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Der Autor Herbert Lichtenfeld begann nach dem Notabitur gegen Kriegsende in seiner Heimatstadt ein Musikstudium, das er 1950 in der Bundesrepublik allerdings nicht fortsetzen konnte. Er schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durch begann als Lokal- und Gerichtsreporter für das "Badische Tagesblatt" zu schreiben, später arbeitete in Köln für die "Neue Rhein Zeitung" und wurde schließlich Ressortleiter Fernsehen bei der "Hör zu" in Hamburg. In dieser Zeit begann Lichtenfeld verstärkt schriftstellerisch zu arbeiten und kündigte schließlich seine Stellung, und machte sich als freier Autor selbständig. Er schrieb Hörspiele und Kriminalstorys und fand schon bald Zugang zum Fernsehen. Er verfaßte die Bücher zu einigen der besten TATORT-Filme des NDR, darunter "Nachtfrost", "Jagdrevier" und auch die Episode "Reifezeugnis", mit der der Regisseur Wolfgang Petersen und die Schauspielerin Nastassja Kinski ihre Karriere begannen. 1986 schließlich begann er mit der Arbeit an der ZDF-Serie DIE SCHWARZWALDKLINIK für die er nur die ersten Folgen schreiben sollte. Die Bücher fielen allerdings so überzeugend aus, daß Lichtenfeld von Produzent Wolfgang Rademann den Auftrag für die gesamten Folgen erhielt. Die Serie wurde zu einem der größten Erfolge des ZDF mit Einschaltquoten von über 60 Prozent, zog aber auch wegen ihrer angeblichen kitschigen Weltfremdheit viel Kritik auf sich.
Klappentext Ein smarter Klassenlehrer kann nicht widerstehen, als die knackige Schülerin Sina ihm zu verstehen gibt, daß sie verdammt scharf auf ihn ist. Er stürzt sich in eine Affäre, doch Michael, Sinas eifersüchtiger Klassenkamerad, kommt dahinter. Der erweist sich als Plaudertasche, und schon wird der lüsterne Lehrer von einer Schülerin erpreßt. Sina lockt unterdessen Michael in den Wald und erschlägt ihn...
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Dieses eBook ist nicht zum Verkauf bestimmt.
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Herbert Lichtenfeld
Reifezeugnis
Ensslin & Laiblin Verlag Reutlingen Umschlagfotos: TelePress, Hamburg 1. – 10. Tausend © Ensslin & Laiblin Verlag GmbH & Co. KG Reutlingen 1978. Sämtliche Rechte, auch die der Verfilmung, des Vertrags, der Rundfunkund Fernsehübertragung, der Verbreitung durch Kassetten und Schallplatten sowie der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Satz: ensslin-typodienst. Schrift: IBM-Journal. Reproduktion: Grafische Kunstanstalt Willy Berger, Stgt-Feuerbach. Gesamtherstellung: Druck- und Buchbinderei-Werkstätten May & Co. Nachf. Darmstadt. Printed in Germany. ISBN 3-77.090-433-8 4
SINA BERICHTET Der Tag, an dem ich meinen Schulfreund Michael Harms erschlagen habe, war wunderschön. Der Altweibersommer spann silberne Fäden zwischen die Farnkräuter, ein Schwarzspecht, nicht zu verwechseln mit dem Buntspecht – ich habe in der Schule gut aufgepaßt –, hämmerte seinen Schnabel in den Stamm einer Buche, und die schwarze Walderde duftete von dem Regen, der in der Nacht gefallen war. Ich erwähne das, weil ich meine, daß ein solcher Tag am allerwenigsten geeignet ist, einen Menschen zu töten, und weil ich bis zu dem Zeitpunkt, da ich es tat, auch nicht geglaubt habe, daß ich es wirklich tun könnte. Ich habe vielmehr geglaubt, daß ein solcher Tag vor allem geeignet wäre, Michael umzustimmen, weil sich das, was er in seiner Verzweiflung geplant hatte, vor der Heiterkeit eines lichtdurchfluteten Waldes von selbst verbietet. Es sah auch zunächst so aus. Er stieg vom Rad und sagte: »Da bist du ja!«, und er war verlegen. Ich gab ihm die Hand. Wir hatten uns nie mit einem Kuß begrüßt und verabschiedet, auch damals nicht, als wir dick befreundet gewesen waren. Ich hielt es für richtig, ihm die Hand entgegenzustrecken, auch jetzt noch, damit er sah, daß ich seinen dummen Einfall vergessen wollte, wenn er nicht länger die Liebe forderte, die ich ihm nicht geben konnte. Es sah so aus, als ob alles gutgehen würde. Wir gingen, die Räder schiebend, in den Wald hinein und lächelten uns zuweilen an. Am liebsten, das spürte ich, wäre er wieder weggelaufen – aus Angst, zu tun, was er angekündigt hatte. Ich machte ihn auf einen Hasen und reifende Brombeeren aufmerksam, um diesem Waldspaziergang die Natürlichkeit früherer Begegnungen zu geben, die fröhlich, albern und kameradschaftlich verlaufen waren. Meine Versuche, die Stimmung aufzulockern und so zu tun, als sei ich gern und freiwillig gekommen, waren erfolgreich – allerdings nicht so, wie ich es mir gedacht hatte. Michael wertete meine Freundlichkeit als Ermutigung, nicht als Hilfe. Wenn das meine Schuld ist, muß ich mich schuldig bekennen. Ich habe, ich schwöre es, geglaubt, er würde spüren, daß ich ihm nur so gut wie möglich aus dem 5
Zwang, in den er sich hineingesteigert hatte, heraushelfen wollte. Plötzlich aber lag seine Hand auf meiner. Das war keine Berührung des Einverständnisses, das war Zärtlichkeit. Und seine Augen sahen mich mit der Überzeugung an, ich müsse mehr davon erwarten. Mein Gesicht war auf einmal voller Anspannung, voller Konzentration. Wie sollte ich diese zärtliche Geste ertragen, obwohl sich alles in mir gegen diese Berührung sträubte? Ich bog nach links in einen schmalen Pfad ein – die Rettung, denn hier konnten zwei Personen nicht mit Fahrrädern nebeneinander hergehen. Michaels Hand gab meine Hand und meinen Lenker frei. Als sich der Pfad wieder verbreiterte, kam Michael nach vorn und stellte das Rad ab. Mit einer Hilflosigkeit, die jeden Augenblick in bösen Zorn umschlagen konnte, sagte er: »Ich hab’ das fast nicht ertragen… Die ganze Nacht hab’ ich das vor mir gesehen… Du und Fichte… ein Lehrer! Wenn es wenigstens ein Typ gewesen wäre, vor dem man Respekt haben könnte… einer, der so alt ist wie wir – aber ein Lehrer – verheiratet – so ein Scheißvorbild, der uns sagt, was wir zu lernen haben – nee, das ist zu viel für mich, verstehst du? Da kriege ich eine Mordswut!« Ich sagte einfach »Ja«, weil ich Angst hatte. Offensichtlich faßte Michael mein »Ja« jedoch so auf, als könnte ich schon heute nicht mehr verstehen, gestern in den Armen eines »Scheißvorbilds« gelegen zu haben, und als würde ich, um meine Geschmacklosigkeit nachdrücklich vergessen zu machen, schnellstens in seinen Armen liegen wollen. Jetzt, da es zu spät war, begriff ich auch, daß Michael mein Einbiegen in den Seitenpfad falsch aufgefaßt hatte: Hierher verirrte sich kaum ein Spaziergänger – hier wollte er seine Drohung: »Was Fichte kann, das kann ich auch!« wahrmachen, und zwar, wie er glaubte, mit meinem Einverständnis! Nur um seinem Händedruck auszuweichen, hatte ich diesen verschlungenen Pfad eingeschlagen – und er, froh und unbeirrbar in seinem Mißverständnis, glaubte, ich hätte nur eine verschwiegene Stelle für uns gesucht! Er nahm mich am Arm, und ich ging mit ihm. 6
Er blieb stehen und umklammerte mich heftig, und ich ließ es geschehen. Wenn jemand gekommen wäre, hätte ich um Hilfe geschrien. Es kam niemand. Der Schwarzspecht hämmerte. »Ich liebe dich doch«, jammerte er, und es klang wie eine Entschuldigung. Dann sah er mich an, um die Wirkung seiner Worte zu prüfen. Ich bemühte mich, ihn nicht entsetzt anzuschauen, weil ich nach wie vor befürchtete, wenn ich ihm meinen Ekel zeigte, könnte ich ihn völlig enthemmen. So nahm er mein ohnmächtiges Lächeln und meine Atemlosigkeit als Zeichen, gar keine Gewalt anwenden zu müssen. Er wurde plötzlich zärtlich, und es war eine zutiefst unangenehme, läppische Zärtlichkeit, die schon vor der Bluse kapitulierte, weil die Knöpfe so klein und die Finger so groß und plump sind. Plötzlich kniete er sich nieder und sagte bettelnd und mit drohendem Unterton: »Wir vergessen alles, was war, ja? Du liebst mich!« Es kann sein, daß ich alles über mich hätte ergehen lassen, wenn er mich mit seiner körperlichen Überlegenheit dazu gezwungen hätte. Vielleicht hätte ich hinterher nicht umgebracht. Aber ihn habe ich getötet, weil ich seine Zärtlichkeit nicht ertragen konnte, weil er mich mit meinem vollen Einverständnis vergewaltigen wollte. »Wir vergessen alles, was war, ja? Du liebst mich!« Ich habe Michael immer für einen hübschen, gutaussehenden Jungen gehalten, aber jetzt wurde mir klar, daß ein Gesicht, wie immer es ausschaut, zur unerträglichen Fratze werden muß, wenn es Liebe fordert, wo keine ist. Er bat mich, ihn zu küssen, lachte, weil ich es nicht tat, und sagte: »Ich habe immer Angst davor gehabt, wirklich, du! Ist doch blöd, was? Wetten, daß Fichte dich gar nicht erst in den Griff bekommen hätte, wenn ich nicht immer so schüchtern gewesen wäre?« Ich antwortete nicht. Er hob mich auf, legte mich auf den weichen Waldboden und küßte mich, daß mir die Lippen weh taten. Der Specht hämmerte, und ich dachte, das darf doch nicht wahr sein, daß ein Specht hämmert, während ich vergewaltigt werde. Und dann dachte ich: Ich werde ja gar nicht vergewal7
tigt, ich leiste ja keinen Widerstand. Und da wühlte ich den Stein aus dem Waldboden und schlug zu. Das erste, was ich dann empfand, war mein Erstaunen darüber, daß der Specht immer noch hämmerte. Er hämmerte noch, als ich mich ins dornige Gestrüpp warf und auf der Erde wälzte, weil ich befürchtete, die Polizei würde mir nicht abnehmen, vergewaltigt worden zu sein, wenn ich nicht entsprechend aussah. Dann lief ich aus dem Wald hinaus auf einen Acker, wo Bauern arbeiteten, und rief um Hilfe. Die fünf Landarbeiter, die bei der Kartoffelernte waren, hatten einige Mühe, dem Gestammel des Mädchens zu entnehmen, was passiert war. Erst als Sina einen Schluck kalten Tee getrunken und sich beruhigt hatte, konnte sie ihnen sagen, daß ihr Freund Michael Harms im Wald erschlagen worden sei – von einem Mann in grünem Anzug. Dann wurde sie ohnmächtig. Einer der Landarbeiter bettete sie in den Schatten der Landmaschine auf einen Heuhaufen. Ein anderer lief zur Straße vor, hielt einen Autofahrer an und bat ihn, die Polizeistation in Pöstropp zu alarmieren; auch ein Krankenwagen sei erforderlich. Als die beiden Polizeibeamten, die Hauptwachtmeister Weiß und Gregersen, am Waldrand eintrafen, war Sina Wolf wieder zu Bewußtsein gekommen und hatte den Landarbeitern schon eine Beschreibung gegeben, an welcher Stelle der getötete Junge zu finden sei. Nun halfen die Landarbeiter den beiden Polizisten bei der Suche. Einer von ihnen blieb bei Sina zurück; er war freiwilliger Rote-Kreuz-Helfer, versorgte ihre Wunden im Gesicht und an den Beinen und half ihr mit beruhigenden Worten, ihren Schock zu überwinden. Die Landarbeiter Stöh und Jensen entdeckten zunächst die Fahrräder von Sina und Michael und dann, etwa 200 Meter davon entfernt, die Leiche. Michael lag auf dem Rücken. Seine erstarrten Gesichtszüge waren vom Schreck gezeichnet. »Hallo! Hierher!« rief Jensen, und dann kamen die beiden anderen Landarbeiter und die Polizisten. »Mein Gott, das ist ja der junge Harms!« sagte Polizeihauptwachtmeister Weiß. »Treten Sie bitte alle zurück, wir dürfen die Spuren nicht verwischen!« 8
Die Spuren – zumindest die Fußspuren – waren zwar zu diesem Zeitpunkt schon verwischt, aber von nun an verhielten sich die mit Mord und Totschlag nicht gerade oft konfrontierten Kleinstadtpolizisten umsichtig und korrekt. Sina wurde nochmals nach dem geheimnisvollen »Mann im grünen Anzug« befragt. In der Hoffnung, der Täter habe den Wald oder die nähere Umgebung vielleicht noch nicht verlassen, funkte Hauptwachtmeister Gregersen eine detaillierte Beschreibung des Verbrechers an die benachbarten Polizeistationen. 26 Minuten nach der abscheulichen Tat war die Fahndung angelaufen. Weitere 31 Minuten später war die Kriminalpolizei mit Kommissar Finke und seinen Beamten vom Morddezernat am Tatort und nahm die Ermittlungen auf.
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KOMMISSAR FINKE BERICHTET Ich traf mit meinem Kollegen, dem Kriminalmeister Franke, um 16.49 Uhr im Pöstropper Buchenforst ein. Wir hatten uns in dem weitläufigen und unübersichtlichen Waldgelände ein wenig verfahren und dadurch drei oder vier Minuten Zeit verloren. Für die ergebnislose Fahndung nach dem »Mann im grünen Anzug« war dieser Zeitverlust ohne Bedeutung, denn sie war schon vor meinem Eintreffen am Tatort eingeleitet worden. Ich erwähne das, weil einige Zeitungen, um schnell einen Schuldigen zu finden, einen Zusammenhang zwischen unserem verspäteten Eintreffen und der fehlgeschlagenen Suchaktion herstellten. Daß wir den »Mann im grünen Anzug« zu diesem Zeitpunkt in dieser Gegend gar nicht hätten fassen können, weil er nämlich nur von Sina Wolf herbeigelogen worden war, das wissen Sie, der Leser, und Sie haben es von nun an auch leicht, den Kopf zu schütteln, wenn ich glaube, was glaubhaft ist, und das Unglaubliche erst nach einer langen Kette begreiflicher Irrtümer entwirren kann. Ich blickte mich um. Meine Kollegen von der Spurensicherung waren schon bei der Arbeit. Hauptwachtmeister Weiß erstattete mir Meldung: »Der Junge ist erschlagen worden, Herr Kommissar. Er kam seiner Freundin zu Hilfe, als sie von einem Mann in grünem Anzug belästigt wurde. Nach Aussage des Mädchens war er etwa eins siebzig groß, untersetzt und ungefähr vierzig Jahre alt.« Die Zeugin Sina Wolf, zum Tatort zurückgebracht, bestätigte diese Darstellung. Mit Rücksicht auf ihren Zustand – sie hatte einen leichten Schock – stellte ich zunächst nur die allernötigsten Fragen. Danach ergab sich folgender Tathergang: Michael Harms war ein Stück weggegangen, um nach den Fahrrädern zu sehen, als sich der »Mann im grünen Anzug« Sina unmißverständlich näherte, sie zu Boden riß und vergewaltigen wollte. Es kam zu einem kurzen Kampf, in den später der zu Hilfe eilende Michael Harms eingriff. Der Sittlichkeitsverbrecher ergriff einen Stein und schlug Michael damit auf den Kopf. Die Wucht des Schla10
ges war so heftig, daß er – nach Angaben des Polizeiarztes – einen doppelten Schädelbasisbruch und den sofortigen Tod zur Folge hatte. Sina lief auf den angrenzenden Acker und rief Landarbeiter zu Hilfe. Der »Mann im grünen Anzug« entkam. Die Ergebnisse der Spurensicherung entsprachen weitgehend der Darstellung von Sina Wolf. Beispielsweise fanden wir einen kleinen Stoffetzen von Sinas Bluse an einem Dornengestrüpp. Sie war, auf der Flucht vor dem Täter, daran hängengeblieben. Dort, wo sie mit dem »Mann im grünen Anzug« verzweifelt gerungen hatte, war der Boden aufgewühlt. Sinas beschmutzte Kleidung wiederum entsprach dieser Bodenbeschaffenheit. Vor allem aber hatte ich deshalb keinen Zweifel, daß sich alles so zugetragen hatte, wie Sina Wolf es schilderte, weil der »Mann im grünen Anzug« polizeibekannt war. Er hatte im nördlichen Schleswig-Holstein, nahe der dänischen Grenze, in schon acht bekannt gewordenen Fällen Frauen vergewaltigt oder zu vergewaltigen versucht, und er war, trotz intensiver Fahndung, immer wieder untergetaucht. Zwar hatte er in keinem Fall seine Opfer getötet, in zwei Fällen sogar scheinbar einsichtig von ihnen abgelassen, als sie verzweifelt um Schonung flehten, aber dieses veränderte Täterverhalten war möglicherweise einfach darauf zurückzuführen, daß der »Mann im grünen Anzug« bei seinen Taten noch nie gestört worden war. Von Michael Harms gestellt, könnte er in Panik geraten sein und, weil eine Flucht nicht mehr möglich schien, blind zugeschlagen haben. Ich bin zu diesem Zeitpunkt nicht im entferntesten auf den Gedanken gekommen, daß Sina Wolf – aus welchen Gründen auch immer – Michael Harms umgebracht und den »Mann im grünen Anzug«, von dem sie in einer Zeitung gelesen hatte, als Täter vorgeschoben hatte. Nein, also wirklich, ich, Hauptkommissar Finke, Leiter des Zweiten Morddezernats, hatte im Augenblick keinen Grund, der Zeugin Sina Wolf zu mißtrauen. Daß spätere Recherchen mich stutzig machten, ist eine andere Sache. Schauen Sie Sina Wolf doch einmal an! Sieht so eine Mörderin aus? Natürlich weiß ich aus jahrzehntelanger Erfahrung, daß harmlose Menschen wie Mörder aussehen können, die größten Halunken dagegen wie die verkörperte Unschuld. Aber 11
ebensooft sehen Schuldige schuldig und Unschuldige unschuldig aus. Voreilige Schlüsse sind immer gefährlich. Die Spurensicherer hatten ihre Arbeit beendet, die Leiche des Jungen war schon auf eine Trage gehoben worden, als ein Auto in den Wald gefahren kam. Ein Hüne von Mann stieg aus und kam schwerfälligen Schrittes näher. »Das ist Herr Wegener, der Onkel des Jungen«, sagte Ortspolizist Weiß zu Hauptkommissar Finke. »Wir haben ihn informiert. Michael hatte keinen Vater mehr.« »Und auch keine Mutter?« »Na ja, eine Mutter hat er schon, aber sie ist in einem Heim, in einer Trinkerheilanstalt. Sie hat aus Kummer über den Tod ihres Mannes mit dem Trinken angefangen, wissen Sie. Vor ungefähr drei Monaten wurde sie eingeliefert.« Finke ging hinüber zu Wegener, der mit ausdruckslosem Gesicht vor der Leiche seines Neffen stand. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf, blickte ohne Vorwurf zu Sina und schneuzte sich. »Er ist seiner Freundin zu Hilfe gekommen«, sagte Finke. Wegener nickte. »Die Polizei hat es mir schon am Telefon gesagt. Meine Frau ist ausgerechnet heute zu ihrer Schwester nach Hamburg gefahren.« Finke verstand diese Bemerkung nicht ganz. »Meinen Sie, wenn sie das nicht getan hätte, wäre es womöglich nicht passiert?« Nun verstand Wegener den Kommissar nicht. »Wieso denn? Nein. Ich meine nur, meine Frau könnte Ihnen mehr über Micha sagen, die hat ihn gern gehabt.« »Sie nicht?« Wegener schüttelte den Kopf. »Ich konnte eigentlich nichts mit ihm anfangen. Hab’ ihn auch kaum zu Gesicht bekommen. Meine Frau hat sich um ihn gekümmert, weil seine Mutter – na ja, sie trank zuviel, ist seit ein paar Wochen in einem Entziehungsheim.« »Ja, das wissen wir.« »Wir wohnen schräg gegenüber«, fuhr Wegener fort und blickte dabei den toten Jungen an, als ob er nicht vorhanden sei. 12
»Er ist nicht zu uns gezogen. Meine Frau hat sein Zimmer aufgeräumt und für ihn gekocht, das war alles. Mehr wollte er auch nicht. Ich hab’ ein paarmal versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen, aber das ging nicht. Er lief einfach weg. Meine Frau hat gesagt: Er ist eben in diesem Alter! Da hab’ ich es aufgegeben.« Anton Wegener strich mit der großen, von Schwielen bedeckten Hand Sägespäne von seiner blauen Arbeitsjacke und sagte gleichsam entschuldigend: »Ich arbeite im Sägewerk Pöstropp.« »Sie sind wohl nicht besonders ergriffen?« »Doch«, sagte Wegener schwerfällig. Bei ihm schien alles seine Zeit zu brauchen, er konnte Gedanken nur schwer formulieren. Es fiel ihm nicht leicht, sich verständlich zu machen. »Es ist eben so, daß ich ihn nicht gemocht habe. Aber wenn er dem Mädchen zu Hilfe gekommen ist, dann muß er doch wohl ein guter Kerl gewesen sein, oder?« »Ja«, sagte Finke. Und da erst fing der große, schwere Mann an zu weinen. Er schob einen der beiden Polizisten zur Seite und trug mit dem anderen die Bahre zum Unfallwagen, weil das nun seine Sache zu sein schien angesichts der veränderten Lage. Michael war also ein guter Kerl gewesen, nicht nur, wie er immer gedacht hatte, ein Rotzjunge. Wenn man so etwas begriffen hat, muß man auch entsprechend handeln. Er ging sogar zu Sina hin und nickte, was sicher soviel heißen sollte, wie, daß er mit ihr fühlte. Dann stieg er in seinen kleinen Wagen und fuhr ab. Nachdem auch Finke mit seinen Beamten und die Zeugen abgefahren waren, hörte man den Specht wieder hämmern, und es war ganz friedlich im Wald.
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MICHAEL WÜRDE BERICHTEN Ich habe mich mit Sina angefreundet, da waren wir beide dreizehn. Ein Kerl ist ihr an die Zöpfe gegangen, der war aus der Oberstufe und hat gedacht, die kleine Ziege werd’ ich mal ein bißchen ärgern. Ob er mich gar nicht gesehen hat oder ob er gedacht hat, der kommt ihr ja doch nicht zu Hilfe, das weiß ich nicht. Ich hab’ ihm eine gefeuert. Ich war damals, mit dreizehn, schon sehr stark. Dieser Dünnscheißer aus der Oberstufe dagegen war nicht nur schwach auf dem Kasten, sondern auch ein bißchen verrückt. Sonst hätte er nämlich nicht noch mal an den Zöpfen von Sina gezerrt. Ich hab’ ihm einen Zahn ausgeschlagen. Sina sagte: »Danke«, und am nächsten Tag, als ich zum Direktor mußte, hat sie mich verteidigt. Von da ab haben wir uns gegrüßt. Auf dem Schulhof habe ich ihr Äpfel zugesteckt, die ich tags zuvor bei Schindelmann aus den Obstgärten geklaut hatte. Ich habe ihr auch mein zahmes Wildkaninchen gezeigt, das ich mit der Flasche hochgepäppelt habe, ihr den Fahrradschlauch geflickt und Olympiabilder aus den Zigarettenschachteln meines Vaters geschenkt. Der lebte damals noch. Ich habe anderen gesagt, daß ich sie küsse und sie es gern habe, und dadurch bekamen wir Streit. »Warum sagst du anderen, daß ich mich von dir küssen lasse?« fragte sie. Ich habe ihr meine Drachenschnur geschenkt, damit nicht alles aus ist zwischen uns, und ihr beigebracht, wie man vom Fünfmeterturm den Hechtsprung macht, ohne wie irre mit den Beinen zu fuchteln. Da war wieder alles okay. Daß wir zusammenblieben, lag sicher auch daran, daß ich keine richtigen Freunde hatte und sie keine Freundinnen. Das wieder lag bestimmt daran, daß sie so ziemlich die Beste in der Klasse war, ich der Schlechteste. Das führte zu einer Art Solidarität zwischen uns. Sina sagte zu mir: »Mach dir nichts draus, du kannst dafür Kaninchenställe bauen und auf ›Lümmel‹ reiten.« ›Lümmel‹ war ein Ackergaul von Kartoffel-Hinrichs, der sonst keinen an sich ranließ. 14
Ich habe gewettet, daß ich mich rauf getraue, und von dem gewonnenen Geld habe ich für Sina und mich Eis gekauft. Sina hat auch versucht, das Pferd zu besteigen, aber sie hat es nicht geschafft. Ich habe zu ihr gesagt: »Mach dir nichts draus, du kannst dafür prima Englisch, Mathe und Bio.« Auch als mein Vater starb und meine Mutter zu trinken begann, hat Sina zu mir gehalten. Sie hat zu meiner Mutter gesagt: »Sie haben aber schöne Blumen«, auch wenn sie betrunken war. Auf der Straße hat sie sie gegrüßt und nicht wie andere Leute weggeguckt. Sina hat mir auch bei den Schularbeiten geholfen, aber in Deutsch und in den Fremdsprachen hat mir das wenig genützt. Ich wurde einmal nicht versetzt. Ziemlich katastrophal wurde es mit mir dann, als Sina mir nicht mehr helfen konnte, weil sie selbst Nachhilfeunterricht bei Frau Dr. Fichte nahm, um ein gutes Abitur hinzulegen. Das war die Zeit, als wir kaum mehr zusammen badeten oder spazierengingen und sie mir auch auf dem Schulhof oder in der Pausenhalle auswich. Ich war stocksauer, das muß ich sagen, und wenn mich einer aus der Klasse angepflaumt hat, womöglich mit ’nem duften Typ im Arm, da hab’ ich zugelangt. Dadurch wurde es aber auch nicht besser, und Freunde fand ich schon gar nicht. Wenn es jemand in Güte versucht hat, wie die Oberstudienrätin Dr. Fichte, habe ich nur dämlich gegrinst und gelangweilt geguckt. Hätte ich vielleicht sagen sollen: »Ich kann nachts nicht schlafen vor Sehnsucht nach Sina?« Gestern hat’s mir dann aber gereicht. Ich habe Sina am Schultor abgepaßt und gesagt: »Wir waren lange nicht zusammen schwimmen!« Sie hat so einen Rehblick gehabt und geantwortet: »Es geht nicht, Micha, wir haben einfach zu viel auf!« »Ja, ja, klar, wir haben immer zu viel auf. Jeden Tag haben wir zu viel auf, sogar sonnabends und sonntags.« Weil sie einfach wegfahren wollte, hab’ ich ihr in den Lenker gegriffen. Sie hat mich wie einen Feind angesehen. Da hat mir meine Heftigkeit leid getan. »Ist doch einfach blöd, wenn du nie mehr Zeit hast, Sina!« habe ich sehr nett gesagt. 15
Das hat sie auch nicht umgestimmt. »Ich hab’ den Kopf voll mit Mathe und Bio. Ich will nicht warten, bis ich eine Oma bin, ehe ich nach dem Abitur studieren kann.« Und weg war sie. Da kam mir dann zum erstenmal der Gedanke, daß es vielleicht nur eine Ausrede war. Ungefähr eine Stunde hab’ ich mich in der Nähe der Wolfschen Villa versteckt gehalten, dann kam sie mit dem Rad heraus und fuhr weg. Der Gedanke, daß ich sie verfolgen könnte, kann ihr nicht gekommen sein, denn sie hat sich nicht umgedreht, bis zum Wald nicht. Dort ist sie runter vom Rad und zum Schwarzen See gegangen, hat sich auf den Anlegesteg am alten Bootshaus gesetzt und die nackten Füße ins Wasser baumeln lassen. Ziemlich lange hat sie dort gesessen, und es hat eigentlich nicht so ausgesehen, als ob sie auf jemanden wartet, weder auf mich noch auf einen anderen. Ich habe schon gedacht, daß sie vielleicht nur mal ihre Ruhe haben will. Dann hörte ich Autogeräusche und bin im Schilf untergetaucht, weil Sina sofort aufgesprungen und zu dem Wagen gelaufen ist. Zurück zum See kam sie mit Fichte, dem Studienrat, dem Mann von der Frau Oberstudienrätin Dr. Fichte. Sie haben keine Schularbeiten gemacht. Sie haben sich ins Boot gesetzt und sind in eine Bucht gerudert, wo sie meinten, von niemandem gesehen zu werden. Ich habe aber alles gesehen, sogar wie sie sich auszogen. Geredet haben sie kaum was. Gelacht, ja, das haben sie. Ich war nahe daran, den Wagen von Studienrat Fichte in Brand zu stecken oder aber einfach über die beiden herzufallen. Aber ich habe dann nichts von alledem getan. Ich bin nach Hause gefahren, als wäre ich ein anderer Mensch. Einer, der sich selber nicht mehr kennt und die anderen auch nicht. Am Lübecker Tor hat mich Inge Carstens angequatscht. Was denn los sei, wie ich aussehe und so. Ich habe gesagt, der Fichte treibt’s mit Sina, und ich bin zur Wolfschen Villa zurückgefahren und habe auf Sina gewartet, ich weiß nicht, wie lange. Ich habe dagegen angekämpft, daß meine Wut immer größer wurde, aber dadurch hat es erst richtig weh getan. Sina und Fichte! 16
Sina und Fichte!!! Plötzlich war sie da, und ich bin wie ein Tier aus dem Busch gesprungen und habe gefragt: »Hast du deine Schularbeiten gemacht?« Sie hat mich ängstlich angesehen, aber das hat mich nicht weichgemacht. Ich hab’ sie am Arm gepackt, daß ihr vor Schmerz die Tränen in die Augen schossen. »War’s schön? Kommst du nun besser durchs Abitur?« »Du brichst mir den Arm.« »Ja, klar, ich brech’ dir den Arm«, sagte ich und ließ ihn los. »Und nun?« fragte Sina. Sie schien zu hoffen, das sei alles an Strafe gewesen. »Nun gehst du morgen mit mir in den Wald«, sagte ich mit einer Stimme, die nicht meine Stimme war. »Und mit Fichte ist es gelaufen, sonst geh’ ich mal kurz zu Direktor Forkmann rein.« Sina sah mich verwundert an und sagte weinend: »Gut.« Da fürchtete ich, ich könnte zu schnell versöhnt sein durch ihre Angst und Unterwürfigkeit, und ich packte noch mal ihren Arm. »Denk dir aber keine faule Ausrede aus, sonst passiert was.« »Ja.« Da ließ ich sie gehen. Als ich am nächsten Tag im Wald ankam, war sie schon da. Ich hatte große Angst, denn ich hatte noch nie mit einem Mädchen was gehabt. Außerdem merkte ich, daß ich sie, um sie mit Gewalt zu nehmen, viel zu gern hatte. Wenn sie gesagt hätte: »Micha, das mit Fichte ist noch zu frisch, laß uns Zeit, ich will ihn vergessen und dich wieder liebhaben wie früher«, dann wäre ich froh gewesen. Deshalb hab’ ich sie auch nur dann und wann ein bißchen gestreichelt. Meine Meinung war, wenn sie es nicht gern hat, wird sie es sich ja nicht gefallen lassen. Sie hat es sich aber gefallen lassen. Da bin ich dann doch aufs Ganze gegangen. Ich dachte sogar, sie will es, und dann hätte ich ihr alles verziehen, sogar, daß es ein Lehrer war, mit dem sie es gemacht hat. Studienrat Helmut Fichte hatte die Mädchenklasse in zwei Mannschaften zum Korbballspiel aufgeteilt, um die besten Spie17
lerinnen für das Schulsportfest zu ermitteln. Die 8c saß am Spielfeldrand und feuerte immer die Mannschaft an, die gerade im Ballbesitz war und einen Angriff vortrug. Infolge dieser Unparteilichkeit verebbten die jubelnden Schreie kaum eine Sekunde, und Fichte hörte nicht, wie seine Frau ihm vom Turnhalleneingang her etwas zurief. Sie mußte zu ihm hingehen. »Michael Harms ist ermordet worden, Helmut.« Er erhob sich. »Michael Harms? Wieso das denn?« »Die Kriminalpolizei aus Kiel ist in der Schule. Ein Mann hat Sina überfallen, im Buchenforst. Michael wollte ihr zu Hilfe kommen, da hat der Mann ihn erschlagen.« Fichte forderte eine Schülerin auf, die Spielbeobachtung für ihn zu übernehmen, und ging zur Geräteecke hinüber. Er setzte sich auf eine Matte und versuchte, die Nachricht zu verarbeiten. In der zweiten Schulstunde hatte er wegen Michas Deutscharbeit noch ein kurzes Gespräch mit ihm geführt. Der Junge hatte nur einen Schriftsteller auf das Papier geschrieben, der während der Nazizeit Deutschland verlassen hatte, und dieser eine – Theodor Fontäne – war auch noch falsch gewesen. »Fallen dir nicht mehr ein?« hatte Fichte gefragt. »Nein«, hatte Michael geantwortet und ihn angesehen, als wolle er ihm an die Gurgel springen. Nun sollte er ermordet worden sein. Als er Sina im Wald zu Hilfe kam. Fichte starrte seine Frau an. »Und Sina?« »Es geht ihr soweit gut, er hat ihr nichts getan. Nur ein paar Schrammen. Sie ist zu Hause.« Fichte fühlte, wie eine grenzenlose Erleichterung den Schreck über Michas Tod verdrängte. Geistesabwesend hob er den Ball auf, der vor seine Füße gerollt war, und warf ihn aufs Spielfeld zurück. »Ein Mann in grünem Anzug soll der Täter sein«, berichtete Frau Fichte weiter. »Er soll an der Grenze schon mehrere Frauen überfallen haben. Es hat auch in der Zeitung gestanden. Erinnerst du dich?« »Ja… ja, ich glaube… Haben sie ihn gefaßt?«
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Frau Fichte erwiderte etwas, das ihr Mann nicht verstand; es ging in einem ekstatischen Jubelschrei über einen besonders gelungenen Treffer unter. Aber so genau wollte Fichte es eigentlich gar nicht wissen. Ihn beschäftigte die Frage, wieso Sina mit Michael Harms in den Wald gegangen war. Früher, ja, das wußte er wohl, waren Sina und Micha befreundet gewesen – aber diese Freundschaft hatte sie doch wohl beendet, als es zwischen ihm und ihr angefangen hatte!? »Wir müssen ins Konferenzzimmer«, drängte Gisela Fichte. »Die Polizei hat Fragen an den Lehrkörper!« »Ich komme gleich. Sag ihnen, ich bin gleich da!« Gisela Fichte ging, und Fichte unterbrach mit einem scharfen Pfiff das Spiel. In diesem Moment kamen Schüler anderer Klassen in die Turnhalle gerannt und riefen aufgeregt und wichtigtuerisch: »Michael Harms ist ermordet worden! Wir sollen alle nach Hause, Michael Harms ist ermordet worden!« Fichte ging in den Waschraum und schaufelte sich mit den Händen kaltes Wasser ins Gesicht. Ein paar Kinder, die noch nicht wußten, was geschehen war, bespritzten sich übermütig, indem sie den Handballen gegen einen Wasserhahn preßten. Er hatte keine Lust, sie zu informieren, und ging wieder hinaus. Studienrat Fichte war von Natur aus ein ausgeglichener Mensch, der alle Dinge lange und kritisch prüfte, ehe er sich entschließen konnte, sie sich zu Herzen zu nehmen. Aber diesem Tag war er nicht gewachsen. Er hatte schon schlecht begonnen. In der ersten großen Pause war Inge Carstens zu ihm gekommen. »Morgen ist doch Englischarbeit?« hatte sie gefragt. »Ja«, hatte er gesagt. »Machst du dir Hoffnungen?« Die Carstens stand auf einer glatten Sechs. »Ich mache mir große Hoffnungen«, hatte Inge dreist geantwortet. »Ich schreibe eine Vier!« »Wie das denn?« Zu diesem Zeitpunkt hatte ihn das Mädchen noch amüsiert. Sie trat zwar frech auf, aber nicht wie eine Erpresserin. 19
»Weil ich, wenn Sie mir eine Vier geben, auch nichts über Sina und Sie weitermelden werde!« Er war schreckensbleich geworden und hatte gesagt: »Du bist ja verrückt!« Inzwischen wußte er nicht mehr genau, ob nicht er verrückt war. Er hatte sich sofort entschlossen, die Erpressung zu akzeptieren, Sinas wegen und seinetwegen. Inge Carstens war alles zuzutrauen. Aber wieso wußte sie überhaupt von dem Verhältnis zwischen Sina und ihm? Und wieso war Sina, wenn sie ihn liebte, mit Michael Harms im Wald spazierengegangen? Fichte überquerte den Schulhof, hob ein im Wind flatterndes Blatt Papier auf und tat es in den Papierkorb. Im gleichen Augenblick wunderte er sich über sein Verhalten. War das jetzt wichtig? Würde er auch dann noch Papier aufheben, wenn es zu einem Riesenskandal gekommen war? Fichte sah seine Frau und Rektor Forkmann aus dem Schulgebäude kommen und mit einem kleinen, dicken Mann und einem jüngeren, schlanken zu einem Wagen gehen. Der Wagen mit den Fremden fuhr ab. Forkmann ging in die Schule zurück, seine Frau kam auf ihn zu. »Sie haben nicht auf dich gewartet. Sie wissen für heute, was sie wissen wollten.« »Waren das die Polizeibeamten?« »Ja. Nach dem Mann im grünen Anzug wird mit Hochdruck gefahndet.« Sie sah ihn besorgt an. »Nimmt es dich sehr mit?« »Dich nicht?« »Doch… Vor allem stimmt es mich sehr nachdenklich, daß Micha aller Wahrscheinlichkeit nach Sina das Leben gerettet hat. So renitent, wie er sich in letzter Zeit benommen hat, war ich drauf und dran, seinen vorzeitigen Abgang von der Schule zu beantragen. Statt zu lernen war er nur noch frech. Manchmal mußte ich mich beherrschen, um ihm seine leeren Hefte nicht um die Ohren zu hauen, wenn er seine Faulheit frech mit den Worten: ›Ich hatte keinen Bock auf diesen Quatsch!‹ kommentierte! Und nun… nun zeigt sich der wahre Micha… Nun beschämt er uns alle!« Fichte ergriff verblüfft den Arm seiner Frau. »Weinst du jetzt etwa?« 20
»Verstehst du nicht? Er hat Sina das Leben gerettet!« Sie sah ihn an, als würde er nicht begreifen. Aber Fichte begriff: Micha hatte Sina das Leben gerettet. Zumindest hatte er verhindert, daß sie vergewaltigt wurde. Aber wenn Sina gar nicht erst mit Micha in den Wald gegangen wäre, wäre sie auch nicht in Gefahr geraten, vergewaltigt zu werden. Wieso war sie mit Micha in den Wald gegangen? In die Freude, daß sie unversehrt war, mischte sich Mißtrauen. Gewaltsam unterdrückte er seinen Wunsch, Sina zu besuchen. Womöglich war die Polizei bei Sina und würde fragen: »Was wollen Sie denn hier?« »Willst du nicht fahren?« fragte seine Frau. Er hatte sich auf den Beifahrersitz gesetzt, rutschte nach nebenan und machte ihr Platz, zündete den Motor und startete. Er fuhr langsam durch den Kleinstadtverkehr, als befürchte er, einen Unfall zu verursachen. Hinter ihm hupte jemand, der nicht überholen konnte. Als er dann doch überholte, zeigte er Fichte einen Vogel. Fichte bemerkte es nicht einmal.
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FICHTE BERICHTET Ich will mich nicht besser machen, als ich bin, aber ich habe Sina wirklich nicht verführt. Als ich noch in Hamburg unterrichtete, hat eine liebestolle Schülerin versucht, mir was anzuhängen, weil ich es konsequent übersehen habe, wenn sie provozierend den Rock hochzog, wenn sie unter einem lächerlichen Vorwand nach dem Sport in meine Umkleidekabine kam oder mir schmachtende Liebesbriefe ins Arbeitsheft schmuggelte. Aus Rache war sie schließlich zum Schulleiter gegangen und hatte dreist erklärt, ich hätte mich ihr bei einem Schulausflug »unsittlich genähert«. Sie brachte dafür eine Zeugin ins Spiel, ihre beste Freundin. Diese Freundin bekam es mit der Angst zu tun, als der Schulrat sie eindringlich zur Wahrheit ermahnte, und hatte dann plötzlich gar nichts Unsittliches mehr bemerkt. Trotzdem wurde ich – welch Zufall – zu Beginn des neuen Schuljahres nach Pöstropp versetzt. In Pöstropp lernte ich meine spätere Frau kennen und lieben, so daß die »Strafversetzung« für mich zum Glücksfall wurde. Was die Schülerinnen der höheren Klassen anging, war ich trotzdem fortan auf der Hut. Schließlich war es keine große Leistung von mir gewesen, der liebestollen kleinen Hamburgerin widerstanden zu haben. Sie war reizlos, albern und fad gewesen. Bei manchen anderen Mädchen mußte ich Abwehrkräfte mobilisieren. Das klingt nun wieder so, als wäre ich ständig gefährdet. In Wirklichkeit fällt es mir leicht, diese oder jene Zuneigung auf Distanz zu halten, ohne deshalb meine Schülerinnen wie Lernmaschinen zu behandeln. Sie wollen bestätigt sein. Es kommt dabei nur auf die Gerechtigkeit an. So habe ich bei Klassenfeiern oder Klassenreisen auch mit denen gelacht und gescherzt, die ich als Mann überhaupt nicht anziehend fand. Das hat zu meiner großen Beliebtheit geführt – natürlich nicht bei allen; es gibt ja Schüler, die die Schule einfach für eine Zumutung halten, und für die ist dann auch der Lehrer eine Zumutung. Die Mehrzahl aber war mir kameradschaftlich zugetan, und es gab nie Probleme. Dafür nur ein Beispiel: 22
Nach einem Handballspiel wurde Christa Bungert im Mädchen-Duschraum ohnmächtig. Ich wurde zu Hilfe gerufen. Viele Mädchen waren nackt oder halbnackt, und nachdem Christa wieder bei Bewußtsein war, standen wir alle erleichtert um sie herum. Es war einfach ganz normal. Niemand bedeckte kindisch seine Blöße, niemand glaubte, die Situation »retten« zu müssen, niemand hatte anschließend Verhaltensstörungen. Die Liebe zwischen Sina und mir – oder, wie es strafrechtlich heißt: meine »Unzucht mit einer Abhängigen« – begann durch einen kleinen, weißen Tischtennisball. Er war in ein Blumenbeet gesprungen. Nach dem Nachhilfeunterricht in Mathe, den Sina bei meiner Frau nahm, spielten wir öfter miteinander. Ich muß überhaupt darauf hinweisen, daß Sina anfangs hauptsächlich mit meiner Frau befreundet war. Sie mochten sich von Anfang an. Ich kam gewissermaßen nur als Außenstehender hinzu – beispielsweise als gelegentlicher Tischtennispartner. Nach dem Ball, der im Beet lag, griff sie von der einen, ich von der anderen Seite. Wir hatten den Ball, und ihre Hand lag in meiner. Wir sahen uns an. »Können wir uns entkommen?« lautete die Frage. Die Antwort war eindeutig. Der Wunsch, einmal miteinander allein zu sein, ging von Sina, nicht von mir aus. Ich will mich damit nicht rechtfertigen – ich hätte ja ablehnen können. Aber ich sagte nicht nein und traf mich mit ihr am Bootshaus, um ihr meine Zuneigung zu versichern und ihr gleichzeitig mitzuteilen, daß ich meine Frau liebe. Sina erwiderte: »Ich liebe deine Frau auch!« Das hat mich natürlich entwaffnet, zumal es offensichtlich nicht gelogen war. »Ich kann auch verstehen, daß sie dich liebt, denn ich liebe dich auch!« fügte sie in aller Unschuld hinzu. Gegen diese Einfachheit hatte ich plötzlich keine Argumente mehr. Wir lagen uns in den Armen und küßten uns. Vor eine Entscheidung habe ich mich weder an diesem Tag noch später gestellt gefühlt. Daß ich in Zukunft entweder auf Sina oder meine Frau hätte verzichten sollen, wäre mir ungefähr so unsinnig vorgekommen, wie wenn ich abends nicht ein Glas schönen, alten Wein würde trinken dürfen, nur weil ich mittags einen frischen Apfel gegessen habe. Meine Haltung wurde dadurch 23
erleichtert, daß Sina keine Bedingungen stellte. An die Zukunft schien sie nicht zu denken. Natürlich waren Verstellungspraktiken erforderlich – in der Schule zum Beispiel. Ich war betont unpersönlich Sina gegenüber, um jedem Verdacht vorzubeugen. Dagegen hielt ich es nicht für angebracht, meiner Frau gegenüber Sina gar nicht mehr zu erwähnen, denn so viel Gleichgültigkeit hätte Gisela erst richtig nachdenklich gemacht. Zum letzten Mal habe ich mich mit Sina gestern getroffen – am Schwarzen See. Ich habe gesagt: »Glücklichsein beginnt immer ein wenig über der Erde.« Sina sah mich an, als hätte ich sie eben erst auf diese Erde zurückgeholt. »Das ist ein Vers von Karl Krolow«, erklärte ich, »eine Klassenarbeit für die 11a morgen.« »So ein Vers ist aber nichts für die Schule«, erwiderte sie ernst. Ich kam nicht gleich dazu, über ihre Antwort nachzudenken; zwei Teichhühnchen auf dem See, durch irgend etwas aufgeschreckt, lenkten mich ab. Inzwischen weiß ich, daß sie recht hatte. Schule – das ist Verantwortung. Schule – das ist Pflicht. Schule – das ist Disziplin. Schule ist nie und nimmer etwas, das ein Stück über der Erde beginnt. Die Aufsätze waren dann auch danach. Astronauten wurden von den Schülern für das Glück über der Erde bemüht. Den meisten fiel dazu gar nichts ein. Das Schönste ist Sina eingefallen – eben, daß das kein Vers für die Schule ist. Sie ist für ihre siebzehn Jahre sehr klug und einfühlsam. Wenn jemand zu mir sagte: Mein Herr, Sie sind doppelt so alt!, könnte ich nur zurückfragen: Na und? Welche Bedeutung hat denn das Alter? Eher halte ich es für unbegreiflich, daß Sina mit dem gleichaltrigen Michael Harms im Wald gewesen ist. Oder sollte sie sich mit Micha ebenso heimlich getroffen haben wie mit mir? 24
Hauptkommissar Finke stellte Überlegungen an, die denen Fichtes nicht unähnlich waren. Etliche Schüler, von ihm befragt, erklärten, daß Sina und Michael zwar lange Zeit »miteinander gegangen« seien, aber in den letzten Monaten nicht mehr. Sina schwächte diese Darstellung ab. Natürlich hätten sie nicht mehr so viel Zeit miteinander verbracht wie früher, aber darunter hätte ihre Freundschaft kaum gelitten. Kommissar Finke hakte nicht weiter nach. Es war letzten Endes ohne Bedeutung für die Ergreifung des Mörders im grünen Anzug, mit welchen zeitlichen Unterbrechungen Sina und Micha befreundet gewesen waren. Finke saß mit seinem Mitarbeiter Paul Franke im ›Weißen Hirsch‹ und aß ein Kotelett mit Salzkartoffeln und grünen Erbsen. Das Kotelett war zäh, kaum zu schneiden, und Finke ärgerte sich, nicht die Rindsrouladen gewählt zu haben, die Franke mit großem Appetit aß. Sie kosteten allerdings zwölf Mark achtzig, und zehn Mark sah die Spesenabrechnung nur vor. Finke hatte keine Lust, immer zuzusetzen, wenn er dienstlich unterwegs war. Schlimm genug, daß jeder Beleg aufgehoben, der Rechnungsstelle vorgelegt und begründet werden mußte. Wenn er – der Schnelligkeit wegen – einmal von einer öffentlichen Telefonzelle aus die Kripo in Flensburg anrief, konnte er das gleich aus der eigenen Tasche zahlen. Ohne Beleg gab es keinen Pfennig zurück. Dabei verdiente er mit seinen 56 Jahren ungefähr so viel wie ein Mann von der Müllabfuhr, der Tonnen an den Straßenrand rollt. »Hat das Gespräch mit dem Mädchen noch etwas ergeben?« fragte Franke und zerdrückte eine Kartoffel in der Soße. »Nichts Besonderes«, antwortete Finke und zersägte mühsam sein Kotelett. »Sie hat das alles verhältnismäßig gut verkraftet. Auch der Hausarzt, der gerade da war, bewunderte ihre seelische Stabilität.« »Trotzdem sieht es so aus, als sei das für Sie keine ausreichende Erklärung.« »Ach, doch.« Finke schob den Teller zur Seite, wischte sich den Mund ab und nahm einen kräftigen Schluck Bier. »Was ich so von den Lehrern in der Schule gehört habe, entspricht mei25
nem eigenen Urteil über Sina. Nachdenklich macht mich etwas ganz anderes.« »Und was ist das?« »Über ein Jahr lang treibt sich der Mann im grünen Anzug oben im Grenzgebiet herum. Alle Überfälle finden in einem Umkreis von höchstens zwanzig Kilometern statt – und plötzlich verschlägt es ihn nach hier unten.« »Dafür gibt es Gründe. Vielleicht ist ihm der Boden dort zu heiß geworden.« »Kann sein… Es muß sogar so sein, denn Sina Wolfs Täterbeschreibung ist exakt. Na ja, wir werden ja sehen. Bekanntlich sind Triebtäter nicht ohne weiteres in der Lage, ihr Verhalten zu ändern. Vielleicht geht er wieder auf Jagd, und wir haben ihn schneller, als wir denken. Überall in der Umgebung gehen einsame Polizistinnen in Zivil spazieren, füttern Eichhörnchen und Vögel und warten darauf, von ihm angefallen zu werden.« »Mich wundert nur, daß er nicht mit ihm fertiggeworden ist«, murmelte Franke. »Wer mit wem?« Franke stopfte sich ein Salatblatt in den Mund. »Michael Harms mit dem Mann im grünen Anzug.« »Das wundert Sie?« »Ja«, sagte Franke und kaute. »Sie meinen, weil Michael Harms einsdreiundachtzig groß und stark, der Mann im grünen Anzug wesentlich kleiner und schwächer ist?« »Ja.« »Der Täter hatte einen Stein.« »Ich weiß. Ich meine ja auch nur so. Wenn der Michael den Mann im grünen Anzug erschlagen hätte, hätte es mich weniger gewundert. Der Junge galt als ziemlich aggressiv und war wegen seiner Brutalität manchmal sogar gefürchtet.« »Ach nee.« Finke setzte das Bierglas wieder ab. »Die Leute, die ich gefragt habe, haben ihn als recht verträglich geschildert.« »Unter dem Eindruck seiner Heldentat. Natürlich. Und der Polizei gegenüber. Ich hab’ mich auf dem Markt und auf dem Bahnhofsvorplatz mal zwanglos unter die Leute gemischt und 26
meine Ohren offengehalten. Da hört man dann auch mal was anderes.« Franke sah Finke stolz an. »Na schön. Und können Sie mir nun auch sagen, wieso dieser wegen seiner Brutalität angeblich gefürchtete Michael Harms von einem kleinen, schmächtigen Mann so ohne weiteres totgeschlagen wurde?« »Nein«, antwortete Franke kleinlaut. »Ist vielleicht auch nicht wichtig. Für uns ist die Sache ja gelaufen. Täter erkannt, Fahndung aufgenommen, Ermittlungen eingestellt.« »Irrtum«, sagte Finke. »Wir bleiben bis zur Beerdigung.« »Und warum das?« »Ich habe so ein Gefühl.« »Ein Gefühl?« Franke schien die letzte Kartoffel im Hals steckenzubleiben. »Ja.« »Entschuldigung. Wenn ich mal ein Gefühl habe und ihm nachgeben möchte, kommen Sie sofort und sagen: Fakten zählen, nicht Gefühle!« »Ja, das weiß ich.« »Und bei Ihnen ist das etwas anderes?« »Ja.« »Wieso?« »Meine Instinkte haben sich in vierundzwanzig Dienstjahren herangebildet. Das ist nicht zu vergleichen mit einem jungen Beamten, der mal eben eine fixe Idee hat und sich nur wichtigmachen will.« »O wei. Das hätte jetzt nicht kommen dürfen. Sie sind ja ein ganz autoritärer Typ!« »Natürlich.« »Würden Sie mir dann im Sinn einer gedeihlichen Zusammenarbeit wenigstens erklären, in welche Richtung das Gefühl geht, das Sie haben?« »Gern. Michael Harms galt als aggressiv und brutal.« »Aber… aber… das habe ich doch in Erfahrung gebracht!« »Sicher. Aber dann haben Sie gesagt: Für uns ist die Sache ja gelaufen! – Merken Sie sich: Eine Sache ist nie gelaufen, wenn solche Widersprüche auftauchen. Da muß man dranbleiben und weitere Ungereimtheiten aufspüren.« 27
»Jawohl, Herr Hauptkommissar.« Finke grinste. Dann wurde ein dickes, gemütliches Lachen daraus, und Franke lachte mit. Sie verstanden sich bestens. Kleine Sticheleien waren nur eine Art Beweis für die Harmonie, die zwischen ihnen herrschte. Daß sie mit ihrem vielbelästerten Gefühl schon viel weiter hätten sein können, wenn eine Schülerin nicht nur ihren Vorteil im Auge gehabt hätte, konnten sie nicht ahnen.
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INGE CARSTENS BERICHTET Ja, welchen Vorteil soll ich denn im Auge haben, wenn nicht meinen eigenen? Als Micha mit dem Rad aus dem Wald kam und mir verstört erzählte, daß es der Fichte mit Sina treibt, da war mein erster Gedanke: Das kann meine Rettung sein, da kann ich meinen Notendurchschnitt verbessern! Um damit nicht auf die Nase zu fallen – es hätte ja sein können, daß Micha spinnt –, habe ich mich eine ganze Weile bei der Scheune verborgen gehalten, dort, wo der Zufahrtsweg in den Wald führt. Erst kam das Auto mit Fichte am Steuer, fünf Minuten später Sina mit dem Fahrrad. Da wußte ich es dann ziemlich genau. Ich habe meine Freundin Katrin Schulte eingeweiht, die wie ich in Mathe und Englisch auf einer Sechs steht und zu Hause auch nichts Gutes zu erwarten hat, wenn es mit dem Abi nicht hinhaut. Ihr Vater und mein Vater sind nämlich dicke Freunde, und sie haben beschlossen: Wenn wir bestehen, bekommt jede ein Auto geschenkt, wenn nicht, geht es statt dessen auf ein Internat mit ziemlich vorgestrigen Lernmethoden. Wir hatten also gar keine andere Wahl, wir mußten es tun. Fichte hat einen ziemlichen Schreck gekriegt, als ich rundheraus gesagt habe, was ich will. Er meinte, das sei Erpressung. Ich würde das nicht so nennen. Erpressung ist das, was mein Vater macht. Ich habe es Fichte auch gesagt. Er behauptete schwach, es würde doch auffallen und völlig unglaubhaft sein, wenn ich plötzlich mit einer guten Note in Englisch dastehe. Ich habe ihn beruhigt und gesagt, ein paar Fehler werde ich natürlich trotzdem machen, weil es genügt, wenn ich eine Vier schreibe. Am nächsten Morgen hat er mir einen Zettel mit den wichtigsten Lösungen der Englischarbeit zugesteckt. Meine Freundin Katrin war ängstlich, als wir bei der Arbeit einfach von Fichtes Zettel abschrieben. Sie ist leicht naiv. Sie begreift nicht, in welcher Klemme Fichte steckt und daß er uns nicht einfach einen Spickzettel wegnehmen kann, den er selbst geschrieben hat. Es ging ja dann auch alles gut. 29
Als ich hörte, daß Michael Harms ermordet worden ist, wurde mir natürlich ein bißchen anders. Mir gingen allerlei Gedanken durch den Kopf. Zum Beispiel der: Wenn Michael den Fichte mit Sina am Schwarzen See gesehen hatte, konnte es dann nicht sein, daß er die beiden am nächsten Tag wieder beobachtet und eine Riesenwut gekriegt hatte? Daß er über Fichte und Sina hergefallen war? Und daß Fichte Michael in Gegenwehr erschlagen hatte? Wieso sollte denn Sina mit Micha in den Wald gegangen sein, wenn sie am Tag vorher noch mit Fichte am See gelegen hatte? Ich habe für diese arrogante Ziege zwar nicht die geringste Sympathie; sie wackelt mit dem Hintern wie ein Möchtegernmannequin und blickt auf alle gelangweilt herab, die in der Penne nicht so gut sind wie sie. Aber daß sie es heute mit Fichte und morgen mit Micha treibt, das halte ich für ausgeschlossen. So eine ist die Sina nicht. Katrin meinte, nachdem das nun passiert ist, der Mord also, könnten wir das mit den Zeugnissen nicht mehr machen. Wir müßten der Polizei melden, daß Michael am Tag vor seiner Ermordung Fichte und Sina am See beobachtet hat, aber das habe ich ihr ganz schnell ausgeredet. Es wäre zwar echt eine Wucht, wenn Fichte verhaftet oder von der Schule verwiesen würde und Sina als Lehrerflittchen dastünde, aber viel wichtiger als der ganze Kram ist mir mein Zeugnis. Mit Englisch ist es nämlich noch nicht getan. Katrin und ich müssen auch in Mathe mindestens auf einer Vier stehen, weil wir keine so guten Noten in anderen Fächern haben, um die miesen ausgleichen zu können. Ich habe mir das eben noch mal genau durchgerechnet. Allerdings haben wir Mathe nicht bei Studienrat Fichte, sondern bei seiner Frau. Die kann ja nicht daran interessiert sein, daß ihr Mann von der Schule fliegt. Ich finde, da müßte sich etwas machen lassen. Heute war Sina schon wieder in der Schule. Wir haben alle gedacht, von solch einem Schock müsse sie sich erst einmal ein paar Tage erholen. Aber nein, die ist so eine Streberin, daß sie beim Mündlichen in Geschichte schon wieder die besten Antworten gegeben und zum Beispiel gewußt hat, auf welche In30
seln Napoleon verbannt wurde. Der Oberstudienrat war ganz gerührt. In der Pause haben sich alle über die Morgenzeitungen gestürzt, außer Sina. Die ist so eingebildet, daß es sie nicht mal interessiert, was über den Mord an Michael berichtet wird. Wenn man der Zeitung glauben darf, soll Sina gesagt haben; »Micha hat mich vor dem Schlimmsten bewahrt!« Da möchte ich fast kichern, wenn ich bedenke, daß die selbe Sina am Tag vorher mit Fichte am See gewesen ist. Ich blicke den Fichte so an, daß er genau weiß, was ich von diesem fiesen Spiel halte. Leider gelingt es mir nicht, ihn richtig verächtlich anzuschauen, weil ich seit langem eine Schwäche für ihn habe und oft denke, so müßte der Mann aussehen, den ich mal heirate. Trotzdem habe ich Katrin eine geklebt, als sie sagte, ich sei vielleicht nur eifersüchtig. Ich finde, meine Gefühle gehen niemanden was an, auch nicht, wenn sie mich so peinigen, daß ich verrückt werde bei dem Gedanken, daß Fichte und Sina sich vielleicht jetzt noch heimlich treffen und es miteinander machen. Aber schließlich siegt dann bei mir die Vernunft, ich denke an meine Noten und lasse die Polizei im Dunkeln tappen. Es genügt, wenn ich weiß, daß die ganze Sache mehr als faul ist. Frau Lisbeth Wolf, Sinas Mutter, kam nicht im entferntesten auf den Gedanken, daß an der tragischen Sache etwas faul sein könnte. Für sie bestand kein Anlaß, mißtrauisch zu sein. Das Verhältnis zwischen Sina und ihren Eltern war beispielhaft dafür, wie sich durch Vertrauen und Gesprächsbereitschaft, Toleranz und Verständnis ein konfliktfreies Klima schaffen läßt. Sie saßen auf der Terrasse und aßen zu Mittag. »War es schlimm in der Schule?« fragte ihre Mutter. Sina, aus ihren Gedanken gerissen, schüttelte den Kopf. »Keine aufdringlichen Fragen?« »Nein. Ich hab’ gleich so ein Gesicht aufgesetzt, daß niemand Lust hatte, mich anzusprechen.« Sie blickte zum See hinüber. Die Segelboote lagen heute günstig im Wind. »Hast du Papa beruhigt?« Ihre Mutter mußte lachen. »Du bist schon einmalig, Sina! Papi telegrafiert verzweifelt aus London, ich solle dich beruhigen, 31
und du fragst, ob ich ihn beruhigt habe! Ja, ich habe ihn beruhigt. Er fliegt morgen zurück und bringt dir bestimmt einen ganzen Koffer voll Blusen mit.« »Das ist klasse.« Frau Wolf ergriff Sinas Hände. »Du bist sehr erschüttert, nicht wahr? Du nimmst dich nur zusammen?« »Ja.« »Hast du ihn eigentlich sehr gemocht, den Micha?« Sina schaute verwundert auf. »Nein. Das weißt du doch. Es war reine Kameradschaft.« »Ja, ja, sicher, das hast du mir gesagt, aber es hätte ja sein können, daß es sich in letzter Zeit geändert hat. Ich meine, weil du in letzter Zeit kaum noch mit ihm zusammen warst und dann plötzlich wieder mit ihm spazierengehst!« Sina sah ihre Mutter an, als strenge es sie sehr an, sie zu verstehen. »Sei mir nicht böse, ich will es dir mit meinen Fragen nicht schwerer machen, als es schon ist. Vielleicht ist es ein Glück, daß du Micha nicht geliebt hast. Sonst wäre es jetzt, wo er das für dich getan hat…« »Ich weiß, was du meinst, Mama, dann wäre es schwer für mich, ihn verloren zu haben«, unterbrach Sina. »Ja, das meine ich.« Sina blickte wieder zu den Segelbooten hinüber und träumte. Ihre Mutter ging in die Küche und brachte Eis. Sina aß es mit Appetit. Wenn sie früher je in der Lage gewesen wäre, sich vorzustellen, daß sie einen Menschen umgebracht hätte, dann hätte sie es sicher nicht für möglich gehalten, zwei Tage später auf der Terrasse zu sitzen, den Booten zuzuschauen und Eis zu essen. Sie hätte geschworen, nachts nicht mehr schlafen oder nach dem Aufstehen nicht vom Fenster aus gelassen auf die Blumen im Garten schauen zu können. Nun konnte sie das nach wie vor. Nur eines konnte sie nicht: Mit vollem Bewußtsein an das glauben, was sie getan hatte. Sie glaubte an den Mann im grünen Anzug! Von dem Augenblick an, wo sie es dem Kommissar geschildert hatte, war es so geschehen und nicht anders. Auch daß Michael ihr zu Hilfe ge32
kommen und deshalb getötet worden war, gefiel ihr besser als die Wahrheit. Sie pflegte die Lüge und behütete sie vor ihren eigenen Angriffen. Mit der Zeit erreichte sie darin eine so große Übung, daß sie es für selbstverständlich hielt, wenn von Micha als dem »Helden von Pöstropp« gesprochen wurde. Sie wußte es zwar besser, aber es machte ihr nichts aus. »Hat dich die Polizei sehr gequält?« Sina hatte ihrer Mutter erzählt, daß sie in der Schule wieder vernommen worden war. »Nein, gar nicht.« »Vater will den Angehörigen von Micha, vor allem seiner armen Mutter, finanziell so diskret wie möglich unter die Arme greifen. Natürlich ist ein Menschenleben unbezahlbar, aber wo Mangel ist, lindert Geld vielleicht doch Leid.« Sina stand auf und nickte. Sie mußte gehen. Sie hatte Helmut Fichte in der Pause gefragt, ob er gegen 16 Uhr zu dem stillgelegten alten Bauernhof an der Weidenkoppel kommen könne, und er hatte zugesagt. »Gehst du weg?« »Ja. Ich fahre ein Stück mit dem Rad.« Das Bewußtsein, Helmut Fichte zu treffen, ließ ihr Herz plötzlich heftiger schlagen. Sie schaute in die Mülltonne vor dem Eingang und empfand noch mehr Lebensfreude. Die Tonnen waren entleert, die Zeitungsberichte über den Mann im grünen Anzug waren weg. Als die Kriminalpolizei nach Pöstropp gekommen war, hatte Sina Angst bekommen, die Beamten würden in der Mülltonne wühlen, die Zeitungsausschnitte finden und sie fragen: »Haben Sie nicht schon vor der Tat beschlossen, den Mann im grünen Anzug als Mörder vorzuschieben?« Sie war drauf und dran gewesen, die Illustrierten wieder aus der Mülltonne zu holen und irgendwo zu verbrennen. Dann hatte sie befürchtet, dadurch noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen, und sie hatte einfach nur noch anderen, weniger verräterischen Müll über die Zeitungen gestopft und gehofft, daß alles gutgehen würde. Nun war es gutgegangen. Nicht einmal Frau Dr. Fichte, der sie schon vor Monaten anvertraut hatte, daß 33
zwischen ihr und Micha alles zu Ende sei, war angesichts der Tatsache, daß sie sich wieder mit ihm im Wald getroffen hatte, skeptisch geworden. Frau Fichte hatte ihre Hände genommen und freundschaftlich gesagt: »Ich hoffe, du kannst diesen schrecklichen Vorfall verkraften!« Es hatte ihr gutgetan. Sie empfand eine starke Zuneigung für diese schöne Frau mit den klugen Augen, und sie liebte ihre stille Art, auf Menschen verständnisvoll einzugehen. Sina sah nicht ein, daß sie sie weniger mögen sollte, nur weil sie zufällig mit dem Mann verheiratet war, den auch sie liebte.
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FRAU DR. FICHTE BERICHTET Es stimmt, daß ich zu diesem Zeitpunkt ohne jeden Argwohn gewesen bin. Warum hätte ich mir den Kopf darüber zerbrechen sollen, daß die Freundschaft zwischen jungen Menschen manchmal Pausen einlegt, daß sich Getrenntes, aus welchen Gründen auch immer, wieder findet? Ich habe deshalb auch dem Kommissar erklärt, daß die Wahrheitsliebe Sinas über jeden Zweifel erhaben ist. Was Michael Harms angeht, so sind wohl wir alle, Schüler und Lehrer, einem Vorurteil zum Opfer gefallen. Ich schließe mich da nicht aus. Weil er ein aufbrausendes Wesen hatte und seine mangelnde Lernfähigkeit gern hinter provozierenden Frechheiten versteckte, sprachen wir ihm alle positiven Eigenschaften einfach ab. Von den Schwierigkeiten im Elternhaus haben zwar auch wir, die Lehrer, gewußt, aber in unser Verständnis für Micha ist dieses Wissen nicht eingeflossen. Natürlich, der Schreck und die Trauer sind zu groß, als daß wir das nun ohne weiteres in einen Lernprozeß umwandeln könnten. Ich habe das auch vor der versammelten Klasse gesagt. Ich habe gesagt, vielleicht passiert uns das irgendwann wieder einmal, daß wir jemanden ablehnen, weil er grimmig schaut oder sich nicht anpaßt. Dann sollten wir an Michael Harms denken und an seine Bereitschaft, das Leben eines anderen mit seinem Leben zu schützen. Daß mein Mann ziemlich verstört auf die tragischen Vorkommnisse reagierte, mußte ich für normal halten. Sina ging in unserem Haus fast wie eine Freundin ein und aus. Daß sie es in den letzten Wochen nicht mehr tat, führte ich auf die simple Tatsache zurück, daß sie sich wieder Michael Harms angeschlossen hatte, und nicht etwa darauf, daß sie ein schlechtes Gewissen hatte. Kein einziger Umstand sprach dafür, daß sich die Geschehnisse im Wald anders abgespielt haben könnten, als Sina sie geschildert hatte. Wenn es überhaupt etwas gab, was mich verwunderte, so waren es die sonderbar frechen Blicke, die Inge Carstens mir gele35
gentlich zuwarf. Aber einen Zusammenhang mit dem Mord an Michael Harms konnte ich deshalb noch längst nicht erkennen. Wenn mir jemand gesagt hätte, die Dinge könnten sich einmal so entwickeln, daß mein Mann in Verdacht käme, Michael Harms umgebracht zu haben, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Daß die Kriminalisten aus Kiel noch immer in Pöstropp sind und daß in dieser kleinen Stadt die wildesten Gerüchte kursieren, kann mich nicht im geringsten irritieren. Ich habe im Augenblick auch ganz andere Sorgen. Direktor Forkmann hat mich beauftragt, eine Rede zu entwerfen, die am Grab von Michael Harms gehalten werden soll. Helmut ist mit dem Wagen nach Kiel gefahren, um einige Besorgungen zu machen. Ich werde die zwei, drei Stunden seiner Abwesenheit benutzen, um einen ehrlichen und nachdenklichen Nachruf für Michael Harms zu formulieren. Studienrat Helmut Fichte ist nicht nach Kiel gefahren. Er ist zu dem stillgelegten Bauernhof an der Weidenkoppel gefahren, um sich mit Sina zu treffen. Sie ist noch nicht da. Ab und zu blickt er angestrengt über das Meer der wogenden Rapshalme, das sich bis zur Straße hin ausdehnt, um sie schon von weitem kommen zu sehen, aber seine Ungeduld ist nicht berechtigt. Er ist zehn Minuten zu früh am Treffpunkt. Als wolle er sich selbst beweisen, frei von Anspannung zu sein, kickt er mit der Schuhspitze Steine in den Wassertümpel, konzentriert sich ganz darauf, ein Stück schwimmendes Holz zu treffen. Er trifft und hält das für ein gutes Zeichen. Er ist ein bißchen abergläubisch, und so bekämpft er gelegentlich seine Unsicherheit und seine unbewußten Ängste mit allerlei albernen Spielchen. Als Sina herangeradelt kommt, hat er wieder so ein irres Glücksgefühl im Hals und alles vergessen, was er ihr sagen wollte. Sie läßt das Rad einfach umkippen und fällt ihm wie erlöst um den Hals. »Ich habe mich so nach dir gesehnt«, sagt sie. Er streichelt sie. Sie weint. 36
»Na, na«, sagt er und hat alle Mühe, sich nicht väterlich vorzukommen. »Wartest du schon lange?« »Nein.« »Komm, wir gehen zum Hügel hoch.« Sie gehen Hand in Hand und setzen sich auf den Stamm einer gefällten Buche. Weiße Wolken zeichnen Pudel, den afrikanischen Kontinent und einen löcherigen Wintermantel vor das Blau des Himmels. Erneut wundert er sich darüber, daß es fast keine Wolke gibt, die nicht irgendeinem bekannten Gebilde ähnelt. Da fühlt er Sinas Blick, und er schaut sie an. Mit den Pflastern an Kinn und Wange sieht sie unfreiwillig komisch aus. Er muß sich ins Bewußtsein rufen, daß es die Spuren einer versuchten Vergewaltigung sind. Eine spaßige Bemerkung wäre jetzt wirklich deplaziert. Die spaßige Bemerkung macht sie selbst. »Ich sehe aus wie eine Werbung für Heftpflaster, nicht wahr?« »Es wird wieder heilen.« »Natürlich«, sagt sie ernst, und dann küßt sie ihn. Dieser spontane Gefühlsausbruch verwirrt ihn. Immerhin war sie vorgestern noch mit Michael im Wald gewesen. Will sie das schreckliche Geschehen mit keinem Wort erwähnen? Hat sie das etwa alles schon verarbeitet? Er macht sich fast gewaltsam frei. Und dann gelingt es ihm tatsächlich, in der richtigen, sanften Tonlage den Satz aufzusagen, den er für dieses Treffen vorbereitet hat: »Kannst du verstehen, daß es für mich nicht ganz einfach ist, einem Jungen dankbar sein zu müssen, der mir nicht besonders sympathisch war?« Das versteht sie. Sie nickt. Aber ihrem Gesichtsausdruck ist anzumerken, daß es ihr vorkommt, als spräche er von Dingen, die sich vor vielen Jahren ereignet haben und die ihr nur mit Mühe wieder einfallen. Er spinnt den Gedanken weiter. »Gut, ich bin ihm also dankbar. Ich bin ihm dankbar, daß dir nichts Schlimmes zugestoßen ist. Aber das Schlimme hätte dir gar nicht zustoßen können, wenn du nicht mit ihm in den Wald gegangen wärst.« 37
Auch das leuchtet ihr ein. Aber noch ehe er ihr Gelegenheit gibt, etwas dazu zu sagen, zerredet er seinen Vorwurf schon wieder. Er kommt sich in der Rolle des Eifersüchtigen einfach lächerlich vor. Es fällt ihm ein, daß er ein »Mann« ist und sich entsprechend vernünftig zu verhalten hat. »Nun glaube bitte nicht, daß ich Rechte geltend machen wollte«, sagt er. Da ist sie gleich da und voller Widerspruch. »O doch, das darfst du! Wenn du mich liebst, darfst du das! Was ist denn los? Glaubst du etwa, ich hätte mit Micha geschlafen? Ich habe nie mit ihm geschlafen. Hast du das für möglich gehalten?« Er schweigt betroffen. Ein kleiner, pickeliger Junge, gestorben als Held, und er, der Lehrer, der Superpädagoge, provoziert eine lächerliche zweitrangige Auseinandersetzung. Und Sina, die Gerettete, teilt ihm mit, daß seine Empfindungen abwegig sind. »Ich würde keinem geben, was dir gehört.« Das Bekenntnis beschämt und rührt ihn. Er rupft Grashalme. »Ja, natürlich. Dir ist nichts passiert. Das allein zählt. Trotzdem müssen wir jetzt vielleicht etwas vorsichtiger sein.« »Warum?« »Weil der Kommissar noch in der Stadt ist.« »Aber die Polizei sucht den Mann im grünen Anzug, nicht uns!« »Ja. Aber es könnte ja sein… Es könnte ja sein, daß die Beamten auf abwegige Gedanken kommen!« gibt er zu bedenken. Es sieht beinahe so aus, als würde sie in erster Linie Fichtes Gedanken für abwegig halten. Sie legt sich ins Gras und seufzt. Sie hat keine Lust, an Probleme zu denken. Auch nicht an solche, die sie selbst geschaffen hat. Sie ist nicht zur seelischen Betreuung und zur Erörterung von Konflikten, die sie nicht versteht, hierhergekommen, sondern weil sie ihn liebt. Immer noch. Micha hat sie gerettet, aber sie hat nicht mit ihm geschlafen. Er legt sich zurück. Warum eigentlich, warum um jeden Preis soll er ihre psychische Robustheit beklagen, statt sich über sie zu freuen? Wäre es ihm lieber, wenn sie einen Schock fürs Le38
ben bekommen hätte und einen Psychotherapeuten nach dem anderen konsultieren müßte? Das Glück beginnt immer ein wenig über der Erde. »Bist du nachdenklich?« fragt sie, besorgt, er könne mit ihr irgendwie unzufrieden sein. »Ja.« »Nachdenklichkeit ist die Pforte zur Weisheit.« »O Gott, wer sagt das?« »Es steht heute auf dem Kalenderblatt.« »Na ja, das kommt wohl darauf an, worüber man nachdenkt.« »Worüber denkst du denn nach?« »Ob du mit jemandem über uns gesprochen hast.« »Bitte?« »Na ja, es könnte doch sein.« »Nein. Wir haben uns geschworen, daß unsere Liebe ein Geheimnis ist. Ich breche mein Wort nicht!« Sie ist wie ein empörtes Kind. Sie schmollt. Sie trainiert Gekränktsein als Waffe. Es ist zu schön, sie wieder zu versöhnen. Außerdem glaubt er ihr. Vielleicht hat Inge Carstens sie einmal zusammen gesehen und nutzt das nun für ihre Noten aus. Ernsthaft hat er sowieso nicht angenommen, daß Sina geplaudert hat. Er wischt den unschönen Erpressungsvorgang aus seinen Gedanken, bricht eine Butterblume vom Halm und steckt sie Sina ins Haar. »Wie kommst du darauf, daß ich gequatscht haben könnte?« Sie will es wissen. »Nur so.« »Hast du Angst?« »Nein.« »Es ist wichtig, daß du mir vertraust.« Wieder hat sie den Gesichtsausdruck eines kleinen Mädchens, das irgendwo etwas über Liebe gelesen hat und es nun nachspielen und nachempfinden will. Das merkwürdige ist, daß es ihr gelingt. Es muß also echt sein. Sie liebt ihn, und er liebt es, geliebt zu werden. »Ich vertraue dir ja«, sagt er und merkt, daß es stimmt. »Aber wir müssen trotzdem vorsichtig sein, jetzt, nachdem das passiert ist. Glücklichsein beginnt zwar immer ein wenig über der Erde, 39
aber manchmal muß man eben doch auf der Erde bleiben, zum Beispiel, wenn der Kommissar Fragen stellt.« Der Satz erschreckt sie. »Dir?« »Ja. Kommissar Finke aus Kiel will mich heute noch sprechen!« »Warum?« »Warum? Das weiß ich nicht. Aber ich nehme an, wegen Michael. Immerhin war ich sein Klassenlehrer. Beunruhigt dich das?« »Nein.« Sie verscheucht eine Mücke, die ihr vor der Nase herumtanzt, und sagt mit nachdrücklichem Ernst: »Micha hatte Probleme… Er wollte mich noch einmal sprechen, wir verabredeten uns… Ich bin ja früher immer ganz gut mit ihm ausgekommen, deshalb sah ich nicht ein, weshalb ich keine Zeit für ihn haben sollte!« Er legt ihr die Hand auf den Mund. »Ich glaube dir doch, mein geliebtes Pflastermädchen. Ich bin nur manchmal etwas dämlich, weißt du.« »Hättest du mich noch lieb, wenn ich vergewaltigt worden wäre?« Die Frage kommt unerwartet. Darüber hat er noch nicht nachgedacht. »Seien wir froh, daß es nicht geschehen ist«, weicht er aus. »Ich möchte es aber wissen.« Es wird ihm zu pathetisch. »Wenn du willst, daß ich dich noch liebe, würde ich dich sicher auch noch lieben, wenn du vergewaltigt worden wärst.« Er nimmt sie nicht ernst. Sina fragt eindringlich: »Zerstört das nicht alles?« »Sina, hör auf. Lieber ist es mir natürlich so!« Es strengt ihn an, ausgefragt zu werden. Sina merkt es, aber sie läßt nicht locker: »Und wenn es anders gewesen wäre?« »Warum willst du das wissen, Sina? Glaubst du, ich hätte dann Schluß gemacht?« »Vielleicht doch?!« »Nein.« »Bist du da ganz sicher?« 40
Ihre Beharrlichkeit macht ihn ärgerlich. Verständnislos bemerkt er, daß sie es für richtig hielte, wenn er sie nach einer Vergewaltigung nicht mehr so lieben könnte wie vorher. Er hat ihr etwas Liebes, Tröstendes sagen wollen, und es gefällt ihr nicht. Um das unerfreuliche Thema zu beenden, sagt er: »Na gut, genau weiß man natürlich nicht, wie man reagiert, wenn so etwas geschieht!« Wie von einem Druck befreit umarmt sie ihn. Er kann auch das wieder nicht verstehen, weil er nicht ahnt, daß er ihr für ihre Tat nachträglich eine Rechtfertigung geliefert hat: Wenn sie sich von Micha hätte vergewaltigen lassen, wären Fichtes Gefühle getroffen worden! Aber da er nicht weiß, was sie getan hat, weiß er auch nicht, was in ihr vorgeht. Sina ist auf einmal wieder ganz fröhlich. Sie wechselt das Thema. »Kannst du dir vorstellen, daß ich heute noch einen Aufsatz schreiben muß? ›Die Zwangsläufigkeit der Flußläufe, bedingt durch die rheinischen Schiefergebirge‹.« Er lächelt schon wieder. »Was für ein Deutsch!« »Das Deutsch unseres Lehrers! – Meinst du, daß ich das je im Leben brauche?« Nun ist er von Sinas Stimmungsumschwung vollends angesteckt. Er setzt eine theatralische Paukermiene auf und verkündet lehrerhaft: »Mein liebes Kind, was sind denn das für Ketzereien? Ob du das mal brauchst oder nicht, darüber denkt schon die Schule nach. Denke du nur an deine Hausaufgaben!« Lachend gehen sie an dem alten Gehöft vorbei zum Weg zurück. Fichte reißt Gräser von den Halmen. Sie nimmt sie ihm weg, bindet eine Schleife und hängt sie an ihr Fahrrad. »Das ist Unkraut«, sagt er. »Nein«, sagt sie ernst. »Ich liebe dich. Sehen wir uns bald wieder?« »Ja. So bald es geht.« Da steigt sie aufs Rad und fährt ab. Ihr Kopftuch kurvt wie ein roter Ball auf den gelben Wellen des Rapses und verschwindet. Fichte geht zu seinem Wagen, den er in einem Gebüsch geparkt hat, setzt sich hinter das Lenkrad und raucht eine Zigaret41
te. Dann startet er, fährt bis zum Kiosk am Pöstropper Bahnhof und kauft eine Zeitung.
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DER PÖSTROPPER ANZEIGER BERICHTET Vom Mann im grünen Anzug fehlt noch jede Spur. Morgen wird Michael Harms, der Held von Pöstropp, feierlich beigesetzt. In Pöstropp wollen die Gerüchte nicht verstummen. Der Grund dafür ist wohl, daß die Kieler Kriminalpolizei, unter Leitung von Hauptkommissar Finke, nach wie vor im Ort anwesend ist und im Mordfall Michael Harms weitere Ermittlungen anstellt. Natürlich wird immer noch nach dem mordverdächtigen Mann im grünen Anzug gefahndet, aber viele Pöstropper fragen sich, ob dieser Tatbestand allein die Anwesenheit der Kieler Kriminalpolizei rechtfertigt. Schließlich pflegen sich Beamte des Morddezernats an der Fahndung nicht zu beteiligen. Ein Interview, das Hauptkommissar Finke dem »Pöstropper Anzeiger« gab, verdunkelt leider mehr, als daß es Aufschluß gibt: P. A.: Herr Hauptkommissar, sind die Ermittlungen im Fall Harms noch nicht abgeschlossen? Finke: Solange nach einem Täter gefahndet wird, sind natürlich auch die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen. P. A.: Sie befragen nach wie vor Tatzeugen? Finke: Ja. P.A.: Ist das, wenn der Täter ermittelt ist, nicht ungewöhnlich? Finke: Nein. Es können sich immer wieder neue Anhaltspunkte ergeben, denen wir dann auch nachgehen müssen. P.A.: Meinen Sie Anhaltspunkte, die den ganzen Tatvorgang in einem anderen Licht erscheinen lassen? Finke: Sie werden sicherlich verstehen, daß polizeiliche Überlegungen und Vermutungen, die noch durch nichts belegt sind, von mir nicht in einer Zeitung zur Diskussion gestellt werden können. P. A.: Sie haben aber Vermutungen, die den bisherigen Stand der Dinge auf den Kopf stellen könnten? Finke: Kein Kommentar.
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P.A.: In Pöstropp wundert man sich über die beharrliche Anwesenheit der Polizei. Finke: Ja? Nun, Pöstropp ist ein hübsches Städtchen (lacht) und wenn ich die Fahndungsarbeit von hier aus leiten kann, warum sollte ich es nicht tun? Soweit unser Interview mit Hauptkommissar Finke. Von dem Mann im grünen Anzug, der des Überfalls auf die Schülerin Sina Wolf und des Mordes an deren Schulfreund Michael Harms dringend verdächtig ist, fehlt nach wie vor jede Spur. Begreiflicherweise hüten sich Mädchen und Frauen im weiten Umkreis von Pöstropp, allein in Wäldern und menschenleeren Gebieten spazierenzugehen, weil sie befürchten, ein ähnliches Verbrechen könnte sich wiederholen, noch ehe Michael Harms, der junge Held von Pöstropp, unter der Erde ist. Die feierliche Beisetzung wird übrigens morgen um 15 Uhr auf dem neuen Gemeindefriedhof stattfinden. Studiendirektor Heinrich Forkmann wird die Trauerrede halten. Frau Oberstudienrätin Dr. Gisela Fichte war mit der Rede, die sie für Rektor Forkmann aufgesetzt hatte, fertig. Sie hatte lange gegrübelt. In Nachrufen und Todesanzeigen kamen Verstorbene immer glänzend weg. Keiner hatte je etwas Unehrenhaftes, Eigennütziges getan oder empfunden, sie waren in ständiger Sorge um die Ihren gewesen, hatten unentwegt gearbeitet, sich nützlich gemacht und keiner Fliege etwas zuleide getan. Wenn man den Todesanzeigen glauben wollte, hatte es überhaupt nie fragwürdige oder unangenehme Menschen gegeben. Frau Fichte hatte der Versuchung, den unglücklichen Jungen zum Tugendwächter und Menschenfreund hochzustilisieren und damit eine Heldenverehrung auszulösen, widerstanden. Sie las ihren Text noch einmal durch und fand, daß er schlicht und echt war und mit tränenauslösenden Gedankengängen sparsam umging. Sie war, soweit sich das vom Anlaß her überhaupt sagen ließ, zufrieden und räumte ihren Schreibtisch ab. Dabei kamen ihr Schulhefte, ein Atlas und ein Grammatikbuch in die Hände. Sie gehörten Michael Harms. Der Nachbar 44
von Michael hatte sie im Schreibpult des Toten gefunden und ihr übergeben. Sie blätterte darin, ganz in Gedanken, ohne etwas Bestimmtes zu suchen. Im Arbeitsheft für Mathematik hatte sie ihm selbst meist ungenügende Leistungen bescheinigt. Wie kommst du denn darauf?, fragte ihre rote Schrift. Die Lösung stimmt, aber sie gehört zu einer anderen Aufgabe. Wo hast du abgeschrieben? Sie legte das Heft weg und blätterte das englische Grammatikbuch durch. In Englisch war Michael Harms ein nicht ganz so hoffnungsloser Fall gewesen. Die Noten, die ihr Mann gegeben hatte, schwankten zwischen befriedigend und ungenügend. Im Durchschnitt wäre er wahrscheinlich auf eine Vier minus gekommen. Plötzlich hielt sie verwundert inne. Auf der letzten Seite stand in wütender Schrift: »Fichte – das Schwein!« Micha hatte das Schwein, das Fichte angeblich war, auch abgebildet. Ein übergroßer, schlanker Mann, dem eine Lanze in die Brust gebohrt wurde. Der Mann war nackt, aber er hatte kein Geschlechtsteil. Er hatte Ohren, eine Nase, Finger, einen Mund, aber kein Geschlechtsteil. Er stand inmitten lauter nackter Mädchen, die, wenn man die Zeichnung so auffassen wollte, vor ihm die Flucht ergriffen. Es läutete. Gisela Fichte versteckte die Bücher und Hefte im Schreibtischfach, ehe sie zur Tür ging. »Guten Tag!« Kommissar Finke zog höflich den Hut. Sie schaute auf die Uhr. Es war zwanzig vor sechs. Finke hatte sein Kommen für 18 Uhr angesagt. »Ich weiß, ich bin zu früh«, entschuldigte er sich aufgeräumt und sah aus wie der Gemeindepfarrer, der gekommen ist, um den ungezwungenen Ablauf eines bunten Abends zu besprechen. »Ist das schlimm?« »Nein, nein, nur, mein Mann ist noch nicht da. Und Sie wollten doch vor allem ihn sprechen.« Finke ließ den Blick über den kleinen, gepflegten Garten schweifen. Phlox und Rittersporn blühten am Zaun, wilder 45
Wein rankte sich an der Sommerlaube hoch, reife Tomaten leuchteten rot am Strauch. »Ich warte gern«, erwiderte Finke. »Sie haben es wunderschön hier draußen!« »Ja. Es wohnt sich gut hier.« Finke ging ein Stück in die Beete. »Sind das Wicken?« »Nein. Sonnenröschen. Sie blühen zweimal, wenn man die verwelkten Blüten abschneidet.« Obwohl ihr der Kommissar zunächst einen Riesenschreck eingejagt hatte, wirkte er nun geradezu beruhigend auf sie. Sie vergaß Michaels Schulhefte und fragte: »Haben Sie auch einen Garten?« »Leider nicht. Aber ich liebe Blumen.« Sie waren wieder an der Terrasse angelangt, und Finke fragte, auf einen Stuhl deutend: »Darf ich?« »Natürlich. Mein Mann wird sicherlich jeden Augenblick kommen.« Aber Finke interessierte sich offensichtlich gar nicht so sehr für Studienrat Fichte. Er hatte von der Natur noch immer nicht genug. Sie folgte seinem Blick und sagte: »Ja, es ist eine schöne Gegend – viel Wald.« »Leider geht es im Wald ja nicht nur romantisch zu«, sagte Finke traurig. Sie hatte plötzlich das Gefühl, vor ihm auf der Hut sein zu müssen. Hinter seiner Gemütlichkeit schien ein Panther auf dem Sprung zu lauern. Aber was hatte sie zu befürchten? Die Kritzeleien in Michaels Englischheft etwa? Das wäre ja geradezu lächerlich! Finke lehnte sich im Korbstuhl zurück und sagte: »Sie werden sich vielleicht fragen, warum ich Sie in dieser traurigen Angelegenheit noch einmal belästige, nicht wahr?« Frau Fichte lächelte verständnisvoll. »Ich nehme an, Sie haben Ihre Gründe.« »Ja – natürlich… Das heißt: nein. Gründe ist zuviel gesagt. Es handelt sich mehr um gefühlsmäßige Unklarheiten. Ein paar Äußerlichkeiten, die einfach nicht ins Bild passen wollen.« 46
Frau Fichte brach eine verblühte Geranie aus dem Blumenkasten. »Und da hoffen Sie, von meinem Mann Aufschluß zu bekommen?« »Von Ihnen oder von Ihrem Mann, das ist egal. Glauben Sie, daß es eine intime Freundschaft zwischen Michael Harms und Sina Wolf war?« »Ob ich das glaube? Glauben kann man vieles. Warum fragen Sie nicht Sina?« »Habe ich. Habe ich. Sie sagt nein.« »Dann wird es wohl auch so gewesen sein. Michael hat ihr jedenfalls das Leben gerettet!« Frau Fichte war auf einmal ärgerlich, empört. Der Kommissar sah sie an, als habe ihn ein leichter Schlag getroffen. In Wirklichkeit verarbeitete er nur den Gedanken, den sie ihm hingeworfen hatte. Er fand den Gedanken nicht gut. »Ja?« fragte er. »Das Leben gerettet? Das habe ich auch in der Zeitung gelesen. Es beeindruckt, aber es ist nicht sehr glaubwürdig. Der Mann im grünen Anzug hat nie eines seiner Opfer getötet. Das wissen Sie doch auch. Wundert Sie das nicht?« »Mein Gott, ja, aber Sina Wolf war in größter Bedrängnis. Hätte Micha zusehen sollen, wie seine Freundin vergewaltigt wird?« Sie fühlte sich überfordert. »Nein«, erwiderte Finke und rückte seinen Stuhl in die milde Abendsonne. »Nein, so war das nicht gemeint. Obwohl ein toter Junge schlimmer ist als ein vergewaltigtes Mädchen – wenn man das überhaupt vergleichen will.« »Eben.« »Sina Wolf kam häufig in Ihr Haus?« »Ja. Aber das habe ich Ihnen doch alles schon in der Schule erzählt.« »Halten Sie Sina für ehrlich?« »Auch das haben Sie mich schon gefragt. Ja, ich halte sie für ehrlich. Oder meinen Sie, ob sie vielleicht dann und wann beim Scrabble schummelt? Da müssen Sie mal mich fragen, ob ich ehrlich bin!« »Von Ihnen will ich es ja nicht wissen. Sie sind kein Mordzeuge.« Er lächelte freundlich und blickte auf seine Armbanduhr. »Ich muß gehen.« 47
»Aber da kommt mein Mann.« Studienrat Fichte fuhr den Wagen vor die Garage und kam auf die Terrasse. »Ich bin doch nicht unpünktlich?« begrüßte er den Kommissar. »Nein, nein, ich bin zu früh gekommen. Ihre Frau war so freundlich, sich mit mir zu unterhalten. Vielen Dank. Auf Wiedersehen!« Er warf dem Garten noch einen wohlwollenden Blick zu, als sei er vorwiegend der Blumen wegen gekommen. Dann ging er durch die Pforte zu seinem Wagen. Ehe er einstieg und abfuhr, winkte er noch einmal, damit der Eindruck, nur eben zu einem kleinen Schwätzchen gekommen zu sein, bis zum letzten Augenblick erhalten blieb. »Verstehst du das?« fragte Fichte. »Nein.« »Was hat er denn gewollt?« »Zum Beispiel wollte er wissen, wie eng Micha und Sina befreundet waren.« »Ach!« »Und ob ich Sina für ehrlich halte.« »Mein Gott, ich möchte wissen, warum die nicht den Mörder suchen, anstatt immer wieder dieselben dummen Fragen zu stellen. Ich gehe in die Küche und mache mir einen Kaffee. Willst du auch einen?« »Danke, nein. Ich fahre gleich zu Forkmann und bringe ihm die Trauerrede. Hattest du irgendwelche Differenzen mit Micha in letzter Zeit?« Er hörte auf, seinen Schlüsselbund um den Zeigefinger kreisen zu lassen. »Wie kommst du denn darauf?« »Dadurch.« Sie holte das Englischheft aus ihrer Schreibtischschublade und schlug es auf. »Wie schmeichelhaft«, sagte Fichte und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Kannst du dir das erklären?« »Nein. Es sei denn damit, daß sich Michael wohl in einer arg pubertären Phase befunden und irgendwelche Aggressionen abreagiert hat!« »Du stehst in einer Schar nackter Mädchen.« 48
»Tja, schön wär’s.« Er flüchtete ins Flapsige. »Oder stellst du jetzt vielleicht tiefenpsychologische Überlegungen an?« »Nein. Ich frage mich nur, ob es nicht ziemlich unangenehm gewesen wäre, wenn der Kommissar dieses Heft gesehen hätte.« Sein Erstaunen veranlaßte sie, das näher zu erklären: »Weil Kommissar Finke doch so interessiert ist, das Verhältnis zwischen Sina und Micha in allen Einzelheiten zu ergründen.« »Ach so, ja. Und da meinst du, diese Zeichnungen gäben Aufschluß? Ich weiß nicht, du.« Er setzte sich auf die Couch. »Ich kann dir nur versichern, daß zwischen Michael und mir in den Tagen vor seinem Tod nichts Besonderes vorgefallen ist.« Das war die Wahrheit. Andere Fragen hätten ihn in größte Verlegenheit gebracht. Aber die waren nicht gestellt. Gisela Fichte nickte. Sie glaubte ihm. Fast machte sie sich Vorwürfe, diesen Zeichnungen so viel beängstigende Bedeutung beigemessen zu haben. Sie küßte ihn erlöst. »Bis gleich, ich fahr’ nur eben zu Forkmann. Wenn du ein Schatz sein willst, dann brate inzwischen das Fleisch an, es liegt im Kühlschrank oben links. Wenn ich wiederkomme, können wir dann gleich essen.« Nachdem seine Frau gegangen war, setzte sich Fichte aufatmend. Dann sah er sich das Gekritzel noch einmal an, aber er empfand sehr schnell Unbehagen. Er steckte die Hefte weg und ging in die Küche, um das Abendessen vorzubereiten. Er führte eine moderne, harmonische Ehe und kam sich in der Küchenschürze keineswegs komisch vor. Je nach Unterrichtsablauf teilten sie die Hausarbeit und die Gartenarbeit unter sich auf. »Mein Gott, sind wir glücklich!« durchfuhr es ihn plötzlich, als ob er die Gefährdung von außen spürte. Er hatte bestimmt die schönste, verträglichste und intelligenteste Lehrerin des nördlichsten Bundeslandes geheiratet – und ging fremd! Oder nicht? War das, was er mit Sina hatte, schon ein richtiges außereheliches Verhältnis? Oder nur ein Ausrutscher – ein schöner Ausrutscher meinetwegen? Er schnitt Speck in Würfel und schüttelte über sich den Kopf – fast schon wieder mit Nachsicht. Manchmal mußte er sich 49
einfach ein bißchen tadeln. Welcher Mensch ist schon ständig im Reinen mit sich?
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KRIMINALMEISTER FRANKE BERICHTET Heute hat mir der Chef klargemacht, daß er auf Beerdigungen immer ganz trübsinnig wird. An Leichen, sagt er, hat er sich gewöhnt, an Beerdigungen nicht. Also muß ich auf den Friedhof und das Verhalten der Trauergäste unauffällig und unaufdringlich beobachten. Mir kommt das albern vor, das muß ich mit allem Respekt vor Finke sagen, denn der Mann im grünen Anzug wird ja nun gewiß nicht zur Beerdigung kommen und durch totalen Mangel an innerer Anteilnahme auffallen. Mit zusammengebissenen Zähnen mische ich mich unter die Trauergäste. In weiser Voraussicht, daß es, trotz des Ernstes der Stunde, ein heilloses Durcheinander geben könnte, hat die Schulleitung nur die sechs Klassen der Oberstufe zu den Trauerfeierlichkeiten zugelassen. Sie rücken von links und rechts heran, bilden einen Stau, werden nach vorn gedrängt und geraten wieder in Bewegung, bis der Halbkreis gebildet ist, den sie einnehmen sollen. Eine Schülerblaskapelle intoniert einen Choral von Johann Sebastian Bach, der eigentlich nur erhebend klingt, wenn man ihn gut spielt. Dann kommt der Trauerzug aus der Kapelle, angeführt von der Mutter des Toten, einer hageren kleinen Frau, gestützt von ihrem Schwager, dem hünenhaften Anton Wegener, und dessen Frau. Hinter dem Sarg gehen die Lehrer, Studiendirektor Forkmann, Herr und Frau Fichte und andere, die ich nicht kenne, weil ich sie nicht im Zusammenhang mit dem Mordfall zu vernehmen hatte. Ganz am Schluß Sina Wolf mit ihren Eltern. Als die Blaskapelle mit dem Choral am Ende ist, hört man, wie der Kies unter so vielen Schuhen knirscht. Ich verfolge mit dem Blick ein zutrauliches Eichhörnchen. Ein sommersprossiger Junge, der Erdnüsse in der flachen Hand hält, lockt es heran. Es läuft den Stamm herunter, verharrt, kommt näher, schnappt sich die Nuß, knackt sie auf. »Gib mir auch eine!« »Ich will es auch mal füttern!«
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»Seid ihr verrückt? Ist euch nichts heilig? Was wollt ihr überhaupt mit Erdnüssen auf dem Friedhof?« Der Lehrer, ein kleiner dünner Mann, holt tief Luft und schaut, Bestätigung für seine Empörung suchend, Studienrat Fichte an. Und Fichte sieht auf einmal mich an. Meine Anwesenheit scheint ihn zu irritieren. Ich lächle ihn an, so gemessen, wie man das auf Beerdigungen darf, um meiner Anwesenheit einen privaten Charakter zu geben. Da lächelt er vage zurück. Ich werde zu Finke sagen: Fichte war irritiert, als er mich sah. Ich werde zu Finke sagen: Die Schülerin Inge Carstens hat ihre Klassenkameradin Katrin Schulte verblüfft angeguckt, weil sie in Schluchzen ausbrach, als der Sarg in die Erde gesenkt wurde. Na ja, und ich werde zu Finke sagen: Ein Schüler, Name unbekannt, Sommersprossen um die freche Nase, hat ein Eichhörnchen gefüttert. Kann das verdächtig sein? Soll ich mal recherchieren, welche Bewandtnis es damit hat? Wie bitte? Nein, nein, der Mann im grünen Anzug ist nicht zur Beisetzung gekommen. Sina? Sina hat geweint. Ja, sehr. Und als sie Blumen aus einem Korb nahm und in die Gruft warf, schwankte sie ein wenig. Studienrat Helmut Fichte bemerkte das sofort, sprang herbei und half ihr. Hat das vielleicht etwas zu bedeuten? Ich glaube, sehr verehrter Herr Hauptkommissar, Sie sehen Gespenster. Sie haben zu lange keinen »interessanten Fall« gehabt. Deshalb verbeißen Sie sich in die Theorie, die »Persönlichkeitsstruktur« des Mannes im grünen Anzug widerspreche dem Tatablauf und das »soziale Psychogramm« der Zeugin Sina Wolf gestatte keine tiefere Bindung an einen Jungen von Michaels Herkunft. Wissen Sie, was ich glaube? Ich glaube, daß sich die Wirklichkeit gelegentlich die Kühnheit erlaubt, alle schlauen Kriminalistentheorien einfach über den Haufen zu werfen. Es ist wie mit der Hummel, die fliegen kann, obwohl ernstzunehmende 52
Wissenschaftler eindeutig geklärt haben, daß sie, wenn man ihre Körperform und das Eigengewicht in Relation zu ihrer Flügelfläche bringt, dazu gar nicht in der Lage ist. Die Hummel kennt die Theorie nicht und tut, was sie für richtig hält: Sie fliegt – allen wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz. So hat Sina den Michael geliebt, obwohl das nicht in ihr »soziales Psychogramm« paßt, und der Mann im grünen Anzug hat den Michael erschlagen, obwohl das seiner »Persönlichkeitsstruktur« zuwiderläuft. Ich hätte mir die Beobachtungen auf dem Friedhof ersparen können. Es ist nichts dabei herausgekommen – wenn ich einmal davon absehen will, daß einige beunruhigte Pöstropper mich angepöbelt haben, ich solle lieber den Mörder fangen, statt eine würdige Trauerfeier durch meine Anwesenheit zu verunglimpfen. Im Sport war Inge Carstens ein As. Sie lief die 100 Meter in 12,3 Sekunden, Fichte hatte es selbst gestoppt. »Ist das nicht ungewöhnlich gut?« fragte Verena Binder neidlos. »Ja, ist es.« Er ging trotzdem nicht ans Ende der Aschenbahn, um Inge Carstens zu gratulieren; er pfiff die nächste Dreiergruppe an den Start. Er konnte eine Schülerin, die ihn erpreßt hatte, nicht loben. Oder sollte er die Gelegenheit benutzen, die Sache aus der Welt zu schaffen – ganz pädagogisch? Indem er ihr verzieh und sie gleichzeitig ermunterte, es in den anderen Fächern so wie im Sport zu machen, wo sie ja auch nicht durch unlautere Methoden gute Leistungen erzielte? Er nahm es sich vor, aber er brachte es nicht fertig. Inge Carstens wußte etwas von Sina und ihm – wenn er ihr verzieh, sah es so aus, als wolle er sich nur für die Zukunft ihr Wohlverhalten erkaufen. Damit sprach er sich gleichzeitig schuldig. Im übrigen, fiel ihm rechtzeitig ein, war es albern, Inge in Fächern wie Mathe, Englisch und Deutsch zu vergleichsweise ähnlichen Leistungen wie im Sport anzuspornen, denn es mangelte ihr ja nicht an gutem Willen, sondern an der Befähigung. Er beendete den Unterricht und duschte. Als er zu seinem Wagen ging, kam Inge zu seiner Überraschung auf ihn zu. 53
»Du wirst immer besser«, sagte er. »Das weiß ich«, versetzte sie schnoddrig, damit er nicht glaubte, sie habe auf ihn gewartet, um das zu hören. »Das mit dem Englisch neulich, das hat ja prima geklappt.« »Ja.« Er schloß seinen Wagen auf und fragte, nur um schnell das Thema zu wechseln: »Soll ich dich ein Stück mitnehmen?« »Nein. Drüben wartet Katrin.« Er schaute zu der Bank am Rand der kleinen Grünanlage hinüber. Da saß Katrin Schulte, die Banknachbarin und Freundin von Inge. Ob sie etwas wußte? – Natürlich wußte sie es. Es konnte kein Zufall gewesen sein, daß sie, in Englisch eine Niete wie Inge, bei der letzten Arbeit plötzlich auch »befriedigend« abgeschnitten hatte. »Die Sache ist die«, sagte Inge, »daß wir übermorgen die Mathearbeit schreiben.« Er sah sie bestürzt an und stellte fest, daß ihr Grinsen, so unverschämt es auf den ersten Blick wirkte, ihre Verlegenheit kaschieren sollte. »Dann wünsch’ ich dir aber viel Glück«, sagte Fichte, bemüht unbefangen. »In Mathe hast du ja wohl auch Schwierigkeiten.« »Und was für welche.« Ihre Blicke wurden unverfroren frech. War das Theater? Oder war sie tatsächlich ein kleines, schamloses Biest? »Ich unterrichte nicht in Mathe«, sagte er deutlich. »Nein. Aber Ihre Frau!« Er holte tief Luft, fühlte Erregung in sich aufsteigen und die Lust, ihr ins Gesicht zu schlagen. Und diese kleine Hexe hatte er ermuntern und loben wollen! »Wenn du das auf die Spitze treibst, falle nicht nur ich auf die Nase«, warnte er sie. »Das wird auch für dich übel ausgehen.« »Für mich nicht so schlimm wie für Sie. Also?« »Nein.« »Ich mache es so wie in Englisch, ein paar Lösungen werden falsch sein. Sonst würde sich Ihre Frau ja auch wundern!« »Glaubst du, mit solchen Methoden später durchs Leben zu kommen?« fragte Fichte lehrerhaft. »Ich will nur durchs Abi – das heißt: Ich will es gar nicht, mein Vater will, daß ich es will.« 54
»Deine Stärke liegt doch ganz eindeutig im sportlichen Bereich.« »Na und? Auch auf der Sporthochschule werde ich nur mit Abitur zugelassen. Sie wissen wohl gar nicht, was da alles läuft, um einem die Zukunft zu vermasseln! Ohne zu wissen, in welchem Jahr Prinz Eugen die Türken vernichtend geschlagen hat, könnte ich doch nie später mal Sport unterrichten.« Fichte verlor die Geduld. »Ja, ja, ich weiß das alles, ich bin aber nicht gefragt worden, als die Ausbildungsgesetze verabschiedet wurden. Wirf mir also nicht Dinge vor, die ich auch nicht für richtig halte.« »Tue ich ja gar nicht. Mir geht’s um eine Vier in Mathe, das ist alles.« »Ich habe schon nein gesagt.« Inge sah ihn an, als könne sie es nicht glauben. »Na, Sie haben vielleicht Mut. Meinen Sie nicht, daß sich vielleicht sogar die Polizei dafür interessieren könnte?« »Wofür?« Ich sollte sie einfach stehenlassen und abfahren, dachte Fichte. Aber er blieb. Er starrte Inge an, und er sah, daß sie Angst hatte, aber das nützte auch nichts, denn seine eigene Angst war größer. »Wofür sollte sich denn die Polizei interessieren?« »Na, für die ganze Sache!« »Kannst du nicht präziser formulieren?« »Ich bin hier nicht in der Schule«, wies sie ihn zurecht, und Fichte begriff, daß er die falsche Tonart angeschlagen hatte. Mit schulmeisterlichen Drohungen war Inge bestimmt nicht dazu zu bringen, es sich anders zu überlegen. Apotheker Grunert ging mit seinem Pudel vorbei und grüßte. Fichte tat schnell so, als führe er ein zwanglos-gemütliches Lehrer-Schülerinnen-Gespräch, und grüßte höflich zurück. »So können Sie mich in der Schule fragen«, bekräftigte Inge. »Wenn Sie also meinen, daß sich die Polizei nicht dafür interessiert, dann ist es ja gut.« Sie wandte sich zum Gehen. »Warte mal.« »Ja?« 55
»Wenn ich dir helfe, dann nicht, weil ich mich von dir unter Druck gesetzt fühle, sondern weil ich nicht will, daß du an ein oder zwei falschen Mathelösungen scheiterst!« Er spürte, wie ungeschickt das war. Sie lächelte ihn lieb an. »Das ist aber nett.« »Ich habe die Polizei nicht zu fürchten!« »Um so besser für Sie. Bringen Sie mir einen Spickzettel mit in die Schule?« »Ja.« »Na, dann tschüs.« Fichte setzte sich in seinen Wagen und sah, wie Inge Carstens zu Katrin Schulte hinüberging, sie am Arm nahm und mit ihr durch den Park schlenderte. Ein Schwarm Tauben flog auf. Die 9a bog mit Studienrat Bender um die Ecke, löste sich in einen quirligen Haufen auf und stürmte den Sportplatz. Bender grüßte zu Fichte in den Wagen hinein. »Springt der Wagen nicht an?« »Doch, doch.« »Weil die 11b ja schon längst weg ist.« Fichte startete den Wagen. Von wegen, dachte er, der Wagen springt an, aber ich springe nicht an. Er fuhr nur bis zum Billberger See, setzte sich ans Ufer und dachte nach. Ich muß völlig wahnsinnig geworden sein, durchfuhr es ihn. Fürchte ich die Polizei nun doch? Weil Inge Carstens es mir einreden will? Weshalb hatte er nicht darauf bestanden, daß sie ihm erklärte, was sie mit dieser Anspielung meinte? Dann sagte er sich: Nichts hat sie gemeint! Weshalb sollte die Polizei sich für einen Ehebruch interessieren? Nur weil er ihn mit der Schülerin Sina beging? Er fuhr nach Hause. Seine Frau hatte Unterricht, war noch eine Stunde in der Schule. Als ob es ihm das Schicksal leichtmachen wollte, lag das Mathearbeitsheft mit den Aufgaben und Lösungen für die nächste Arbeit ganz obenauf. Fichte nahm ein Blatt Papier und schrieb einige – nicht alle – Lösungen auf. Danach fühlte er sich seltsamerweise viel wohler. Noch einmal würde Inge Carstens ihn ja wohl kaum erpressen, denn nur in Englisch und Mathe stand sie auf sechs. 56
Er ging in den Garten hinaus. Kohlmeisen pickten Kerne aus den Sonnenblumen. Vom Wald her, in dem Michael Harms erschlagen worden war, zog eine flache Nebelschicht über die Felder. Den Mann im grünen Anzug haben sie immer noch nicht, dachte er. Ob sie ihn wohl je fassen?
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DER MANN IM GRÜNEN ANZUG BERICHTET Mein Name ist Alfons Heckert, und selbstverständlich habe ich Michael Harms nicht umgebracht. Ich kann es gar nicht gewesen sein, weil ich vom 20. August bis zum 3. September in Stöfersau in Österreich Urlaub gemacht habe, und der Mord an Michael Harms wurde am 28. August verübt. Es muß also außer mir noch einen Mann im grünen Anzug geben, der Mädchen überfällt, aber im Gegensatz zu mir fähig ist, einen Menschen umzubringen. Nun kann dieser oder jener meinen, daß das, was ich tue, auch schon schlimm genug ist. Aber ich bin krank. Ich kann kein Glücksgefühl empfinden, wenn eine Frau freiwillig zum Kontakt mit mir bereit ist. Die Angst des Partners ist es, die mir Befriedigung verschafft. Trotzdem wende ich nur begrenzt Gewalt an, um zum Ziel zu gelangen. Ich habe einige Frauen laufen lassen, weil sie mir vorjammerten, daß sie schwanger seien oder krank. Insofern stimmt das, was in den Zeitungen über mich gestanden hat. Nur die Zahl der Opfer stimmt nicht. Ich habe viel mehr Frauen dazu gebracht, mir zu Willen zu sein, als bekanntgeworden ist. Sie haben den Vorfall nur nicht alle der Polizei gemeldet. Vielleicht haben sie sich geschämt. Das, was im Pöstropper Forst geschehen ist, habe ich in der Zeitung gelesen. Nach der Rückkehr aus dem Urlaub. Das war gestern. Es wäre ja nun sehr einfach, die Polizei durch mein hieb- und stichfestes Alibi von meiner Unschuld zu überzeugen. Andererseits hätte es schlimme Folgen. Ich würde dann wegen versuchter und vollendeter Notzucht in mehreren Fällen verurteilt, das aber möchte ich meiner Mutter nicht antun. Meine Mutter ist 74, fast blind und meiner Hilfe bedürftig. Wir wohnen zusammen, ich lese ihr vor, und ich gehe mit ihr zu Vorträgen und Konzerten. Sie ist der einzige Mensch, den ich liebe. Ich bin unehelich geboren und ohne Vater aufgewachsen. Meine Mutter hat schwer gearbeitet, um mir meinen Wunsch, Finanzbeamter zu werden, erfüllen zu können. An dieser Stelle 58
höre ich viele Menschen sagen: Finanzbeamter, das wird man vielleicht, aber man will es nicht werden, man strebt es nicht an wie Arzt, Architekt oder Pilot. Diese Ansicht verrät einen Mangel an Phantasie. Ich habe Zahlen schon immer geliebt, ganz besonders aber komplizierte Zahlen, Prozentzahlen und multiplizierte Zahlen. Ich zähle alles, ich zähle auch die Frauen. Es waren achtzehn, jene nicht eingeschlossen, die ich verschont habe. Ich liebe meinen Beruf, aber nicht meine Kollegen. Als Buchprüfer stecke ich Gott sei Dank nicht den ganzen Tag im Amt, ich komme viel herum, kann dadurch auch immer mal einen kleinen Abstecher in den Wald machen, aber einen gewissen Teil meiner Arbeitszeit muß ich natürlich im Büro sein. Da wird dann von den Überfällen geredet, und die Kollegen zwingen mich, so zu tun, als würde ich das auch empörend finden. »Ja, das Schwein, das müßten sie aufhängen!« sage ich, weil es die anderen auch sagen. Das macht mir dann am meisten zu schaffen, aber manchmal denke ich, ich bin es gar nicht, der das getan hat, und darin habe ich eine gewisse Übung erlangt. Ich glaube nicht, daß meine Arbeitskollegen schon einmal stutzig geworden sind. Für sie bin ich ein zuverlässiger Beamter. Wahrscheinlich wäre ich schon längst gefaßt worden, wenn ich den grünen Anzug nicht nur bei meinen Spaziergängen im Wald trüge. Ich habe ihn in einem Karton im Kofferraum; ich ziehe mich um, wenn ich losgehe. Wenn fortwährend von meinem verbrecherischen Tun die Rede ist, so muß das allerdings richtiggestellt werden. Von der Verbitterung und Enttäuschung, die ich oft erlebe, spricht nämlich niemand. Ich habe 18 Pluszeichen und 318 Minuszeichen in meinem kleinen, schwarzen Taschenkalender, und die 318, das sind die vielen entmutigenden Spaziergänge, die ich ohne Erfolg abbrechen mußte, weil die Umstände ungünstig waren. Oft begegnete ich einfach keiner Frau, oder es waren andere Menschen in der Nähe. Manche Frau war groß und kräftig, und ich mußte befürchten, nicht mit ihr fertigzuwerden. Dann saß ich mit wunden Füßen, erschöpft und müde in meinem Wagen. 59
Ich will ruhig bekennen, daß ich manchmal am liebsten Schluß gemacht hätte, wenn meine Mutter nicht gewesen wäre. So einem wie mir, dem bringen die Menschen nur Verachtung entgegen, nie Verständnis, und das kann einen schon fertigmachen, auch die ständige Verstellung. Nun ist eine Großfahndung nach mir eingeleitet worden, und ich bin gar nicht der Mann, der Michael Harms erschlagen hat. Das ist schon schlimm genug. Noch schlimmer aber ist es, daß die Bevölkerung so alarmiert ist, daß ich wohl nie mehr ein schönes Erlebnis in den Wäldern haben werde. Alle passen höllisch auf, um mich zur Strecke zu bringen. Ich habe den grünen Anzug verbrannt und werde die Wälder vorerst meiden. Als ich nämlich neulich mit meiner Mutter im Birkenwäldchen spazierenging, sah ich auffallend viele unauffällige Frauen. Das können Polizistinnen in Zivil gewesen sein! Die Frau, die im Supermarkt einkaufte, erkannte den Mann sofort, und sie war geistesgegenwärtig genug, nicht in Panik auszubrechen. Sie ging zum Geschäftsführer, ließ sich ins Büro führen und rief die Polizei an: »Der Mann im grünen Anzug ist hier – Supermarkt, Flensburger Straße. Bitte kommen Sie sofort!« Der diensthabende Polizeibeamte gab den Anruf sofort an den Streifenwagen 14 weiter, der auf Routinefahrt in der Schlegelstraße war, eine Autominute vom Supermarkt entfernt; er ordnete gleichzeitig an, die Sirene nicht einzuschalten, damit der Tatverdächtige nicht alarmiert wurde und die Flucht ergriff. Gleich danach machte der diensthabende Polizeibeamte der MK, der Mordkommission, Meldung. Kriminalmeister Franke, der allein war und ein Protokoll in die Maschine tippte, machte sich sofort auf den Weg in die Kantine, wo Hauptkommissar Finke ein Würstchen mit Kartoffelsalat aß. Finke, an Fehlalarme gewöhnt, maulte: »Nicht einmal in Ruhe essen kann man!« und brach auf. Eine Minute später fuhren beide – ebenfalls ohne Martinshorn – zum Supermarkt. Hier war inzwischen Frau Markner, die den Mann im grünen Anzug erkannt hatte, mit dem Geschäftsführer wieder aus dem 60
Büro herausgekommen. Sie wollte verhindern, daß der Mann den Laden verließ und unerkannt entkam. Er war noch da. Er stand in dem Gang bei den Konservendosen und tat eine Büchse mit grünen Bohnen in sein Körbchen. Als er aufblickte, sah er in dem Spiegel, der zur Diebstahlsüberwachung angebracht war, die Frau neben dem Geschäftsführer im weißen Kittel stehen und auf ihn deuten. Das versetzte ihn in Alarmstimmung. Er kannte die Frau. Er hatte sie vor etwa einem halben Jahr in einem Waldstück in der Nähe von Flensburg überfallen. Obwohl ihm vor Angst das Herz bis zum Hals schlug, behielt Alfons Heckert äußerlich die Ruhe und ging zur Kasse, wo nur zwei Frauen vor ihm in der Reihe standen. In diesem Augenblick hielt der Streifenwagen mit den Hauptwachtmeistern Björnsen und Meyer vor dem Supermarkt. Heckert verlor die Nerven. Er ließ den Korb einfach fallen und stürzte, die beiden Frauen beiseite drängend, aus dem Geschäft, verfolgt von Frau Markner, die den entgegenkommenden Polizeibeamten zurief: »Das ist er! Das ist der Mann im grünen Anzug!« Die beiden Beamten waren eine Sekunde lang irritiert, weil der Mann gar keinen grünen Anzug anhatte, sondern einen braunen Trenchcoat; einen grünen Anzug dagegen trug ein Mann vom Zoll, der mit seiner Frau die Auslagen einer Buchhandlung betrachtete. Das Mißverständnis war schnell beseitigt, weil Alfons Heckert flüchtete. Die Polizeibeamten setzten hinter ihm her, der Abstand verringerte sich. Entgegenkommende Passanten wichen verstört aus. Plötzlich wechselte Alfons Heckert die Richtung und rannte, eine Verkehrslücke nutzend, über die Straße. Aber der Verkehr lief vierspurig in zwei Richtungen, es war kein Hinüberkommen. Er mußte zurück, um nicht von einem Lastwagen überfahren zu werden. Da erfaßte ihn der Personenwagen. Zwei Autos fuhren auf die vor ihnen bremsenden Wagen auf. Splitterndes Glas, krachendes Blech. Bewegungslos liegt Alfons Heckert auf der Straße. Absperrung. Hupen. Chaos. Funkspruch. Notarztwagen. 61
Vorher treffen Finke und Franke am Unfallort, etwa 200 Meter vom Supermarkt entfernt, ein. Hauptwachtmeister Björnsen erstattet Meldung, Meyer versucht dem Verunglückten Erste Hilfe zu leisten. Aber Heckert ist tot. Die Frau, die ihn erkannt hat, drängt sich vor. »Das ist er«, sagt sie, fassungslos, daß er nun tot ist. Der Mann, der ihn überfahren hat, hat einen Schock. Er steht am Straßenrand und ist unfähig, eine Frage zu beantworten. Der Notarzt nimmt sich seiner an, nachdem er festgestellt hat, daß dem Verunglückten niemand mehr helfen kann. Die Personalien werden aufgenommen, Vermessungen angestellt, aufdringliche Neugierige von der Unfallstelle verwiesen. Erst nach 50 Minuten ist die Straße wieder frei, frei von Glas, Blech und Blut. Am nächsten Tag berichten die Zeitungen zwar von dem tödlichen Unfall, aber die Identität des Opfers wird geheimgehalten.
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KOMMISSAR FINKE BERICHTET Ich habe die Polizeipressestelle angewiesen, so zu verfahren. Gleichzeitig habe ich Frau Markner und den Geschäftsleiter des Supermarkts unter Hinweis auf die noch nicht abgeschlossenen Untersuchungen im Mordfall Michael Harms gebeten, nichts an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Klatsch und Tratsch, auch wenn sie zufällig einmal Wahrheiten enthalten, können schneller sein als der Schall. Ich wollte aber unter allen Umständen vermeiden, daß Sina Wolf in Pöstropp etwas von dem Tod des Mannes im grünen Anzug erfährt – es sei denn zu einem Zeitpunkt, der mir zweckmäßig erscheint. Diese Maßnahme hatte ihren Grund. Aus Reiseunterlagen, die wir in der Wohnung des tödlich verunglückten Alfons Heckert fanden, ging hervor, daß er, als der Mord an Michael Harms verübt wurde, in Österreich gewesen war. Eintragungen in einem schwarzen Notizbuch wiederum, in der Jacke des Toten gefunden, sprachen durchaus dafür, daß er der Mann war, der im nördlichen Grenzgebiet mehrfach Frauen überfallen und zum Geschlechtsverkehr gezwungen hatte. Frau Markner war eine davon, und an ihrer Glaubwürdigkeit bestand nicht der allergeringste Zweifel. Um mit der angestrebten Taktik nicht auf die Nase zu fallen und jeden Zweifel auszuschließen, ersuchte ich die Fremdenpolizei in Tirol, mir schnellstens mitzuteilen, ob der Feriengast Alfons Heckert, wohnhaft gewesen in der Pension Sonnenblick in Stöfersau, am 28. August für etwa 24 Stunden die Gegend verlassen haben könnte, um in Deutschland einen Mord zu verüben. Die Antwort traf am nächsten Morgen per Fernschreiber ein. Alfons Heckert hatte an besagtem Tag an einer Bergwanderung teilgenommen, an Zeugen dafür war kein Mangel. Damit war mein Verdacht, daß es am 28. August im Pöstropper Forst ganz anders zugegangen war, als Sina Wolf angegeben hatte, bestätigt. Ich empfand trotzdem keinen Triumph, auch nicht gegenüber meinem Kollegen Franke, der in letzter Zeit nur noch in sich 63
hineingelächelt hatte, wenn ich immer und immer wieder die Protokolle gelesen hatte, um irgendwo auf einen konkreten Widerspruch zu stoßen. Doch die Frage, wer Sina tatsächlich überfallen hatte, wer ihr zu Hilfe gekommen war und wer Michael Harms erschlagen hatte, war nicht annähernd gelöst. Es schien mir beispielsweise gar nicht so abwegig, daß Sina mit einem ganz anderen Jungen in den Wald gegangen war und daß Michael Harms, von ihr in letzter Zeit vernachlässigt, ihr aufgelauert hatte. Im Verlauf einer handgreiflichen Auseinandersetzung hatte dann womöglich der andere, mir unbekannte neue Freund von Sina den Stein genommen und den aufdringlichen Micha getötet – ob nun absichtlich oder nicht. Dann hatten Sina und der »Neue« sich auf den Mann im grünen Anzug als Täter geeinigt, von dem sie schon in den Zeitungen gelesen hatten. Sie konnten nicht wissen, daß er 1000 Kilometer entfernt Urlaub machte. Der »Neue« war geflohen und auch bei der anschließenden Fahndung in keiner Weise aufgefallen, weil ja niemand anderer als ein etwa Vierzigjähriger in grünem Anzug gesucht wurde. Theorie? Natürlich! Wie es tatsächlich gewesen ist, weiß womöglich nur Sina Wolf. Ich, Kriminalhauptkommissar Finke, weiß im Moment nur, daß es so, wie Sina es uns geschildert hat, nicht gewesen ist. Wir müssen sie in eine Falle laufen lassen. Ich habe mich bereits bei meinem Vorgesetzten, dem Polizeioberrat Fentsch, angemeldet, um den Plan im einzelnen zu diskutieren. Viel Zeit, das steht fest, darf nicht mehr verloren werden. Der Mann im grünen Anzug ist tot, und die Öffentlichkeit ist beunruhigt, weil er ihrer Meinung nach noch frei herumläuft. Frau Oberstudienrätin Dr. Gisela Fichte hatte den Stapel Hefte mit auf die Terrasse genommen, weil es so ein schöner, milder Herbsttag war. Während sie die Mathematikarbeiten korrigierte, schaute sie hin und wieder zu ihrem Mann hinüber, der die letzten Tomaten erntete, die welkenden Pflanzen aus der Erde zog und zum Komposthaufen trug. Dann und wann winkte oder lachte er zu ihr herüber. 64
»Wollen wir erst mal Kaffee trinken?« fragte sie. »Ich will diese Ecke hier noch umgraben! In zehn Minuten, ja?« Sie nickte und nahm ein neues Heft vom Stapel. Es war die Mathematikarbeit von Katrin Schulte. Von den acht Aufgaben waren die erste, zweite, fünfte und achte richtig; das war nach dem Zensurenspiegel eine Vier plus, was angesichts der vorangegangenen Leistungen der Schülerin als geradezu sensationell gewertet werden konnte. Einen leichtfertigen Zeichenfehler rechnete Frau Fichte nicht an. Es folgten einige durchschnittliche Arbeiten, dann eine brillante Arbeit von Sina Wolf. »Sina hat wieder eine Eins geschrieben!« rief sie ihrem Mann zu. »Klasse!« Sie arbeitete weitere Hefte durch und kam zu dem von Inge Carstens, einem fast hoffnungslosen Fall. Der hoffnungslose Fall hatte die zweite, dritte, sechste und siebente Aufgabe richtig. Frau Fichte blätterte um, ob es tatsächlich das Heft von Inge war. Kein Zweifel. Da konnte man nur noch den Kopf schütteln. Sollte ihr Appell, sich geradezu fanatisch mit der analytischen Geometrie zu beschäftigen, selbst von den schwächsten Schülerinnen befolgt worden sein? Sie benotete schon vergnügt mit einer Vier plus, als sie den Zeichenfehler bemerkte. Das war zwar nicht schlimm, aber dieser Flüchtigkeitsfehler war schon einmal gemacht worden. Sie schaute nach. Klar: Katrin Schulte, beste Freundin und Banknachbarin von Inge Carstens, hatte bei der zweiten, ebenfalls richtigen Lösung, das gleiche Zeichen falsch. Zufall? Frau Fichte bezweifelte es. Aber abgeschrieben konnten sie kaum haben. Erstens waren normalerweise beide schlecht, zweitens waren sie zu durchaus unterschiedlichen Lösungen gekommen. Auffallend war nur, daß die falsch errechneten Aufgaben so total danebengegangen waren, daß man sich fragen konnte, wieso die richtigen so scheinbar mühelos errechnet worden waren. Sie nahm ihr Arbeitsheft. 65
Und da sah sie, daß ihr beim Vorformulieren der Aufgabe der gleiche Flüchtigkeitsfehler unterlaufen war. Sie schloß entsetzt die Augen. Es gab nur eine Erklärung: Inge und Katrin hatten die Aufgaben und Lösungen vorher ihrem, Frau Fichtes Arbeitsheft entnommen! Das aber war gar nicht möglich! Frau Fichte hatte dieses Heft nicht mit in der Schule gehabt, sondern ein anderes, in welches sie die Aufgaben übertragen hatte – ohne den Flüchtigkeitsfehler! Wie sollte sie sich das erklären? Sie blickte zu ihrem Mann, der den Zaun auf seine Reparaturanfälligkeit untersuchte. Das konnte doch wohl nicht sein, oder? Warum sollte er? Sie sah zu, wie er späte Margeriten schnitt, zu einem Strauß zusammensteckte, mit hochgeschossenem Spargelkraut verzierte und ins Wohnzimmer brachte. Im Vorübergehen sah er sie an wie einer, der glücklich ist, die notwendige Arbeit getan zu haben, und nun das Heim mit Blumen schmückt. »Ist was?« »Nein.« Sie legte den Stapel Hefte auf ihren Schreibtisch. In letzter Zeit war Helmut leicht deprimiert und grüblerisch – sie wollte seine augenblickliche gute Stimmung nicht mit einer vielleicht unentschuldbaren Verdächtigung zerstören. Trotzdem fiel ihr anschließend wieder das Englischheft des toten Michael Harms ein, in das er, offensichtlich kurz vor seiner Ermordung, »Fichte, das Schwein!« gekritzelt hatte. Gab es einen Zusammenhang? Sie ging in die Küche und stellte Kaffeewasser auf. Ihr Mann pfiff im Bad beim Händewaschen. Nein, sie würde ihn nicht nach einer Erklärung fragen. Die Reaktion der Klasse am nächsten Morgen entsprach ihrer eigenen. Nicht einmal die Eins von Sina Wolf fand so ein Echo wie die beiden guten Vieren von Katrin Schulte und Inge Carstens. »Tja, wir haben eben noch gebüffelt«, kommentierte Inge das allgemeine Hallo. Katrin Schulte dagegen bekam einen roten Kopf. »Falls die ganze Klasse geschlossen durchs Abitur kommt, müssen Sie ein Sektgelage geben, Frau Doktor Fichte!« schlug 66
Angelika Hefner, das Original der Klasse, unter stürmischem Applaus vor. Frau Dr. Fichte schwieg und sah zu Inge. Rektor Forkmann kam herein. »Darf ich erfahren, was hier gefeiert wird?« »Keine einzige Sechs in der Mathearbeit.« »Gratuliere.« Forkmann nahm Frau Fichte zur Seite. »Können Sie Sina Wolf den Rest der Stunde freigeben? Kommissar Finke ist hier. Er will sie mit nach Kiel nehmen.« Sie sah ihn erstaunt an. »Was denn? Ich dachte, mit den Vernehmungen sei es vorbei!« »Ja, das dachte ich auch.« »Sina!« »Ja?« »Es möchte dich jemand sprechen… Nein, nimm gleich deine Sachen mit.« Sina packte ihre Bücher in die Tasche und verließ das Klassenzimmer. Im Flur stand Hauptkommissar Finke. Er nickte Sina freundlich zu. Seine sympathischen Augen blitzten, als sei er gekommen, um sie zu einem Ausflug abzuholen. So ähnlich war es dann ja auch. »Geht es gut?« fragte er zunächst. »Ja.« »Sie würden mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie mit mir nach Kiel fahren könnten.« Es klang immer noch sehr zwanglos, so, als ob sie auch nein sagen könnte. »Ich bin mit meiner Mutter verabredet. Wir wollen nach Hamburg fahren.« Das war sogar die Wahrheit, aber Finke hatte vorgesorgt. »Ihre Mutter hat Verständnis, wenn Sie nicht mit können. Genauer gesagt: Ich war schon bei ihr, ich wußte ja nicht, daß Sie noch in der Schule sind. Also, wie ist es?« Sina nickte, fragte jedoch: »Und was soll ich in Kiel?« »Wir haben den Mann!« »Welchen Mann?« »Den Mann im grünen Anzug. Er ist identifiziert. Die Frauen, die er überfallen hat, haben ihn wiedererkannt.« 67
Sie fühlte seinen Blick. Es war ein Blick reiner Güte. In einem Buch hatte Sina einmal über einen Scharfrichter gelesen, der ein äußerst gemütvoller Mensch gewesen war und vor der Hinrichtung mit seinen Todeskandidaten noch über das Wetter geplaudert hatte, als sei es ein Tag wie jeder andere. So ähnlich kam er ihr vor. »Es ist sehr wichtig, daß Sie ihn auch identifizieren«, sagte Finke und überquerte mit ihr den Schulhof. Franke kam aus dem Dienstwagen und gab ihr höflich die Hand, nahm ihr sogar die Tasche mit den Schulbüchern ab. »Möchten Sie vorn sitzen?« fragte Finke. »Dann müssen Sie sich anschnallen. Unter den Augen der Polizei muß alles korrekt sein.« Sie schnallte sich an. Mein Gott, dachte Sina, sie haben ihn. Finke startete den Wagen und setzte eine Unterhaltung mit Franke fort, die sie auf der Herfahrt begonnen hatten. »Und Gerold?« »Wird zum K zwo versetzt.« »Ob die begeistert sind?« »Wer ist bei der Polizei schon begeistert!« Sie haben ihn, dachte Sina, und ich soll bezeugen, daß er es gewesen ist. Ich kann nicht sagen, daß er es nicht gewesen ist, denn ich habe ihn viel zu genau beschrieben, genau so, wie er in der Zeitung von den überfallenen Frauen geschildert worden ist. »Mohler wird Leiter der Schutzpolizeistaffel«, plauderte Franke. »Nur unsereins wird nicht befördert.« »Sie können doch zufrieden sein.« Sina zitterte vor Angst. Konnte sie einem Mann, der alle möglichen Straftaten, aber nicht diese eine begangen hatte, so belasten, daß er wegen Mordes lebenslänglich bekam? Wie würde er sie anschauen? »Pfefferminz?« Finke reichte ihr eine Bonbonschachtel. »Nein, danke.« »Die sind gut!« »Ich möchte trotzdem nichts.« 68
Sie hatte das beklemmende Gefühl, alles sei Taktik, selbst das harmlose Kollegengeplauder der Kriminalbeamten. Warum sprachen sie nicht mit ihr? Erwarteten sie, daß sie Fragen stellte, Fragen wie: »Wann haben Sie ihn denn gefaßt?« Oder: »Hat er den Mord an Michael gestanden?« Sollte sie fragen: »Hat er den Mord an Michael gestanden?«, obwohl sie genau wußte, daß er ihn gar nicht begangen hatte? Ihre Lippen klebten aufeinander. Ich darf mir nicht anmerken lassen, was für Angst ich habe, hämmerte sie sich ein. Ich muß ruhig und gelassen bleiben. »Hat er den Mord an Michael gestanden?« hörte sie sich plötzlich doch fragen. »Nein. Dann könnten wir uns die Gegenüberstellung ja auch ersparen.« »Was ist er für ein Mensch?« »Sie werden ja sehen!« Finke hielt vor dem Polizeipräsidium, brachte sie in sein Dienstzimmer. Finke blätterte in Aktenbündeln, tat zerstreut und schaute Sina zwischendurch an, als warte er auf eine wichtige Aussage. »Kann ich etwas zu trinken bekommen?« »Aber sicher. Verzeihung, natürlich, Sie müssen ja durstig sein. Jede Art von Aufregung macht durstig.« Finke lächelte entschuldigend. »Ich bin nicht aufgeregt.« »Nein?« Er goß Sprudelwasser in ein Glas. »So ein entscheidender Augenblick, und Sie sind kein bißchen aufgeregt?« Sie biß sich auf die Lippen. »Ein bißchen schon!« Warum redete sie einen solchen Unsinn? War die Angst vor einem Sittlichkeitsverbrecher nicht etwas völlig Normales? Auch wenn man ihn nicht zu Unrecht verdächtigen wollte? »Wenn es dann soweit ist«, sagte Finke väterlich, »müssen Sie sich konzentrieren. Es ist fast drei Wochen her, daß Sie dem Mann gegenübergestanden sind, da kann der Druck so groß sein, daß man etwas Falsches sagt.« Er wischte seinen eigenen Gedanken wieder weg. »Aber was soll das! Er war Ihnen ja ganz nahe, von Angesicht zu Angesicht. Ist es denkbar, daß Sie ihn nicht wiedererkennen?« 69
Sina antwortete nicht. Sie wußte nicht, was die richtige Antwort war. »Na, nun trinken Sie erst mal einen Schluck. Sie sind ja ganz verstört. Und ich will Sie nicht quälen. Genaugenommen will ich Ihnen nur helfen!« »Wobei?« Jetzt suchten ihre Augen tatsächlich seine Hilfe. »Es richtig zu machen«, antwortete Finke. Er meinte es gut. Sie kam vor lauter Verwirrung gar nicht auf den Gedanken, daß er es wirklich gut mit ihr meinen könnte. Sie sah in ihm den Scharfrichter, der nochmals vom Wetter plauderte, ehe er sie zum Schafott führte. Im gleichen Augenblick wußte sie, daß sie nie und nimmer einen Unschuldigen belasten konnte. Weshalb war sie nie auf den Gedanken gekommen, daß die Polizei den Mann im grünen Anzug fassen konnte und daß dann der ganze Schwindel platzen mußte? Sie blickte zu Finke, als könne sie in seinem Gesicht das Ausmaß der Gefahr ablesen, in der sie sich befand. Aber Finke beachtete sie nicht. Franke kam wieder herein. Finke schüttelte den Kopf. Dann sagte er: »Na, dann wollen wir mal!« Zu ihrem Erstaunen verließen sie das Polizeipräsidium, gingen zurück zum Wagen. Sina begann zu hoffen. Hatte sie nur auf einen Trick hereinfallen sollen? War der Mann im grünen Anzug noch gar nicht gefaßt, und Finke und sein Assistent hatten ihr nur etwas vorgemacht? Sie fuhren ein paar Straßenzüge weiter, bogen in einen Innenhof ein. Ein Mann in weißem Kittel kam auf Finke zu. Sina wandte sich an Franke. »Wo sind wir denn hier?« Er sah sie an, als dürfe er das nicht sagen. Aber dann las sie das Schild neben der Eingangstür: Gerichtsmedizinisches Institut. Sie gingen hinein, stiegen eine Treppe in den Keller hinab, gelangten in einen großen, gefliesten Raum, in dem es nach Desinfektionsmitteln roch. In der Mitte des Raumes stand ein schmaler Tisch auf Rädern. »Kommen Sie«, sagte Finke. 70
Der Mann im weißen Kittel hob das Tuch hoch. Auf dem Tisch lag ein Mann, eine Leiche. »Kommen Sie doch näher, bitte!« »Ist er – tot?« fragte sie fassungslos und fühlte sich gleichzeitig erleichtert. »Ja. Kommen Sie.« Sie trat näher, von einem leichten Schwindelgefühl befallen. Es war der Mann, dessen Zeichnung in der Zeitung abgebildet worden war! Warum hatten sie ihr nicht gleich gesagt, daß er tot war? Hatten sie gehofft, wenn sie ihr einredeten, daß er lebte, würde sie die Nerven verlieren und die Wahrheit gestehen? Hatten sie möglicherweise bereits den Verdacht, daß etwas nicht stimmte? »Na?« »Ja. Er ist es!« »Der Mann, der Sie überfallen und Michael Harms erschlagen hat?« »Ja.« Sie war so erleichtert, daß sie sich anstrengen mußte, es sich nicht anmerken zu lassen. Erst hatte sie ihre Angst unterdrücken müssen und nun die Erleichterung. Er war tot. Tote büßen nicht mehr für Taten, die sie nicht begangen haben. »Zwei Beamte wollten ihn vor einem Supermarkt festnehmen«, sagte Finke. »Er rannte auf die Straße und lief in ein Auto. Haben Sie ihn sich genau angesehen? Ist er es wirklich?« »Ja«, sagte sie nochmals. »Ich muß Sie trotzdem bitten, noch ein Stück näherzutreten, Fräulein Wolf. Tote sehen manchmal anders aus als Lebende.« Sie ging einen Schritt vor und beteuerte zum dritten Mal, daß es der Mann im grünen Anzug war. Der Mann im weißen Kittel breitete das Tuch wieder über den Toten und verabschiedete sich von den Kriminalbeamten. Sie gingen zurück zum Wagen. Finke stieg vor dem Polizeipräsidium aus. »Mein Kollege Franke fährt Sie wieder nach Hause.« Er machte einen deprimierten Eindruck, lächelte nicht einmal zum Abschied. Auch Franke war auf der Rückfahrt wortkarg. Aber Sina nahm sich vor, die Stimmung der Kriminalbeamten nicht zu beachten. 71
Der Mann, den sie des Mordes bezichtigt hatte, war tot, durch einen Unfall ums Leben gekommen. Ihre Aussage belastete ihn nicht mehr. »Unangenehme Sache, eine Leiche zu identifizieren, nicht wahr?« fragte Franke plötzlich. »Ja. Sie werden auch froh sein, daß der Fall nun abgeschlossen ist.« »Ja, das sind wir.« »Warum haben Sie mir nicht gleich gesagt, daß der Mann verunglückt ist?« »Das hat sich Hauptkommissar Finke ausgedacht.« »Sie verstehen es auch nicht?« »Nein«, log Franke. Da zog sie es vor, keine weiteren Fragen zu stellen. Als er sie daheim absetzte, fühlte sie sich gerettet. Franke nickte ihr zum Abschied wohlwollend zu und kam sich dabei gemein vor.
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FRANKE BERICHTET Natürlich komme ich mir gemein vor! Soll ich mir anständig vorkommen, wenn ich ein bezauberndes junges Mädchen mit dem Gefühl entlasse, nichts mehr befürchten zu müssen? Dabei fangen wir nun erst richtig an, sie einzukreisen. Sie wird uns helfen, den Mörder, den sie kennt, zu überführen. Wohl ist mir nicht, nein. Ich habe zu Finke gesagt, und zwar gleich, nachdem wir die Reiseunterlagen bei Alfons Heckert gefunden hatten, ich habe gesagt: Wir sagen ihr klipp und klar ins Gesicht, daß Heckert nicht der Täter gewesen sein kann, und da wird sie mit der Sprache herausrücken. Finke dagegen vertrat die Auffassung, daß sie weiter lügen würde, nachdem sie sich in Lügen verstrickt hat. So aber, in der Annahme, die Ermittlungen seien nun ein für allemal abgeschlossen, würde sie uns auf die Spur des Mörders führen – wenn nicht heute, dann morgen. Irgendwann würde Sina Wolf unvorsichtig sein und etwas Verräterisches tun. Diese Theorie hat viel für sich, das gebe ich zu, aber obgleich ich Vernunft und Dienstauffassung zu Hilfe nehme: Das Mädchen tut mir leid. Sie muß sich in einer bedrückenden Zwangssituation befinden, die wir nicht nachvollziehen können. Womöglich steckte ein klassisches Dreiecksdrama dahinter, mit allen Drohungen, mit Verzweiflung und tödlicher Eifersucht. Und dann – fassungslos – steht sie vor der Leiche des Freundes. Den anderen, uns unbekannten Verehrer schützt sie, indem sie den seit langem gesuchten Mann im grünen Anzug als Täter vorschiebt. An dieser Stelle meiner Überlegungen hat Finke gesagt: Und wie war das dann mit der Vergewaltigung? Wer hat sie dann zu Boden gerissen, verfolgt, in die Dornenbüsche gejagt, ihr die Bluse zerrissen? Welcher von beiden Freunden war es, der lebende oder der tote? Ich mußte ihm recht geben. An der ganzen Sache ist immer noch vieles unklar, sie ist voller Ungereimtheiten. Ich kann nur nicht glauben, daß Sina Wolf, dieses sensible, zarte Mädchen, aus kalter Berechnung einen Mörder deckt. Ich kann mir eigent73
lich auch nicht vorstellen, daß sie dieses arme Schwein, diesen Alfons Heckert, als Mörder ihres Schulfreundes identifiziert hätte, wenn Heckert noch lebte. Auch das habe ich Finke gesagt. Da hat er mich nachsichtig angesehen und gesagt: »Franke, Sie haben eine Schwäche für dieses Mädchen!« Ich muß gestehen – natürlich nicht Finke gegenüber –, daß das stimmt. Polizeibeamte sind auch nur Menschen. Selbstverständlich dürfen solche Sympathien nicht zu Nachlässigkeiten in der kriminalistischen Ermittlungsarbeit führen. Dann kämen nur noch finstere Typen mit Ganovenblick vor Gericht. Beispielhaft in dieser Hinsicht ist Finke. Er hat nämlich auch eine Schwäche für Sina Wolf, eine väterliche vielleicht, aber immerhin. Es hat ihn schwer mitgenommen, daß sie nach wie vor darauf beharrt, der Mann im grünen Anzug hätte Michael Harms ermordet. Finke war überzeugt gewesen, Sina würde dem Druck nicht standhalten. Wen schützt sie? Es ist ein Jammer, daß wir diesen Alfons Heckert nicht lebend fassen konnten – wir wären jetzt wahrscheinlich viel weiter. So aber müssen wir sie beobachten, hinter Büschen lauern, Kontakte überprüfen und hoffen, daß sie einen Fehler macht – einen zweiten, denn den ersten hat sie ja schon begangen. Studienrat Helmut Fichte korrigierte lustlos Aufsätze über das Thema: ›Der zweite Weltkrieg und seine Folgen für Deutschland‹, geschrieben von der 10a. Es war eine echte Prüfungsarbeit. Das Kapitel war behandelt, aber nicht als Aufsatzthema angekündigt worden. Die Arbeit deckte einen geradezu katastrophalen Wissensstand der Schüler auf. Immer wieder schüttelte Fichte den Kopf. Ab und zu las er seiner Frau Stellen vor. »Für Gunter William war am Ende des zweiten Weltkriegs der Kommunismus besiegt!« »Unglaublich«, sagte Frau Fichte. »Damit«, zitierte ihr Mann weiter, »konnte sich in der Bundesrepublik endgültig der Sozialismus durchsetzen, und zwar im Jahre 1943!«
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Sie strich ihrem Mann tröstend übers Haar. »Und hier – sieh dir mal das an… Gerd Filbig, sonst einer der Besten… Er stellt fest, daß dem Deutschen Reich keine Gebiete verloren gingen – mit Ausnahme von Helgoland!« »Solche Schwankungen im Wissensstand sind gar nicht so ungewöhnlich. Manchmal schlägt das Pendel ja auch ganz unvermutet in die andere Richtung. Bei mir haben Inge Carstens und Katrin Schulte in Mathematik beispielsweise eine Vier plus geschrieben.« »Ach!« Er versuchte zu lächeln. »Das ist erfreulich. Dein Verdienst, Gisela.« »Nein, nein. Sie müssen es sozusagen über Nacht kapiert haben.« »Auch gut. Gießt du mir einen Kognak ein? Sonst übersteh’ ich das hier nicht.« Sie goß zwei Gläser ein und trank eines davon sofort leer. »Sonst überstehe ich es nämlich nicht«, sagte sie. Sie setzte sich auf die Schreibtischkante und sah ihn unglücklich an. »Wieso du?« Er legte den Stift weg. »Was bereitet dir denn Kopfzerbrechen?« »Die guten Arbeiten von Inge und Katrin.« »Tja, man kann es dem Menschen eben nicht recht machen. Der eine beklagt sich über schlechte Arbeiten, der andere über gute!« »Über gute aber nur, wenn es nicht mit rechten Dingen zugegangen ist.« Es gelang ihm, sie verblüfft anzuschauen. »Sie haben beide den gleichen Flüchtigkeitsfehler«, erklärte sie. »Abgeschrieben?« Nervös griff er nach dem Glas, trank einen Schluck. »Ich hatte den Fehler auch.« Er schien nicht zu verstehen. Frau Fichte ging zu ihrem Schreibtisch und holte das Arbeitsheft. »Hier. Ein Pluszeichen statt ein Gleichheitszeichen. So haben es die beiden auch.« »Unglaublich«, kommentierte er. Frau Fichte steckte das Heft wieder weg, setzte sich in einen Sessel und sah ihren Mann erwartungsvoll an. 75
»Zufall?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Konnten sie an dein Heft?« »Ich hatte es nicht mit in der Schule. Ich habe es noch einmal abgeschrieben – ohne Fehler!« Er tat so, als suche er eine Lösung für dieses Phänomen. Er stand von seinem Schreibtisch auf und ging – anscheinend grübelnd – auf und ab. »Frag die beiden doch einfach.« Bitte, frag sie nicht!, dachte er. »Du hast zu fest aufgedrückt«, sagte sie sanft und traurig. »Was habe ich?« Sie zeigte ihm die Stelle auf ihrer Schreibtischunterlage. »Hier.« Er starrte auf die erkennbaren Zeichen und Formeln. Er kapitulierte. Dann stammelte er: »Sie taten mir so leid!« »Du hast ihnen auch bei deiner Englischarbeit geholfen. Ich habe mir die Arbeiten angesehen. Ich stehe vor einem Rätsel, Helmut.« »Ich gebe zu, es war gedankenlos.« »Es war sogar sehr dumm! Was soll ich jetzt tun!? Die Arbeiten anerkennen? Das darf ich nicht! Den Schwindel aufdecken? Das kann ich nicht, ohne daß es unangenehme Folgen für dich hat!« Er sagte müde: »Du hast ja recht!« Sie goß für sich ein Glas Kognak ein und trank es in einem Zug leer. Er dachte: Wenn sie jetzt das Glas auch noch an die Wand wirft, kann ich es gut verstehen. Aber sie tat nichts dergleichen. Sie war beherrscht, ganz Pädagogin, auch ihm gegenüber. Es gab für sie keine bösen Menschen, nur fehlgeleitete. Man mußte nachsichtig mit ihnen umgehen, das half mehr als ein Zornausbruch. Sie war ja so gütig. Kein Wunder, daß sie es mit dieser Haltung schon zur Oberstudienrätin gebracht hatte, während er noch immer Studienrat war. Ohne Aussicht auf Beförderung. »Es werden in den oberen Klassen schätzungsweise zwanzig Schülerinnen und Schüler die Versetzung nicht schaffen. War76
um tun dir gerade Inge und Katrin so leid? Warum nicht die anderen, die auch Schwierigkeiten haben?« »Du kennst doch die Eltern von den beiden! Das Abitur als Prestigefrage! Unbelehrbare Leute!« »Und da haben dich die beiden einfach gebeten: Helfen Sie uns! – Und du hast geholfen?« »Na, also, so einfach war es nun auch wieder nicht… Ich habe… ich habe lange mit mir gekämpft, ehe ich es getan habe.« »Wissen sie etwas von Sina?« »Was sollen sie denn von Sina wissen?« »Ich denke da auch an die Kritzeleien im Heft von Michael Harms.« »Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?« »Das frage ich dich!« »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Es ist zwar alles sehr unangenehm, aber einen Zusammenhang kann ich nicht erkennen.« »Die Polizei war heute wieder in der Schule. Sina ist nach Kiel gebracht worden.« »Ich habe davon gehört.« »Du hast ein Verhältnis mit Sina, nicht wahr?« Es klang wie: »Du hast heute vergessen, die Blumen zu gießen, nicht wahr?« »Wie kommst du darauf?« fragte er, als handle es sich tatsächlich darum, daß er vergessen hatte, die Blumen zu gießen. »Zum Beispiel, weil sie nicht mehr zu uns kommt.« »Aha. Würde Sina nicht eher so oft wie nur möglich kommen, wenn wir ein Verhältnis hätten?« »Nein. Sie mag mich ja. Sie möchte nicht mit schlechtem Gewissen bei uns ein- und ausgehen. Als sie noch zu uns kam, hast du auch manchmal auf dem Schulhof mit ihr geplaudert, so wie mit irgendeiner anderen Schülerin. Jetzt geht ihr euch offensichtlich aus dem Weg. Das fällt auf. Vielleicht hat auch Micha etwas gemerkt.« Er starrte sie irritiert an. »Wie kommst du darauf?« »Weil er dich in seinem Englischheft als Schwein beschimpft hat!«
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Fichte stand auf, drehte eine Runde durchs Zimmer, öffnete die Terrassentür, als benötige er frische Luft angesichts so halsbrecherischer Kombinationen. »Unsinn!« sagte er. »Kann Sina Michael gesagt haben, daß sie dich liebt?« fragte sie unbeirrbar und gleichbleibend einfühlsam wie eine Jugendfürsorgerin. »Nein! Schon deshalb nicht, weil es nicht zutrifft!« schrie er. »Worauf willst du denn hinaus?« »Auf die Wahrheit. Um dir notfalls helfen zu können!« erwiderte sie sanft. »Herzlichen Dank. Mir geht es gut. Noch besser ginge es mir, wenn ich jetzt endlich wieder an meine Korrekturen gehen könnte. Oder hast du noch eine Frage? Zum Beispiel die, ob ich vielleicht Michael Harms getötet habe!? Eifersüchtiger Lehrer erschlägt Schüler! Schülerin schweigt, weil sie ihn liebt!« Er war außer sich vor Empörung. »Nein. So primitiv und im Stil einer Boulevardzeitung würde ich es nicht formulieren.« »Du würdest es mit mehr Niveau formulieren, aber fragen würdest du so! Willst du das zum Ausdruck bringen?« Frau Oberstudienrätin Dr. Fichte strich mit den Fingerkuppen über ihre Augenbrauen. Dann nahm sie eine Zigarette. Langsam. Zündete sie gelassen an, lehnte sich zurück und sagte: »Es ist doch keine Frage, daß ich zu dir halte!« Er lachte gezwungen, wirbelte herum wie ein Schauspieler in einer dramatischen Rolle. »Unter allen Umständen? Auch wenn ich lebenslänglich bekomme? Besuchst du mich im Gefängnis? Oder wie soll ich das sonst verstehen, daß du zu mir hältst?« Sie hatte plötzlich Tränen in den Augen, vom Zigarettenrauch oder vor Erregung, es war nicht festzustellen. »Ich möchte doch nur wissen, ob du in diese Sache verwickelt bist. Was ist daran so unverständlich für dich?« Er setzte sich wieder. »Ich bin in keine Sache verwickelt.« Das Telefon läutete. Normalerweise ging er an den Apparat. Heute traf er keine Anstalten. Er war erschüttert, daß seine Frau offenbar allen Ernstes glauben konnte, er müsse die Polizei fürchten. Gisela ging hinaus in den Flur, wo das Telefon stand. 78
»Ach, guten Abend, Herr Forkmann«, sagte sie. Pause. »Nein, das wußten wir noch nicht.« Pause. »Ja, dann wird man sie jetzt wohl auch endlich in Ruhe lassen.« Pause. »Ja. Nein, Sie haben nicht beim Essen gestört, wir essen erst später. Vielen Dank für den Anruf. Wiederhören.« Sie legte auf und kam zurück. Er merkte sofort, daß sie erleichtert war. »Sina hat den Mörder von Michael Harms wiedererkannt. Er ist tot. Sie hat ihn im Gerichtsmedizinischen Institut identifiziert.« Es klang wie eine Entschuldigung, aber er fühlte sich merkwürdigerweise überhaupt nicht erlöst. Er hatte sich, mangels Schuld, gar nicht gefährdet gesehen. Nicht so, wie seine Frau vor Forkmanns Anruf es für möglich gehalten hatte. »Entschuldige«, sagte sie und legte ihre Hand an seinen Kopf. Er schmiegte sich halbherzig dagegen. »Mach jetzt deine Hefte weiter. Ich mache uns ein schönes Essen. Haben wir noch von dem guten Wein im Keller?« Er nickte und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Ludwig Kohlhoff hatte eine gute Arbeit geschrieben, aber Hannes Lepkin war sich ganz sicher, daß die Bundesrepublik 1946 von Otto Grothewohl gegründet worden war und sich aus vier Bundesländern zusammensetzte: Bayern, Preußen, Schleswig-Holstein und Hessen. Daß es nicht mehr waren, begründete er damit, daß das Saarland an Frankreich abgetreten worden war. Ich möchte bloß wissen, dachte Fichte, wieso ich auf den Gedanken gekommen bin, Lehrer zu werden.
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SINA BERICHTET Diesen Brief schreibe ich Dir, ohne ihn abzuschicken. Ich blikke auf den See, der grau im Nebel liegt, und vor mir stehen in einer Vase die Gräser, die Du neulich gedankenlos abgepflückt hast und wegwerfen wolltest. Ich bin allein. Mama ist für mehrere Tage verreist. Mit Papa. Wie schön wäre es, wenn ich Dich einfach anrufen und sagen könnte: Komm! Ich habe nämlich sehr traurige Tage hinter mir, und ich würde gern mit Dir darüber sprechen. Vielleicht würde es mir aber auch schon genügen, Deine Liebe zu fühlen, weil ich dann wieder einmal wüßte, daß ich es richtig gemacht habe, nichts bereuen muß. Ich habe auch schon zweimal den Telefonhörer in der Hand gehabt, aber mir fällt einfach nicht ein, was ich sagen könnte, wenn Deine Frau dran ist. Wenn sie eine unsympathische Ziege wäre, fiele es mir nicht so schwer, ihr etwas vorzumachen, aber sie ist eine wunderbare Frau. Wenn sie nicht Deine Frau wäre, hätte ich das Bedürfnis, ihr zu sagen, wie glücklich ich mit Dir bin oder wie unglücklich. Im Augenblick bin ich mehr unglücklich. Dabei habe ich in Mathe eine Eins geschrieben, und die Polizei bin ich nun auch für immer los, nachdem der Mann im grünen Anzug tot ist und niemand widerlegen kann, daß er es gewesen ist. Warum bin ich also unglücklich? – Ich will es Dir sagen: Über eine Woche keine einzige Sekunde mit Dir allein gewesen, das ist so lange, da sterbe ich ab. Ich sitze da, lese Gedichte und heule. Wenn es mir zu dumm wird, stehe ich auf, gucke in den Spiegel und schneide Grimassen. Ich liebe mich nicht, wenn Du mich nicht liebst, damit Du es weißt! Zwei Stunden später. Ich bin noch ganz durcheinander. Es waren Reporter da. Was ich empfunden habe angesichts des toten Mannes, der Michael auf dem Gewissen hat. Ob ich seinen Tod für eine gerechte Strafe halte und so weiter und so weiter. Es war wie ein Überfall.
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Das Schönste, d.h. das Häßlichste aber kommt noch. Sie wollten mich fotografieren, wie ich am Grab von Micha Blumen niederlege. Sie wollten die Blumen für mich kaufen, damit ich keine Unkosten habe. Ich habe es abgelehnt. Ob ich denn nie an das Grab meines Freundes gehe, fragten sie. Ich habe gesagt, ich gehe nicht auf Kommando an ein Grab, und ich mache kein unglückliches Gesicht, nur weil eine Kamera auf mich gerichtet ist. Sie haben Michas Mutter extra aus der Anstalt geholt, für einen halben Tag, mit Sondergenehmigung, und es sei doch sehr eindrucksvoll, wenn ich mit Frau Harms gemeinsam am Grab des Jungen stünde, der für meine Unschuld gestorben sei. Bei »Unschuld« hat der eine blöd gegrinst, ich hätte ihm am liebsten eine runtergehauen. Ihr nächster Vorschlag war dann, mit ihnen an die Stelle zu gehen, wo Michael gestorben ist. Ich habe auch das abgelehnt. Sie waren alle drei furchtbar sauer auf mich. Ich hab’ mich dann vor dem Haus fotografieren lassen, weil ich das Gefühl hatte, die schreiben womöglich Schauergeschichten, wenn ich ihnen kein bißchen entgegenkomme. Aber geärgert hat mich das alles schrecklich. Am Grab von Micha bin ich seit der Beerdigung noch nicht ein einziges Mal gewesen. Das wundert auch meine Mutter, aber ich habe ihr glaubhaft machen können, daß es mich seelisch zu sehr mitnehmen würde. Das ist ja auch nicht gelogen. Ich wüßte nicht, mit welchen Gefühlen ich dort stehen sollte. Micha wollte Dich und mich auseinanderbringen – mit allen Mitteln! Daran denke ich immer, wenn das Gewissen anfängt, mir zuzusetzen. »Wir vergessen alles, was war! Du liebst mich!« hat er gefordert. Der Gedanke, ich hätte seinem Verlangen nachgegeben, jagt mir noch jetzt einen Schauder über den Rücken. Ich und Micha lieb haben! Unvorstellbar. Nein, ich liebe Dich, wir können uns nicht entkommen. Jetzt kannst Du auch nicht mehr sagen, wir müssen vorsichtig sein wegen der Polizei. Wir müssen nur vorsichtig sein, weil Pöstropp ein altes Quatschnest ist und unsere Liebe als »Unzucht mit Abhängigen« aufgefaßt und verboten werden könnte. Verboten! Liebe verboten! Was gehörte auf der Welt erst alles verboten, ehe die Liebe verboten gehört! 81
So, nun stecke ich diesen Brief zu den vielen anderen, die ich Dir geschrieben und nicht abgeschickt habe. Ob ich sie Dir wohl je zu lesen gebe, ich meine, alle auf einmal? Ich glaube, das kann erst sein, wenn wir mal zusammengewachsen sind wie Philemon und Baucis, damit Du mich nicht verstoßen kannst, wenn Du erfährst, was ich alles für unsere Liebe getan habe! Pause. Hochbetrieb am Getränkeautomaten. Eine leere Coladose wird über den Schulhof gekickt. Gebrüll und Geraufe. Papierflieger gleiten. Sie tragen unregelmäßige Verben und Geschichtsdaten durch die Luft. Versuche, sie mit den Früchten des Kastanienbaums abzuschießen. Gebrüll bei jedem Treffer. Gelangweilte Mädchen beißen Häppchen von Broten ab und fragen sich, wie man nur so kindisch sein kann. Ein Oberstufler zieht einen Unterstufler an den Ohren. »Wirst du wohl dein Frühstückspapier aufheben?« »Arschloch!« »Selbst eins.« »Soll ich dir Beine machen?« Inge Carstens grinst Studienrat Fichte an. Fichte hat Aufsicht. Er kickt die Coladose zurück. Großes Hallo. Oberstudienrat Möller findet, wenn die Lehrer mitkicken, ist es ja kein Wunder, daß keine Disziplin herrscht. Irgendwann wird er das mal dem Direktor melden müssen. »Erinnere mich daran, daß ich dich mal als Rechtsaußen ausprobiere!« Die Albernheit meldet sich zu Wort: »Herr Fichte, was kostet die Tanne?« Fichte lacht nur. Albernheit und Unreife. »Ich würde ihnen das verbieten«, sagt Möller zu Fichte. »Dann macht es ihnen doch erst richtigen Spaß!« sagt Fichte zu Möller. »Trotzdem!« Oberstudienrat Möller hat seine Prinzipien. In der Ecke drüben heißt es aufpassen. Heiner Blook ist in Kiel gewesen. Nun verteilt er gönnerhaft. Die Streber werden nicht herangelassen, und ein Streber ist jeder ab 2,5 Durch-
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schnitt. Solche Typen bringen es fertig und melden es der Aufsicht. »Das riecht ja süß!« »Na klar!« »Und da kann nichts passieren?« »Nee, da fühlst du dich nur freier. Da ist dir alles egal. Die Schule und die ganze Scheiße.« »Paß auf, Fichte kommt!« Fichte kommt nicht, er hat Sina entdeckt. Sie hat sich auf die Bank am alten Wirtschaftsgebäude verdrückt, nachdem in der ersten großen Pause alle wegen der Zeitung über sie hergefallen waren. Nun hat sie Angst vor Neugierde, Hohn oder Wohlwollen. Keine Blume für den toten Freund, lautete die Überschrift. Die Rache der Fotografen! Fichte setzt sich zu ihr. Da lächelt sie schon wieder. »Du wirst es vergessen«, sagt Fichte zu Sina. »Ich habe es schon vergessen.« »Sieh dir die Prinzessin an«, sagt Inge Carstens zu Katrin Schulte. »Huldvoll läßt sie sich von Prinz Studienrat trösten!« »Manchmal bist du gemein!« »Na, und sie? Was hat sie denn mit Micha gemacht?« »Das weißt du nicht!« »Dann war es der Prinz! Warum guckst du denn so dämlich? Wir haben die Zeugnisnoten, die wir wollen, darauf kommt es an!« »Ist es schlimm gewesen in Kiel?« fragt Fichte Sina. »Er war ja tot.« »Trotzdem. Es ist bestimmt nicht einfach, so einen Mann nochmals sehen zu müssen.« »Meine Mutter ist verreist.« Er begreift nicht gleich. »Du kommst doch?« »Zu dir?« »Warum nicht? Ich bin zu Hause. Ich warte auf dich. Freust du dich nicht?« »Doch. Doch, ich freue mich. Ich muß jetzt gehen, wir dürfen nicht zu lange miteinander reden.« 83
Er muß auch gehen, weil sich zwei Dreizehnjährige in die Haare gekriegt haben. Sie schlagen aufeinander ein, als ob sie sich umbringen wollen. Freunde und Feinde haben einen Kreis gebildet und feuern die Kämpfer an. Kleineren Schlägereien schaut Fichte gewöhnlich zu, ohne einzugreifen, obwohl die Schulordnung auch harmlose Raufereien verbietet. Fünfzig Minuten still auf der Bank sitzen, findet Fichte, ist eine Zumutung, die sich schon einmal in einem Kräftemessen entladen darf. Das hier geht zu weit. Stefan Hellweg blutet aus der Nase, und Fred Helm schlägt noch immer zu. Fichte reißt Helm zurück. Da stößt der verletzte Stefan dem Gegner den Fuß in den Unterleib. Fichte kann gerade noch den Impuls bremsen, Stefan mit einer Ohrfeige für seine Heimtücke zu strafen. »Gebt euch die Hand, los!« schreit er beide an. »Jetzt ist Frieden, klar?« Sie reichen sich die Hand. Zwischen ihnen herrscht Frieden. Der Feind heißt jetzt Fichte. »Es hat schon seinen Sinn, daß Schlägereien verboten sind«, tadelt Kollege Möller Fichte. »Wenn ich Aufsicht habe, gibt es nicht mal einen Knuff.« »Sie müssen doch stundenlang stillsitzen.« »Was ist daran schlimm? Werden die meisten von ihnen nicht ihr ganzes Leben stillsitzen müssen? Wir müssen sie doch auf das Leben vorbereiten!« Fichte hat keine Lust, das Thema breitzutreten. Er lächelt den Kollegen an und ist mit seinen Gedanken schon wieder bei Sina. Eine heftige Freude überfällt ihn. Wir müssen sie doch auf das Leben vorbereiten! Der liebe Kollege Möller, da steht er mit seiner Disziplin am Treppenaufgang und starrt, solange er sich unbeobachtet fühlt, auf die siebzehnjährigen Mädchenpopos in Jeans, grimmig entschlossen, sie so lange für sündhaft zu erklären, wie sie sich seinem Zugriff entziehen. Zwei Stunden später haben Finke und Franke – ganz dienstlich! – ein Mädchen im Auge. Es ist Sina Wolf. Sie strampelt auf dem Fahrrad von der Schule nach Hause. 84
Die Verfolger im Auto tragen, obwohl die Sonne schon den ganzen Tag hinter Wolken verborgen geblieben ist, Sonnenbrillen, die das halbe Gesicht verdecken. Sie kommen sich dabei komisch vor. Zu Beginn ihrer Personenbeschattung, dienstlich auch »Observation« genannt, haben sie sogar ernstlich erwogen, sich künstliche Bärte anzukleben, um von niemandem erkannt zu werden, aber bei der »Anprobe« hat Franke einen Lachanfall bekommen, weil Finke, wie er fand, wie ein Weihnachtsmann auf Sommerurlaub aussah. Da haben sie es dann bleiben lassen. Auch auf die Maskerade mit den Sonnenbrillen hätten sie gern verzichtet, wenn der für die Einsatzleitung zuständige Kollege im Polizeipräsidium zur Überwachung Sinas einige Zivilbeamte nach Pöstropp abkommandiert hätte, die man hier nicht so gut kennt wie Finke und Franke. Sina biegt in einen Seitenpfad ein, der nach etwa einhundert Metern in die Straße mündet, in der sie wohnt. Eine Abkürzung. »Und nun?« schimpft Finke. Franke setzt zurück. »Sie wird uns schon nicht verloren gehen.« Er biegt in die Straße ein, die seiner Ansicht nach die richtige sein muß. Es ist auch die richtige, aber sie ist wegen Bauarbeiten halbseitig gesperrt, und natürlich kommt ihnen auch noch ein Fuhrwerk mit müden Ackergäulen entgegen. Finke unterdrückt einen Fluch. Heute scheint wirklich alles schiefzugehen. »Regen Sie sich nicht auf. Sie wird, wie immer, nach Hause radeln und ihre Schularbeiten machen. Wir könnten ebensogut gleich nach Malchhausen rüberfahren und was Ordentliches zu Mittag essen.« Finke sieht Franke nur strafend an. »Haben Sie denn keine Brote mit?« »Doch. Aber das Bier ist warm. Wir haben ja leider kein Kühlfach im Auto.« »Ich gebe Ihnen einen Schluck Kaffee aus meiner Thermosflasche. Na los, fahren Sie!« Das Fuhrwerk zuckelt vorbei, Franke gibt Gas. Das Mädchen ist, als sie die Villa Wolf erreichen, verschwunden.
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»Die kann doch in diesen zwei Minuten unmöglich schon hier sein!« sagt Franke. Im gleichen Augenblick sieht er das Fahrrad. Es liegt im hohen Gras am Straßenrand. »Sie steht da unten am See! Los, fahren Sie weiter!« Franke fährt ein Stück weiter bis zu der Stelle hinter Büschen und Bäumen, wo sie gewöhnlich parken, wenn sie das Haus beobachten. Von hier aus können sie auch die Wiese überblikken, die sich zwischen Straße und See wie ein grüner Teppich ausbreitet. Ein paar Ponys grasen hier. Sina geht auf sie zu und streichelt sie. Dann setzt sie sich auf einen Begrenzungsstein und schaut zum See. »Sie wartet auf jemanden«, vermutet Finke. »Ich glaube eher, daß sie Probleme hat.« Franke packt seine Brote aus. »Wie ist das denn nun mit dem Kaffee?« Finke reicht ihm die Flasche. »Wenn sie Michael Harms geliebt hätte, wäre sie mit den Fotografen zum Friedhof gegangen«, sinniert Finke. Die Zeitung mit dem gehässigen Interview liegt auf dem Rücksitz. Franke zuckt zusammen. »Ist der Kaffee zu heiß?« »Nein. Ich erschrecke über Ihren Gedanken. Das Mädchen ist doch viel zu sensibel, um auf Kommando an einem Grab Tränen zu vergießen.« »Vergießen Sie lieber meinen Kaffee nicht. Ich sage Ihnen: Sie ist viel zu sensibel, um nicht zum Grab zu gehen, wenn es von ihr erwartet wird – es sei denn, sie hätte ein schlechtes Gewissen.« »Ich habe meinen Großvater sehr geliebt«, erwidert Franke. »Schon weil ich bei ihm Pflaumenmus so dick aufs Brot streichen durfte, wie ich wollte. An sein Grab aber bin ich nicht gegangen, und ich hatte kein schlechtes Gewissen – von meiner Sucht auf sein Pflaumenmus einmal abgesehen!« »Weil Sie überhaupt nicht wissen, was ein schlechtes Gewissen ist. Sonst hätten Sie es nämlich jetzt, nachdem Sie meine halbe Thermosflasche leergetrunken haben.« Franke reicht ihm die Flasche und den Becher. Sina Wolf geht über die Wiese, hebt ihr Rad auf und verschwindet ohne irgendein Anzeichen von Unruhe im Haus. 86
Also doch keine Verabredung. Franke lächelt triumphierend. »Ich kenne den Mörder«, sagt Finke bierernst. »Ja?« »Ja. Es kommt nur eine Person in Frage, die Sina für sich allein haben möchte.« »Möglich… möglich… Und diese Person kennen Sie?« »Natürlich!« Wieder einmal geht Franke seinem Vorgesetzten auf den Leim. »Kenne ich die betreffende Person auch?« will er wissen. »Na sicher doch! Wer kriegt denn einen ganz schwärmerischen Gesichtsausdruck, wenn sie ein Pony streichelt? Wer hat denn das Herz in der Hose, wenn das Himmelblau ihres tränenumflorten Blicks auf ihm ruht? Der Kriminalmeister Dieter Franke aus Kiel, 30 Jahre alt und – man sollte es nicht glauben – verlobt! Verlobt mit einer reizenden Kollegin von der Jugendschutzabteilung, mit einer seriösen Beamtin, die ihm vertraut. Ich werde einmal mit Ihrer Sieglinde reden. Das ist wirkungsvoller, als wenn ich Sie an Ort und Stelle verhafte!« Franke kennt diese Art von Humor schon. Er mag sie. Es ist dadurch nie langweilig, auch nicht im Verlauf so uninteressanter, zeitraubender Observationen wie heute. Wahrscheinlich wird, wie gestern schon, der halbe Nachmittag damit draufgehen, daß der eine zum Haus starrt und der andere Kreuzworträtsel löst. Vielleicht kommt ein Vertreter, ein fliegender Teppichhändler, und dann – ja, dann fährt Sina womöglich mal mit dem Rad zu einem Kiosk und kauft sich ein Eis. War der Eismann der Mörder? Oder der Musikalienhändler, bei dem sie sich eine Schallplatte kauft? Oder Direktor Forkmann etwa, dem sie zufällig auf der Straße begegnet und dessen Dackel sich von ihr unterm Kinn kraulen läßt? »Wir sind auf dem Holzweg«, sagt Franke, nachdem sie zwei Stunden gewartet haben. Sina sitzt auf der Terrasse und blättert in Zeitschriften. »Warum?« fragt Finke. Er sammelt eßbare Kastanien auf, die hier zu Hunderten von den Bäumen fallen. »Weil sich nichts tut!« »Sie sind zu ungeduldig… Wo hab’ ich denn nur die Plastiktüte? Ach, hier… Haben Sie schon mal eßbare Kastanien geges87
sen? Zu einem schönen Rehbraten zum Beispiel? Eine ausgesprochene Delikatesse. Nur das Schälen macht einige Mühe. Hinter der Schale jedoch…« Er bricht seinen eigenen Gedanken ab. Er scheint ihm zu philosophisch. Außerdem sieht er, wie Sina Wolf gerade die Terrasse verläßt und ins Haus läuft. »Jetzt ist wohl ihr Liebhaber am Telefon?« spöttelt Franke. »Wenn Sie mir nicht bei der Kastanienernte helfen, können Sie sich ebensogut in den Wagen setzen und pennen. Ich merke schon, wenn sie das Haus verläßt.« Sina verließ das Haus nicht. Im Augenblick telefonierte sie mit Fichte. »Kommst du?« »Ja, ja, ich komme. Nur: Ich kann doch nicht wie ein Dieb klammheimlich…« »Was heißt klammheimlich? Hast du Angst?« fragte Sina herausfordernd. Pause. »Ja. Ich habe Angst.« Sie lachte. »Wir haben doch keine Nachbarn! Wer soll dich sehen? Du parkst den Wagen um die Ecke, wenn du meinst, er könnte dich verraten!« »Na gut… Ich… ich muß sowieso einmal mit dir sprechen!« »Das gefällt mir nicht… Wie du das sagst: mit mir sprechen! Worüber denn? Über uns?« »Ja. Auch.« Er lachte, als wolle er seinen nüchternen Ton nachträglich wieder auslöschen. »Bis gleich!« Finke und Franke hatten Glück, daß Fichte seinen Wagen nicht in ihrem Versteck parkte. Wenn er die Kriminalbeamten hier entdeckt hätte, wäre er wahrscheinlich spazierengegangen, aber nie zu Sina. Fichte stellte seinen Wagen hinter einer unbewohnten Holzhütte an der anderen Straßenseite ab, blickte sich um, wähnte die Luft rein, ging zu Fuß zur Villa, läutete, ging hinein. »Und was sagen Sie nun?« erkundigte sich Finke. »Was soll ich denn sagen, bloß weil ein Lehrer ins Haus geht?«
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»Das finden Sie auch dann nicht seltsam, wenn die Eltern nicht da sind?« »Nein. Woher sollte Studienrat Fichte wissen, daß Sina allein ist.« Finke holte erst einmal tief Luft und sagte eine Weile gar nichts. Die Hartnäckigkeit, mit der Franke für Sina Wolf immer wieder Entschuldigungen fand, ging ihm allmählich auf die Nerven. Er seufzte. »Na gut. Vielleicht können Sie mir dann aber mal sagen, warum jemand wohl seinen Wagen in einem verschlungenen Seitenpfad abstellt, wenn an der Straße vor dem Haus weit und breit kein Parkverbotsschild steht?« Das konnte Franke ihm nicht sagen. »Und so eine Intelligenzbestie arbeitet bei der Polizei!« Es war scherzhaft gemeint, aber Franke fühlte sich durchaus getroffen. Trotzdem klammerte er sich verbissen an die Vorstellung, Studienrat Fichte sei bei Sina, um irgendein schulisches Problem zu besprechen. Er starrte zur Terrasse. Weder Fichte noch Sina waren zu sehen. Franke befürchtete, Finke könne recht haben.
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FICHTE BERICHTET Ich bin mit Wissen meiner Frau zu Sina gefahren. Das klingt unglaublich oder vielleicht sogar moralisch bedenklich. Deshalb sehe ich mich gezwungen, Aufschluß darüber zu geben, was inzwischen passiert ist. Ich hatte ein Gespräch mit meiner Frau. Als ob sie ahnte, wohin ich gehen wollte, warf sie mir wie nebenbei den Satz hin, ich solle mit Sina bald Schluß machen, ihr aber nicht das Gefühl geben, nur ein Spielzeug gewesen zu sein. Ich war so verblüfft, daß ich nur mit dem Kopf nicken konnte. Nun kann man, wenn man will, natürlich darüber staunen, daß eine verheiratete Frau ihren Mann ersucht, mit der Freundin behutsam umzugehen und den Rückzug der Gefühle mit pädagogischem Verständnis auszupolstern. Aber wer meine Frau kennt, wird ihr Verhalten gar nicht so überraschend finden. Sie mochte Sina. Sie jetzt zu verurteilen wäre wider ihre Natur gewesen. »Du machst ihr mit jedem Tag mehr Hoffnung«, sagte Gisela. »Kannst du Sie erfüllen?« Sie sprach ganz ruhig, ohne das hysterische Geschrei, das viele Frauen veranstalten, wenn sie hinter die Untreue ihres Mannes kommen. Verständnis geteilt durch drei – für Sina, für mich und für sich selbst. Und nachdem ich so ganz auf Vernunft und Verantwortungsgefühl eingestimmt war, ließ Gisela noch eine andere Katze aus dem Sack: Unserer gemeinsamen dienstlichen Versetzung nach Lübeck stand nichts mehr im Wege! Wir hatten dieser Versetzung zwar einmal widersprochen, und zwar mit Erfolg, weil Direktor Forkmann uns gern an seiner Schule behalten wollte. Nun aber war Gisela von sich aus auf die Sache zurückgekommen, und zwar meinetwegen, wie sie sagte. Forkmann, der natürlich keine Ahnung hatte, weshalb wir nun doch nach Lübeck wollten, hatte mit dem Schulrat in Kiel telefoniert: Gisela und ich konnten nach den Herbstferien am Gymnasium in Lübeck unterrichten. Dafür kamen von dort zwei Lehrkräfte an die Oberschule von Pöstropp. Gisela hatte zugesagt. 90
Meine Stimmung war entsprechend gemischt, als ich Sina anrief und mein Kommen damit motivierte, daß ich »sowieso einmal mit ihr sprechen« müsse, aber ich schwöre, daß ich fest entschlossen war, das Ende unserer Beziehung einzuleiten. Es blieb bei dem Vorsatz. Der Empfang, den sie mir bereitete, überwältigte mich. Dieser bezaubernden kleinen Mädchenfrau hätte selbst ein stärkerer Charakter nicht widerstehen können, so vollkommen zelebrierte sie das Glück, das sie von diesem Tag erwartete. Ich hätte, so dumm es klingt, auf der Stelle gehen müssen, wenn ich nicht Hauptschuldiger der Katastrophe werden wollte, die ich, unwissentlich, einleitete. Aber ich blieb und starrte verzückt auf die Gänseblume, die sie sich ins Haar gesteckt hatte, auf ihr glückliches Gesicht. Ich sah den gedeckten Tisch an der großen, mit friesischen Glasmalereien verzierten Fensterfront und die Gräser in der Vase neben der Teekanne. Gräser, wie ich sie gedankenverloren bei unserem letzten Treffen abgerissen hatte. »Du darfst mich küssen«, sagte Sina. »Wir sind ganz allein!« Er küßte sie flüchtig und murmelte den dummen Satz von den Umständen, die sie sich gemacht hatte. Sie ging nicht darauf ein. »Setz dich, wir trinken Tee. Ich möchte dich darauf hinweisen, daß mein Tee klasse ist. Sogar mein Vater läßt ihn nur von mir aufbrühen. Mama ist da völlig abgemeldet. Ißt du ein Stück Kuchen?« »Ja. Danke.« »Warum siehst du mich so an?« »Es ist ein bißchen wie im Film, findest du nicht?« Sie lachte. »Nein. Höchstens ist es im Film wie bei uns – vorausgesetzt, daß es ein guter Film ist! Na?« »Ja, der Tee ist wunderbar.« »Dann sei nun auch da!« »Bitte?« »Du sollst da sein. Du sitzt da, als seist du mit jemandem verwechselt worden und müßtest wieder gehen, sobald der Richtige kommt!«
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»Bin ich denn der Richtige?« Der Satz war heraus, er konnte ihn nicht zurückholen. Um ihn abzuschwächen, sagte er schnell: »Der Richtige kommt vielleicht tatsächlich noch!« Sie sah ihn ernst an und fragte: »Soll das lustig sein?« »Nein. Entschuldige. Meine Frau und ich werden versetzt. Das bringt mich ganz durcheinander. Ich hatte nicht damit gerechnet!« Warum fügte er nicht gleich hinzu: Meine Frau weiß Bescheid, und ich habe ihr und mir versprochen, die Beziehung zu dir abzubrechen!? Warum war er so ein Feigling? – Aber ist man ein Feigling, wenn man unfähig ist, jemandem weh zu tun? Sina sah ihn bestürzt an. »Wohin?« »Nach Lübeck.« Sie atmete auf und sah ihn an, als hätte er ihr diesen Schreck ersparen können. »Warum sagst du das nicht gleich? Lübeck ist nicht schlimm. Lübeck ist sogar sehr schön. Günstiger als hier, wo jeder jeden kennt. Pa schenkt mir zum achtzehnten Geburtstag einen Wagen, da bin ich schnell da… Wann müßt ihr denn weg?« »Nach den Herbstferien. Aber das ist nicht das entscheidende, Sina.« Sie reichte ihm die Gebäckschale. »Was ist denn das entscheidende?« Wieder warf er ihr eine Wahrheit hin, die sie nehmen oder zurückweisen konnte: »Na, zum Beispiel, daß ich fünfzehn Jahre älter bin als du und außerdem verheiratet!« »Warst du das denn bisher nicht?« »Doch. Nur…« »Soll ich dir ewige Treue schwören?« fragte sie und sah ihn erwartungsvoll an. Er setzte seine Teetasse ab und begriff, daß sie ihn mißverstanden hatte. Sie glaubte, er hätte Angst, sie zu verlieren – und plötzlich hatte er Angst, sie zu verlieren! Plötzlich wollte er nicht mehr, ließ sie auf der falschen Fährte, weil sie ihm angenehmer war als die richtige. »Soll ich dir ewige Treue schwören?« wiederholte Sina. »Du bist süß! Aber mit etwas mehr Ernst könntest du schon…« 92
Sie hatte verstanden. »Gut«, sagte sie und versuchte so zu sein wie immer. »Ich werde dir etwas sagen. Ich liebe dich. Dich und keinen anderen. Ob du hier lebst, in Lübeck oder anderswo. Daß du fünfzehn Jahre älter bist, stört mich nicht. An dir gefällt mir einfach alles. – Zufrieden?« »Ja, ja.« »Das ist ein Ja zu viel. Zwei Ja sind fast schon wieder ein Nein.« »Ich bin zufrieden, und ich liebe dich auch.« »Dann komm!« Sie nahm ihn an der Hand und ging mit ihm nach oben. »Das ist mein Zimmer.« Er sah sich um. Sein Blick blieb an einem ausgefransten alten Teddybären hängen. Er nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn kritisch. Er war nicht sehr schön, aber originell. Er paßte zu Sina. »Das ist Plumps«, erläuterte Sina. »Er hat nur ein Auge.« »Du hast zwei. Und was siehst du?« »Im Augenblick sehe ich dich!« »Ja? Wirklich? Ich trage ein Kleid, durch das man durchgukken kann, und du siehst mich an wie ein Lehrer den Oberschulrat!« »Das ist nicht wahr«, sagte er ernsthaft. »In Wirklichkeit denke ich daran, wie schön es sein wird. Schöner als im Gras, wo die Mücken stechen. Schöner als im Boot am See, wo man immer auf die Angler oder auf die Segelboote achten muß. Komm mal her. Horch in mich hinein. Hörst du, daß ich glücklich bin?« »Ja.« »Dann schick jetzt Plumps hinaus.« Sina schüttelte den Kopf. Aber sie setzte ihn ans Fenster, mit dem Blick zum See. Dieser Vorgang irritierte Franke sehr, denn er hatte dieses Fenster gerade im Fernglas. »Sie sind jetzt oben, im ersten Stock«, sagte er zu Hauptkommissar Finke. 93
Finke nahm Franke das Fernglas aus der Hand. »Da steht jetzt etwas am Fenster, was vorher nicht dastand«, vermerkte er desinteressiert. Frau Fichte korrigierte gerade die Biologiearbeiten der 11a. Frau Wolf bummelte mit ihrem Mann durch eine Londoner Einkaufsstraße und bemerkte, daß es doch schön sei, eine fast erwachsene Tochter zu haben. Man könne sie unbesorgt einmal für ein paar Tage allein lassen und verreisen. Studienrat Möller sagte zu seiner Frau: »Der Fichte, der hätte längst seinen Anschiß vom Forkmann, weil er bei der Schulhofaufsicht alles durchgehen läßt, aber der Forkmann, der ist ja auf dem einen Auge blind, und weißt du, warum? Weil er mit dem anderen Auge immer nur die Frau Fichte sieht!« Inge Carstens wurde von ihrem Vater gelobt, weil sie nun auch in Mathematik eine Vier statt der befürchteten Sechs nach Hause gebracht hatte. Anton Wegener, der Onkel von Michael Harms, stand in seiner Werkstatt und arbeitete an einem Holzkreuz für das Grab des Jungen. Sina kam aus dem Bad. Sie war ganz übermütig vor Glück, drehte Plumps wieder mit dem Gesicht zum Zimmer und erklärte ihm im Tonfall einer Vierzehnjährigen: »So, mein Schatz, dieser böse Onkel, der da auf dem Bettrand sitzt und selig gähnt, hat soeben Unzucht mit einer Abhängigen getrieben. Da konnte ich dich nicht zugucken lassen, dazu bist du noch zu klein.« »Klein bist vor allem du noch«, erwiderte Studienrat Fichte lachend. »Findest du mich schön?« »Hinreißend!«
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Sie warf ihm ein Kissen ins Gesicht. Sie zog sich an, nahm zwischendurch ein Stück Schokolade aus einer Perlmuttdose, küßte ihm die Hälfte davon in den Mund, brachte ihr Haar in Ordnung, aber nicht ihre Gedanken. Die sprangen hin und her. »Unzucht mit Abhängigen… allein so ein Wort: Unzucht… Ist die Liebe zu Mädchen, die achtzehn sind, dann Zucht? Hm? Ist das dann das Gegenteil? Ist das dann ›Zucht mit Unabhängigen‹? Na schön, du weißt es auch nicht. Da du, ein Lehrer, es nicht weißt, brauche ich es ja auch nicht zu wissen. Wenn du dann in Lübeck bist, ist es ja sowieso egal, dann bist du nicht mehr mein Lehrer, dann bin ich auch achtzehn, und es ist weder unzüchtig noch abhängig. Bis dahin passen wir eben auf. – Sieh mich nicht so erzieherisch an. Ich bin jung. Erwachsen wird man von alleine. Haha, wenn ich anfange, erwachsen zu werden, bist du schon fast ein Opa. Hoffentlich verfügst du dann über den notwendigen sittlichen Ernst… Möchtest du noch ein Stück Schokolade? Ach, du lieber Gott, man kann dich ja nicht mal mit Schokolade küssen, ohne daß du das Kopfkissen damit beschmierst… Geh mal weg… Wo war ich stehengeblieben? Ach so, ja, was deine Alterskomplexe angeht, so wird sich der relative Altersunterschied günstig verschieben – das lernt man schon in der Mathematik. In vier Jahren bin ich zweiundzwanzig und habe mein Vorexamen gemacht… Schließlich bin ich intelligent und fleißig… Wo ist denn mein Gänseblümchen? Hast du mein Gänseblümchen gegessen? – Mit 23 bin ich Studienassessorin – na ja, ist ja klar, daß ich mal Lehrerin werde… Eine gute, das steht fest. Mit 25 bekomme ich ein Kind. Ich werde nicht ungeduldig sein, wenn ich über dreißig Englischarbeiten sitze und mir die Kleine inzwischen die Knöpfe bringt, die sie von deinem Mantel abgerissen hat… Ich nähe nämlich keine Knöpfe an – prinzipiell nicht, damit mußt du dich abfinden. Knöpfe annähen und Hemden bügeln werde ich nicht. Trag gefälligst Pullis. Man kann von einer Frau nicht alles verlangen. Ich koche dir einen guten Tee, wenn ein Knopf abgegangen ist. – Was denn, du kriegst Depressionen? Du kommst aus der Schule und hast dich entsetzlich über Professor Pfeifer geärgert, der deine fortschrittlichen Erziehungsmethoden nicht billigt? – Das pusten wir weg. Wenn du nach Hause kommst, steht das 95
kleine Mädchen auf der Wiese in unserem Garten und pflückt Gänseblümchen. Es hat eine rote Schleife im Haar. Da ist schon dein halber Ärger weg. Du kommst ins Haus und siehst mich – da ist dein ganzer Ärger weg!« »Und wenn ich mich nun in eine deiner Schülerinnen verliebe?« Sie sah ihn verwundert an. »Das war kein guter Einfall«, sagte sie. »Nein.« Er stand auf und umarmte sie. »Ich habe es auch nicht so gemeint.« »Dann sag so etwas nicht. Du begehst einen großen Fehler, wenn du mich nicht ernst nimmst.« Er gab ihr drei Küsse. »Ist es wieder weg?« »Nein.« Noch ein Kuß. »Und jetzt?« »Immer noch nicht!« Er küßte sie immer und immer wieder. »Jetzt?« »Ja. Meine Eltern kommen erst morgen abend aus London zurück.« Er wußte genau, das war eine Aufforderung, wiederzukommen, aber er fragte: »Und?« »Ich erwarte dich zum Tee.« »Aha. Zum Tee. Und dann?« »Fresse ich dich. Hast du nie von der Redensart gehört, jemanden zum Fressen gern haben?« »Doch.« Er zog sich an. Es kam ihm sehr natürlich vor, mit ihr geschlafen zu haben und sich nun anzuziehen. Er suchte die Begründungen dafür, daß er es vor zwei Stunden für unnatürlich, jugendgefährdend, unmoralisch und treulos gehalten hatte. Seine Stimmung war so, daß er seiner Frau am liebsten erzählt hätte, wie schön es mit Sina gewesen war. Er hielt diesen Überschwang für einen Beweis seiner Unschuld, seiner Schuldunfähigkeit. Zugleich wußte er, daß es möglich war, in ein paar Stunden wieder anders darüber zu denken, und er fürchtete sich davor. »Ich komme wieder«, versprach er und glaubte auch daran. »Dann lasse ich dich jetzt auch gehen. Ich muß noch Schularbeiten machen.« 96
Das war die Wahrheit. Sie brachte Fichte noch bis zur Haustür und machte sich dann sofort über die großen Handelswege des Mittelalters her, die in der ersten Schulstunde morgen behandelt werden sollten. Franke brütete über den letzten freien Feldern seines Rätsels und fragte Finke: »Ein Baum mit vier Buchstaben. Wissen Sie einen?« »Fichte.« »Mit vier Buchstaben«, wiederholte Franke. »Der mit den sechs Buchstaben ist auf dem Rückmarsch«, klärte Finke das Mißverständnis auf. Franke legte die Zeitschrift weg und sah Fichte aus dem Haus kommen, flüchtig nach links und rechts die Straße entlangschauen und dann zu seinem Wagen gehen. »Sie klingeln bei Wolf«, ordnete Finke an. »Aber nicht gleich. So in etwa zehn Minuten. Sie soll nicht vermuten, daß wir wissen, wer sie besucht hat. Und machen Sie keinen Schmus mit Anbetung. Sie hat uns belogen. Die Taktik ist doch klar?« »Ja«, erwiderte Franke. »Aber warum machen Sie es nicht selbst?« »Weil Fichte der härtere Brocken ist. Und den nehme ich mir vor.« Finke stieg in den Wagen und fuhr hinter Fichte her. Franke kratzte sich am Kopf. Es war ihm peinlich, bei Sina zu läuten und sie unbefangen um ein Gespräch zu bitten, an dessen Ende sie wie ein Fisch im Netz zappeln sollte.
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FINKE BERICHTET Ich muß bei dieser Gelegenheit gestehen, daß ich bisher nicht auf den Gedanken gekommen bin, Studienrat Fichte könnte in den Mordfall Michael Harms verwickelt sein. Allenfalls hielt ich es nicht für ausgeschlossen, daß Fichte und seine Frau eine gewisse Ahnung von den Hintergründen haben könnten, die sie mir, um Sina Wolf zu schützen, verheimlichten. Aber den Täter habe ich eigentlich unter den Gleichaltrigen, also den Schülern der oberen Klassen vermutet, nachdem feststand, daß der Mann im grünen Anzug für die Tatzeit ein Alibi gehabt hatte. Natürlich ist ein Kriminalbeamter bei bestimmten Konstellationen immer in Gefahr, voreilige Schlüsse zu ziehen. Er sucht Mörder oder andere Verbrecher meist innerhalb einer ihm bekannten Personengruppe. Besonders wenn in einer solchen Personengruppe Motive für die Tat vorhanden sind, kann er sich derart in naheliegende Theorien verbeißen, daß er andere Personen von der Täterschaft in leichtfertiger Weise ausschließt. Wenn der Irrtum dann beseitigt ist, kann man sich nur noch über sich selber wundern. Mir ist das einmal so ergangen. Ein Mann namens Schäfer wurde in einem Wald erschossen aufgefunden. Als Täter kamen zwei Frauen in Frage: a) die Freundin, mit der er sich heimlich hatte treffen wollen, b) die Frau, mit der er verheiratet war und die, wie ermittelt werden konnte, von der Verabredung erfahren hatte. Die a-Frau war tatverdächtig, weil der Mann, von dem sie ein Kind erwartete, sie seiner Frau wegen wieder verlassen wollte. Die b-Frau, weil sie von den Absichten ihres Mannes nichts wußte und ihn womöglich in der Überzeugung erschossen hatte, ihn sonst an die a-Frau zu verlieren. Beide hatten kein Alibi, die Schußwaffe wurde nicht gefunden und somit auch kein Fingerabdruck. Wer die Täterin war? Keine von beiden. Ein geistesgestörter Mann hatte die Tat begangen – und zwar, ohne sein Opfer auszurauben. Wenn ihm die Brieftasche gefehlt hätte oder die Uhr, hätte ich einen Raubmord nicht ausgeschlossen und die Täterschaft der Frauen gleich in Zweifel gestellt. 98
Daran erinnere ich mich jetzt, während ich Studienrat Fichte mit dem Wagen folge. Was liegt gegen ihn vor? Daß er zwei Stunden bei der siebzehnjährigen Sina Wolf in der Wohnung gewesen ist? Nun gut, er wird kaum mit ihr unregelmäßige Verben gepaukt oder Halma gespielt haben. Aber ein Liebesverhältnis zwischen Lehrer und Schülerin ist kein Beweis für einen Mord. Sie können, wenn es kritisch wird, vereinbaren, eben doch unregelmäßige Verben gepaukt zu haben. Fichte kann behaupten, den Wagen deshalb umständlich um die Ecke geparkt zu haben, damit niemand den Verdacht äußert, den wir haben. Wichtig ist deshalb, daß die beiden in Frage kommenden Personen, also Sina Wolf und Helmut Fichte, zu einem Zeitpunkt vernommen und in die Enge getrieben werden, zu dem sie sich vorher nicht miteinander absprechen konnten. Ich muß also Fichte vernehmen, bevor Sina ihn telefonisch warnt und von dem Gespräch informiert, das sie mit meinem Kollegen Franke geführt hat. Das gelang. Fichte fuhr nicht auf schnellstem Weg nach Hause. Er bog in einen Feldweg ein. Er stieg aus dem Wagen und setzte sich an ein Flußufer, als müsse er, bevor er seiner Frau gegenübertrat, erst noch etwas überdenken. Er war so in Gedanken versunken, daß er den Kommissar beinahe nicht erkannt hätte. Finke merkte, wie Studienrat Fichte sich anstrengen mußte, um ihn einzuordnen. Dann erhob er sich, kam die Uferböschung hoch und fragte: »Ist das Zufall?« »Nein«, erwiderte Finke. »Sie sind mir nachgefahren?« »Ja.« Fichte warf eine alte Holzlatte ins Wasser. »Da muß ich mir ja direkt Mühe geben, mir nicht wichtig vorzukommen.« Finke antwortete nicht. Er sah Fichte an, als würde der schon von sich aus sprechen. Das tat er dann auch. »Ich habe, das gebe ich zu, Probleme. Aber sie sind nicht krimineller Natur. Sie gehören in den Bereich der Privatangelegenheiten.« 99
»Wo waren Sie an dem Mordtag zwischen 15 und 16 Uhr?« Finke fragte es, wie wenn er sich nach dem Lokal mit den besten Steaks erkundigte. Fichte stand trotzdem plötzlich wie im Dunkeln. »Soll das ein Scherz sein?« »Nein. Wenn ich im Dienst einen Scherz mache, gebe ich es vorher bekannt.« »Ich war zu Hause. Ich habe Aufsätze korrigiert.« »Allein?« »Ja… bis gegen 17 Uhr… Dann bin ich zur Schule gefahren. Ich hatte Sport mit der 9b… Korbball… Während des Spiels kam meine Frau und erzählte mir, was geschehen war… Fragen Sie nach meinem Alibi?« »Ja.« Fichte versuchte ein unbeschwertes Lachen. Es mißlang. Er spürte, daß er blaß wurde, und er stellte fest, daß es der Kommissar offensichtlich gemerkt hatte. »Hatten Sie Besuche, Telefonanrufe, ehe Sie zum Sport in die Schule fuhren?« erkundigte er sich. »Nein! Ich war ganz allein, stellen Sie sich das einmal vor!« Der spöttische Blick des Kommissars machte ihn unsicher. Er wollte sich schon empört dieses Verhör verbitten, als ihm einfiel, daß er sich grundlos aufregte: Es hatte schließlich sogar in der Zeitung gestanden, daß Sina den Mörder von Michael identifiziert hatte! Jetzt erst fiel ihm das Naheliegende ein! »Soviel ich weiß, ist der Mord doch aufgeklärt!« »Sie denken an den Mann im grünen Anzug?« Finke schaute zu einer Ente, die das Stück Holz mit dem Schnabel bearbeitete, welches Fichte ins Wasser geworfen hatte. »Das tut mir leid. Der Mann, der in Kiel in ein Auto gelaufen ist, hat Michael Harms nicht umgebracht.« »Aber Sina hat doch…« Fichte brach ab. Die Angst kroch von allen Seiten auf ihn zu. Finke stand da und lächelte wie ein guter Onkel der Sahnebonbons verteilt hat und die Freude genießt, die sie auslösen. »Warum… warum sollte sie dann sagen: ›Das war der Mann!‹, wenn er es gar nicht gewesen ist?« rief Fichte nervös. 100
»Diese Frage«, erwiderte Finke, »wird Sina gerade von meinem Kollegen gestellt!« »Er… war es also nicht?« »Nein, mit Gewißheit nicht. Der Mann im grünen Anzug war zur Tatzeit gar nicht in Deutschland.« Finke beobachtete interessiert die Ente, als gebe es nichts Wichtigeres auf der Welt. »Ich beginne zu begreifen, was Sie denken«, sagte Fichte verstört. »Ja? Das ist ja fein. Dann können Sie meine Lage vielleicht verstehen.« »Ich verstehe meine kaum!« »Na ja, das ist verständlich… Sie werden da hineingeschlittert sein wie…« Finke gab den Versuch auf, einen Vergleich zu finden. Aber seine Augen, unverwandt auf Fichte gerichtet, machten deutlich, was er meinte. »Suchen Sie ein neues Opfer?« fragte Fichte. »Kein Opfer. Den Täter!« »Und ich bin verdächtig?« »Ja.« »Das ist beinahe komisch. Soll ich jetzt lachen?« »Nicht nötig. Sagen Sie mir lieber, wie Ihr Verhältnis zu Sina Wolf ist!« »Es ist…« »Intim?« »Falls Sie auf diesem Wort bestehen – bitte!« »Und seit wann?« »Seit etwa drei Monaten. Falls Sie davon der Schulbehörde Mitteilung machen wollen…« Finke wurde ungnädig. Zum ersten Mal ließ er erkennen, daß er auch weniger umgänglich sein konnte. »Ich bin dem Polizeipräsidenten Rechenschaft schuldig, nicht der Schulbehörde«, stellte er richtig. »Und nur auf dieser Basis interessiere ich mich für Ihre Liebesbeziehung zu Sina Wolf!« Fichte schluckte. »Ich verstehe.« »Wollen Sie gleich mit zum Polizeipräsidium nach Kiel fahren?« »Was soll ich denn da?« »Na, zum Beispiel ein Geständnis ablegen.« 101
»Darf ich Sie jetzt mal was fragen?« »Bitte!« »Glauben Sie im Ernst, ich könnte Michael Harms umgebracht haben?« »Ich glaube eigentlich gar nicht, daß Menschen Menschen umbringen können. Aber nach den allgemeinen Erfahrungen tun sie es immer wieder.« So stürzt man nun ab, durchfuhr es Fichte. Erst Schokoladenküsse auf dem Bett und Gänseblümchen im Haar und dann die indirekte Frage: Haben Sie Michael Harms ermordet? »Sagten Sie was?« fragte Finke freundlich. »Nein. Aber Sie können sich viel Arbeit ersparen, wenn Sie davon ausgehen, daß ich es nicht war!« »Ich gehe davon aus, daß es der Mann im grünen Anzug nicht war. Guten Tag.« Finke ging. Ging zu seinem Auto, stieg ein und fuhr fort. Nur die Angst ließ er zurück, eine völlig sinnlose, quälende Angst. Und Fragen. Warum sollte Sina gesagt haben, ja, der war es, wenn er es nicht gewesen ist? Und was würde sie antworten, wenn der Kriminalbeamte ihr diese Frage stellte? Sina, großes Erstaunen im Blick, sagte: »Dann war er ihm sehr ähnlich!« Franke hatte den Auftrag, nicht zu zartfühlend zu sein. Es fiel ihm schwer. Sina tat so, als beträfe sie das alles nicht. Er mußte sich einen Ruck geben, um sie aus ihren Träumen zu reißen und in die Wirklichkeit zurückzuholen. »Fräulein Wolf«, sagte Kriminalmeister Franke, »Sie haben mich vielleicht nicht richtig verstanden: Der Mörder von Michael Harms läuft frei herum!« »Ja, ja – aber wie soll ich das ändern?« »Sie haben den Mann, den Sie für den Täter hielten, ganz aus der Nähe gesehen. Sie sind ein paarmal gefragt worden, ob er es ist, und Sie haben jeden Zweifel ausgeschlossen. Nun sagen Sie ganz einfach: »Dann hat er ihm sehr ähnlich gesehen!«
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Wieder das Staunen, der unschuldige Blick. »Aber wenn ich mich so irren konnte, dann muß er ihm doch ähnlich gesehen haben!« »Ja.« Franke stöhnte. Er wußte nicht, ob er Sina für geistesgegenwärtig oder für fähig halten sollte, den Mordverlauf, den sie der Polizei vorgelogen hatte, so zu sehen, wie er nicht stattgefunden hatte. »Ein Mann im grünen Anzug hat Michael erschlagen«, sagte sie gelassen. »Und der sah dann auch noch so aus wie der Mann, den Sie im Gerichtsmedizinischen Institut als Mörder zu erkennen glaubten?« »Ja!« »Fräulein Wolf, Kommissar Finke vermutet etwas ganz anderes. Er meint, daß Sie den Mann in Wirklichkeit gut kennen, der Michael getötet hat.« »Gut kennen? Was heißt das? Meinen Sie vielleicht, daß ich…?« Plötzlich war Mißtrauen da. »Haben Sie… haben Sie mich beobachtet?« »Ja.« Empörung sprach aus ihrem Blick. »Dann wissen Sie wohl auch, wer vorhin hier war, ja?« »Ja.« »Mein Lehrer hat nichts damit zu tun!« »Das wird sich zeigen.« »Sie sind gemein.« »O nein, keineswegs, es ist nur so, daß wir kriminalpolizeiliche Arbeit zu leisten haben. Das ist nicht immer leicht. Besonders wenn wir belogen werden, wenn Mißtrauen angebracht ist, können wir nicht mit offenen Karten spielen. Hätten Sie denn nicht auch: ›Ja, der war es!‹ gesagt, wenn Alfons Heckert noch gelebt hätte?« Sina starrte Franke an. Ein Ja war jetzt ebenso gefährlich wie ein Nein. Wenn sie jetzt ja sagte, hieß das, sie hätte ohne Bedenken einen Unschuldigen schwer belastet. Wenn sie nein sagte, konnte es so aufgefaßt werden, als hätte sie schon zu diesem Zeitpunkt genau gewußt, daß es Heckert nicht war, und 103
sich nur vor seiner Reaktion gefürchtet – ein lebender Heckert hätte ihr ja widersprechen können! Wo war der Ausweg? Franke ignorierte Sinas hilfesuchenden Blick und erklärte betont dienstlich: »Sie wurden beschattet, Fräulein Wolf, weil wir schon vorgestern, gleich nach der vermeintlichen Identifizierung, wußten, daß Sie uns belogen haben. Wir mußten Sie in Sicherheit wiegen, in der Hoffnung, daß Sie sich mit dem Mann, den Sie beschützen wollen, wieder treffen werden. Das ist geschehen!« »Sprechen Sie von Studienrat Fichte?« »Ja.« »Und Sie glauben, daß er…?« »Wer sonst? Haben Sie vielleicht noch mehr Freunde außer Michael Harms und Studienrat Fichte?« »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß…« »Daß der Mann im grünen Anzug Michael Harms getötet hat, ja, und wenn es nicht der eine Mann im grünen Anzug war, dann war es ein anderer. Sie laufen ja zu Dutzenden herum!« Franke war sehr heftig geworden. Es tat ihm leid, obwohl Hauptkommissar Finke ihm ja aufgetragen hatte, keinesfalls behutsam vorzugehen. Finke hatte gut reden. Er kannte diesen erstaunten Leidensblick nicht! Franke seufzte und betrachtete das geschmackvolle Teeservice auf dem Tisch. Es war benutzt. Vermutlich hatte Sina mit Fichte Tee getrunken. Franke konnte sich auch etwas Schöneres vorstellen, als Sina zu vernehmen. Irgendwie war sie ja noch ein Kind. Ein Fast-Kind. Eine Kind-Frau. Franke hatte das Gefühl, es müsse eigentlich jemand da sein, der sie vor ihm beschützte, vor ihm, dem Kriminalmeister Franke, und vor den Fragen, mit denen er sie bedrängte. »Ich muß noch Schularbeiten machen«, sagte sie unvermittelt, und da war sie plötzlich keine Kind-Frau mehr, sondern nur noch Kind. Er wünschte sich, Fichte sei zum Nachhilfeunterricht hier gewesen. Tee, Kekse und die Werke Shakespeares. Othello, Eifersucht auf rein literarischer Grundlage. Die Tragödie als Lernobjekt. Othello war Theater, die Faszination eines tragischen Irrtums, vom Parkett aus zu genießen. 104
Das hier aber war doch kein Theater?! Konnte sich jemand ernstlich vorstellen, dieser smarte Gymnasiallehrer habe einen Stein ergriffen und aus rasender Eifersucht den Jungen erschlagen, der mit Sina in den Wald gegangen war? – Nein, Studienrat Fichte ging mit Schülern in den Wald, um Anschauungsunterricht zu erteilen. Gerade in diesem Augenblick kam Sina der Schwarzspecht in den Sinn, der seinen Schnabel in den Stamm einer Buche gehämmert hatte, als Michael Harms über sie hergefallen war. Sie spürte ein körperliches Unbehagen, und ehe sie sich versah, zerdrückte sie in der Hand die Streichholzschachtel, mit der sie gespielt hatte. Franke sah sie erstaunt an. Ihr Handteller schmerzte. Tränen traten in ihre Augen. »Ich will Sie nicht quälen«, sagte Franke und wandte sich zum Gehen. Sie brachte ihn zur Tür und sagte: »Studienrat Fichte ist unschuldig!« Franke dachte, es wäre zu schön, wenn man ihr glauben könnte. Aber man konnte es nicht.
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FINKE BERICHTET Ich bin noch einmal am Tatort im Pöstropper Forst gewesen. Als ob das den Fall lösen könnte! Die einzige Entdeckung, die ich da machen konnte, war ein großer, ovaler Stein an der Stelle, wo Michael Harms gestorben war. Er lehnte an einem Stamm, und seine glatte Seite war mit Filzstift beschrieben. ›Hier starb durch feige Mörderhand unser Klassenkamerad Michael Harms, unvergessen von seinen Mitschülern der 11b.‹ Obwohl der Regen die Schrift schon teilweise weggewaschen hatte, war sie noch lesbar. Ein Hinweis auf den Eigentümer der »feigen Mörderhand« wäre mir lieber gewesen. Wir sind mit unseren Ermittlungen in einer Sackgasse. Die Beteuerungen der Schülerin Sina Wolf, dann sei es eben ein »anderer Mann im grünen Anzug« gewesen, mögen sich als dumme Ausrede selbst disqualifizieren – bleibt sie bei dieser Darstellung, nützt uns all unsere Skepsis nichts. Wenn wir keine glaubhafte Zeugenaussage haben, brauchen wir Beweise. Ich habe die Resultate der Spurensicherung und die Protokolle noch einmal durchgearbeitet. Neue Erkenntnisse konnte ich dabei nicht gewinnen. Daß der Stein, mit dem die Tat ausgeführt worden war, keine Fingerabdrücke aufwies, hatte mich schon damals gewundert, weil ich meinte, der Mörder könne kaum noch die Nerven und die Zeit gehabt haben, sie zu beseitigen. Aber unser Experte von der Spurensicherung belehrte mich, daß die Oberflächenbeschaffenheit des Steines einen Fingerabdruck so wenig zuließ wie ein rauher Teppichboden: Da greift einfach nichts. Nur Haut und Blut des Opfers hatten an dem Tatwerkzeug einwandfrei identifiziert werden können. Daß Michael Harms durch »feige Mörderhand«, wie auf dem Gedenkstein behauptet, ums Leben gekommen ist, halte ich für zweifelhaft. Es entspricht jedenfalls nicht dem Bild, das ich von Studienrat Fichte bekommen habe. Es wird sich wohl eher so abgespielt haben, daß der Schüler Michael Harms Zeuge von Zärtlichkeiten zwischen Sina Wolf und Fichte geworden ist und daß er den Lehrer, vielleicht auch Sina, angegriffen hat. Fichte, von dem größeren und stärkeren 106
Schüler heftig attackiert, wird um sein oder Sinas Leben gefürchtet und mit dem Stein zurückgeschlagen haben. Das ließe sich fast als Akt der Notwehr – der vielleicht übertriebenen Notwehr – rechtfertigen, aber Sina und Fichte hatten Angst, daß ihr Lehrer-Schülerinnen-Verhältnis ans Tageslicht kommen könne. In Pöstropp wäre das sicherlich ein Skandal von ungeahntem Ausmaß, zumal der Lehrer verheiratet und die Schülerin minderjährig war. Deshalb hatten sich die beiden darauf geeinigt, den Mann im grünen Anzug als Mörder vorzuschieben. Und nachdem Sina das getan hatte, konnte sie nun nicht mehr zurück. Weit weniger gefällt mir die – auch mögliche – Theorie, Fichte könne Sina mit Micha überrascht haben. Wenn Sina Micha gern gehabt hätte, würde sie jetzt nicht, nachdem Micha tot war, mit Fichte zwei Stunden allein im Haus ihrer Eltern verbringen. Deshalb glaube ich auch nicht daran, daß Sina sich mit Michael Harms zu einem Spaziergang mit zärtlichen Absichten im Wald verabredet haben könnte. Die Liebe zwischen ihr und Fichte bestand seit drei Monaten. Das hat Fichte selbst zugegeben. Den Eindruck, sich zwischendurch zur Abwechslung auch mal von einem Klassenkameraden verführen zu lassen, macht Sina nicht. Sie ist zwar, wie auch Kollege Franke nach der Vernehmung bemerkt hat, manchmal »überdreht«, aber daß sie ihre Zuneigung unter mehreren Männern aufteilt, ist schwer vorstellbar. Über die Verantwortung, die ein Lehrer seinen Schülern, den Eltern und der Öffentlichkeit gegenüber hat, möchte ich hier nicht reden. Ich bin beim Morddezernat, nicht bei der Abteilung Jugendschutz tätig – Gott sei Dank, denn wenn das eine Liebe zwischen den beiden ist, möchte ich nicht derjenige sein, der sie von Amts wegen verbietet. Mein Verständnis für Fichte ist allerdings begrenzt. Seine Frau ist attraktiv, klug und ungewöhnlich begehrenswert. Wenn ich es mal in einem Vergleich ausdrücken darf: Man geht doch nicht aus, um einen Schoppen billigen Wein zu trinken, wenn man daheim einen Mosel von der edelsten Sorte stehen hat! Was meine Tätigkeit hier in Pöstropp betrifft, so weiß ich nicht, wie es weitergehen soll. Ich werde meinem Vorgesetzten be107
richten und vortragen, was die Vernehmungen ergeben haben. Dann wird er entscheiden, ob und wie lange Franke und ich noch im Mordfall Michael Harms ermitteln sollen. Wir haben noch andere Fälle zu klären: Eine Frau hat ihren geschiedenen Mann erschossen, weil er drohte, ihr gemeinsames Kind zu entführen. Nach der Tat verschwand sie spurlos. – Gestern haben wir eine männliche Wasserleiche aus dem Kieler Hafenbecken gefischt. Die Personalien sind unbekannt, und eine Vermißtenanzeige liegt nicht vor. Wir können nicht so tun, als hätten wir nur das Problem zu lösen, wer Michael Harms erschlagen hat. Ich werde auch mit dem Staatsanwalt sprechen. Wenn er meint, einen Haftbefehl gegen Studienrat Fichte verantworten zu können – bitte! Das ist seine Sache. Beweise haben wir nicht, nur einen Verdacht. Solange Sina Wolf ihn nicht belastet, kann Studienrat Fichte ruhig schlafen. Studienrat Helmut Fichte schlief keineswegs gut. Als er die ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge seiner Frau hörte, gab er seinen Kampf mit dem Schlaf auf und stieg leise aus dem Bett. Im Wohnzimmer öffnete er die Schiebetür zur Terrasse und atmete tief die kühle Nachtluft ein. Es war halb drei. In fünf Stunden etwa mußte er einer fünften Klasse ein vorgeschriebenes Aufsatzthema stellen: »Unsere Familie«. Seine Eignung dafür veranlaßte ihn zu einem sarkastischen Seufzer. Wie wär’s denn mit dem Spezialthema »Ehebruch«? Da konnte er doch, Pädagoge der er war, lebendigen Anschauungsunterricht geben. Er schaute in den Mond und dachte: Da stehe ich nun und gucke in den Mond. So werden Redensarten wahr! Er bemerkte, daß er fröstelte, ging ins Bad und holte seinen Bademantel. Dann goß er sich einen Schnaps ein und strengte sich an, den Kommissar unsympathisch zu finden. Zu seinem großen Leidwesen gelang es ihm nicht. Er war ausgesprochen sympathisch. Ein Mann, mit dem man über das Wetter redet. Dem man bei der Suche nach dem verlorenen Hausschlüssel behilflich ist. Der an der Theke steht und sagt: »Na, auch ein Bier trinken?« Keiner, der sagt: »Wo waren Sie
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am Mordtag zwischen 15 und 16 Uhr?« Oder: »Sagen Sie mir, wie Ihr Verhältnis zu Sina Wolf ist!« Fichte schloß die Tür wieder, da bemerkte er seine Frau. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen. Er hatte ihr noch nichts gesagt. Er war, nachdem der Kommissar gegangen war, noch lange am Flußufer geblieben und hatte ergebnislos nachgedacht. Als er heimkam, mußte sie zu einer Elternversammlung gehen. Abends hatten sie alle heiklen Themen ausgeklammert, weil sie müde und überanstrengt waren. »Warum schläfst du denn nicht?« »Ich kann nicht.« »Vielleicht hast du Hunger. Du hast nichts gegessen gestern abend.« »Bist du wach?« »Stünde ich sonst hier?« »Ich meine, richtig? – Was ist denn los?« »Dieser Kommissar glaubt allen Ernstes, ich könnte einen Schuljungen erschlagen haben – aus Eifersucht womöglich, stell dir das mal vor! Es ist einfach nicht zu fassen!« Fichte setzte sich, stand wieder auf, nahm eine Zigarette, zündete sie nervös an, rauchte hastig und lief im Zimmer auf und ab. »Ich! Ich gehe in den Wald, nehme einen Stein und erschlage Michael Harms! Zum Totlachen… Ich überlege mir… Ja, was überlege ich mir eigentlich? Ich weiß gar nicht, was ich mir überlege…« »Wie kommt er denn darauf?« »Wer?« »Der Kommissar – wie kommt er darauf?« Sie setzte sich auf die Lehne eines Sessels, legte ihre Hand auf seinen Arm. »Sina hat doch den Mann im grünen Anzug…« »Nein! Hat sie nicht! Der Mann war gar nicht in Deutschland, als Micha getötet wurde.« Er drückte die Zigarette aus, als wolle er bei dieser Gelegenheit den Aschenbecher kaputtmachen. »Dann hat Sina gelogen?« Er warf den Kopf herum. »Warum sollte sie?« »Ich mache uns einen Kaffee!« »Nein, nein – bleib hier! Warum sollte sie gelogen haben? Das interessiert mich jetzt! Glaubst du so etwas Ähnliches wie der Kommissar? Daß Sina gelogen hat, um mich zu schützen?« 109
»Nein.« »Es klang aber so. Weshalb sollte sie denn deiner Ansicht nach gelogen haben?« »Es war keine Ansicht, es war eine Frage.« Er gab resigniert ihren Arm, den er festgehalten hatte, frei. »Entschuldige. Ich weiß gar nicht, warum ich so heftig werde. Wer schreit, hat unrecht! So ein Quatsch. Ich schreie und habe recht.« »Du hast mir noch nicht gesagt, wie der Kommissar auf dich als Täter verfiel.« »Es wird eine Schlußfolgerung sein. Er hat mich wahrscheinlich zu Sina gehen sehen.« »Gestern nachmittag?« »Ja.« »Zu Sina gehen sehen… heißt das, du warst bei ihr zu Hause?« »Ja.« Gisela Fichte schüttelte den Kopf und seufzte. Er spürte ihre Enttäuschung. »Das wußtest du doch!« sagte er. Finkes Verdacht genügte ihm. Er wollte jetzt nicht noch die Vorwürfe seiner Frau hören. »Es ist ein Unterschied, ob du mit ihr ein Stück spazierengehst, um die Affäre zu beenden, oder ob du bei ihr zu Hause…« Sie hatte plötzlich einen Verdacht, sah ihn aufmerksam an. »Oder hast du gar nicht mit Sina geredet?« »Mein Gott, als ob das jetzt wichtig wäre! Ich stehe unter Mordverdacht, und du fragst mich, ob ich mit Sina gesprochen habe!« Er bemerkte einen nie gekannten Ausdruck der Angst in Giselas Augen. »Was ist denn, sag mal? Glaubst du etwa, ich könnte… ich müßte befürchten, von Sina belastet zu werden, wenn ich Schluß mache?« Sie sah ihn überrascht an. »Das dachte ich nicht, nein. Aber wenn du selbst auf diesen Gedanken kommst… Helmut, ich weiß nicht…« »Jetzt werden wir alle beide hysterisch… Komm, beruhige dich. Sina kann mich nicht belasten und wird mich nicht belasten.« 110
»Na gut. Aber: Wie viele Freunde hat Sina denn? Ich meine: außer dir und…« »Micha? Er war nicht ihr Freund. Sie hat nichts mit ihm gehabt!« »Glaubst du das, weil sie es gesagt hat?« »Ja. Du hast selbst dem Kommissar gesagt, daß Sina ehrlich ist. Wirf mir also bitte nicht vor, daß ich ihr glaube!« Sie holte tief Luft. »Ich muß gestehen, ich kenne mich nicht mehr aus. Der Kommissar hat dich im Verdacht. Sina beschuldigte zu Unrecht diesen Mann im grünen Anzug. Er war es nicht, du warst es nicht. Wer war es denn?« »Eben ein anderer… ein anderer Mann im grünen Anzug. Woher soll ich das wissen!?« »Vielleicht wissen wir alle beide nichts über Sina«, sagte sie. »Wieso?« »Was sie für ein Mensch ist. Vielleicht wissen wir gar nichts über sie.« »Ja.« Er löschte das Licht. »Ich will versuchen, noch ein paar Stunden zu schlafen.«
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FRAU FICHTE BERICHTET Nun schläft er, und ich nicht. In einer halben Stunde wird der Wecker klingeln, wir werden frühstücken und zur Schule fahren; es lohnt sich nicht, daß ich noch einmal einschlafe. Ich stehe lieber auf und gehe in den Garten. Ich habe Abschiedsgefühle – ganz plötzlich überkommen sie mich, und sie sind vermischt mit praktischen Erwägungen. Wir werden in Lübeck kaum ein so schönes Haus in so schöner Umgebung zu so günstiger Miete bekommen. Keinen großen, schattenspendenden Apfelbaum haben, in dem im Frühsommer die Stare nisten und unter dem wir, wenn es heiß ist, bei der Korrektur der Klassenarbeiten sitzen und uns gegenseitig etwas vorstöhnen. Die Pflaumen können wir hier noch pflücken, die Äpfel auch, aber die späten Birnen und den Grünkohl werden andere ernten. Schuld daran ist Sina. Sina und Inge Carstens. Ich muß mich hüten, daß meine Bitterkeit nicht in Haß umschlägt, denn noch immer kenne ich die Zusammenhänge nicht. Ich fürchte mich auch davor, sie zu kennen. Wenn Inge Carstens meinen Mann mit Sina beobachtet hat, so daß sie ihn erpressen konnte – hätte sie dann nicht vielleicht etwas viel Schlimmeres tun können, als um eine Vier in Englisch und Mathematik zu kämpfen? Muß ich ihr vielleicht dankbar sein? Daß sie nicht zur Polizei gegangen ist? Die Angst, daß sie es noch tun könnte, sitzt mir in der Kehle. Wir müssen hier weg. Ich habe alles richtig gemacht. Birnen und Grünkohl kann man auch beim Gemüsemann an der Ecke kaufen. Ein Glück, daß die Stellen in Lübeck noch nicht besetzt waren. Hier lauern Gefahren. Hier lauern Sina, Inge Carstens und ein Kommissar. Der wilde Wein bekommt dieses Jahr eine besonders schöne Blattfärbung. Flammendes Rot im silbernen Herbst. – Ist das ein Gedicht? Woher kenne ich es? Polizeiliche Ummeldung, Kfz-Ummeldung, Wohnungssuche, Möbelspediteure, neue Kollegen. Werden die Möbel passen?
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Nein, wir bleiben hier, des wilden Weines wegen. Helmut, du mußt unbedingt den Zaun reparieren, die Kaninchen haben eine Lücke gefunden und fressen die Hornveilchen. Ein Bussard kreist, o ja, hier ist es schön, hier mieten wir uns ein. Sieh mal, hier ist sogar ein schöner Platz zum Tischtennisspielen. Kochst du heute Kaffee? Sina kommt. Guten Tag, Frau Doktor Fichte. Der Nachhilfeunterricht lohnt sich. Nun steht sie auf einer Zwei in Mathe. Ein bezauberndes Mädchen. So ernst. So aus der Tiefe fröhlich. Das ist selten bei Mädchen in diesem Alter. Wir sollten sie mal zum Tee einladen. Sage ich das? Ja, das sage ich. Nein, halt, ich nehme es zurück. Sina kommt mir nicht ins Haus, du könntest dich verlieben. Dann trefft ihr euch im Wald, Micha stört euch und…Nein! Du hast doch mit mir unter unserem Apfelbaum gesessen, Sina. Du hast gesagt, es gefällt dir bei uns, du kommst gern, und du willst einmal eine Lehrerin werden, wie ich eine bin. Du, die Siebzehnjährige, wirst doch nicht mir, der Zweiunddreißigjährigen, den Mann wegnehmen! Aber Mädchen, das kann nicht gutgehen! Wir haben jetzt Juni, und wenn wir nicht vernünftig sind, gibt es in zwei bis drei Monaten eine Katastrophe. Mit Mord und Totschlag und Polizei. Es wird uns alle vernichten, auch wenn wir uns jetzt noch vorkommen wie in einem jugendfreien Film. Warum ahnt man so etwas nicht? Warum ist man nicht mißtrauischer? Ich gehe unter die Dusche, ich will mir einreden, es sei ein Tag wie jeder andere. Die Seife fällt aus der Schale in die Wanne. Sie hat keinen Sinn für Tragik. Ich habe auch keinen Sinn für Tragik. Als Helmut beim Rasieren das Gesicht verzieht, finde ich es komisch wie eh und je. Wenn er das Kinn hebt, sieht er aus wie ein Kätzchen, das gekrault werden will. Es ist wirklich nicht vorstellbar, daß ein Mann, der so aussieht, mehr auf dem Gewissen hat als einen gefühlvollen Flirt mit einem jungen Mädchen. Vielleicht wird der Tag doch noch ganz gut. Der Tag wurde alles andere als gut. Schon in der ersten Stunde, Frau Dr. Fichte war auf dem Weg zum Labor, traf sie Sina. 113
Sina hatte ein Lächeln im Gesicht, von dem Gisela Fichte fand, daß es nicht angebracht war. Es war ein Dein-Manngehört-mir-Lächeln. Frau Fichte sagte trotzdem: »Guten Morgen, Sina!«, freundlich wie immer. »Guten Morgen.« »Ich höre, du hast Unannehmlichkeiten. Kann ich dir helfen?« Ein hilfloser Blick. Frau Fichte hielt es für richtig, dem Mädchen klarzumachen, daß ihr Mann mit ihr über alles gesprochen hatte. Ein Versteckspiel hatte keinen Sinn. »Ich bin dir doch nicht böse«, sagte sie, und in ihrer Stimme war mehr Verständnis als in ihrem Herzen. Aber ganz ohne Mitgefühl für Sina war sie wirklich nicht. »Nein?« sagte Sina. »Das freut mich.« Und da war er wieder, dieser befremdliche, distanzierende Blick, der zu sagen schien: Du bist doch meine Feindin, warum bist du so freundlich zu mir? Kennst du die Spielregeln nicht? Dein fürsorglicher Seelsorgeblick macht mich nur unsicher – ich liebe deinen Mann und er mich! Da begriff Gisela Fichte. Ihr Mann schien gestern das Verhältnis zu Sina nicht nur nicht behutsam gelöst, sondern eher gefestigt zu haben. Anders war dieses Verhalten nicht zu erklären. Sie ließ Sina kurzerhand stehen und ging ins Labor. Auf dem Rückweg entschloß sie sich, die Tür zur 5c zu öffnen. Ihr Mann sagte gerade: »Nun schildert mal, was das ist: Familie!«, da bemerkte er sie und kam heraus. »Du hast nicht mit Sina gesprochen, Helmut. Du hast ihr nicht gesagt, daß ihr euch trennen müßt.« Er blickte ängstlich zur Klasse zurück, schloß die Tür. »Ich bitte dich, mitten in der Stunde…« »Eine Ausrede findest du immer!« »Also schön. Es ging nicht. Sina hat gedacht, ich hätte Angst, sie zu verlieren… ein ganz verrücktes Mißverständnis… Muß es wirklich jetzt sein, Gisela? Bitte!« »Nein. Es reicht mir allmählich.« »Ich wußte doch nicht, daß die Polizei…« Er brach ab. Er war verzweifelt. »Das mit der Polizei, das war doch erst hinterher! 114
Du glaubst doch nicht etwa, daß ich jetzt noch, nach alldem…?« Direktor Forkmann kam vorbei. »Sie denken an die 8b morgen?« »Ja, natürlich!« »Es ist nur solange Pritsche krank ist!« »Ja.« Forkmann ging zur Treppe. »Sina hat mich angeguckt, als würde sie von der Heilsarmee belästigt. Ich wollte ihr Mut machen, sie trösten – und sie… Soll ich das Feld für sie räumen? Dann sag’s! Jetzt. Auf der Stelle.« »Ich sage dir jetzt und auf der Stelle, daß du nichts zu befürchten hast – weder durch Sina, noch durch die Kriminalpolizei.« Zwei Stunden später fuhr der Kommissar auf den Schulhof. Frau Fichte hatte Aufsicht. Sie ging dem Kommissar entgegen. Finke zog den Hut, grüßte freundlich und blickte auf die tobenden Schüler. »Auch nicht immer leicht, Lehrer zu sein, was?« »Nein, besonders, wenn immer wieder die Polizei kommt und Unruhe stiftet«, rutschte es ihr heraus. Finke sah sie verblüfft an. »Müssen die Ermittlungen denn in die Schule getragen werden?« fragte sie, eine Spur freundlicher. »Es ist doch ein Schulproblem, oder?« »Ich möchte Sie bitten, meinen Mann nicht in Schwierigkeiten zu bringen.« Finke kratzte sich am Kopf, schaute irritiert zu seinem Kollegen Franke und antwortete: »Für die Schwierigkeiten sorgt er schon selbst, oder finden Sie nicht?« »Weder mein Mann noch ich bestreiten, mit Sina befreundet zu sein«, sagte sie kühn. Finke sah sie an, als bewundere er ihre Haltung. Dann, als kämpfe er gegen die Neigung, aus lauter Respekt vor großartigen Menschen die Arbeit hinzuschmeißen und jeden Verdacht fallenzulassen, gab er sich einen Ruck ins Dienstliche: »Wir 115
suchen einen Mörder, wissen Sie? Und deshalb ist es nötig, Fräulein Wolf noch einmal zu vernehmen. Nur das Mädchen weiß, wer es gewesen ist. Wir sind gar nicht gekommen, um Sie oder Ihren Mann zu belästigen. Wann hat sie Schulschluß?« »Kurz vor eins.« »Dann warten wir solange. Vielen Dank.« »Soll ich…?« Finke wandte sich um. »Ja?« »… ihr Bescheid sagen?« »Wie Sie wollen.« Finke und Franke setzten sich in die Kneipe gegenüber. Es war ihr letzter Tag in Pöstropp. Der Polizeioberrat hatte die Anweisung gegeben, Sina Wolf noch einmal zu vernehmen und dann – so oder so – die Ermittlungen einzustellen. »Meinen Sie, daß es einen Sinn hat?« fragte Franke und spielte mit einem Bierdeckel. »Wie soll ich das wissen?« »Die Frau hat Haltung, was?« »Ja.« »Wie sie das gesagt hat: ›Weder mein Mann noch ich bestreiten, mit Sina befreundet zu sein!‹ Ein Vulkan unterm Eis!« »Das Private geht uns nichts an.« »Mir würde es am besten gefallen, wenn der Mann im grünen Anzug der Täter gewesen wäre… Fichte…! Fichte ist doch irgendwie ein netter Kerl, oder?« »Wenn Sie erst mal schon so viele nette Kerle hinter Schloß und Riegel gebracht haben wie ich, sind Sie gegen Anwandlungen dieser Art gefeit. Es ist völlig egal, ob nette Kerle böse Kerle oder böse Kerle nette Kerle umbringen – wir haben die Arbeit damit.« Finke trank sein Bier aus. »Was schauen Sie mich denn so an?« »Ich bringe lieber böse Kerle hinter Schloß und Riegel«, meinte Franke. »Die netten Kerle sind auch keine netten Kerle mehr, nachdem sie jemanden umgebracht haben«, gab Finke zu bedenken. »Es ist gleich eins.« Sie bezahlten ihr Bier und gingen auf die Straße. Die unteren Klassen verließen schon mit lautem Gebrüll den Schulhof. Die 116
Älteren mit Mofas und Mopeds ließen sich Zeit, standen herum, tranken Cola aus der Dose und rauchten. Ein Lehrer ging lachend an ihnen vorbei und winkte ihnen zu. Es war Studienrat Fichte. Er bemerkte Finke und Franke, zeigte fragend auf sich, Finke schüttelte den Kopf, und dann stieg Fichte zu seiner Frau in den Wagen und fuhr mit ihr nach Hause. Aus einer Gruppe von Schülerinnen löste sich Sina Wolf. »Ich mach’ das alleine«, sagte Finke und überquerte die Straße. Sina wollte gerade auf ihr Fahrrad steigen, als sie ihn entdeckte. Sie war überrascht. Frau Fichte hatte ihr also nicht Bescheid gesagt. »Wollen Sie zu mir?« fragte sie, abweisend und ängstlich zugleich. »Ja.« »Muß ich mir das eigentlich gefallen lassen, daß Sie ständig hinter mir her sind?« »Ich nehme doch an, daß Sie uns helfen wollen, denjenigen der gerechten Strafe zuzuführen, der Ihren Schulfreund erschlagen hat.« Sina korrigierte ihre abweisende Haltung, fragte jedoch: »Was soll ich denn noch sagen?« »Na, zum Beispiel einfach die Wahrheit. Hat Michael gestört?« »Wobei?« »Bei der Freundschaft mit Helmut Fichte.« »Herr Fichte hat Michael nicht umgebracht. Ich weiß, daß Sie das denken. Herr Franke hat es mir gestern schon gesagt.« »Wer war’s denn dann? Mit wem waren Sie im Wald, als es passierte? Mit Michael? Das glaubst du doch selbst nicht, mit Michael bist du doch schon seit Monaten nicht mehr befreundet gewesen… Ich spreche jetzt wie ein Vater mit dir – deshalb sage ich auch du… Darf ich?« Sie nickte. »Also schön. Du warst nicht mit Michael im Wald – du warst mit Fichte im Wald… So genau will ich es gar nicht wissen… Michael kam plötzlich aus den Büschen gestürzt… Es gab eine Auseinandersetzung, und da, vielleicht sogar in Notwehr, ergriff Fichte den Stein und schlug zu… Ja?« 117
»Nein.« »Sondern?« Sina schwieg verbissen. Finke wurde ärgerlich. »Ach ja – richtig! Es kam ja der Mann im grünen Anzug, einssiebzig groß, untersetzt, kräftig. Wenn er zur Tatzeit nicht in Tirol gewesen wäre, würden wir es dir heute noch glauben.« Sina sah ihn gekränkt an. »Du schützt Fichte, weil du ihn liebst.« »Ich liebe ihn, aber ich schütze ihn nicht. Und es wäre mir eigentlich doch lieber, wenn Sie Sie zu mir sagten. Ich bin kein Kind mehr.« »In Ordnung, Fräulein Wolf. Ich habe keine weiteren Fragen.« Sina stieg auf ihr Rad und fuhr ab. Finke ging zu Franke zurück. »Na?« »Nichts na’! Sie ist ihm völlig hörig! Weißt du, wann die mit der Wahrheit herausrückt? An dem Tag, an dem ihr Fichte den Laufpaß gibt. Aber er wird ihr nicht den Laufpaß geben, weil er befürchten muß, daß sie ihn dann hochgehen läßt! Mir ist nur noch nicht klar, welche Rolle Frau Doktor Fichte in diesem Stück spielt. Sie sieht nicht gerade so aus, als ob sie die Seitensprünge ihres Mannes auf die Dauer tolerieren würde.« Sie stiegen in den Dienstwagen. Finke kurbelte das Seitenfenster herunter, denn der Wagen hatte in der Sonne gestanden, und Finke schwitzte so schon vor Erregung. »Und dann noch ein Lehrer! Ausgerechnet ein Lehrer, der von der Verantwortung her…« Er beendete seinen Gedanken mit einer schroffen Handbewegung. Dann brütete er eine Weile vor sich hin und sagte: »Ich will Ihnen mal was sagen. Ich habe kein gutes Gefühl. Ich habe sogar ein sehr schlechtes Gefühl.« Frau Oberstudienrätin Dr. Fichte hatte auch kein gutes Gefühl. Sie kam, weil sie etwas klirren gehört hatte, aus der Küche. Ihr Mann stand auf der Terrasse und starrte auf die Splitter eines Glases. »Hast du es fallen lassen?« »Nein.« 118
Er war weiß im Gesicht. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn je so fassungslos gesehen zu haben. »Hat es etwas mit dem Telefongespräch von eben zu tun?« fragte sie weiter. »Ja.« »Wer war denn dran?« »Sina.« »Und was hat sie gesagt?« »Sie hat gesagt, daß ich kommen soll, und ich habe ja gesagt, weil… Der Kommissar hat sie noch einmal verhört, und nun ist sie ganz verzweifelt.« »Sollst du sie trösten?« »Laß doch diese Scherze!« »Es ist kein Scherz. Wen betrügst du eigentlich, Helmut? Sina oder mich?« Er sah sie wehleidig an. »Ich habe schon ein Glas zerschlagen. Ich kann nicht mehr. Hilf mir, du kannst das. Du brauchst das. Und ich auch!« »Bitte?« Sie sah ihn bestürzt an. »Du wirst mir schon noch klarmachen, daß du es nur gut meinst. Ja, ja, wirklich, du bist überzeugend. Man merkt, daß du Sozialpsychologie als Nebenfach hattest. Vor deiner Güte kapituliert jeder. Und kommt sich gleichzeitig minderwertig vor. – Warum schaust du so? Sicher wirst du Studiendirektorin, noch ehe ich den Oberstudienrat geschafft habe. Um aber auf deine Frage zurückzukommen: Ich betrüge dich. Nicht Sina. Es geht mir auf die Nerven, verstehst du?« »Nein. Warum bringst du denn alles durcheinander? Hat es uns jemals gestört, daß ich beruflich eine Stufe höher stehe? Und warum kritisierst du meine Geduld, mein Verständnis für dich und für andere, die mal in eine Krise geraten? Soll ich toben, schreien, kratzen? Zu meiner Mama nach Heidelberg fahren und weinend gestehen: ›Helmut betrügt mich!‹ Soll ich das? Daß ich dich behalten und nicht verlieren will, glaubst du mir das nur, wenn ich unsere Wohnungseinrichtung zertrümmere, so wie es in Kitschfilmen dargestellt wird?«
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Er holte tief Luft, schon den Versuch eines Lächelns im Mundwinkel. »Da hast du wieder recht. Du hast immer recht. Frage: Was findest du an mir?« »Du kannst so schön in der Badewanne singen.« »Ich rufe Sina an und sage, daß ich nicht komme. Heute nicht und nie mehr. Es wird mir einfach zu anstrengend.« »Das würde ich ihr aber nicht sagen. Sag ihr, daß du sie wirklich liebgehabt hast.« »Es ist recht, Frau Jugendpsychologin.« Er sagte es ohne Spott, ganz ernst. Dann ging er zum Telefon, legte aber nach der ersten Ziffer wieder auf, weil ihm das Glas einfiel. Er wollte nicht, daß seine Frau die Splitter zusammenfegte. Sie saß, während er es tat, in der hintersten Ecke des Gartens. Er kippte die Reste seines Zornausbruchs in die Mülltonne und ging ins Haus zurück. Er wählte zögernd. Legte auf. Wählte noch einmal. Sina meldete sich. »Ich bin es, Sina. Ich kann nicht kommen.« »Kannst du nicht später?« »Nein, ich komme gar nicht.« Pause. »Sina?« »Ja?« »Hast du mich verstanden?« »Du meinst… du kommst also auch morgen nicht und… überhaupt nie mehr…?« »Ja. Die Polizei hat… Na ja, du wirst ja selber wissen, daß ich Micha kein Haar gekrümmt habe. Ich wußte ja nicht einmal, daß du und er…« »Ja.« »Ich weiß nicht, was ich noch glauben soll – dir glauben soll.« »Du sollst mir glauben, daß ich dich liebe.« »Das glaube ich dir ja. Ich habe dich auch lieb, aber alles spricht dafür, daß wir vernünftig sein müssen.« Keine Antwort. »Sina?« »Ja.« 120
»Du sagst ja gar nichts… Sieh mal, daß ich die Polizei auf dem Hals habe… Sogar nach einem Alibi haben die mich gefragt… Weinst du?« »Nein.« »Ich möchte nicht, daß du… daß du dich verstoßen fühlst. Meine Frau hat Verständnis – nicht nur für mich. Auch für dich. Sie reagiert ganz großartig, wirklich. Da ist keine Verachtung und nichts. Es ist eben menschlich, weißt du? So etwas kann passieren. – Weinst du nun doch?« »Nein.« »So etwas wie zwischen dir und mir… na ja, wie soll ich sagen, das ist doch sowieso nicht für die Ewigkeit bestimmt. Das ist nun mal so.« »Ja.« »Sag doch nicht immer nur ja.« »Es ist gut. Ich meine, es ist sicher richtig, was du sagst.« »Wir bleiben Freunde. Und keiner von uns wirft dem anderen etwas vor. Auch meine Frau ist dir nicht böse.« »Ja, das hat sie mir schon in der Schule gesagt.« »Sei nicht traurig.« »Nein.« »Bis Montag dann – ich meine, in der Schule!« »Ja.« »Tschüs.« »Tschüs.« Fichte legte auf und hatte Mühe, nicht stolz auf sich zu sein – stolz auf seine ungewohnte Charakterstärke. Er hatte nicht gezögert, sein Wort zu halten. Er hatte sich weh getan mit diesem Abschied, und er hatte ihn trotzdem vollzogen. Und nun war er mit sich zufrieden. Er ging zu seiner Frau und nickte. »War es schlimm?« »Nein, eigentlich nicht. Wollen wir wegfahren?« Gisela blickte überrascht auf. »Bist du denn dazu in der Stimmung?« »Wir haben schon Anfang der Woche darüber gesprochen, einmal wegzufahren.« »Da wußten wir vieles noch nicht.« 121
Er küßte sie links und rechts auf die Wange. »Na schön.« Sie merkte plötzlich, daß er keine Angst mehr hatte, und da hatte sie auch keine mehr. Sie wußten eben beide wirklich nicht viel über Sina.
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SINA BERICHTET Liebe Mama, lieber Papa! Dieser Brief, bei dem ich ununterbrochen heule, ist ein Abschiedsbrief. Ich habe Michael Harms getötet, weil er meine Liebe wollte, andernfalls, so sagte er, wolle er meine Liebe zu Studienrat Fichte kaputtmachen. Ich bin mit Micha in den Wald gegangen, und ich habe natürlich gehofft, ihn umstimmen zu können. Aber es ist mir nicht gelungen. Ja, ich habe es getan. Der Mann im grünen Anzug, das war eine Lüge. Ich wollte nicht ins Gefängnis. Und ich wollte auch niemandem sagen müssen, wie es geschehen ist. Es schien gutzugehen. Aber seit einer Stunde weiß ich, daß alles umsonst gewesen ist. Es ist für mich ein entsetzlicher Gedanke, daß Micha gar nicht hätte sterben müssen, wenn der Mann, den ich liebe, mir drei Wochen früher gesagt hätte, daß er sowieso nicht bei mir bleiben will. Seid mir nicht böse. Und macht Euch keine Vorwürfe. Es heißt ja immer, daß Eltern etwas falsch gemacht haben müssen, wenn Kinder so etwas tun, daß es an Vertrauen oder Zuneigung gefehlt hat. Ihr habt mir alles gegeben, was man von einer Mutter und von einem Vater erwarten darf. Aber Ihr könnt mir nicht mehr helfen, mir kann niemand mehr helfen. Und macht bitte auch Helmut keine Vorwürfe, ich kann ja verstehen, daß er seine Frau nicht verlassen will. Sie ist eine wunderbare Frau. Ein letzter Gruß von Eurer Sina Sie wischte mit dem Handrücken die Tränentropfen von dem Briefbogen und steckte ihn in einen Umschlag. Sie verwarf den Gedanken, das Kuvert zu beschriften, und sie begriff auch, daß es überflüssig war, es zuzukleben. Als ob sie es noch nie getan hätte oder jedenfalls noch nicht richtig, sah sie sich die Bilder an, die in ihrem Zimmer hingen. Es löste keine Gemütsbewe-
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gung aus, aber sie hatte doch den Eindruck, die Bilder noch nie so genau gesehen zu haben. Sie ordnete ihre Schulhefte und steckte sie in die Tasche. Noch ehe Fichte anrief, hatte sie ihre Hausaufgaben gemacht. Es wurde ihr gar nicht bewußt, daß sie sich über die Frage: ›Das soziale Elend in der Phase des Spätkapitalismus und sein Niederschlag in der Malerei‹ nicht mehr den Kopf hätte zerbrechen müssen. Sie hielt es einfach für angebracht, ihre persönlichen Sachen in einem ordentlichen Zustand zu hinterlassen. Ein Buch, das sie von Elke Schuster ausgeliehen hatte, versah sie mit dem Vermerk: »Gehört Elke Schuster«. Als sie spürte, daß sie hungrig war, mußte sie sogar einen Augenblick lächeln, aber sie fand es nicht merkwürdig, dem Verlangen nachzugeben und sich in der Küche ein Marmeladenbrot zu machen. Es schmeckte ihr. Sie hätte nicht gedacht, daß jemand, der zu sterben entschlossen war, mit Appetit ein Stück Brot essen konnte. Würde sie sich jetzt womöglich auch noch die Nägel schneiden? Den Modeteil einer Frauenzeitschrift anschauen? Nein, aber die Blumen gießen. Sie sah es gern, wenn die Blumenerde schwarz und feucht wurde. Das Telefon! Das Telefon? Fichte? Etwa Fichte? Oder Mama und Papa aus London? »Wie geht es dir, Kindchen, wir kommen heute abend!« Angst bremste plötzlich ihren Weg zum Telefon. Nicht abheben, ich bin schon tot! Zehnmal läßt sie es läuten, dann hebt sie doch ab. »Ja?« »Ist dort die größte Lehrernutte aller Zeiten?« Inge Carstens läuft kichernd aus der Telefonzelle. »Das machen wir jetzt öfter, du!« sagt sie. Katrin Schulte hält das wieder mal für gar nicht fair. Inge muß ihr erst einen Schubs geben, ehe sie begreift, daß es dieses Stück Scheiße doch gar nicht anders verdient hat. »Und das nächste Mal bist du dran, klar? Mit einem Taschentuch vor der Muschel kann man die Stimme nie erkennen!« 124
Sina Wolf sitzt auf der Treppe und heult. Sie denkt gar nicht nach, wer es gewesen sein könnte. Warum bringt sie es nur nicht fertig, hier im Haus zu sterben, dann könnte sie es doch gleich tun!? Gibt es einen einzigen vernünftigen Grund dafür, es unbedingt im Freien tun zu müssen, auf Erde, unter dem Himmel, nach Einbruch der Dunkelheit? Ach ja, fällt es ihr wieder ein, nach Einbruch der Dunkelheit kann es deshalb erst sein, weil sie niemanden treffen möchte. Es ist völlig undenkbar, auf dem Weg dorthin den Apotheker oder den lustigen Eisverkäufer vom Café Hermann zu treffen und: »Na?« zu sagen oder: »Hallo!« oder: »Auch ins Kino?« und dabei so tun, als sei nichts wichtiger als der Ausgang des Fußballspiels zwischen dem SV Pöstropp und dem VFB Klierssen. Wenn es ganz schlimm wird, dann begegnet sie dem kleinen buckligen Stallburschen vom Gestüt Henning, der gerade unterwegs ist, den Tierarzt Bellmann zu holen, weil es mit der Stute Wirbelwind gleich soweit ist, und er fragt: »Kommst du mit, es sind auch wieder neue Pferde da, der Henning freut sich, wenn sie von einem so netten Mädchen wie dir ein bißchen in Trab gehalten werden!« Was dann? Nein, sie muß warten, bis es dunkel ist, der Zeitpunkt spielt keine Rolle, auf ein oder zwei Stunden mehr oder weniger Leben kommt es nicht an. Diese Einsicht hemmt auch plötzlich den Fluß ihrer Tränen. Sie geht in ihr Zimmer zurück und sieht sich die Pistole an, die sie aus dem Schreibtisch ihres Vaters geholt hat. Erstaunt nimmt sie zur Kenntnis, daß sie keine Angst mehr hat. Zu diesem Zeitpunkt beobachten Gisela und Helmut Fichte Schwäne. Sie haben auf der Fahrt nach Kiel im Waldcafé haltgemacht und gehen das Seeufer entlang. Als sie an der Jahrhundertbuche ankommen, fragt er: »Kannst du dich erinnern?« »An jedes Wort«, sagt sie. »Dann fang’ ich jetzt an. Findest du nicht, daß die Leute ganz unnötig reden?« »Wieso unnötig?« »Unnötig, weil wir, wenn wir sowieso zusammen leben, auch zum Standesamt gehen können.« 125
»Ach – das ist wohl ein Heiratsantrag?« »Natürlich.« »Dann bitte um meine Hand!« »Ich bitte um deine Hand, deinen Mund, deinen Hals, deine…« Er brach ab. »An dieser Stelle wurden wir gestört. Eine Familie mit fünf Kindern ging vorbei. Ich konnte nicht zu Ende führen, worum ich alles bitten wollte… Also weiter, die Familie ist vorbeigegangen: Willst du meine Frau werden?« »Dein Gedächtnis läßt dich im Stich!« »Wieso?« »Du hast nicht gesagt: ›Willst du meine Frau werden?‹, sondern: ›Ich bin verrückt nach dir! Heirate mich!‹ Und dabei hast du nicht mich angesehen, sondern die beiden Schwäne, die auf dem Wasser schwammen. Das hat mich ungemein beeindruckt. Schwäne sind sich treu.« Jetzt ist er ein bißchen aus dem Konzept. Diese Anspielung muß er erst mal verdauen. Er blickt zu den Schwänen und fragt: »Meinst du, daß es noch dieselben sind?« »Aber sicher.« »Weiter. Wie hast du meinen Antrag aufgenommen?« »Ich habe gesagt: ›Ich wollte dich auch schon fragen, ob wir nicht heiraten wollen. An der Weidenkoppel ist ein wunderschönes Haus zu vermieten mit einem riesigen Apfelbaum in einem großen Garten. Da können wir Grünkohl und Tomaten anbauen und wilden Wein die Hauswand hochwachsen lassen. Ich allein kann die Miete nicht gut bezahlen, aber für zwei wäre es wirklich ideal!‹« »Das war ziemlich ernüchternd. Ich dachte: Die will vor allem das Haus und erst in zweiter Linie mich!« »Das glaubst du doch selber nicht!« »Nein.« Er umarmte sie, mehr zärtlich als heftig; er befürchtete nicht ganz zu Unrecht, sie könne die Sache mit Sina nun doch nicht im Ruck-Zuck-Verfahren verzeihen und einfach wieder seiner ungeteilten Zuneigung vertrauen. Aber sie empfand die Wärme seines Körpers als ganz angenehm, denn es war kühl geworden und sie hatte den Mantel im Wagen gelassen. »Woran denkst du?« fragte er. 126
»An Sina«, erwiderte sie. »Es hätte ja leicht sein können, daß du jetzt sie umarmst statt mich.« »Ich kann dir nicht übelnehmen, daß du so denkst. Aber für mich ist es, als sei das lange her.« Sie sah ihn verwundert an. »Wäre es besser, wenn ich leiden würde?« fragte er. »Für deinen Charakter ja, für mich nicht.« »Wie meinst du das?« »Es sollte dir durchaus noch etwas zu schaffen machen. Denn wenn es gar keine Bedeutung für dich hatte, hättest du es ja auch bleibenlassen können. Und wenn es tiefer saß, müßte es dir weh tun.« Sie gingen zum Wagen zurück. Er dachte über ihre Worte nach, aber es gelang ihm beim besten Willen nicht, die leichte Melancholie, die er empfand, als Trennungsschmerz zu bezeichnen. »Bin ich ein Gefühlsrohling?« fragte er. »Nein. Ein Kind. Ein Kind liebt seine Spielsachen und mag trotzdem plötzlich nicht mehr mit ihnen spielen.« »Weil es älter und vernünftiger wird?« »Hoffentlich!« Fichte kurbelte das Wagenfenster herunter. Dann rückte er an sie heran, nahm ihre Hände und sagte: »Bestimmt!« »Fahr los. Ich habe Hunger. Hast du genug Geld mit? Ich will im teuersten und besten Lokal von Kiel essen, und das geht nicht aus der Gemeinschaftskasse, das bezahlst du von deinem Taschengeld.« »Jawohl, Frau Oberstudienrätin. Muß ich links oder rechts abbiegen?« »Rechts.« Er bog ein und begann ein Lied vor sich hin zu pfeifen. Er pfiff fast immer halblaut vor sich hin, wenn er Auto fuhr. Aber als es ihm diesmal bewußt wurde, hörte er auf. Zwar hatte das Gepfeife letztlich gar nichts zu bedeuten, es war nichts als eine dumme Angewohnheit, aber er fand, heute war es fehl am Platz. »Hoffentlich macht dir Sina nicht noch Ärger!«
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»Du meinst, wegen der Schule und so? Nein, sie war eigentlich ganz vernünftig… Schätzt du sie denn so ein?« Er hielt an einem Bahnübergang. »Nein. Aber wenn kleine Mädchen unglücklich sind, kommen sie manchmal auf die verrücktesten Ideen.« Das kleine, unglückliche Mädchen wäre von seiner verrückten Idee, sterben zu wollen, vielleicht wieder losgekommen, wenn sie den Telefonhörer abgenommen hätte. Ihre Eltern, bereits auf dem Flughafen Hamburg-Fuhlsbüttel gelandet, wollten ihr telefonisch mitteilen, daß sie in etwa einer Stunde zu Hause sein würden. Sina, gerade im Begriff, das Haus zu verlassen, nahm den Hörer nicht ab, weil sie inzwischen ein zweites Mal von einer anonymen Anruferin als »Nutte« beschimpft worden war. Sie befürchtete, es könne der dritte Anruf dieser Art sein. Zwar hielt sie es keineswegs für ausgeschlossen, daß ihre Eltern am Apparat waren, aber sie hatte sich inzwischen in ihre Absicht, den Tod zu suchen, so hineingesteigert, daß sie den Anruf von geliebten Menschen fast mehr fürchtete als den von bösartigen Verleumderinnen. Sie ging, belebte Straßen meidend, zunächst zu der Stelle, wo sie Michael Harms erschlagen hatte. Es war eine instinktive, völlig unüberlegte Handlung, und sie folgte diesem Drang, obwohl sie Angst hatte. Wenn sie gemeint hatte, hier eine Weile in Reue und Besinnung verharren zu können, so sah sie sich nun getäuscht. Die Inschrift auf dem Stein: ›Hier starb durch feige Mörderhand‹, in der hereinbrechenden Dunkelheit gerade noch zu erkennen, erschreckte sie zutiefst. Zum ersten Mal wurde ihr richtig klar, daß der Junge, der sie erpreßt und genötigt hatte, von ganz Pöstropp als der Retter ihrer Unschuld und – vielleicht – ihres Lebens gefeiert wurde. Was für ein Wahnsinn! »Was Fichte kann, das kann ich auch!« hatte er gesagt. Mit böse blitzenden Augen, lieblos und gierig. Sie verließ den Tatort ohne ein anderes Gefühl als Selbstmitleid und schlug die Richtung zum Schwarzen See ein, der gewissermaßen das Ende dieses großen Waldes bildete.
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Es war so dunkel, daß sie sich nie zurechtgefunden hätte, wenn sie den Weg nicht ungezählte Male bei Tageslicht gegangen wäre. Trotzdem stolperte sie über eine Astwurzel und schlug sich das Knie blutig. Sie ignorierte den Schmerz, er spielte für sie keine Rolle mehr. An der Bucht war es heller. Der Mond brach manchmal durch die Wolken und versilberte den See. Obwohl sie sich vorgenommen hatte, an der Stelle zu sterben, wo sie mit Helmut Fichte am glücklichsten gewesen war, löste dieser Ort jetzt keinerlei Empfindungen in ihr aus. Sie fror. Die Kälte kroch vom See her in ihre Kleider und ließ sie frösteln. Das störte sie mehr als die Nähe des Todes. Sina nahm die Pistole aus ihrer Leinentasche, setzte sie an die Stirn und drückte ab. Es klickte, und sie atmete. Sie tat es noch einmal und noch einmal, aber es machte immer nur klick. Eine wahnsinnige Angst, am Sterben gehindert zu werden, überfiel sie. Sie öffnete den Verschluß der Waffe, überzeugte sich, daß sie tatsächlich geladen war, drückte einen Hebel – es war der Sicherheitshebel – nach vorn und hinten, drückte wieder ab, aber es half alles nichts, die Pistole streikte. Völlig aufgelöst begann sie zu weinen. Und dann fiel ihr ein, daß man auch im Wasser sterben kann. Der See war groß und tief. Sie ging in Kleidern hinein, nur die Schuhe zog sie aus. Als sie schwamm, bemerkte sie überrascht, daß das kalte Wasser den beißenden Schmerz ihres aufgeschlagenen Knies linderte. Ich werde so schwimmen, daß ich in der Mitte des Sees bin, wenn mich die Kräfte verlassen, beschloß sie. In diesem Moment machte Studienrat Fichte seiner Frau den Vorschlag, in Kiel zu übernachten. »Da können wir auch noch eine Flasche Wein trinken, ohne befürchten zu müssen, auf der Heimfahrt den Führerschein einzubüßen.« Sie saßen in einem Restaurant, hatten vorzüglich gegessen und waren in einer übermütig guten Stimmung. »Ich bitte dich, wir haben kein Gepäck mit! Nicht mal eine Zahnbürste.«
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»Eine Zahnbürste haben wir!« Er griff in die Seitentasche seiner Jacke und zeigte sie vor. »Ich hab’ so was kommen sehen!« Sie lachte. »Du bist verrückt!« »Muß denn immer alles normal sein? Ich freue mich jetzt schon auf das Gesicht des Nachtportiers, der über den Tresen schielt, ›Haben Sie kein Gepäck?‹ – ›Nein, nein‹, sage ich, ›die Dame und ich haben uns gerade erst kennengelernt.‹ Er putzt verlegen seine randlose Brille. Nachtportiers haben meist randlose Brillen. Er studiert die Zimmerliste. ›Geben Sie uns aber bitte das Doppelzimmer mit dem bequemsten Bett‹, sage ich. Er schaut dich irritiert an und sucht in deinem Gesicht vergeblich die Spuren von Verruchtheit und liederlichem Lebenswandel. Aber er gibt uns das Zimmer. Der Boy kommt und trägt meine Zahnbürste hoch. In einem wirklich feinen Haus braucht der Gast nichts zu tragen. Einverstanden?« Sie nickte amüsiert, und ihr Mann bestellte noch eine Flasche Wein. Etwa zu diesem Zeitpunkt betraten der Industrieberater Harald Wolf und seine Frau ihre Villa in Pöstropp. Die Abwesenheit ihrer Tochter versetzte sie zunächst überhaupt nicht in Panik. Sina war ja auch nicht zu Hause gewesen, als sie angerufen hatten. Sie vermuteten sie bei einer Freundin, im Kino oder beim Gymnastikkurs des Turnvereins, allenfalls wunderten sie sich, daß Sina keinen Zettel mit einer Nachricht hinterlegt hatte. »Ob sie etwa schon schläft?« fragte Frau Wolf. »Um zehn? Freitags? Wenn sie am nächsten Morgen ausschlafen kann?« Erst nach etwa zehn Minuten betrat Frau Wolf das Zimmer ihrer Tochter. Da fand sie den Brief.
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FINKE BERICHTET Einsatzbericht. An den ltd. Polizeidir. Mengersberg. Kiel, 19. September. Gegen 23 Uhr wurde ich durch die Nachteinsatzbereitschaft informiert, daß ein Telefonanruf von der Polizeistation Pöstropp eingegangen war, wonach die Schülerin Sina Wolf von ihren Eltern als vermißt gemeldet wurde. Ein zurückgelassenes Schreiben der Schülerin läßt darauf schließen, daß sich Sina W. mit Selbstmordabsichten von zu Hause entfernt hatte. Da ein Zusammenhang mit dem Mordfall Michael Harms auf der Hand lag – Sina W. war Zeugin des Mordes, hatte sich jedoch in Widersprüche verwickelt –, alarmierte ich den Kollegen Franke und fuhr mit ihm nach Pöstropp. Wir trafen dort gegen 23 Uhr 40 auf der Polizeistation ein. Der diensthabende Oberwachtmeister wies uns darauf hin, daß die Beamten Weiß und Gregersen in dieser Sache bereits das Ehepaar Wolf aufgesucht hatten. Wir begaben uns auch gleich zu den Eltern des Mädchens. Außer den genannten Personen war der Hausarzt Borgmann zugegen, welcher Frau W. versorgte, die sich gerade einigermaßen von den Folgen eines Schocks erholte. Sie war vernehmungsunfähig. Herr W. war vergleichsweise gefaßt und ansprechbar, jedoch zunächst nicht dazu zu bewegen, den Abschiedsbrief, den seine Tochter geschrieben hatte, herauszugeben. Herr W. behauptete, er habe ihn in all der Aufregung verlegt. Aus dem Brief ginge jedoch einwandfrei hervor, daß seine Tochter die Absicht habe, sich etwas anzutun. Wie vor mir schon Hauptwachtmeister Gregersen wies ich Herrn W. darauf hin, daß eine Fahndung nach dem Mädchen nur veranlaßt werden könne, wenn die Lebensgefahr belegt sei. Sonst werde womöglich der ganze Polizeiapparat in Bewegung gesetzt, und die Gesuchte sitzt währenddessen bei einer Freundin. Daraufhin händigte mir Herr W. den Abschiedsbrief aus. Ihm war in der Tat zu entnehmen, daß Suizidgefahr bestand. Das Schreiben enthielt aber gleichzeitig das Geständnis, daß Sina 131
W. ihren Schulfreund Michael Harms selber getötet hatte. Dieser Teil des Briefes war offensichtlich auch der Grund gewesen, warum Herr W. die Herausgabe zunächst verweigerte. Er wollte seine Tochter, falls sie lebend gefunden wurde, nicht mit ihrem Mordgeständnis belasten. Nach Rücksprache mit der Einsatzbereitschaft Kiel und dem Leiter der Schutzpolizeistaffel schien allen Beteiligten eine großangelegte Suchaktion wenig sinnvoll, da die gefährdete Person sich praktisch überall befinden konnte und eine planmäßige Geländeabsuchung selbst mit einer Hundertschaft kaum Erfolg versprochen hätte. Um einigermaßen gezielt fahnden zu können, versuchten Kriminalmeister Franke und der Unterzeichnete den Studienrat Fichte zu erreichen, der im Brief der Gesuchten als eigentlicher Selbstmordgrund angegeben worden war und vielleicht zweckdienliche Hinweise hätte geben können. Es waren aber weder er noch seine Frau zu Hause. Drei Polizeistreifenwagen – einer abgestellt von der Polizeistation im Nachbarort Kappel – suchten daraufhin Pöstropp und Umgebung ab und befragten Passanten nach der Vermißten. Ein wesentliches Hindernis dabei war, daß keine ausreichende Beschreibung gegeben werden konnte, weil die Angehörigen nicht über die Kleidung von Sina W. Auskunft geben konnten. Einer Eingebung von Kriminalmeister Franke folgend suchten er, die Beamten Weiß und Gregersen und der Unterzeichnete die vermißte Person am Tatort des Verbrechens bzw. in dessen Nähe. Es erwies sich als Irrtum, daß Sina W. vielleicht hier, an der Stätte ihrer Schuld, Selbstmord begangen haben könnte. Zwar fanden sich hier verhältnismäßige frische Schuhabdrücke im Gras, aber es konnte nicht geklärt werden, ob sie von Sina W. stammten. Ein Absuchen der näheren Umgebung mit Megaphon usw. erwies sich ebenfalls als erfolglos. Der Einsatz von Suchhunden wurde gar nicht erst in Betracht gezogen, weil es ab etwa 22.30 Uhr stark geregnet hatte und kein Hund die mögliche Spur noch hätte aufnehmen können. Um 2.45 Uhr erschien Streifenwagenführer Melchior mit der Nachricht, daß Herr W. inzwischen eine Pistole vermisse; sie 132
hatte in seinem Schreibtischfach gelegen. Die Pistole war, laut Auskunft von Herrn W. zwar defekt, aber ihr Verschwinden machte gleichzeitig klar, daß Sina W. durchaus ernste Absichten hatte, aus dem Leben zu scheiden. Gegen 4 Uhr ordnete ich an, die Suchaktion abzubrechen, zumal der Regen unvermindert stark anhielt und nach den gegebenen Umständen zu befürchten war, daß die Vermißte ihre Absicht bereits in die Tat umgesetzt hatte. Trotzdem hielten sich der Unterzeichnete und Kriminalmeister Franke im Pkw vor dem Hause Fichte auf, um die Rückkehr des Ehepaars abzuwarten und vielleicht doch noch eine gezielte Rettungsaktion einleiten zu können. Um 8 Uhr am 20. September, zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Berichtes, war das Ehepaar Fichte immer noch nicht nach Hause zurückgekehrt. Das Ehepaar Fichte frühstückte im Hotelbett und war sehr glücklich. Bei einem weniger trostlosen Wetter wären sie womöglich schon längst auf der Heimfahrt gewesen, aber der Regen fiel schräg gegen die Fensterscheiben und machte das ausgiebige Frühstück so richtig gemütlich. Als Helmut Fichte etwas Eigelb auf die Bettdecke kleckerte und seine Frau bemerkte: »Du kannst noch nicht einmal richtig essen!«, fiel ihm ein, daß es noch keine zwei Tage her war, daß Sina seine Schokoladenspuren auf ihrem Bett beanstandet hatte. Doch diese Erinnerung war gleich wieder weg und beeindruckte ihn nicht sehr. Ihm kam es vor, als hätte er das Kapitel »Sina« irgendwo verloren, und es schien ihm nicht der Mühe wert, den Verlust zu beklagen. »Soll ich mal anrufen und fragen, ob die hier im Haus einen Friseur haben?« Gisela Fichte blickte von der Zeitschrift auf, in der sie geblättert hatte. »Wozu das denn?« »Damit du keine Kratzwunden bekommst!« »Du rasierst dich zu Hause, mein Schatz. Und bis dahin findet keinerlei Geschmuse statt.« Er spielte den Beleidigten. Und dann, völlig überraschend, fiel ihm etwas ein, obwohl er sich seit gestern nicht mehr mit der
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Polizei und deren unsinnigem Verdacht gegen ihn beschäftigt hatte. Er fuhr geradezu zusammen. »Du!« »Ja?« »Dieser hartnäckige Kommissar hat mich doch gefragt, ob ich für die Tatzeit ein Alibi hätte!« »Ja, und?« »Ich habe ihm gesagt, ich hatte keins, ich hätte auch mit niemandem zwischen 15 und 16 Uhr telefoniert!« »Hast du doch?« »Na klar. Der Vorsitzende des Elternbeirats, Michelsen, hat mich angerufen! Fast eine halbe Stunde haben wir telefoniert – wegen der Klassenreisen nächstes Jahr. Wir haben uns auch am nächsten Tag noch darüber unterhalten, und es war bestimmt an diesem Tag, weil wir am Tag darauf auch über Michaels Tod gesprochen haben.« Gisela sah ihn dankbar an. »Ich glaube dir auch so!« »Ja. Weiß ich. Aber das sollte ich vielleicht dem Kommissar doch noch unter die Nase reiben! Damit er nicht auf den Gedanken kommt, mich weiterhin zu verdächtigen!« »Da würde ich an deiner Stelle erst einmal mit Michelsen sprechen und ihn fragen, ob er sich daran genauso gut erinnert wie du.« »Da hast du auch wieder recht.« Vergnügt, beinahe ausgelassen war er trotzdem. Er freute sich, daß ihm dieses Telefongespräch noch eingefallen war. Er stand auf und ging zum Fenster. Der Regen hatte nachgelassen. »Wollen wir langsam aufbrechen?« fragte er. Sie nickte. Er trank seinen Kaffee aus und ging unter die Dusche. Einen Kaffee und ein angenehmes Duschbad hätten Finke und Franke jetzt auch gern gehabt. Sie saßen immer noch im Wagen vor dem Haus Fichte, übermüdet, schmutzig, hungrig, durstig. Da es mittlerweile nur noch nieselte, konnten sie jetzt aber wenigstens immer mal aussteigen und sich die Füße vertreten. »Da hält man es nun für eine ziemliche Sauerei, daß ein verheirateter Mann wie Fichte, Lehrer dazu, seine Frau mit einem jungen Mädchen betrügt, und was geschieht? Er besinnt sich, 134
macht Schluß – und die Katastrophe ist nicht vorbei, sie beginnt erst!« Finke knurrte einen undefinierbaren Kommentar. Er hatte die Beine angezogen und es sich auf dem Rücksitz einigermaßen bequem gemacht. »Muß ja ein verdammt mieser Typ gewesen sein, dieser Michael Harms! Können Sie sich noch an die edlen Worte bei der Trauerfeier erinnern? An die gehaltvollen Nachrufe der Lehrer und was so in den Zeitungen gestanden hat?« »Hm.« »Wissen Sie, was das idiotischste ist?« »Was?« fragte Finke eher müde als interessiert. »Daß ich dem Fichte das nachfühlen kann!« »Daß er Schluß mit Sina gemacht hat?« »Nee. Daß er ihr nicht widerstehen konnte!« Finke riß kurz die Augen auf, sah seinen Mitarbeiter rügend an und schloß sie wieder. »Wenn er weder verheiratet noch Lehrer wäre, hätte das die schönste Love Story der Welt werden können«, sagte Franke verträumt. »Sie gehen mir auf die Nerven.« »Verzeihung. Ob der Staatsanwalt auf vorsätzlichen Totschlag plädieren wird?« Finke räkelte sich mühsam hoch und sah Franke erstaunt an. »Glauben Sie denn, daß sie noch lebt?« »Ich hoffe!« »Ich ja auch – aber…« Er schüttelte den Kopf. Die Ortspolizisten Weiß und Gregersen fuhren vor, um Finke und Franke abzulösen, aber Finke und Franke wollten nicht abgelöst werden, sie wollten hier warten, bis Fichtes heimkamen. »Bringen Sie uns heißen Kaffee, dann halten wir schon durch.« Die Beamten brachten Kaffee und fuhren wieder ab. Sie suchten mit einer inzwischen verstärkten Polizeieinheit weiter nach Sina Wolf.
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FRAU WOLF BERICHTET Ich grüble, was ich verkehrt gemacht haben könnte. Es beruhigt mich nicht im mindesten, daß Sina mich von jeder Schuld entbunden und mir und meinem Mann das Prädikat ausgestellt hat, ihr alles gegeben zu haben. Wenn ein Kind so etwas tut, so etwas tun will, dann müssen auch die Eltern versagt haben. Zu viel Vertrauen? Zu wenig? Die von Psychologen und Pädagogen in den Bereich des Nebels geschobene Markierung zwischen Beaufsichtigen und Gewährenlassen nicht gefunden? Niemals wäre ich auf den Gedanken gekommen, daß Sina ein Verhältnis mit Studienrat Fichte hatte und daß daraus eine so tragische Verwicklung entstehen könnte, wie sie sie in ihrem Abschiedsbrief andeutet. Warum nur hat Sina mit mir nicht darüber gesprochen?! Autoritäre Anordnungen und Verbote hat es ihr gegenüber nie gegeben. Es wäre keine Katastrophe gewesen, wenn sie uns ihre Liebe zu Studienrat Fichte eingestanden hätte. Wir schätzen diesen Mann, wir schätzen allerdings auch Frau Fichte. Es hätte sich eine Lösung gefunden, und selbst wenn Pöstropp vor Klatsch und Tratsch kopfgestanden hätte – so unheilvoll wie jetzt wäre es nie geworden! Warum, warum, warum nur hat Sina geschwiegen? Warum selbst dann noch, als Michael Harms sie auf so gemeine Art erpreßte? Wie leicht ist es, jetzt zu sagen: Eltern müssen doch spüren, was in einem Kind vorgeht! Nein, ich habe nichts gemerkt. Sinas Erschütterung nach dem Mord an Michael Harms war kaum spürbar. Und wir waren dankbar und froh, daß Sina sich so schnell wieder beruhigte. Viele Jugendliche nehmen Schaden für das ganze Leben, wenn sie so etwas erlebt haben. Es wäre uns nicht in den Sinn gekommen, Sina anschließend auch noch mit Fragen zu quälen, weshalb sie plötzlich wieder mit Micha spazierengegangen sei, nachdem sie die Freundschaft doch beendet hatte. Sina hat, wie sehr ich auch nach Gegenbeweisen suche, nie gelogen. Aber sie hat oft Dinge verschwiegen, wenn man sie nicht ausdrücklich danach gefragt hat. Vor allem Erfreuliches
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hat sie gern für sich behalten, ein Sonderlob in der Schule beispielsweise. Sie wollte damit nicht prahlen. Negatives berichtete sie immer sofort! So etwas mußte sie loswerden. Wenn sie ihre Liebe zu Fichte als Dummheit, als etwas Belastendes empfunden hätte, würde sie bestimmt darüber gesprochen haben. Sie muß also sehr glücklich gewesen sein – und von absoluter Zuversicht, diesen Menschen ganz für sich gewinnen zu können. Eine Traumwelt? Jugendlicher Unverstand? Mangelnde Erfahrung? Ja und nein und nein und ja. Nichts von diesen Begriffen trifft zu. Es ist ihr leichter gefallen, einen rohen Schulfreund zu töten, als ihm das zu geben, was sie nur dem Mann geben konnte, den sie liebte – in einer Zeit, wo die Sechzehnjährigen die Pille nehmen wie unsereins vor 20 Jahren Bonbons lutschte. Wo sie, von Kinderängsten befreit und von sexbejahenden Aufklärern ermuntert, die Liebe praktizieren, als sei sie die schönste Freizeitgestaltung und vollziehbar wie Turnübungen. Du hast mit Bruno geturnt, nun turn auch mal mit mir, du wirst sehen, mit mir macht es auch Spaß! »Warum hast du denn Micha getötet, statt mit ihm zu turnen?« könnte ein fortschrittlicher Jugendrichter fragen. »Micha war doch in deinem Alter, Fichte dagegen verheiratet und sogar dein Lehrer – und ein unverantwortlicher Lehrer dazu, denn er betrieb Unzucht mit einer Abhängigen!« »Ich habe ihn geliebt, Herr Vorsitzender, den Micha aber habe ich nicht geliebt.« Da würde der Jugendrichter lächeln und den Kopf schütteln und sagen, daß man mit siebzehn ja noch gar nicht wisse, was Liebe sei. Der Jugendrichter muß das wissen. Er ist erwachsen und ein Experte. Seit gestern abend zittere ich vor Angst, daß mein einziges, geliebtes Kind in den Tod gegangen ist. Ich habe Sinas Abschiedsbrief wieder und wieder gelesen, und ich bin beinahe verrückt geworden vor lauter Optimismus, als ich, mir Wort für Wort einhämmernd, feststellte, daß man mit unendlich viel Mühe herauslesen konnte, sie sei nur weggegangen – kein Wort von Sterben, Tod, Schluß machen! Muß man »Abschiednehmen«, muß man Worte wie: »Mir kann niemand mehr helfen!«, 137
»Seid mir nicht böse!« unbedingt so auffassen, wie wir es aufgefaßt haben? Ich lese den Brief noch einmal. »Es heißt ja immer, daß Eltern etwas falsch gemacht haben müssen, wenn Kinder so etwas tun.« »So etwas.« Gott im Himmel – was ist »so etwas«? Ist nur Selbstmord »so etwas«? Und wieder fällt mir die Pistole ein. Sina hätte doch nicht die Pistole mitgenommen, wenn sie nur weglaufen wollte! Aber die Pistole ist kaputt. Was wird sie tun oder getan haben, wenn sie es gemerkt hat? Mein Mann ruft ununterbrochen Freunde und Bekannte an, ob Sina bei ihnen sei. Er ruft selbst Menschen an, die wir eine Ewigkeit nicht mehr gesehen haben, die wir nur flüchtig kennen. Niemand hat Sina gesehen. Und dann werden wir angerufen. Angst und Hoffnung jagt mich zum Telefon – und jemand fragt: »Spreche ich denn mit der berühmten Nutte?« Was das bedeuten soll, kann ich mir nun wirklich nicht erklären. Die Polizei fährt vor. Nein, sie haben sie nicht gefunden. Ich atme auf. Sie hätten sie ja auch tot finden können. Nicht gefunden heißt leben. Mein Mann ist jetzt, 10 Uhr 30, vor Erschöpfung im Sessel eingeschlafen. Er hat wie ich die ganze Nacht kein Auge zugetan. Studienrat Fichte ist, wie ich hörte, noch immer nicht nach Hause gekommen. Wenn nicht auch Frau Fichte weg wäre, könnte man sich an die schwache Hoffnung klammern, Sina sei mit Fichte durchgebrannt. Aber wie soll sie mit dem Mann durchbrennen, der ihr gesagt hat, daß sie sich trennen müssen? Alles, was ich denke, stößt auf Widersprüche wie gegen Wände, oder es führt in Gänge, die plötzlich aufhören. Am Ende aller Überlegungen beginne ich Fichte zu hassen. Er ist schuld. Er hat Liebe in ihr geweckt und hat sie dann rücksichtslos im Stich gelassen. Er war am Ziel und hat gesagt, nun reicht es. Es ist ihm plötzlich eingefallen, daß er auch eine Frau hat. Eine Trauschein-Frau, eine Ehefrau. Vielleicht hätte aber Fichte Sina 138
das gar nicht angetan, wenn die Ehefrau nicht geweint, gejammert oder gedroht hätte. Vielleicht liebt Fichte Sina immer noch und seine Frau schon längst nicht mehr, aber sie hat ihn mit Wörtern wie »Treue« und »Verantwortung« und »Anstand« umgestimmt. Es tut ihm schon leid. Sina ist keine Nebenbei-Liebe. Sina liebt man ganz. Das sieht auch Frau Fichte ein. Wenn es zu spät ist. »Wenn ich das gewußt hätte«, sagt sie vielleicht. »Wenn ich das gewußt hätte«, sagt er. Und wenn Tote noch reden könnten, würde auch Michael Harms sagen: »Wenn ich das gewußt hätte!« Der Hausarzt kommt und gibt mir ein Beruhigungsmittel. Ich höre mich sagen: »Laß mich bitte nur wieder aufwachen, wenn alles gut ist!« In den Grünanlagen am alten Stadtwall wird auch nach Sina gesucht. Ein Polizist steigt, mit Seilen gesichert, in den Brunnenschacht. Hier wurde vor zwei Jahren der letzte bekanntgewordene Selbstmord in Pöstropp verübt. Ein verschuldeter Tischlermeister stürzte sich hinab. »Es könnte ja sein…« meint Hauptwachtmeister Gregersen. Aber es ist nicht. Er kommt wieder nach oben und schüttelt den Kopf. Inge Carstens und Katrin Schulte kommen aus der Telefonzelle. »Was ist denn los, Herr Gregersen?« »Na, wegen Sina.« »Was denn wegen Sina?« »Ist verschwunden.« »Verschwunden?« »Ja, komm, geh zur Seite. Es ist zu befürchten, daß sie sich was angetan hat. Oder habt ihr sie gesehen?« »Nein.« Inge Carstens starrt entgeistert den Polizisten nach, die in den Streifenwagen steigen und abfahren. »Siehst du!« Katrin heult. »Siehst du! Siehst du! Hast du heute angerufen oder ich?« schreit Inge. »Weil du mich gezwungen hast! Du bist gemein!«
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»Du bist blöd! Glaubst du etwa, die hat das getan weil… sag mal, glaubst du etwa, Sina hätte das getan, weil wir aus Spaß…?« »Aus Spaß! Du bist ein Scheißstück, Inge, ein richtiges Scheißstück!« »Ja, ja! Aber als ich dich mit in die Spickzettel von Fichte hab’ schauen lassen, da war ich kein Scheißstück!« »Das war etwas anderes!« »Tut mir ja auch leid, jetzt.« »Glaub’ ich dir nicht!« »Dann läßt du es bleiben!« »Ist er das nicht?« »Wer? Wo?« »Fichte! Da im Auto!« Es ist Fichte. Er pfeift ein Liedchen vor sich hin. Heute kann er es wieder. Vereinzelt bricht die Sonne durch die Wolken. Dann dampft die Straße. Der entgegenkommende Streifenwagen bedeutet nichts. Irgendwo ist wieder einmal ein Unfall passiert. Er drosselt die Geschwindigkeit von 60 auf 50, um nicht wegen zu schnellen Fahrens einen Strafzettel zu bekommen. »Vor unserem Haus steht ein Wagen!« bemerkt seine Frau. »Ja.« »Das ist ja ein Polizeiauto!« »Ja.« Fichte hält. Finke hat den parkenden Wagen verlassen. Fichte ist fest entschlossen, dem aufdringlichen Kommissar gleich am Anfang den Wind aus den Segeln zu nehmen. Mit gebremster Freundlichkeit geht er auf ihn zu. »Wollen Sie mich verhaften?« fragt er. »Dann würde ich mich an Ihrer Stelle erst einmal mit Herrn Michelsen, Elternbeirat, Rosenweg 54, in Verbindung setzen. Herr Michelsen wird Ihnen bestätigen, daß ich längere Zeit mit ihm telefoniert habe an dem Tag, an dem der Mord geschah.« Finke sah den Lehrer an wie ein vorlautes Kind. Dieser Blick irritierte Fichte. Zudem bemerkte er, daß der Kommissar und sein Begleiter Franke, der inzwischen auch näher gekommen war, sich in einem ziemlich ramponierten Zustand befanden. 140
»Haben Sie hier übernachtet?« fragte er, und es sollte ein Scherz sein. »Ja. Haben wir. Wir suchen Sina Wolf.« »Wo ist sie denn?« »Wir würden sie nicht suchen, wenn wir das wüßten. Sie ist gestern mit der Pistole ihres Vaters spurlos verschwunden.« Fichte sah seine Frau an. Sie brachte kein Wort heraus und schloß die Augen, als ließe sich dadurch verhindern, mit so etwas fertigwerden zu müssen. »Sina Wolf hat einen Brief hinterlassen mit dem Geständnis, Michael Harms getötet zu haben«, sagte Finke. »Das glaube ich nicht.« »Ich auch nicht. Aber es ist so. Wissen Sie, wo sie sein könnte?« »Ja. Im Wald, wo…« »Am Tatort waren wir schon. Da ist sie nicht. Fällt Ihnen etwas anderes ein?« Er kämpfte eine Sekunde mit sich und nickte dann. »Wo?« »Am See. Ich fahre hin!« Finke hielt ihn zurück. »Wir fahren mit!« »Wenn es noch nicht zu spät ist, dann kann nur ich…« »Das glauben Sie. Sie haben genug falsch gemacht. Fahren Sie voraus, wir folgen.« Frau Fichte fuhr auch mit. Die Waldwege waren vom Regen aufgeweicht, es war eine beschwerliche Fahrt. Frau Fichte konnte nicht ausmachen, ob ihrem Mann vor Anstrengung oder aus seelischer Erschütterung die Augen feucht geworden waren. Vielleicht beides. Fichte hielt dort, wo er auch immer gehalten hatte, wenn er sich mit Sina heimlich am See getroffen hatte. Von da ab mußte man zu Fuß gehen. »Ab hier möchte ich allein weiter«, sagte er. »Nein«, sagte Finke. »Haben Sie sich hier mit ihr getroffen?« Fichte warf einen verstohlenen Blick auf seine Frau und würgte ein Ja hervor. »In der Bucht dort.« Sie wateten durch die Niederung. »An dem Boot?« »Ja.« 141
Das Boot war leer. »Kommt man hier herum weiter?« »Mit nassen Füßen, ja«, sagte Fichte und dachte: Herr, laß sie hier sein, laß sie leben! Sie gingen hintereinander den sumpfigen Uferpfad entlang. Verstörte Wasservögel flogen auf. Finke kam am schlechtesten voran. Er war schwer und versank tief im Schlamm. Studienrat Fichte blieb stehen. »Dachten Sie hier?« fragte Franke und zeigte auf eine kleine, sandige Bucht. Fichte nickte. Hier war auch niemand. Nur ein angeschwemmtes Brett. Es hatte schon dagelegen, als er zum letzten Mal mit Sina hier gewesen war. Sie hatten alberne Bemerkungen darüber gemacht. Es war das Brett, das die Seejungfrau vor dem Kopf gehabt und verloren hatte. Nun suchte sie es. Nein, hatte Sina gesagt, ich bin die Seejungfrau, und ich hatte nie ein Brett vor dem Kopf. »Was ist denn mit dem Brett?« fragte Finke. »Nichts«, sagte er. »Rufen Sie!« Ein ratloser Blick. »Wissen Sie nicht, wie sie heißt?« »Sina!« ruft Fichte. Aber er schreckt wieder nur Wasservögel auf. Gisela Fichte will auch rufen, aber es wird nur ein brüchiges Schluchzen. »Kehren wir um«, sagt Finke, »es hat keinen Sinn. Kann man auch hier durch?« Fichte weiß es nicht, aber Finke will nicht wieder durch den Schlamm waten, er will frontal durch das Schilf in den Wald zurück, und da sieht er sie, das heißt, er sieht ein frierendes, zitterndes, aufgelöstes Bündel Mensch, das mit Sina kaum noch Ähnlichkeit hat. Aber es lebt, es starrt ihn an, es bewegt sich. »Sie ist kaputt… Sie geht nicht… Sie geht einfach nicht«, sagt sie weinend und zeigt auf die Pistole zu ihren Füßen. Finke hebt sie auf.
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»Ich war auch im Wasser… Aber ich kann ja schwimmen… Ich bin immer wieder zurückgeschwommen… Man kann nicht im Wasser sterben, wenn man schwimmen kann…« »Das ist ja auch gut so«, sagt Finke. »Du bist viel zu jung, um zu sterben.« »Ich wollte aber«, schluchzt Sina und erhebt sich. Fichte will ihr helfen, er stürzt herbei, aber sie sieht ihn gar nicht, sie taumelt an ihm vorbei in die Arme von Frau Fichte, vergräbt das Gesicht an ihrer Schulter. Finke schüttelt den Kopf, als Fichte anhebt, irgend etwas zu sagen. Frau Fichte weint und sagt: »Nun ist es ja gut, nun ist es ja gut!« Franke hat einen trockenen Mantel im Wagen. Er läuft voraus und holt ihn. Heißer Kaffee ist auch noch da. Finke sagt zu Fichte: »Es ist besser, wenn sie mit mir im Wagen fahren. Sina fährt mit Franke und Ihrer Frau.« Fichte ist jetzt mit allem einverstanden. Wenn es glückliche Tränen gibt, dann weint er sie. Finke nickt ihm verständnisvoll zu. Dann greift er zum Funkgerät. »Wagen eins. Zentrale kommen.« »Hier Zentrale.« »Wir haben die Vermißte am Schwarzen See gefunden. Sie lebt. Kommen.« »Verstanden. Die Vermißte lebt.« »Wir fahren gleich zum Krankenhaus, sie ist völlig unterkühlt. Rufen Sie ihre Eltern an und sagen Sie… und sagen Sie, wir sind alle froh. Kommen.« »Verstanden. Ich bin auch froh.« »Die Leute sollen schlafen gehen. Ende.« »Verstanden. Ende.«
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