auf die Schenkel. „Es ist die gleiche Pistole, mit der Paddy Malloy erschossen wurde.“ Carr sah ihn an. „Na und?“ Paddy Malloy war ein prominenter Krimineller des East End gewesen und bis vor zwei Jahren der Hauptrivale von Jack Finn. Eines Abends war Finn in die Kneipe gekommen, in der Malloy saß und trank, und hatte ihn 119
vor den Augen der Gäste erschossen. Alle wußten, was geschehen war, einschließlich der Polizei. Niemand war bereit, gegen Finn auszusagen. Die Mordwaffe war nie gefunden worden. „Aber kapierst du denn nicht? Die Ridley-Entführung ist das Werk einer Verbrecherbande. Sie hat nichts mit Terrorismus zu tun. Unsere Terrorismustheorie ist geplatzt.“ Carr stöhnte. „Vielleicht stimmt es gar nicht.“ „Können wir’s uns leisten zu warten? An der Strippe konnte ich leider nicht sprechen. Ich hab die Geschichte von einem Kumpel, der seine Stellung verlieren würde, wenn es herauskäme, daß er mir was gesteckt hat. Er schwört, daß die Kugeln aus der gleichen Pistole kamen, mit der Malloy umgelegt wurde. Also ist es die Tat einer ganz gewöhnlichen Verbrecherbande. Ich sage dir, Frank, das Innenministerium wird froh sein wie der Mops im Paletot, daß es jetzt Lord Carboy eine Abfuhr erteilen kann. Schließlich hat man mit den Iren alle Hände voll zu tun. Der alte Ridley war bei Gott kein Engel. Wer weiß, was er vorhatte?“ Carr stöhnte von neuem. „Wir sind fertig zum Druck. Eine der besten Ausgaben, die ich je gemacht habe.“ Der Kriminalreporter sah ihn spöttisch an. „Morgen wirst du mir dankbar sein. Es hätte dein größtes Fiasko werden können.“ Carr legte ihm die Hand auf die Schulter. „Hab auf jeden Fall Dank. Versuch noch was über die Pistolengeschichte zu beschaffen, damit wir sie bringen können.“ „Wir können sie auch so bringen – unbestätigt und ohne Verfasser. Niemand sonst hat sie.“ Während er zur Tür ging, summte die Sprechanlage. „Ja, Joe?“ fragte Carr. Joe war ein Reporter. Seine Stimme quiekte aufgeregt 120
im Hörer. Als er fertig war, legte Carr langsam auf. Er drehte sich um. „Stell dir vor: Ronald Ridley ist aufgetaucht.“ „Tot oder lebendig?“ „Lebendig. Er ist im St. George’s Hospital, unter Polizeischutz.“ „Puh! Das ist vielleicht ein Abend!“ Der Kriminalreporter war bereits an der Tür. „Ich melde mich, sobald ich kann.“ Carr rief den Redakteur für die Nachtnachrichten an. „Schick einen Wagen zur ‚Grey Cat‘, Nähe Soho Square. Yvonne und Mrs. Ridley müssen so schnell wie möglich oder noch schneller hierher. Sorg dafür, daß niemand sie zu sehen kriegt. Sag Mrs. Ridley nichts davon, daß ihr Sohn wieder da ist, bis wir die Kameras bereit haben. Sorg für Tonband und Video. Sieh zu, daß sie sich nicht aufregt, und laß niemand in ihre Nähe. Sie ist jetzt unser kostbarster Besitz.“ Als er einen Augenblick Ruhe hatte, sagte er: „Herr Jesus! Gerettet vor was Schlimmerem als dem Tod. Wir werden trotzdem morgen früh die beste erste Seite haben.“ „Du armer Junge“, wiederholte Winifred zum fünfzigsten Mal. „Ich wäre vor Angst gestorben. Alle diese Männer …“ „Drei Mann“, sagte Ronald. „Ja, aber … große, stämmige Kerle mit Masken vorm Gesicht, die mit verstellter Stimme sprechen …“ „Mutter, kannst du denn nicht begreifen, daß ich von dieser ganzen Sache im Augenblick nichts weiter hören will? Ich kann dir auch nicht mehr sagen, als was du in den Zeitungen gelesen und im Fernsehen gesehn hast.“ Winifred krampfte die Hände ineinander, wie es Leute tun, denen die richtigen Worte nicht zu Gebote stehen. 121
„Und als sie dir sagten, sie würden dir die Fingerspitze abschneiden … Ich wäre wahnsinnig geworden.“ Ronald blickte auf den Verband an seinem rechten kleinen Finger. Ein Arzt hatte ihn fachmännisch angelegt. „Sehen Sie, ein Chirurg achtet darauf, daß hinter dem Knochen genug Gewebe bleibt, das dann eine Art Kissen bildet“, hatte ihm der Arzt erklärt. „Diese Kerle aber haben einfach durch das Gelenk geschnitten, wie man einen Ochsenschwanz abhackt.“ „Und schicken mir so was mit der Post“, sagte Winifred. „Sie gehören gehängt.“ „Sie wollten einfach beweisen, daß sie mich in ihrer Gewalt hatten, und euch unter Druck setzen. Mir ging’s wie diesem italienischen Jungen, dem man das Ohr abgeschnitten hat, und dem französischen Baron, dem auch die Fingerspitze abgehackt wurde. Aber lieber eine Fingerspitze als ein Ohr.“ „Ach, sag doch nicht so was“, jammerte Winifred. „Es muß furchtbar gewesen sein.“ „Gar nicht mal, als es passierte, erst später. Können wir das Thema nicht fallenlassen?“ „Ich war ganz sicher, daß dein Vater das Lösegeld niemals zahlen würde. Stell dir bloß vor, wie mir zumute war, als ich nicht wußte, ob du noch lebst oder schon tot bist. Und wie oft mußt du geglaubt haben, dein letzter Augenblick ist gekommen.“ „Als sie mich in das Auto zerrten, hinten auf den Boden, dachte ich, das wär’s. Ich dachte: Versuch zu fliehen! Aber ich hatte gar keine Kraft mehr, und sie waren natürlich bewaffnet. Ich rannte in ein kleines Gehölz oder so was, und nichts passierte. Dann hörte ich, wie der Wagen wegfuhr. Mir ist schleierhaft, warum sie mich laufenließen.“ „Dieser Kriminalbeamte kann sich das auch nicht erklären.“ 122
„Du meinst Gullet“, sagte Ronald. „Ach, der!“ Inspektor Gullet hatte zu Winifred gesagt: „Das beweist eindeutig, daß Verbrecher am Werk waren, Mrs. Ridley, nicht Terroristen. Verbrecher sind Fachleute. Sie wollen keine unnötigen Schwierigkeiten. Meine Theorie lautet dahin, daß die eine Bande Ihren Sohn entführt und die andere Ihren Mann umgebracht hat, weil jede der andern das Geschäft vermasseln wollte.“ Gullet hatte Ronald immer wieder über dieselben Dinge ausgefragt: Wie groß waren die drei Männer? Wie alt? Wie waren sie angezogen? Was für Masken hatten sie getragen? Hatten sie mit ausländischem Akzent gesprochen oder wie Engländer, die einen ausländischen Akzent zu imitieren versuchten? Gullet ließ Ronald seine Geschichte immer von neuem erzählen, bis der am liebsten laut geschrien hätte. Ronald hatte in der Kneipe „The Goat and Compasses“ an der Old Street gesessen und mit einem jungen Mann mit lockigem Haar, der schottischen Akzent sprach, ein paar Bier getrunken. Der junge Mann sagte, er wolle zu einer Party gehen und ob Ronald nicht Lust habe mitzukommen. Sie stiegen in den Wagen des jungen Mannes, und auf der Fahrt hatte Ronald einen Schluck aus einer Flasche genommen und das Bewußtsein verloren. Als er wieder zu sich kam, befand er sich allem Anschein nach in einem Keller. Keine Fenster, nur ein Loch für den Ventilator, zu hoch, um mit der Hand heranzulangen, mit einem Metalldeckel. Das Loch war von der anderen Seite zugestopft worden. Eine türlose Öffnung führte in einen Nebenraum, wo man Kohlen aufbewahrt haben mußte, wo sich nun aber eine chemische Toilette befand. Seine Gefangenenwärter kamen und gingen durch eine dicke verrostete Eisentür im Hauptraum. Manchmal hörte Ronald undeutlich, weit weg, das Geräusch eines Flugzeugs. Zu essen gab man ihm belegte Brote, kalte Bratwürste, 123
Schweinefleischpasteten, Obst, Flaschenbier, Milch in Kartonagebehältern und Whisky. „Das Hungerleben des armen Ridley“, sagte Gullet. „Aber nie was Warmes“, beschwerte sich Ronald. Und wie hatten sie seine Fingerspitze abgeschnitten? In dem größeren Raum stand eine Art wackeliger Bank. Es war ein schweres Messer gewesen. Er hatte nicht hingesehen, als es geschah. Einer der Männer hielt ihm die Augen zu. Er fühlte, wie das Messer das Gelenk des obersten Fingerglieds berührte, und dann einen Stoß, als habe etwas, vielleicht eine geballte Faust, auf den Rücken des Messers geschlagen. Dann hatte der eine Mann die Hände von seinen Augen weggezogen, und er hatte seine Fingerspitze in einer Blutlache vor sich liegen sehen, und dann war ihm schlecht geworden. Sie hatten seinen Finger in Rasierwasser getaucht (Gullet griente, als Ronald das erzählte) und ihm Verbandzeug gegeben, damit er sich selber verbinden konnte. Gullet hielt seine blaßblauen Augen auf Ronald geheftet und fuhr unermüdlich fort, ihm weitere Fragen zu stellen. „Immer die gleichen Fragen“, berichtete Ronald seiner Mutter. „Ich versteh nicht, wie die Polizei je einen Kriminellen faßt. Dieser Gullet hat doch nicht alle Tassen im Schrank.“ Winifred nickte. „Mein Vater sagte immer, wenn man bedenkt, welche Arbeit die Polizei leisten muß und wie mies sie dafür bezahlt wird, kann man nicht erwarten, daß sie aus lauter Einsteins besteht.“ Sie goß sich und ihm einen Drink ein. „Wie herrlich, daß man wieder Cheers zu dir sagen kann, Ronnie. Kein Aufstehen mehr in aller Herrgottsfrühe, keine Ridley-Fleischerläden mehr.“ „Und Tindall bleibt bei seinem Angebot?“ „Ja. Und sogar da hat dein Vater gelogen. Sie haben zweieinhalb Millionen geboten, nicht zwei.“ 124
Ronald leckte sich die Lippen. Winifred sagte: „Na, für mich beginnt das Leben mit fünfzig. Ich hab mich schon entschlossen, wieder zurück nach Südlondon zu ziehen. Nördlich der Themse hab ich mich nie heimisch gefühlt. Im East End bist du ein Fremder, wenn nicht schon dein Großvater hier geboren wurde. Ich kaufe mir ein nettes kleines Haus in der Nähe vom Cut, zwei Zimmer unten, zwei Zimmer oben, lasse es renovieren und eine Zentralheizung einbauen. Da können mich meine alten Freunde besuchen, da kann ich Bingo spielen und mir in der Kneipe an der Ecke einen genehmigen. Ich kann mit meinen Freunden ausgehen, kann reisen und brauche nie mehr zu kochen und zu waschen und die ganze Hausarbeit zu machen. Vielleicht lerne ich sogar einen Mann kennen, mit dem ich leben kann.“ „Bei deinem vielen Geld wirst du zu tun haben, dir die Kerle vom Leibe zu halten.“ „Eins steht jedenfalls fest: Heiraten tu ich nie wieder. Aber eine reiche Witwe kann immer einen Partner finden.“ Ronald sagte: „Ich meine, du solltest die Hälfte von dem Geld behalten und die andere Hälfte zwischen mir und Mary teilen. Für jeden ein Drittel geht etwas zu weit, finde ich.“ Er machte eine Pause, um die Wirkung seiner Worte zu erhöhen. „Schließlich bist du’s, die die Firma aufgebaut hat.“ „Aber das ist doch egal, Ronnie. Ich seh nicht ein, warum ihr Kinder nicht was von dem Geld haben sollt, solange ihr jung seid. Und der Anwalt sagt, wenn wir jeder unseren Anteil in mündelsicheren Papieren anlegen, können wir fabelhaft leben, ohne das Kapital anzurühren.“ Darauf ging Ronald nicht ein. „Mit wieviel können wir denn rechnen?“ fragte er. Winifred seufzte. „Na, der Anwalt meint, daß die Erb125
schaftssteuer und andere Gebühren mehr als die Hälfte verschlingen, vielleicht noch mehr. Wir drei haben zusammen etwas über eine Million zu erwarten.“ Das war ein Schlag. Ronald hatte mit einer halben Million für sich allein gerechnet. „Aber eins läßt mir doch keine Ruhe, Ronnie: diese kleine Hure, die er in Notting Hill ausgehalten hat. Er hat die Miete für das Haus in den Mews drei Jahre im voraus bezahlt. Und wir kriegen sie nicht raus, sagt Mr. Ross. Wenn die es wagen sollte, bei der Beerdigung aufzukreuzen – das heißt, wenn die Polizei die Leiche zur Beerdigung freigibt –, kratz ich ihr die Augen aus.“ „Wie willst du sie denn erkennen?“ „Keine Sorge, ich erkenne sie schon.“ Die Erwähnung von Melissa machte ihn plötzlich ganz krank vor Sehnsucht. Er mußte sie unbedingt sehen. Er wählte die Nummer des Hauses in den Mews und hörte die schwachen Geräusche der Relais und das Brrrr des Zahlungssignals. Eine mechanische Stimme, unverkennbar die von Melissa, antwortete. Er warf ein Geldstück in den Schlitz. „Dies ist ein Aufnahmegerät. Wenn Sie eine Nachricht zu hinterlassen wünschen, wird sie aufgenommen. Bitte, sprechen Sie jetzt.“ Er hängte auf. Intelligentes Mädchen. Damit hielt sie sich die Pressemeute vom Leibe. Man konnte nicht mal wissen, ob sie zu Hause war. Er fuhr mit der Untergrundbahn zum Soho Square, ging in den „Duke of Edinburgh“ dicht beim Square und bat die Bardame um die Erlaubnis, sich dort von jemand anrufen zu lassen. „Aber gewiß doch, Schatz“, sagte das Mädchen. Er sagte zu dem Aufnahmegerät: „Melissa, hier spricht Ronald Ridley. Ich würde dich wahnsinnig gerne sehen. 126
In den nächsten zwei Stunden bin ich im ‚Duke of Edinburgh‘ in der Greek Street. Ich möchte dich hierher zum Essen einladen. Was hältst du davon?“ Dann gab er die Telefonnummer des Restaurants an. Er wartete eine Stunde. „Auf Frauen ist kein Verlaß“, sagte die Bardame, als er sich den dritten Whisky eingießen ließ. „Hast du dir die Hand verletzt, mein Süßer?“ Die würde staunen, wenn sie erfuhr, wer er war! Er vertrieb sich die Zeit mit dem Kreuzworträtsel in einer Abendzeitung. Eine dunkelhaarige Frau trat zu ihm an den Tisch und stellte ihr Glas darauf. Es war Melissa. „Ich hätte dich nie erkannt“, sagte er. „Hast du dir das Haar gefärbt?“ Er erhob sich, um sie zu küssen, aber sie entzog sich ihm. „Die Presse hat mich dazu gezwungen, verkleidet herumzulaufen – Perücke, dunkle Brille, Wendemantel. Cheers!“ Sie wies auf seine Hand. „Immer noch nicht verheilt?“ Er schüttelte den Kopf und starrte sie an. Sie war viel hübscher, als er sie in Erinnerung gehabt hatte. Der Blick, mit dem sie ihn musterte, war eiskalt. „Das war ein hundsgemeiner Streich, den du mir da gespielt hast. Warum hast du mir nicht gesagt, wer du bist?“ „Du hast’s mir doch auch nicht gesagt.“ „Das ist doch wohl die Höhe! Du wußtest verdammt gut, wer ich war, und hast es trotzdem getan. Ich werde jedesmal rot, wenn ich daran denke.“ „Können wir die Sache nicht vergessen? Es war der schönste Tag in meinem Leben. Ich mußte dich einfach anrufen.“ Sie betrachtete ihn über den Rand ihrer Brille hinweg. „Sehr schmeichelhaft“, sagte sie sarkastisch. „Warum bist du dann überhaupt gekommen?“ 127
„Aus Neugier.“ Er vermochte seine Enttäuschung nicht zu verbergen. „Aus keinem andern Grund?“ „Keinem, der dir gefallen würde. Ich wollte dir nur sagen, daß ich mit den Ridleys, Vater und Sohn, ein für allemal fertig bin.“ „Warum gibst du mir keine Chance?“ „Du hattest deine Chance, und du hast sie verspielt.“ Sie stand auf. „Das wollte ich dir sagen, und nun hab ich es gesagt. Gute Nacht.“ Er folgte ihr, als sie das Restaurant verließ. Die Bardame beobachtete die beiden neugierig. Ein vorüberfahrendes Taxi hielt, als sie winkte. Ronald sagte: „Ich ruf dich wieder an.“ „Daran kann ich dich nicht hindern.“ Die Wagentür schlug zu, und sie war verschwunden. Am nächsten Tag erhielt Ronald ein Angebot vom „Sunday Success“: Zehntausend Pfund für einen Exklusivbericht über seine Entführung! Ein Journalist saß zwei Tage lang mit einem Tonbandgerät bei ihm, und als die Story fertiggeschrieben war, erkannte Ronald sich selbst nicht wieder. Aus ihm war ein hochgewachsener, gutaussehender Mann geworden, couragiert, tief getroffen von dem Mord an seinem Vater und voller Liebe für seine verwitwete Mutter. Er erzählte in einem etwas altmodischen literarischen Stil. Seine verzweifelten Versuche, den Entführern zu entfliehen, sein Kampf mit ihnen, als sie erschienen, um ihm die Fingerspitze abzuhacken, wurden detailliert geschildert – dort, wo die Bescheidenheit es erforderte, von dem Journalisten und manchmal mit Ronalds Worten, in direkter Rede – ebenfalls von dem Journalisten. „Man stelle sich meine Angst vor, als sie mich aus 128
dem Keller zerrten und mich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden des Autos warfen. Ich war überzeugt, mein Ende sei gekommen. Ein Fluchtversuch erschien mir aussichtslos, denn nach dem, was ich hinter mir hatte, war ich nicht mehr imstande, schnell zu rennen. Aber ich war auch keinen Augenblick bereit, kampflos zu sterben. So wie sich die Sache dann entwickelte, glaube ich nicht mehr, daß sie mich umbringen wollten, aber damals konnte ich das nicht wissen. Sie warfen mich aus dem Auto, und binnen einer Sekunde war ich auf den Füßen und zwängte mich durch ein Loch in einer Hecke. Sie fuhren weg, aber ich wartete noch lange, bis mir endlich klar wurde, daß das Schreckliche vorüber war. Dann ging ich zur Landstraße und hielt ein Auto an.“ Der Bericht war mit Fotos von Ronald, Mrs. Ridley, Mary und dem ermordeten Gründer der Firma Ridley GmbH illustriert, mit künstlerischen Zeichnungen von den drei maskierten Männern und dem Keller, in dem man Ronald gefangen gehalten hatte. Es war der „Exklusivbericht“ einer großen Zeitung mit allem Drum und Dran, und er endete mit Ronalds edlen Worten: „Mein Vater lehrte mich harte Arbeit und Sparsamkeit schätzen. Er bevorzugte seine eigene Familie nie. In seinen Augen waren alle Menschen gleich. Er sagte immer: ‚Arbeit ist das einzige, was einem Menschen das Recht auf Besitz verleiht.‘ Ich werde ihn nie vergessen. Sein Beispiel beweist, daß in unserer freien Gesellschaft ein Mann von ganz unten durch Leistung sehr weit nach oben kommen kann. Was gäbe ich nicht dafür, diesen strengen, aber geliebten Menschen noch einmal durch die Tür hereintreten zu sehen!“ Winifred schnitt jede Fortsetzung der Serie aus und klebte sie in ein Album. Als sie den letzten Satz las, sagte sie: „Gott verzeih dir, Ronnie. Ich glaube, du hast das alte Schwein beinah genausosehr gehaßt wie ich.“ 129
„Da siehst du, wieviel Vertrauen man zu Zeitungen haben darf.“ „Aber es ist gut geschrieben. Liest sich wie ein Roman. Nimm doch nur das hier: ‚Die verwitwete Mrs. Ridley, die weit jünger wirkt, als sie tatsächlich ist, sieht nun einer einsamen Zukunft entgegen, ohne den Mann, dem sie, seit sie erwachsen war, zur Seite stand, dem sie half, die Ladenkette aufzubauen, die den Namen Ridley trägt.“ Mit zehntausend Pfund auf der Bank konnte Ronald in Ruhe abwarten, bis ihm sein Anteil vom Vermögen des Vaters ausgezahlt wurde. Ohne offiziell zu Hause auszuziehen, nahm er sich in dem kleinen, modern umgebauten Hotel „Pevensey Arms“ am Russell Square ein Zwei-Zimmer-Appartement mit Bad. Dort war stets jemand in der Rezeption, der eine Nachricht entgegennehmen konnte. Er machte sich noch immer Hoffnungen auf Melissa und damit indirekt auch auf das Haus in den Mews. Er träumte davon, mit ihr zusammen darin zu wohnen – natürlich würde er die Miete übernehmen. Das wäre eine ideale Lösung, wenn er einmal das Geld hätte. Er rief ihre Nummer an und sagte ihr – oder vielmehr dem Aufnahmegerät – Bescheid, wo er war, welche Telefonnummer das Hotel hatte und daß er hoffe, sie werde ihn anrufen, weil er sie liebe und noch nie einer Frau wie ihr begegnet sei. Verschiedene Male ging er zu den Mews und strich dort herum, in der Hoffnung, Melissa zu begegnen, aber einmal, als er seinen Beobachtungsposten am Fenster eines Restaurants bezogen hatte, sah er Gullet in einem Polizeiwagen vorfahren und beschloß daraufhin, sich künftig damit zu begnügen, dem Aufnahmegerät täglich oder auch jeden zweiten Tag eine Nachricht zu hinterlassen. Nun, da Gullets Vorgesetzte anerkannt hatten, daß der Mord an Edward Ridley und die Entführung von Ridleys 130
Sohn miteinander in Zusammenhang stehende Verbrechen ohne politische Motive waren, befand sich Inspektor Gullet wieder dort, wo er hingehörte: in der Sphäre des Verbrechens. In diesem Bereich konnte er hoffen, durch sein geliebtes methodisches Vorgehen zu Resultaten zu gelangen – eine Arbeitsweise, mit der er es zum Inspektor gebracht hatte und die ihn, wie er hoffte, in seiner Karriere noch ein weiteres Stück voranbringen würde. Viele Spuren mußten verfolgt, Verdächtige eliminiert oder weiter auf der Liste der in Frage kommenden Täter geführt werden, Kriminalbeamte mußten hier, dort, überall angesetzt werden, und Yard-Abteilungen waren zu koordinieren. In all diesem Nebel der Ungewißheit stand eins klar und scharf fest: Die automatische Pistole, mit der man Ridley erschossen hatte, war dieselbe, mit der Jack Finn Malloy umgelegt hatte. Man mußte auf irgendeine Weise herausfinden, was mit dieser Waffe seit jenem Tag vor zwei Jahren geschehen war, als Jack Finn in einer Kneipe Malloy das Gehirn durchsiebt hatte, in aller Ruhe herausstolziert und in seinem Wagen davongefahren war. Vorher hatte der Yard auf Grund der gefundenen Patronenhülsen und der Patronen lediglich sagen können, daß die Waffe eine automatische Pistole gewesen war, die 22-mm-Langgeschosse feuerte. Jetzt wußte man auch, daß es dieselbe war, die Ridleys Mörder fortgeworfen hatte – eine spanische Gabilondo Llama, Modell XV. In der Hoffnung, den Weg der Waffe verfolgen zu können, wurde der Yard dadurch bestärkt, daß dieser Typ in London ganz ungewöhnlich war. Gullet hatte in seinem Leben schon schwierigere Probleme gelöst, und so machte er sich mit berechtigter Zuversicht an die Arbeit. Der Kneipenmord an Paddy Malloy war sensationell in verschiedener Hinsicht: Die Polizei wußte, wer es getan 131
hatte, aber kein Zeuge war bereit, sein Leben zu riskieren und eine Aussage zu machen. Bereits seit geraumer Zeit war Malloy ein Pfahl in Finns Fleisch gewesen, und Finn hatte seinen Busenfreunden wiederholt versichert, es gäbe im East End nicht genug Raum für sie beide. Der Mord war wie zufällig erfolgt. Finn kam in den Barraum spaziert, wo Malloy Flaschen-Guinnessbier trank. Die Kneipe gehörte Malloy, und er war höchst erstaunt gewesen, als er seinen Widersacher hereinstolzieren sah. „Hoch entzückt, dich zu sehen“, sagte er. „Tatsächlich?“ sagte Finn, zog die Pistole hervor und schoß Paddy zweimal in den Kopf. Er schlenderte langsam hinaus, und die Gäste gaben ihm den Weg frei. In der Nähe der Kneipe stand eine Straßenlaterne, an der in Hüfthöhe ein runder Müllbehälter angebracht war. Er ließ die Pistole hineinfallen, machte noch zwei Schritte und stieg in seinen Wagen, Tote Hoskins war ausgewählt worden, die Gabilondo Llama aus dem Müllbehälter herauszufischen und dafür zu sorgen, daß sie auf Nimmerwiedersehen verschwand. Finn fuhr absichtlich langsam zum West End und wurde dort von der Polizei angehalten. Er hatte keine Waffe, keine Pulverspuren an den Händen – die Plastikhandschuhe hatte er unterwegs weggeworfen. Er besaß ein Alibi, und niemand hatte ihn in der Kneipe gesehen. Jetzt, nachdem die Llama wieder aufgetaucht war, steckte Tote natürlich ganz schön in der Bredouille. Seinen Spitznamen Tote verdankte er einem Totalisator-Schwindel, der ihm drei Jahre Knast eingetragen und Zugang zu den Kreisen der Gangsteraristokratie verschafft hatte. Nach seiner Entlassung wurde er in die Firma Finn aufgenommen, wo er all das bekam, was er haben wollte: den Schnaps, die Mädchen, die schicke Kleidung und das aufregende Leben. Außerdem stand 132
er unter dem Schütz von Londons größter Verbrecherbande. Tote hatte damals, wie abgesprochen, die Waffe aus dem Abfallbehälter gefischt und sie zur Plaza mitgenommen. Aber ausgerechnet an jenem Abend hatte er ein Rendezvous mit einem Mädchen, auf das er schon eine ganze Weile scharf war, und er hatte die Llama mit den übrigen Patronen seinem Kumpan Blarney Devine mit der Anweisung übergeben, sie irgendwo in den Fluß zu werfen. Wie die meisten Kriminellen las Tote in den Zeitungen nur die Wettseite, und so war ihm die Nachricht entgangen, daß Edward Ridley mit der alten Llama erschossen worden war. Zufällig war Blarney Devine anwesend, als Jack Finn im „Daily Success“ von der Waffe las. Er wurde Zeuge von Finns Wutanfall. „Dieser Schweinehund Tote kann schon anfangen, seine Totengebete zu sprechen“, schäumte Finn. „Er sollte die Kanone in den Fluß werfen. Und was tut er? Er behält sie. Es ist eine hanebüchene Unverschämtheit.“ Er ging mit raschen Schritten auf und ab. Die Mitglieder der Firma, vor allem Blarney, beobachteten ihn gespannt. „Was hat das Miststück vor? Ein Verräter in der Firma, und wir können das Handtuch schmeißen. Wie soll ich wissen, ob er nicht für diese verdammten Itaker arbeitet … Angenommen, er hat diesen Fleischfritzen umgelegt, und die Polizei kann’s beweisen – mit dieser Llama – Jesus! Er kann alles kaputtmachen, der hirnlose, verräterische Scheißkerl.“ Finn schickte drei Männer in seinem eigenen Wagen los, die Hoskins herbeischaffen sollten, aber sie riefen an, sie könnten ihn nicht finden. Blarney war ziemlich sicher, daß sich Tote in der Wohnung seiner neuen Flamme aufhielt, in die er bis über beide Ohren verknallt war. 133
Blarney verließ die Plaza, sobald er es unbemerkt tun konnte, und vergewisserte sich, daß ihm niemand folgte. In einem Taxi fuhr er zu der Wohnung, scheuchte einen triefäugigen Tote aus einem zerwühlten Bett und aus den Armen einer Blondine, die, wie er noch rasch feststellen konnte, keineswegs überall blond war. Er zog Tote ins Badezimmer, drehte die Wasserhähne auf und erzählte ihm, was los war. „Er kreischt wie ’n Papagei, Tote. Er schwört, mit ’m kleinen Finger wär’s nicht getan, wenn er dich zu fassen kriegt. Er will dich in Stücke reißen und die über die Norfolk Broads verstreuen.“ Tote war außer sich vor Entsetzen, aber auch vor Wut. „Du hast diese Scheißpistole an dich genommen und wolltest sie verschwinden lassen, und das hast du nicht getan. Ich werd’ Jack stecken, daß du derjenige bist, dessen Reste über die Broads verstreut werden sollten.“ „Sei nicht so idiotisch, Tote. Das hilft dir doch auch nicht aus dem Schlamassel. Damit reißt du nur mich mit rein. Ich geb’s ja zu, es war ’n Fehler, daß ich die Pistole behalten und sie verscheuert hab, aber es ist nun mal passiert. Das beste ist, du verschwindest für ’ne Weile von der Bildfläche. Ich versorge dich mit allem Nötigen und seh zu, daß ich die Chose wieder einrenke.“ Sie hörten, wie das Telefon klingelte. Tote drehte die Hähne zu und öffnete die Badezimmertür. Die Blondine war jetzt angezogen. „Ein Mann wollte wissen, ob Tote hier ist. Ich hab gesagt, du wärst bis vor ’ner halben Stunde hier gewesen.“ „Jesus. Wir hauen ab“, sagte Blarney. „Wohin?“ Blarney warf der Frau einen warnenden Blick zu. „Beeil dich, Tote“, sagte er, und dann, zu ihr gewandt: „Wenn du weiter schön bleiben willst, vergiß, daß ich hier war. Kapiert?“ „Kapiert“, sagte sie müde. 134
Sie rasten zu Blarneys Wohnung, stiegen in Blarneys Auto und fuhren los. „Ich hab meiner alten Mamma ein Grundstück in Suffolk gekauft“, sagte Blarney. „Nicht groß, aber mit ein bißchen Wald, und sie hat ’n Wohnwagen da stehn, den vermietet sie im Sommer an Gäste. Den schaffen wir in den Wald, und da kannst du auf Tauchstation gehn. Ich bring dir, was du zum Essen und Trinken brauchst. Dort bist du so sicher wie in Abrahams Schoß.“ Aber Tote fand es dort viel schlimmer als im Gefängnis. Kein Mensch, mit dem er mal ein Wort reden konnte; das Wasser pladderte unablässig von den Bäumen auf das dünne Blechdach des Wohnwagens; der Ölofen stank fürchterlich; die BBC ödete ihn an, der Büchsenfraß ödete ihn ebenso an, der Schnaps ödete ihn noch mehr an, denn er stand nun mal auf Bier, aber das Bier war zu schwer, als daß Blarney es durch den Wald hätte schleppen können. Außerdem brauchte er eine Frau. „Ausgeschlossen“, sagte Blarney. „Die Bullen schwirren überall rum wie Fliegen um ein krepiertes Kamel. Sie machen uns das Leben verflucht schwer, treten uns dauernd auf die Zehen, und Jack gibt dir an allem die Schuld. Wenn mit ’ner andern Kanone geballert worden wär, hätt’ man den Fall nie mit der Firma in Verbindung bringen können.“ „Ich glaube, ich seh zu, daß ich ins Ausland komme, Blarney.“ „Hoffnungslos. Wovon willst du denn leben? Die Franzmänner und die Itaker sind erstklassig durchorganisiert, da hast du keine Chance. Warte eine Weile. Irgendwas wird sich schon ergeben.“ Das Elgin Hotel gehörte zu der Sorte Herbergen, die anscheinend in Gegenden wie Notting Hill besonders häufig zu finden sind. Im Vestibül roch es nach Essen, Staub und Karbol. Mrs. Gore, die Inhaberin, hatte dünne Lip135
pen und eine spitze Nase. Mit ihr war offensichtlich nicht gut Kirschen essen, und ihre Liebe zu Polizisten hielt sich durchaus in Grenzen. Inspektor Gullet kannte den Typ. „Mir kommen alle jungen Männer komisch vor“, sagte Mrs. Gore. „Alle haben sie lange Zotteln und sind schlampig angezogen. Mr. O’Toole hat langes, strähniges Haar, einen dichten Bart, dichte Augenbrauen und schlechte Augen, so daß er eine dunkle Brille tragen muß. Er zahlt pünktlich, immer zwei Wochen im voraus, und ist ruhig. Ich kenne unangenehmere Mieter als ihn.“ „Und seit dem Abend, als der Mord in den Mews geschah, haben Sie ihn nicht mehr gesehen?“ „Nein.“ „Und er hat auch nicht gesagt, daß er irgendwohin will?“ „Er hat seine Miete bis nächsten Samstag bezahlt. Ich frage meine Gäste nicht, was sie vorhaben.“ Gullet spielte jetzt die Rolle des unerbittlichen Kriminalisten. Seine blassen Augen starrten unbeweglich aus dem steinernen Gesicht; in seiner muskulösen Gedrungenheit wirkte er wie eine unwiderstehliche geballte Kraft. „Im Falle eines Mordes stellt die Polizei Ermittlungen an, und Mr. O’Toole ist der einzige von Ihren Pensionsgästen“, bei diesem Wort zuckte Mrs. Gore zusammen, „den meine Leute nicht verhören konnten.“ Im Vertrauen darauf, daß er Mrs. Gore richtig einschätzte, wechselte Gullet wieder den Ton. „Mrs. Gore, ich verstehe Ihr Problem, und ich möchte Ihnen helfen. Wenn ich einen Blick in sein Zimmer werfen dürfte, könnte ich möglicherweise entscheiden, ob ich ihn und Sie überhaupt noch weiter zu belästigen brauche.“ Sie stieg vor ihm die kurze Treppe hinauf und ließ ihn keinen Augenblick aus den Augen. Vom Fenster des 136
Zimmers blickte man durch den steinernen Bogen, der die Westland Mews überwölbte, auf zwanzig Meter Kopfsteinpflaster. Es war das typische Hotelzimmer: eine Bettcouch, zwei Sessel, ein Tisch, eine Lampe mit sechseckigem Schirm und Plastbezug, ein billiger Aschenbecher, dünne Vorhänge, bei denen mit dem Stoff gespart worden war, ein dünner, harter Teppich, ein zwischen Kamin und Wand eingebauter Schrank, ein Gasfeuer mit einer Münzengasuhr. Gut genug für einen Studenten, fand Gullet. Er betrachtete die auf einer Kommode aufgebauten Bücher, eine lange Reihe. Es waren ausnahmslos Krimis oder Abenteuerromane. „Was studiert denn Mr. O’Toole eigentlich?“ fragte er. Sie zuckte die Achseln. „Keine Ahnung.“ Gullet rieb sich das Kinn und schaute sich weiter um. Schließlich sagte er: „Mrs. Gore, ich besorge mir jetzt einen Durchsuchungsbefehl für dieses Zimmer. Was ist Ihnen lieber: daß ich es inzwischen versiegle oder daß ich einen meiner Männer hier lasse?“ Mrs. Gore dachte an ihre übrigen Mieter, alle durch die Bank hochehrenwerte Leute. Was von beiden war weniger schmachvoll? Die Durchsuchung von O’Tooles Zimmer überwachte Gullet persönlich. Sie dauerte einige Stunden, und der Beamte, der die Fingerabdrücke sichern sollte, wiederholte mehrmals: „Ich glaube, wir suchen nach einem Gespenst. Alle diese Bücher wurden mit Handschuhen gelesen. Fingerabdrücke sind nur auf den Umschlägen, und die stammen von den Verkäufern. Alles ist so sauber abgewischt wie Oliver Twists Schüssel.“ „Welch profunde literarische Bildung!“ höhnte Gullet. „Also gar nichts?“ „Nein, Sir. Aber eine Sache ist damit bewiesen, nicht wahr?“ 137
Gullet nickte. „Daß einer hier gewohnt hat.“ „Ah!“ sagte der Mann. Er untersuchte gerade das Fenster. Gullet wartete. „Seitenabdrücke von zwei Fingern. Halb abgewischt. Reicht nicht aus für eine genaue Identifizierung, kann aber trotzdem nützlich sein.“ Die Suche förderte nichts weiter zutage. „Mr. O’Toole hat Schlüssel für die Haustür und für dieses Zimmer?“ fragte Gullet Mrs. Gore. „Ja, natürlich. Mein Gott, ich muß ein anderes Schloß anbringen lassen, wenn er nicht wiederkommt.“ „Noch nicht, Mrs. Gore. Ich möchte dieses Zimmer für eine Woche oder für vierzehn Tage mieten. Wenn er zurückkommt, werden wir ihn in Empfang nehmen. Meine Leute wechseln sich hier ab. Wir zahlen von dem Tag an, bis zu dem Mr. O’Toole seine Miete gezahlt hat.“ Er bestellte sie in den Yard, damit dort nach ihren Angaben ein Phantombild von Mr. O’Toole gezeichnet werden konnte. „Wird uns auch nicht viel weiterbringen“, sagte er resigniert. „Diese jungen Leute sehen doch alle egal aus – lange Haare und Brille. Nichts, was für die Identifizierung nützlich wäre.“ Gullet liebte es, alle Hauptverdächtigen selber zu verhören. Frank Blake betrachtete seinen Besucher sehr gelassen. Gullets Bowler lag, Rand unten, auf dem Tisch. Modisch hielt er etwa die Mitte zwischen den Bowlers, die in der Londoner City, und denen, die in Birmingham verkauft wurden. In der Tasche von Gullets Mantel steckte ein kleines Tonbandgerät, und seine Hemdmanschette verdeckte ein winziges Mikrofon. Er haßte diesen neumodischen technischen Schnickschnack, der aber für die Arbeit der Polizei notwendig geworden war. „Ich komme mir vor“, hatte er einmal zu seiner Frau 138
Hilda gesagt, „wie ein Mittelding zwischen Sherlock Holmes und einem Siliziumchip.“ „Mach dir doch deshalb nicht den Kopf heiß. Du bist nicht mehr lange dabei. Im Dienst, meine ich.“ Blake hingegen, der Hauptbuchhalter der Firma Ridley, die bald in die Firma Tindall übernommen werden sollte, hatte keineswegs den Eindruck, einem erschöpften, gequälten Mann gegenüberzustehen, der eine verlorene Schlacht gegen den Fortschritt der Technik kämpfte und auf seine Pensionierung wartete, sondern im Gegenteil einem brutalen, unbarmherzigen Feind mit den Muskeln eines Kampfstiers unter dem prall sitzenden Anzug. Gullet lehnte den angebotenen Drink ab. „Nicht im Dienst, Sir.“ Aber er stopfte noch etwas Tabak auf den ranzig riechenden Rest im Pfeifenkopf und schickte Wolken beißenden blauen Rauchs in die Luft. „Ich brauche ja wohl nicht zu fragen, weshalb Sie hergekommen sind, Inspektor“, sagte Blake. „Soso. Haben Sie mich denn erwartet?“ Blake seufzte hörbar. So also lief der Hase. „Nein, Inspektor. Aber da Sie nun mal hier sind, nehme ich an, Sie sind wegen des unglücklichen Todes meines früheren Arbeitgebers gekommen.“ „Für Sie war sein Tod doch kein Unglück.“ „Was wollen Sie damit sagen?“ „Liegt das nicht auf der Hand? Ridley hat Sie Knall und Fall rausgeschmissen, und Tindall hat Ihnen das Angebot gemacht zu bleiben.“ Gullet hatte Blake als intelligent, aber schwach eingeschätzt. Diese Sorte schüchterte er gern von vornherein ein, drängte sie in die Defensive. Seine Theorie lautete: Wenn die harte Tour nicht zieht, kann man hinterher immer noch die nette Onkel-Tour versuchen, und dann sind sie oft so erleichtert, daß sie einem unabsichtlich das erzählen, was sie vorher nicht sagen wollten. 139
„Ridleys Tod war ein Glück für Sie“, wiederholte er, „nicht wahr?“ „Ich verstehe nicht …“, begann Blake. „Es geht nicht darum, was Sie verstehen, Mr. Blake. Ich sagte, Ridleys Tod war ein Glück für Sie.“ „Wollen Sie unterstellen …?“ „Habe ich etwas unterstellt? Aber schleichen wir doch nicht wie die Katzen um den heißen Brei herum. Er hat Sie rausgeschmissen, und Sie haßten ihn, weil er Rückgrat hatte. Er starb, und Sie kriegten Ihre Stellung wieder.“ Der Anflug eines Lächelns spielte um Blakes Mund, und seine Stirn war leicht gerunzelt, als versuche er mit aller Anstrengung zu verhindern, daß das Lächeln die Oberhand gewann. „Keine einzige dieser Behauptungen entspricht der Wahrheit, Inspektor. Er hat mich nicht rausgeschmissen; wir haben beschlossen, uns zu trennen. Ich haßte Mr. Ridley nicht, weil er Rückgrat hatte, wie Sie sich auszudrücken beliebten, im Gegenteil, ich empfand Respekt vor seiner Leistung, und ich bedauerte, daß er sich nicht geistig umzustellen vermochte, was unbedingt nötig gewesen wäre, wenn er noch weiterkommen wollte. Ich kriegte auch meine Stellung nicht wieder, wie Sie es formulierten. Tindall bat mich, die Reorganisierung nach den Prinzipien durchzuführen, die ich Mr. Ridley vorgeschlagen hatte und mit denen er sich nicht befreunden konnte.“ Gullet betrachtete Blake mit seinem ausdruckslosen starren Blick. Der Mann hatte sich hervorragend in der Gewalt. Unwahrscheinlich, daß man ihm eine unüberlegte Äußerung entreißen konnte. Doch in einem Punkt mußte er ihm noch auf den Zahn fühlen. „Nun gut, Mr. Blake, lassen wir das mal beiseite. Aber wie war das mit den tausend Pfund?“ Er entzündete von neuem seine Pfeife. 140
„Welchen tausend Pfund?“ „Ich spreche von dem Geld, das aus dem Innenschrank des Safes verschwunden ist. Die eiserne Reserve oder so was …“ „Der Fonds für unvorhergesehene Fälle.“ „Kommt aufs selbe raus. Die Buchprüfer sagen, es ist verschwunden. Nur Sie und Mr. Ridley hatten einen Schlüssel.“ „Inspektor, Ihre Art gefällt mir nicht. Wenn Sie unterstellen wollen, ich hätte dieses Geld genommen …“ Blake zuckte die Achseln. „Dann schlage ich vor, daß Sie auch Mr. Ridley befragen.“ „Mr. Ridley ist tot.“ „Eben. Und er hatte ein paar ganz private Geheimnisse, wie Sie feststellen werden, wenn Sie etwas herumhorchen.“ „Da ist er anscheinend nicht der einzige“, sagte Gullet. „Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen, Inspektor“, erwiderte Blake. Er spürte, daß die Zeit zum Angriff gekommen war. „Aber ich habe Ihre Anzüglichkeiten jetzt wirklich satt. Erheben Sie irgendwelche Beschuldigungen gegen mich?“ „Nein, Mr. Blake. Ich stelle Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Mord an Ihrem früheren Arbeitgeber Mr. Edward Ridley an, und Sie helfen mir dabei.“ „Dann kommen Sie bitte zur Sache.“ „Also, Sir“, sagte Gullet in beleidigtem Ton, „erzählen Sie mir bitte, wie Sie am Freitag, dem Elften dieses Monats, den Abend verbracht haben.“ „Zu Hause mit meiner Frau, wie ich es gewöhnlich tue.“ Gullet nahm seinen Hut vom Tisch, klopfte seine Pfeife auf dem Aschenbecher aus und erhob sich. „Außer wenn Sie mit Miss Mary Ridley zusammen sind. Wie ich schon sagte, Mr. Ridley war nicht der einzige, der private Geheimnisse hatte.“ 141
Nachdem er das abgeschossen hatte, ging er zur Tür und schloß sie geräuschlos hinter sich. Mrs. Ridley räumte ein, daß Inspektor Gullet seine Arbeit tun müsse. „Ein Polizist hat nicht gerade einen Traumjob“, stichelte sie. „Natürlich, wie Sie schon sagen, es ist meine Pflicht, der Polizei behilflich zu sein, aber trotzdem hoffe ich, daß Sie den Kerl nicht fassen. Wenn es nach mir ginge, kriegte er einen Orden. Na, Inspektor, nehmen wir beide einen zur Brust?“ „Tut mir leid, Mrs. Ridley. Im Dienst ist das nicht gestattet.“ „Aber Inspektor! Das erfährt keine Menschenseele. Es sind doch nur Routinefragen, wie Sie sagen. Nein? Na, Sie haben hoffentlich nichts dagegen, wenn ich mir noch einen Gin Tonic genehmige.“ Sie mixte sich einen Drink und tat eine Menge Eis hinein. „Mrs. Ridley, können Sie mir eine Person oder mehrere Personen nennen, die vielleicht ein Motiv gehabt hätten, Ihren Gatten zu ermorden?“ „Hunderte, Inspektor, mich eingeschlossen. Ich höre, Sie waren bei dem armen Mr. Blake. Na, der könnte nicht mal ’ner Fliege was zuleide tun.“ In vertraulichem Ton fuhr sie fort: „Aber wenn Sie meine aufrichtige Meinung hören wollen – nein, es ist wohl besser, ich halte den Mund.“ „Mrs. Ridley, wenn Sie etwas wissen, was der Polizei bei ihren Ermittlungen in bezug auf den Mord an Ihrem Gatten helfen könnte, sind Sie durch das Gesetz verpflichtet, es zu sagen.“ „Es ist nur so eine Idee …“ „Ich höre, Mrs. Ridley.“ „Ich meine … wissen Sie schon, daß mein Alter in den Mews, wo er erschossen wurde, ein Flittchen ausgehalten hat?“ 142
„Ja, natürlich.“ Gullet wartete geduldig. In Fällen wie diesem hier konnte man nie wissen, ob man nicht doch Glück hatte und etwas Brauchbares erfuhr. „Aha, Sie wußten es. Also, dieser geizige Mistkerl hat sich eine teure Hure zugelegt und sie mit Luxus überschüttet, und seiner eigenen Familie gönnte er nicht mal das Hemd auf dem Hintern, wenn Sie meine rüde Ausdrucksweise entschuldigen wollen.“ Gullet unterdrückte einen Seufzer. „Und welche Idee ist Ihnen gekommen, Mrs. Ridley?“ fragte er. „Wissen Sie, mein Alter war ja nun wohl kaum der Prachtmann, von dem junge Frauen träumen.“ Ihre Stimme nahm wieder einen vertraulichen Klang an. „Es wär doch nur natürlich, wenn sich das Flittchen was Attraktiveres gesucht hätte, und der andere ist dann eifersüchtig geworden und hat den Alten aus dem Weg geräumt. Man hat schon Leute wegen weniger umgebracht.“ „Wir werden es ermitteln.“ „Freut mich, das zu hören. Die Hure will ich hinter Gittern sehn.“ Gullet überlegte. Es würde zwar zu nichts führen, aber trotzdem mußte er die Frage stellen. „Mrs. Ridley, können Sie mir sagen, wo Sie um acht Uhr vierzig an dem Tag waren, als Ihr Mann ermordet wurde?“ „Wie aufregend!“ rief sie ausgelassen. „Wo warst du, als es passierte? Ich war im ‚Nag’s Head‘. Mein Junge war entführt worden, und ich wollte meine Angst in Alkohol ertränken.“ Mary Ridley war an dem bewußten Abend in der Covent Garden Opera gewesen – zu einer „Rheingold“-Aufführung. Sie hatte keine Zeugen, aber sie hatte die entwertete Eintrittskarte aufgehoben. Männer vom Yard such143
ten noch immer nach den Leuten, die auf den Plätzen links und rechts von ihr gesessen hatten. Gullet empfand stets so etwas wie Beschämung, wenn er sich an seine Unterredung mit Mrs. Blake erinnerte. Sie kam in ihrem Rollstuhl an die Tür gefahren, eine sehr schöne Frau, und zog erstaunt die Brauen zusammen, als er sagte, er brauche von ihr die Bestätigung der Aussage ihres Mannes, er habe den Abend des Mordtages mit ihr verbracht. „Und warum muß ich das bestätigen?“ Gullet machte ein betretenes Gesicht. Tatsächlich – warum? Doch nur, weil er es nicht glaubte. „Polizeiroutine.“ Seine alte Tour. „Wir brauchen für alles eine Bestätigung.“ „Natürlich war er an dem Abend hier. Wir haben zusammen nach dem Abendessen ferngesehen.“ „Und woher wissen Sie, daß es dieser Abend war?“ Sie sah ihn ungeduldig an. „Bitte, seien Sie nicht albern. Mr. Ridley war, wie Sie wissen, der Arbeitgeber meines Mannes. Seine Ermordung wurde in den Fernsehnachrichten bekanntgegeben.“ „Erinnern Sie sich noch, was an diesem Abend im Fernsehen gegeben wurde?“ „Nicht genau. Der übliche Unsinn vermutlich.“ „Aber Sie wissen es nicht sicher?“ „Ich habe für so etwas kein Gedächtnis. Irgendwas ohne Belang.“ „Es könnte also ein anderer Abend gewesen sein. Oder vielleicht sind Sie auch eingeschlafen.“ „Während sich mein Mann aus der Wohnung schlich und einen Mord beging.“ Sie lächelte. Gullet kämpfte weiter. „Aber er ist doch nicht immer zu Hause, wie?“ Das Lächeln gefror und wich einem Ausdruck kalter Wut. Aber als sie sprach, war ihre Stimme ganz ruhig, 144
und ihre Worte klangen so noch schneidender. „Inspektor, die Tatsache, daß ich Sie und jeden anderen bemitleide, der eine schmutzige Arbeit zu tun hat, bedeutet nicht, daß ich mir Ihre niedrigen Anspielungen gefallen lassen muß. Bitte, verschwinden Sie. Sofort.“ Gullet befahl seinem Fahrer zu warten und ging die letzten hundert Meter zum Allerdyce Tower zu Fuß. Der Allerdyce Tower war eine jener neuen zwanziggeschossigen vertikalen Mietskasernen, wie Gullet sie nannte, die in den letzten Jahrzehnten so viel dazu beigetragen haben, die Silhouette der Stadt London zu zerstören und alle möglichen neuen psychologischen Probleme auszulösen, die man früher nicht kannte. Sein Weg führte ihn durch eine der Hauptstraßen eines Arbeiterbezirks in Südlondon; hier hatten einst Kleinbürgerfamilien mit vielen Kindern und zwei oder drei Dienstboten gewohnt, die aus der Zurückgebliebenheit ihrer Dörfer in die Großstadt geflüchtet waren. Jetzt lebten in jedem Haus vier oder mehr Familien, und die meisten von ihnen waren Farbige. Ein Obst- und Gemüseladen zog seine Aufmerksamkeit auf sich. In ihm stapelten sich süße Kartoffeln, Avocados, frischer Ingwer, Fenchel, milde spanische Zwiebeln, so groß wie zwei Fäuste, Auberginen, Knoblauch, Mangofrüchte, roter und grüner süßer Paprika und andere Dinge, die den Westindiern und Pakistani nach England gefolgt waren. Gullet fragte sich, warum seine Frau nie so etwas kaufte. Aber was sollte sie auch damit? Er liebte Steak und Nierenpastete, Roastbeef, Fisch mit Pommes frites. Sein einziger Besuch in einem indischen Restaurant in Soho war ein denkwürdiges Fiasko gewesen. Der Eingang zum Allerdyce Tower war mit Kaugummieinwickelpapier und anderem Abfall übersät, und es roch durchdringend nach altem Urin. Die Hauswände 145
waren mit Inschriften bekritzelt, meist Liebeserklärungen von Jugendlichen. Offensichtlich war es ein Rendezvousort junger Leute, die keine anderen Möglichkeiten hatten. Gullet trat in den grünemaillierten Fahrstuhl. Der Uringestank wurde hier von Karbolgeruch übertönt, der ihn an den Geruch in Gefängnissen und Erziehungsanstalten erinnerte. Er drückte auf den Knopf für den 18. Stock. In jedem Stockwerk gab es vier Wohnungen, und auf dem Namensschild an der Wohnungstür gegenüber dem Fahrstuhl stand Sinclair. Er läutete. Sinclair stand ziemlich weit oben auf der Liste der Verdächtigen. Er war der ehemalige Geschäftsführer der Filiale in Brixton, den Ridley bei einer seiner berühmten Schnüffeltouren fristlos entlassen hatte. Ridley hatte Gullet bei dessen erstem Besuch erzählt, wie Sinclair damals Fleischkeulen nach ihm geschleudert und von seinem Leibwächter „in Schach gehalten“ worden war. Mrs. Sinclair öffnete. Sie war etwas mollig und hatte ein glattes, ruhiges Gesicht. Der Mann, der da an der Tür stand, konnte ein Versicherungsagent oder jemand vom Bezirksamt sein, überlegte sie. Fragend zog sie die Augenbrauen hoch. Gullet zeigte ihr seinen Ausweis. Der Blick der Frau war jetzt angstvoll. „Bitte, kommen Sie herein“, sagte sie. „Inspektor Gullet. Abteilung für schwere Verbrechen, Scotland Yard. Da muß ein Irrtum vorliegen.“ Genau das hatte sie gefürchtet, und jetzt war es eingetreten. Sie gab sich Mühe, ganz normal auszusehen. Aber was war für die Polizei schon normal? Gullet kannte die Symptome. Sobald die Leute wußten, es war die Polizei, veränderten sie sich irgendwie. Sie waren nicht länger unbefangen, gleichgültig, ob sie etwas zu fürchten hatten oder nicht. 146
„Kein Irrtum, Mrs. Sinclair. Ich hätte gern ein paar Worte mit Ihrem Mann gesprochen.“ Sie spürte, wie ein Zentnergewicht von ihr abfiel; aber ihre Augen glitzerten von Tränen. „Das geht nicht“, erwiderte sie schließlich. „Er ist – er ist tot.“ „Tot?“ Gullets Ton schien irgendwie anzudeuten, daß Sinclair sehr unrecht daran tat, tot zu sein. „Bitte, kommen Sie herein“, sagte die Frau, „und sagen Sie mir, was Sie wissen möchten.“ Sie bot ihm einen Stuhl an, so daß er der Teebüchse den Rücken zukehren mußte, in der sie den Brief ihres Mannes versteckt hatte. Er hatte ihn ein paar Minuten vor dem Augenblick geschrieben, in dem er sich über die Balkonbrüstung gestürzt hatte. „War er lange krank?“ fragte Gullet. „Nein. Er war überhaupt nicht krank. Wenn Sie nicht Verzweiflung zu den Krankheiten rechnen.“ Sie hielt sofort inne, als sie merkte, daß diese Art Gespräch ganz dazu angetan war, eben jenen Verdacht zu erwecken, den sie zu vermeiden wünschte. Gullet sah beunruhigt aus. Er liebte solche Gespräche ebenfalls nicht. „Es tut mir leid, von Ihrem Verlust zu hören“, sagte er barsch, verlegen. „Wie ist Ihr Mann gestorben?“ Sie sah ihn unverwandt an. Warum war er wohl hier, wenn nicht wegen der Versicherung? „Er betrank sich, betrank sich sinnlos, und fiel vom Balkon. Ich war nicht da. Es gab eine Leichenschau. Tod durch Unfall, hieß es.“ „Hat er keine Erklärung, keinen Brief, keine Notiz hinterlassen?“ Sie zog erstaunt die Augenbrauen zusammen. „Was für eine Erklärung?“ „O nein. Natürlich nicht. Sie sagten, er war betrunken und fiel vom Balkon.“ 147
Tatsächlich hatte ihr Mann einen Brief hinterlassen, den sie immer wieder gelesen hatte und den sie auswendig wußte. Es war töricht von ihr, ihn aufzubewahren. Liebe Anne, Du mußt das hier verbrennen, sobald Du es gelesen hast. Die Versicherungsleute dürfen nichts davon wissen, sonst zahlen sie Dir nicht meine Lebensversicherung aus. Ich bin sternhagelbetrunken, und ich trinke noch weiter. Es tut mir leid, aber nach dem, was bei Ridley passiert ist, kriege ich nie mehr eine anständige Stellung. Ich glaube, Du hattest recht. Ich hätte mich nicht auf solche Weise an Ridley rächen sollen. Kindisch. Eins habe ich Dir nie erzählt: Eines Tages warf ich einen Ziegelstein nach seinem Auto. Das Auto fuhr einen alten Mann tot. Ich glaube, ich bin nicht mehr ganz klar im Kopf. Jedesmal, wenn ich die Klingel höre, denke ich, sie kommen meinetwegen. Und daß ich zu Hause herumsitze, während Du nachts in dieser Kneipe arbeitest, macht mich verrückt. Du bist immer noch jung und hübsch. Es war so schön mit Dir und mit Joan. Sag ihr nichts. Das schlimmste ist, daß ich Dich und sie und den Kleinen so zurücklasse. Vielleicht findest Du einen guten Mann. Ich hoffe es von ganzem Herzen. „Wann ist es passiert?“ fragte Gullet plötzlich. „Vor zehn Tagen.“ Gullets Hirn registrierte, daß Sinclair Ridley nicht gut umgebracht haben konnte. Er hatte das beste aller Alibis. Mrs. Sinclair blickte auf Gullets undurchdringliches Gesicht. „Was wollten Sie von meinem Mann wissen? Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“ „Ich fürchte, nein. Mein Beileid zu Ihrem schweren Verlust.“ Sie schloß die Tür hinter ihm und lief zur Teebüchse. Aber sie rührte sie nicht an; sie wartete, bis sie Gullets 148
untersetzte Gestalt aus dem Haus treten und schräg über den Vorhof gehen sah. Bisher hatte sie es nicht über sich bringen können, den Brief zu verbrennen. Jetzt tat sie’s, aber sie schüttete die Asche in einen Umschlag, und die Tränen rannen ihr dabei übers Gesicht. Es lief alles wie gewöhnlich. Der Innenminister drängte den Commissioner, er solle endlich Ergebnisse vorlegen; der Commissioner drängte seine Untergebenen, ihm Ergebnisse zu liefern; und das wiederum führte nur zu dem einen Ergebnis, daß Schlüsse gezogen wurden, die durch keine Fakten gerechtfertigt waren, und unbegründete Verdächtigungen auf falsche Fährten wiesen. Im Fall Ridley schien nichts feste Gestalt annehmen zu wollen. Der Mörder – der Zeitungsverkäufer – war wie ein Rauchwölkchen an einem windigen Tag verschwunden und hatte eine Gangsterpistole am Tatort zurückgelassen. Das aber war nur einer der Hinweise, die darauf schließen ließen, daß die Unterwelt im Spiel war. „Eins gibt mir zu denken“, sagte Gullet zu Burns, seinem unmittelbaren Vorgesetzten, „nämlich daß immerfort der Name Finn auftaucht. Einer unserer Informanten hat uns erzählt, daß Finn kürzlich Ronald Ridley zu sich bringen ließ – vor der Entführung und dem Mord – und ihn der üblichen Finn-Behandlung unterzog. Der junge Ridley hatte in zwei von Finns Spielklubs mit ungedeckten Schecks bezahlt. Finn brachte ihm in seiner typischen Manier einen kleinen Schnitt im Gesicht bei und drohte ihm, wenn er das Geld nicht rausrückt, würde er ihm Schnitte verpassen, so lang und tief wie Straßenbahngleise.“ „Und Ridley junior zahlte?“ „Ja. Siebenhundert Pfund. Merkwürdig ist nun, daß zwischen diesem Zeitpunkt und dem Tag, an dem der 149
alte Ridley erschossen wurde, tausend Pfund in bar aus Ridleys Safe verschwunden sind – aus einem Fach im Safe. Nur Blake und der alte Ridley besaßen je einen Schlüssel dazu. Für beide wäre es schiere Dummheit gewesen, das Geld zu stehlen. Doch der junge Ridley hätte sich ziemlich leicht eines Nachts einen Abdruck von dem Schlüssel machen können, der am Schlüsselring seines Vaters hing. Er könnte seinen Eltern was in ihre Drinks getan haben, um sicherzugehen, daß sie auch wirklich fest schliefen. Aber das wäre eigentlich kaum nötig gewesen, denn sie nahmen beide ganz gern einen ausgiebigen Schlummertrunk.“ „Und was hatte Blake zu der Sache zu sagen?“ „Er sagte: ‚Fragen Sie Ridley.‘ “ Burns lachte. „Ich meine, es war der junge Ridley“, sagte Gullet. „Und hätte man Ridley senior nicht umgebracht, wäre es erst sehr viel später entdeckt worden. – Und noch etwas“, fuhr Gullet fort. „Ridley zahlte Finn Schutzgeld. Das ist an sich nicht ungewöhnlich, aber Blake muß davon gewußt haben. Er steckt tiefer im Fall drin, als es den Anschein hat. Offenbar geht seine Affäre mit Ridleys Tochter schon lange. Er hat zwei gute Gründe, nicht allzu traurig über Ridleys Tod zu sein – er behält seine Stellung, und es kann auch nicht sein Schade sein, wenn Mary Ridley einen Anteil von Ridleys Vermögen kriegt.“ Burns sah Gullet an. „Vielleicht noch mal zurück zu Finn. Ich frage mich, warum ausgerechnet mit dieser Pistole geschossen wurde“, sagte er. „Sieht ganz so aus, als ob es absichtlich getan wurde, um Finn einen Schreck einzujagen.“ „Hilft uns auch nicht weiter. Wenn Finn hinter dem Mord an Ridley steht – und ich könnte nicht sagen, warum das der Fall sein sollte –, hätte er doch einen Killer bezahlt. Und nach dem, was so an Gerüchten kursiert, ist Finn außer sich vor Wut, daß die Pistole wieder auf150
getaucht ist. Es heißt, Tote Hoskins hatte den Auftrag, sie verschwinden zu lassen.“ „Und Tote ist nicht aufzufinden?“ „Ich versuch’s nicht mal. Wenn Finn ihn nicht findet, wie sollte ich? Und wenn Finn ihn findet, dann erfahre ich’s.“ „Aber vielleicht zu spät.“ „Es wäre in jedem Fall zu spät. Wenn Finn Tote zu fassen kriegt, sitzt der ganz tief in der Tinte. Aber wenn er uns was stecken würde, wäre er ebenfalls ein toter Mann, nicht wahr.“ Burns nahm die Füße vom Schreibtisch. „Na, Sie kennen ja die Lage, Percy. Können Sie mir eine Zusammenfassung schreiben? Etwas, was ich Sir M. in die Hand drücke, damit er nicht ganz so dumm aussieht, wenn er mit dem Innenminister zusammentrifft. Reine Zeitverschwendung, aber …“ Gullets Bericht war kurz und trug den Vermerk: Vertraulich. 1. Mrs. Winifred R., Mary und Ronald R. haben Alibis für den Zeitpunkt des Mordes. 2. Blakes Alibi beruht nur auf der Aussage seiner Frau, aber da Gegenbeweise fehlen, ist daran nicht zu rütteln. 3. Monk, der Inhaber von Tindall, befand sich zur Zeit des Mordes in Schottland. 4. Viele Leute hatten Grund, Ridley tödlich zu hassen. Die Fälle, die uns bekannt sind, werden untersucht. 5. Der Mord könnte von einem bezahlten Killer begangen worden sein, im Auftrag einer der oben erwähnten Personen. 6. Bisher ist die wahrscheinlichste Theorie die, daß der Mord das Werk eines Gangsters war. Sie liefert eine Erklärung dafür, daß die Pistole, mit der Finn Malloy erschossen hat, auch in diesem Fall verwendet wurde. 7. Aus alldem kann man mit einiger Wahrscheinlich151
keit schließen, daß eine Gruppe von Gangstern den Sohn entführte, von anderen Gangstern erpreßt wurde, etwas von dem Lösegeld abzugeben, und sich weigerte. Edward Ridley wurde erschossen, weil die eine Gruppe der andern eins auswischen wollte oder aus anderen Gründen, die mit den Beziehungen der Gangstergruppen untereinander zu tun haben. Alle diese Möglichkeiten werden untersucht, aber es stehen dafür sehr wenig Leute zur Verfügung. Später am Tag erhielt Gullet einen Anruf von Burns. „Sir M. und der Minister sind beide sehr zufrieden mit dem Bericht, obwohl absolut nichts drinsteht. Aber das hält die Wölfe nicht lange in Schach. Viel Glück, Percy.“ Ronald rief Melissa fast jeden Tag an und hinterließ Botschaften, daß er sie liebe und daß sie ihn bitte anrufen solle. Stets wiederholte er die Nummer seines Hotels. Eines Tages war sie selber am Apparat. „Ich habe den Hörer abgenommen“, sagte sie, „obwohl ich ganz sicher war, daß du es bist. Warum läßt du mich nicht in Ruhe?“ „Ich kann’s nicht. Mel, Liebste, du darfst mir nicht so lange böse sein.“ „Bilde dir doch bloß nichts ein. Du interessierst mich einfach nicht. Übrigens habe ich deine Geschichte im ‚Sunday Success‘ gelesen. Du bist vielleicht ein Lügner!“ „Das hab ich doch nicht selber geschrieben! Aber sie haben ganz anständig dafür gezahlt. Hör mal, Mel, es ist prachtvolles Wetter, ich will nach Epsom zum Rennen. Wie wär’s – fahr mich hin und verbring einen netten Tag auf meine Kosten.“ Schweigen am anderen Ende der Leitung. Melissa hatte nichts anderes zu tun, und außerdem besaß sie zuwenig Geld, um irgend etwas zu unternehmen. Sie hatte bereits angefangen, jeden Tag die Stellungsanzei152
gen in der Zeitung nach einem passenden Job durchzusehen. Ronald machte sich die Pause zunutze. „Ich bin in ein paar Minuten bei dir. Hab keine Angst, ich werde ganz brav sein.“ Es war eine herrliche Fahrt. Halb London schien nach Epsom unterwegs zu sein. Melissas üppige kastanienrote Haarflut wehte im Fahrtwind des offenen Triumph. Zwischen den Rennmanagern von Epsom und den Gangstern des Londoner East End bestanden Verbindungen, die eine ehrwürdige, eine jahrhundertealte Tradition hatten. Hier, wie überall, blühte vor allem das Schutzgeldgeschäft. Diejenige Bande, die die Stände der führenden Buchmacher „beschützte“, war berechtigt, von jedem Buchmacher auf der Rennbahn einen Anteil zu kassieren. Und traditionsgemäß bildeten die Rennen von Epsom den Schauplatz der alljährlichen Parade aller Gangster von Rang, obwohl das große Geld jetzt mit Nachtklubs, Trinkklubs, Spielkasinos, Pornographie und Prostitution verdient wurde. In Epsom begegneten einander die Reichen und die Kriminellen. Die Reichen, denen die Pferde gehörten, hatten ihre eigenen Wettinformationen, aber auch die Kriminellen wußten genau, welche Pferde höchstwahrscheinlich gewinnen würden. Die Wettidioten – das gewöhnliche Publikum – merkten so gut wie nichts von der Spannung unter der Oberfläche. Sie hatten, im großen gesehen, keine Chance, aber aus ihren Taschen flossen die zweitausend Millionen Pfund jährlichen Profits, die auf den Rennbahnen gemacht wurden. Ronald tat alles, damit der Tag angenehm und reibungslos verlief. Er war glücklich, sich mit Melissa zeigen zu können, deren rotes Haar auffallend gut mit ihrer Fuchsjacke harmonierte. Man drehte sich nach ihr um. 153
Bei den ersten beiden Rennen verloren sie. Melissa hatte auf andere Pferde gesetzt als Ronald. „Wie wär’s mit einem Drink?“ fragte er, und sie gingen in eins der Rennbahnrestaurants. Am anderen Ende des Raums lehnten ein paar große, massige Burschen am Tresen, die Gin tranken und einen Mann hofierten, der Ronald den Rücken zudrehte, ihm aber irgendwie bekannt vorkam. Ronald war von Natur aus ziemlich arglos, aber er begriff sofort, daß diese Typen das waren, was die Presse „Rennbahngangster“ nannte. Tatsächlich stand hier der Generalstab der Firma Finn beisammen. Einer der Männer starrte Ronald an und sagte etwas. Darauf drehte sich der Mann um, der ihm bisher den Rücken zugekehrt hatte: Es war Jack Finn höchstpersönlich. Er stellte sein Glas hin und kam mit ausgestreckter Hand und vor Jovialität überströmend auf Ronald zu. „Na, das ist vielleicht eine Überraschung: Ridley junior, nicht wahr? Was macht die kleine Verletzung?“ Er warf einen Blick auf Ronalds rechte Hand. Ronald trug einen Fingerschutz über dem fehlenden Glied. „Danke, ist gut verheilt. Das hier ist Mrs. Margrove.“ Finn betrachtete Melissa anerkennend. „Nett, Sie kennenzulernen.“ Er warf dem Barmann einen Blick zu, deutete auf ihre Gläser und bewunderte dann Melissas Haar. „Meine Lieblingsfarbe“, sagte er, „wenn Sie mir diese Unverschämtheit verzeihen wollen.“ Er beschäftigte sich wieder mit Ronalds Finger. „Unglaublich, wozu manche Leute fähig sind. Finger abschneiden! Das zeigt natürlich, daß es schlimmere Kerle hier in der Gegend gibt als Jack Finn. Tut mir leid, das mit Ihrem alten Herrn. Aber Sie sagten ja, er war ein elender alter Knicker.“ Ronald wußte nicht, wie er auf einen Menschen reagieren sollte, der ihm vor kurzem kaltblütig einen Schnitt ins 154
Gesicht verpaßt hatte. Er nahm seine Zuflucht zu dem konventionellen Ausruf: „Können wir nicht von was Angenehmerem reden?“ Finn kratzte sich an der Nasenspitze. Er sah auf vulgäre Weise gut aus und zeigte ein Selbstvertrauen, wie es die Macht verleiht. „Die Buchmacher von Epsom sind meine Kumpel, wissen Sie, und ich will ihnen keinen Schaden zufügen. Aber weil Sie so viel durchgemacht haben und weil Ihre Freundin so fabelhaft aussieht, ein Tip: Beim Vier-UhrRennen ist ein totaler Außenseiter dabei, Cockney Kid. Es lohnt sich, fünfundzwanzig oder dreißig Pfund auf den zu setzen.“ Finn legte den Finger an die Lippen, zum Zeichen, daß diese Information streng vertraulich sei. „Also bis dann. Wir sehen uns bestimmt noch.“ Dabei starrte er unverwandt Melissa an. Cockney Kid gewann mit zwanzig zu eins. Ronald und Melissa bekamen beide je tausend Pfund ausgezahlt. „Na fabelhaft“, freute sie sich. „Das kommt mir wie gerufen! Ein runder Tausender!“ „Netter Bursche“, sagte sie auf der Rückfahrt. „Wie heißt er?“ „Jack Finn, und er ist alles andere als nett. Er ist der größte Gangster Londons. Der König der Unterwelt.“ Das Mädchen lachte. „Woher weißt du denn das? Zeitungsgewäsch. Er ist einfach ein gewiefter East-Ender, der von seinem Grips lebt. Vulgär, aber intelligent.“ Ronald ließ sie in dem Glauben. Er wollte die Stimmung nicht verderben; und er wollte die Sache mit Melissa nicht übers Knie brechen. „Wie wär’s mit einem guten Essen in einem gemütlichen Lokal und hinterher einem Abstecher in einen Spielklub?“ Er zögerte, dann setzte er hinzu: „In einen Klub, der deinem Freund Finn gehört, wenn er sich auch nie dort blicken läßt.“ 155
Es war nach zweiundzwanzig Uhr, als er in der Curzon Street auf den Klingelknopf drückte. Tony, der Geschäftsführer, erschien, nachdem Ronald und Melissa ihre Mäntel in der Garderobe abgegeben hatten. „Guten Abend, Mr. Ridley. Erfreut, Sie wiederzusehen nach all Ihren unangenehmen Erlebnissen. Gnädige Frau …“ Er verbeugte sich. „Darf ich Sie bitten, Mr. Ridley, sich heute abend zur Feier Ihrer Rückkehr als meine Gäste zu betrachten.“ Das muß doch Eindruck auf Melissa machen, dachte Ronald. Er wäre weniger entzückt gewesen, hätte er das Telefongespräch mitgehört, das Finn nach dem Rennen mit Tony geführt hatte. „Tony, wenn der junge Ridley bei dir aufkreuzt mit einer rassigen Rothaarigen, na, du weißt schon, dann roll den roten Teppich aus und ruf mich an. Das rote Haar ist echt, und sie ist ziemlich groß.“ „In Ordnung, Captain.“ Tony hatte Eton, Oxford und das Zuchthaus von Wandsworth absolviert, wo er eine Strafe von zwei Jahren abbrummen mußte, weil er einer Gräfin, mit der er geschlafen hatte, ein paar Juwelen stibitzt hatte. Im Zuchthaus war er von einem von Finns Männern angeheuert worden. Er war ideal für das „Veronica“, weil er jeden kannte, der in der Londoner Gesellschaft etwas war. Da Glücksspieler immer eine unbekannte Größe darstellten, brauchte man einen Mann wie ihn in jedem exklusiven Spielklub. Klubgäste, die zeitig erschienen waren, legten bereits ihre Chips auf dem teuren grünen Fries des Spieltischs zurecht. Melissa und Ronald waren Plätze an einem Tischchen angewiesen worden, wo sie einen guten Blick auf die kleine Bar, den Spielsaal mit seinem gedämpften Licht und das Restaurant mit den gestärkten Leinendecken hatten. Durch eine offenstehende Tür konnte man das Roulettrad klicken hören. 156
Der Sekt war erstklassig, und ohne daß sie sie bestellt hätten, wurden ihnen auf einer großen, mit Eisstücken belegten Silberplatte Austern serviert. Melissa sah sich das Roulettspiel eine Weile an, und als dann ein Platz frei wurde, begann sie mit niedrigem Einsatz zu spielen. Sehr rasch hatte sie vierhundert Pfund gewonnen. „Jetzt ist der richtige Moment aufzuhören“, riet ihr Ronald. Aber davon wollte sie nichts hören. „Dann steck wenigstens die vierhundert ein und spiel nur mit den hundert weiter, mit denen du angefangen hast.“ Es war zu spät. Sie hatte Blut geleckt, und am Ende hatte sie ihre ganzen fünfhundert wieder verloren. Als sie an ihren Tisch zurückkehrten, erschien eine Gruppe hochgewachsener, kräftiger Männer, alle in mitternachtsblauen Dinnerjackets und vor Selbstbewußtsein überströmend. Sie bildeten den Troß von Jack Finn. Während seine Begleiter an die Bar gingen und Sekt bestellten, kam er zu Melissa und Ronald herüber. „Na, so ein Zufall“, sagte er. „Ich bin nur ganz selten hier. Kommen Sie, leisten Sie mir und meinen Freunden Gesellschaft. Geht alles auf meine Rechnung. Cockney Kid hat mir heute eine ganze Menge eingebracht.“ Melissa sah Ronald an und sagte: „Das ist eine gute Idee.“ Finn genoß die ehrfurchtsvollen, verstohlenen Blicke, mit denen man ihn musterte, als sich herumsprach, wer er war. Nur wenigen Gästen war bekannt, daß ihm der Klub gehörte, aber fast alle wußten, daß er einen Menschen in aller Öffentlichkeit getötet hatte, ohne daß Anklage gegen ihn erhoben worden war. Finns Kumpane an der Bar wechselten wissende Blicke, als er mit Melissa angeschlendert kam, gefolgt von Ronald. Finn stand im Ruf, ein Ladykiller zu sein, der Rothaarige bevorzugte. 157
Melissa ließ sich auf einem Barhocker nieder, und Ronald sah sich ins Abseits gedrängt, während alle anderen um die Wette alberten und lachten. Er ging zu den Spieltischen, spielte glücklos ein paar Runden Chemin de fer und kehrte dann zur Bar zurück. „Wo ist Jack?“ fragte er. Einer der Männer sah unter seinen Achselhöhlen nach, was allgemeines wieherndes Gelächter auslöste, und sagte dann: „Jack Finn? Scheint nicht mehr hier zu sein.“ „Und wo ist meine Freundin?“ „Scheint auch nicht mehr hier zu sein, Mister.“ „Vielleicht auf der Toilette“, mutmaßte einer. Die Garderobenfrau sagte: „Die Dame mit der Fuchsjacke? Die ist fort.“ Ronald hatte keine Lust mehr, an die Bar zurückzukehren. Er ließ sich seinen Mantel geben und ging. Es war zwei Uhr morgens. Er fuhr zum Emerald Klub. Dort waren sie nicht. Westland Mews Nr. 11 lag in völliger Dunkelheit. Ausgerechnet Finn – vor dem er sich in die Hosen gemacht und der ihm das Gesicht zerschnitten hatte! Welche Demütigung! Finn besaß mehrere Häuser in Ostlondon, die in gefährlichen Situationen als Unterschlupf dienen konnten, aber seine eigentliche Wohnung befand sich im Wallace Court House, einem teuren, nach dem Krieg gebauten Appartementhaus in einer Querstraße der Whitechapel Road. Die übrigen fünf Wohnungen im Wallace Court House waren von Finns Leuten okkupiert. Ohne die Fassade zu verändern, hatte man das Haus in eine Festung mit kugelsicherem Glas, automatischen Gleittüren, automatischen Stahljalousien und elektronischer Alarmanlage umgebaut. In die Garage gelangte man über eine Rampe, und im Fall einer feindlichen Belagerung konnte Finn in seinen kugelsicheren Mercedes 158
steigen und, während sich die metallenen Garagentore hoben, wie der Wind mitten durch die Schar der Feinde davonfegen. „So, da sind wir“, sagte Finn, als er die Wohnungstür aufschloß. „Gefällt’s Ihnen?“ „Ob’s mir gefällt?“ Melissa sah sich um. „Mein Gott, Jack, es ist kaum zu fassen. Sie haben Geschmack.“ Er lachte. „Ich hab Geld, und mit Geld kann man sich Geschmack kaufen. Einmal besuchte mich Lord Gledding hier, wissen Sie, in einer geschäftlichen Angelegenheit. Er wurde als Lord geboren, ist nicht einer von diesen Labour-Lords, die kein bißchen gebildeter reden als ich. Anständiger alter Bursche übrigens. ‚Finn‘, sagte er zu mir, ‚Sie können nicht länger in so einer scheußlichen Höhle leben, wenn Sie wollen, daß die Leute Vertrauen zu Ihnen haben.‘ – ‚Wieso?‘ fragte ich. ‚Das hier kostet mich weiß Gott schon genug.‘ – ‚Schauderhaft‘, sagte er und gab mir die Adresse eines Innenarchitekten.‘ “ Finn goß sich und Melissa etwas zu trinken ein. „Jack, ich komme mir schäbig vor, weil ich Ronald so einfach abgehängt habe.“ „Aber du hast es getan!“ „Trotzdem war es schäbig.“ „Sei doch realistisch. Ich bin Jack Finn. Dadurch, daß wir so klammheimlich verschwunden sind, haben wir ihm Ärger mit meinen Freunden erspart. Und du hast mir ja gesagt, die Ridleys hättest du satt bis obenhin. Eine Frau wie du verdient etwas Besseres.“ „So was wie dich, meinst du.“ „Genau.“ Von ihm ging Kraft aus – Finns Überzeugung, daß man ihm unbedingt gehorchen mußte, wirkte geradezu hypnotisch. Und sie gehorchte, obwohl sie nicht wußte, wohin sie das führen würde. Er machte jedoch keine sexuellen Annäherungsversuche, gab ihr einen onkelhaften Gutenachtkuß und geleitete sie zu einem Zimmer, 159
dann ging er den Korridor entlang und verschwand in einem anderen Zimmer. Das beeindruckte sie. Sie war es gewohnt, daß Männer schnell und gierig von ihr Besitz ergriffen. Sie schlief bis nach zehn, und als sie die Daunendecke zurückschlug, lag sie in einem kreisrunden Bett und erblickte über sich ihr Bild in einem großen runden Spiegel. Neben ihrem Schlafzimmer befand sich ein luxuriöses Badezimmer mit eingebauten Nadelbrausen. Nachdem sie sich fertig angezogen hatte, begab sie sich ins Frühstückszimmer. Eine melancholisch aussehende Frau mit faltigem Gesicht und schweren Säcken unter den Augen machte dort sauber. „Ich bin Mrs. Deas, Liebes, Mr. Finns Haushälterin. Er sagte, ich soll mich um Sie kümmern. Er mußte geschäftlich fort. Appetit auf Frühstück?“ „Nur eine Tasse Tee.“ „Ich bring sie Ihnen, Liebes. Mr. Finn sagte, Sie würden sich vielleicht ein paar Kleider holen wollen. IrishJack wird Sie fahren. Und dann sollten Sie etwas schlafen, weil Mr. Finn heute abend mit Ihnen ausgehn will.“ Irish-Jack Ryan war ein jovial wirkender ehemaliger Boxer, dem ein paar Zähne fehlten und der aussah, als habe er durch K.-o.-Schläge geistig etwas gelitten. Er chauffierte Melissa in einem Alfa Romeo in die Mews und sagte, er würde auf sie warten. Sie deutete auf den Triumph. „Ich fahre selber.“ „Nein, Miss. Der Chef hat ganz präzise Anweisungen gegeben. Kein Risiko. Ich bin für Sie verantwortlich.“ „Ich werde mit Mr. Finn darüber sprechen.“ Er blieb im Wagen sitzen, während sie ein paar Sachen zusammenpackte und das Telefontonband einschaltete. Flehende Anfragen von Ronald. Nichts weiter. Als sie wieder im Wallace Court war, rief sie Retford Motors an, die Firma, die ihren Triumph technisch be160
treute, und bat sie, den Wagen abzuholen und ihn startklar in der Werkstatt stehenzulassen. Finn rief um zwanzig Uhr an und sagte, sie solle sich fertigmachen, er werde sie in einer halben Stunde zu einer Party abholen. Sie war pünktlich fertig. Sie gehorchte Finn wie alle anderen. „Wohin fahren wir denn?“ fragte sie ihn, als der Chauffeur den Mercedes über die Blackfriars Bridge steuerte. „Zu einem Gasthaus nicht weit vom Smoke. ‚The Dandy Fox‘.“ „Geburtstag oder so was?“ „Nein. Ein Fest für einen alten Freund, der dreieinhalb Jahre fort war.“ „Aha. Wo denn?“ „In Wandsworth.“ „Aber das ist doch in London.“ Der Fahrer lachte über ihre Unwissenheit. „Fort“ bedeutete: im Zuchthaus – in diesem Fall im Zuchthaus Wandsworth. Finn trug einen dunkelblauen, streng konservativen Abendanzug. Sie hatte das Kleid angezogen, das sie erst unlängst bei Brown gekauft hatte, und aller Augen waren auf sie gerichtet, als sie den „Dandy Fox“ betraten. Ihre jugendliche Schlankheit und ihr apartes Aussehen bildeten einen wirkungsvollen Kontrast zu Finns massiger, muskulöser Gestalt. Alle Gäste im „Dandy Fox“ waren Kriminelle oder ihr weiblicher Anhang, und alle stammten sie aus dem East End. Melissa fühlte sich äußerst unbehaglich unter den allzu auffällig gekleideten und zurechtgemachten Frauen mit den kunstvollen Frisuren, die sich in einem Slang, den sie nicht verstand, über Dinge unterhielten, von denen sie keine Ahnung hatte. Die Männer schienen sich in ihren konventionellen Anzügen unbehaglich zu fühlen. 161
Es wurde eine Menge getrunken, aber es ging sehr gesittet zu. Wie bei einem Clantreffen wurden selbst Todfeindschaften verborgen, wenn Frauen anwesend waren. Eine Außenseiterin wie Melissa, die nicht aus dem East End kam, war wie ein Kuckuck im Nest. Man tanzte zu den Klängen einer Musikbox. Eine Stunde lang saß Melissa mit immer demselben Glas vor sich da, ohne daß jemand mit ihr tanzte, dann schließlich fragte sie Finn: „Wie wär’s mit einer Runde, Jack?“ „Ich nicht, mein Kind. Ich würde ganz schön albern aussehen. Aber du laß dich nicht abhalten.“ Doch da sie Finns Freundin war, wagte es niemand, sie aufzufordern. Das war ihre erste Begegnung mit der exklusiven Gangsterwelt der starken Männer mit den schweren Wagen. Sehr schnell wuchs in ihr die Angst, in dieser Atmosphäre zu ersticken. Wenn sie nicht mit Jack zusammen war, saß sie in der Wohnung im Wallace Court herum, hörte Radiomusik mit der Stereoanlage, sah fern, las. Wenn sie ausging, fuhr Irish-Jack oder ein anderer Leibwächter sie zum gewünschten Ziel, wartete und fuhr sie wieder zurück. „Es ist doch genau so, wie wenn du einen Chauffeur hättest, nicht wahr?“ erwiderte Finn, als sie sich beschwerte. „Nein, anders. Ich fühle mich wie ein Hund an der Leine.“ „Aber das ist alles nur zu deinem Besten, mein Schatz. Man hört immer wieder von Frauen, die am hellichten Tag überfallen wurden.“ Das war besser, als ihr zu erzählen, daß in der Unterwelt die einfachste Form der Herausforderung oder der Rache darin bestand, die Freundin eines Rivalen „zu markieren“. 162
Das rätselhafteste für Melissa war die Art, wie Finn sie als Frau behandelte. Die ganze Zeit wartete sie auf eine Annäherung. Warum sonst ließ er es sich so viel Geld kosten, sie als seine Freundin herauszustellen, warum widmete er ihr so viel Zeit? Er ging immerzu mit ihr aus und liebte es, mit ihr gesehen zu werden. In der Unterwelt galt er als einer, der hinter den Weibern her war, ein Don Juan. Sie hatte ihn in einem der Klubs so nennen hören, und sie selbst wurde als „Klasseweib“ und als „tolle Biene“ bezeichnet. Aber dieser vorgebliche Frauenfresser hatte ihr bisher nur freundschaftlich auf die Schulter geklopft, ihr einen onkelhaften Kuß gegeben – nicht mal auf den Mund – und war niemals in ihr Zimmer gekommen. Es war Ronald nicht möglich, Melissa ans Telefon zu bekommen, und schließlich war das Tonband des Aufnahmeapparats abgelaufen, voll von seinen flehenden Anfragen. Im „Veronica“ und im „Emerald“ teilte man ihm äußerst höflich mit, daß seine Mitgliedschaft erloschen sei. Er strich um die Plaza herum, achtete aber sorgfältig darauf, daß er nicht gesehen wurde. Zweimal erblickte er Finn, umgeben von seiner Leibwache, der in einem weißen Mercedes vorfuhr, aber die Plaza war ein Territorium, das ausschließlich Männern vorbehalten war. Ronald war vorsichtig. Wenn man entdeckte, daß er offensichtlich Ausschau nach Melissa hielt, würde es schweren Ärger mit Finn geben. Er behielt seine Suite im „Pevensey Arms“. Dort konnte sie ihn erreichen, wann immer sie es wollte. Ronald verließ die Anwaltskanzlei zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester Mary. Er war nun um 417 389 Pfund und 86 Pence reicher als bisher – oder besser gesagt, er würde um diese Summe reicher sein, 163
wenn das Geld in der Bank eintraf. Genau ein Drittel des Ridley-Vermögens, nachdem die Steuer sich ihr Teil genommen hatte. Mit Mutter und Schwester ging er in ein Restaurant, wo der Ober ihn mit seinem Namen anredete. Er besaß immer noch eine ganze Menge von den zehntausend Pfund, die er für den Abdruck seiner Entführungsgeschichte bekommen hatte, und so bestellte er ein luxuriöses Essen. Mary war schweigsam. Der Besitz von so viel Geld half ihr nicht einen Schritt weiter. Bisher hatte es, abgesehen von Franks Loyalität gegenüber seiner Frau, auch noch finanzielle Schwierigkeiten gegeben. Das viele Geld hätte es jetzt möglich gemacht, Mrs. Blake in einem guten Pflegeheim unterzubringen, wo sie von Leidensgefährten umgeben war, aber eben das war ganz undenkbar. Ronald träumte davon, wieder mit Melissa in Kontakt zu kommen und sie zu einer Weltreise auf einem Luxusdampfer einzuladen – drei oder sechs Monate in einem schwimmenden Spitzenklassehotel mit Swimmingpool, Sauna und erlesenen Speisen. Die ganze Welt konnte man sich ansehen, Tahiti, Hongkong, Tokio, New York. Und dort wäre sie auf jeden Fall Finns Zugriff entzogen. „Niemand käme auf die Idee, daß ihr beide gerade ein Vermögen geerbt habt“, sagte Winifred und trank laut schlürfend einen Schluck Sekt. „Und wie steht’s mit deinem neuen Heim, Mama?“ fragte Mary, um ein Gespräch in Gang zu bringen. „Das wird fabelhaft. Ideal. Ein Haus, zwei Wohnungen. Mir ist wohler, wenn ich einen Nachbarn mit drin habe. Von dort bis zum Cut sind’s nur zwei Minuten. Ich kenne eine Menge Leute da in der Drehe. Ihr könnt euch Nordlondon sauer kochen.“ Ronald hörte nicht zu. Vielleicht würde ein Privatdetektiv Melissa ausfindig machen. „Und du, Ronnie“, fuhr Winifred fort, „paß ja auf das 164
Geld auf. Fang was Vernünftiges damit an. Gelt gait zu Gelt, wie die Juden sagen. Dein Problem ist, du spielst. Dabei kann eine Wette für ein Pfund genausoviel Spaß machen wie eine für tausend Pfund.“ „Natürlich, Mama.“ Sie hatte eben keine Ahnung. Wenn man es richtig anfing, war Spielen kein Risiko. Es war ein Geschäft, wenn man die richtigen Leute kannte. „Ist es nicht hübsch, in so einem feinen Lokal zu essen und nicht aufs Geld sehn zu müssen? Er ist nie mit uns ausgegangen“, sagte Winifred. Sie erhob ihr Glas Pommery. „Auf Freunde, die nicht mehr unter uns sind“, kicherte sie. „Vor allem auf – na, ihr wißt schon!“ Sie sah, wie Mary zusammenzuckte, aber sie tat, als habe sie es nicht bemerkt. „Erledigt“, sagte sie. „Abgetan. Da, wo er jetzt ist, ist er besser aufgehoben.“ „Wir sind zu dem Schluß gelangt, daß der Mord an Ridley nicht das Werk einer Gangsterbande war“, sagte Gullet. Chefinspektor Burns, Gullets unmittelbarer Vorgesetzter, nahm seinen wohlbeschuhten Fuß vom Schreibtisch. Burns bildete einen völligen Gegensatz zu dem vierschrötigen Gullet – groß, schlank, mit langem, dunklem, düsterem Gesicht und einem ständigen höhnischen Halblächeln, das daran schuld war, daß sich allmählich unzählige winzige Krähenfüße rings um seine Augen eingegraben hatten. Er war einer der wenigen Scotland-Yard-Beamten, die Gullet mochte und respektierte. „Erzählen Sie mir mehr“, sagte Burns. „Wenn der Mord Gangsterarbeit wäre, wüßten wir das inzwischen. Und beinahe ebenso sicher wüßten wir, wer der Mörder ist. Wir könnten es zwar nicht beweisen, aber wir wüßten es.“ 165
„Immerhin ein Trost.“ „Das ist es“, sagte Gullet. „Mir tut nur meine Frau leid.“ „Wieso? Was hat das denn mit Ihrer Frau zu tun?“ „Wenn ich nicht weiterkomme, wie in diesem Fall, kann ich nicht schlafen. Ich liege ganz still da, aber Hilda merkt das und kann dann auch nicht schlafen, und das macht die Sache noch schlimmer.“ „Sie machen sich zuviel Gedanken, Percy.“ „Vielleicht.“ „Na, genehmigen wir uns ein Gläschen.“ Burns langte in seinen Schreibtisch und holte eine Flasche und zwei Gläser hervor. „Tut mir leid, kein Johnny Walker. Dank unseren Freunden vom ‚Gemeinsamen Markt‘ kann man den jetzt nur noch auf dem Kontinent kaufen.“ „Whisky ist Whisky.“ Gullet steckte seine Pfeife wieder an. „In meinen schlaflosen Nächten“, fuhr er fort, „hab ich über ein Gerücht nachgedacht, das einer unserer Spürhunde aus der Gegend um den Cut mitgebracht hat. Dort erzählt man sich, die drei Ridleys hätten den Alten gemeinsam zur Strecke gebracht und das Geld unter sich geteilt.“ Burns starrte nachdenklich auf das Ende seiner noch nicht angezündeten Zigarette. Gullet trank seinen Whisky aus und sagte: „Trotzdem verdammt anständiges Zeug.“ „Es gibt keinen schlechten kostenlosen Scotch. Noch einen?“ „Danke. Wie ich mich neulich so hin und her wälze und Hilda nicht schlafen lasse, fällt mir ein, daß wir zwar wissen, wo Winifred Ridley, Mary Ridley und Blake an dem Abend waren, daß aber der junge Ridley überhaupt kein Alibi hat, wenn man es recht bedenkt.“ „Den hatten doch die Kidnapper gekapert. Der Finger …“ „Ja. Der Finger. Ich frage mich: Wäre ich unter den 166
gleichen Umständen bereit, für fast eine halbe Million Pfund eine Fingerspitze zu opfern?“ „Und Ihre Antwort?“ „Aber ja doch. Und Ihre?“ Burns steckte sich umständlich seine Zigarette an, indem er ein brennendes Streichholz an ihr Ende hielt, bis sie glühte. Er gestattete sich drei Stück täglich – handgemacht in der Burlington Arcade aus dem feinsten Virginiatabak und sündhaft teuer, außer wenn man eben nur drei am Tag rauchte. Er drehte sie herum, blies leicht auf die Spitze und machte einen Zug. „Ebenfalls ja. Schon für eine Viertelmillion könnten Sie morgen die Spitze meines kleinen Fingers haben.“ Sie saßen schweigend da und dachten nach. Burns rauchte genußvoll seine aristokratische Zigarette. „Percy“, sagte er. „Das ist ein revolutionärer Gedanke. Vielleicht hat Hilda nicht umsonst gelitten.“ „Wir haben den Ort nicht gefunden, wo man den jungen Ridley gefangengehalten hat. Es gibt keinen Beweis dafür, daß der Ort wirklich existiert. Und was den Finger betrifft – Sie sind Rechtshänder. Nehmen wir mal an, Sie hacken sich selber eine Fingerspitze ab – im Augenblick ist ganz egal, wie –, dann wählen Sie die linke Hand, nicht wahr? Nun, der junge Ridley ist Linkshänder, und deshalb hat er sich eine Fingerspitze an der rechten Hand abgehackt.“ Burns klopfte behutsam die Asche von seiner Zigarette. „Glauben Sie denn, Sie wären imstande, sich selber eine Fingerspitze abzuschneiden, Gullet?“ „Für so viel Geld: ja.“ „Wie?“ „Darüber habe ich ausgiebig nachgedacht.“ „Arme Hilda“, sagte Burns, und Gullet lächelte, was selten vorkam. Das Lächeln milderte die Härte seines Gesichts. 167
„Ich würde mir etwas Trockeneis besorgen – dieses weiße Zeug, das so dampft.“ „Reines CO2.“ „Was auch immer. Sie brauchen ein schweres, scharfes Messer mit einer scharfen Spitze. Die Spitze treiben Sie in irgendeinen Gegenstand aus Holz, so daß das Messer mit der Schneide nach unten und dem Rücken nach oben auf einem Tisch liegt. Sie brauchen ferner eine dicke Unterlage aus mehreren Schichten Zeitungspapier oder dergleichen. Sie frieren Ihren Finger ein, legen ihn so auf die Zeitung, daß das Gelenk unter der Schneide liegt, und versetzen dem Messerrücken mit einem Hammer oder einem ähnlichen Werkzeug einen kräftigen Schlag.“ Gullet schwieg und stocherte mit der Klinge seines Taschenmessers in seinem Pfeifenkopf herum. „Und wo soll sich das alles abgespielt haben?“ „In dem Zimmer im Elgin Hotel, das der langhaarige Mr. O’Toole mit der Brille und den dichten Augenbrauen bewohnt hat.“ Burns stieß einen Pfiff aus und drückte seine Zigarette aus. „Faszinierend“, sagte er. „Und jetzt?“ „Ich möchte dieses Zimmer noch mal gründlich durchsuchen. Vielleicht finden wir den Abdruck einer Messerspitze, Blut – was allerdings unwahrscheinlich ist –, Haare, irgendwas. Und dann möchte ich, daß Mrs. Gore sich den jungen Ridley ansieht, ohne daß er es weiß. Sie ist nicht gerade sehr hilfswillig – ebensowenig wie die Trotzkisten, deren Zeitung der Mörder verkaufte.“ Burns goß ihnen neuen Whisky ein. „Viel Glück, Percy. Es ist eine aufregende Idee.“ „Ich will nicht, daß der Name des Elgin Hotels in den Schmutz gezogen wird“, sagte Mrs. Gore. „Ich lebe von dem Hotel.“ 168
Mrs. Gores Lippen waren fest zusammengekniffen und bildeten eine dünne gerade Linie. Gullet wußte, daß jeder Appell an ihre Vernunft auf taube Ohren stoßen würde. Er quoll fast aus dem Lehnstuhl in dem muffig riechenden Fernsehraum des Hotels – furchterregend, untersetzt, ein Basaltbuddha in einem prallsitzenden Tweedanzug; seine blaßblauen Augen waren starr auf sie geheftet. „Eins muß ich Ihnen mit aller Deutlichkeit sagen, Mrs. Gore: Die Polizei hat die Machtbefugnisse, alle notwendigen Untersuchungen durchzuführen. Ich möchte diese Machtbefugnisse nicht einsetzen; es liegt mir nichts daran, Ihnen das Leben noch schwerer zu machen. Und ich würde es auch gern vermeiden, Ihre Gäste zu verhören – ebenfalls in Ihrem Interesse.“ Mrs. Gore erklärte sich schließlich bereit, im Yard zu erscheinen, und Gullet fuhr zurück und bat darum, ihm das Spezialverhörzimmer, das bei den Scotland-YardLeuten „der Guckkasten“ hieß, samt dem dazugehörigen Spezialistenstab zur Verfügung zu stellen. Das Zimmer sah wie ein ganz gewöhnliches Büro aus, nur daß es pieksauber war. An einer Wand waren hinter einem großen Spiegelspion eine lautlos arbeitende Kamera und Vorrichtungen angebracht, die den leisesten Laut im „Guckkasten“ aufzeichneten. Hinter einem zweiten Durchsichtspiegel befand sich ein kleiner schrankartiger Raum, in dem Mrs. Gore allein Platz nahm. Das Mobiliar des „Guckkastens“ war so ausgewählt, daß sich Fingerabdrücke darauf abzeichneten – poliertes Holz, blankes Leder, Onyx-Aschenbecher. Alles war von Fachleuten gereinigt worden, und als Gullet hereinkam und sich am Schreibtisch niederließ, hätte er sein Leben gewettet, daß in dem ganzen Raum nicht ein einziger Fingerabdruck zu finden war. Er saß mit dem Rücken zu dem großen Spiegel, als Ronald Ridley hereingeführt wurde. Gullet ging um den 169
Schreibtisch herum, begrüßte den jungen Mann und dirigierte ihn zu dem Armlehnenstuhl, der dem Spiegel gegenüberstand. „Bin etwas unsicher, ob wir nicht Ihre Zeit verschwenden, aber sehen wir mal zu. Rauchen Sie?“ Er deutete auf eine glänzende Onyxzigarettendose und zog seine Pfeife hervor. „Einen Drink?“ Er öffnete die Tür des Mahagonischranks, in dem sich Flaschen und Gläser befanden. „Suchen Sie sich bitte aus, was Ihnen gefällt.“ Ronald trat an den Schrank. „Gin Tonic“, sagte er. Gullet goß, ohne das Glas zu berühren, Ronald einen Gin und sich selber einen großen Scotch ein. Schließlich war es kostenloser Whisky, vom Yard bezahlt. Er machte eine kleine einladende Geste, und Ronald ergriff sein Glas mit der linken Hand. Gullet ließ den Flaschenverschluß fallen und bückte sich, um ihn aufzuheben. „Nehmen Sie meins bitte mit rüber zum Tisch“, sagte er. Sie setzten sich. Ronald war offensichtlich bei einem guten Herrenausstatter gewesen. Von den Schuhen bis zum Kragen war er unauffällig, aber sehr teuer angezogen. Nach einigen einleitenden Floskeln kam Gullet zur Sache. „Sie fragen sich gewiß, warum ich Sie hierhergebeten habe, Mr. Ridley. Nun“, er machte ein etwas verlegenes Gesicht, „ich muß gestehen, daß wir im Fall Ihrer Entführung und des Mordes an Ihrem Vater völlig im dunkeln tappen.“ Ronald sah ihn verdutzt an. „Ich denke“, fuhr Gullet fort, „da wir offensichtlich an einem toten Punkt angelangt sind, wäre es vielleicht 170
nützlich, wenn Sie sich noch einmal alles durch den Kopf gehen lassen, sich an jede Einzelheit zu erinnern versuchen, an alles, was uns helfen könnte, den Burschen auf die Spur zu kommen.“ „Und weiter haben Sie nichts?“ „Nein, leider. Wir klammern uns an Strohhalme. Aber vielleicht können Sie, ohne es zu wissen, den entscheidenden fehlenden Hinweis liefern. Ich weiß, es klingt idiotisch, aber ich muß Sie bitten, noch einmal gründlich nachzudenken und alles aufzuschreiben, was Ihrer Meinung nach hilfreich sein könnte. Wollen Sie das tun?“ „Natürlich“, sagte Ronald achselzuckend. „Aber ich habe nicht viel Hoffnung.“ Mrs. Gore schüttelte den Kopf. „Nein. Dieser Mann hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit Mr. O’Toole.“ „Gar keine? Und die Stimme?“ „Ganz unähnlich. Mr. O’Toole spricht leise und ziemlich undeutlich. Auch der Klang ist anders, alles.“ Als Gullet Mrs. Gore hinausgeleitete, war, soweit das in ihren Kräften stand, der gute Name des Elgin Hotels gerettet. „Kurz und gut“, sagte Sir Malcolm, „Sie sind alle der Ansicht, daß der junge Ridley sich selber ‚entführte‘, um ein Alibi zu haben. In der Zeit, da er sich angeblich in den Händen der Kidnapper befand, brachte er seinen Vater um, obwohl es dafür nicht die Spur eines Beweises gibt.“ Die strahlend blauen, leicht hervorstehenden Augen des Commissioners wanderten zwischen den vier Männern, die vor seinem Schreibtisch saßen, hin und her. Sein Ton schien anzudeuten, daß er sie für Opfer einer Massenhypnose hielt, Anhänger irgendeiner mystischen Sekte. Da niemand etwas sagte, setzte Sir Malcolm hinzu: „Unglaublich.“ 171
Im Umgang mit Vorgesetzten hatte Chefinspektor Burns eine Grundregel: Niemals widersprechen. Widerspruch brachte nur die schlimmsten Seiten der Chefs zum Vorschein und bewirkte, daß sie sich mit um so größerer Hartnäckigkeit an ihre falschen Vorstellungen klammerten. Er warf Gullet, der offenbar zu einer Erklärung ansetzen wollte, einen beschwörenden Blick zu und sagte aalglatt: „Sehr richtig, Sir Malcolm, es ist tatsächlich unglaublich. Das war genau auch meine Reaktion. Ich denke, daß Gullet sehr kühn kombiniert hat. Bisher fehlt noch jeder Beweis, wie Sie mit Recht sagten, aber wenn die Hypothese stimmt, bin ich überzeugt, daß wir ihn finden.“ Sir Malcolm räusperte sich. Es kam ihm immer so vor, als drängte Burns ihn in die Rolle des Stiers, der den Matador verfehlt hatte. „Ich bin ganz sicher, daß Gullet sein Bestes getan hat“, sagte er. „Die Idee war fabelhaft“, fiel Inspektor Jenkinson ein. „Gullet meinte, es müßte in dem Hotelzimmer eine Stelle geben, wo ein schweres spitzes Messer in Holz getrieben worden ist, mehrere Zentimeter über der Tischplatte, und tatsächlich, wir fanden eine. Es besteht absolut kein Zweifel daran, daß die Kerbe von etwas wie der Spitze eines großen Schlächtermessers herrührt. Reine Deduktion.“ „Aber Sie haben kein Messer gefunden.“ „Nein, Sir Malcolm.“ „Und auch kein Blut.“ „Nein, Sir Malcolm.“ „Das Messer wird nach ein paar hundert Jahren irgendwo im Themseschlamm zum Vorschein kommen“, spottete Burns. „Und außerdem“, sagte Reid, der Leiter der Daktyloskopie, „bin ich ziemlich sicher, daß die beiden Finge172
rabdrücke am Fenster ebenfalls von Ridley herrühren. Lei…“ „Leider könnten Sie das vor Gericht nicht beschwören.“ „Die Abdrücke stimmen, aber die Papillarlinien reichen nicht aus, Sir Malcolm. Die Abdrücke stammen von einer Fingerspitze und einer Fingerseite.“ „Und dann ist da noch das Problem mit Finn“, warf Gullet ein. „Ah!“ sagte Sir Malcolm gereizt, verunsichert durch eine innere Stimme, die ihm sagte, er müsse führen, und das gelinge ihm nicht. „Was hat denn dieser Finn mit der Sache zu tun, abgesehen davon, daß die Pistole dieselbe war, mit der er Malloy erschossen hat?“ Verdrossen gab Gullet zu, daß er es nicht wisse. „Aber Finn taucht immer wieder auf. Zuerst gab’s ein Gerücht, daß er dem jungen Ridley einen Schnitt im Gesicht verpaßt hat. Jetzt zieht er mit der Freundin des alten Ridley herum. Und wie Sie schon sagten, da ist die Pistole. Ich meine, Sir Malcolm“, fuhr Gullet fort, „wir sollten jede Möglichkeit nutzen, Finn dingfest zu machen. Seit Jahren führt er die Polizei an der Nase herum. Er tut, was er will. Niemand ist bereit, gegen ihn auszusagen. So oder so ist er in diese Sache verwickelt, und vielleicht haben wir hier eine Chance, ihn zu fassen.“ Er hatte mit wütendem Nachdruck gesprochen, und aller Augen waren auf ihn gerichtet. Sir Malcolm hustete, unangenehm berührt von diesem Gefühlsausbruch eines höheren Beamten. „Sie sind also ganz sicher, daß der junge Ridley seinen Vater umgebracht hat.“ „Ja, Sir Malcolm.“ „Nun gut. Er ist ein junger Mensch. Laden Sie ihn vor, und sagen Sie ihm das auf den Kopf zu. Sonst treten wir noch wochenlang weiter auf der Stelle.“ Burns begann: „Ich finde, das ist ein guter …“, doch Gullet unterbrach ihn. 173
„Das zeigt ihm doch nur, wie wenig Beweise wir haben.“ Sir Malcolm warf sich in die Brust. „Er ist kein hartgesottener Berufsverbrecher. Schüchtern Sie ihn ein.“ Burns versuchte wieder das Wort zu ergreifen und die Wogen der Erregung zu glätten, doch Gullet fuhr ihm in die Parade. Starrköpfig beharrte er: „Einen Mann, der einen solchen Mord planen und ausführen konnte, fängt man nicht im Schlaf.“ Sir Malcolm schüttelte den Kopf. Burns seufzte. Gullet hatte wieder seinen Fuß in den Türspalt gestellt. „Es kann immerhin nichts schaden, wenn wir’s mal versuchen“, sagte Sir Malcolm im Ton einer endgültigen Entscheidung. „Das ist für heute alles.“ Gullet ließ Ronald Ridley absichtlich in dem Lehnstuhl vor seinem Schreibtisch schmoren und tat, als sei er in die vor ihm liegende Akte vertieft. An einem Seitentisch trug ein Polizeistenograph das Seine zu der durch Gullet personifizierten Unerbittlichkeit bei. Aus den Augenwinkeln konnte Gullet die Anzeichen der Angst bei dem jungen Ridley wahrnehmen: das Lippenlecken, die Art, wie er sich eine Zigarette ansteckte und sie zwischen den Fingern hielt, die deutlich verkrampfte Haltung. Gullet schob die Akte beiseite und blickte auf. „Woher“, sagte er ohne Vorrede, „haben Sie die siebenhundert Pfund genommen, mit denen Sie Ihre Spielschulden bei Finn bezahlten?“ Ronald reagierte so, wie es bei einem solchen Kreuzverhör natürlich war. „Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.“ „Aber gewiß doch. Sie schuldeten Finn siebenhundert Pfund, und er verpaßte Ihnen zur Warnung einen Schnitt ins Gesicht. Ich kann die Narbe noch sehen. Zu der Zeit etwa, als Sie Finn Ihre Schulden zurückzahlten, 174
verschwanden aus dem Safe im Büro Ihres Vaters tausend Pfund. Ich weiß, wo Sie den Nachschlüssel haben anfertigen lassen“, log Gullet. „Tut mir leid, ich komme da nicht mehr mit“, erklärte Ronald. Plötzlich fühlte er sich viel wohler. Leugnen, rundweg leugnen. Wie hatte der Anwalt in dem Roman gesagt, den er kürzlich gelesen hatte? „Wenn man dich fragt: ‚Hast du den Apfel gestohlen?‘, sag einfach: ‚Nein.‘ Sag nicht: ‚Ich mache mir nichts aus Äpfeln, ich war überhaupt nicht in der Nähe des Apfelbaums, und außerdem habe ich selber einen in meinem Garten.‘ “ „Sie wußten, daß man das Fehlen der tausend Pfund ein paar Wochen später bei der Bücherrevision entdecken würde“, sagte Gullet. „Also mußte etwas geschehen, nicht wahr?“ „Sagen Sie mir doch, worauf Sie hinauswollen.“ „Ich komme gleich darauf“, sagte Gullet und schob einen Gegenstand über die Tischplatte. „Wissen Sie, was das ist?“ Es war die automatische Llama. Ronald starrte darauf, und Gullet beobachtete sein Gesicht. „Es ist eine Pistole. Warum fragen Sie?“ „Es ist die Pistole, mit der Ihr Vater ermordet wurde.“ Der junge Mann sah ihn mit ausdruckslosem Gesicht an und erwiderte nichts. „Also?“ „Also was?“ „Wollen Sie mir weismachen, Sie hätten die Waffe noch nie vorher gesehen?“ „Wann sollte ich sie denn gesehen haben?“ „Ich stelle hier die Fragen.“ „Meine Antwort lautet: Nein. Ich habe sie nie vorher gesehen.“ „Bitte, nehmen Sie sie in die Hand.“ „Wozu?“ „Egal. Tun Sie’s.“ 175
„Ich erhebe Einspruch.“ Ronald drehte sich zu dem Stenographen um. „Bitte, notieren Sie, ich protestiere dagegen, daß man mich zwingen will, die Waffe anzufassen, mit der angeblich mein Vater erschossen wurde. Und ferner notieren Sie, daß dieser Polizeibeamte, Inspektor Gullet, mich meiner Ansicht nach aus irgendeinem Grund einzuschüchtern versucht.“ „Nehmen Sie sie in die Hand“, fuhr Gullet ihn an. Ronald gehorchte zögernd. „Ist sie geladen?“ fragte Gullet. Ronald richtete die Waffe auf den Fußboden und drückte auf den Abzug. Nichts geschah. „Offenbar nicht“, sagte er. „Vielleicht ist sie gesichert.“ „Ich kenne mich nicht aus mit Pistolen.“ „Aber mit der hier kannten Sie sich aus, als Sie Ihren Vater damit umbrachten.“ Ronald starrte ihn offenen Mundes an. „Wir wissen, daß Sie es waren, als Zeitungsverkäufer verkleidet.“ Ronald ließ die Llama zu Boden fallen, beugte sich herunter, hob sie wieder auf und legte sie auf den Schreibtisch. „Ridley, es hat keinen Zweck. Wir wissen, daß Sie es waren, und Sie können uns helfen. Nennen Sie uns Ihre Komplizen. Helfen Sie uns, Finn zu fassen, dann sind wir vielleicht imstande, Ihnen zu helfen.“ „Sie …“ Es dauerte einen Augenblick, bis Ronald seine Stimme wiederfand. „Sie sind meschugge. Total übergeschnappt. Sie wissen sehr gut, daß ich mich in den Händen irgendwelcher Gangster befand, als mein Vater erschossen wurde. Sie lesen wohl nicht mal die verdammten Zeitungen. Die Kerle haben das hier getan.“ Er hielt seine rechte Hand hoch und zeigte den verstümmelten Finger. Gullet sah nicht einmal hin. 176
„Wir sind der Ansicht, daß Sie es selber getan haben, und wir werden sehr bald beweisen können, daß Sie es im Elgin Hotel taten, wo Sie sich verkrochen hatten. Ihre Entführung ist ein Märchen.“ „Ich verstehe nicht, warum Sie mich hierherzitiert haben“, sagte Ronald. „Bin ich verhaftet?“ „Nein. Sie helfen der Polizei bei ihren Ermittlungen.“ Das Verhör dauerte noch eine Stunde. Schließlich erklärte Gullet, Mr. Ridley könne jetzt gehen. Er saß da, steckte sich seine Pfeife an und verwünschte Sir Malcolm. „Nichts“, sagte er zu dem Stenographen. „Absolut nichts.“ „Wenn Sie meine Meinung wissen wollen: Er war’s“, sagte der Stenograph. „Und jetzt ist er vorgewarnt“, seufzte Gullet. Ein oder zwei Abende in der Woche verbrachte Finn stets in einer „sicheren“ Kneipe bei Gin und leichtem Bier, Informationen sammelnd, für die er stets großzügig zahlte. Den Leuten aus der Gegend schmeichelte es, in demselben Lokal gesehen zu werden, in dem der erfolgreichste Londoner Gangster residierte. Wie in den Tagen von Charles Dickens war das Verbrechen im East End immer noch eine anständige und angesehene Lebensform. Die Fassadenkletterer stammten meist aus Hackney, in Stepney waren die Trickbetrüger und die Falschspieler zu Hause, die sich auf „Kümmelblättchen“ spezialisiert hatten, aber die Heimat der ganz schweren Jungs war Whitechapel. Finn stand ganz gewiß der bestorganisierten Gang vor, die das East End je hervorgebracht hatte, und nun war er sogar im Begriff, seine Tätigkeit auf das West End auszudehnen. An seinen Kneipenabenden schwatzte der Captain gern über frühere East-End-Gangster, die sein Vater und sein Großvater noch gekannt hatten. 177
„Mein Alter hat mal mit Jimmy Hartnell gekämpft“, erzählte er seinen Zuhörern. „Er hat eine Narbe quer über den Rippen, da, wo Jimmie ihn aufgeschlitzt hat. Jimmie war ein ganz harter Bursche. Eines Abends ging er in einen Fischladen und verlangte Fisch und Pommes frites zum Mitnehmen. Er weigerte sich zu bezahlen, und der Verkäufer weigerte sich, den Fisch und die Pommes frites über den Ladentisch zu reichen. In dem Fischgeschäft gab’s ’ne Katze, die nahm Jimmie und warf sie in das heiße Öl. Er war ein Teufel.“ Der Captain wartete, bis das Gelächter verebbt war, und bestellte dann eine neue Runde. „Die Jungs vom alten Schlag hatten eine Menge Mumm, aber nicht genug Grips im Hirnkasten“, sagte Finn und klopfte an seine Stirn. „Den einen Tag hundert Mücken, den anderen gar nichts, und immer auf der Flucht vor dem Gesetz. Ich hab die Sache anders angefaßt: Man muß es dem Gesetz unmöglich machen, einen anzurühren.“ Man mußte wissen, was vorging, und man mußte mehr wissen als die anderen: Ein Minister unterhielt ein homosexuelles Verhältnis mit einem Mitglied der Aristokratie; auf einem bestimmten Dampfer sollte zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Ladung Heroin eintreffen; ein schwerer Junge aus Stepney startete einen neuen Schwindel mit einer Scheinfirma; Kriminalinspektor Crabtree von der Abteilung für schwere Verbrechen steckte in finanziellen Schwierigkeiten, und es lohnte sich, ihm unter die Arme zu greifen; es war „Pussy“ Martin, der den großen Einbruch in Hartley Castle verübt hatte. Finns Blick glitt zu einem hageren Mann in einem enganliegenden Anzug, der an einem Ecktisch der kleinen Kneipe Gin trank. Jetzt erhob er sich und ging zur Toilette. Im Gehen fing er Finns Blick auf. Finn ließ einen Augenblick verstreichen und verkündete dann: „Ich geh mal für kleine Jungs.“ 178
Als er aufstand, fuhren seine beiden Leibwächter von ihren Plätzen hoch. Er schüttelte den Kopf, und sie setzten sich wieder. Es war eine uralte Toilette mit zerbrochenen Fliesen, in der es durchdringend nach altem Urin stank. Der hagere Mann, Tiddler Wheeler, einer der besten Londoner Safeknacker, lehnte an einem Münzautomaten, der Präservative enthielt, und wartete auf Finn. „Was ist los, Tiddler? Schwierigkeiten?“ „Nein. Der Job ist okay, aber ich brauch ein halbes Dutzend gute Leute und Azetylen. Es wird auch viel länger dauern, als wir dachten. Nein. Es ist was andres.“ Er starrte auf seine Fingernägel, als wisse er nicht, wie er anfangen solle. Schließlich fragte er: „Blarney ist doch noch bei der Firma, wie?“ Finn nickte. „Ist was?“ „Weiß nicht. Aber ich denke, du solltest es wissen, das ist alles. Ich guck mir also neulich diese Bude an, und auf der Rückfahrt komm ich durch das Dorf Woolpack, nicht weit von Bury St. Edmunds. Plötzlich seh ich Blarney aus einem Laden kommen, beladen mit Eßwaren und Schnaps. Er trägt das ganze Zeug zu seinem Wagen. Ich halte an und beuge den Deez nach unten, bis er in Richtung Südosten an mir vorbeigerauscht ist. Er kennt mich, deshalb bin ich ihm nicht nachgefahren. Kann sein, er hat dort ’n Unterrock. Aber ich dachte, du solltest es wissen.“ Wieder nickte Finn. „Wird ein Weib sein, nichts weiter, Tiddler. Aber vielen Dank für die Info. Und gib mir Bescheid, was du noch für den andern Job brauchst.“ Blarney? Lebte nicht seine Mutter irgendwo in Suffolk? Oder vielleicht war’s tatsächlich ein Unterrock. Melissa glaubte zu ersticken. Nie konnte sie ohne Begleitung ausgehen. Ihr Leben im Wallace Court bestand 179
auch weiterhin aus Schlafen, Radio, Fernsehen, Zeitschriften. Manchmal rief Jack an, um ihr mitzuteilen, daß Dodger, sein Fahrer, sie abholen werde. Gelegentlich kam er auch am Tage nach Wallace Court, begleitet von großen, muskulösen, selbstsicheren Männern, aber Melissa spielte bei diesen Zusammenkünften, die rein „geschäftlich“ waren, keine Rolle. In den Nachtklubs, wo sie eine Menge Zeit verbrachten, fühlte sie sich wie ein Fisch auf dem Trockenen. Jack weigerte sich ganz entschieden zu tanzen. Er fand, einen Mann, der tanzte, könne man nicht ernst nehmen. Und niemand wagte es, Finns Freundin aufzufordern; allenfalls versuchte es hin und wieder ein unbedarfter Sproß der Aristokratie, der dann schnell von Jacks Leibgarde abgedrängt wurde und dem man in aller Ruhe mitteilte, daß er sich nicht ‚comme il faut‘ verhalten habe. Nach solchen Nachtklubeskapaden war Finn oft betrunken. Manchmal hielt er im Fond des Wagens ihre Hand, aber er ging nie weiter. Zu Hause genehmigte er sich noch einen Drink, strich ihr übers Haar und sagte ihr gute Nacht. Sein Schlafzimmer bekam sie nie zu sehen. Mrs. Deas, die darin saubermachte, hielt die Tür verschlossen. Obwohl die Haushälterin so etwas wie eine entfernte Verwandte war, fürchtete sie sich ebensosehr vor Finn wie alle anderen. Aber einmal, als sie sich freigebig mit Kognak und Portwein, ihrem Lieblingsgetränk, bedient hatte, starrte sie träumerisch Melissa an und schien nicht genau darauf zu achten, was sie sprach. „Kastanienrot. Klar, es war ’ne Rothaarige, die das getan hat.“ „Die was getan hat?“ Melissas Frage riß Mrs. Deas aus ihrem Tagtraum. Die Säcke unter ihren wäßrigen Augen waren dicker denn je. 180
„Was?“ fragte sie. „Was hat die Rothaarige getan?“ Mrs. Deas schwieg verwirrt. „Sie sagten, eine Rothaarige hat das getan. Was getan?“ „Ich habe nichts dergleichen gesagt. Vergiß es.“ „Wie Sie wollen. Dann frag ich eben Jack.“ Plötzlich war Mrs. Deas fürchterlich nüchtern. „Das wage mal! Ein Wort zu Jack, und ich schlitz dir die Visage auf!“ Sie nahm ihr Glas, schmetterte es gegen die Tischkante und hielt den Glasboden fest. Gezackte Ränder bedrohten Melissas Gesicht. Das Mädchen wich entsetzt zurück. Die Frau war außer sich, wirkte halb wahnsinnig. „Glaub ja nicht, ich wär dazu nicht imstande. Du wärst nicht die erste“, zischte sie. „Ein einziges Wort, und …“ „Ich verrate nichts. Ich verspreche es.“ Binnen einer Sekunde war Mrs. Deas wieder ganz friedlich. Sie goß sich einen neuen Drink ein. „Mel“, sagte sie schmeichelnd, „wir werden uns doch nicht wegen dieses Kerls in die Haare kriegen! Männer!“ Rothaarige also, überlegte Melissa. Was war es? Eins stand fest: Ihr erster Eindruck von Jack Finns verborgener sexueller Glut hatte sich nicht bestätigt. Was steckte dahinter? Es war keineswegs absurd, daß sie sich in London mit seinen wimmelnden Menschenmassen fürchtete, kurzerhand das Haus zu verlassen und wieder ihre Wohnung in den Mews zu beziehen. Finn würde sie auffordern, zu ihm zurückzukehren. Und wenn sie sich weigerte? Ganz gewiß würde er es sich nicht bieten lassen, daß sie ihn sitzenließ. Für Homosexualität hatte sie bislang nicht die mindesten Anzeichen gefunden; er stand im Ruf, in der anderen Richtung recht aktiv zu sein, aber diese Leute hatten eben keine Ahnung, daß sein Geschlechtsleben gleich Null war. Eines Tages, als Mrs. Deas beinahe in Alkohol schwamm, 181
versuchte Melissa sehr behutsam, das Gespräch wieder auf das bewußte Thema zu bringen. Mrs. Deas’ Reaktion: „Mel, ich sage dir, laß die Sache ruhn. Reize ihn nicht.“ Dieser Satz bestärkte sie in ihren dunklen Ängsten. Finn war ein gewalttätiger Mann, einer, hinter dessen Späßen sich eine Grausamkeit verbarg, die ihn für andere gewalttätige Männer furchterregend machte. Irgendwo verbarg sich ein Geheimnis, und Mrs. Deas kannte es. Sie, Melissa, war nur eine in einer Reihe namenloser Vorgängerinnen, Frauen mit rotem Haar. Eine davon hatte „es“ Jack angetan, und sie, Melissa, sollte das unbekannte und unnennbare Schicksal dieser Frauen teilen. Eines Abends, nachdem sie sich die Wiederholung des Films „Rillington Place 10“ im Fernsehen angesehen hatte, saß sie in kaltem Schweiß gebadet da und vermochte sich ein paar Minuten lang nicht aus dem Sessel zu erheben. Christie! Christie hatte einen ganz normalen, sogar einen äußerst respektablen Eindruck gemacht. Und dabei waren, als er gefaßt wurde, mindestens acht Frauen von ihm umgebracht worden. Er hatte sie alle beim Liebesakt erwürgt, sie in allen möglichen Winkeln seines Anwesens vergraben, weil ein Erlebnis in früher Jugend ihn zum Leichenschänder gemacht hatte. Melissa war im Bad, als das Telefon klingelte und Mrs. Deas an die Tür klopfte. „Mel, Schätzchen, das war Jack. Er muß für ein paar Tage verreisen, deshalb fällt die Party heute abend aus.“ Eine Gnadenfrist. – Sie hatte Angst davor, ihn auch nur zu sehen. Einer plötzlichen Eingebung gehorchend, nahm sie den Hörer ab und wählte die Nummer des „Pevensey Arms“, die Ronald auf ihrem Tonband hinterlassen hatte. 182
Das Mädchen in der Rezeption sagte: „Ja. Pevensey Arms. Mr. Ronald Ridley ist nicht da. Ja, er wohnt noch hier. Kann ich ihm etwas ausrichten?“ „Nein, danke.“ Wenigstens gab es jemand, den sie anrufen konnte, wenn es notwendig wurde. Bevor sie den Hörer auflegte, hörte sie ein schwaches Knacken in der Leitung. Als Blarney im hinteren Teil der Plaza durch den Vorhang trat, merkte er, daß etwas nicht in Ordnung war. Daß der Captain ihn zu sich befohlen hatte, war keineswegs ungewöhnlich, aber zwei von Finns Schlägern standen da, einer auf jeder Seite. Das hatte Blarney nicht erwartet. Der eine tastete ihn mit geübten Händen ab. „Nichts.“ Der andere nickte. Finn saß an seinem Schreibtisch, den Blick auf die Tür gerichtet. Er hatte sich die Nachricht, die ihm Tiddler gebracht hatte, durch den Kopf gehen lassen. Blarney war nicht der Typ, der für seine Mamma einkaufte. Allenfalls schickte er ihr ab und an ein paar Pfund. Und wenn es sich um eine Geliebte handelte, würde die selber einkaufen. Etwas stimmte da nicht. Blarney hatte ein Geheimnis, und das war gefährlich. Finn dachte nicht daran, andere ins Vertrauen zu ziehen, also mußte er sich selber um die Sache kümmern. „Irgendwas nicht in Ordnung, Captain?“ fragte Blarney. „Bin gefilzt worden. Nicht ganz die Regel, wie?“ Finn antwortete nicht. Seine Augen waren ausdruckslos, kalt und feindselig. Er sah auf die Tür. „Kommt rein, Jungs“, sagte er. Die Leibwächter, beide ebenso muskulös wie Blarney, traten ein. Sie brachten ein Seil mit, und jeder hielt einen Gummischlauch in der Hand. 183
Finn nickte ihnen zu. „Jesus, Captain“, sagte Blarney nervös. „Was soll das alles? Ich hab doch nichts getan.“ „Halt die Fresse“, sagte einer der beiden Männer. „Los, setz dich hierher.“ Sie banden ihn auf einem Stuhl fest und zogen das Seil so fest, daß Blarney vor Schmerz stöhnte. Finn sagte: „Gebt ihm zwei auf die Beine, nur so als Kostprobe, und dann fangen wir an.“ Er zog sein Lieblingsklappmesser hervor, das er immer selbst abzog, und ließ es, eine glitzernde Lichtscheibe, auf der Schreibtischplatte herumwirbeln. Der eine Leibwächter hielt Blarney von hinten Nase und Mund zu. Der andere schlug ihm mit aller Kraft auf einen Schenkel. Blarneys Körper wurde steif, und er stieß einen gurgelnden Laut aus, aber er konnte nicht schreien. Dann sauste mit einem Knall wie ein Gewehrschuß der Gummischlauch auf den anderen Schenkel nieder. Der Leibwächter hielt ihn noch einen Augenblick fest und ließ ihn dann los, damit er atmen konnte. Blarney rang keuchend nach Luft, wand sich in den Seilschlingen, starrte auf den Schlauch. „Das reicht im Augenblick“, sagte Finn. „So. Und jetzt möchte ich gern hören, warum du in Bury St. Edmunds alle diese netten Büchsen und Flaschen gekauft hast.“ Betäubt durch den Schmerz, zeigte Blarney seine Überraschung über diese Enthüllung ein bißchen zu lange, bevor er erwiderte: „Ich hab ein paar Sachen für meine alte Mamma besorgt.“ Finn nickte. Wieder hielt der eine Leibwächter Blarney fest, und zwei weitere Schläge klatschten auf seine Oberschenkel. „Wir können auch auf andere Teile schlagen“, sagte Finn. „Ich scherze nicht, Blarney. Für Mamma besorgt, wie? Aber sie sagt ganz was anderes.“ 184
„Du warst da …?“ „Wir haben ihr ein bißchen Angst gemacht, weiter nichts, und sie hat uns alles erzählt. Von dem Wohnwagen im Wald. Und stell dir vor, wen finden wir da? Den Freund, nach dem ich suche, Tote Hoskins. Er hat mich aber nicht gesehn.“ Eine lange Pause des Schweigens. Langsam ebbte der schlimmste Schmerz in Blarneys Schenkeln ab, und an seine Stelle trat die Angst vor den möglichen Folgen von Totes Entdeckung. „Und wo ist Tote jetzt?“ fragte er. „Immer noch in deinem Wohnwagen. Wartet auf deine nächste Lieferung. Ist sicher entzückt, wenn sein alter Captain Jack Finn zusammen mit dir aufkreuzt.“ Blarney war starr vor Entsetzen. Finn wußte noch nicht mal, daß Tote ihm die Llama Automatic mit der Anweisung übergeben hatte, sie verschwinden zu lassen. Er wußte bislang nur, daß er Tote geholfen hatte unterzutauchen. Er stöhnte. Finn grinste. „Ich freu mich schon darauf. Wenn ich mit Tote abgerechnet habe, wird sein Name sprichwörtlich für das sein, was mit Leuten passiert, die mich zu täuschen versuchen.“ „Du wirst ihn doch nicht kaltmachen, Captain?“ „Aber ja doch. Zentimeter für Zentimeter.“ Wieder ließ er sein Klappmesser auf der Schreibtischplatte kreiseln. „Neulich hab ich gelesen, wie man zwei von diesen amerikanischen Gewerkschaftsbossen erledigt hat. Man hat sie an langen Fleischerhaken unter den Achselhöhlen aufgehängt, mit Gewichten an den Füßen. Dann hat man ihnen die Arme und Beine mit Eispickeln aufgehackt. Danach wurden sie mit Lötlampen behandelt – am ganzen Körper. Und als sie dann immer noch nicht krepiert waren, hat man sie aufgeschlitzt, so daß ihre Eingeweide herausfielen.“ 185
Blarney hörte sich mit heiserer Stimme fragen: „Und was wird mit mir, Captain?“ „Das kommt drauf an. Ich laß mir das durch den Kopf gehn. Aber eins versprech ich dir: Wenn du uns hilfst, Tote zu fangen, ohne daß er uns Scherereien macht, reist du auf angenehmere Art ins Jenseits als er.“ Auf der Fahrt nach Suffolk hockte Blarney stumm zwischen den beiden Schlägern im Fond. Dodger chauffierte, Finn saß neben ihm. Es bestand immer noch die schwache Hoffnung, überlegte Blarney, daß seine alte Mamma Tote einen Wink gegeben und Tote sich verflüchtigt hatte. Aber das würde ihm, Blarney, auch nicht helfen, und überdies steckte dann seine Mamma in der Sache mit drin. Wenn sie Tote fingen, würde der selbstverständlich ausplappern, daß er Blarney die Llama gegeben hatte. Sie hielten an, bevor die Kneipen schlossen, und ließen Blarney, mit Handschellen an einen der Schläger gefesselt, im Auto zurück, während sie loszogen und sich ein paar Glas Bier genehmigten. „Wir haben euch jedem auch ’ne Büchse Bier und ’ne Schweinefleischpastete mitgebracht“, sagte Finn, als sie zurückkamen. „Bevor man einen hängt, spendiert man ihm eine Henkersmahlzeit.“ Er griente Blarney an. „Iß die Pastete mit Genuß. Es ist deine letzte, es sei denn, es gibt welche im Paradies.“ Durch eine Lücke in einer Steinmauer fuhren sie in den Wald hinein. Sie schalteten die Scheinwerfer aus. Finn ging voran, blieb dann stehen und flüsterte: „Jetzt du vor, Blarney. Keine Tricks, sonst passiert dir dasselbe wie Tote.“ Blarney an der Spitze, schlichen sie weiter. Ein Zweig zerbrach unter einem Fuß, und Blarney rief mit erstickter Stimme: „Alles okay, Tote. Ich war’s.“ Ein Lichtstrahl erhellte das Dunkel, als Tote die Tür 186
des Wohnwagens öffnete, und sofort stürzten sich Dodger und einer der Schläger von der Seite auf ihn und packten ihn. Er sah, wie Finn ihn freundlich anlächelte, und leistete keinen Widerstand. „Ich hab Blarney dies verdammte Schießeisen in gutem Glauben gegeben. Ich hatte was vor für die Nacht, hatte ein Weib aufgegabelt, und – na, wo ist da das Risiko, wenn ich das Ding einem andern Mitglied der Firma gebe, damit er’s verschwinden läßt? Ist die Firma nicht dafür da?“ Die sechs großen, massigen Männer drängten sich in dem Wohnwagen. Tote und Blarney waren Rücken an Rücken mit Handschellen aneinandergefesselt. Finn schleuderte sein Messer so, daß es sich auf der Stelle, wo er hingespuckt hatte, mit der Spitze in den Boden bohrte. „Ich werd euch sagen, wofür die Firma da ist – für uns alle nämlich. Sie gibt ein paar zu kurz gekommenen, getretenen Hunden eine Chance, wie die Reichen zu leben, die vom Gesetz beschützt werden. Auf der anderen Seite steht eine ganze Armee mit der gesamten Polente. Wie kommt’s, daß so wenige von der Firma je geschnappt werden? Wie kommt’s, daß sie, wenn man sie schnappt, im Knast wie die Lords leben und ein volles Portemonnaie haben, wenn sie rauskommen? – Organisation, das ist es. Organisation. Die Firma ist die beste Organisation – besser als die Bullen. Was würde denn passieren, wenn jeder Knallkopf in der Firma für sich entscheiden könnte, was das Beste ist? Ich sage euch jetzt eins: Alle Bullen in England, Schottland und Wales sind auf der Suche nach der Kanone, und da glaubt ihr beide, ihr könnt herumspielen wie Telefonzellenmarder und uns alle in Gefahr bringen! Dafür kriegt ihr eure gerechte Strafe – als warnendes Beispiel für die übrigen.“ 187
Finn genoß die Situation. Es war seine Lieblingsrolle – der allmächtige strafende Gott. Er kannte den Geruch und Geschmack der Todesangst, die trockenen Lippen, über die die Zunge fuhr, die schweißnasse Stirn, das verzerrte, gezwungene Grinsen, wenn er einen Witz machte. „Nein“, schloß er, „ihr beide müßt dran glauben. Ich hab Blarney versprochen, er soll’s leicht haben, und das Versprechen halte ich, obwohl ich da noch nicht wußte, daß er die Kanone hatte.“ „Captain, das kann doch nicht dein Ernst sein! Zwei deiner besten …“, begann Tote. Blarney fiel ihm ins Wort. „Jack, ich hab dir erzählt, ich hätte die Kanone an einen Typ in Soho verscheuert, nicht wahr?“ „Und das war wahrscheinlich auch gelogen.“ „Ja. Ich hab sie im ‚Veronica‘ an jemand verkauft.“ Finn schwieg einen Augenblick, bevor er antwortete. „Willst du damit sagen, daß du den Typ kennst?“ „Jawohl. Ich kenne ihn.“ „Und du kannst ihn wiederfinden?“ „Jawohl.“ „Los, spuck’s aus. Wer war’s?“ Blarney atmete auf. Vielleicht war es doch nicht seine letzte Schweinefleischpastete gewesen. „Tu mir einen Gefallen, Jack. Ich hab nicht dein Superhirn, aber ich bin auch nicht von gestern. Eine Hand wäscht die andere. Wisch die Sache vom Tisch, und ich sag dir, wer die Llama gekauft hat.“ Finn zuckte die Achseln. „Die Katze im Sack. Wie kann ich wissen, ob deine Information auch nur einen Fliegenschiß wert ist?“ „Der Typ – oder jemand anders – hat immerhin mit der Kanone Ridley umgelegt.“ „Und diese nette kleine Info hast du für dich behalten. Sehr hübsch. Wolltest du die Firma übernehmen?“ 188
Finns schnelles Hirn war damit beschäftigt, die Schlußfolgerungen aus Blarneys Mitteilung zu ziehen. „Denk doch nicht so was, Jack“, sagte Blarney. „Die Firma übernehmen! Lächerlich. Ich hätt’s dir gesagt, aber ich konnt’s doch nicht, denn dann hätt ich zugeben müssen, daß Tote die Kanone gar nicht verloren hatte, sondern daß sie in Wahrheit bei mir gewesen ist.“ „Die ganze verdammte Sache stinkt“, sagte Finn. „Stimmt, aber das war nicht Totes Schuld. Und für die Firma wär’s vielleicht nicht von Schaden, wenn du erfährst, wer das Ding gekauft hat.“ „Ich warte.“ „Alles vergeben und vergessen?“ Finn nickte. „Das gilt auch für ihn?“ Blarney machte eine Kopfbewegung zu Tote hin. Nach einem Augenblick des Zögerns nickte Finn wieder. „Nehmt ihr mir die Juwelen ab?“ Sie befreiten ihn von den Handschellen. „Trinken wir eins darauf?“ Die Ginflasche kreiste. „Es war der junge Ridley. Ronald Ridley. Natürlich wußte ich das nicht, als ich die Kanone an ihn verscherbelt hab. Aber dann sah ich seine Visage in der Zeitung.“ „Der junge Ridley.“ Finns Worte kamen langsam, fast flüsternd. „Der junge Ridley. Jesus. Laßt mich nachdenken.“ Wieder machte die Ginflasche die Runde. „Erzähl mir alles“, sagte Finn. „Noch eine einzige Lüge, und du bist dran.“ „Also gut. Bevor du Malloy umgelegt hast, gabst du Tote Ersatzmagazine und Munition für die Llama mit dem Auftrag, alles gleich verschwinden zu lassen; Du nahmst nur die Pistole mit einem Magazin darin, und die hast du in den Abfallbehälter geworfen.“ 189
Finn nickte. „Ich seh jetzt ein, wie blöd ich war, aber mir tat’s einfach leid, die prima Kanone über den Jordan gehn zu lassen. Ich hab sie eingewickelt und unter einer losen Steinplatte auf dem Hof neben mir versteckt. Da wohnt nur eine alte Frau, das Versteck ist todsicher. Eines Abends schicktest du mich mit einem Brief ins ‚Veronica‘, und da war dieser junge Kerl, der mich immer scharf im Auge hatte. Ich glaube, er merkte gleich, daß ich nicht zu den biederen Bürgern gehöre. Wir tranken was zusammen, und dann spuckte er’s aus: Ob ich nicht wüßte, wo er eine Kanone kaufen kann. Ich sagte: Für einen Hunderter kriegst du die beste, die für Geld zu haben ist. Aber sie ist heiß. Ich erklärte ihm, was heiß bedeutet, und wir verabredeten uns an der alten Eisenbahnbrücke bei Vallance Road. Die hundert Mäuse sollte er in gebrauchten Scheinen mitbringen. Ich ging mit ihm in eine der alten Werkhallen und ließ ihn ein bißchen üben, immer dann, wenn gerade ein Zug über uns wegdonnerte. Er lernte, wie man das Magazin einsetzt, wie man entsichert – eben alles, was man wissen muß.“ Finn sagte: „Da waren doch noch zwei extra Magazine und eine Schachtel mit Patronen. Hast du ihm die auch gegeben?“ „Nur das eine Magazin und zehn Reservepatronen.“ „Wann hast du ihm die Kanone verkauft?“ „Am Siebenundzwanzigsten.“ „Woher weißt du das so genau?“ „Weil der Typ zwei Tage später gekidnappt wurde. Ich hab sein Foto in der Zeitung gesehn.“ Mrs. Deas machte beim Atmen ein Geräusch wie eine altmodische Kaffeemaschine. Ihr Kinn lag unter ihrer Schulter, und der Speichel, der ihr in einem dünnen Strahl aus dem Mund rann, sammelte sich auf dem Seidenkissen. 190
Vor mehr als einer Stunde hatte sie gesagt: „Komm, Mel, wenn die Katze weg ist, tanzen die Mäuse. Wir können ’s uns gemütlich machen und in aller Ruhe was zur Brust nehmen.“ In ihrem Fall bedeutete das Remy Martin, gemischt mit altem Cockburn-Portwein. Sie trank es aus einem Whiskyglas mit geradem Boden. Melissa mischte sich ein sehr großes Glas Gin Tonic, in dem fast kein Gin war. Sie wartete auf ihre Chance. Und während sie sich den Drink eingoß, ließ sie zwei Schlaftabletten in ein frisches Whiskyglas fallen und füllte es zur Hälfte mit Remy Martin, damit sie Zeit hatten, sich aufzulösen. „Cheers“, sagte sie und kam zum Tisch zurück, wo Mrs. Deas die ziemlich langweilige Geschichte ihrer Jugend weitererzählte. Als Mrs. Deas zum Grund ihres Glases gelangte, war auch Melissa mit ihrem Gin Tonic fertig. Sie ging mit beiden Gläsern zum Schrank, um sie neu zu füllen. Inzwischen hatten sich die Schlaftabletten bis auf einen bröseligen Rest in dem Kognak aufgelöst. Melissa goß ihn in Mrs. Deas Glas ab und füllte es mit Portwein auf. Sie selber nahm sich nur Tonic und ließ den Gin völlig weg. Nach zwei weiteren Gläsern ihres Lieblingsgetränks schnarchte Mrs. Deas. Sie wachte auch nicht auf, als Melissa sie schüttelte und dann die Schlüssel aus der Tasche ihrer Strickjacke zog. Die dicken Teppiche hätten selbst das Knallen eisenbeschlagener Stiefel unhörbar gemacht, dennoch schlüpfte Melissa aus ihren Schuhen und schlich auf Zehenspitzen den matt erleuchteten Korridor entlang, an ihrem eigenen Zimmer vorbei, zu Finns Schlafzimmer. Die Tür hatte ein Zylindersicherheitsschloß, und es gab nur einen Schlüssel dieser Art. Sie steckte ihn in den Schlitz und drehte ihn um. 191
Ein lautes Krachen vom Wohnzimmer her ließ ihr Herz wie rasend schlagen. Sie ließ den Schlüssel stecken und rannte zurück. Es war Mrs. Deas. Sie war von der Couch gerutscht und hatte dabei einen Beisatztisch umgestoßen, aber sie schlief noch immer fest. Finns Zimmer löste einen Schock bei Melissa aus. Es war so spartanisch eingerichtet, wie die übrige Wohnung luxuriös war. Spartanisch war nicht das richtige Wort. Es war ein Anachronismus: ein East-End-Schlafzimmer vor den Tagen der Daunendecken und der gemusterten Tapeten. Finn schlief in einem Eisenbett mit hohen Seitenteilen, die mit Messingknöpfen verziert waren – jene Art Bett, die bei Schrotthändlern „Wanzenburg“ hieß. Daneben stand eine bemalte und geschweifte Kommode. An der Wand hing in einem schweren furnierten Holzrahmen ein Stahlstich der Königin Victoria. Die einzige Brücke, die auf dem Parkettboden lag, war aus Flicken zusammengesetzt, offenbar ein Erinnerungsstück. Eine ganze Wand des Zimmers bestand aus einem tiefen eingebauten Schrank, in dem Anzüge hingen und Hemden, noch in ihren Originalverpackungen, übereinander gestapelt lagen. Auch diese Wand bedeckte, wie die drei übrigen Wände, eine billige ungemusterte Tapete. Die zwei oberen Schubläden der Kommode waren mit Unterwäsche, Socken und Taschentüchern gefüllt. Die unterste Schublade war zugeschlossen, und keiner von Mrs. Deas’ Schlüsseln paßte. Melissa lief in ihr Zimmer und holte die Schlüssel zu ihrer Wohnung in den Mews. Ein einfacher Schrankschlüssel ließ sich im Schloß herumdrehen und öffnete die Schublade. Mit angehaltenem Atem zog sie sie heraus. Dabei fiel ein Streichholzspan auf den Fußboden. Eine Falle. Etwas zur Kontrolle. Sie hob ihn auf und legte ihn oben auf 192
die Kommode. Sie durfte nicht vergessen, ihn wieder hineinzulegen. Methodisch begann Melissa die Papiere und Bücher durchzusehen, die die unterste Schublade zur Hälfte füllten. Es war eine pornographische Sammlung von äußerster Perversität, sadomasochistisch und in jeder Weise abnormal. Zuunterst lag ein großes, kostbar illustriertes Buch: „Die Schlafzimmerphilosophen“ des Marquis de Sade. Sie fand die Illustrationen, deren Anblick sie schaudern ließ, weniger abstoßend als die Fotografien lebender Modelle. So war das also. Sie fühlte, daß sie auf Finns Geheimnis gestoßen war. Er mußte impotent sein und tröstete sich nun auf diese ekelhafte Art. Fast konnte er einem leid tun. Deshalb ließ er sich so gerne mit Mädchen sehen, obwohl am Ende gar nichts passierte. Das erklärte vielleicht auch, weshalb für ihn Macht eine so große Bedeutung hatte. Melissa war im Begriff, alles wieder an seinen Platz zu legen, da merkte sie, daß die nächste Schicht sich anders anfühlte: es waren Umschläge mit irgendeinem Inhalt. Im ersten Umschlag fand sie das Farbfoto eines Mädchens mit herrlichem kastanienrotem Haar, aufgenommen von einem nicht besonders talentierten Berufsfotografen. Die anderen Aufnahmen in dem Umschlag, ebenfalls in Farbe, stellten dieselbe Rothaarige dar, aber offensichtlich waren sie mit einer Polaroidkamera gemacht. Sie zeigten das Mädchen in intimen, ungekünstelten Haltungen: auf der Toilette, in der Badewanne, vor der Badewanne, bei Verrichtungen, die eine Frau dann vornimmt, wenn sie sicher sein kann, nicht beobachtet zu werden. Das Badezimmer, in dem die Fotos gemacht worden waren, kam Melissa bekannt vor. Es war das Badezimmer neben ihrem Schlafzimmer. Der zweite Umschlag enthielt ähnliche Aufnahmen, 193
die andere Frauen zeigten. Auch sie waren ganz offensichtlich ohne ihr Wissen fotografiert worden. Aber wie? In einem dritten Umschlag entdeckte Melissa Fotos von sich selbst. Sie hatte nicht bemerkt, daß sie geknipst worden war. Sie errötete. Sie nahm eins der Fotos, lief in ihr Zimmer und durch die Verbindungstür ins Badezimmer. Es gab nur eine Stelle, von der aus man die Fotos gemacht haben konnte: den Spiegel, der an der Wand befestigt war, ohne daß man sehen konnte, wie. Sie eilte zurück in Finns Zimmer und in sein Badezimmer, das neben ihrem lag. Dort hing, in etwa der gleichen Höhe angebracht, genau der gleiche Spiegel. Sie tastete rings um ihn die Wand ab, nach einem Hebel suchend, und plötzlich gab es ein kleines Geräusch, der Spiegel öffnete sich nach innen, und sie blickte durch eine durchsichtige Scheibe in ihr Badezimmer. Das Herz schlug ihr bis zum Halse. Sie war außer sich vor Angst, Mrs. Deas könnte wach werden, aber die Alte lag noch immer laut schnarchend im Wohnzimmer. Melissa lief zurück. Da war noch ein größerer Umschlag. Das erste Foto, das sie herauszog, zeigte einen Mann, nackt bis zur Taille, an der Wand eines garagenähnlichen Raumes aufgehängt. Sein Rücken war ein Gewirr blutiger Striemen, und auf dem Boden lagen geknotete Taue. Das war, was Melissa nicht wissen konnte, Finns Erinnerungsstück an die Zeit, als er Alf Hopkins mit einer echten, nach den Vorschriften der Marine angefertigten neunschwänzigen Katze ausgepeitscht hatte. Der nächste Umschlag enthielt Farbfotos rothaariger Frauen, die von einem Mann in enganliegendem glänzendem schwarzem Lederdreß geschlagen wurden. Er trug eine Maske vor dem Gesicht, wie Henker in den Tagen von Beil und Block, aber Melissa zweifelte nicht daran, daß es Finn war. 194
Wieder lief sie zurück ins Wohnzimmer. Mrs. Deas hatte sich nicht gerührt, doch sie hatte sich auf dem Teppich erbrochen. Sie sah nicht so aus, als sei sie imstande, Schwierigkeiten zu machen. Es waren noch zwei Umschläge übrig, deren Inhalt Melissa nicht kannte. Im ersten fand sie einen Zeitungsausschnitt mit der Überschrift: Freispruch aus Mangel an Beweisen. Die Notiz lautete: Mr. Jack Finn, ohne Beruf, finanziell unabhängig, wurde gestern vom Polizeigericht von Stratford aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Er war beschuldigt, Miss Lucy Elliot, 25, Fotomodell, wohnhaft Carlton Street, W. C. 2, tätlich angegriffen und ihr körperlichen Schaden zugefügt zu haben. Miss Elliot schüttelte ihr kastanienrotes Haupt, als der Vorsitzende des Gerichts sie bat, ihre Aussage zu wiederholen. Sie sagte, es liege eine Verwechslung vor, sie habe Mr. Finn nie zuvor gesehen. Aber das dem Zeitungsausschnitt beigefügte Bild stellte zweifellos eine der Frauen dar, die auf den Fotos von dem maskierten Finn ausgepeitscht wurden. Hin und her gerissen zwischen der Angst vor Entdeckung und der Begierde, mehr zu wissen, öffnete Melissa den letzten Umschlag. Er sah aus, als habe man ihn oft in der Hand gehabt, und auch der Brief darinnen war an den Faltstellen brüchig. Es war eine Fotokopie ohne Adresse oder Namen, ein mit der Maschine geschriebener Text. Als ich mich bereit erklärte, auf Ihre Jacht zu kommen, um dort mit Ihrem Freund zusammenzutreffen, geschah das einzig unter der Voraussetzung, daß meine Identität geheim bleibt. Bitte, vergessen Sie das nicht. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Ich erkannte ihn natürlich, obwohl er sich offenbar nicht darüber im klaren war, wer ich war. Offen gesagt, ich wünschte, 195
ich wäre nicht gekommen. Aber Sie können ganz beruhigt sein: Ich für mein Teil werde den Fall behandeln, als sei er nie geschehen. Medizinisch gesprochen, war es besser, daß Ihr Freund nicht den Verdacht hatte, man unterziehe ihn einer psychiatrischen Untersuchung. Seine Überzeugung, seine Impotenz sei darauf zurückzuführen, daß er sich bei einer rothaarigen Prostituierten eine venerische Krankheit zugezogen hat, ist höchstwahrscheinlich unrichtig. Er wird das jedoch nie glauben. Die Gründe für seine Impotenz könnten aber vermutlich nur durch eine eingehende und kooperative Analyse aufgedeckt werden. Sie sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht physischer Natur. Auf den ersten Blick wirkt er völlig normal – das heißt, normal für einen Kriminellen aus dem East End. In Wahrheit aber ist seine psychische Verfassung katastrophal. Wir haben es hier mit einem klaren Fall von fortgeschrittener paranoider Schizophrenie zu tun, und das bei einem kräftigen Mann, der jeden Augenblick zum Mörder werden kann. Seine Gewalttaten schließen ja bekanntlich Mord ein. Er ist eine Gefahr für jeden, der seinen Weg kreuzt, auch für diejenigen, denen er vertraut, wie Ihnen. Die Menschen, die ihn umgeben, sind nur dadurch zu schützen, daß er sich einer ärztlichen Behandlung unterzieht; aber er würde jeden solchen Vorschlag als ein Komplott betrachten, das auf seine Vernichtung abzielt. Der andere Punkt, den Sie anschneiden: Alle diese Mädchen, mit denen er herumzieht, sollen der Welt nur beweisen, daß er nicht impotent ist. Sie sind ständig gefährdet. Zu irgendeinem Zeitpunkt überkommt ihn nämlich das Verlangen, sie für das Böse zu „bestrafen“, das ihm, wie er sich einbildet, solche Frauen angetan haben. Bei der Durchsicht der Presseausschnitte entdeckte ich, daß zumindest ein solcher Fall sich bereits 196
ereignet hat. Die Frau hat ihre Aussage zurückgezogen. Sehr vernünftig von ihr, solange er auf freiem Fuße ist. Ihr … Die Unterschrift fehlte. Melissa hockte sich vor der offenen Schublade nieder und starrte fassungslos auf das Durcheinander von Umschlägen und Fotos, das sie umgab. Sie mußte fort, und das so schnell wie möglich. Sie lief in ihr Zimmer, dann zurück; blickte auf das Chaos. Es blieb keine Zeit mehr, alles wieder zu ordnen. Also würde Mrs. Deas dafür büßen müssen. Aber warum nicht? Sie hatte bei der Opferung all dieser Mädchen mitgeholfen – hatte mit ihrer „lieben Mel“ getrunken und dabei ganz genau gewußt, was früher oder später geschehen würde. Sie schloß Finns Zimmertür ab und steckte das Schlüsselbund wieder in die Tasche von Mrs. Deas’ Strickjacke. In der Eingangshalle fand sie Irish-Jack, der in einer Zeitung die Seiten studierte, die Pferde- und Hunderennen vorbehalten waren. „Ich muß in die Stadt, Jack. Zu Liberty.“ „Gleich?“ „Ja, bitte. Sie haben ein Kleid für mich geändert, und ich brauche es vielleicht heute abend, wenn der Captain anruft.“ „Okay, Süße.“ Sie lief zurück in ihr Zimmer und sah sich zum letzten Mal darin um. In einer Schublade lag ein Bündel Banknoten, das stopfte sie in ihre Handtasche. Aus dem Wohnzimmer drang Mrs. Deas’ lautes Schnarchen. Als sie bei Liberty ankamen, sprang sie aus dem Wagen, ging in das Kaufhaus und zur anderen Seite hinaus. Sie lief durch die Carnaby Street, bevor Irish-Jack den Wagen an der Stelle hatte parken können, wo er sie verabredungsgemäß erwarten sollte. 197
Im Taxi, unterwegs zum „Pevensey Arms“, fiel ihr das Knacken in der Telefonleitung ein, als sie versucht hatte, Ronald Ridley anzuläuten. Also stieg sie in der Rathborne Street aus und nahm sich ein Zimmer in einer jener kleinen Hotelpensionen, von denen es in dieser Gegend so viele gibt. Es war noch Zeit, einige notwendige Dinge zu besorgen – einen kleinen Handkoffer, ein paar Sachen zum Anziehen und eine dunkle Perücke. In einem sehr simplen, billigen Kostüm, mit schwarzen Locken, einfachen Schuhen und einem Regenmantel von Marks & Spencer erkannte sie sich selbst kaum wieder. Befriedigt betrachtete sie sich im Spiegel. Sie nahm ein Bad – unbeobachtet, hoffte sie, doch für alle Fälle hängte sie das Handtuch über den Spiegel – und ging dann in ein indisches Restaurant zu Abend essen. Endlich fühlte sie sich frei. Von dort aus rief sie im „Pevensey Arms“ an, aber Ronald war nicht da. Ronald Ridley schlenderte langsam Charing Cross hinunter, da hielt überraschend ein Auto neben ihm auf dem Fahrdamm, und ein Mann öffnete die Hintertür. „Entschuldigen Sie, mein Herr“, sagte er, „könnten Sie mir vielleicht sagen, wo …“ Ronald trat auf den Wagen zu. Plötzlich wurde er von hinten beim Nacken gepackt, und starke Arme schleuderten ihn einen halben Meter vorwärts, so daß der Mann im Auto ihn heranzerren konnte. Sekunden später war Ronald drinnen und ebenso der Bursche, der ihn gepackt hielt und seinen schmerzenden Griff noch nicht gelockert hatte. Die Straßenpassanten schienen nichts bemerkt zu haben. Der Wagen fuhr weiter. Der Kerl hinter Ronald war ein Fachmann. Finger wie Metallzangen drückten auf seine Halsschlagader und unterbanden die Blutzufuhr zum Gehirn. Das dröhnen198
de, tobende, tosende Rot in seinem Kopf verwandelte sich in Schwarz, und dann spürte er nichts mehr. Als er wieder zum Bewußtsein kam, hatte man ihm die Handgelenke mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt und einen breiten Leukoplaststreifen über den Mund geklebt. Er lag in einer äußerst unbequemen Haltung auf dem Boden des Autos, und zwei Paar Füße standen auf seinem Körper. Gleich darauf hielt der Wagen an. Ronald erhaschte gerade noch einen Blick auf die Plaza, bevor ihm ein Mantel oder etwas Ähnliches über den Kopf geworfen wurde, und dann trug man ihn schnell aus dem Wagen. Türen öffneten sich und schlossen sich wieder. Er versuchte sich zu wehren, da traf ihn eine geübte Faust in den Magen und nahm ihm die Luft. Sie ließen ihn auf den Teppichboden fallen, der nach Staub und Zigarettenasche roch, und zogen ihm den Mantel vom Kopf. Grinsend starrte Jack Finn auf ihn hinunter. „Nehmt ihm die Armbänder ab“, sagte er. Einer der Männer zerrte Ronald hoch, ein anderer schloß die Handschellen auf. „Haltet ihn fest“, sagte Finn. Er faßte eine Ecke des Pflasters und zog es mit einem scharfen Ruck ab. Ronald hatte das Gefühl, als werde ihm die Haut abgerissen. Tränen liefen ihm über das Gesicht. „Du siehst beschissen aus, Ridley. Geh und richte dich wieder her. Gebt ihm was zu trinken und bringt ihn dann zu mir“, befahl Finn seinen Kumpanen. „Lassen Sie mich gehen“, verlangte Ronald nervös. „Ich möchte weg von hier. Sie haben kein Recht, mich hier festzuhalten.“ Finns Gesicht wurde eisig. Der Spaß war vorbei. „Hier geschieht, was ich will, Ridley, also halt deine verdammte Fresse, wenn du weißt, was gut für dich ist. 199
Jetzt zieh ab mit den beiden netten Herren und mach dich frisch. Ich hab Neuigkeiten für dich.“ Fingers McKay hatte jahrelang in der Daktyloskopie von Scotland Yard gearbeitet, wo die Aussichten auf Gehaltserhöhung geringer waren als in den Außenabteilungen. Da bekam er ein Angebot: fünftausend Pfund bar auf die Hand, wenn er die Akten eines Mitglieds der Firma verschwinden ließ. Er ließ sie verschwinden, aber ein übereifriger und ehrgeiziger Kollege erwischte ihn dabei. Fingers McKay verlor seine Stellung und ging für zwei Jahre hinter Gitter. Der Kollege, der ihn verpfiffen hatte, wurde in der Nähe seiner Wohnung zusammengeschlagen und mit gebrochenen Beinen, einer abgeschlagenen Niere und einem Schädelbruch ins Krankenhaus eingeliefert. Es gab keine Zeugen. Im Zuchthaus wurde Fingers McKay gut behandelt, für seine Frau wurde die Wohnungsmiete bezahlt, und nach seiner Entlassung erhielt er die fünftausend Pfund. Er trat als Mitglied in die Firma ein und bekam einen Bezirk im West End zugewiesen, wo er „Versicherungen“ einkassierte. Fingers wartete in Finns Zimmer, als Ronald dort hineingestoßen und die Tür hinter ihm geschlossen wurde. Schlank, scharfäugig, mit grauen Schläfen, eingesunkenen Wangen und vielen Falten im Gesicht, sah Fingers ganz und gar nicht wie ein Gangster aus. Auf dem Schreibtisch lag ein kleiner, massiv aussehender Metallkasten. „Was wollt ihr von mir?“ fragte Ronald. „Laßt mich gehn.“ Finn simulierte einen Faustschlag und sagte: „Halt dein verdammtes Maul. Warum, zum Henker, wartest du nicht ab? Hier bin ich, versuch dir was Gutes anzutun, und du springst mir ins Gesicht. Hol das Zeug raus, Fingers.“ 200
Fingers nahm den Deckel des Kästchens ab und hob ein Stück Stoff hoch. Auf einem Polster lagen zwei Magazine für eine automatische Pistole, und aus einem anderen Stück Stoff wickelte er mehrere mattglänzende Langgeschoßpatronen des Kalibers 0 22. „Weißt du, was das ist?“ fragte Finn. „Kugeln“, sagte Ronald. „Patronen, du Idiot. Das hier sind die Kugeln, diese Bleidinger am Ende. Jetzt tu mir einen Gefallen und lade die beiden Magazine mit allen diesen Patronen.“ „Wozu?“ „Weil ich es befehle.“ „Es ist eine Falle.“ „Na, ist der nun ein Schlauberger?“ sagte Finn zu Fingers. „Mein Wort: schlau. Kann dir egal sein, was es ist. Tu, was ich dir sage.“ Ronald wich zurück und schüttelte den Kopf. Hier drohte ihm wirkliche Gefahr, obwohl er nicht wußte, in welcher Form. „Wie du willst“, sagte Finn und rief: „Sam.“ Der riesige Leibwächter kam herein. „Also, Sam“, sagte Finn, „ich möchte nicht, daß auf diesem kleinen Miststück da Druckstellen zurückbleiben. Bring ihn rüber und halt ihn fest.“ Finn streifte sich Gummihandschuhe über die Hände. „So ist’s gut, Sam. Bei den Handgelenken. Ich will, daß seine Linke den Abdruck macht, nicht die Rechte, wo das oberste Fingerglied fehlt.“ In Sams Händen war Ronald so schwach und hilflos wie ein Kind. Sam führte Ronalds rechte Hand so, daß sie die Magazine umschloß, und ließ seine Linke die Patronen, eine nach der anderen, aufheben und in die Magazine drücken. Fingers, der ebenfalls Gummihandschuhe trug, prüfte sie mit einer Lupe, dann nickte er beifällig und verpackte sie sorgfältig. 201
„Das ist alles, Fingers“, sagte Finn. „Paß gut auf die Fingerabdrücke auf. Du kannst auch gehn, Sam. Warte draußen.“ Als sie allein waren, sah er Ronald an. „Und jetzt unterhalten wir uns noch ein bißchen.“ „Was versuchen Sie mir da anzuhängen?“ „Aber, aber! Ich hab dir gesagt, ich will dir was Gutes tun, aber du wolltest es ja nicht glauben. Ich gehör nicht zu der Sorte, die einem Unschuldigen was anzuhängen versucht. Ganz im Gegenteil. Du hast doch sicher von den Typen gehört, die in Büchern vorkommen – die böse Menschen bestrafen, denen die Bullen nichts nachweisen können. Das gleiche tut Jack Finn – Jack der Rächer, sozusagen.“ Er genoß seine Rolle, und jetzt holte er eine Flasche Gin und zwei Gläser aus dem Schrank und goß sie voll. „Warum wollen Sie, daß meine Fingerabdrücke auf diesen Dingern sind?“ Finns Ton war sehr freundlich. „Trink aus, Sohn, dann erzähl ich dir’s. Die beiden Magazine gehörten zu der Llama-Pistole, mit der dein armer alter Pappa umgelegt wurde.“ Ronald ging ein Licht auf. Er ergriff sein Glas und leerte es in einem Zug. „Sicherlich hast du gehört“, fuhr Finn fort, „daß jede Waffe an jeder Kugel, die durch den Lauf geht, ihre besonderen Spuren zurückläßt. Das gilt auch für die Magazine von automatischen Waffen. Wenn man sie ein paarmal in die Kanone gerammt hat, sind die Markierungen da. Beide Magazine haben Spuren, die beweisen, daß sie in eine Kanone eingesetzt wurden. Nicht in irgendeine. In eine Llama Automatic. Und auch nicht in irgendeine alte Llama, Sohn, sondern in dieselbe Llama, mit der man deinem Alten das Licht ausgeblasen hat und die jetzt in den Händen von Scotland Yard ist.“ 202
Ronalds Gesicht wurde kreidebleich, und kalter Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Finn sah es. „Und nun weißt du, daß deine Fingerabdrücke überall auf den Magazinen sind und auf jeder Patrone. Dein alter Kumpel Gullet wär hoch entzückt, nicht wahr?“ Verzweifelt nach einem Strohhalm suchend, an den er sich klammern konnte, sagte Ronald: „Und wie wollen Sie das erklären? Jeder weiß doch, daß Sie mit dieser Kanone Malloy erschossen haben. Es stand in den Zeitungen. Ich weiß, die Polizei kann es nicht beweisen, aber es ist dieselbe Kanone. Vor Gericht können Sie sich nicht rausreden.“ Finn grinste. „Ich komme aber nicht vor Gericht. Ich bin doch nicht auf den Kopf gefallen. Was hätte ich davon, dich ins Kittchen zu bringen, wenn ich selber auch ins Kittchen muß, nicht wahr?“ Er ging zur Tür. „Sam, schick Blarney rein.“ Sie warteten. „Trink deinen Gin“, sagte Finn. Es klopfte. Finn beobachtete Ronalds Reaktion, als sich die Tür öffnete und Blarney eintrat. Sein Schock war offensichtlich, als er zuerst Blarney und dann Finn anstarrte. „Na, Junge“, sagte Blarney in scherzhaftem Ton, „hast du wieder Bedarf für ’n Schießeisen?“ „Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“ Es klang nicht besonders überzeugend. „Laß den Quatsch. Ist das der Typ, Blarney?“ „Aber gewiß doch.“ „Du könntest es beschwören?“ „Beim Grab meiner lieben alten Oma, Gott sei ihrer verdammten Seele gnädig.“ Als Finn jetzt Ronald ansah, lag ein leichtes Lächeln auf seinen schweren Zügen. 203
„Okay, Blarney. Geh raus und bleib in der Nähe, ja? Vielleicht brauch ich dich noch mal.“ Als sich die Tür geschlossen hatte, sagte Finn: „Na also. Schüttel nicht den Kopf. Wir haben was Geschäftliches zu besprechen. Trink aus, du wirst’s brauchen.“ Eine Pause des Schweigens. Als Finn dann sprach, schlug er einen leichten Unterhaltungston an, der den makabren Inhalt seiner Worte fast überdeckte. „Wieviel hat dir der Mord an deinem Alten eingebracht?“ Ronald erwiderte nichts. „Ich habe dich gefragt: wieviel?“ Fast weinend schrie Ronald: „Sie sind verrückt. Sie versuchen mich zu provozieren. Ich habe niemanden umgebracht. Es passierte, als ich entführt war. Alle wissen das. In diese Grube fallen Sie selber rein.“ Finn schüttelte kummervoll den Kopf. „Solche bösen Lügen! Niemand weiß es. Du willst, daß alle das glauben. Schlauer Einfall, meine Anerkennung dafür. Aber es ist schiefgegangen.“ Wieder ein langes Schweigen. „Sie können gar nichts beweisen“, sagte Ronald. „Da irrst du dich aber gewaltig. Sehn wir uns doch mal die Fakten an. Blarney hat dir diese Llama verkauft und dir gezeigt, wie man damit umgeht.“ Ronald schüttelte den Kopf. „Wenn du den Dummen spielen willst, okay, von mir aus. Also: Du hast deine Fingerabdrücke auf den beiden anderen Magazinen und den Patronen zurückgelassen.“ „Sie haben mich dazu gezwungen.“ „Egal. Sie sind drauf, nicht wahr?“ „Das kann jeder tun. Vor Gericht hat das überhaupt keine Beweiskraft.“ Finn seufzte. „Aber kapier doch: Die Bullen glauben dir nicht, daß du entführt wurdest. Sie glauben, daß du 204
dir selber die Fingerspitze abgesäbelt hast. Sie glauben, du wolltest dir damit ein Alibi verschaffen für die Zeit, wo du deinem Alten das Licht ausgeblasen hast, und ich kann dir im Vertrauen sagen, man hat mich darüber informiert, daß sie alle anderen Spuren fallengelassen haben. Sie sind nur noch an dir interessiert, Bruder. Ihr Pech ist, daß sie es nicht beweisen können.“ Finn leerte ein Glas und forderte Ronald durch eine Handbewegung auf, seinem Beispiel zu folgen. Er goß die Gläser wieder voll. „Und jetzt, Sohn“, sagte er, „stell dir mal vor, jemand würde deinem Freund Inspektor Gullet stecken, daß Blarney diese Kanone an dich verscheuert hat. Sie würden ihn hopp nehmen, nicht wahr? Nun nimm mal an, er gesteht und zeigt den Bullen, wo die übrigen Patronen und die beiden andern Magazine versteckt sind – die, mit denen du geübt hast, sagt er. Und nimm weiter an, die Bullen erfahren, daß du was mit der Freundin deines Alten angefangen hattest, bevor du ihn umbrachtest, und daß sie nicht mal wußte, wer du warst – Mr. Paul Fisher, du Dreckskerl. Da sind die Motive: Geld und Weiber. Klassisch.“ Offensichtlich betäubt von diesem Sturzbach von Worten, saß Ronald reglos da, und seine Knöchel wurden weiß, so krampfhaft umklammerte er das leere Glas. „Blarney müßte dann zugeben, daß er mir die Pistole verkauft hat. Das ist ein Verbrechen, nicht wahr?“ Finn lachte. „Blarney hat bei den Bullen ’ne weiße Weste. Er hatte ja keine Ahnung, wozu du die Kanone brauchtest. Bei dir handelt sich’s um Mord. Sie mögen keine Mordfälle. Blarney könnte Bewährung kriegen, könnte ein Jahr kriegen, vielleicht auch zwei. Und was würdest du tun? Ihnen alles über den bösen Jack Finn erzählen. Daß ich nicht lache. Ich hab Malloy mit dieser Kanone umgelegt, und alle wissen’s. Aber was würdest du kriegen?“ 205
Ronald sah, wie in den kalten, ausdruckslosen Augen Triumph aufleuchtete. „Lebenslänglich. Lebenslänglich. Zwanzig Jahre. Davon müßtest du vielleicht zwölf absitzen.“ Er hatte recht. Ronald begriff das. „Als du herkamst, hab ich dir gesagt, ich will dir helfen, und das will ich auch wirklich.“ „Na gut“, sagte der junge Mann. „Also Erpressung. Wieviel? Für die Patronen und die Magazine?“ Finn betrachtete ihn so selbstzufrieden wie eine Katze eine gefangene Maus. „Deine Mamma erzählt, sie hat dir und deiner Schwester je ein Drittel gegeben.“ „Mußtest du sie da mit reinziehen, du verdammtes Schwein?“ „Hüte deine Zunge, mein Kleiner. Ich hab einen netten Jungen zu ihr geschickt. Er hat ihr weisgemacht, er ist von der Zeitung. Du kennst deine alte Dame – sie hat was übrig für Publicity. Sie sagte, jeder von euch hätte alles in allem 417 000 Pfund gekriegt. Stimmt das?“ Ronald nickte. „Na also“, sagte Finn. „Ich mach dir jetzt ein Angebot. Du kannst das Beweismaterial für vierhunderttausend haben, dann bleiben dir immer noch siebzehntausend und ein paar Zerquetschte.“ Ronald saß reglos da, als habe er nicht richtig gehört. Dann lachte er, aber es war kein echtes Lachen. „Du bist verrückt“, sagte er schließlich mühsam. „Überleg doch mal, Sohn. Du scheinst nicht zu begreifen, in was für ’ner Klemme du steckst. Du hast einen Mord begangen. Für Geld. Das ist nicht dasselbe wie Totschlag im Affekt. Ganz und gar nicht. Vorbedachter Mord. Du würdest keine mildernden Umstände kriegen. Und natürlich würde die Krone den ganzen Zaster einsacken. Niemand darf von Verbrechen profitieren.“ Er lachte. „Das heißt … wenn er gefaßt wird, du verstehst schon.“ 206
Er goß neuen Gin ein. „Ich bin noch großzügig, daß ich dir das ganze Kleingeld lasse. Kapierst du das nicht? Ich laß dir die Wahl: entweder lebenslänglich und ohne einen Penny, wenn du schließlich rauskommst, oder Freiheit und siebzehntausend Pfund – ein Vermögen.“ Etwas wie ein Schluchzer entrang sich Ronalds Kehle. „Das kannst du doch nicht tun“, sagte er. „Sei vernünftig.“ „Ich bin vernünftig. Ich geb dir die Chance, nicht in den Knast zu müssen.“ „Aber sieh doch: Wenn ich in den Knast muß, kriegst du nicht einen Penny. Sei fair. Ich teile mit dir. Fifty-fifty.“ Finn schüttelte den Kopf. Er hatte Vergnügen an seinem Auftritt, genoß es, Ronalds Entsetzen wachsen zu sehen, genoß das verzweifelte Flehen, wie er damals die Stimme von Alf Tomkins genossen hatte, die bettelte, er möge doch um Gottes willen aufhören. „Es geht um was Prinzipielles“, sagte er. „Du hast meine alte Mamma und meinen Pappa kennengelernt; nicht wahr … Ich hab sie immer anständig behandelt. Ich halte nichts von Leuten, die ihre alten Herrschaften über den Jordan schicken, nur um sich die Taschen füllen zu können. Und ich hoffe, das wird dir eine Lehre sein.“ Er mußte beinahe lachen. „Fifty-fifty“, flehte Ronald. „Zwei Drittel. Denk doch daran, welches Risiko ich eingegangen bin. Sei um Gottes willen menschlich.“ In seinen Augen schimmerten Tränen. „Zwecklos zu plärren“, sagte Finn. „Denk du an das Risiko, das ich eingehe, wenn ich das Beweismaterial vernichte. Dadurch werde ich nämlich zum Komplizen in einem Mordfall – faktisch ein Mittäter. Das ist schlimm, weißt du. Es bleibt dabei: vierhunderttausend, oder Gullet kriegt einen Hinweis.“ „Dreihunderttausend.“ 207
„Ich feilsche nicht. Ich befehle. Das ist alles. Ich bleibe in Verbindung mit dir, denn ich weiß, du hast das Geld noch nicht. Und keine Tricks. Vergiß nicht.“ Er zog sein Messer hervor und klappte es auf. Als Ronald wieder im „Pevensey Arms“ anlangte, erschien ihm das, was geschehen war, wie ein schlimmer Traum. Dodger hatte ihn gefahren; er kannte den Weg offenbar recht gut. Sie hatten ihn geleimt. Bevor Ronald Finn verließ, hatte er ihn – er konnte einfach nicht anders – nach Melissa gefragt. „Sie ist ein nettes kleines Kuscheltier“, sagte Finn, „und sie kann bei mir bleiben, solange sie sich anständig benimmt. Aber das ist ja eben der Jammer mit den Weibern, nicht wahr? Mit der Zeit schnappen sie über, wollen dies, wollen das, liegen einem mit Heirat in den Ohren und so weiter. Dann müssen sie natürlich gehn.“ Er fügte ein paar Worte hinzu, die Ronald eine Vorstellung von den Freuden geben sollten, die er und Melissa im Bett miteinander hatten. „Ich hab seit jeher ’ne Schwäche für rothaarige Frauen. Du trägst mir doch hoffentlich nichts nach? In der Liebe und im Krieg ist alles erlaubt.“ Ronald hatte sich in einem kindischen Wutanfall auf Finn gestürzt und war gelassen abgewehrt worden. Schließlich hatte Finn gesagt: „Wenn du versuchst, Ärger zu machen, Kleiner, schick ich Blarney sofort zu den Bullen. Die sperren dein Bankkonto, setzen Interpol auf dich an, und dann wirst du in allen Ländern gesucht – wegen Mord. Und du bist kein Ronald Biggs.“ Jetzt lag Ronald, in ausweglose Verzweiflung versunken, in seinem Hotelzimmer auf dem Bett und starrte zur Decke hoch. Die Gefahr, die er auf sich genommen hatte, die ganzen Anstrengungen – und nun war er wieder da, wo er angefangen hatte. Schlimmer: Die Polizei verdächtigte 208
ihn, das stimmte, und Londons brutalster Gangster hatte ihn in seiner Gewalt. Vor ihm lag ein Leben der Ödnis, der Armut, der Tretmühle. „Du hast nicht das Zeug dazu, dich mit dem Gesetz anzulegen“, hatte Finn gesagt. „Ich behaupte nicht, du hättest keinen Mut bewiesen, nein, das hast du getan, aber du hast kein Durchhaltevermögen. Sieh das hier als eine kostspielige Lehre an. Bleib künftig sauber. Überlaß Verbrechen denen, die damit aufgewachsen sind.“ Ronald stöhnte. Und das nach all dem, was er durchgemacht hatte! Das Telefon klingelte. „Ronald?“ Es war Melissa. Adrenalin strömte plötzlich in Ronalds Adern. „Melissa, Liebling. Mein Gott, ich habe so nach dir gesucht. Wo bist du?“ „Unwichtig. Ich hab versucht, dich zu erreichen.“ Ihre Stimme klang tief und dringlich. „Ronald, ich brauche Hilfe, und das schnell.“ „In welcher Form?“ „Wirst du mir helfen?“ „Natürlich.“ „Hör mal, es kann sein, daß sie dein Telefon angezapft haben. Ich versteh nichts von solchen Sachen. Wenn du zum Middlesex Hospital fährst, siehst du an der Ecke Foley Street eine Telefonzelle. Hier ist die Nummer. Schreib sie dir auf. Ich ruf dich in zehn Minuten in dieser Zelle an. Wirst du dort sein?“ „Ich bin schon unterwegs. Wie herrlich, daß du …“ „Also in zehn Minuten.“ Sie legte auf. In der Foley Street konnte man ohne Mühe feststellen, ob man beschattet wurde. Es gab nicht das geringste Anzeichen dafür. Ronald trat in die Zelle, nahm den Hörer ab und tat, als telefoniere er. Genau zur angegebenen Zeit läutete es. „Ronald.“ 209
„Melissa.“ „Ronald, ich spreche ebenfalls aus einer Telefonzelle. Ich habe Angst. Ich weiß, ich hab dich verdammt mies behandelt, aber ich habe niemand, an den ich mich wenden kann, nur dich. Ich muß weg von Finn. Er ist ein Ungeheuer. Ich hab sogar Angst, daß er mich umbringen könnte. Ich bin abgehauen, und ich habe kein Geld. Nur ungefähr hundert Pfund. Ich muß weg.“ Ihr Ton war schrill geworden. „Beruhige dich, Melissa“, sagte Ronald. Plötzlich war er ganz gelassen und fühlte sich zu allem imstande. Sie schwieg, und als sie wieder sprach, klang ihre Stimme weniger hysterisch. „Tut mir leid, Ronald. Ich brauche Geld. Kannst du mir welches leihen?“ Sein Hirn arbeitete rasch. Zum Teufel mit Finn, zum Teufel mit Interpol, zum Teufel mit allem. Er hatte immer noch sechstausend in bar im Hotelsafe. Warum sollten sie nicht beide verschwinden? Irgendwohin fahren, wo die Sonne schien, von dem Geld leben, sich eine Arbeit suchen, mit der man genug verdiente, um existieren zu können. Was spielte Geld für eine Rolle? Sonne und Melissa – diese Vorstellung war berauschend, und Hoffnung erfüllte ihn. „Bist du noch da, Ronald?“ „Ich denke nach.“ „Könntest du mir fünfhundert leihen? Das reicht, um von diesem Hund wegzukommen. Ich weiß, ich bin ekelhaft zu dir gewesen, aber bitte hilf mir. Ich muß weg. Und gleich.“ Ronald sagte: „Ich komme mit.“ Schweigen auf der anderen Seite der Leitung. „Hast du gehört?“ „Ja“, sagte sie. „Ich weiß nicht. Ich hab so das Gefühl, daß sie dein Hotel beobachten. Deshalb bin ich auch nicht dorthin gekommen. Sie beschatten dich, und dann finden sie mich.“ 210
„Bleib dran. Ich überlege.“ Er stand da und horchte auf die beinahe unhörbaren Geräusche in der Telefonleitung, starrte auf den Apparat. „Bist du noch da, Ronald?“ „Ja. Ich glaube, ich hab’s. Ich muß auch weg. Ich erzähl dir später, warum. Hast du noch dein Auto? Es stand immer in den Mews.“ „Es ist in der Werkstatt.“ „Fahrbereit?“ „Ja.“ „Hast du deinen Paß?“ „Ja.“ „Hör zu. Kannst du den Wagen holen, ohne daß Finn und seine Leute es erfahren?“ „Ja. Ich wüßte nicht, woher sie wissen sollten, wo er ist.“ „Gut. Wir treffen uns um drei Uhr früh vor dem Bahnhof Chingford, wo wir neulich waren. Bis dahin hab ich jeden abgeschüttelt, der mich eventuell beschattet. Mach dir keine Sorgen. Ich verspreche dir, wenn wir uns treffen, ist mir niemand mehr auf den Fersen. Ist deine Garage die ganze Nacht offen?“ „Ja.“ „Gut. Geh in ein Kino. Hol den Wagen spät und tank ihn voll. Morgen sind wir nicht mehr in England … Nein … Solange wir Heathrow vermeiden; und ich weiß, wie wir das anstellen. Also um drei Bahnhof Chingford.“ Ursprünglich hatte er gar keinen Plan gehabt. Der Plan hatte in seinem Kopf Gestalt angenommen, weil er Melissa überzeugen mußte. Finn verstand zu organisieren. Wenn er, Ronald, seinen Beschatter abgeschüttelt hatte, würde Finn sofort Heathrow und die Schiffsanschlußbahnhöfe beobachten lassen. Aber angenommen, er fuhr zu einem andern 211
Flugplatz und flog von dort aus nach Amsterdam, dann nach Berlin, dann in den Irak oder … Ronald goß sich ein großes Glas Whisky ein und schüttete den Whisky dann wieder zurück in die Flasche. In so einer Nacht durfte man nicht trinken. Er zog einen dunklen Anzug an, vergewisserte sich, daß er seinen Paß bei sich hatte und daß der Packen Banknoten in der Tasche seines schwarzen Hemdes steckte. Wenn man ganz London zur Verfügung hatte, war es selbst für einen Amateur nicht schwierig, einen Verfolger abzuhängen. In einem Londoner Stadtführer waren Wimbledon Common und Hampstead Heath als Erholungsparks verzeichnet. Hampstead war besser, wenn auch nur deshalb, weil er sich dort auskannte. Mit einem Bus fuhr er zum südlichen Ende der Heide. Er war der einzige Fahrgast, der dort ausstieg, aber hinter dem Bus hielt ein Taxi. Kies knirschte unter seinen Füßen, als er in die Heide hineinschritt. Die Nacht war dunkel. Als er auf einem der Parkwege etwa eine halbe Meile gegangen war, sah er ein Waldstück vor sich. Von dort aus waren es, wie er sich erinnerte, nur noch zehn Minuten bis zum Restaurant „The Flask“. Er trat auf den Rasen, rannte ein paar Schritte und ließ sich dann hinter einem Busch zu Boden fallen. Sein Trick war erfolgreich. Augenblicke später hörte er jemand an sich vorbeilaufen. Der Verfolger blieb am Rand des Gehölzes stehen; dort verharrte er und horchte. Offenbar kam er zu dem Schluß, daß Ronald im Wald untergetaucht und dort unauffindbar sei, denn er trabte in östlicher Richtung davon. Ronald lief in nördlicher Richtung weiter. Am „Flask“ fand er ein Taxi, das gerade einen Fahrgast absetzte und daher unverdächtig war, damit fuhr er zum Archway und stieg dort in die Untergrundbahn. Um ein Uhr war er in Chingford – zwei Stunden zu früh. Er marschierte eine halbe Meile zum Chingford Plain 212
und setzte sich dort auf einen umgestürzten Baum. Eine unnötige Vorsichtsmaßregel, dessen war er sicher, aber gegen die Straßenbeleuchtung konnte er jeden sehen, der sich näherte. Nun mußte er nur warten. Melissa war pünktlich. Zehn Minuten vor drei ging Ronald langsam zum Bahnhofsvorplatz, und in diesem Augenblick kam der rote Triumph angefahren und hielt. Er lief auf den Wagen zu, und die Tür zum Beifahrersitz wurde aufgestoßen. Eine Sekunde lang dachte er, er habe sich getäuscht – die Frau hinter dem Steuerrad hatte lockiges schwarzes Haar, trug eine große Brille und ein konservatives Kostüm. „Hallo.“ Ihre Stimme klang verlegen. Er beugte sich zu ihr hin, um sie zu küssen. Sie hielt ihm die Wange hin. „Vielen Dank, daß du trotz allem gekommen bist“, sagte sie. „Ich liebe dich, Mel.“ „Trotz allem?“ „Trotz allem. Alles in Ordnung mit dir? Am Telefon warst du furchtbar aufgeregt.“ „Ich hatte schreckliche Angst, und ich hab sie noch. Ich erzähl dir später von Finn. Bist du sicher, daß dir niemand gefolgt ist?“ „Hundertprozentig sicher.“ „Fahren wir los. Wohin?“ „Nach Cambridge.“ „Cambridge? Warum, um Gottes willen, dorthin?“ „Da ist ein Flugplatz. Wir buchen einen Flug irgendwohin. Höchstwahrscheinlich nach Berlin. Wenn wir dann in Heathrow umsteigen, ist das egal, wir brauchen den Transitraum nicht zu verlassen. Und morgen abend – ich meine, heute abend – können wir schon in Istanbul, Bagdad oder Delhi sein. Darüber unterhalten wir uns noch.“ Sie startete. „Wie fahren wir?“ 213
„Nach Norden. Epping, Harlow und weiter. Es sind nur etwa vierzig Meilen.“ Der kleine Sportwagen raste dahin wie ein Windhund, den man von der Leine gelassen hat. Im Osten konnte man dem Himmel schon ansehen, daß bald ein neuer Tag dämmern würde. Hinter Chingford lag an einer Wegbiegung auf einer Anhöhe das Restaurant, in dem sie am Tag ihrer ersten Begegnung gegessen hatten. „Erinnerst du dich?“ fragte er. Seine jugendliche Sentimentalität ließ sie erstarren. Dodger wartete in dem weißen Mercedes mit dem Autotelefon ungeduldig auf Finns Anruf. Der Captain wurde von seinen Leuten wie eine Stecknadel gesucht. Endlich leuchtete die Ruftaste auf. „Hallo, Jack. Wir sind ihr von der Garage bis hierher nach Chingford auf den Fersen geblieben. Er ist auch hier … Ah … Sie sind jetzt nach Norden abgebogen. Es ist verdammt schwierig, sie zu verfolgen. Überhaupt kein Verkehr. In dem weißen Schlitten fallen wir sogar ’nem Blinden auf.“ „Ich schick dir …“, begann Finn. Dodger unterbrach ihn. „Sie sind jetzt auf der alten Landstraße nach Cambridge. Also alles klar. Was wolltest du eben sagen?“ „Ich schick dir Irish-Jack und Sid mit dem Cortina hin. Für den Fall, daß du Hilfe brauchst.“ „Und wenn sie uns sehen?“ „Dann werden sie entweder versuchen, euch abzuhängen, oder anhalten und euch vorbeifahren lassen. Faßt sie auf jeden Fall. Aber keine unnötige Gewalt anwenden, wie’s bei der Polente heißt. Ich will sie heil und ganz. Sag das auch Maxie. Maxie ist manchmal zu grob.“ Ronald lehnte sich zurück und blickte auf Melissas angespanntes Gesicht und auf den im schwachen Licht der 214
Morgendämmerung rasch vorübergleitenden Strom der Bäume und Büsche. Euphorie hatte die Ängste verdrängt, die ihn bisher ständig verfolgt hatten – jetzt gab es nur noch ihn und Melissa, die einem großen Abenteuer entgegenfuhren. Zuerst nach Westberlin – Herz des Handels mit Rauschgift, Pässen, Menschen, Identitäten, allem. Und dann? Nach Bhutan, Nepal, irgendeinem fernen, immer noch billigen Land, wo sie untertauchen konnten. Finn würde ihn nicht anzeigen, solange noch eine Aussicht bestand, an das Geld heranzukommen, und das Geld lag wohlverwahrt auf der Bank. Zunächst einmal fort aus England! Melissa, geradeaus blickend, fragte: „Sollen wir die Autobahn nehmen oder auf der alten Landstraße bleiben?“ Sie näherten sich dem Gewirr von Kreuzungen bei Sawbridgeworth. „Ich denke, wir bleiben auf der alten Landstraße.“ Es war vielleicht sicherer, die schmale, gewundene, von Menschenfüßen, Pferdehufen und später von Karren- und Kutschenrädern aus der Landschaft herausgemeißelte Straße mit den weißgetünchten Landhausmauern entlangzufahren, die an den Kurven aufragten, mit den gemalten Hauszeichen, die über den Türen uralter Gasthäuser hingen, selbst wenn dort nur modernes Laboratoriumsbier verkauft wurde. Eine Uhr schlug vier, als sie Sawbridgeworth passierten, und im selben Augenblick warf Melissa einen Blick in den Rückspiegel. „Hinter uns ist ein Wagen, der hat nur Standlicht eingeschaltet. Glaubst du, daß er uns verfolgt?“ Ronald sah sich um. Die Straße war leer, aber einen Augenblick später bog ein Wagen mit Standlichtern um die Kurve. „Mein Gott“, sagte das Mädchen. „Glaubst du, sie sind es?“ 215
„Kannst du schneller fahren?“ „Nicht sehr viel schneller. Zuviel Geschlinge.“ Sie fuhr gut, gebrauchte geschickt die Bremsen und Gänge in den zahllosen Kurven, auf den ansteigenden oder abfallenden Strecken. Aber der andere Wagen blieb hinter ihnen. In einer scharfen Biegung mitten in einem Dorf sprang der kleine Wagen auf den Gehsteig, und es gelang Melissa gerade noch, ihn mit quietschenden Reifen auf die Fahrbahn zurückzureißen. „Sowie ich eine Chance sehe, fahre ich in eine Seitenstraße und schalte alle Lichter aus“, sagte sie atemlos. Dodger sah, wie der Wagen vor ihnen auf den Gehsteig fuhr und wieder heruntergerissen wurde. „Sie wollen abhaun, Maxie“, sagte er. „Wir legen lieber noch ’n Zahn zu.“ Er schaltete die Scheinwerfer ein, so daß die Landschaft und der kleine rote Triumph in Licht getaucht waren. Melissa war eine gute Fahrerin, aber Dodger war Spitzenklasse, und gegen ihn hatte sie keine Chance. Sehr schnell war er dicht hinter dem Triumph und blendete sie mit seinen Scheinwerfern, so daß sie den Spiegel zur Seite drehen mußte. Sie beobachtete die Scheinwerfer und verhinderte durch ihre Manöver, daß er sie überholte. Es war Schwerarbeit, eine gefährliche außerdem, und Ronald, der zusammengeduckt neben ihr saß, sah voller Angst und Bewunderung zu, wie Melissa den Wagen dirigierte. Er begriff, daß sie die Autobahn erreichen wollte, wo die Aussicht bestand, daß eine Polizeipatrouille sie wegen Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit stoppte. Durch die Zähne murmelte sie: „Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte.“ Es waren ihre letzten Worte. 216
Plötzlich wieder eine Kurve, und der voll aufgedrehte einzige Scheinwerfer eines Motorrads schien Melissa direkt in die Augen. Instinktiv schlug sie das Steuerrad ein, und der Motorradfahrer raste eine Böschung hinauf. Ronald sah den Baum und schrie, als er durch die Wucht des Aufpralls durch die Luft geschleudert wurde. Der Mercedes fuhr weiter und rammte das Heck des Triumph. In der Dunkelheit rappelte sich der Motorradfahrer mühsam aus der Hecke hervor, in der er gelandet war, und sah den leuchtend weißen Mercedes langsam in der Ferne verschwinden. „Jesus“, sagte Maxie. „Der Captain wird außer sich sein.“ Ronald Ridley lag in einem kleinen Einbettzimmer auf der Unfallstation des Krankenhauses. Sein rechtes, dick bandagiertes Bein war hochgezogen. Sein Kopf und sein linker Arm waren ebenfalls bandagiert. Eine halbvolle Tropfflasche hing über dem Tischchen neben dem Bett; ihr Schlauch endete auf seinem rechten Arm unter einem Pflaster. Eine Krankenschwester kam herein. Sie stellte einen mit Gaze zugedeckten Teller mit geschmorten Nieren auf den Tisch neben eine Sauerstoffflasche. „Mr. Finn wünscht Sie zu besuchen, Mr. Ridley. Ich habe ihm gesagt, daß er nicht lange bleiben kann.“ Im Hinausgehen sagte sie: „Bitte, denken Sie daran, daß der Patient keine Aufregung verträgt.“ Finns massige Gestalt schob sich durch den Türspalt. „Na, Ronnie, mein Junge“, sagte er, „da bist du ja gerade noch um Haaresbreite davongekommen. Arme Melissa. Tut mir leid, daß sie den Löffel abgeben mußte, auch wenn sie mit einem andern durchgebrannt ist.“ Er hatte den einzigen Stuhl im Zimmer neben Ronalds Bett gezogen und setzte sich darauf. 217
„Scheint so, als ob du hier gut aufgehoben bist, Sohn“, sagte er. „Und nun erzähl mir, warum du mich sprechen wolltest.“ Ronald versuchte sich aufzusetzen, fiel aber gleich wieder auf das Kissen zurück. „Hätte die Sache nicht Zeit gehabt, bis du dich wieder etwas erholt hast?“ fragte Finn. „Sicherlich handelt sich’s doch um unsere kleine Vereinbarung. Na, das kann warten.“ „Nein, die Sache bedrückt mich. Könnten wir nach allem, was passiert ist, diese Vereinbarung, wie Sie es nennen, nicht rückgängig machen?“ Finn beugte sich vor und schüttelte bedauernd den Kopf. „So gern ich immer gefällig bin, ich kann’s einfach nicht. In letzter Zeit hab’ ich ’ne ganze Menge unvorhergesehener Ausgaben gehabt, und ich brauche diese vierhunderttausend. Jeder hat seine Probleme, weißt du, und im Geschäft ist nun mal kein Platz für Sentimentalität.“ Offensichtlich erschöpft, lag Ronald reglos auf seinem Kissen. „Arme Melissa“, sagte er matt. „Ja. Sehr traurig. Aber wenn das alles ist, was du mit mir besprechen wolltest, lautet die Antwort: Nein, ein für allemal nein. Wir sprechen uns in dieser Angelegenheit, sobald du hier rauskommst.“ Er erhob sich. „Inzwischen mußt du dich damit abfinden, daß dich meine Jungs nicht aus den Augen lassen.“ Ronald setzte sich auf, die Tropfflasche zitterte. „Ich habe Ihnen eine letzte Chance gegeben, Finn. Mein Entschluß ist gefaßt. Nach dem, was mit Melissa geschehen ist, werde ich dafür sorgen, daß Sie nicht davonkommen.“ „Was willst du damit sagen, du Idiot? Was kannst du denn tun?“ 218
„Sie kriegen keinen Penny von dem Geld.“ „Meinst du etwa, lebenslänglich ist dir lieber?“ „Jawohl, wenn’s nicht anders geht. Sie haben Malloy mit dieser Pistole erschossen, und ich werde versuchen, das zu beweisen.“ „Das soll wohl ein Witz sein. Als ich Malloy das Licht ausgeblasen habe, war die Kneipe gerammelt voll. Ich wollte ihn nicht umbringen. Ich mußte. Er hatte sich zuviel rausgenommen. Ich rate dir davon ab, dasselbe zu tun. Außerdem hast du nicht die geringste Chance. Die gesamte britische Polizei hat versucht, mir den Mord anzuhängen, aber niemand ist bereit, eine Aussage zu machen. Und du willst es allein auf eigene Faust versuchen? Daß ich nicht lache.“ „Ich werde es haarklein beweisen.“ Finn setzte sich wieder und beugte sich über Ronald. „Söhnchen“, sagte er und lächelte, „ich drohe nicht gern, aber, um deinetwillen, geh nicht zu den Bullen. Du kannst ihnen natürlich eine Geschichte erzählen, ich hätte dich gezwungen, deine Fingerabdrücke auf den Patronen und den Magazinen zu hinterlassen, doch du kannst das nie beweisen. Sie wissen aber, du hast deinen Alten umgelegt, und das wollen sie beweisen.“ „Ein Geständnis würde mir nichts ausmachen, wenn ich Sie dadurch mit reinreiße, Finn. Wenn ich sowieso lebenslänglich kriege, wo liegt da das Risiko?“ „Na“, sagte Finn, „ich kann nur staunen über dich. Gesteh, was du willst, du kleine Ratte. Die Polizei braucht Beweise. Die habe ich. Und du? Du hast nichts.“ Er stand wieder auf. „Ich kann Dodger und die andern nicht länger warten lassen, Sohn. Überleg dir alles gründlich. Du bist jetzt nicht ganz bei dir. Vertagen wir die Sache, bis du rauskommst. Ich sage nicht, daß ich nicht zu Konzessionen bereit wäre. Vielleicht war ich etwas zu hart.“ 219
„Ich hab es mir genau überlegt. Ich gehe zur Polizei.“ „Du bist wahnsinnig.“ Finn zuckte die Achseln. „Na, ich kann dich nicht daran hindern, dir lebenslänglich einzuhandeln. Aber glaub ja nicht, daß ich die Bullen nicht wissen lasse, daß du die Kanone von Blarney bekommen hast.“ Er öffnete die Tür und trat rückwärts hinaus in den Korridor. Als er sich umdrehte, erblickte er Gullet und vier Angehörige der Abteilung für schwere Verbrechen. Seine Hand fuhr an die linke Brusttasche. „Stopp. Wir sind bewaffnet“, sagte Gullet scharf. Finns Hand verharrte dort, wo sie war. Gullet sagte in amtlichem Ton: „John Henry Finn: Sie sind des Mordes an Patrick Malloy angeklagt, und Sie werden außerdem beschuldigt, ein Komplize bei dem Mord an Edward George Ridley zu sein.“ Finn unterbrach ihn. „Seien Sie doch nicht albern, Gullet. Sie haben nicht den geringsten Beweis dafür, daß ich mit diesen Fällen zu tun habe.“ Gullet wandte sich an jemand Unsichtbaren: „Spielen Sie das Band ab.“ Finn hörte seine eigene Stimme. „Als ich Malloy das Licht ausgeblasen habe, war die Kneipe gerammelt voll. Ich wollte ihn nicht umbringen. Ich mußte. Er hatte sich zuviel rausgenommen. Ich rate dir davon ab, dasselbe zu tun.“ Finn begriff augenblicklich. Er fuhr herum. Ronald Ridley stand in der Tür, stand auf beiden Beinen, dem gesunden und dem „aufgehängten“. „Du dreckige Ratte!“ zischte Finn. „Das verdanke ich dir!“ Ronald nickte. Auf seinem Gesicht lag ein trauriges kleines Lächeln. „Was dem einen recht ist“, sagte er. „Ich konnte dir 220
das nicht durchgehn lassen. Das mit Melissa. Das war’s, nicht das Geld, Finn.“ „Du! Du!“ schrie Finn. Seine Hand fuhr unter seinem Arm hervor; sie hielt eine automatische Pistole. Er verlor den Bruchteil einer Sekunde, als er eine Patrone in den Lauf führte. In diesem Augenblick fegte ein Schuß und gleich darauf ein zweiter den Flur entlang, abgegeben von einem der Scotland-Yard-Beamten. Türen wurden aufgerissen, Krankenschwestern mit weißen, gestärkten Häubchen auf den Köpfen spähten heraus. Finn stand reglos da, keiner Bewegung mehr fähig, sterbend. Seine Hände hielten noch immer die Pistole. Gullets Gesicht verriet nicht die geringste Gemütsbewegung, als er in die brechenden Augen des Gangsters blickte. Er nahm ihm die Pistole weg und sagte ihm ins Ohr: „Es gab keine andere Möglichkeit, Finn. Du hattest alles so schlau eingefädelt, doch es hat dir nichts geholfen.“ Finn brach tot auf dem gebohnerten Fußboden zusammen. Es mußte ein Nierenschuß gewesen sein, überlegte Gullet und steckte die Automatic in die Tasche. Der Beamte, der geschossen hatte, hielt noch immer den Revolver. Gullet sagte: „Wenn’s hart auf hart geht, ist mir ein Revolver allemal lieber als eine Automatic.“ Er setzte hinzu: „Sie haben nicht mit der Absicht geschossen, ihn zu töten, Holmes, hoffe ich?“ Sein steinernes Gesicht schien zu lächeln. „Nein, Sir. Gewiß nicht. Aber ich mußte doch dafür sorgen, daß er sich nicht mehr bewegen konnte. Zwecklos, auf die Beine zu zielen – er war ja bewaffnet.“ Auch um seine Lippen spielte so etwas wie ein Lächeln. Gullets Blick verharrte bei Ronald Ridley. „Ziehen Sie sich an“, sagte er. „Sie kommen mit. Vor Gericht wird es zu Ihren Gunsten sprechen, daß Sie uns geholfen haben.“ 221
Als Ronald im Krankenzimmer verschwunden war, wandte sich Gullet an Holmes. „Gute Arbeit, Charlie. Mit dem Band allein hätten wir’s nie geschafft. Und jetzt holen wir uns Blarney, Dodger und die übrigen.“
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1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1981 Lizenz-Nr.: 409-160/115/81 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Ebook by *MM* 622 482 7 DDR 2,- M