Gabriele Haefs, Christel Hildebrandt & Dagmar Mißfeldt
Racheengel. Krimigeschichten aus Skandinavien scanned 10_2007/V1...
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Gabriele Haefs, Christel Hildebrandt & Dagmar Mißfeldt
Racheengel. Krimigeschichten aus Skandinavien scanned 10_2007/V1.0 Von den isländischen Familiensagas bis zu den erfolgreichen Krimis der Gegenwart – das Thema Rache hat in der skandinavischen Literatur eine lange Tradition. Diese Anthologie versammelt über zwanzig Originalbeiträge der interessantesten Autorinnen und Autoren der Gegenwart von Arne Dahl, Karin Fossum und Levi Henriksen bis zu Leena Lehtolainen und Åke Edwardson – sie erzählen von Racheengeln, die erst Ruhe geben, wenn das Unrecht gesühnt ist. ISBN: 978-3-492-04900-9 Verlag: Piper Nordiska Erscheinungsjahr: 2006
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Die Rache hat in der nordischen Literatur eine lange Tradition: Von den alten Isländersagas, in denen die Blutrache an der Tagesordnung ist, bis zu den erfolgreichen Kriminalromanen der Gegenwart. Die drei renommierten Übersetzerinnen Gabriele Haefs, Christel Hildebrandt und Dagmar Mißfeldt, Kennerinnen und Vermittlerinnen der skandinavischen Literatur im deutschsprachigen Raum, haben für diese einzigartige Anthologie Erzählungen der besten und originellsten Autoren aus den fünf nordischen Ländern versammelt, die hier zum ersten Mal auf deutsch vorliegen. In den über zwanzig Krimigeschichten wird das Motiv der Rache auf unterschiedlichste Weise in all seinen Facetten variiert. Bekannte Autorinnen und Autoren von Arne Dahl und Levi Henriksen bis zu Karin Fossum, Majgull Axelsson und Leena Lehtolainen erzählen von Racheengeln, die keine Ruhe geben, ehe das Unrecht gesühnt ist.
Autor Gabriele Haefs, Christel Hildebrandt und Dagmar Mißfeldt leben als Übersetzerinnen und Herausgeberinnen in Hamburg. Sie haben renommierte Autoren wie Jostein Gaarder, Håkan Nesser, Anne Holt, Lars Saabye Christensen, Liza Marklund und Åsa Nilsonne ins Deutsche übertragen und bereits mehrere erfolgreiche skandinavische Anthologien herausgegeben.
Inhalt Buch.........................................................................................................2 Autor........................................................................................................3 Inhalt........................................................................................................4 VORWORT...............................................................................................6 HANS CHRISTIAN ANDERSEN Der große Claus und der kleine Claus ...............................................................................................................13 MARGARET JOHANSEN Ein poetisches Rendezvous ..........................28 MARGIT SANDEMO Engel mit versteckten Hörnern ...........................35 INDRIÐI G. þORSTEINSSON Was einen Mann im Innersten bewegt ..49 KOLBJØRN HAUGE Todesprophezeiung.............................................63 BIRGITTA STENBERG Ein paar Walzerschritte zu Haffners Ehren ....71 HANNE MARIE SVENDSEN Der Rächer .............................................81 EDDA MAGNÚSDÓTTIR Fischabfälle.................................................95 LIS VIBEKE KRISTENSEN Eine kleine Sopranistin .............................98 MAJGULL AXELSSON Die Mörderin.................................................115 INGER JALAKAS Als er endlich kam, war er müde............................125 ÅKE EDWARDSON Nie in Wirklichkeit..............................................132 KARIN FOSSUM Die Säule.................................................................155 JOHANNA SINISALO Der Rest ist Schweigen ....................................166 LINE BAUGSTØ Fatal Orange ...........................................................180 PIA JUUL Elverdams Bach .................................................................188 ARNE DAHL Fu chou..........................................................................194 LEENA LEHTOLAINEN Der Weihnachtsengel ..................................209 LEVI HENRIKSEN Nur weiche Päckchen unterm Baum ....................224 JUSSI SIIRILÄ Meister ........................................................................235 OLA KLINGBERG Die spanische Tragödie plus ................................240 INGEBORG ARVOLA Schaf tötet Bauern ...........................................260 JOHAN HARSTAD Plexiglas...............................................................262 AUTOREN- UND QUELLENVERZEICHNIS .....................................274 DIE HERAUSGEBERINNEN ..............................................................282
Die Erzählungen wurden übersetzt von Åse Birkenheier, Friederike Buchinger, Maike Dörries, Dirk Gerdes, Gabriele Haefs, Steffen Hahn, Christel Hildebrandt, Elina Kritzokat, Dagmar Lendt, Dagmar Mißfeldt, Angela Plöger, Lotta Rüegger, Philipp Schneider, Gabriele Schrey-Vasara, Ruth Stöbling und Holger Wolandt.
VORWORT Sie sah den Mord, da rief sie: Ach, mein Oller, jetzt biste hin, das muß gerochen sein! Ulrich Roski: Des Schleusenwärters blindes Töchterlein In einem Buch mit skandinavischen Rachegeschichten einen deutschen Liedermacher zitiert zu sehen mag befremden, aber Ulrich Roski bringt hier wie kein anderer die Misere der deutschen Rachekultur auf den Punkt. In der deutschen Literatur gilt rachetechnisch die Devise: Rache muß sein, sozusagen egal wie. Und das war schon immer so. Wir müßten Wieland den Schmied heranziehen, um einen Rächer mit Phantasie zu finden, doch ach, die Geschichte von Wielands Rache am tückischen König ist im ganzen germanischen Sprachgebiet verbreitet, die skandinavischen Varianten unterscheiden sich in nichts von der deutschen, und alles weist darauf hin, daß sie vom Norden her zu uns gekommen ist. Das unumstrittene Meisterwerk der deutschen Literatur des Mittelalters dagegen ist rachemäßig ein Trauerspiel: Im Nibelungenlied will Kriemhild den Tod Siegfrieds rächen, und das tut sie dann auch, unverdrossen, bis es sie selbst den Kopf kostet, ohne daß je klar wird, was sie eigentlich davon hat, und ohne daß auch nur ein aufgrund ihrer Racheaktion erschlagener Recke ihr ein schadenfrohes Grinsen entlockte. Und wen rächt sie? Einen Mörder, Dieb und Vergewaltiger, der sie nach ihrer eigenen Aussage während der Ehe grausam mißhandelt hat, jede normale Frau wäre doch froh, den Kerl los zu sein – lustvolle Rache sieht anders aus. So trist und plump geht es weiter, bis wir im 19. Jahrhundert auf Herrn von Instetten stoßen, der den Liebhaber seiner Frau im 6
Duell erschießt. Dazu hat er gar keine Lust, viel lieber möchte er Effi, geborene Briest, den kleinen Seitensprung verzeihen und ganz normal weiterleben, aber »es muß gerochen sein«, daran hat sich in der Literatur bis heute nichts geändert. Wie wir dann im 20. Jahrhundert bei Ulrich Roski sehen. Wie anders geht es da in der skandinavischen Literatur zu! Im Mittelalter ist Wieland dort bei weitem nicht der einzige vorbildliche Rächer. Es fällt schwer, eine Saga zu finden, in der nicht mit Lust und Liebe gerächt wird, und da das Prinzip der Blutrache herrscht, kann eine Rache gleich mehrere Generationen zu Höchstleistungen anspornen. In der Literatur, wohlgemerkt, in Wirklichkeit gingen sie lieber zum Thing und ließen dort festlegen, welche Summe die beleidigte Seite von den Widersachern kassieren durfte, um auf Rache zu verzichten. Es konnte sich also empfehlen, selbst zur Tat zu schreiten, ehe das Sippenoberhaupt das Thing einschaltete. Das tun die beiden Schwestern in der »Saga von Ingegerd und Signy«. Ihr Vater ist auf Heerfahrt gezogen, die beiden Ivarssöhne (wie sie selbst heißen, wird nicht erwähnt, was auch schon eine kleine feine Art von Rache ist) nutzen die Gelegenheit und vergewaltigen die beiden. Signy weint und jammert und möchte am liebsten Selbstmord begehen, weil sie nicht glaubt, die Schande überleben zu können. Ingegerd aber denkt praktisch: Mir kein Grab im Meere, keins im gelben Sand: mit dem Beile, mit dem Schwerte will ich ziehn durchs Land. Dann machen sich die Schwestern auf den Weg, finden die Brüder und überwältigen sie mit Hilfe von Beil und Schwert: »Sehet nun, wie wir uns rächen, feiges Bubenpaar.« Die Brüder können es nicht fassen und haben nichts von ihrer Arroganz verloren:
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Schonet, teure Ebbitöchter, schonet uns, o schont, Frauen anzuflehn ums Leben sind wir nicht gewohnt. Solche blöden Sprüche helfen ihnen natürlich nichts, die beiden Schwestern schlagen ihnen den Kopf ab, reiten nach Hause und zeigen diese Trophäen dem inzwischen heimgekehrten Vater. Der nicht schlecht staunt – zwischen den Zeilen können wir lesen, daß der Vater lieber zum Thing geritten wäre, um sich die verlorene Ehre seiner Töchter in Goldstücken ersetzen zu lassen (von denen die Töchter dann kein einziges abbekommen hätten), aber das wäre nun wirklich kein befriedigendes Ende für eine Saga. Signy und Ingegerd schlagen zu, Wieland greift bei seiner umfassenden Rache auch zu Zaubermitteln, und beide Möglichkeiten finden sich in der skandinavischen Racheliteratur immer wieder. Margit Sandemo, mit über vierzig Millionen verkauften Romanen unangefochten die erfolgreichste skandinavische Autorin aller Zeiten, läßt ihre Romanheldinnen bei Racheaktionen gern zu Zauber greifen, in unserer Geschichte sagt Tula einen Zauberspruch auf, in dem das Wort »Seid« vorkommt, ein altes Wort für Zauber, das sich in den skandinavischen Sprachen erhalten hat. Im Deutschen gab es dieses Wort bis ins späte Mittelalter hinein, dann ging es verloren – wäre es zu weit interpretiert, in diesem sprachlichen Verlust auch einen Hinweis auf den stetigen Niedergang der deutschen Rachekultur zu sehen? Sandemo ist nicht die einzige, auch bei Pia Juul greift das Jenseitige in die Rachetätigkeit der Sterblichen ein. Die bekannteste Rache dieser Art hat sicher Selma Lagerlöf beschrieben, in ihrem kurzen Roman »Herrn Arnes Schatz« sorgt ein von Räubern ermordetes kleines Mädchen nach seinem Tod dafür, daß die Mörder entlarvt und bestraft werden. Das Beispiel Selma Lagerlöf zeigt, daß die Großen der skandinavischen Literatur das Thema Rache eifrig genutzt haben. 8
Wenn Knut Hamsun in einem Brief schreibt, so wenig, wie man jemals eine Wohltat vergessen dürfe, dürfe man eine Untat, die einem widerfahren ist, ungerächt lassen – wundert es da, daß seine Romanpersonen rächen, was das Zeug hält? Und wo wird so wollüstig gesündigt und danach mindestens ebenso wollüstig gerächt wie in den Mittelalterromanen von Sigrid Undset? Eine Art Seitenzweig der Rache ist die Schadenfreude, die sich einstellt, wenn Rachsucht vorhanden ist, Motiv oder Gelegenheit sich nicht finden lassen wollen, die verhaßte Gegenseite aber doch vom Schicksal ihrer gerechten Strafe zugeführt wird. Daß es kein zweites so reines und ehrliches Gefühl gibt wie die pure Schadenfreude, hat bereits Arthur Schopenhauer beobachtet, nur hat er ja keine Erzählungen geschrieben, sondern philosophische Wälzer und folglich nichts an der deutschen Misere geändert. Das reine und ehrliche Gefühl in seiner schönsten Ausformung zeigt in unserer Sammlung eindrücklich Margaret Johansen, Norwegens Meisterin in der Beschreibung von reinen und ehrlichen Empfindungen. Auch die Heldin in Birgitta Stenbergs Geschichte hat auf ihre alten Tage ihre Tricks nicht verlernt und schwelgt in Schadenfreude. Wir müssen nun aber zugeben, daß die Haltung »es muß gerochen sein« sich auch in der skandinavischen Literatur bemerkbar macht, Rache um jeden Preis, aus einem dumpfen Gefühl heraus, daß es eben sein muß, ohne daß der Rächer etwas davon hätte, oft verschlimmert er seine Situation noch. So geschieht es dem verlassenen Liebhaber in Levi Henriksens stimmungsvoller Weihnachtsgeschichte. Daß bei Levi Henriksen übrigens der Wellensittich, der mit der Sache nun wirklich nichts zu tun hat, ebenfalls dem Rächer zum Opfer fällt, könnte als Nachhall des Mittelalters gedeutet werden, wo es ganz üblich war (und in vielen Gesetzessammlungen sogar festgelegt), daß dem Jagdfalken des Beleidigers der Schnabel zerbrochen wurde. Rache, die zum eigenen Schaden gereicht, kennt bereits das alte finnische Volksepos Kalevala. Schon als Säugling schwört 9
Kullervo, sich für die Schändung und Gefangennahme seiner Mutter an seinem Onkel zu rächen, und zerreißt mangels eines Besseren erst einmal seine Windel und zerlegt dann seine Wiege, in ähnlich erfolglosem Stil geht sein Leben und sein Rachefeldzug weiter. Wie mit lustvoller Rache und Schadenfreude verhält es sich mit lustloser Rache und Selbstbestrafung, denn wer selbst das Gefühl hat, eigentlich müßte ein Rächer kommen und mich für meinen Frevel zur Verantwortung ziehen, bestraft sich am Ende selbst, wenn der Rächer sich einfach nicht einfinden will – so geschieht es unter anderen der Hauptfigur in Pia Juuls kurzem Text. Den Nachhall des Mittelalters haben wir am tragischen Schicksal des schuldlosen Wellensittichs gezeigt, der Rächer in mancher Geschichte könnte problemlos einer Saga entstiegen sein, wenn wir die modernen Requisiten wegdenken. Vor tausend Jahren hätte er es verschmäht, sich an das Thing zu wenden, wohl wissend, daß auch die höchste Bußsumme lächerlich gering ist im Vergleich zur erlittenen Kränkung – so, wie sein modernes Pendant für das Urteil des Gerichts nur Verachtung übrig hat. Der Mann bei Kolbjørn Hauge, der viele Jahre auf seine Rache wartet und sein Opfer vollständig überrascht, braucht nicht einmal von modernen Requisiten befreit zu werden, so und nicht anders hätte die Geschichte sich im 9. Jahrhundert abspielen können. Aber auch die Moderne spielt ihre Rolle, verändert die Rachemethoden und bietet neue Möglichkeiten; es fällt schwer, sich ein mittelalterliches Pendant für die Frau bei Line Baugstø vorzustellen, die ihre Mutter mit Hilfe der Erkenntnisse der heutigen Kosmetik ins wohlverdiente Grab bringen wird – es sei denn, wir sehen in Frauen wie Johanna Sinisalos kräuterkundiger Giftmischerin Ophy eine frühe Ernährungswissenschaftlerin. Warum aber ist die Rachekultur in der skandinavischen Literatur so ausgeprägt, so hoch entwickelt und verfeinert? Darüber 10
könnte endlos spekuliert werden, zu einem Ergebnis würden wir trotzdem vermutlich nie gelangen. Sicher spielt die Natur eine Rolle, die einfach näher und leichter zu erreichen ist und auch bei der Entsorgung der Opfer eine hilfreiche Hand bieten kann – das Racheobjekt auf einer Schäre auszusetzen, die bei Flut unter Wasser sein wird, es in einen Vulkan oder eine Gletscherspalte zu schubsen, es in einem der vielen finnischen Seen zu ertränken, möglichst in der Mittsommernacht, wenn alle möglichen Zeugen zu betrunken sind, um nachher durch störende Aussagen den Genuß der Rache zu verderben, oder es in eine Sauna zu locken und dort mit giftigen Dämpfen zu benebeln ist aus rein praktischen Gründen den deutschen Rächern und Rächerinnen nur selten möglich. Dagegen ist die Rache der verhöhnten Schülerin an ihrem alten Schulleiter, der inzwischen zum hilflosen Greis geworden ist, wohl in allen westlichen Gesellschaften so denkbar, wie Majgull Axelsson sie schildert. Aber zur Gelegenheit gehören eben auch Lust und Phantasie, damit es eine rundum befriedigende Rache wird und nicht eine plumpe dilettantische Aktion nach dem Motto: »Was hilft’s, es muß gerochen sein.« Kann die Lust zur Rache in der skandinavischen Luft liegen, quillt sie aus Gletscherspalten, wird sie von glühender Lava durchs Land transportiert, steigt sie miasmengleich aus dem Erdboden auf? Hier versagt die Wissenschaft – Methoden, um solche atmosphärischen Einflüsse zu messen, sind noch nicht entwickelt worden. Für diese Theorie aber spricht zumindest, daß die einzige Geschichte in unserer Sammlung, in der der Rächer sich am Ende damit zufriedengibt, sich seine Rache in allen schönen Einzelheiten genüßlich auszumalen, auf die Durchführung dann aber zu verzichten, von Ola Klingberg stammt, einem Schweden, der seit Jahren in New York lebt. Wohnte er noch in Schweden, die Geschichte hätte garantiert ein anderes Ende genommen.
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Gabriele Haefs Christel Hildebrandt Dagmar Mißfeldt
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HANS CHRISTIAN ANDERSEN Der große Claus und der kleine Claus Einst lebten in einer Stadt zwei Männer, die hatten beide den gleichen Namen, beide hießen sie Claus, doch der eine besaß vier Pferde und der andere nur ein einziges Pferd; und um die beiden voneinander zu unterscheiden, nannte man den, der vier Pferde besaß, den großen Claus und den, der nur ein Pferd hatte, den kleinen Claus. Jetzt wollen wir hören, wie es den beiden erging, und das ist eine wahre Geschichte! Die ganze Woche über mußte der kleine Claus für den großen Claus pflügen und ihm sein einziges Pferd leihen, und dafür half der große Claus ihm dann wiederum mit all seinen vier Pferden, aber nur einmal in der Woche, und zwar am Sonntag. Holla! wie knallte der kleine Claus mit seiner Peitsche über alle fünf Pferde, denn sie waren ja so gut wie seine, für diesen einen Tag. Die Sonne schien so herrlich, und alle Glocken im Kirchturm läuteten zum Kirchgang, die Leute hatten sich hübsch herausgeputzt und gingen mit dem Liederbuch unter dem Arm den Weg entlang, um den Pfarrer predigen zu hören, und sie sahen den kleinen Claus, der mit fünf Pferden pflügte, und er war so zufrieden, daß er erneut mit der Peitsche knallte und rief: »Hü, alle meine Pferde!« »Das darfst du nicht sagen«, erklärte der große Claus, »denn dir gehört ja nur das eine Pferd!« Aber als wieder jemand am Feld vorbei zur Kirche ging, da vergaß der kleine Claus, daß er das nicht sagen durfte, und er rief: »Hü, alle meine Pferde!« »Also, jetzt möchte ich dich wirklich bitten, das seinzulassen!« sagte der große Claus. »Und wenn du es noch einmal sagst, dann
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versetze ich deinem Pferd einen Schlag vor die Stirn, daß es auf der Stelle tot umfällt, und dann ist es vorbei mit ihm!« »Ich werde es nicht wieder sagen«, versicherte der kleine Claus, doch als wieder Leute vorbeigingen und sie ihm zum Gruß zunickten, da war er so zufrieden und fand, es sähe doch so prächtig aus, daß er mit fünf Pferden sein Feld pflügen konnte, daß er mit der Peitsche knallte und rief: »Hü, alle meine Pferde!« »Ich werde deine Pferde schon antreiben!« rief da der große Claus, und er nahm einen Hammer und schlug das einzige Pferd des kleinen Claus vor die Stirn, so daß es umfiel und sofort tot war. »Ach, jetzt habe ich gar kein Pferd mehr!« rief der kleine Claus und begann zu weinen. Dann zog er dem Pferd die Haut ab und ließ sie im Wind trocknen, stopfte sie anschließend in einen Sack, den er sich auf die Schulter warf und ging zur Stadt, um seine Pferdehaut zu verkaufen. Er hatte einen schrecklich langen Weg zu gehen, mußte durch einen großen dunklen Wald, und dann zog auch noch ein Unwetter auf, er verirrte sich, und bevor er den richtigen Weg wiederfand, war es Abend geworden und viel zu weit bis in die Stadt oder wieder zurück nach Hause, bevor die Nacht hereinbrechen würde. Nahe am Weg lag ein großer Bauernhof, die Läden waren von außen vor die Fenster geklappt, aber dennoch sickerte ein wenig Licht hervor. Vielleicht kann ich hier die Nacht über bleiben, dachte sich der kleine Claus und klopfte an. Die Bauersfrau öffnete, doch als sie hörte, was er wollte, sagte sie ihm, er solle seines Weges gehen, denn ihr Mann sei nicht zu Hause, und sie nehme keine Fremden auf. »Nun ja, dann muß ich halt draußen schlafen«, sagte der kleine Claus, und die Bauersfrau schloß die Tür.
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Ganz in der Nähe stand ein großer Heuschober, und zwischen ihm und dem Haus war ein kleiner Schuppen mit flachem Strohdach gebaut. »Da oben kann ich liegen«, sagte sich der kleine Claus, als er das Dach entdeckte, »das ist doch ein vorzügliches Bett. Der Storch wird ja wohl nicht herabfliegen und mir in die Beine zwicken.« Denn oben auf dem Dach hatte ein Storch sein Nest gebaut. Also kroch der kleine Claus auf den Schuppen und suchte sich einen Platz, wo er richtig gut liegen konnte. Die Fensterläden schlossen nicht bis ganz oben, so daß er direkt in die Stube sehen konnte. Dort war ein großer Tisch mit Wein und Braten gedeckt und außerdem mit köstlichem Fisch, die Bauersfrau und der Küster saßen zu Tisch und sonst niemand, und sie schenkte ihm ein und gab ihm vom Fisch, denn so etwas schätzte er sehr. »Ach, könnte ich doch auch etwas davon bekommen!« seufzte der kleine Claus und schob seinen Kopf noch näher ans Fenster. Mein Gott, welch köstlichen Kuchen sah er dort drinnen stehen! Ja, das war ein Festessen! Jetzt hörte er jemanden die Landstraße zum Haus hin reiten, das war der Mann der Bauersfrau, der nach Hause kam. Es war ein recht braver Mann, doch er hatte eine sonderbare Krankheit, er ertrug es nicht, einen Küster zu sehen. Kam ihm so einer unter die Augen, wurde er fuchsteufelswild. Und deshalb hatte der Küster die Frau besucht, als er wußte, daß der Mann nicht daheim war, und deshalb hatte die gute Frau ihm die herrlichsten Gerichte vorgesetzt, die sie hatte. Und als sie hörten, daß der Mann kam, bekamen sie einen Riesenschreck, und die Frau bat den Küster, doch in eine große leere Kiste zu kriechen, die hinten in der Ecke stand; was er auch tat, denn er wußte ja, daß der arme Mann den Anblick eines Küsters nicht ertrug. Die Frau versteckte geschwind all das köstliche Essen 15
und den Wein in ihrem Backofen, denn hätte der Mann das gesehen, dann hätte er sicher gefragt, was das zu bedeuten habe. »Ach ja!« seufzte der kleine Claus oben auf dem Schuppendach, als er das Essen verschwinden sah. »Ist da oben jemand?« fragte der Bauersmann und schaute zu dem kleinen Claus hinauf. »Warum liegst du da? Komm doch lieber zu uns in die Stube!« Und dann erzählte der kleine Claus, wie er sich verirrt hatte, und bat, die Nacht im Haus verbringen zu dürfen. »Aber natürlich!« sagte der Bauersmann. »Aber vorher wollen wir es uns gutgehen lassen!« Die Frau empfing beide herzlich, deckte den langen Tisch und gab ihnen eine große Schüssel Grütze. Der Bauersmann war hungrig und aß mit viel Appetit, doch der kleine Claus mußte immer wieder an den herrlichen Braten, den Fisch und den Kuchen denken, von denen er wußte, daß sie im Ofen standen. Unter dem Tisch hatte er den Sack mit der Pferdehaut zu seinen Füßen gelegt, denn wir wissen ja, daß er von zu Hause fortgegangen war, um sie in der Stadt zu verkaufen. Die Grütze wollte ihm einfach nicht schmecken, und so trat er auf seinen Sack, und die trockene Haut im Sack ächzte ziemlich laut. »Psst!« sagte der kleine Claus zu seinem Sack, trat aber gleichzeitig wieder darauf, so daß er noch viel lauter ächzte. »Was hast du denn in deinem Sack?« fragte der Bauersmann. »Oh, das ist ein Zauberer!« erklärte der kleine Claus. »Er sagt mir, daß wir keine Grütze essen sollen, er hat den ganzen Ofen mit Braten, Fisch und Kuchen vollgehext.« »Was sagst du!« rief der Bauer und öffnete geschwind den Ofen, in dem er all das herrliche Essen entdeckte, das die Frau versteckt hatte, von dem er aber jetzt glaubte, der Zauberer in dem Sack hätte es herbeigehext. Die Frau traute sich nicht, etwas zu sagen, stellte nur schnell das Essen auf den Tisch, und 16
so aßen sie Fisch, Braten und Kuchen. Jetzt trat der kleine Claus wieder auf seinen Sack, und die Haut ächzte. »Was sagt er nun?« fragte der Bauer. »Er sagt«, antwortete der kleine Claus, »daß er auch noch drei Flaschen Wein für uns gehext hat, die stehen hinten in der Ecke beim Ofen!« Da mußte die Frau den Wein hervorholen, den sie versteckt hatte, und der Bauer trank und wurde ganz fröhlich, und so einen Zauberer, wie ihn der kleine Claus in seinem Sack hatte, ja den würde er überaus gern besitzen. »Kann er auch den Teufel herbeizaubern?« fragte der Bauersmann. »Den würde ich jetzt gern sehen, wo ich in so guter Laune bin!« »Ja«, sagte der kleine Claus, »mein Zauberer kann alles, was du wünschst. Nicht wahr?« fragte er und trat auf den Sack, daß er laut ächzte. »Kannst du es hören? Er sagt ja. Aber der Teufel sieht so schrecklich aus, daß es sich gar nicht lohnt, ihn anzusehen!« »Oh, ich habe keine Angst, wie soll er schon aussehen!« »Nun, er wird als Küster erscheinen!« »Hoho!« rief der Bauer. »Das ist schrecklich! Du sollst wissen, daß ich es nicht ertrage, einen Küster zu sehen. Aber was soll’s, ich weiß ja, daß es der Teufel ist, dann werde ich mich schon darein fügen. Jetzt habe ich den Mut! Nur soll er mir nicht zu nahe kommen!« »Dann werde ich meinen Zauberer fragen«, sagte der kleine Claus, trat auf den Sack und hielt sein Ohr daran. »Was sagt er?« »Er sagt, daß du in die Ecke gehen und die Kiste öffnen sollst, die dort steht, dann wirst du den Teufel sehen, er hockt darin, aber du mußt den Deckel festhalten, damit er nicht entwischen kann.«
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»Dann hilf mir aber!« sagte der Bauer und ging zur Kiste, in der die Frau den echten Küster versteckt hatte, der verängstigt drinnen hockte. Der Bauer hob den Deckel ein wenig und schaute hinein. »Hoho!« schrie er und sprang zurück. »Ich habe ihn gesehen, und er sah genauso aus wie unser Küster! Ach, wie schrecklich!« Darauf mußte getrunken werden, und sie tranken noch lange bis in die Nacht hinein. »Den Zauberer mußt du mir verkaufen«, sagte der Bauer, »verlang alles dafür, was du willst. Ja, ich werde dir sogleich einen ganzen Scheffel Geld geben!« »Nein, das kann ich nicht«, erwiderte der kleine Claus. »Überleg doch nur, wie viel mir der Zauberer beschert!« »Ach, ich möchte ihn aber so schrecklich gern haben«, sagte der Bauer und bat und bettelte. »Nun ja«, sagte der kleine Claus schließlich. »Weil du so gut warst und mir Herberge für die Nacht gewährt hast, sollst du den Zauberer für einen Scheffel Geld haben, aber der soll bis zum Rand gefüllt sein.« »Den sollst du kriegen«, erklärte der Bauersmann. »Aber die Kiste mußt du auch mitnehmen, ich will sie keine Stunde mehr im Hause haben, man kann ja nie wissen, wer da drinnen sitzt.« Der kleine Claus gab dem Bauer seinen Sack mit der trockenen Haut und bekam einen Scheffel voller Geld, und zwar bis zum Rand gefüllt, und außerdem schenkte der Bauer ihm noch eine große Schubkarre, um das Geld und die Kiste damit zu transportieren. »Lebe wohl!« sagte der kleine Claus, und dann schob er sein Geld und die große Kiste, in der noch der Küster hockte, davon. Jenseits des Waldes floß ein großer Fluß. Das Wasser lief so schnell dahin, daß man kaum gegen den Strom anschwimmen 18
konnte. Man hatte eine neue Brücke darüber gebaut, und der kleine Claus hielt mitten auf ihr an und sagte sehr laut, damit der Teufel in der Kiste es hören konnte: »Ach, was soll ich nur mit dieser albernen Kiste? Sie ist so schwer, als wären Steine in ihr! Ich werde ganz müde, wenn ich sie noch weiter schieben muß, lieber werfe ich sie in den Fluß. Wenn sie zu mir nach Hause treibt, ist es gut, und wenn sie es nicht tut, dann ist es auch gut.« Darauf hob er die Kiste mit einer Hand ein wenig an, als wollte er sie ins Wässer kippen. »Nein, hör auf!« rief der Küster in der Kiste. »Laß mich heraus!« »Huch!« sagte der kleine Claus und tat, als hätte er Angst bekommen. »Er sitzt ja immer noch da drinnen! Dann muß ich ihn um so schneller in den Fluß kippen, damit er darin ertrinkt!« »Oh nein, oh nein!« rief der Küster. »Ich gebe dir einen ganzen Scheffel Geld, wenn du das nicht tust!« »Nun, das ist etwas anderes«, sagte der kleine Claus und öffnete die Kiste. Der Küster kletterte sofort heraus, stieß die leere Kiste ins Wasser und ging zu sich nach Hause, wo der kleine Claus einen ganzen Scheffel Geld bekam, und einen hatte er ja schon vorher von dem Bauersmann bekommen, so hatte er jetzt seine Schubkarre voll mit Geld! »Na, das Pferd habe ich ja gut bezahlt bekommen!« sagte er zu sich selbst, als er in seine eigene Stube gekommen war und all das Geld in einem großen Haufen mitten in den Raum kippte. »Das wird den großen Claus ärgern, wenn er erfährt, wie reich ich durch mein einziges Pferd geworden bin, aber ich werde es ihm doch nicht gleich auf die Nase binden!« Und er schickte einen Burschen zu dem großen Claus, um sich ein Scheffelmaß zu leihen. »Was er wohl damit will?« fragte sich der große Claus und schmierte Teer unter den Boden, damit etwas von dem, was 19
abgemessen werden sollte, darunter hängenbliebe, und das tat es auch, und als er das Scheffelmaß wiederbekam, klebten drei neue Silberschillinge daran. »Was ist das?« rief der große Claus und lief sofort zu dem kleinen Claus. »Wo hast du all das viele Geld her?« »Ach, das habe ich für meine Pferdehaut bekommen, die ich gestern abend verkauft habe!« »Das nenne ich aber gute Bezahlung!« sagte der große Claus, lief geschwind heim, holte eine Axt und schlug all seinen vier Pferden vor die Stirn, zog ihnen die Haut ab und fuhr mit den Häuten in die Stadt. »Häute! Häute! Wer will Häute kaufen!« rief er durch die Straßen. Alle Schuhmacher und Gerber kamen angelaufen und fragten, was er für sie haben wolle. »Einen Scheffel Geld für jede«, sagte der große Claus. »Bist du von Sinnen?« riefen sie alle zusammen. »Denkst du denn, wir hätten scheffelweise Geld?« »Häute, Häute! Wer will Häute kaufen!« rief er wieder, aber allen, die ihn fragten, was die Häute kosten sollten, antwortete er: »Einen Scheffel Geld.« »Er will uns zum Narren halten«, sagten sie alle, und dann holten die Schuhmacher ihre Spannriemen heraus und die Gerber ihre Schurzfelle und machten sich daran, den großen Claus zu verprügeln. »Häute, Häute!« schimpften sie. »Wir werden dir deine Haut wohl rot gerben! Aus der Stadt mit ihm!« riefen sie, und der große Claus lief, so schnell er konnte, davon, denn so war er noch nie verprügelt worden. »Na!« sagte er, als er heimgekommen war. »Das soll der kleine Claus mir heimzahlen, dafür werde ich ihn totschlagen!«
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Inzwischen war aber daheim bei dem kleinen Claus die alte Großmutter gestorben; sie war zwar recht böse und zänkisch zu ihm gewesen, aber trotzdem war er ziemlich traurig. Er nahm die alte Frau und legte sie in sein warmes Bett, um zu sehen, ob sie nicht wieder ins Leben zurückkehren würde. Da sollte sie die ganze Nacht liegen, er selbst wollte derweil in der Ecke auf einem Stuhl sitzen und schlafen, das hatte er schon früher so gemacht. Und während er nun die Nacht hindurch dort saß, ging die Tür auf, und der große Claus kam mit seiner Axt herein. Er wußte genau, wo das Bett des kleinen Claus stand, also ging er hin und schlug der toten Großmutter mit der Axt auf die Stirn, weil er glaubte, da läge der kleine Claus. »Da siehst du es!« sagte er. »Jetzt wirst du mich nicht mehr reinlegen!« Und damit ging er wieder nach Hause. »Was für ein schlimmer, böser Mann!« sagte der kleine Claus. »Wollte er mich doch totschlagen! Nur gut, daß die alte Großmutter schon tot war, sonst hätte er sie noch umgebracht!« Dann zog er der alten Großmutter ihre Sonntagskleider an, lieh sich von seinem Nachbarn ein Pferd, spannte es vor den Wagen und setzte die alte Großmutter auf den hinteren Sitz, damit sie nicht herausfiele, wenn er fuhr, und dann rollten sie davon durch den Wald, und als die Sonne aufging, kamen sie zu einem großen Gasthof. Hier hielt der kleine Claus die Pferde an und ging hinein, um etwas zu essen zu bekommen. Der Wirt war ein sehr reicher, aber auch ein sehr gütiger Mann, nur schnell aufbrausend, er hatte viel Temperament. »Guten Morgen!« rief er dem kleinen Claus zu. »Du bist aber früh auf in deinem Sonntagsputz!« »Ja«, sagte der kleine Claus, »ich will mit meiner alten Großmutter in die Stadt, sie sitzt da hinten im Wagen, doch ich kann sie nicht dazu bringen, ins Haus zu gehen. Sei so gut und bring 21
ihr ein Glas Met, aber du mußt sehr laut sprechen, denn sie hört nicht mehr so gut.« »Ja, das kann ich machen«, sagte der Wirt, schenkte ein Glas Met ein, und dann ging er hinaus zu der toten Großmutter, die in den Wagen gesetzt worden war. »Hier ist ein Glas Met von Eurem Sohn!« sagte der Wirt, doch die tote Frau sagte kein Wort, sondern saß nur ganz still da. »Hört Ihr nicht!« rief der Wirt, so laut er konnte. »Hier ist ein Glas Met von Eurem Sohn!« Noch einmal rief er das gleiche und dann noch einmal, als sie sich jedoch überhaupt nicht vom Fleck rührte, wurde er wütend und warf ihr das Glas direkt ins Gesicht, so daß der Met ihr über die Nase lief und sie nach hinten in den Wagen fiel, denn sie war nur hingesetzt und nicht festgebunden worden. »Ho ho!« rief der kleine Claus, sprang aus der Tür und packte den Wirt bei der Brust. »Du hast meine Großmutter umgebracht! Sieh nur, sie hat ein großes Loch in der Stirn!« »Oh, das war ein Unfall!« rief der Wirt und schlug die Hände zusammen. »Das kommt von meiner Hitzigkeit! Lieber, guter kleiner Claus, ich gebe dir einen ganzen Scheffel voll Geld und lasse deine Großmutter beerdigen, als wäre es meine eigene, aber schweig still davon, denn sonst schlagen sie mir den Kopf ab, und das ist so widerlich!« Da bekam der kleine Claus einen ganzen Scheffel voll Geld, und der Wirt begrub die alte Großmutter, als wäre es seine eigene. Als nun der kleine Claus mit dem vielen Geld wieder nach Hause kam, schickte er seinen Burschen sogleich hinüber zu dem großen Claus mit der Bitte, ihm doch das Scheffelmaß zu leihen. »Was ist das?« wunderte sich der große Claus. »Habe ich ihn denn nicht totgeschlagen? Da muß ich doch selbst einmal 22
nachschauen.« Und so ging er selbst mit dem Scheffelmaß zum kleinen Claus. »Nein, wo hast du nur all das Geld her?« fragte er und sperrte die Augen auf. »Das war meine Großmutter, die du totgeschlagen hast, nicht ich!« sagte der kleine Claus. »Und ich habe sie jetzt verkauft und einen Scheffel Geld für sie bekommen.« »Das war aber gut bezahlt!« sagte der große Claus und beeilte sich, nach Haus zu kommen, nahm eine Axt und schlug sofort seine alte Großmutter tot, legte sie in einen Wagen, fuhr in die Stadt, wo der Apotheker wohnte, und fragte, ob dieser nicht einen toten Menschen kaufen wolle. »Wer ist es, und woher habt Ihr ihn?« fragte der Apotheker. »Das ist meine Großmutter!« sagte der große Claus. »Ich habe sie totgeschlagen, für einen Scheffel Geld!« »Gott stehe mir bei!« sagte der Apotheker. »Ihr redet Euch um Kopf und Kragen!« Und dann sagte er ihm, was für eine schreckliche Tat er begangen habe, was für ein schlechter Mensch er sei und daß er bestraft gehöre; und der große Claus bekam so einen Schreck, daß er aus der Apotheke in seinen Wagen sprang, auf die Pferde einpeitschte und nach Hause preschte, doch der Apotheker und alle Leute glaubten, er wäre verrückt und ließen ihn deshalb fahren, wohin er wollte. »Das wirst du mir büßen!« sagte der große Claus, als er auf der Landstraße war. »Das wirst du teuer bezahlen, kleiner Claus!« Und sobald er zu Hause angekommen war, nahm er den größten Sack, den er finden konnte, ging hinüber zu dem kleinen Claus und sagte: »Jetzt legst du mich nicht mehr rein! Zuerst schlug ich meine Pferde tot, dann meine alte Großmutter! Und das ist alles nur deine Schuld, aber ich werde mich nie wieder von dir reinlegen lassen.« Und dann packte er den kleinen Claus und steckte ihn in den Sack, faßte ihn beim Nacken und rief: »Und jetzt werde ich dich ertränken!« 23
Es war ein langes Stück, bis zum Fluß zu gehen, und der kleine Claus war nicht leicht zu tragen. Der Weg führte nahe an der Kirche vorbei, die Orgel spielte, und die Leute sangen darinnen so schön, da stellte der große Claus seinen Sack mit dem kleinen Claus nahe der Kirchentür ab und dachte, es wäre doch ganz gut, hineinzugehen und sich ein Kirchenlied anzuhören, bevor er weiterginge; der kleine Claus konnte ja nicht entkommen, und alle Leute waren in der Kirche, also ging er hinein. »Ach je, ach je!« seufzte der kleine Claus in dem Sack, er drehte und wendete sich, aber es war ihm nicht möglich, das Band zu lösen. In dem Moment kam ein sehr, sehr alter Viehtreiber daher, mit schneeweißem Haar und einem großen Knüppel in der Hand, er trieb eine ganze Herde von Kühen und Ochsen vor sich her, und die liefen gegen den Sack, in dem der kleine Claus saß, so daß dieser umkippte. »Ach ja!« seufzte der kleine Claus. »Ich bin doch noch so jung und soll doch schon ins Himmelreich!« »Und ich Ärmster«, erwiderte der Viehtreiber, »ich bin so alt und kann immer noch nicht dort hineinkommen!« »Dann öffne den Sack«, rief der kleine Claus, »krieche an meiner Statt hinein, dann kommst du sogleich ins Himmelreich!« »Ja, das will ich herzlich gern«, sagte der Viehtreiber und öffnete dem kleinen Claus den Sack, worauf dieser sofort hinaussprang. »Willst du dann auf das Vieh aufpassen«, bat ihn der alte Mann und kroch in den Sack, den der kleine Claus zuband, um dann mit all den Kühen und Ochsen seines Weges zu ziehen. Kurz darauf kam der große Claus aus der Kirche heraus, warf sich den Sack wieder über die Schulter und fand, daß er so leicht geworden sei, denn der alte Viehtreiber war nicht einmal halb so schwer wie der kleine Claus. »Wie leicht er doch geworden ist, 24
das kommt sicher daher, daß ich ein Kirchenlied gehört habe!« Und so ging er zum Fluß – und dieser war tief und breit –, warf den Sack mit dem alten Viehtreiber ins Wasser und rief ihm nach, denn er glaubte ja, daß drinnen der kleine Claus war: »Das hast du nun davon! Jetzt wirst du mich nicht mehr reinlegen!« Dann ging er heim, doch als er zur Wegkreuzung kam, traf er auf den kleinen Claus, der all sein Vieh vor sich hertrieb. »Was ist das!« rief der große Claus. »Habe ich dich denn nicht ertränkt?« »Doch!« sagte der kleine Claus. »Ich will dir die ganze Geschichte erzählen, und Dank sollst du haben, daß du mich ertränkt hast, denn jetzt bin ich ein gemachter Mann, ein reicher Mann, das kannst du mir glauben! Ich hatte so große Angst, als ich da drinnen in dem Sack lag und der Wind mir um die Ohren pfiff und als du mich von der Brücke ins kalte Wasser geworfen hast. Ich sank augenblicklich bis auf den Grund, aber ich tat mir nicht weh, denn da unten wächst das herrlichste weiche Gras. Auf das fiel ich, und sogleich wurde der Sack geöffnet, und die wunderschönste Jungfrau in schneeweißem Kleid und mit einem grünen Kranz um das nasse Haar nahm mich bei der Hand und fragte: ›Bist du der kleine Claus? Hier bekommst du sogleich etwas Vieh! Eine Meile weiter oben auf dem Weg steht noch eine ganze Herde, die ich dir schenken will!‹ Und da sah ich, daß der Fluß eine große Landstraße für die Wasserbewohner war. Unten auf dem Grund gingen und fuhren sie direkt vom Meer bis zum Land, dort, wo der Fluß endet. Es sah wunderschön aus, mit Blumen, frischem Gras und Fischen, die im Wasser schwammen, sie huschten mir um die Ohren herum, wie die Vögel in der Luft. Und was für feines Volk dort herumlief und all das Vieh, das auf Weiden und Wällen weidete!« »Aber warum bist du dann schnurstracks wieder zu uns hinaufgekommen?« fragte der große Claus. »Das hätte ich nicht getan, wenn es dort unten so herrlich ist.« 25
»Doch, doch«, erwiderte der kleine Claus, »das war gerade schlau von mir. Du hast es doch gehört: Die Seejungfrau sagte, daß eine Meile den Weg hinauf – und mit dem Weg meint sie ja den Fluß, denn woanders kann sie gar nicht hingelangen – noch eine ganze Herde für mich bereitstünde. Aber ich weiß doch, daß der Fluß Biegungen macht, mal hier, mal da, und deshalb ist es ein großer Umweg. Nein, man kürzt es lieber ab, wenn man es kann, indem man hier an Land geht und quer hinüber wieder zum Fluß, dann erspare ich mir fast eine halbe Meile und bin schneller bei dem Meeresvieh!« »Oh, du bist ein glücklicher Mann!« sagte der große Claus. »Glaubst du, daß ich auch Meeresvieh bekomme, wenn ich auf den Grund des Flusses gelange?« »Doch, das denke ich schon«, antwortete der kleine Claus, »aber ich kann dich nicht im Sack zum Fluß tragen, du bist mir zu schwer. Wenn du aber selbst hingehst und in den Sack kriechst, dann wird es mir ein Vergnügen sein, dich hineinzuwerfen.« »Vielen, vielen Dank«, sagte der große Claus, »sollte ich jedoch kein Meeresvieh bekommen, wenn ich hinunterkomme, dann werde ich dich verprügeln, das kannst du mir glauben!« »Oh nein, tu das nicht!« Und dann gingen sie zum Fluß. Als das Vieh, das durstig war, das Wasser sah, lief es, so schnell es konnte, um zu trinken. »Sieh nur, wie sie sich beeilen«, sagte der kleine Claus. »Sie sehnen sich danach, wieder auf den Grund zu kommen!« »Ja, aber hilf mir erst«, sagte der große Claus, »sonst setzt es Prügel!« Und dann kroch er in den großen Sack, der quer über dem Rücken eines der Ochsen gelegen hatte. »Leg noch einen Stein mit hinein, sonst fürchte ich, daß ich nicht sinken werde«, sagte der große Claus.
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»Das wird schon gehen«, erwiderte der kleine Claus, legte aber doch einen großen Stein mit in den Sack und band ihn dann fest mit dem Band zu und gab ihm einen Stoß. Plumps, da lag der große Claus mitten im Fluß und sank sofort auf den Grund. »Ich fürchte, er wird das Vieh nicht finden!« sagte der kleine Claus und trieb dann das heim, was er hatte.
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MARGARET JOHANSEN Ein poetisches Rendezvous Das erste, was einem an Stella auffiel, waren ihre großen, seelenvollen Augen. Das heißt, solange sie ihre Brille aufhatte. Siebeneinhalb Plus-Dioptrien. Wenn sie die Brille abnahm, um Staub und Belag von den Gläsern zu putzen, blinzelte sie ihre Mitmenschen mit kleinen, ganz gewöhnlichen Augen an, und wir sahen plötzlich, daß sie flach und formlos war, O-Beine und dünnes Haar hatte. Bis sie die Brille wieder aufsetzte. Und lächelte. Und die Poesie hervorholte. Sie hatte immer einen Dichter in der Tasche. Und wenn sie einen Mann traf, auf den sie Lust hatte, dauerte es nicht lange, bis sie einen einsamen Strand oder einen idyllischen Weg unter schattigen Bäumen gefunden hatte, auf dem sie Hand in Hand mit ihm wandelte, während sie Gedichte vortrug. Entweder auswendig oder vom Blatt. »Metope« war ihre Glanznummer. Und hatte sie nicht Bjørnsons »Bergljot« in voller Länge vorgetragen – wenn die Mutter Missionstreffen vom Frauenbund hatte? Drinnen und draußen, mit Butterbroten, Blätterteigkringeln, Torten und frommen Gesängen. Sowie einer Tombola zum Schluß. Und einer stolzen und fest glaubenden Mutter. Stella war wirklich ein Stern, der es schaffte, an einem Himmel mit viel größeren und heller strahlenden Sternen die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie liebte es, im Mittelpunkt zu stehen, sie mußte der Mittelpunkt sein.
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Wir sahen sie an, lächelten warm und anerkennend und ertrugen es mit Gelassenheit. Sie tanzte buchstäblich auf dem Tisch, wenn wir Partys feierten, hob kokett den Rock und verlangte schamlos, daß alle Aufmerksamkeit sich auf ihre Schenkel zu richten habe. Und sie fragte, ob wir nicht auch fänden, daß sie schön seien – das heißt, sie konstatierte, daß es die schönsten Schenkel der Stadt seien, wenn sie genug getrunken hatte. Wir waren immer zu höflich, um anzumerken, daß es sich kaum verhehlen lasse, wie betrüblich O-beinig sie sei, wenn sie sich auf diese Art zur Schau stelle. Mit anderen Worten – wir hielten sie für ungefährlich. Das war gefährlich. Aber dann zeigte sich, daß sie für sich selbst die größte Gefahr darstellte. Durch diese Auftritte in den heimischen Missionszirkeln waren alle überzeugt von ihrem amateurhaften Schauspieltalent, aber als sie bei einem bekannten Theaterpädagogen vorsprach, um sich für den Weg hinauf zu den Sternen fortbilden zu lassen, und er sagte: »Da müssen wir aber eine Menge Macken ausmerzen«, kam sie lächelnd und scheinbar unbeeindruckt zurück und erklärte: »Nein, ich gebe den Gedanken auf, ich will mir lieber den Glauben daran bewahren, wie großartig ich hätte werden können, anstatt der Wahrheit über mein mangelndes Talent ins Auge blicken zu müssen.« Und das war eine sehr kluge Entscheidung. Da waren wir uns alle einig, und wir atmeten auf. Allerdings tanzte sie weiterhin auf den Tischen und spielte Femme fatale. Denn sie spielte. Das wußten wir, die wir die normale Stella kannten, die patente, bodenständige, nette. 29
Sie hatte keinen Sexappeal, denn sie interessierte sich für niemanden außer für sich selbst und ihr großes Talent, an dem sie weiterhin polierte. Sie war eine liebe und nette Freundin, sonst hätten wir ihr natürlich all das nicht durchgehen lassen. Sobald ein gutaussehender Mann in unserer Mitte oder in der Nähe auftauchte, schnappte sie ihn uns vor der Nase weg, und wenig später mußte er qualvoll »Metope« erdulden. Falls nicht Herman Wildenvey oder Stein Mehren auf dem Plan stand. Das Repertoire war nicht groß und auch nicht breit gefächert, aber uns reichte es, um zu wissen, wie die Vorstellung ausgehen würde. Männer lassen sich unter Umständen von Jamben und Trochäen und seelenvollen Augen hinter siebeneinhalb Dioptrien starken Gläsern bezirzen. Aber irgendwo gibt es Grenzen. Und die versuchte sie die ganze Zeit auszureizen. Bis zu der Party bei Ole Martin. Er hatte einen runden Geburtstag, genauer gesagt wurde er dreißig. Wir waren wohl vierzig Gäste, die um den hübsch gedeckten Tisch herumsaßen. Wir aßen und tranken und plauderten und hörten uns beschwingte und nicht ganz so beschwingte Reden an. Und Stella natürlich vorneweg mit einem eigenen Prolog sowie einigen selbstgeschriebenen Gedichten. Sie waren hübsch zusammengerollt und mit Seidenbändern umwickelt – und appellierten doch nur an unsere freundschaftliche Solidarität. Was tut man nicht alles für hoffnungsfrohe Amateurdichter? Wir wußten, daß sie nicht ganz an ihre Lieblinge heranreichte, was das Kreative betraf – aber wir schluckten sowohl das als 30
auch die Art ihres Vortrags. Und applaudierten, denn wir hatten sie sehr gern. Wie gesagt. Als der Tisch abgeräumt und beiseite gerückt war, um Platz zum Tanzen zu schaffen, schleuderte Stella ihre Schuhe von sich und sprang auf den Tisch. Sie war gut trainiert, da sie rhythmische Gymnastik betrieb, deshalb gelang der Auftakt ganz gut. Der Rocksaum glitt langsam die Schenkel hinauf, und die Vorstellung begann. Unhörbare Seufzer entwichen unseren Kehlen. Sie hatte dem Alkohol schon kräftig zugesprochen, und ihre Balance war nicht ganz einwandfrei, ebensowenig wie ihre Bewegungen oder die Stimme, die mittlerweile schon etwas schrill klang. Schließlich wurde es dem Gastgeber zu bunt, er zog sie brutal vom Tisch und in ein Nebenzimmer und schloß die Tür hinter sich. Wir hörten Schreie und warteten gespannt. Nach wenigen Minuten kamen sie zurück, und beide wirkten etwas aufgewühlt. Nein, nein, es war nichts passiert. Genau das hatte das Geburtstagskind ja beabsichtigt. Wir erfuhren es hinterher. Er hatte begonnen, sich auszuziehen, erst die Krawatte abgenommen und dann den Hosenschlitz geöffnet. Wie sich herausstellte, war das schon mehr als genug. Sie war entsetzt gewesen und hatte gerufen, er solle sofort damit aufhören, woraufhin er ruhig und väterlich geantwortet hatte: »Aber Mädel, ist es nicht das, was du willst? Bettelst du nicht immer wieder darum, auf jedem verdammten Fest, das wir feiern …?«
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Da stand sie nun, Mamas kleine Tochter, die so viel Applaus auf den Missionstreffen geerntet hatte. Die aber immer noch ein Kind war, das sich für nichts anderes interessierte als den eigentlichen Auftritt. Ole Martin, das Geburtstagskind, sah kein bißchen verlegen aus – obwohl wir ein paar unfreundliche Blicke in seine Richtung warfen. Er stand zufrieden bei seinem Schatz, den wir alle kannten. Oskar war sein Name. Doch dann trat Erik in Stellas Leben, und es folgten neue Schwärmereien und neue Deklamationen, begleitet von plätschernden Wellen und wispernden Birken. »Dich will ich zart in Rhythmen behalten! Dich will ich tief und bleibend gestalten im ewigen Marmor der Dichtkunst! Du sonnenflirrende Schwärmerin!« Damit war Stella sehr einverstanden. Aber Erik studierte Medizin. Der Weg vom Seziertisch zum sommerlichen Birkensäuseln war weit. Folglich war die Sache nicht von Dauer. Er hielt es mehr mit dem Körperlichen als mit dem Geistigen, um es mal so auszudrücken. Wie auch immer – Erik war der eine Große, den Stella niemals vergaß. Stella, Stellazza mia, hatte Erik gesagt, und es war das Poetischste, was sie je gehört hatte. Wir wußten von seinem Studienaufenthalt in Italien. Die Jahre vergingen, und Wunder über Wunder, Stella heiratete und entwickelte sich zum Muttertier. Man muß es wohl so sagen, denn etwas Vergleichbares an körperlicher Liebe hatten wir bis dahin nie an ihr gekannt. Sie vergrub ihre Nase an
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Babyhälsen, herzte und küßte und gurrte in Babysprache und prahlte derart mit ihren Kleinen, daß wir uns zurückzogen. Aber eines Tages beschlossen wir, uns zu treffen – die alte Mädchenclique. Eine Erinnerung nach der anderen wurde aufgetischt, zusammen mit gutem Wein und anderen Zungenlösern, und Stella sagte, daß es ihr großer Traum sei, Erik noch einmal wiederzusehen. Es müsse an einem sonnigen Tag auf der Karl-JohansGate sein, und zwar im Frühling. Sie würde ein elegantes graues Kostüm tragen, mit passendem Hut und Handschuhen, und Erik würde stumm vor ihr stehen, überwältigt von ihrer Schönheit, die nicht dahingewelkt war, sondern zur Vollkommenheit gereift. Wir spülten die ganze Traumszenerie mit Rotwein hinunter und hofften das Beste. Es vergingen ein paar Jahre, und Stella hatte inzwischen vier kleine Racker, die weit und breit ihresgleichen suchten. Eines Tages traf ich sie wieder, mit Kinderwagen und Säugling auf dem Arm und noch ein paar Knirpsen als Dekor um sie herum. Sie sah ein wenig grau und bedrückt aus. Erschöpft. Und dann sagte sie mit schriller Stimme: »Als ich mit dem Jüngsten niederkam, lag ich zwanzig Stunden in den Wehen. Hebammen und Ärzte standen um mein Bett herum und feuerten mich an. Da lag ich also mit weit gespreizten Beinen und puterrotem Kopf, der Schweiß lief mir in Strömen übers Gesicht – und du weißt, wie meine Haare aussehen, wenn nur jemand schnell an mir vorbeigeht. Wenn ich beim Friseur war, muß ich in den nächsten Hauseingang flüchten, sobald sich eine Straßenbahn nähert. Der Luftzug reicht aus, daß sich meine Haarfusseln 33
um die Ohrläppchen wickeln. Du siehst es vor dir, nicht? Die Situation?« Ich nickte. »Und da«, sagte sie, »da hörte ich eine kräftige Stimme, die mir zurief: Los, Stella, das schaffst du … noch einmal ordentlich pressen … wir können schon den Kopf sehen … Das war Erik, der neue Gynäkologe des Krankenhauses.« Ich nehme an, daß ihre Brille auf dem Nachttisch lag, neben »Metope«: »… und meißle in der Erinn’rung trotzigen Stein eine sanfte Metope über dein wahres Sein!« Wahrhaftig ein poetisches Rendezvous.
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MARGIT SANDEMO Engel mit versteckten Hörnern Tula, die immer gern ihre eigenen Wege ging, wanderte vom Hof ihres Großvaters zurück nach Hause. In der Nähe der Kirche von Bergunda blieb sie stehen, um sich einen Leichenzug anzusehen. Der Sarg war so klein, so schrecklich klein. Tula wußte, wer darin lag, eine Achtjährige aus der Gemeinde hier. Sie war im Dickicht geschändet und erwürgt aufgefunden worden. Das hatte gewaltiges Aufsehen erregt, denn das Mädchen war nicht die erste gewesen. Sie war das vierte Kind innerhalb von zwei Jahren, das so aufgefunden worden war, in Bergunda oder Öjaby oder Araby oder den anderen Dörfern in der Umgebung von Wexiö. Ihre Eltern, ja, alle hatten Tula verboten, allein loszugehen. Aber wer hätte sie schon anbinden können? Sie war wie der Fuchs, sie stromerte umher, wie es ihr gefiel. Jetzt hatte ihr Großvater Arv sie überaus widerwillig gehen lassen, aber er hatte ihr streng aufgetragen, ja mit niemandem zu reden. Er hatte sie durch die Allee begleitet, später gab es dann überall Häuser, abgesehen vom letzten Wegstück, und er schärfte ihr ein, dieses letzte Stück zu rennen und keinesfalls anzuhalten. Tula musterte die Trauernden hinter dem Sarg. Ihr Gesicht blieb dabei unergründlich. Als sie vorübergingen, machte sie einen tiefen, ehrerbietigen Knicks. Aber niemand hätte erraten können, was das hübsche und ordentlich gekleidete kleine Mädchen dachte. Sie war mit heiler Haut nach Hause gekommen – damals. Tula sang in einem Kinderchor. Ihre Mutter Gunilla hatte darauf bestanden, denn Tula hatte eine wunderschöne reine und 35
klare Stimme. Aber Tula schummelte. Sie ging gern zu den Proben im Gemeindehaus von Bergunda, denn alle Kinder schwärmten für den Chorleiter. Aber wenn der Chor in der Kirche singen sollte, war Tula immer krank. Einmal war sie dabeigewesen, denn ihr Fehlen sollte nicht auffallen, aber dabei hatte sie so schrecklich falsch gesungen, daß es eine Schande war. Aber niemand konnte ja wissen, daß ihr der kalte Schweiß ausbrach, wenn sie mit den anderen oben auf der Empore stand und auf die Gemeinde hinuntersah. Der Chorleiter war ein Mann aus Wexiö, einer der Unglücklichen, die auf diese grausame Weise ein Kind verloren hatten. Er wurde sehr geschätzt, und seine persönliche Tragödie trug ihm noch weitere Sympathien ein. Knutsson war sein Name. Eines Tages hielt er Tula nach der Probe zurück. Dagegen hatte sie nichts. Knutsson war freundlich und trug wunderschöne Halsbinden. Tula bewunderte sie immer von neuem. Die an diesem Tag wies mehrere Violettnuancen auf. Er legte ihr sanft die Hand um den Nacken und streichelte ihre blonden Haare. »Kleine Tula, was sollen wir nur mit dir machen?« »Wieso denn?« fragte sie mit großen blauen Augen. »Du bist doch so tüchtig«, murmelte Knutsson und musterte sie mit seinem besorgten Blick, in dem immer ein Hauch von Trauer lag. Das war auch richtig so, fand Tula, wo er doch ein Kind verloren hatte. Er war ein ziemlich gutaussehender Mann Mitte Vierzig, ein wenig rundlich, aber nicht zu sehr, eigentlich war er genau richtig. Mit dunklen Augenbrauen über den verträumten Augen (mit ihrem Hauch von Trauer) und kräftigen, sinnlichen Lippen. Alle Frauen umschmeichelten ihn, das war wirklich widerlich. »Du singst doch so schön«, sagte er und streichelte noch immer ihre Haare. »Aber du willst ja nicht auftreten.« 36
Nur in der Kirche nicht, dachte Tula und wünschte, daß er ihre Haare in Ruhe ließe. »Ich hab doch am Donnerstag in Wexiö gesungen. Und in …« »Ja, ja, aber offenbar gerätst du in Panik, sobald es ernst wird. Hast du Angst vor Menschen? Alle finden dich doch so niedlich und tüchtig … und du hast so eine schöne Stimme.« Wie können alle das finden, wenn sie mich doch nie gehört haben, überlegte sie. Es war furchtbar, wie er zitterte. Und schwitzte! Jetzt roch er schon ganz seltsam. Wie wenn im Stall eine geschlechtsreife Kuh stand und der Stier in seiner Box wütete. »Ich muß jetzt gehen. Meine Mutter wartet.« »Sicher«, sagte er und ließ ihren Nacken los. »Wo wohnst du, Tula?« Sie erklärte es ihm. »Ach, was du nicht sagst. Nein, da bin ich noch nie gewesen.« »Aber ich bin auch oft bei meinem Opa auf dem Hof Bergqvara«, teilte Tula artig mit. »Morgen nachmittag geh ich wieder hin.« »Ja, Bergqvara kenn ich natürlich. Na, jetzt lauf, damit deine Mutter nicht zu warten braucht«, sagte er und wischte sich seine schweißnassen Hände mit einem Taschentuch ab. Tula sah mitten in seiner Hose eine dicke Beule. Sie mußte an das Paar denken, das sie vor einem Jahr im Wald ertappt hatte, und in Gedanken kicherte sie. Dann machte sie einen wohlerzogenen Knicks und lief hinaus. Knutsson blieb stehen und sah, wie sie mit tanzenden Locken über den Hofplatz rannte. Diese da … die Feinste von allen. Diese kindlich runden Glieder. Diese treuherzigen reinen Augen. Ein Kind, ein wirkliches echtes Kind. Weiche Haut, ein wenig mollig, warm
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… Es mußte wunderbar sein, sie zu berühren. Sie anzufassen. Ihre Haut. Seine Hände stahlen sich in seinen Gedanken schon unter ihre Röcke. Wie mochte sie wohl unter ihrer adretten Kleidung aussehen? Sie berühren, in sie eindringen. Der Schrei! Ach, der herrliche Schrei, der in ihm wahre Lawinen auslöste. Ach, diese wunderbaren Augenblicke! Er mußte sich hinsetzen und die Hände zwischen seine Oberschenkel schieben, weil alles so spannte und pochte. Er stöhnte laut. Es war jetzt so lange her – viel zu lange, er konnte sich nicht mehr beherrschen. Aber er mußte vorsichtig sein. Eine gute Idee mit diesen Kinderchören in allen möglichen Dörfern. Da war er bei den Kindern, hatte die freie Auswahl … Niemand konnte ihn verdächtigen, da war er sich sicher. Er hatte die Sympathie aller. Trotzdem mußte er vorsichtig sein. Aber jetzt hatte er lange genug gewartet. Was verlangten die eigentlich von ihm? Es war so schön, sich beleidigt fühlen zu können! Zu wissen, daß einem ein selbstverständliches Recht vorenthalten wurde. Die anderen waren schuld. An allem waren die anderen schuld … Er fuhr nach Hause zu seiner Frau in Wexiö. Sie zeigte wieder diese verwirrte, zaghafte Miene, sie schien um Entschuldigung zu bitten und nicht zu wissen, warum sie nicht gut genug war. Ja, er hatte sich jetzt lange von ihr ferngehalten. Seit dem Mal, als er es nicht geschafft hatte, seiner ehelichen Pflicht nachzukommen. Sein stummer Zorn loderte wieder auf. Wie konnte sie sich denn auch einbilden, ihm etwas geben zu können? Sie, mit ihrem erwachsenen, trockenen Körper und ihrer Willigkeit? Es war damals gewesen, als sie noch in Eksjö gewohnt hatten und er in der Stadt einen Besuch hatte machen müssen. In einem Hauseingang hatte er sich an einem kleinen Mädchen vorbeige38
zwängt – und da schien der Blitz in ihn gefahren zu sein. Seine Haut brannte, seine Unterhose wurde vorne feucht, er starrte der Kleinen hinterher und wußte: Die muß ich haben. Als er nach Hause gekommen war, hatte er begriffen, warum er bei seiner Frau im Bett so wenig Begehren und nur Pflichtbewußtsein empfand. Sie war eine reiche junge Witwe mit vier Kindern gewesen, er hatte geglaubt, eine gute Partie zu machen, und außerdem hatte diese Ehe ihm allgemeine Achtung eingebracht. Wirklich verliebt gewesen war er eigentlich nie, auch wenn er die Frau überaus sympathisch gefunden hatte. Jetzt aber! Jetzt gab es in seinen Gedanken nur noch eine: die Kleine aus dem Hauseingang. Er hatte jeden Tag nach ihr Ausschau gehalten. Hatte ihre Adresse herausgefunden. Und eines Tages, als niemand sie sehen konnte, hatte er sie in einen Keller gelockt. Es war ein phantastisches Erlebnis gewesen. Das Himmelreich auf Erden. Zwei Tage später war das Kind gefunden worden, aber ihn hatte ja niemand verdächtigen können. Dann waren sie nach Wexiö gezogen. Er hatte mit seiner Frau vereinbart, daß die Kinder als seine gelten sollten, und sie hatte vor Dankbarkeit geweint. Wie konnte also irgendwer einen Verdacht gegen ihn hegen, als seine sechsjährige Stieftochter seine Gelüste geweckt hatte? Es war nicht schwer gewesen, ihr entgegenzugehen, als sie bei einer Freundin zu Besuch war. Durch den Park zu gehen … und dann nach Hause zu laufen und seine Frau zu fragen, ob sie nicht bald dem Kind entgegengehen sollten, es werde doch schon spät. Seine Frau hatte ihm zugestimmt. Dann begegneten ihnen zwei Gendarmen. Sie sprachen ihnen ihr Beileid aus, denn sie hätten in einem Park ein kleines Mädchen gefunden und jemand habe gemeint, es könne sich um die Tochter der Herrschaften handeln. 39
Er war damals wie erschlagen gewesen, hatte seiner Frau aber eine verständnisvolle Stütze sein können. Sie hatte sich voller Wärme für seine Fürsorge bedankt. Und alle fanden die Sache so tragisch, so entsetzlich tragisch. Seither hatte er sich sicher gefühlt. Und das mit der Stieftochter war nicht seine Schuld gewesen, er mußte doch immer helfen, wenn die Kinder gebadet wurden, nicht wahr? Mußte die weichen Körperöffnungen des Mädchens berühren, mußte sie am ganzen Körper abwaschen. Schrubben … Er hatte einen Samenerguß gehabt, über der Badewanne, aber alles war ohnehin so naß gewesen und niemand hatte etwas bemerkt. Die Kleine hatte nur gefragt, warum er denn so schrecklich keuche und ob er nicht bald mit dem Schrubben fertig sei. Zwei Tage darauf hatte er ihr aufgelauert und sie in einen Park gelockt. Was hätte man von ihm denn sonst verlangen können? Nun war schon länger kein Kind mehr ermordet worden, und langsam ließ die Aufmerksamkeit nach. Vielleicht war die Gefahr ja vorüber? Am Tag nach ihrem Gespräch mit dem freundlichen Chorleiter tanzte Tula fröhlich über den Weg nach Bergqvara. Ihre Mutter hatte sie durch den Wald gebracht, den Rest schaffte sie sehr gut allein. Als sie die Allee erreichte, sah sie vor sich einen Mann. Chorleiter Knutsson? Was machte der denn hier? Offenbar war auch er unterwegs zum Hof des Großvaters. Na, dann hatte sie doch Gesellschaft. Er wirkte freudig überrascht, als er sie sah. »Sieh an, Tula! Ach, du wolltest ja heute herkommen, jetzt fällt es mir wieder ein.« Er war stehengeblieben und sah sie an. Verriet ihr nicht, daß er schon seit Stunden auf sie wartete, im Wald versteckt, während seine Erregung sich zu einem vulkanartigen Druck steigerte. 40
Jetzt konnte er kaum atmen. Sie war hübscher als alle anderen, die er gehabt hatte. Wie ein frischer, runder und köstlicher Sahnekuchen, wie ein Cherub war sie, ein Engelchen, ach, wie sollte er das ertragen? Er lächelte steif. »Weißt du, was ich vorhin gesehen habe? Ein kleines Häschen, das in den Wald gehoppelt ist. Offenbar war es verletzt, es hat schrecklich gehinkt. Ich wollte mich gerade auf die Suche machen. Kommst du mit?« »Häschen kann man nicht finden«, erklärte Tula nüchtern. »Ich hatte dich für tierlieb gehalten, das hat man mir wenigstens gesagt. Ich glaube, ich habe auch Blutspuren gesehen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wir können ja nachsehen. Aber wenn die sich verstecken wollen, dann gelingt ihnen das auch.« »Ja, aber wir sehen sicherheitshalber nach«, sagte er eifrig. »Komm, ich weiß genau …« Da der Wald an dieser Stelle bis an die Allee heranreichte, waren sie bald für alle Blicke verborgen. Knutsson ging unmerklich tiefer und tiefer hinein. »Nein, das hat doch wirklich keinen Zweck«, sagte Tula. Er hatte sich auf den Boden gesetzt und klopfte neben sich ins Gras. »Hör doch mal! Hörst du? Die Vögel, die vielen Geräusche des Waldes.« Tula setzte sich. »Ist es nicht schön, hier zu sitzen?« fragte er. Wieder zitterte seine Stimme so seltsam, und er stank wie ein Stier. Tulas Geruchssinn war wirklich gut entwickelt. »Ja«, antwortete sie ziemlich gleichgültig. Aber sie hatte gelernt, durch ihre Erziehung und aus eigener Erfahrung, daß Höflichkeit sich immer bezahlt machte. Er legte ihr den Arm um die Schultern. »Du bist wirklich ein liebes, hübsches Mädchen, Tula. Wie alt bist du?« 41
»Elf. Fast zwölf.« »Dann hast du natürlich schon einen Freund?« »Freund? Ja, aber der wohnt so weit weg. In Norwegen. Ich hab ihn nur einmal getroffen. Das ist jetzt lange her.« »Und da hat er dich ein bißchen streicheln dürfen?« »Was? Igitt, nein, nicht so was Blödes.« »Das ist nicht blöd. Das ist sehr schön. So wie das hier …« Knutsson fuhr mit der Hand über ihren Arm. Von unten nach oben, bis die feinen Härchen sich aufrichteten. Ihm brach der Schweiß aus, und er rutschte ein wenig hin und her. Das Atmen fiel ihm immer schwerer. Was in aller Welt war das hier? Tula wurde neugierig und ließ ihn gewähren. Seine Hand stahl sich in ihren Ausschnitt und tastete nach ihrer Brust. Dann lachte er leise und nervös. »Da ist ja nichts. Du bist nur ein Kind, Tula, nur ein goldiges kleines Kind. Aber ich kann es dir schön machen, wenn du willst.« Sie runzelte die Stirn. Ein Blick auf seine Hose ergab, daß er dort Probleme hatte. Vielleicht würde sie hier so ein Männerdings sehen, wie damals im Wald? Das könnte spannend werden. »Setz dich auf mein Knie«, stammelte er und brachte die Wörter kaum heraus, so erregt war er. Tula schien zu zögern. In Wirklichkeit fand sie das alles lustig. »Mutter sagt, daß ich mich bei erwachsenen Onkeln nicht mehr auf den Schoß setzen darf«, sagte sie treuherzig. »Ich bin sicher zu schwer.« »A… aber, du könntest …« Sein Atem ging wie ein Blasebalg. »Du könntest dich hinlegen. Lehn dich ein bißchen zurück. Und zieh die Knie an.«
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Tula gehorchte und fand das alles noch immer lustig. Sie würde ja sehen, worauf er hinauswollte. Und sie war noch immer neugierig auf die Spiele der Erwachsenen, die denen solche Freude zu machen schienen. Schon war seine Hand unter ihren Röcken am Werk. Seine Finger waren eifrig. Jetzt begriff Tula ein wenig vom Spiel der Erwachsenen. Vielleicht war es doch nicht so blöd. »Was machst du da, Onkel?« fragte sie treuherzig. »Nichts, nichts«, murmelte er, während sein Gesicht sich zu seltsamen Grimassen verzog. »Achte gar nicht darauf.« Jetzt fummelte er in seiner Hose herum. Stöhnte und keuchte. Und gleich darauf sah Tula dieses geheimnisvolle Ding wieder. »Du meine Güte. Du siehst ja ganz anders aus als ich, Onkel!« Er richtete sich auf. »Fühl mal! Fühl!« Er stolperte über diese Wörter. Und Tula fühlte und lachte perlend, dieses ganz besondere kindliche Lachen, das sie benutzte, wenn sie andere an der Nase herumführen wollte. »Hast du keine Angst?« fragte er und staunte über ihre Reaktion. Wieder suchte seine Hand, tastete, wurde grob. Und plötzlich stöhnte er auf, machte sich über sie her und spreizte ihre Beine. Genau wie bei dem Paar im Wald. Das wird ja interessant, dachte Tula. Jetzt werde ich erfahren, warum die Erwachsenen das so schön finden. »Au! Das tut weh!« Aber Knutsson grunzte und preßte. Dieses kleine mollige Mädchen übertraf alles, was er je erlebt hatte, sie war für ihn die Versuchung in Person. »Das ist jetzt nicht mehr lustig.«, sagte Tula stirnrunzelnd und versuchte, sich wegzudrehen. »Das tut weh!« 43
Sein Gesicht hatte sich bei ihren Worten verwandelt. Brutalität und Wahnsinn strahlten aus seinen Augen, aus seinem ganzen Gesicht. »Ja, nicht wahr? Das soll ja auch weh tun«, keuchte er mit Mühe. »Du sollst dich fürchten. Du mußt schreien! Schrei jetzt endlich. Sonst kann ich nicht … jetzt schrei gefälligst, zum Teufel!« Voller Wut legte er ihr die Hände um den Hals. »Das sollte eigentlich erst später kommen«, fauchte er. »Damit du nicht plappern kannst. Aber ich werde dich schon zum Schreien bringen, du wirst dich noch fürchten, du wirst mich nicht um das betrügen, was mir gehört!« Seine Hände drückten zu. Ach, dachte sie. So ist das also. Einige geflüsterte Wörter kamen über ihre Lippen. Eine Beschwörung. Knutsson schrie auf und zog sich rasch von ihr zurück. »Du hast mich verbrannt!« schrie er und legte die Hände um sein glühendheißes Werkzeug. Tula setzt sich auf und fegte seine schützenden Hände weg, während sie weiter vor sich hin murmelte, seinen Stolz packte und daran zog, so daß der für einen Moment ungeheuer lang und schmal wirkte … und dann schrie Knutsson wütend auf. Sein Glied hatte sich zusammengezogen wie ein Schweineschwanz und wies jetzt einen unerträglich festen Knoten auf. Das kann doch nicht sein, dachte er entsetzt. Das kann nicht sein, das geht nicht, das ist eine physische Unmöglichkeit, niemand kann da einen Knoten machen … Aber der Knoten war vorhanden. Tula hatte sich aufgerichtet. Sie stand über ihm, und er geriet in ungeheure Verwirrung, als er ihr in die Augen schaute. Noch eine Beschwörung, und jetzt zeigte sie auf seinen Mund. Dann drehte sie sich um und wollte gehen. »Fünf tote Kinder, vielleicht noch mehr«, sagte sie über ihre Schulter. »Sogar deine eigene Tochter. Wie war das möglich, Onkel Knutsson?« 44
Er wollte ihr sagen, daß es nicht sein Kind gewesen sei – aber das war doch eigentlich nicht wichtig, auch seine leibliche Tochter hätte er genommen. Die eigene oder die von anderen, diese wunderbare Lust, sich an einem Kind zu vergreifen und es im Rausch des Orgasmus zu töten – diese Lust war stärker als alles andere. Aber Knutsson brachte kein Wort heraus. Die kleine Hexe hatte ihn zum Verstummen gebracht – für immer. Damit er sie nicht verraten könnte. Aber er war noch nicht besiegt, sie sollte sich bloß vorsehen! Halb bewußtlos vor Schmerzen schleppte er sich nach Bergunda. Den Knoten hatte er nicht lösen können, egal, was er auch versucht, wie sehr er sich mit seinen Fingernägeln blutig gekratzt hatte. Er gelangte auch heim nach Wexiö zu seiner Frau und legte sich ins Bett, wagte nicht zu verraten, was ihm da Schreckliches widerfahren war. Das hätte er auch nicht gekonnt, er mußte lautlose Schmerzensschreie ausstoßen, denn seine Stimmbänder waren stumm. Nach zwei Tagen hielt er es nicht mehr aus, denn inzwischen drohte seine Blase zu bersten. Er schrieb seiner halb hysterischen Frau, die nichts mehr begriff, auf einen Zettel, sie solle den Arzt holen. Der Arzt starrte das Elend ungläubig an. »Nein, nein«, erklärte der gelehrte Mann dann. »Das glaube ich einfach nicht.« Knutsson winkte und gestikulierte, um sich Papier und Feder bringen zu lassen, er wollte von der Hexe Tula erzählen, von den Wörtern, die er aus ihrem leisen Gemurmel herausgehört zu haben glaubte: »Zauberknoten, Seidgeflecht, sitzt für immer fest und echt.« Und viel, viel mehr, was er nicht verstanden hatte. Aber niemand begriff seinen Wunsch. Der Arzt zog und zerrte
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derweil, um den Knoten zu lösen, während Knutsson lautlos stöhnte und sich in stummen Qualen wand. »Nein, das geht nicht«, sagte endlich der restlos erschöpfte Arzt. »Ich sehe nur einen Ausweg: Wir müssen oberhalb des Knotens abschneiden, sonst sterbt Ihr an Blutvergiftung oder geborstener Blase.« Knutsson versuchte zu widersprechen, brachte aber keinen Ton heraus. »Aber wie um alles in der Welt ist das passiert?« fragte der Arzt. Endlich begriff er, daß sein Patient um Papier und Feder bat. Und jetzt kam Tulas letzte Beschwörung zur Anwendung. Knutsson setzte die Feder aufs Papier, um Tula der Hexerei anzuklagen. Aber die Feder schrieb ganz von selbst, und er konnte sie nicht loslassen: »Ich habe die unschuldigen Kinder vergewaltigt und ermordet, und ich habe es genossen. Dies ist die Strafe des Himmels.« Diesen letzten kleinen Scherz hatte Tula sich erlaubt. Denn der Himmel hatte mit der Sache ja wohl eher nichts zu tun. Aber Knutssons Gattin und der Arzt lasen und glaubten alles – vor allem den letzten Satz. Knutsson versuchte mit verzweifelten Blicken zu erklären, daß er ihnen das nun wirklich nicht hatte mitteilen wollen, aber das half nichts. Tulas Name kam ihm nicht über die Lippen, sosehr er sich auch anstrengte. Die beiden gingen ins Nebenzimmer. Seine Frau war wie vernichtet. »Mein Mann? Mein lieber, guter Mann? Und wie hat er sich an meiner Kleinen vergreifen können, an einem Familienmitglied? Ich verstehe das nicht, ich verstehe gar nichts.« »Denen ist das egal, wer das Kind ist«, sagte der Arzt, denn er war ein belesener Mann. »Diese Kinderschänder kommen nur zum Höhepunkt, wenn sie sich an einem Kind vergreifen 46
können. Euer Gatte ist sicher von der schlimmsten Sorte, die gar keine Hemmungen kennen … und es kommt sehr häufig vor, daß sie sich Berufe aussuchen, wo sie mit Kindern zu tun haben. Oje!« Der Arzt versuchte, ihn zu retten, indem er ihm das edelste Teil abschnitt, aber Knutsson starb noch am selben Abend. Und die Gerüchte verbreiteten sich. Obwohl der Arzt und die Frau verabredet hatten, nichts zu sagen, war die Geschichte zu sensationell, um totgeschwiegen zu werden. Jedenfalls erfuhr die Öffentlichkeit, daß der Kinderschänder von seiner Strafe ereilt worden war. Die Details indes wurden verschwiegen. Aber etwas so Absurdes hätte ohnehin niemand geglaubt. Auch Gunilla kamen die Gerüchte zu Ohren. Sie nahm ihr Töchterchen auf den Schoß, wiegte es hin und her und drückte es an sich. »Stell dir nur vor, das war dein Chorleiter, Tula! Da hätte ja soviel passieren können. Du bist so oft den langen Weg von hier nach Bergqvara gegangen. Du hättest ihm doch begegnen können. Ach, ich wage gar nicht, mir auszumalen, was hätte passieren können, du bist doch so gutgläubig und naiv.« »Aber jetzt ist er ja tot, Mutter«, sagte Tula mit ihrer hellen, klaren Stimme. »Jetzt braucht niemand mehr Angst zu haben.« »Nein, Gott sei Dank«, seufzte Gunilla. Tula hatte nicht viel über dieses Erlebnis nachgedacht, sie besaß eine ganz eigene Fähigkeit, sich über alles, was ihr unangenehm vorkam, hinwegzuheben. Aber jetzt ging sie hinaus in die Scheune, wo ihre große schwarze Katze zu sitzen pflegte. Die Katze kam ihr sofort mit erhobenem Schwanz entgegen. Tula nahm die Katze auf den Schoß und schob die Nase in das weiche Fell. Langsam liefen ihr Tränen über die Wangen. Sie weinte nicht über ihr eigenes Unglück, über ihre verlorene Jungfräulichkeit, die war ihr wirklich egal, und es war ja trotz 47
allem ein interessantes Experiment gewesen. Nein, sie weinte über die unvollendeten Leben, die nie wieder das Tageslicht erblicken würden. Sie weinte um die Opfer des von allen geliebten Chorleiters. Sie dachte an deren letzte Momente, an die Kinder, die nicht über Tulas Besonnenheit und Kraft oder über ihre Zaubergaben verfügt hatten. Tula war keineswegs kalt. Resolut wischte sie sich die Tränen ab. »Ich bin wie Sol«, flüsterte sie der Katze zu. »Und Sol mußte sterben, weil sie nicht einfach alle Menschen tothexen konnte, die ihr nicht paßten. Aber genau das tue ich doch. Also muß ich vorsichtiger sein. Sol war nicht vorsichtig, sie hat mit ihren Fähigkeiten geprotzt. Und das werde ich niemals, niemals tun.« Die Katze schaute ihr feierlich in die Augen.
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INDRIÐI G. þORSTEINSSON Was einen Mann im Innersten bewegt Es hieß, daß Jón vom Moorhof des Geldes wegen geheiratet habe. Das mochte durchaus stimmen, denn seine Frau war zwanzig Jahre älter als er und wurde außerdem von einem chronischen Nasenleiden geplagt, wodurch sie ziemlich abstoßend wirkte. Jón vom Moorhof störte sich nicht an ihrem Aussehen und auch nicht daran, daß es manchmal aus ihrer Nase in den Milchbrei tropfte, bevor sie ihn auf den Tisch stellte. Damit konnte man sich abfinden, solange es auf dem Hof etwas zum Reiten gab, und dafür hatte die Frau genug mit in die Ehe gebracht. Sie stammte aus Westisland, und als sie zu ihm zog, brachte sie mehr als vierzig Pferde mit, darunter viele sehr schöne Tiere. Jón vom Moorhof hatte feuchte Augen bekommen, als er die hübsche Herde über den schmalen, sich von der Anhöhe herunterschlängelnden Pfad antraben sah, aber als die Frau an ihrem ersten Abend in ihrem neuen Zuhause ins Bett kam, wurden seine Augen wieder trocken, und Jón vom Moorhof sattelte eines der Pferde. Sie hörte in der Schlafkammer das Geklapper der Hufe auf dem harten, von frühlingshaftem Grün umsäumten Hofplatz, wo ihr Bräutigam das Pferd in verschiedenen Gangarten bewegte. Und als sie am Morgen aufwachte, hatte er sich sein Gewehr geschnappt und war auf Fuchsjagd gegangen. So waren zwei Jahre mit Hufgetrappel und Jagd vergangen. Eigentlich hatte sie Jón vom Moorhof nie anders in Erinnerung, als daß er entweder gerade nach Hause kam oder gerade wegritt. Sie fragte ihn manchmal, wieso er denn so schrecklich viel umherstreifen müsse und ob es nicht angebracht sei, Mist auf die Wiesen zu karren, ihn auszubringen und einzueggen oder die Wiese zu mähen. Manchmal stieg die Wut in ihr hoch, wenn sie 49
bei gutem Trockenwetter mitten auf der Heuwiese stand und von ihrem Mann kaum etwas zu sehen bekam, höchstens den Schimmer der kurzhaarigen, glänzenden Flanken der Pferde, wenn er sie antrieb und mit zwei oder drei Handpferden an der Seite über Hügel und Moorwiesen davonstob. Eines Tages raffte sie sich auf und verlangte von ihm, die Pferde zu verkaufen, andernfalls würde sie gehen. Ein paar Wochen lang hatte er sich dagegen gesträubt. Er hatte einige Füchse erlegt, und manchmal wachte sie nachts davon auf, daß er über den Hofplatz galoppierte. Schließlich trieb er die Pferde auf dem Hof zusammen, Braune, Graue und Rote mit weißer Blesse, und brach mit ihnen auf. Es waren alles in allem zweiundzwanzig, die er zum Kauf anbot, und er zog mit diesen Pferden weit umher. Wenn er am Rande einer Hofwiese rastete, tauchte sogleich der Bauer auf und wollte kaufen. Die Pferde gingen alle für einen guten Preis weg. Er brauchte nicht zu feilschen. Das waren keine alten Klepper. Eines schönen Tages war nur noch das eine übrig, das er benötigte, um wieder nach Hause zu kommen. Da besorgte er sich Schnaps für die Satteltasche. Auf dem Weg nach Hause überquerte er Flüsse und Hochebenen, die Nächte waren hell, im Birkengebüsch und auf den Heiden sangen die Vögel, und manchmal hielt er einen kurzen Schlummer in einer windgeschützten Mulde. Eines Nachts endete der Ausflug ganz friedlich daheim am Rande der Heuwiese. Er sattelte das Pferd ab und ließ es auf die Wiese, obwohl es Juni war und die Tiere um diese Jahreszeit normalerweise auf der Weide standen. Die Satteltasche mit dem Schnaps versteckte er zwischen Grashöckern. Am nächsten Morgen wurde Jón vom Moorhof von Pickgeräuschen geweckt. Soweit er sehen konnte, schien die Sonne zum Fenster hinein, und er glaubte zu hören, daß es draußen völlig windstill war. Deshalb mußte sie die Hühner keineswegs drinnen in der Wohnstube füttern. Auch wenn es ihre Hühner waren, sie hatten draußen zu sein. Jetzt war es an der Zeit, ihr 50
seine Meinung zu sagen. Jetzt waren die Pferde weg. Sie konnte ihre Hühner nehmen, und ihren Hof auch, den Hof, die Hühner und die Schafe. Was waren Schafe nur für verachtenswürdige Kreaturen. So ein Schaf war genau wie seine Alte. Was Sturheit betraf, konnten sie sich das Wasser reichen. Er hörte die Kühe, die im Stall unter der Wohnstube standen. Sie hatte sie also noch nicht herausgelassen. Die konnte sie natürlich auch behalten. Es gehörte ja sowieso alles ihr. So wie die Dinge standen, konnte sie das alles dabehalten. Aber bevor er ihr das sagte, wollte er ihr befehlen, die Hühner hinauszutreiben. Jón vom Moorhof war entschlossen, sich nicht mehr von dieser runzligen, kurzsichtigen und knauserigen alten Schachtel herumkommandieren lassen. Er war zu Fuß zu ihr gekommen, der Witwe mit den Rassepferden aus dem Húnavatn-Bezirk. Jetzt gab es keine Rassepferde mehr, und er ging wieder zu Fuß. Die Brieftasche steckte da irgendwo. Sie war vollgestopft mit Scheinen. Aber Geld ließ sich nicht zureiten. Er konnte nicht im Frühjahr damit arbeiten, es nicht an Zaum und Sattel gewöhnen, und es konnte ihm nicht als stolzes Reitpferd dienen. Es war an der Zeit, diesen Hof und diese Alte zu verlassen. Aber zuerst mußte sie gefälligst ihre Hühner hinaustreiben. Er griff nach der Schnapsflasche, die neben dem Bett stehen sollte, doch die hatte sie offenbar an sich genommen. Er tastete alles ab, ohne sich im Bett aufzurichten, bis es keinen Zweifel mehr geben konnte. Nie wurde das, was neben seinem Bett stand, in Ruhe gelassen, wenn er von seinen Ausflügen nach Hause kam. Die zwei Flaschen, die in der Satteltasche steckten, würde sie aber nicht finden. Dann räusperte er sich. »Guðlaug«, rief er. Sie erschien beinahe auf Anhieb. An einem Morgen wie diesem war sie selten weit weg. Dann hörte er ihre dünne, eintönige Stimme: »Was willst du, mein lieber Jón?« »Treib die Hühner raus.« 51
»Was für Hühner, mein lieber Jón?« »Deine verdammten Hühner, Frau.« »Was soll denn dieses dumme Säufergeschwätz?« »Sie lassen sich auch woanders füttern als drinnen in der Wohnstube«, sagte Jón. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, sagte Guðlaug. Er hörte, wie sie die Tür schloß und ging. Es war nicht zu erwarten, daß die Ärmste kapierte, daß jetzt der Tag gekommen war, wo sie zu gehorchen hatte. Er blieb liegen und lauschte. Die Hühner pickten unentwegt. Ihm blieb keine andere Wahl, als nach draußen zu gehen und ihr klarzumachen, daß sie die Tiere hinauszutreiben hatte. Sie war wie ein Schaf, das hatte er immer schon gesagt. Jón vom Moorhof schnupperte. Hier ist alles voller Rauch, dachte er. Der Herd zieht nicht. Sie kann nicht einmal anständig Feuer machen. Er sah sich nach seiner Hose um, fand sie aber nicht, genausowenig wie die Jacke oder die Brieftasche. Sie hatte seine Sachen versteckt, damit er erst aufstehen konnte, wenn es ihr paßte. Die Hühner pickten immer eifriger. Er legte eine Hand auf das Paneelbrett über dem Bett, um sich darauf abzustützen, während er sich aufrichtete. Es fühlte sich heiß an, und er sah auf die Holzwand, die sich dunkel verfärbt hatte. Im selben Augenblick bemerkte er, daß über dem Ofen hinter dem Bett Rauch austrat. »Verdammt noch mal!« entfuhr es Jón vom Moorhof. »Der Hof brennt.« »Guðlaug!« schrie er. Sie erschien so umgehend, als hätte sie im Gang, der zur Küche führte, gewartet. »Was rufst du denn dauernd nach mir?« fragte sie. »Es brennt. Sieh doch, da kommt Rauch aus der Wand. Der Hof brennt, Mensch.«
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»Allmächtiger!« sagte sie und mußte husten vom Rauch, der in die Wohnstube gedrungen war. »Die Kühe, Jón. Wir müssen die Kühe retten. Lieg nicht so faul im Bett herum, Mann.« »Mach sie doch selbst los«, sagte er. Als die Frau hinausstürzte, schoß beim Zuschlagen der Tür schoß das Feuer aus der Wand. »Läßt du mich etwa in der Unterhose zurück«, rief er. »Wo sind meine Sachen? Soll ich hier drinnen verbrennen?« Die Wohnstube füllte sich mit Rauch, und dort, wo die ersten Flammen durch die Wand geschlagen waren, knackte es laut. Er sprang mit einem heftigen Hustenanfall aus dem Bett, ging in einem großen Bogen zur Tür und schloß sie sorgfältig hinter sich, ebenso wie die Tür zur Küche. Das Feuer mußte in der Torfwand zwischen Küche und Wohnstube ausgebrochen sein. Er spürte es am Rauch. Der Geruch war nicht zu verkennen, wenn Torf brannte. Bis in die Küche war der Rauch noch nicht vorgedrungen, aber jetzt wurde ihm klar, daß er den Brandgeruch schon seit dem Aufwachen in der Nase gehabt hatte. Guðlaug kam aus dem Stall zurück, nachdem sie die Kühe hinausgelassen hatte. »Du hast den Hof angesteckt«, sagte Jón vom Moorhof laut und wütend. »Gott steh dir bei, Jón«, sagte die Frau und hatte ebenfalls die Stimme erhoben. »Ich habe bloß heute morgen ein bißchen eingeheizt, damit es im Wohnraum warm sein würde, wenn du aufwachst. Du hast ja auf diesem Hof dein Lebtag nicht Zeit für etwas gehabt, nicht einmal, um das Ofenrohr zu reparieren. Ich bitte dich schon seit Monaten darum. Aber nein, doch nicht Jón. Der hat ja anderes und Wichtigeres zu tun. Doch nicht Jón«, wiederholte sie und nahm sich keine Zeit, Atem zu holen, während sie sprach.
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»Halt den Mund, Frau, und bring mir endlich meine Hose. Ich kann doch nicht in einem Haus, das brennt, in der Unterhose dastehen.« »Mir ist es völlig egal, wie und wo du stehst, aber du erzählst keine Lügen über mich.« Ihre Stimme klang weinerlich, und Jón vom Moorhof fand, daß es ihr in Anbetracht der Umstände wohl anstand. Er sah, daß sie sich anschickte, hinauszugehen. »Wohin so eilig, Frau?« fragte er. »Ich will zum nächsten Telefon laufen, wenn du nichts dagegen hast. Du scheinst mir ganz entgegen deinen Gewohnheiten nicht imstande zu sein, loszureiten.« Sie setzte eine hochmütige Miene auf. »Du mußt mir meine Hose bringen. In diesem Aufzug kann ich mich unmöglich blicken lassen. Die Leute kommen bestimmt herbeigeströmt, auch Frauen und Kinder.« »Was für ein Anblick, wenn du ohne Pferd und nur in der Unterhose draußen auf der Wiese stehst, mit dem brennenden Haus dahinter. Ich denke, er wird mir nicht gefallen. Übrigens habe ich deine Sachen hinter die Kommode gesteckt, damit du sie nicht findest, bis deine Schnapsfahne verflogen ist.« Bei den letzten Worten war sie schon in der Tür. Jón vom Moorhof hastete durch den Flur, der zur Wohnstube führte. Dicker Qualm schlug ihm entgegen, als er die Tür öffnete. Er bückte sich, um dem schlimmsten Rauch zu entgehen, und schob sich hustend, fluchend und halbblind an der Wand entlang bis zur Kommode vor, auf der Familienfotos aufgestellt waren. Die Gesichter starrten ausdruckslos und feierlich in die graue, heiße und beißende Luft. Jón vom Moorhof versuchte, die Kommode vorzuziehen, doch sie bewegte sich nicht. Er quetschte den Arm zwischen Wand und Kommode, bis er auf Kleidungsstücke stieß. Dann riß er die oberste Schublade heraus, warf die Fotos hinein und legte die Kleidungsstücke obendrauf. Er klemmte sich die Schublade unter den Arm und 54
tastete sich mit der freien Hand nach vorn zur Tür. Die Hitze war fast unerträglich geworden. Er machte die Tür hinter sich zu, wankte durch den Gang zur Küche und stellte die Schublade ab, bevor er die Küchentür schloß. Ihm brannten die Augen, und seine Ohren dröhnten, als würden sich sämtliche Adern des Körpers in die Gehörgänge ergießen. Als er sich etwas erholt hatte, begann er, in der Schublade zu wühlen. Er hatte nur die Jacke und die Weste hinter der Kommode hervorziehen können. Die Brieftasche war aus der Innentasche der Jacke verschwunden. Ungläubig fingerte er an dem Kleidungsstück herum und suchte die Taschen ab. Dann legte er die Jacke weg und begann, in der Schublade zu kramen. Außer alten Briefen, einer Brosche, die Guðlaug gehörte, der Heiratserlaubnis, die König Christian X. unterzeichnet hatte, und der Übertragungsurkunde für den Hof war nichts darin. Als er die Hoffnung aufgegeben hatte, die Brieftasche zu finden, drehte er sich langsam um und ging zur Tür. Er starrte kurze Zeit darauf und horchte auf das Prasseln dahinter. Dann schüttelte er den Kopf. Zweiundzwanzig Pferde, dachte er. Die besten und hervorragendsten Reitpferde in Nordisland in alle Winde zerstreut, nur weil es einer alten Schachtel ein Dorn im Auge war, wenn er gleich einem freigeborenen Mann ein Pferd nach dem anderen erprobte. Jón vom Moorhof wandte sich von der Tür ab, zog sich langsam und zerstreut Weste und Jacke an und band sich die Unterhose hoch. Daraufhin verließ er das Haus in so würdevoller Haltung, wie es die Umstände zuließen. Er hatte sich bei seiner Satteltasche unten auf der Heuwiese hingesetzt, als die ersten Männer auftauchten, um das Feuer zu löschen. Es herrschte Windstille, der Torf brannte langsam, und der Rauch stieg aus dem Dach über der Wohnstube und kräuselte sich in den wolkenlosen Himmel. Bei dem klaren Wetter war das Feuer von weit her zu sehen, deshalb warteten die Männer nicht darauf, daß das Telefon klingelte oder sie auf andere Weise benachrichtigt würden, sondern sprangen auf die nächst55
besten Pferde und ritten, was das Zeug hielt, geradewegs auf den Rauch zu. Einige hatten sich gerade eben noch Zeit genommen, den Reitpferden einen Strick anzulegen, andere hatten nur ausgespannt und waren auf Pferden mit Zuggeschirr losgeritten. Kaum jemand hatte aufgesattelt. Einige Männer hielten bei Jón vom Moorhof an, bevor sich mit dem Feuer befaßten. Sie begrüßten ihn und erwarteten, daß er aufstehen würde. Er aber rührte sich nicht, sondern bot ihnen Schnaps an, worauf sie sich brüsk von ihm abwandten und ihn keines Blickes mehr würdigten. Die zuerst am Schauplatz eingetroffen waren, hatten zunächst die Abdeckung vom Brunnen gerissen, sämtliche verfügbaren Eimer zusammengesucht und angefangen, Wasser gegen die Küchentür zu schütten, um zu verhindern, daß das Feuer aufs Vorderhaus übergriff, das ganz aus Holz war. Das Wasserschleppen war zeitraubend, weil der Brunnen hinter dem Hof lag und man das Wasser zur Vorderseite des Hauses und in den Flur tragen mußte. Je mehr Männer zusammenkamen, desto schneller ging es. Jón vom Moorhof lag in einer Mulde auf der Heuwiese. Seine Blicke schweiften von der Rauchsäule hinüber zum Pfad an der Anhöhe, auf dem unterschiedlich ausgerüstete Menschen auftauchten. Irgend jemand hatte Guðlaug ein Pferd geliehen. Er sah, wie sie ohne Sattel den Pfad zum Hof hinunterritt. Er beobachtete sie mit zusammengekniffenen Augen und versuchte sich zu ducken. Rittlings auf dem Pferd wirkte sie sehr selbstbewußt und tat, als würde sie ihn nicht sehen. Sie war wie die Füchsin, die nur schnupperte und sich wichtig machte, wenn jemand in der Nähe lauerte. »Hör zu, Frau«, rief er. Sie hielt das Pferd an und schaute suchend umher, als wüßte sie nicht, daß er in der Mulde lag. Dann ritt sie auf ihn zu und stieg ab. »Hör zu, Frau«, wiederholte er, jetzt aber nicht so laut wie vorher. »Wie wäre es, etwas zum Anziehen zu bekommen?« 56
Sie blieb ein kurzes Stück von ihm entfernt stehen und senkte den Kopf. Ihm schien, als finge sie an zu zittern. »Konntest du etwas retten?« fragte sie. »Nur unseren Trauschein, mein Schatz, und außerdem die Jacke, die ich anhabe, und die Weste. Die Hose habe ich nicht gefunden. Du hast sie gut versteckt, genau wie die Brieftasche. Jetzt ist alles zum Teufel.« »Du hast natürlich alle viere von dir gestreckt wie ein Hund, sobald ich weg war«, sagte Guðlaug und reckte ihren Kopf in seine Richtung. »Du hattest nicht einmal die Kraft, das Bettzeug hinaus auf die Wiese zu tragen.« »Wozu gibt es Feuersbrünste, wenn nicht, um bettelarm und mit leeren Händen davonzukommen?« »Ich höre mir dein albernes Geschwätz nicht länger an, Jón Ólafsson.« »Sind die Pferde nicht weg? Brennt das Haus nicht? Steh ich nicht in der Unterhose da? Was willst du noch mehr, du alter Besen?« »Jón Ólafsson, ich rede nie wieder mit dir.« »Auch gut, aber richte diesen verdammten Kerlen aus, daß sie die Grassoden auf dem Dach über der Wohnstube einstechen sollen. Vorher kriegen sie das Feuer nicht aus.« Guðlaug raffte ihren Rock, warf den Kopf in den Nacken und ging stolz und kerzengerade die Heuwiese hinauf zum Haus. Jón vom Moorhof richtete sich halb auf und stützte sich auf die Ellenbogen, um ihr hinterhersehen zu können. Dann rief er: »Schick mir jemandem mit meinem Gewehr.« Dann lehnte er sich mit der Flasche im Arm zurück. Als er etwas später hochblickte, sah er, daß sich die Männer an den Wänden dicht bei der Rauchsäule aufgestellt hatten und anfingen, die Rasensoden durchzustechen. Sie waren also doch
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praktisch veranlagt, oder vielleicht hatte die Alte ihnen Bescheid gesagt, obwohl sie so schlecht gelaunt war. Auf dem Hofplatz standen Kisten und Behälter aufgereiht, und immer noch waren Männer damit beschäftigt, irgendwelche Sachen hinauszutragen. Er betrachtete den Hausrat. Nicht zu fassen, was sie alles an Kram auf diesen Hof mitgebracht hatte. Alles Mögliche konnte sie um sich herum ansammeln, aber Pferde wollte sie keine haben. Und sie konnte Tröge und Fässer bergen lassen, war aber nicht dazu zu bewegen, ihm ein Kleidungsstück zum Anziehen zu bringen. Offenbar war sie entschlossen, ihn den ganzen Tag dort hocken zu lassen. Jetzt wo ihr alles unter den Händen zerrann, war er also unwichtig geworden. So war dieses Gesocks, das glaubte, etwas zu besitzen, was verbrennen könnte. Solche Menschen durchsuchten noch die Asche, stellten sich vor, wo der eine oder andere Gegenstand gestanden hatte, setzten in Gedanken den Preis dafür fest und addierten, bis sie auf einen ansehnlichen Brandschaden gekommen waren. Und dann sagten die Nachbarn, daß es doch schrecklich sei, was für Besitzstücke verlorengegangen wären. Niemand schien in den Sinn zu kommen, daß ein Feuer manchmal läuternde Wirkung hatte. Jón vom Moorhof lachte sich eins in seiner Mulde. Man hätte in diesem Haus schon früher eine läuternde Wirkung brauchen können, dachte er und trank in Gedanken auf das, was gerade verbrannte. Als er wieder hochblickte, sah er einen Jungen in braunem Overall mit dem Gewehr auf den Armen die Heuwiese herunterkommen. Er hielt es so, wie es nur diejenigen tun, die noch nie eine Schußwaffe in der Hand gehabt haben. Jón vom Moorhof erschrak darüber, wie der Junge das Gewehr trug. »Gib es mir, bevor du dich noch daran verletzt«, sagte er zu dem Jungen, der sich vorbeugte und ihn die Waffe aus seinen angewinkelten Armen nehmen ließ. »Ein Gewehr darfst du niemals so tragen, mein Lieber. Du weißt nicht, wohin es ausschlägt, falls sich ein Schuß lösen sollte.« 58
»Ich wußte nicht, daß es geladen ist. Guðlaug hat es mir einfach gegeben und mich gebeten, es dir zu bringen«, sagte der Junge. »Ach, hat sie das. Sie glaubt bestimmt, daß sie jetzt das Sagen hat.« »Benutzt du das Gewehr für die Fuchsjagd?« fragte der Junge. »Ich benutze es für was auch immer. Es eignet sich für jede Jagd gleichermaßen.« »Kann man denn noch anderes jagen als Füchse und Schneehühner?« »Kaum«, sagte Jón vom Moorhof. »Aber man sollte nichts unversucht lassen, um die Vielfalt zu vergrößern.« Der Junge ließ die Blicke an ihm hinuntergleiten und sah die Satteltasche und den Schnaps. »Möchtest du einen Schluck?« fragte Jón vom Moorhof. »Nein, ich muß gehen. Sie machen sich jetzt an das Vorderhaus.« »An das Vorderhaus?« fragte Jón vom Moorhof. »Wollen sie es niederreißen?« »Nein, nein«, sagte der Junge. »Sie wollen das Holz drinnen herausreißen, damit es nicht verbrennt. Die Küchentür ist schon fast durchgebrannt, der Brunnen ist so gut wie leer, und Bjarni vom Weidenhof sagt, daß nichts anderes übrig bleibt, als das Vorderhaus mit Brechstangen zu öffnen und das Holz zu bergen.« »Was kann man denn noch mit dem Holz anfangen, das Bjarni vom Weidenhof mit Brechstangen bearbeitet hat?« fragte Jón vom Moorhof. »Er meint, das sei die einzige Möglichkeit«, sagte der Junge. »Ja, ich frage ja bloß so, die Entscheidungen trifft Guðlaug«, erklärte Jón vom Moorhof und nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche. 59
Kurz nachdem der Junge gegangen war, hörte er die Hiebe und Schläge, als die Männer begannen, das Vorderhaus einzureißen. Er stellte sich vor, wie die weißgestrichene Vertäfelung unter den Brechstangen zersplitterte. Bjarni vom Weidenhof, dieser verfluchte Tolpatsch, dachte er. Eines Tages sollte man ihm auch einmal etwas herausreißen. Obwohl er es unten in der Mulde nicht mitbekam, hatte man kaum das Holz aus dem gesamten Vorderhaus herausgerissen, als das Dach in einem Rauch- und Flammenwirbel hinunter in die Wohnstube und den Kuhstall stürzte. Nur der Südgiebel und die dahinterliegenden Räume standen noch. Sofort danach machten sich einige Männer daran, die Torfwände in der Küche abzustechen und die Küchentür herauszureißen. Andere schaufelten Erde aus den Wänden des Wohnraums hinunter in die Ruine, und bald war das Feuer zum größten Teil gelöscht. Da war es bereits Nachmittag. Jón vom Moorhof sah zu, wie sich die Männer allmählich auf den Heimweg machten. Einige blieben eine Weile bei ihm stehen, und der eine oder andere nahm einen Schluck Schnaps. »Das Vorderhaus sieht schlimm aus«, sagten sie. »Es ist völlig zertrümmert.« »Das habe ich befürchtet«, sagte Jón vom Moorhof. »Mir ist nicht zu Ohren gekommen, daß Bjarni vom Weidenhof etwas von handwerklicher Arbeit versteht.« »Es war Guðlaug, die das angeordnet hat«, sagten sie. »Sie hat es auf das Holz abgesehen«, sagte Jón vom Moorhof. »So ist es bei reichen Leuten, die horten sogar das Material für ihren Sarg.« »Wir kommen zurück und bringen das wieder in Schuß«, sagten die Männer. Dann ritten sie über die Anhöhe davon, ohne Sattel, wie sie gekommen waren, einige ohne Kopfbedeckung und in Stallkleidung, rußig und mit roten Augen nach dem Einsatz, und auf dem nicht mehr rauchenden Schauplatz furzten
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jetzt die Pferde, die sich auf der Heuwiese vollgefressen hatten, wild drauflos. Als Ruhe auf dem Hof eingekehrt war, erhob sich Jón vom Moorhof aus seiner Mulde, schob sich das Gewehr unter den Arm und schlenderte mit nach unten gerichtetem Lauf die Hauswiese hinauf. Er spürte, daß ihm der Schnaps ziemlich zu Kopf gestiegen war. Trotzdem war er entschlossen, die Sache unverzüglich zu einem Ende zu bringen. Niemand sollte glauben, daß man so mit ihm umspringen könne. Damit kam sie bei ihm nicht durch, ihn mit zweiundzwanzig Pferden fortzuschicken, einzig und allein, um das Geld am nächsten Morgen zu verbrennen. Jetzt würden sie sich zum ersten Mal als Gleichberechtigte gegenüberstehen. Sie in der Brandruine und er, na ja, lassen wir das. Jedenfalls hatte sie ihm nicht seine Hose gebracht. Sie machte sich gerade an dem Holz zu schaffen, als er auf den Hofplatz kam. Sie sahen sich einen Moment in die Augen. Plötzlich wurde ihr klar, was er vorhatte. Sie schlug die Hand vor den Mund, kraxelte über den Holzstapel und rannte ins Haus. Er stolperte hinter ihr her und verfolgte sie die Treppe hinauf auf den Dachboden hinter dem Südgiebel. Sie wich vor ihm zurück und tastete nach der Tür, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Aber die Tür war aus den Angeln gerissen und hinausgetragen worden. Da begann sie auf einmal zu sprechen. »Mein lieber Jón, nun hab dich nicht so. Es ist alles in Ordnung. Sieh doch, das Geld ist nicht verbrannt.« Sie griff unter ihre Schürze und hielt ihm die Brieftasche entgegen. »Es ist nicht verbrannt«, sagte sie und wich immer weiter zurück, bis sie im Sonnenlicht stand, das durch das Südfenster fiel. Er blieb in der Tür stehen und legte auf sie an, und die Frau schien vor seinen Augen zur Salzsäule zu erstarren.
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»Diese Pferde hätten niemals verkauft werden dürfen«, sagte er. »Du kannst das, was einen Mann im Innersten bewegt, nicht so behandeln.« Er zog ab, doch es kam kein Schuß, sondern nur ein dumpfer Knall, als der Schlagbolzen auf die leere Patrone traf. Da war es, als käme er zur Besinnung. Er sah auf das Gewehr in seinen Händen und spürte, daß ihm plötzlich der Schweiß ausbrach. Als er aufblickte, stand die Frau immer noch in der Sonne. Sie erschien ihm um viele Jahre jünger.
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KOLBJØRN HAUGE Todesprophezeiung Platsch! Da fiel die letzte Krebsreuse über die Reling. Er wartete, bis er spürte, daß die Reuse auf den Boden traf. Dann löste er das Tau und warf den Schwimmer ins Wasser. Säuberte das Boot etwas von Algen und warf den alten Köder aus. Er richtete sich auf und schaute sich eine Weile um. Atmete ein paarmal tief ein und aus. Es fühlte es, und er sah es. Dieser Geruch nach Erika und verblühter Heide, nach feuchtem Herbstlaub vom Land her. Dieser Luftzug, der ihm sagte, daß für dieses Jahr wieder einmal Schluß war. Dieses klare Licht über den Bergen im Nordwesten auf der anderen Fjordseite, eine Mischung aus Türkis und Gelb, das noch ein paar Minuten lang die Illusion aufrechterhalten würde, daß der Herbst noch nicht ganz vorbei wäre. Die Kälte in den Fingern, das Abenddunkel, das vom Storekampen herunterschwebte und in die Buchten zog. Morgen früh würde Eis auf den Regenwasserpfützen hinter seinem leeren Schweinestall sein, das wußte er. Zeit, nach Hause zu kommen und den Fang in die Sammeltonne zu kriegen. Er hatte genug Krebse für die Bestellungen, die er in der vergangenen Woche per Telefon hereinbekommen hatte. Er kletterte nach hinten zum Achterschott, um den Suzuki anzuwerfen. Der Waldkauz hatte oben auf dem Bergkamm angefangen zu rufen, dort, wo zwei große Kiefern standen, er konnte ihn deutlich hören. In letzter Zeit hatte er den Waldkauz jeden Abend gehört. Sicher war es ein Männchen, das da oben saß und nach einem Weibchen rief. Er fluchte leise, als der Außenbordmotor sich weigerte anzuspringen. Zog immer und immer wieder an der Schnur, ohne daß es etwas brachte. Probierte all die Kniffe aus, die er in einem 63
viel zu langen gemeinsamen Leben mit diesem Gerät verbracht hatte, aber der Motor gab keinen Mucks von sich. Er hielt inne, wischte sich den Schweiß ab. Saß eine Weile auf der Ruderbank und schaute sich um. Da rief der Kauz wieder: »Ho-ho-hooo!« Etwas komischer Ruf, wie er fand, gröber und heiserer als der Vogel, den er die Abende zuvor gehört hatte. Dann war es wohl so ein erfahrener Alter, der sich diesen Standort erobert hatte. Hatte den Grünschnabel davongejagt und wollte die Frauenzimmer für sich haben. Etwas ungewöhnlich, so früh am Abend schon zu rufen, sonst vernahm er den Ruf eigentlich erst immer, wenn es richtig dunkel geworden war. Er zog noch ein paarmal an der Schnur, doch ohne Erfolg. Nun ja, da war nichts zu machen. Es war ruhiges Wetter und nicht einmal eine halbe Stunde Rudern ums Nordneset und nach Hause in die Bucht. Daheim warteten nur der Fernseher und die Katze, es gab keinen Grund, etwas zu überstürzen. Er kroch zurück zur Ruderbank und schob die Ruderblätter ins Wasser. Eigentlich freute er sich sogar auf das Rudern in der klaren Spätherbstluft. Der Vollmond war im Südosten auf dem Weg über die Bergkuppe, und er konnte an dem Geräusch der algenbewachsenen Felsen am Strand hören, daß das Wasser noch stieg. Das Käuzchen rief wieder. Er ließ die Ruderblätter ruhen und lächelte vor sich hin. Es hatte immer Waldkäuze auf den Hügeln der Insel gegeben. Er konnte sich noch daran erinnern, wie er als kleiner Junge an dunklen Abenden auf dem Hofplatz gestanden und den Rufen gelauscht hatte. Großmutter mochte die Schreie nicht, sie prophezeiten Unglück und Tod, wie sie meinte. Nun ja, Unglück und Tod kamen früher oder später zu allen, ob nun ein Käuzchen rief oder nicht. Er wollte gerade weiterrudern, als ihm bewußt wurde, daß mit diesem Ruf etwas nicht stimmte. Er kam nicht vom Land her, sondern von der Wasserseite. Von der anderen Seite Borgholms. Konnte es Käuzchen auf den kahlen 64
Schären dort draußen geben? Das wäre jedenfalls das erste und das letzte Mal, daß er das erleben sollte. Da hörte er von neuem den Ruf, und jetzt war er sich sicher: Das war kein Vogel, das war ein Mensch! Er änderte den Kurs und ruderte den gleichen Weg zurück, den er gekommen war. Hielt ab und zu inne und horchte, um sicher zu sein, daß das Rufen noch erklang. Dann ruderte er energisch dem Geräusch nach. Er umrundete die linke Spitze von Gråholm und nahm dann Kurs auf die Felsen auf der Meeresseite. Der Mond war jetzt so hoch gestiegen, daß er genügend Licht gab, er konnte den Strand und all die kleinen Schären ziemlich deutlich erkennen. War da nicht irgend etwas hinten auf Seiflu? Die Eisenstange dort, war die nicht viel dicker als üblich? Da hörte er wieder diesen Ruf und ruderte, so schnell er konnte, um herauszufinden, was dort nicht in Ordnung war. Da hinten stand ein Mann. Er stand bis zu den Knien im Wasser. Hielt sich mit einer Hand an der Eisenstange fest und winkte mit der anderen. Irgendwie hatte seine Stimme etwas Vertrautes an sich. Der Ruderer wendete das Boot und ruderte rückwärts, um besser sehen zu können. Und sofort erkannte er, wer es war. Der große Kerl wirkte so merkwürdig kurz, wie er dort stand. Sah fast aus, als wäre er an den Knien abgeschnitten. »Mann, wird auch Zeit, daß du kommst«, sagte er. »Ich habe schon fast die Hoffnung aufgegeben. Hast du mich rufen gehört?« Seine Stimme klang gedrückt und rauh. Er ließ die Stange los und blies sich auf die Finger, um zu zeigen, daß sie eiskalt waren. Balancierte da auf dem algenbewachsenen Fels, machte sich bereit, achtern ins Boot zu kommen. Der Mann im Boot hielt acht oder zehn Meter vor dem Fels an. Zog die Ruderblätter ein und blieb sitzen. Er schien nicht begeistert von der Begegnung zu sein.
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»Bist du das?« sagte er. »Wie um alles in der Welt bist du denn hierhergekommen?« Er erkannte seine eigene Stimme fast nicht wieder, es klang, als spräche da ein anderer Mensch. Was vielleicht kein Wunder war, hatten sie doch seit vielen Jahren kein Wort mehr miteinander gewechselt. Der Mann auf dem Fels rutschte auf dem glatten Untergrund. Mußte sich wieder an der Stange festhalten, um nicht hinzufallen. »Mein verdammtes Boot. Ich wollte das Fischnetz hier am Pfahl befestigen, und da ist mir das Boot weggeglitten. Und als ich versucht habe, es am Tau wieder zu schnappen, ist mir auch noch das Netz entwischt.« Der Mann im Boot wußte, daß im Fjord der Herbsthering stand. Er wußte, daß viele den leckeren Fisch gefischt, gesalzen und geräuchert hatten. Er selbst hatte welchen geräuchert und an Privatkunden wie auch an Tora im Laden einige verkauft. Das Boot trieb ab, weg vom Fels. »Stehst du schon lange hier?« »Fast vier Stunden. Zuerst war ja Ebbe, aber jetzt ist das Wasser so gestiegen, daß meine verdammten Gummistiefel schon voll Wasser sind. Verflucht, ich friere vielleicht, es war höchste Zeit, daß du kommst und mich hier rausholst.« Er spuckte zur Seite aus und ergriff mit der anderen Hand die Eisenstange. Schob die kalte Hand unter die Jacke, um sie ein wenig zu wärmen. Er war schon wieder obenauf. Das schiefe Grinsen, seine etwas dreiste Art waren nie weit weg. Der Mann im Boot saß reglos auf der Ruderbank. »Und dein Boot? Wo ist das?« »Das liegt am Kieselstrand da hinten am Ufer. Ist direkt an Land gespült worden, und hängt jetzt bestimmt irgendwo fest. Verdammt, was zögerst du denn noch?«
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Der Mann im Boot drehte sich um und schaute zum Land hin. Achtete darauf, nicht zu nah an den Felsen zu kommen. Jetzt konnte er es auch sehen. Ein graues Ruderboot am Ufer dort hinten, direkt hinter der Boje, an der das Fischnetz hing. »Und du traust dich nicht, dorthin zu schwimmen?« »Ich und schwimmen? Verflucht, ich würde doch wie ein Stein untergehen, bevor ich die Boje auch nur halb erreicht hätte.« Natürlich. Ihm fiel sofort ein, wie dumm seine Frage gewesen war. Der Mann auf dem Felsen war noch nie ein großer Schwimmer gewesen. Er konnte wahrscheinlich gar nicht schwimmen. Das einzige, womit sie ihn früher hatten ärgern können, war seine Angst davor gewesen, Wasser an seinen Körper zu bekommen. Es war wahrscheinlich schlauer von ihm, hier auf dem Fels zu bleiben und auf Hilfe zu warten. In dem herbstkalten Wasser würde es sicher keiner an Land schaffen, der nicht ein guter Schwimmer war. »Nun beeil dich mal, damit ich an Bord kommen kann.« Der Mann auf dem Fels winkte mit der Hand, um zu zeigen, daß er der Meinung war, der andere ließe sich zuviel Zeit, bis er endlich zur Stange käme. Doch der Mann im Boot schob sich den Griff eines Ruderblatts unters Knie und kratzte sich am Kopf. Es sah fast so aus, als zöge er die Zeit mit Absicht in die Länge. »Ich werde erst einmal dein Boot holen«, sagte er schließlich. Machte dann ein paar ruhige Ruderschläge zum Inselufer hin, bevor der Mann auf dem Fels reagieren konnte. »Nein, warte, verdammt noch mal!« schrie er. Seine Stimme brach. Die Stunden auf dem Fels hatten an ihm gezehrt. »Zum Teufel, hol mich erst an Bord. Ich kann bald nicht mehr!« Der Mann im Boot tat, als hörte er gar nicht. Er ruderte nur ruhig an den Strand und sah das, was er sich schon gedacht hatte. Das Boot hatte sich zwischen zwei großen Steinen festgehakt. Das Achterende mit dem neuen Außenbordmotor 67
zum Land hin. Der Bug mit dem schwimmenden Tau zeigte ins Wasser und war Zeuge dafür, daß der Mann auf dem Fels den Vorgang korrekt wiedergegeben hatte. Das Fahrzeug lag sicher da, bis die nächste südliche Windböe es zwischen den Felsen am Ufer zu Brei zermalmen würde. Oder die nächste Springflut es ohne Mannschaft an Bord in den Fjord hinaustriebe. Als er das alles begutachtet hatte, blieb er eine Weile ruhig auf der Ruderbank sitzen. Schaute ins Boot hinunter und überlegte. Der Mann auf dem Fels da draußen rief, ohne daß der Ruderer sich aus diesem Grunde beeilt hätte. Dann ergriff er schließlich die Ruderblätter und ruderte wieder in ruhigem Takt zurück. Dort draußen drehte er sein Boot so, daß er seinen Gegner direkt ansehen konnte. Der Mann auf dem Fels hielt sich jetzt mit beiden Händen an der Eisenstange fest. Den Kopf auf die Brust gesenkt, schaute er auf das Wasser hinunter, das um seine Knie gluckste. Er sagte nichts, stand einfach nur so da. Es schien, als kenne er alle Worte, die nicht gesagt worden waren, und hätte Angst zu provozieren. Schließlich hob er den Kopf. Der Mond erleuchtete sein blasses Gesicht. Er ließ eine Hand los und machte eine hilflose Geste, als wollte er damit zeigen, daß ihm die Situation wohl bewußt war. Dann faßte der Mann im Boot einen Entschluß. Er drehte sein Boot so, daß er dem Mann auf dem Fels den Rücken zudrehte, und dann begann er ruhig und verhalten wegzurudern. Auf die Landspitze zu, von der er vor nicht einmal einer halben Stunde gekommen war. Der Mann auf dem Fels begriff, was da vor sich ging. »Willst du mich wirklich nicht mitnehmen?« rief er vorsichtig. Der Mann im Boot antwortete nicht. Er reagierte überhaupt nicht. Führte sein Boot mit ruhigen Bewegungen weiter. Da kam wieder Leben in den Mann auf dem Fels. »Hallo, du mußt mich mitnehmen, verdammt noch mal! Sonst krepiere ich hier, wenn du mich nicht mitnimmst!« 68
Keine Reaktion, die gleichen steten Ruderzüge wie zuvor. Weg vom Felsen, den Kurs direkt auf dem Lichtstreifen, den der Mond vor ihm aufmalte. Jetzt änderte sich die Stimme des Mannes hinter ihm. »Bleib hier, verdammt noch mal!« johlte er. »Du mußt mich mitnehmen! Hier kommen keine anderen Boote mehr vorbei!« Das wußte der Mann im Boot. Zu dieser Jahreszeit konnten Tage vergehen, bis sich wieder ein Boot zeigte. »Ich schaffe es nicht mehr lange, hörst du! Ich erfriere hier!« Auch dieses Mal keine Reaktion. Die gleiche Geschwindigkeit, der gleiche Kurs ohne die geringste Veränderung. Eine Weile blieb es hinten still. Dann kam es. »Ist es … ist es wegen der Sache mit Kaja damals? Du denkst doch wohl nicht mehr an die alte Geschichte? Du … du …« Der Mann im Boot hielt inne. Er drehte sich nicht um, sagte nichts. Blieb nur sitzen und hob die Ruderblätter aus dem Wasser. Die Tropfen rieselten in das ruhige Wasser. Dann kam das letzte Argument. »Mein Gott, das ist doch fast vierzig Jahre her! Du kannst doch nicht einfach wegrudern, nur weil …« Der Mann im Boot ließ die Ruderblätter wieder eintauchen. Es waren noch knapp dreißig Meter bis zur Landzunge, bis zu dem Moment, wo sich ihre Wege für immer trennen würden. »Aber sie selbst hat es doch gewollt! Sie hat mich darum gebeten, hörst du!« Er ließ die Ruderblätter erneut eine Weile ruhen, um zu überlegen, was er tun sollte. Dann nahm er wieder in ruhigem Takt die Fahrt zur Landzunge hin auf. Da hörte er es hinter sich platschen. Ein Platschen und ein Hilferuf. Der Mann im Boot wußte, daß der Kerl hinten auf dem Fels jetzt seinen letzten Trick versuchte. Den allerletzten Trick, den er jemals anwenden würde. 69
Er hob die Ruderblätter aus dem Wasser und blieb ruhig sitzen. Saß da und hörte das Keuchen und Platschen eines Menschen, der im herbstkalten Wasser um sein Leben kämpfte. Er schaute nicht hinter sich, blieb etwa eine Minute vollkommen regungslos auf der Ruderbank sitzen. Blieb dort sitzen, bis er nichts mehr hinter sich hörte. Dann schob er die Ruderblätter ins Wässer, umrundete die Landzunge und nahm Kurs auf sein Zuhause. Die Luft war herbstklar. Der Waldkauz hatte angefangen, oben auf dem Hügel zu rufen. Laut und klar prophezeite er Tod und Verderben.
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BIRGITTA STENBERG Ein paar Walzerschritte zu Haffners Ehren Die alte Dame Sara Bergson hatte nicht mehr als einen Liter Dickmilch und einen Laib Brot eingekauft. Sie war jedoch so klein und gebrechlich, daß es ihr ganz offensichtlich große Mühe machte, sich mit ihrer Last den Hügel hinauf nach Hause zu schleppen. Ganz oben stand ihre große Villa, durch den weitläufigen Garten sorgsam von den anderen abgeschirmt. Noch hatte sie sich seit ihrer Heimkehr nach all den Jahren im Süden nicht wieder in Schweden eingelebt. Daß sie sich hier in der frühen Herbstkälte aufhielt, lag an dem Heimweh, das sie gepackt hatte. Vielleicht hatte diese Sehnsucht etwas Fetischistisches an sich, aber sie zog diese Sichtweise vor. Eines Tages unten an der Riviera war ihr die Idee gekommen, wenn sie durch ihre Anwesenheit ihr Elternhaus nicht wieder in Besitz nähme, würde das Haus aus der Zeit ihrer Eltern und Großeltern jeden Sinn verlieren. Im Parterre lag eine separate Dreizimmerwohnung mit Küche, die im Lauf dieser Jahre bestimmt eine Reihe von Mietern gehabt hatte, doch das übrige Haus war leer und ausgestorben. Sara Bergson war zurückgekehrt, um ihre Kindheitserinnerungen zum Leben zu erwecken. Und persönliche Briefe aus den Sammlungen im Haus zu vernichten, Briefe, die die entfernten Verwandten, die sie beerben würden, nichts angingen. Die letzten Mieter waren übrigens lästig geworden. Leute von der falschen Sorte, dem Anwalt zufolge, der ihre geschäftlichen Angelegenheiten regelte. Nicht, daß es ein Problem gewesen wäre, sie loszuwerden, die Kündigung hatten sie akzeptiert.
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Zuvor war allerdings die Polizei einige Male bei ihnen aufgetaucht. So etwas gehörte sich nicht. Sara Bergson stieg keuchend die Treppe zum Hintereingang ihres Hauses hinauf und dachte, wie schön es war, daß sie das Pack los war, wie der Anwalt diese Leute nannte. Sobald sie besser beieinander war, würde sie eine Sekretärin einstellen, die ihr beim Aufräumen nach ihnen behilflich sein würde. Einstweilen war sie allein im Haus. Doch sie hatte keine Angst im Dunkeln. Sie hatte ein abenteuerliches Leben hinter sich und war es gewohnt, auf sich selbst aufzupassen. Sie lächelte bei dem Gedanken, daß man sie all die Jahre für das schwarze Schaf der Familie gehalten hatte. Jetzt war sie alt, und gegenwärtig veränderte sich so viel. Da war zum Beispiel die Tatsache, daß die Zeit so schnell verging. Sie dachte darüber nach, daß sie eben erst die Küche betreten und den Einkauf auf dem Tisch abgestellt hatte. Da war es ganz hell gewesen, sie hatte die Hecke zum Nachbargrundstück in hundert Metern Entfernung sehen können. Dann war sie quer durchs Zimmer zum Brotkasten gegangen und hatte eine Scheibe Brot abgeschnitten, mit der sie zum Tisch am Fenster zurückkehrte. Währenddessen war es draußen fast vollkommen dunkel geworden. Das konnte nicht in ein bis zwei Minuten geschehen sein. Der Gedanke war sehr unangenehm. War sie so alt, daß sie sich mit dieser Brotscheibe eine ganze Ewigkeit aufgehalten hatte, ohne es gemerkt zu haben? Und während sie darüber nachgedacht hatte, wieviel Zeit war mittlerweile vergangen? Auch in der Küche war es schon dunkel. Sie zögerte, das Licht einzuschalten. Da alles so sein sollte wie zur Zeit ihrer Eltern, hatte sie es unterlassen, Vorhänge anzuschaffen. Doch früher war es in der Welt anders zugegangen, als die Küche voller lebhafter Dienstmädchen war, ein fröhlich
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prasselndes Feuer in dem großen Holzherd brannte und immer der eine oder andere Mann vorbeigekommen war. Der Mann, der Eis für den Kühlschrank brachte, der Brennholzlieferant, der Hausknecht und der Gärtner, der Bauer, der Eier verkaufte, die Hausierer und viele andere mehr. Jetzt war sie allein übriggeblieben. Der Wind da draußen nahm in der Dunkelheit an Stärke zu. Sie zuckte zusammen, als ein Ast der schlecht gepflegten Obstbäume an der Scheibe kratzte. Mit verzerrtem Gesicht biß sie die Zähne zusammen und rief sich in Erinnerung, daß sie nicht zu denen gehörte, die sich Angst einjagen ließen. Sara Bergson wußte so gut wie niemand sonst, wie viel es wert war, einen kühlen Kopf zu bewahren. Dennoch zitterte ihre Hand, als sie sich Dickmilch in einen Teller goß und am Tisch Platz nahm, indem sie in Gedanken ihre Vorfahren um Entschuldigung bat: Sie war zu müde, um ins Eßzimmer zu gehen, wohin sie gehörte. Wie seltsam. Sie saß mit dem Profil zum Fenster. Als sie sich über das Essen beugte, meinte sie etwas zu sehen, das es da draußen im Garten einfach nicht geben konnte. Aus den Augenwinkeln nahm sie deutlich wahr, wie ein paar seltsame, graue Gestalten rasch zwischen den wild wuchernden Himbeersträuchern und dem breiten Stamm der großen Ulme umherhuschten. Auf allen vieren, wie Wölfe. Vielleicht handelte es sich um geduckte Männer mit hängenden Armen. Menschen, die dort nichts zu suchen hatten, schlichen auf ihrem Privatgrundstück umher. Natürlich konnten es spielende Kinder sein. Die verschafften sich schließlich überall Zutritt, sie überwanden Zäune und Geländer genauso unbekümmert wie Füchse und Vögel. Kinder konnten unterhaltsam sein. Kurz erwog sie, das Fenster zu
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öffnen und ihnen zuzurufen: »Hallo, ihr Kinder da! Wollt ihr nicht kurz reinkommen?« Aber nicht heute, das wäre unklug. Sie wandte sich vom Fenster ab und konzentrierte sich auf die Dickmilch, die noch immer hell im Dunkeln leuchtete. Zugleich brannte die Gewißheit in ihrem Herzen: Was sie gesehen hatte, waren keine Kinder. So sahen keine spielenden Kinder aus. Verschreckte alte Frauen riefen ständig bei der Polizei an. Doch wenn sie anriefe und es heute nur Kinder oder Hunde wären, aber beim nächsten Mal etwas weitaus Schlimmeres? Sie wußte, wie es laufen würde, wenn sie tatsächlich Hilfe gegen Gewalttäter brauchte, zuvor aber grundlos die Polizei gerufen hätte. Sie würden zu spät kommen oder gar nicht. Ihr war klar, wie man ängstliche alte Menschen behandelte – mal mit Nachsicht, mal mit offenem Hohn. Und fast immer hielt man sie für ein bißchen senil, wenn nicht gar für vollkommen verwirrt. Darum blieb sie sitzen und starrte in die Dunkelheit. Die Baumstämme setzten sich nach wie vor vom Hintergrund ab, doch das meiste andere verschmolz vor ihren Augen. Vielleicht hatte sie sich das alles nur eingebildet. Jetzt war es so dunkel, daß sie Licht machen und völlig schutzlos dasitzen mußte. Daran war nichts zu ändern. Um sich selbst zu beweisen, daß sie keine Angst hatte, mußte sie dieses Licht einschalten. Das Herz schlug schneller, als sie die Hand nach dem Kippschalter am Kabel der Tischlampe ausstreckte und ihn mit den Fingern umschloß. Zugleich hörte sie etwas, das sie in der Bewegung erstarren ließ. Sie war wie gelähmt und hielt die Luft an. Der Schreck nahm ihren Augen die Sehkraft, sie versuchte, mit ihrem ganzen Ich zu horchen, um das gehörte Geräusch zu lokalisieren. Abermals klafften Lücken in der Zeit. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie dasaß, in einer Falle der lähmenden Einsicht 74
gefangen, daß es jetzt wirklich Ernst war. All das Schwierige und Gefährliche, auf das sie vierzehn lange Tage gewartet hatte, würde jetzt eintreffen. Es gab kein Zurück mehr. Noch einmal ertönte das Geräusch, von dem sie Tag für Tag gehofft hatte, es nicht hören zu müssen: ein kurzer schwerer Schlag gegen die Zementwand unten im Keller. Er hallte durchs Haus wie das Echo einer entlegenen Detonation. Noch einer. Wieder einer. So würden sie eine Weile weitermachen. Dann würde es Ernst werden. Mein Herz ist stark, dachte sie und spürte zugleich, wie ihr Körper von seiner wilden Flucht in die Angst zurückkehrte. Wie das Blut von neuem in Wangen und Hals strömte. Sie konnte sich wieder bewegen. Sogleich ließ sie den Schalter los und stand auf, ohne Licht zu machen. Sie kannte jede Diele im Haus und stieg lautlos die Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinauf. Es hatte ihrer Mutter und ihrem Vater gehört, und die Einrichtung aus den 1870er Jahren war so gut wie unverändert. Sara Bergson bewegte sich gekonnt zwischen den Gegenständen in dem überladenen Zimmer. Hier oben wagte sie es endlich, Licht zu machen, weil die schweren Vorhänge vor den Fenstern zugezogen waren. Sie setzte sich auf die Bettkante und wartete. Ein Bett muß der strategisch günstigste Ort sein, dachte sie. Hier war sie ihnen am wenigsten im Weg. Das Hämmern war noch immer zu hören. Ihr entfuhr ein bebender Seufzer. Danach hob sie den Kopf und schnupperte. Sonderbar. Im Zimmer roch es nach Pfefferminze. Jedoch war es nicht dieser reine Duft, der der Bonbonniere ihrer Großmutter entströmt war. Das hier war etwas anderes. Es roch nach Kaugummi, als erfüllte ein Atem die Luft. Sie saß vollkommen reglos da. Einer von ihnen hielt sich bereits hier auf. Der Vorhang. Natürlich. Dahinter war er. Dahinter mußte er stehen.
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»Kommen Sie vor! Ich weiß, daß Sie hier sind.« Sara hörte verärgert, wie dünn und grell ihre Stimme klang. Sie betrachtete den dicken grünen Stoff, sah die Bewegung, als er beiseite geschoben wurde. Zum Vorschein kam das runde Gesicht eines Mannes, der seinen Zeigefinger an den Mund gelegt hatte. »Frau Bergson«, flüsterte der Mann. »Pst! Ich bin hier, um Sie zu beschützen, falls sie hochkommen.« Sie mußte ganz und gar konfus dreingeschaut haben, denn der Mann fügte hinzu, er sei von der Polizei und werde später alles erklären. »Alles ist so schnell gegangen«, fügte er hinzu und hob abwehrend die Hand, damit sie nichts erwiderte. Dann verschwand er wieder hinter dem Vorhang. Er hörte natürlich besser, so jung, wie er war, dachte sie. Das Bett schien unter ihr zu schaukeln. Jetzt würde es passieren, alles auf einmal. Sie mußten das Schloß in der ehemals vermieteten Wohnung da unten aufgebrochen haben. Jetzt kamen sie die Treppe hochgeschlichen. Sie überlegte, wie sie sich wohl beratschlagt hatten, daß zwar das Risiko bestand, daß sie die Alte zu Tode erschreckten, so alt, wie sie sei. Daß sie vielleicht nichts wisse, sie sie aber trotzdem ausfragen müßten. Denn jetzt war Eile geboten, jetzt herrschte Krisenstimmung. Die Polizei war ihnen bereits auf der Spur. Sie hatten nichts zu verlieren. Dieser freundliche Polizist hinter dem Vorhang, dachte sie, was für ein Schutzengel. Daß er zufällig ausgerechnet heute abend hier war. Das war wirklich ein Glücksfall. So viel Glück, das war fast zu schön, um wahr zu sein. War er überhaupt Polizist? Es klopfte an der Schlafzimmertür. Als sie nicht reagierte, wurde die Klinke langsam hinuntergedrückt. Im Türspalt waren schemenhaft eine Gestalt zu erahnen und ein einsam starrendes 76
Auge. Sie stierte stur zurück, während ihre mageren Hände hinauf zum Bündchen ihres hochgeschlossenen Kleides fuhren Der Türspalt wurde schnell breiter. Der Mann, der ungebeten ihr Schlafzimmer betrat, war wie ein Jogger gekleidet, und seine Schritte waren lautlos. »Verzeihen Sie, daß wir stören«, sagte er. Erst jetzt fiel ihr auf, daß hinter ihm noch ein Mann hereingekommen war, kleiner vom Wuchs, aber in der gleichen sportlichen Montur. Ihr kam die Idee, daß dies die allerbeste Bekleidung für einen Einbrecher sein mußte. Wer verdächtigte schon einen Leistungssportler bei seinem Trainingslauf, ganz gleich in welcher Umgebung? »Was hat das zu bedeuten?« fragte sie und versuchte, ihre bebende Stimme beherzt klingen zu lassen. »Ihre ehemaligen Mieter haben ein paar Wertgegenstände in der Wohnung vergessen. Wir wollten sie holen, doch sie waren nicht da unten. Da dachten wir uns, sie wüßten vielleicht, wo sie sind.« »Was für Wertgegenstände? Und wo sollen die gelegen haben? Hätten Sie nicht vorher anrufen können?« fügte sie jammernd hinzu. »Da kommen Sie her und erschrecken eine alte Frau derart.« »Wir haben angerufen, aber niemand hat abgenommen«, erklärte der Mann. Sie musterte ihn. Das war ein Dieb, alles klar. Einer mit Knasterfahrung, vermutete sie. Etwas an seiner Art verriet, daß er wahrscheinlich völlig rücksichtslos sein konnte, wenn es Ernst wurde. »Warum ist mein Mieter nicht selbst hergekommen?« fuhr sie fort. »Er ist … er ist verhindert. Sehr verhindert.« »Dann müssen Sie warten, bis er kommen kann.« 77
»Warum fragst du die Alte nicht, wer da unten gewohnt hat?« unterbrach ihn der mürrische Mann hinter ihm. Dann wendete er sich selbst an sie und sprach laut, als setze er voraus, daß sie schlecht hörte oder schwer von Begriff war. »Hat jemand anders die Wohnung gemietet? Nein? Sind unten im Keller Handwerker gewesen? Der Klempner oder so?« »Nein. Oder doch, ja, hier war jemand vom Wasserwerk«, sagte Sara Bergson und war kurz davor, einen Blick auf den Vorhang zu werfen. Erst jetzt lockerte sie den verschreckten Griff um ihren Hals. Sie mußte sich abstützen. Das Bett schien abermals unter ihr zu schaukeln, auch der Teppich, auf dem die beiden Männer standen. »Entschuldigen Sie, wenn ich mich einen Augenblick hinlege? Mir ist nicht gut«, flüsterte sie und schwang mit Mühe die Füße aufs Bett, wo sie leicht schnaufend in die Kissen sank. »Vom Wasserwerk«, wiederholte der Mann, der am nächsten stand. »Was hat er hier gemacht?« »Ich habe keine Ahnung. Er hat gesagt, er müßte die Leitungen kontrollieren. Aber ich weiß nicht, ob er es getan hat, weil ich keine Rechnung bekommen habe.« »Und darauf haben Sie sich eingelassen?« fragte der andere. »Herrgott noch mal.« »Vielleicht ist so eine Kontrolle kostenlos«, antwortete sie erschöpft. Das Gespräch nahm ein schnelles Ende, als der Vorhang zur Seite geschoben wurde und der Mann in Zivil mit gezogener Pistole zum Vorschein kam. Zugleich liefen einige uniformierte Polizisten vom Flur ins Zimmer. Die beiden Einbrecher hoben wortlos die Hände hoch und ließen sich ohne Widerstand Handschellen anlegen. Alles ging so ruhig vor sich, wie es sich
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für ein Vorkommnis im Schlafzimmer einer älteren Dame gehörte. Der Polizist in Zivil vergewisserte sich, daß sie keinen Arzt brauchte. Nachdem der Einsatzwagen alle abtransportiert hatte und sie sicher war, daß sie sich wieder allein im Haus befand, ging sie hinunter zum großen Spiegel im Salon. Dort knöpfte sie oben am Hals das Kleid auf. Die Reflexe von einem der schönsten und kostbarsten Brillantschmuckstücke fielen in Kaskaden auf ihre vor Glück strahlenden Augen. Nichts in ihrer eigenen prächtigen Diamantensammlung konnte da mithalten. Sobald sie festgestellt hatte, daß sich an der Betonwand in einer entlegenen Ecke des Kellers ein neuer feuchter Fleck gebildet hatte, hatte sie vermutet, daß sich etwas dahinter verbarg. Mit Geduld und Geschick gelang es ihr, eine kleine Schatulle freizulegen. Darin lag der Haffnersche Brillantschmuck. Sie hatte ihn gleich wiedererkannt. Sie war eine der größten Edelsteinexpertinnen der Welt, nachdem sie damit über viele Jahre ein Vermögen angehäuft hatte. Das Fassadenklettern war ihre Spezialität gewesen. In den zwanziger und dreißiger Jahren hatten die Zeitungen in aller Welt über sie als den weiblichen Flüchtigen Schatten geschrieben. Der Mieter, der die Haffnerschen Brillanten bei ihr deponiert hatte, mußte ein alter Bekannter gewesen sein. Wer es war, würde sie nie erfahren. Sehr verhindert, hatten die Diebe gesagt. Was das zu bedeuten hatte, war leicht zu erraten. In einer Tüte im Keller hatte sich noch ein Rest von nicht angemischtem Zement befunden. Sie hatte das Loch in der Wand verputzt und gewartet. Jetzt war alles vorbei. Die Einbrecher würden ihre Strafe bekommen, und auch wenn sie nicht lange dauerte, würde sie bestimmt in Ruhe gelassen werden.
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Die Diamanten funkelten in ihrer kalten Schönheit. Sie vollführte ein paar Walzerschritte vor dem Spiegel. Es war doch sonderbar, daß das Alter einen so starken Schutz darstellte. Die Umwelt nahm es offensichtlich als gegeben hin, daß die allerschwärzesten Schafe der Menschheit sofort grau wurden, sobald sie das Pensionsalter erreicht hatten.
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HANNE MARIE SVENDSEN Der Rächer Ich bin einmal einem Mörder begegnet. Mörder, das ist der technische Begriff. Vor dem Gesetz war er wahrscheinlich ein Mörder. Für mich wurde er zu einer Art Freund, dort in der Rehaklinik. Ich glaube, er hat auch etwas für mich empfunden. Er wollte, daß ich ihn verstehe, ihn als einen Racheengel sehe, der einen Unterschied zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit macht. So sah er sich selbst, als Racheengel. Das ist kein Ausdruck, den ich normalerweise benutze. Der gehört nicht in mein Vokabular. Die Welt existiert, nicht wahr? Davon gehen wir aus. Sie liegt um uns herum in ihren Farben, die doch nur von unseren Augen geliehen wurden. Sie ist passiv, abwartend, folgt ihren eigenen Gesetzen. Gerechtigkeit und Rache, das sind altmodische Begriffe, nicht zu gebrauchen. Sie haben nichts mit meiner Welt zu tun. Für ihn jedoch sind sie ganz natürlich. Er hat sozusagen sein Leben nach ihnen eingerichtet. Ich träume nachts immer wieder von ihm. Immer den gleichen Alptraum. Ich gehe einen Strand entlang. Rechts von mir, auf dem weißen Steilhang, wiegt sich das Seegras im Wind. In einer Mulde weiter unten liegt eine graue Stadt mit eckigen Fabrikgebäuden und hohen Schornsteinen. Dann zieht der Nebel heran, nicht vom Meer her, sondern von der Stadt. Er nimmt Form an, bildet Figuren, wird zu großen Schwänen, die sich übereinandertürmen wie Akrobaten im Zirkus. Einige von ihnen stehen auf dem Kopf, die Flügel ausgebreitet, und ich kann den Himmel hinter dem löchrigen 81
Filigranmuster der Flügel sehen. Die Vögel rollen auf mich zu, riesenhafte Eiskristalle gegen den grauen Himmel. Ich laufe, um aus ihrer Bahn zu entkommen, doch sie gleiten einfach durch mich hindurch, sie haben keine Substanz. Anschließend kommen die Tiere, Bären, Wölfe, Löwen, auch sie sind grau und farblos. Sie laufen auf leichten Pfoten über den Sand, sie fliehen den Strand entlang. Dann heben sie ab. Ich folge ihnen mit meinem Blick und sehe, wie sie sich einen Augenblick lang am Himmel abzeichnen, bevor sie fort sind. Als ich mich wieder umdrehe, ist er es, der mir in seinem Rollstuhl entgegenkommt. Er fährt schnell, der Sand spritzt von den Rädern auf. Dann macht er mir ein Zeichen mit der Hand und biegt zum Meer hin ab. Das Wasser steigt, das Ufer mit seinen Kieseln und Steinen ist in den Wellen verschwunden. Wo ist er? Ich kann ihn nicht mehr sehen. Ich werfe mich in das graugrüne Wasser, meine Füße treffen auf den Grund, ich stoße mich ab, kann aber wegen der schleimigen Algenlianen, die sich um meine Beine winden, nicht an die Oberfläche gelangen. Durch das Wasser hindurch kann ich weit draußen den Rollstuhl sehen. Er schwimmt kopfüber im Wasser. Dann ist es, als zöge mich ein heftiger Sog hinaus, und ich wache schreiend auf. Ich weiß nicht mehr genau, wann meine Alpträume begannen. Es war, nachdem ich wieder nach Hause gekommen war, und nach den Telefonanrufen. Doch das hat nichts miteinander zu tun. Ich kann keinen Zusammenhang darin sehen. Denn jemand anders tut das offenbar. Es miteinander verknüpfen, meine ich. Zumindest oberflächlich. Es gibt keine Risse, oder die Leute können zumindest keine Risse sehen. Sie gehen über die Oberfläche und merken nicht, daß es unter ihnen 82
schwankt. Sie spüren nicht den Sog aus der Tiefe, die Angst, die große Unschlüssigkeit. Sie gehen einfach weiter. Mein Mann ist Historiker. Mein Exmann. Er forscht und schreibt Bücher über die Besatzungszeit. Er berichtet, wie es damals war. »Wie kannst du so sicher sein?« frage ich. »Wie kannst du so sicher sein, daß du die Wahrheit gefunden hast? Du warst doch nicht selbst dabei.« »Genau deshalb«, antwortet er. »Genau deshalb kann ich einen kühlen Kopf bewahren und mein Quellenmaterial objektiv beurteilen.« Ich glaube, er hat recht. Das hat er in der Regel. Er ist äußerst angesehen. Manchmal überlege ich, ob er auch mich objektiv beurteilt. »Du brauchst eine Zeit der Rekonvaleszenz«, sagte er, als er mich im Krankenhaus abholte. »Ich habe einen Ort gefunden, der dir guttun wird, ein richtiges dänisches Idyll. Was hältst du davon? Dort hast du deine Ruhe und kannst all die kranken Gedanken aus dem Kopf kriegen. Und vielleicht sogar neue Freunde finden.« Wir kamen überein, daß er mich während meines Aufenthaltes nicht besuchen sollte. Jetzt will ich versuchen nachzudenken. Jetzt will ich versuchen, alles vor mir zu sehen. Die Rehaklinik, ja, da ist sie. Ein niedriges, gelbes Gebäude, das an keiner Hauptverkehrsstraße liegt. Es liegt an überhaupt keiner Straße. Wenn man jedoch einem Kiesweg folgt und durch eine Allee mit hohen Bäumen fährt, dann taucht das Haus hinter Hügeln und grünen Büschen auf. Es ist im Schutze eines Abhangs gebaut worden, dessen Grund geebnet wurde, so daß vor dem Haus eine breite Terrasse 83
mit Zugang zu den herabfallenden Rasenflächen verläuft. Im rechten Winkel zum gelben Haus stehen zwei Seitenflügel, wahrscheinlich später gebaut und ohne architektonischen Zusammenhang mit dem Hauptgebäude. Mein Mann – damals war er das noch – hatte wieder einmal recht gehabt. Das Haus strahlte reines dänisches Idyll aus, umgeben von Blumenbüschen und Kletterrosen, deren Farben in der Mittagssonne scharf hervortraten. Es war ganz still. Die Sonne blitzte in den unterteilten Fensterscheiben auf. Auf einem Fensterbrett war eine Reihe von Puppenköpfen ausgestellt. Sie starrten mich mit klaren Glasaugen aus ihren Porzellangesichtern an. Hinter ihnen konnte ich ein weiteres Gesicht erkennen, bleich mit dunklen Augen, das mir zuzwinkerte, bevor es verschwand. Ein langhaariger schwarzer Hund mit braunen Flecken um die Schnauze kam aus einem Nebengebäude und trottete in eine Ecke der Terrasse. Die Sonne ließ die Pflanzen, die auf dem Abhang wuchsen, dampfen. Sie strotzten vor Kraft, ihre großen Blätter beugten sich über mich und wehten leicht in der Brise. Ein Stück entfernt führte ein kleiner Weg hinauf. Ich setzte mich auf einen Gartenstuhl und wartete, ob nicht jemand herauskommen und mich willkommen heißen würde. Aber das war hier offenbar nicht üblich. Plötzlich saß er im Rollstuhl neben mir. Ich konnte nicht sagen, wo er hergekommen war. Die großen Gummiräder mußten ihn lautlos aus dem Haus befördert haben, einen alten Mann, der in seinem Stuhl mehr hing als saß. Eine grüne Raupe, die offenbar aus dem Blattwerk heruntergefallen war, kroch zwischen den Bartstoppeln auf seinem Kinn entlang. Das sah dekorativ aus, und ich spürte keinerlei Drang, ihn darauf aufmerksam zu machen. Offenbar störte es ihn nicht. »Sind Sie zu Gast hier?« fragte er. »Hierher kommen nicht viele Gäste.«
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»Eine Art Gast«, bestätigte ich und empfand keinerlei Bedürfnis, ihn in meine Geschichte einzuweihen. »Es scheint ein hübscher Ort hier zu sein.« »Ein einigermaßen hübscher Ort«, nickte er, »wenn man so etwas schätzt.« Wir saßen eine Weile schweigend nebeneinander. Aus dem Haus konnte ich eine Uhr schlagen hören. Kurz darauf trat eine Frau aus der Tür. Sie trug ein gestreiftes graues Kleid mit einer weißen Latzschürze darüber. Auch ihr Haar war grau gestreift, es war in einem tiefen Knoten im Nacken gesammelt. Ihre Augen wirkten unnatürlich groß hinter der großen Brille. »Willkommen«, sagte sie und drückte mir förmlich die Hand. »Wir haben Sie nicht so früh erwartet. Aber wie ich sehe, haben Sie sich ja schon mit Martin bekannt gemacht.« Er rollte den Rollstuhl ein Stück zur Seite, als wäre ihm ihre Nähe unangenehm. »Ich werde Ihnen jetzt Ihr Zimmer zeigen.« Sie hob meinen Koffer auf und zeigte zur Tür. »Machen Sie sich keine Gedanken über Martin, er ist etwas instabil, man darf ihm nicht immer alles glauben, was er erzählt.« Wir gingen durch eine Stube mit schweren Polstermöbeln. Auf kleinen Anrichten stand Nippes, Fotos in Ornamentrahmen und Vasen mit Trockenblumen. Das Licht fiel spärlich durch die kleinen Scheiben herein, die zur Hälfte mit Häkelgardinen verdeckt waren. Der Raum wirkte dunkel und etwas muffig, auch die gebundenen Bücher hinter den Vitrinenscheiben schienen Feuchtigkeitsflecken zu haben. »Wenn das Wetter schlecht ist, können unsere Gäste hier drinnen sitzen«, erklärte meine Führerin und ging voran eine Treppe hinauf und oben einen Flur entlang, bis sie vor einer der Türen stehenblieb. »Es ist offen, hier brauchen wir nicht 85
abzuschließen. Aber wenn Sie das wünschen, können Sie natürlich einen Schlüssel bekommen.« Ich bedankte mich für ihre Mühe, nahm den Koffer und ging hinein. Es war ein längliches Zimmer, spartanisch eingerichtet mit Bett, Schreibtisch, einem Lehnstuhl aus hellem Holz und einem Waschbecken in einer Ecke. Ich machte mir keine Gedanken, daß das Wetter schlecht werden könnte, würde in diesem Fall aber doch das Zimmer der Stube vorziehen. Am Nachmittag ging ich auf den Abhang hinter dem Haus. Weit in der Ferne konnte man das Meer sehen. Ein Windsurfer in schwarzem Gummianzug klammerte sich an ein Segel. Dann kippte es um, tauchte ins Wasser, und als das Brett sich wieder aufrichtete, war der Mann verschwunden. Ich ging davon aus, daß er bald wieder auftauchen würde. Oder sie. Es konnte ebensogut eine Frau sein. Auf dem Rasen lief eine schmächtige Frau mit zerzaustem Haar herum und harkte das Gras mit einem Gummirechen zusammen. Sie schob es zu Haufen zusammen, und wenn ein Haufen groß genug war, verstreute sie es wieder. »Warum machen Sie das?« fragte ich. »Das ist doch vergebliche Mühe.« »Ich muß was zum Harken haben«, erklärte sie mir lächelnd. Ihre Zähne waren viel zu weiß. Wenn sie den Mund öffnete, schien es, als würde ein künstliches Licht eingeschaltet. »Zu Hause sind wir doch so erzogen worden, daß man immer etwas tun soll.« Später, als ich auf dem Weg zum Essen war, begegnete ich ihr wieder. »Ich muß jetzt nach Hause«, sagte sie. »Ich muß nach Hause zu meinem Sohn. Ohne mich kommt er nicht zurecht. Aber erst muß ich in mein Zimmer und meinen Koffer holen. Wissen Sie, wo mein Zimmer ist?«
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Sie sah mich flehentlich an. Ich fühlte mich verpflichtet, ihr zu helfen, und klopfte an die nächste Tür. Ein Mann mit einem Kopf wie eine Billardkugel erschien in der Türöffnung. »Sie wohnt im anderen Flügel«, sagte er. »Ich werde sie hinbringen, das bin ich schon gewohnt.« »Sie will nach Hause«, sagte ich. »Sie will nach Hause zu ihrem Sohn.« »In der Regel können sie sie immer überreden, noch bis zum Essen zu bleiben. Und hinterher hat sie es vergessen. Sie hat keinen Sohn mehr. Der ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.« Der glatzköpfige Mann erschien normal. Ich war froh, einen normalen Menschen in diesem Erholungsheim getroffen zu haben. Beim Kaffee im Wohnzimmer setzte ich mich neben ihn. »Ich sehe, daß sie mich betrachten«, sagte er. »Sie wollen sicher gern wissen, wie ich glatzköpfig geworden bin. Das werde ich Ihnen erzählen. Ich war Seemann auf großer Fahrt. Ich war fast nie daheim bei meiner Frau. Sie hat sich einen anderen genommen, und ich bekam solche Hörner.« Er verstummte, drückte die Daumen auf die Schläfen, so daß die anderen Finger von der kahlen Stirn abstanden. »Solche Hörner. Es hat lange gedauert, sie wegzukriegen. Die Haare sind gleich mit ausgefallen. Jetzt bin ich an Land gegangen und züchte Tauben. Die sind zuverlässiger.« Er wartete auf meine Reaktion. Als ich nichts sagte, fuhr er fort: »Aber ich trinke zuviel. Wenn ich da bei den Tauben hocke und Staub und Dreck rieselt, dann brauche ich ein Bier. Hier sind sie schrecklich puritanisch.« Er sah mich an. »Aber ich habe was reingeschmuggelt, ich kann nicht ohne ein Bierchen.« Ich nickte. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.
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»Es gibt niemanden, der weiß, wo die Geschlechtsteile bei den Tauben sitzen«, sagte er plötzlich. »Ich habe versucht es zu untersuchen, aber ich habe nichts finden können.« Ich schaute auf seine Hände. Sie waren groß und breit, die eine krümmte sich unruhig um die Kaffeetasse. »Haben Sie die Puppenköpfe gesehen?« fragte er. »Das sind meine. Ich hab die Erlaubnis gekriegt, sie am Fenster aufzustellen.« Als ich zurück in mein Zimmer ging, dachte ich, daß ich es hier nicht lange aushalten würde. Die Tage vergingen. Ich las ein wenig in den Büchern mit den Stockflecken. Die Auswahl war begrenzt. Das meiste waren Berichte von Missionsärzten auf gefahrvollen Missionen nach China oder Südamerika. Sie wurden verfolgt von Regierungstruppen, wanderten über nebelumhüllte Berge, schliefen in Höhlen und gingen standhaft weiter, bis sie dem Tod begegneten. Ab und zu konnte ich ein Telefon klingeln hören, aber es war nie für mich. Wie wir es abgesprochen hatten. Nachmittags setzte ich mich auf die Terrasse unter die großen, schattenspendenden Bäume. Die Dame harkte das Gras auf dem Rasen zusammen, verteilte es wieder, harkte zusammen und verteilte. Sie hatte etwas zu tun. Ich saß da und schaute auf meine Hände. Jetzt zitterten sie nicht mehr. »Haben Sie sich nie überlegt, einen Menschen umzubringen?« Martin war auf seinen lautlosen Rädern zu mir herangerollt. Die Blätter warfen Licht und Schatten auf sein Gesicht, ich konnte ihn in der gleißenden Sonne kaum sehen. »Vielleicht schon«, antwortete ich. »Das denkt man wohl ab und zu einmal.« »Einen, den Sie gehaßt haben, der verdient hat zu sterben?«
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»Wir haben einen Rechtsstaat«, sagte ich. »Und außerdem bin ich nicht für die Todesstrafe.« »Einen Rechtsstaat! Sie könnten besser sagen, einen Unrechtsstaat. Ich habe gegen ihn als Zeuge ausgesagt, aber sie haben ihn aus Mangel an Beweisen freigelassen.« »Von wem reden Sie?« »Von dem Mann, der meinen Vater umgebracht hat.« »Martin ist nicht mein richtiger Name, das ist ein Deckname«, sagte er am nächsten Tag. »Man braucht mehrere Namen, sonst kann man sich nicht verstecken.« »Aber weiß man dann noch, wer man selbst ist?« »Sie sind zu jung. Sie verstehen das nicht. Die Jungen verstehen nicht, wie es damals war.« »Könnten Sie nicht etwas konkreter werden?« schlug ich vor. »Damals, was bedeutet damals?« »Damals, als alles passierte. Damals, als es noch einen Zusammenhang gab. Sie verstehen das nicht, Sie leben nur in Bruchstücken. Sind Sie daran erkrankt?« Er beugte sich zu mir vor, seine Arme baumelten über die Seiten des Rollstuhls. »Sie schaffen es nicht, in Bruchstücken zu leben.« »Darauf muß man sich wohl einstellen«, sagte ich. »Mein Mann ist Historiker. Historiker schaffen Zusammenhänge.« »Falsche Zusammenhänge. Diese jungen Historiker, die wissen gar nichts. Sie nehmen sich die Frechheit, einzuschätzen und zu beurteilen. Die sollten gebremst werden. Das sollte ihnen nicht erlaubt sein.« Er ruckelte in seinem Stuhl hin und her. Jetzt umklammerte er die Armlehnen. Ich zog mich etwas auf der Bank zurück und wartete, daß er ruhiger wurde.
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»Ich habe Medaillen«, sagte er. »Medaillen in Gold und Platin. Die sollen sie mir auf die Brust legen, wenn ich begraben werde, zusammen mit der Flagge. Die Flagge soll mich zudecken, und darauf ein Blumenstrauß in rot, weiß und blau. So will ich begraben werden.« »Ich weiß nicht so viel über den Widerstandskampf. Ich war damals noch nicht geboren. Good guys gegen bad guys. Und trotzdem. Im nachhinein bekommt man ja einen nuancierteren Blick auf die Verhältnisse.« »Einen nuancierteren Blick? Und was ist mit der Gerechtigkeit?« Die Sonne war hinter den grünen Blättern untergegangen. Ein paar Vögel riefen in der Ferne. Ich stand auf und fuhr ihn ins Haus. Am Eßtisch saß er für sich und wollte mit niemandem reden. Jeden Tag begegnete ich Martin auf der Terrasse, und langsam entwickelte sich eine Art Vertraulichkeit zwischen uns. In der Regel behandelte er mich mit altmodischer Höflichkeit, hörte zu, was ich sagte, bevor er seine gegenteilige Meinung kundtat. Ich war diejenige, die vorschlug, daß wir uns doch duzen sollten. Am nächsten Tag kam ein Bote mit einem Strauß roter Rosen zwischen weißen und blauen Sommerblumen. Er lächelte verlegen, als ich mich bedankte. Wir unterhielten uns über viele Dinge. Ich war der Meinung, er sei der einzige, mit dem ich sprechen könne über die Angst und die Unsicherheit in meinem Leben, das auseinanderzubrechen drohte. Ab und zu erfuhr ich auch Bruchstücke seiner Geschichte, über seinen Vater, der im Widerstand gewesen war, von einem jungen Dänen in deutscher Uniform umgebracht wurde, und über Martin selbst, der den Posten des Vaters und hohe Verantwortung für große Sabotageaktionen übernehmen mußte. Ich kann mich nicht mehr an die Details erinnern. Es war 90
eine Geschichte mit Sprengstoff und Fluchtwegen, wundersamen Rettungen, Gefangenschaft, Folter und einer fingierten Hinrichtung, bei der er sich geweigert hatte, die Augenbinde anzulegen. Manchmal fragte ich mich, ob er nicht ein wenig prahle. Was er erzählte, war mir fremd und altmodisch, ein Schwarzweißfilm mit dem jungen Martin in der Heldenrolle. Und so sollte ich ihn sehen. Nicht den alten Mann im Rollstuhl, für den anscheinend so ziemlich alles schiefgelaufen war. »Glaubst du an Gerechtigkeit?« fragte er mich eines Tages. Der Herbst lag in der Luft. Ich erinnere mich, daß ich dort auf der Terrasse etwas fröstelte. »Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Der Begriff gehört nicht so recht in meine Welt.« »Man muß an Gerechtigkeit glauben, sonst kann man nicht leben«, fuhr er fort. »Es muß eine Grenze zwischen den Gerechten und den Ungerechten gezogen werden.« An dem Nachmittag erzählte er mir, wie er den Mörder seines Vaters getötet hatte. »Ich bin der Meinung, daß du das wissen sollst«, erklärte er. »Du sollst das mit mir teilen. Es verging kein Tag, an dem ich nicht an ihn dachte. Sie hatten ihn freigelassen, er war verschwunden, aber ich hatte ihn nicht vergessen. Und die Kameraden von damals, die hatten ihn auch nicht vergessen. Sie versuchten ihn für mich aufzuspüren. Letzten April kamen vier meiner alten Freunde in meine Wohnung. Sie hatten den Feind lokalisiert. Er wohnte irgendwo auf einer Insel. Und dann haben sie die Aktion vorbereitet.« Sie kauften eine Kiste Bier und stellten den Fernseher an. Zwei der Freunde, die am meisten Gehprobleme haben, blieben in der 91
Wohnung. Die anderen beiden transportierten Martin im Rollstuhl hinunter in einen Kleinlaster und fuhren ihn zur Fähre. Während der gesamten Überfahrt blieb er im Wagen sitzen, die Pistole in einer Plastiktüte auf dem Schoß. »Sie fuhren mich in die Stadt, wo er wohnte, und bekamen mich in den Fahrstuhl hinein. Sie klingelten an einer Tür, und er kam heraus. Ich wußte, das war der Feind. ›Nein, nicht‹, sagte er, als er mich sah. ›Nicht.‹ Dann habe ich ihn erschossen. Ich habe aufwärts gezielt, weil ich ja im Rollstuhl saß. Auge um Auge, Zahn um Zahn.« Frühmorgens waren sie zurück. Das Alibi war gesichert. Die Nachbarsfrau konnte bestätigen, daß Martin die ganze Nacht durchgefeiert hatte. »Das ist nicht wahr«, sagte ich. Jetzt war die Sonne ganz verschwunden, die Kälte kroch in uns hinein. »Ich glaube nicht, daß das wahr ist. Das ist doch krank. Das ist etwas, das du geträumt hast. Vielleicht hast du dich geirrt. Und außerdem hat der Mann sich ein Leben geschaffen. Hast du nie daran gedacht, daß er vielleicht eine Familie hatte, Kinder?« »Du bist genau wie die anderen. Du verstehst gar nichts. Das mußte getan werden«, sagte Martin. Am nächsten Tag war die kleine Dame mit dem Rechen verschwunden. Eine umfangreiche Suche in der Umgebung führte zu keinem Ergebnis. Martin sah ich auch nicht wieder. Ich klopfte an seine Tür, doch er antwortete nicht. »Er möchte mit niemandem sprechen. Jetzt will er auch noch das Essen auf sein Zimmer gebracht kriegen«, erzählte die Leiterin. »Er macht immer solche Umstände.« »Ich werde morgen abfahren«, sagte ich. »Könnten Sie mir ein Taxi besorgen?«
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Für kurze Zeit zog ich wieder mit meinem Mann zusammen. Wir wollten versuchen, einen gewissen Zusammenhang in unserem gemeinsamen Leben zu schaffen. Das funktionierte nicht – doch das ist eine andere Geschichte. In dieser Zeit veröffentlichte er sein neues großes Werk über die Besatzungszeit, eine kritische Sichtung des Quellenmaterials, zu dem er Zugang hatte. Das Buch wurde gut aufgenommen, und er war häufig in den Medien. Ich erzählte ihm nichts von den Telefonanrufen. Ich hätte es tun sollen, traute mich aber nicht. Er hätte es mir doch nicht geglaubt. Er hätte behauptet, daß ich nur nervös sei und auf dem Weg zu einem neuen Zusammenbruch. Sie kamen nachts, wenn er schlief. Eine Stimme, die ich kannte, flüsterte in den Hörer: »Warum hast du dich dafür entschieden, unter den Ungerechten zu leben? Du bist verloren. Wir rächen uns. Wir kriegen euch.« Am nächsten Morgen war ich mir nicht sicher, ob ich wirklich aus meinem Bett aufgestanden und ans Telefon gegangen war. Ich versuchte Martin im Telefonbuch nachzuschlagen, aber er stand nicht drin. Schließlich war es ja auch nur ein Deckname. Ich hätte natürlich mit jemandem darüber sprechen sollen. Ich hätte ihn anzeigen sollen. Man kann doch so einen Menschen nicht frei herumlaufen lassen, einen Anachronismus, einen potentiellen Mörder, eine geistig verwirrte Person, die in der Vergangenheit lebt. Oder ein alter, verwirrter Mann, verloren in Racheträumen und ohne Verständnis für die Welt, in der er heute leben mußte. Dann hörten die Telefonanrufe auf. Ich dachte, daß er vielleicht tot sei … und begraben, eingehüllt in seine Flagge, mit einem Blumengesteck in Rot, Weiß und Blau auf der Brust zwischen den Medaillen.
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Aber ich sehe ihn in meinen Alpträumen. Das Merkwürdige dabei ist, daß ich eine gewisse Zärtlichkeit für ihn verspüre, wenn er mir am Seeufer entgegengerollt kommt. »Warte«, rufe ich. »Das ist ein falscher Zusammenhang, den du dir da hergestellt hast. Rache ist zu nichts nutze. Sie führt nur zu neuer Ungerechtigkeit. Warte, du mußt versuchen, das zu verstehen.« Doch der Rollstuhl wirbelt in den Wellen herum, bis er verschwindet, und ein starker Sog zieht mich hinaus.
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EDDA MAGNÚSDÓTTIR Fischabfälle Der Nordwind blies den Schnee zu hohen Schneewehen vor die Fenster der Häuser, die in der Dorfstraße standen, und der Frost fror sie dort sofort fest. Aber nicht alle wohnten in warmen Häusern, nicht mehr alle. Jói hauste jetzt in einem kleinen Schuppen unten am Anleger, im Reich der Möwen. Es war kalt in seinem Schuppen, außer wenn er gerade Kartoffeln und Fisch auf dem Kohlenherd kochte. Jói wußte sehr wohl, daß es bei den Dorfbewohnern, die zu dieser Stunde im Versammlungshaus traditionelles isländisches Essen verschlangen und Branntwein hinuntergossen, keinen Kochfisch gab. Der Lärm war nicht zu überhören und das Licht nicht zu übersehen. Wie gewöhnlich kümmerten sie sich nicht darum, daß sie Jói um seinen Schlaf brachten, wenn sie betrunken und überdreht die ganze Nacht herumkrakeelten. Am nächsten Morgen würden sie schnarchend in ihren warmen Betten liegen, dann tattrig und mit einem Kater zum Sonntagsgottesdienst gehen und zur Ehre Gottes Kirchenlieder singen. Jói kannte dieses Leben gut aus der Zeit, als er noch zu den Menschen gezählt wurde und Gelegenheit hatte, alles zu genießen, was das Dorfleben bot. Er war hier geboren und hatte hier sein ganzes Leben verbracht. Aber das war lange her. Anfangs ging es ihm sehr gut. Er heiratete und bekam vielversprechende Söhne. Doch Bacchus lauerte ihm auf, wurde sein Gebieter und beherrschte immer mehr sein Leben. Voriges Jahr, am Tag nach dem Winterfest, hatte seine Frau aufgegeben und war mit den Jungen nach Reykjavik gefahren. Danach hatte er sich wochenlang dem Branntwein hingegeben. Eines Nachts hatte er sturzbetrunken versucht, sich eine Zigarre anzuzünden, und war auf dem Wohnzimmersofa eingeschlafen. In Sekunden95
schnelle hatte sein Haus in Flammen gestanden. Alles, was nur verbrennen konnte, war verbrannt. Zwar war es ihm gelungen, den Flammen zu entkommen, aber er war dem Tode näher gewesen als dem Leben. Außer diesem schiefen, dreckigen Schuppen, seinem einzigen Zufluchtsort, war ihm nichts geblieben, als er aus dem Krankenhaus zurückkam. Niemand wollte einem Mann, dessen Gesicht von Narben entstellt und dessen Stimme gebrochen war, Arbeit geben. Er erhob die geballte Faust in Richtung Versammlungshaus und glaubte, lauter zu schreien als die Möwen, die den ganzen Tag um seinen Schuppen kreischten. Sie waren die einzigen lebendigen Geschöpfe, die in seiner Nähe sein mochten. Ja, die Möwen. Plötzlich kam ihm eine Idee. Sicher konnte er sie gebrauchen, um sich an dieser elenden Welt zu rächen, in der er sein Leben fristete, falls man es denn überhaupt Leben nennen konnte. Jói tappte hinaus in die Dunkelheit und stopfte die ganze Nacht Fischabfälle in schwarze Säcke. Danach stellte er die Säcke sorgfältig auf einen ziemlich unbrauchbaren Schlitten, den er am Strand gefunden hatte. Als er mit allem fertig war, warf er sich im Schuppen auf sein halb gefrorenes Lager und hielt sich wach. Sobald er am kleinen Fenster das Morgengrauen erkennen konnte, machte er sich mit dem schweren Schlitten im Schlepptau auf den Weg. Jói sah die Leute vor sich, die sich völlig erschöpft in ihre weichen, warmen Betten gelegt hatten. Er schlich zu den Häusern an der Dorfstraße, eins nach dem andern, und schüttete die Säcke mit den Abfällen auf den Schneewehen aus, die sich dicht vor den Fenstern auftürmten. Dann setzte er sich am Ende der Straße auf einen Stein und wartete auf seine Freunde, die Möwen. Im Schein der aufgehenden Sonne erschienen sie und fielen schreiend über die Fischabfälle her, die vor den Fenstern der schlafenden Leuten auf sie warteten. Es dauerte nicht lange, bis Männlein und Weiblein, die sich in unterschiedlich guter 96
körperlicher Verfassung befanden, aus den Häusern herausstürzten. Sie tobten brüllend und wütend umher, wobei sie mit leeren Flaschen und Sachen warfen, die sie gerade zur Hand hatten, und mit Decken und Lappen um sich schlugen. Einer kam sogar mit einem Gewehr heraus und feuerte auf die Möwenschar, die aber nur um so aufgeregter und größer wurde, je schlimmer sich die Leute benahmen. Jói bog sich vor Lachen. Er gab allerdings nur klägliche Laute von sich, und sein von Narben entstelltes Gesicht bewegte sich nicht. Doch in seinen Armen steckte genug Kraft, und mit denen schlug er wie die Möwen mit ihren Flügeln. Als die Polizei kam, begannen Jóis Augen zu strahlen. Jetzt bekäme er auf der Wache etwas zu essen und ein warmes Bett. Jói kannte den Ort, er hatte sich ja schon Verschiedenes ausgedacht, um dorthin zu kommen, wenn Kälte und Einsamkeit ihn überwältigten. Die Flammen von Jóis brennendem Schuppen erhellten die Abenddämmerung. Die Dorfbewohner glaubten, daß sie sich an Jói rächen würden, aber das Gegenteil war der Fall. Jetzt mußten sie ihm einen neuen Aufenthaltsort beschaffen. Jói war voller Erwartung, als er in Reykjavik die Polizeiwache betrat. Er schaute durch die Jalousie. Der Sund lag friedlich und schön in der lieben Wintersonne da. Mit strahlenden Augen und überglücklich legte sich Jói ins warme Bett.
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LIS VIBEKE KRISTENSEN Eine kleine Sopranistin Sophies nicht übermäßig hohe Absätze klippern und klappern energisch über den abgenutzten Terrazzoboden des Kellerflurs. Wenn Daniel seine übliche Verspätung einhält, schafft sie es nicht nur, die Kaffeemaschine in seinem Büro anzustellen. Sie kann auch noch die rosa Herbstanemonen, die sie bei der Frau an der Bushaltestelle gekauft hat, in die Kristallvase auf seinem Schreibtisch ins Wasser stellen. Die Vase gehört Sophie. Sie hat sie von ihrer Großmutter geerbt und Daniel vor einem Jahr geliehen, als die erste Platte des Chors herausgekommen war und die Gratulationssträuße reinströmten. Sie hat sie nie zurückgefordert. Jede Woche füllt sie sie mit den jahreszeitgemäßen Blumen. Sie weiß nicht, ob Daniel das bemerkt, denn er hat dieses Phänomen nie kommentiert. Aber ihre eigene Freude über die kleine Geste ist auf jeden Fall wichtiger. Sie sucht in ihrer vollen Schultertasche nach dem Schlüssel. Der Schlüssel für Daniels Büro hängt an einem kleinen Schlüsselring mit einem Medaillon des heiligen Christophorus, das, wie Sophie annimmt, von Daniels frommer Mutter stammt. Auch wenn sie sich nie begegnet sind, spürt Sophie eine sonderbare Verwandtschaft mit Daniels Mutter, eine Art Verbundenheit, die auf der gemeinsamen Sorge für Daniel basiert. Eine Mischung aus Respekt für die Mutter und dem unbestimmten Gefühl, daß es zu intim wäre, hat Sophie davon abgehalten, den Schlüssel an ihrem eigenen Schlüsselbund anzubringen, auch wenn es viel praktischer wäre. Sie fühlt den Schlüssel mit den Fingerspitzen ganz unten in der Tasche und zieht ihn geschickt zwischen Büchern und Heften hervor. Vor Daniels Tür steht William, der große Schwarze, dessen tiefer Bariton der männlichen Chorseite die goldene Schwere 98
gibt, im Gespräch mit einem kurzhaarigen Mädchen. Die knielange Hose des Mädchens ruft auf Sophies Stirn ein mißbilligendes Kräuseln hervor. Sie grüßt William, für den sie doch sonst eine gewisse Sympathie hegt, verhalten. Auch wenn es ihr nicht leichtfällt, versucht sie seine Freundin zu ignorieren, die herbeispringt und ihren Notenstapel davor rettet, auf den Boden zu fallen, als Sophie versucht, das verflixte Sicherheitsschloß zu öffnen, ohne etwas abzulegen. Daniel geht kein Risiko ein, seit ein paar Studenten im letzten Jahr das alte Schnappschloß aufgehebelt und mit einer der ausländischen Studentinnen als Stripteasetänzerin auf dem Flügeldeckel ein Varieté veranstaltet haben. Sophie bekommt schließlich die Tür auf und wendet sich William zu. »Hast du einen Termin bei Daniel?« Die Dienstagnachmittage sind reserviert für das Durcharbeiten von Notenmaterial, für die Planung von Einstudierungen und Konzerten und, nicht zuletzt, für die Vorbereitung der abendlichen Chorprobe. Darin sind sich Sophie und Daniel vollkommen einig. Trotzdem geschieht es gar nicht selten, daß Daniel in seiner Zerstreutheit andere Verabredungen getroffen hat. Der Universitätschor ist, trotz seines Amateurstatus, ein begehrtes Ensemble, unter hoffnungsvollen Sängerinnen und Sängern ebenso wie unter einer wachsenden Schar von Konzertarrangeuren. Auch wenn Sophie nicht im Traum anzweifeln würde, daß es Daniels Verdienst als Dirigent des Chors und künstlerischer Leiter ist, so weiß sie ehrlich gesagt nicht, wie das alles zu schaffen wäre, wenn sie nicht all die organisatorischen Arbeiten in fester Hand hielte. »Ich nicht.« William hat seine braune Pranke auf den aschblonden Kopf des Mädchens gelegt. »Sie hier. Sie singt Sopran.« Sophie betrachtet das Mädchen abschätzend. 99
»Vorsingen findet freitags zwischen siebzehn und achtzehn Uhr statt«, erklärt sie kurz. Sie geht ins Büro, legt die Noten auf die Klavierbank und den eingepackten Strauß auf eine Ecke von Daniels überfülltem Schreibtisch. William und das Mädchen folgen ihr, bevor sie die Tür schließen kann. Das Mädchen schiebt die Unterlippe vor und legt den Kopf kindlich zur Seite. »Daniel hat gesagt, daß ich jetzt kommen könnte. Ich fahre Freitag ins Wochenende, und ich würde gern beim Herbstkonzert mitmachen.« Verwöhnte Rotzgöre, denkt Sophie. Laut sagt sie: »Es ist ja gar nicht sicher, daß du mitmachen kannst, auch wenn du die Aufnahme schaffst. William«, sie nickt ihm zu, »kann dir bestätigen, daß der Chor bereits eine sehr starke Soprangruppe hat.« Sophie selbst singt Sopran. Ihre Mutter, eine Musiklehrerin, die Kindern aus besserem Haus Klavier- und Notenunterricht gibt, betont immer Sophies gutes Gehör. Seltener spricht sie von der Stimme ihrer Tochter. Sophie weiß selbst, daß ihre Stärke eher in der Präzision als im Klang oder in der Fülle ihrer Stimme liegt. Der Spitzname »Metronom-Muse«, den sie tapfer ignoriert, hat sie verfolgt, seit sie als Zehnjährige im Chor der Sonntagsschule zu singen angefangen hat. William schaut unschlüssig von einer zur anderen. Sophie nimmt an, daß es seine Idee war, das Mädchen in den Shorts im Chor singen zu lassen. Es fällt ihm schwer, die Augen und Hände von ihr zu lassen. »Öh«, sagt er. Im gleichen Moment wird er von Daniel gerettet, der durch die Tür hereinrauscht, schwer bepackt mit einer riesigen Holzkiste voller Steinbrocken. Daniel ist, genau wie Sophie selbst, von Berufs wegen Geologe. Als Dozent hat er aufgrund seiner Zerstreutheit, die auch Sophie zeitweise als belastend empfindet, keinen größeren 100
Erfolg. Daniels Leben im Reich der Gesteinsbrocken ist nicht das Resultat einer freien Entscheidung, das hat sie schon lange durchschaut. Sie ahnt, daß seine Entscheidung gegen eine Musikerkarriere etwas mit der Mutter zu tun hat, aber sie hat die Frage nicht weiter zur Sprache gebracht. Sie und Daniel ergehen sich nicht in Vertraulichkeiten. Bei Schuberts Erster lernten Sophie und Daniel sich kennen. Daniel war neu am Institut, als sie zufällig in der Pause eines Symphoniekonzerts in der Universitätsaula an der gleichen Kaffeeschlange zusammenstießen. »Der Dirigent sollte aufgehängt werden«, hatte Daniel gezischt, und Sophie, die bis zu diesem Zeitpunkt mit nur wenigen Kollegen über etwas anderes als Eiszeitablagerungen gesprochen hatte, war errötet und hatte ihm mit klopfendem Herzen zugestimmt. Nach dem Konzert hatten sie eine Weile in der eiskalten Zugluft auf der Steintreppe der Aula gestanden. Daniel hatte die ganze Zeit über Musik geredet, Sophie dazu genickt und ihm zugestimmt. Sie hatten sich mit gegenseitigen Versprechungen getrennt. Sophie sollte Daniel einen Termin fürs Vorsingen beim Dirigenten des Universitätschors besorgen, da sie dessen Assistentin war. Daniel (das Gerücht von seiner Zerstreutheit hatte sich bereits damals in der ganzen Universität verbreitet) sollte diese Abmachung nicht vergessen. Als Sophie sich am nächsten Tag in der Kantine an seinen Tisch setzte, hatte er vergessen, wer sie war. Aber das hatte keine Rolle gespielt. Sophie hatte beschlossen, daß sie ein Teil von Daniels Leben werden wollte. Welcher Teil und was Daniel von der Sache hielt, war von eher geringerer Bedeutung. Sophie schaute zufrieden auf das Leben zurück, das sie jetzt seit fast fünf Jahren mit Daniel teilte. Sie hatte ihm nicht nur einen Platz in der bereits überfüllten Tenorgruppe des Chors besorgt. Dank ihrer unermüdlichen Intrigen war es Daniel, der 101
die Leitung des Chors übernahm (und, nicht zuletzt, Sophie selbst als Assistentin), als der temperamentvolle Theaterhistoriker, der Gründer und tyrannischer Leiter des Chores gewesen war, schließlich in Pension ging. Glücklicherweise mobilisiert Daniel in der praktischen Arbeit mit den Sängern eine Präsenz und eine Dynamik, die ihm in fast allen anderen Zusammenhängen fehlen, womit er ihre Vorgehensweise vor jeder möglichen Kritik schützt. Es ist ihr tatsächlich mit praktischer Hilfe und Propagandaeinsätzen gelungen, den Stempel »Zerstreutheit« von seinem Image im Institut zu entfernen. In ihren eigenen Augen (und, wie sie meint, auch in Daniels) ist sie seine unersetzliche Helferin und Waffenträgerin. Mehr wünscht sie sich im Leben nicht. »Kannst du mir mal helfen?« Mit Sophies Hilfe manövriert Daniel den Kasten mit den Steinen in den Schrank hinter der Tür. Sonst läßt er die Kästen oft mitten im Zimmer stehen, wo dann andere und auch er selbst darüber stolpern. Doch das traut er sich nicht, wenn Sophie zusieht. Sophie schließt die Schranktür. »William sagt, daß du seiner Freundin jetzt gleich ein Probesingen versprochen hast. Ich nehme an, daß es sich um ein Mißverständnis handelt.« Sie sieht Daniel auffordernd an, während der dasteht, die Hände aneinanderreiht und offensichtlich erst jetzt entdeckt, daß sie nicht allein im Raum sind. »Ja. Ich meine, nein. Ich habe gesagt, daß …« Daniel sieht aus, als wollte er jemanden um Hilfe bitten. Seine Stimme versagt mitten im Satz wie immer, wenn er mit konkreten Fragen konfrontiert wird, zu denen er Stellung nehmen soll. »Ich habe gesagt, sie soll am Freitag wiederkommen.« Sophie bleibt hartnäckig.
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Das Mädchen boxt William, der mit seinen langen Armen wedelt. »Aber du hast es versprochen«, sagt dieser. »Gestern. In der Kantine. Und sie kann am Freitag nicht, das weiß Sophie auch.« Sophie sieht ein, daß sie sich mal wieder Daniel zuliebe einen Feind verschafft, doch das ist ihr gleich. »Wir müssen den Probenplan für das Herbstkonzert durchgehen. Wir haben das schon einmal verschoben«, sagt sie und kann fast hören, wie Daniels eigener Wille unter dem beidseitigen Druck zerbricht. Das Mädchen mit den Shorts hat schweigend den Streit verfolgt, dessen Ursache sie doch ist. Jetzt schubst sie William beiseite. Bevor Sophie es verhindern kann, hat sie Daniels Arm gepackt. »Du kannst mich ebensogut gleich singen hören, statt die Zeit mit Diskussionen zu vergeuden«, sagt sie an Sophies Adresse gewandt, der sie einen mörderischen Blick zuwirft. Daniel läßt sich willenlos auf den Klavierhocker drücken. Seine Augen suchen Sophies, doch diese hat sich abgewandt. Die Wut brodelt in ihr, und sie spürt, wie ihre Handflächen feucht werden, als sie mit schnellen Bewegungen die mitgebrachten Notenstapel auf die Mappen der Chorsänger verteilt. Daniel schlägt einen Akkord an. »Dann laß mal hören«, sagt er. Die Stimme des Mädchens trifft Sophie wie ein Schlag ins Zwerchfell. Sie hat Volumen, ist klangvoll und kräftig. Sophie erstarrt mitten in der Bewegung. Sie dreht sich um und sieht den kleinen, kräftigen Körper in den idiotischen Shorts an, und am liebsten würde sie anfangen zu weinen. Dem Mädchen fällt es schwer, still zu stehen, während sie singt, und Sophie sieht, daß ihr Hinterteil zu breit ist und ihre Bewegungen unbeholfen. Sie sieht außerdem, daß das Mädchen den Charme eines Boxerwel103
pen hat. Aber in erster Linie hört sie ihre Stimme, die Daniel durch immer schwierigere Skalen führt. Es scheint, als bearbeitete er sie mit den Fingern auf den Tasten des Flügels, als wäre sie ein elastisches Gewebe, formbar und in alle Richtungen dehnbar. »Laß uns probieren, wie die tiefe Lage funktioniert.« Sophie kann an Daniels Stimme hören, daß er jetzt vollkommen konzentriert ist. Angespannt und aufmerksam, wie sie ihn sonst nur bei Konzerten erlebt hat. »In meinem alten Chor habe ich alles gesungen«, sagt das Mädchen. »Aber dann hatte ich einen Gesangslehrer, und der hat gemeint, ich sei Sopran.« Ihre Sprechstimme ist kindlich, und es ist nicht auszumachen, woher auf der Welt ihr unerträglicher Akzent stammt. Aber sie singt wie Honig und Weizenfelder in der Sonne. Sie singt mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der Leute Luft holen. Daniel dreht sich auf dem Klavierschemel. »Das Mädchen hat eine herrliche Stimme, nicht wahr, Sophie?« fragt er, und sein Lächeln schließt sie beide mit ein. Schweigend nickt Sophie. Daniel steht auf und streckt seinen breiten, gut gebauten Körper, den zu begehren Sophie sich nie erlaubt hat, ebensowenig wie den Körper irgendeines anderen Mannes. Physischer Kontakt, über einen Händedruck hier und da hinaus, kommt zwischen ihnen nicht vor. Einmal hat Daniel sie gestützt, als sie fast von einem Podium gefallen wäre, eine Erinnerung, die ihr Körper immer noch wie einen überstandenen Schmerz bewahrt. Das Mädchen umarmt Daniel und drückt ihn an sich. »Wenn ich könnte, würde ich dich hochheben«, ruft sie lächelnd, und Sophie kann ihre weißen Zähne mit dem etwas zu großen Zwischenraum zwischen den Schneidezähnen sehen. Daniel muß auch lachen. 104
»Vielen Dank«, sagt er. »Ich muß mich bedanken«, lacht das Mädchen und läßt ihn los. Hinterher versucht Sophie sich selbst glauben zu machen, daß sie sich das, was passiert ist, nur einbildet. Aber in ihrem Inneren weiß sie, daß sie gesehen hat, wie Daniel eine Hand vorstreckte und dem fremden Mädchen über die Wange strich. »Wollen wir nicht einen Kaffee trinken?« Daniel dreht sich gutgelaunt zu Sophie um. »Ihr könnt gern dableiben«, erklärt er großzügig dem Mädchen, das von William, der von der Tür her den Ablauf der Schlacht verfolgt hat, heftig gedrückt wird. Wie Sophie die folgende Stunde übersteht, weiß sie nicht. Aber sie beschließt, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, kocht Kaffee und serviert ihn William und dem Mädchen, das sich mit Daniel unterhält, als wären sie alte Freunde. Verbissen geht sie in den Kopierraum und besorgt Noten für den neuen Sopran des Chores. Schweigend spiegelt sie ihre eigene Frustration in Williams, der sich mit dem Rücken gegen den Flügel gelehnt hat und dem intensiven Gespräch zwischen dem Mädchen und Daniel mit dem Blick folgt, wie ein großer brauner Hund. Daniel diskutiert über Musik, daß sein kurzgeschnittenes Haar sich wie eine weiche Badebürste auf der Kopfhaut aufrichtet. Er gestikuliert mit dem Kaffeebecher in der Hand und summt Beispiele, und Sophie hat ihn selten so gutgelaunt erlebt. Obwohl sie einen Hauch schlechten Gewissens in Daniels Augen entdeckt, fühlt sie sich erschöpft und gedemütigt, als er im späten Nachmittagslicht mit dem Mädchen verschwindet, das von möglichen Restaurants plappert, während sie William übermütig mit der Notenmappe prügelt. Das letzte, was Sophie hört, bevor sie um die Flurecke biegen, ist, daß sie sich für das neu eröffnete Salatrestaurant an der Bushaltestelle entscheiden,
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wohin sie Daniel auch schon hatte locken wollen, wenn sich eine passende Gelegenheit böte. Sie selbst macht mit den Notenmappen weiter, bis es so spät ist, daß ihr nur noch Zeit für eine langweilige Suppe in der Kantine bleibt, bevor sie den Probenraum aufschließen muß. Auf dem Weg aus der Tür hinaus fällt ihr Blick auf den Blumenstrauß, der immer noch dort liegt, wo sie ihn abgelegt hat. Sie wickelt das Papier auf und sieht, daß die Blütenblätter der Anemonen wie kleine rosafarbene Putzlappen aussehen. Langsam rollt sie sie wieder ins Papier und läßt sie in den Papierkorb gleiten. Ein Strauß goldener Astern glüht auf dem Schreibtisch, als Sophie ein paar Wochen später die Tür zu Daniels Büro aufschließt. Der lange, warme Spätsommer ist von einer plötzlichen Hitzewelle unterbrochen worden, mitten im Oktober, wo sich doch das Herbstkonzert mit raschem Schritt nähert. Sophie tupft die Oberlippe mit einem Taschentuch ab, das sie im Blusenärmel verbirgt. Selbst bei brütender Hitze, wenn alle anderen in den verschiedensten Stadien von Entblößtheit auftreten, legt sie Wert darauf, korrekt gekleidet zu sein, wenn sie unterrichtet. Das Gefühl, daß der Anblick ihrer dünnen Arme kaum jemanden erfreuen würde, erst recht nicht sie selbst, hält sie außerdem davon ab, jemals ein Kleidungsstück ohne lange Ärmel zu tragen. Die Sonne scheint schräg durch die weit oben angebrachten Fenster, die Sophie öffnet und einhakt. Der Duft von frisch gemähtem Gras von den großen Rasenflächen des Universitätsparks, die von einem Heer von Gärtnern trotz der Dürre gegossen und grün gehalten werden, dringt in ihre Nasenflügel, und sie beschließt, daß Daniel und sie eine Kaffeepause im Grünen verdient haben. Außerdem möchte sie den bestmöglichen Rahmen schaffen für das Gespräch, das sie mit Daniel 106
führen will, und Daniel, auf dem Gras dahingegossen, ist noch wehrloser als Daniel auf dem Klavierschemel. Auf das Gespräch hat Sophie sich schon seit mehreren Tagen vorbereitet. Das Gespräch, das der Verwirrung, die in ihr und Daniels Leben eingetreten ist, seit die neue Sopranistin aufgetaucht ist, ein Ende setzen soll. Daß das Mädchen weg muß, daran hegt Sophie keinen Zweifel. Nicht genug, daß sie zu spät zu den Proben kommt und Daniel einen Handkuß zuwirft, den er nur mit einem schafsartigen Lächeln beantwortet. Sie behandelt ihn, wie sie alle Männer um sich herum behandelt: wie Spielkameraden oder Haustiere, mal streichelt sie ihn und albert mit ihm herum, mal gibt sie ihm einen Klaps und knufft ihn, so daß er den Faden verliert und mit dem Blick Sophie bitten muß, ihm zu helfen, damit die Probe weiterkommt. Sophie überlegt noch, wie sie die Kaffeebecher einwickeln soll, bevor sie sie in die Tasche packt, als Daniel durch die Tür kommt. Sein rotblondes Haar steht mehr als sonst zu Berge, und sie sieht, daß er Schweißflecken unter den Achseln hat. Daniel schiebt das Tablett mit den Steinen mit einer schnellen Bewegung auf seinen Platz im Schrank. »Können wir es heute kurz machen?« bittet er. »Ich möchte gern zum letzten Mal in diesem Jahr schwimmen gehen.« Sophie spürt, wie es hinter den Augen brennt. Daniel nimmt die Kaffeekanne und gießt sich ein. »Liegt etwas Besonderes an?« fragt er und schiebt eine Pobacke auf die äußerste Schreibtischecke. Sophie weiß, daß von jetzt an alles falsch laufen wird, aber sie kann es nicht lassen. »Die neue Sopranistin«, sagt sie. Daniels Blick bleibt leer. »Ja?« fragt er. 107
»Vielleicht ist es dir nicht aufgefallen. Aber sie kann die Stimme nicht halten. Ich stehe neben ihr, und ich habe auch mit Doris geredet, die auf der anderen Seite steht, und sie ist der gleichen Meinung.« »Wollen wir ihr nicht erst eine Chance geben, die Partitur zu lernen?« Daniel blättert geistesabwesend in dem Notenstapel auf dem Schreibtisch. Sophie versucht einen anderen Angriffswinkel. »Ihr Akzent. Wie können wir sicher sein, daß er nicht durchschlägt, beispielsweise bei einer Plattenaufnahme?« »Kommt Zeit, kommt Rat. Sie hat eine ungewöhnlich schöne Stimme. Und den Rest wird sie schon schaffen. Ich werde ihr vor dem Konzert eine Stunde geben und die Aussprache mit ihr durchgehen, wenn dich das beruhigt.« Daniel sieht bei diesem Gedanken frohgemut aus. Sophie merkt, wie ihr die Situation entgleitet. Sie entscheidet sich für einen letzten Versuch. »Mit ihrer fehlenden Disziplin sorgt sie für Unruhe. Ich sollte es dir vielleicht nicht sagen«, sagt Sophie und weiß, daß sie damit recht hat, »aber solltest du sie nicht stärker in ihre Schranken weisen?« Daniel sieht sie an, als verstünde er zwar die Bedeutung der Worte, die da aus ihrem Mund kommen, nicht aber ihren Sinn. Dann schaut er auf seine Uhr und steht auf. »Wir sehen uns bei der Probe«, sagt er und ist schon zur Tür hinaus. Sophie sinkt auf dem Schreibtischstuhl zusammen. Mit zitternden Händen gießt sie sich eine Tasse Kaffee ein. Als sie eine Süßstofftablette aus der kleinen Dose herausdrückt, schiebt sich plötzlich der untere Rand von Daniels Hosenbeinen am oberen Rand des Lichtschachts in ihr Blickfeld. Sie bleiben stehen, und 108
Sophie sieht, wie sich zwei kleine Tennisschuhe nähern. In den Schuhen stecken weiße Socken und sonnengebräunte Knöchel. Sophie sieht, wie die Tennisschuhe sich auf die Zehen stellen. Dann verschwinden sie, zusammen mit Daniels Hose, über das Gras, Richtung Schwimmbad. Die Hitzewelle des Oktobers ist schon lange in graues Wetter und Nieselregen übergegangen, und der Lichtschacht vor Daniels Fenster füllt sich mit gelben Blättern von den großen Linden im Park. Die Kristallvase steht leer auf dem Schreibtisch, und das Herbstlicht verleiht Sophies schmalem Gesicht mit den golden eingefaßten Brillengläsern fast einen grünlichbleichen Schimmer. Sie wartet auf Daniel. Das Herbstkonzert ist überstanden. Eigentlich sollten sie diese Woche nicht arbeiten, da alle damit beschäftigt sind, ihre Prüfungen vorzubereiten, und deshalb mehr oder weniger im Streß sind. Aber Sophie hat Daniel um ein Gespräch gebeten. Was sie ihm sagen soll, weiß sie nicht. Sie weiß nur, daß diese große Verzweiflung, die sie in sich trägt, irgendwo ein Ventil braucht, damit sie wieder für andere Gedanken Platz finden kann. Das Konzert ist ein großer Erfolg gewesen. Sophie hat wie üblich die Verantwortung für alle Blumengrüße und Glückwunschkarten übernommen. Als sie schließlich in die Kantine kam, in der die Kerzen auf den Tischen flackerten, die zur Feier des Tages in T-Form gestellt worden waren, war das Fest schon in vollem Gange. Daniel saß am Haupttisch, und der Platz neben ihm, der sonst immer Sophie zugedacht war, war von der neuen Sopranistin besetzt. Mit Mühe hatte Sophie den letzten freien Platz gefunden, neben dem pensionierten Theaterhistoriker, der nach seinem Abgang als Dirigent eine immer anstrengender werdende Schwerhörigkeit entwickelt hatte.
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Daniel hatte sich erhoben und an sein Glas geklopft. Und wie in einem Alptraum hatte Sophie gesehen, wie er sich hinter den Stuhl der Sopranistin stellte, wie zufällig, und seine Hände auf ihren Schultern ruhen ließ. »Wer ist dieses Mädchen?« hatte der Theaterhistoriker gerufen. Sophie hatte in der nächsten Umgebung unterdrücktes Kichern gehört. Während Daniels kleiner Dankesrede hatte Sophie die ganze Zeit ihren Blick starr auf ihren Teller gerichtet. Sie hatte gelernt, mit Daniels Zerstreutheit, die ihn manchmal sich selbst hatte vergessen lassen, zu leben. Doch diese Situation lud geradezu zu Mißverständnissen ein. Der Gedanke an die mitleidigen, halb schadenfrohen Blicke der Chormitglieder während der restlichen Mahlzeit lassen heute noch die Wut in ihr aufsteigen. Nach dem Nachtimbiß, als die Tische an die Seite gestellt worden waren, um Platz für die Tanzenden zu schaffen, war es ihr gelungen, Daniel zusammen mit dem Theaterhistoriker in eine Ecke zu manövrieren, und dieser hatte den Rest des Abends damit verbracht, Daniel lautstarke Ratschläge für die Zukunft des Chors zu geben. Daniel hatte höflich genickt. Aber Sophie, die sich in der Nähe aufhielt, hatte gesehen, wie sein Blick die Tanzfläche absuchte, wo William die kleine Sopranistin in die Luft warf und auffing, immer und immer wieder. Sophie schaut auf ihre Uhr. Daniel ist bereits zwanzig Minuten verspätet, und das ist viel, selbst für ihn. Sie beschließt, noch zehn Minuten zu warten. Daniel kann die Verabredung vergessen haben, auch wenn er die Uhrzeit artig in den Kalender geschrieben hat, den sie ihm selbst gegeben hat. Sophie räumt die Stapel auf dem Schreibtisch zusammen, auf dem sich monatealte Tagesprotokolle von Fakultätsversammlungen mit Fachzeitschriften mischen, vergilbte Notenkopien mit Notizzetteln, geschrieben in ihrer eigenen zierlichen Handschrift. Unter einem halben Jahrgang einer ausländischen Musikzeitschrift liegt die Brieftasche. 110
Es klopft an der Tür. William schiebt seinen Kopf herein. Sein freundliches Gesicht verschließt sich, als er Sophie sieht. »Ist Daniel nicht hier?« fragt er förmlich. Sophie schüttelt den Kopf. William zögert in der Tür. »Du hast nicht zufällig eine gewisse Sopranistin gesehen?« fragt er weiter und versucht locker zu klingen. Ein Verdacht kommt in Sophie auf. »Warum sollte sie hiersein?« »Sie war mit Daniel verabredet.« William sieht plötzlich ganz unsicher aus. »Die wollten wohl irgendeine Solopartie besprechen.« Sophie hat das Gefühl, als hätte ihr jemand in den Bauch getreten. »Wie du siehst«, sagt sie und breitet die Hände in einem Versuch aus, so zu tun, als wenn nichts wäre. William steht mit hängenden Schultern in der Tür. Plötzlich sieht sie, daß er weint. Sophie schaut weg. Sie starrt auf die Stapel auf dem Schreibtisch und wünscht, daß William ginge, damit sie selbst ihre Gedanken ordnen kann. Aber er bleibt stehen. Er reibt sich mit den großen Handflächen das feuchte braune Gesicht, und sein Weinen scheint kein Ende nehmen zu wollen. Sophie spürt, daß sie etwas tun muß. »Was ist denn?« fragt sie, obwohl sie doch weiß, daß sie die Antwort gar nicht hören möchte. »Sie will nicht mehr mit mir Zusammensein«, bringt William heraus. »Nicht, seit Daniel und sie sich treffen.« »Was heißt sich treffen?« »Das weißt du doch selbst.« William schluchzt jämmerlich.
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»Das muß doch auch für dich schrecklich sein. Das sagen alle.« Einen Augenblick lang hat Sophie das Gefühl, als lösten sich ihre inneren Organe, eines nach dem anderen, von ihrem angestammten Platz und sänken bis in Kniehöhe hinab. Dann reißt sie sich zusammen. »Ich weiß nicht, wovon du redest, William«, sagt sie, und ihre Stimme liegt jetzt eine Oktave höher als normal. »Ich finde, du trocknest jetzt mal die Tränen ab, und dann vergessen wir das ganze Gerede.« Sophie sieht ein boshaftes Aufblitzen in Williams Augen, aus denen die Tränen immer noch wie Regen über eine Fensterscheibe laufen. »Wenn du es noch nicht weißt, dann kann ich dir erzählen, daß Daniel in der Nacht nach dem Fest zu ihr gekommen ist, nachdem sie schon im Bett war, und die beiden haben die ganze Nacht gebumst. Sie hat es mir selbst erzählt. Sie ist in ihn verliebt, wie sie behauptet.« Sophie weiß, daß sie dem Ganzen jetzt ein Ende machen muß, bevor sie anfängt zu schreien. »Das hat sie doch nur gesagt, um dich eifersüchtig zu machen«, wehrt sie ab und versucht, ihre Stimme aus der Diskantlage wieder herunterzuholen. »Komm, geh jetzt nach Hause, William.« Sophie schließt mit zitternden Händen die Tür hinter dem tränennassen William. Dann tragen ihre Beine sie nicht länger. Sie sinkt vor dem Klavierschemel auf dem Boden zusammen und legt ihre Stirn darauf, bleibt so liegen und lauscht dem Blut, das in ihren Ohren saust – lange, wie eine, die ins Gebet versunken ist. Sie weiß nicht, wieviel Zeit vergangen ist, als sie draußen Stimmen hört. Ein Schlüssel wird ins Schloß geschoben, und Sophie schaut sich verzweifelt nach einem Fluchtort in dem 112
inzwischen halbdunklen Raum um. Im letzten Moment, bevor das Sicherheitsschloß dem Schlüssel von Daniel nachgibt, kann sie sich in einem der großen Schränke in Sicherheit bringen. Glücklicherweise hat Daniel wie üblich die meisten seiner Gesteinskästen draußen auf dem Boden stehenlassen, so daß sie sich auf den freien Platz zwängen kann. Ihr rechtes Knie stößt auf einen großen Bergkristall. Das tut unangenehm weh, aber sie traut sich nicht, sich zu bewegen, aus Angst, daß es draußen zu hören sein könnte. Ein vertrautes Lachen begleitet Daniels tiefe Stimme beim Eintreten. Sophie hört ein Klirren, das Geräusch eines Stuhls, der über den Boden scharrt. »Ich habe nur Kaffeebecher.« Daniels Stimme ist fröhlich, Sophie hört das Mädchen kichern und dann das Geräusch eines Korkens, der eine Weinflasche verläßt. »Können wir nicht aus diesem Prachtstück hier trinken? Hast du die von der Muse gekriegt?« Daniel, der Verräter, lacht mit und übertönt fast das Geräusch des Flaschenhalses gegen das Kristall der Vase. Sophie beißt sich auf die Unterlippe. Sie hört, wie die Flasche auf den Flügel gestellt wird, wo sie einen nicht auszumerzenden Rand hinterlassen wird. »Prost«, sagt Daniel. Dann bleibt es einen Augenblick lang ganz still im Raum, bis Sophie plötzlich Daniel stöhnen hört und das Gelächter des Mädchens, das wie bei Tonleiterübungen ansteigt und wieder sinkt. Dann steckt sie sich die Finger in die Ohren, so fest sie nur kann. Viel, viel später, als sie es endlich wagt, sie wieder herauszunehmen, ist es im Zimmer draußen ganz still. Sophie lauscht angestrengt, kann aber kein Zeichen menschlicher Aktivität wahrnehmen. Sie streckt ihren schmerzenden Körper ein wenig. Einer der Gesteinsbrocken rutscht mit einem rasselnden Ge-
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räusch beiseite, als der Druck ihres Fußes verschwindet. Sie erstarrt in der Bewegung und lauscht wieder angestrengt. Das Geräusch nackter Füße nähert sich der Schranktür. Die Tür geht langsam auf, und Daniels Schwanz, an den zu denken sie sich niemals getraut hat, ist direkt vor ihrem Gesicht. Sie sieht, daß das dunkelrote Haar, das ihn umgibt, etwas feucht ist. Sie sieht den weichen Streifen von Haaren, der sich über die sommersprossige Bauchhaut bis zu seinem leicht nach außen gewölbten Bauchnabel fortsetzt. Hinter ihm im Zimmer, das vollkommen in Dunkel gehüllt ist, sieht sie seine Kleidung in einem Haufen auf dem Boden liegen und daneben ihre eigene Schultertasche. Daniel ist allein im Zimmer. Langsam hebt sie den Kopf und begegnet seinem Blick. Daniel sieht sie an, als wäre er ein verwirrter Tourist und sie ein Schild in einer Sprache, die er nicht versteht. Dann verändert sich sein Gesicht, nimmt langsam einen panischen Ausdruck an, und Sophie sieht, wie sein Körper zuckt, als wollte er sich zur Flucht bereitmachen. In einer Geschwindigkeit, die sie selbst überrascht, schlingt sie ihm die Arme um die Knie und reißt ihm die Beine unter dem Leib weg. Daniel fällt wie ein Baumstamm. Sein Kopf trifft auf die Kante des Klavierschemels, und Sophie sieht seinen überraschten Blick, bevor er ohnmächtig wird. Sein bewußtloser Körper ist breit und schwer, und an unerwarteten Stellen wächst weiteres rotes Haar. Vorsichtig kniet sie nieder. Sie hebt seinen Kopf an und legt ihn in ihrem schmalen Schoß zurecht. Läßt die Hände über seine Haut gleiten, die mal rauh ist, mal weich und etwas schlaff. Sanft streichelt sie seine Schultern und seine Brust, bis er anfängt sich zu bewegen. Dann legt sie seinen Kopf wieder auf den Boden. Aus dem Schrank nimmt sie den Bergkristall und läßt ihn auf seine Stirn fallen, bis er wieder still ist.
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MAJGULL AXELSSON Die Mörderin »So, nur noch ein Besuch«, erklärt Katrin und legt die Hand auf den Schaltknüppel. Es ist eine erwachsene Kinderhand, deren weiße Haut sich über die weichen Grübchen spannt. Die Fingernägel sind dünn und durchscheinend. »Schon?« fragt Lina. »Na, schließlich ist Heiligabend. Die meisten sind bei ihren Kindern zu Hause. Und wenn die Kinder selbst zu Besuch kommen, dann wollen sie nicht, daß wir da hineinplatzen.« »Nein, das ist ja verständlich …« Katrin wirft einen Blick in den Rückspiegel und dreht den Zündschlüssel, hält einen Moment lang inne und zieht am Sicherheitsgurt. »Dann wird es für dich ja ein ruhiger Start …« »Ja.« »Und das ist doch gut, oder?« »Ja.« Lina faltet die Hände im Schoß und sieht sie an. Die Finger sehen in den neuen Handschuhen aus wie graue Würstchen. Während der letzten zwei Stunden war sie gezwungen, auf Katrins Geplauder zu antworten, und auch wenn sie ziemlich einsilbig war, mußte sie doch viel mehr sagen, als sie während der letzten zwei Wochen insgesamt gesagt hatte. Das macht sie müde. Müder als die Arbeit selbst. Katrin wirft ihr von der Seite einen Blick zu. »Jetzt fahren wir zu einem richtig alten Knacker. Carlbäck. Du erinnerst dich doch noch an ihn?« Lina schüttelt den Kopf. 115
»Doch, ganz bestimmt. Carlbäck. Der alte Rektor.« »Nein. Tut mir leid, aber …« »Aber du bist doch ursprünglich von hier, oder?« »Ja.« »Und bist hier zur Schule gegangen?« »Ja.« »Dann mußt du dich an Carlbäck erinnern. So einen gemeinen Teufel vergißt man nicht.« Das ist eine Feststellung, keine Frage. Lina antwortet nicht, zuckt nur mit den Schultern und wendet sich dem Fenster zu. Sie haben die Rådhusgatan erreicht. Die ziegelroten Fassaden stehen dunkel da, aber in jedem Fenster brennt ein elektrischer Adventsleuchter. Tatsächlich. Es gibt wirklich kein einziges Fenster in der ganzen Straße ohne Adventsleuchter. Vielleicht ist das ja obligatorisch. Vielleicht sind elektrische Adventsleuchter inzwischen in den lokalen Statuten vorgeschrieben. Vielleicht drängt sich demnächst ein wütender Kommunalbeamter in ihre Wohnung und zeigt mit einem anklagenden Zeigefinger auf die leeren Fensterbänke. »Wie lange hast du eigentlich in Stockholm gelebt?« Katrin läßt nicht locker. Lina seufzt leise. »Ziemlich lange.« »Hast du da auch in der Altenpflege gearbeitet?« »Nein.« »Nein«, wiederholt Katrin und biegt in eine Nebenstraße ab. »Habe ich mir schon gedacht.« Lina verzieht kurz das Gesicht. Sie weiß es. Ihr erster Abend als Vertretung in der häuslichen Altenpflege war nicht besonders berauschend. Sie hatte angeekelt und hilflos vor dem verkoteten Laken bei dem ersten Klienten gestanden und war beim zweiten ganz blaß vor Übelkeit geworden, als sie dessen 116
Dekubitus gesehen hatte. Das durfte nicht wieder passieren. Sie mußte sich zusammenreißen, und wenn nur des Geldes wegen. »Wohin fahren wir?« Katrin wirft ihr einen schnellen Blick zu. »Auf die andere Seite vom Stadtpark. Zu den hochherrschaftlichen Villen. Natürlich!« Lina erkennt den Tonfall wieder. Kurz, bellend. Gleichzeitig ängstlich und wütend. So reden die Menschen aus dem Osten dieser Stadt über die Menschen im Westen. Plötzlich holt Katrin tief Luft und scheint Anlauf zu nehmen, zögert aber noch ein paar Sekunden, bevor sie das sagt, was ihr auf dem Herzen liegt: »Hast du viele Menschen in deinem Leben gehaßt?« »Wie bitte?« »Du hast es schon verstanden«, sagt Katrin. »Und?« »Haß ist ein hartes Wort.« »Ja«, bestätigt Katrin. »Aber manchmal haßt man.« »Ja«, stimmt Lina zu. »Manchmal tut man das wohl.« Sie fahren durch eine dunkle Allee. Weit in der Ferne funkeln die Lichter eines Hauses, in dem jemand offenbar alle Lampen eingeschaltet hat. »Oh, Scheiße«, sagt Katrin. »Der Alte ist wach.« Der Ritter von der traurigen Gestalt, denkt Lina. Er steht mitten im Eingangsbereich und weint, ein magerer alter Mann in kariertem Pyjama, mit wenigen grauen Haarsträhnen auf dem kahlen Schädel. Die nackten Füße sind schneeweiß, und er tritt unruhig auf der Stelle, während er sich mit dem Handrücken die Tränen von der Wange wischt. Wie ein Kind. Ein sehr kleines Kind. Lina ist in der engen Garderobe stehengeblieben, sie steht vollkommen unbeweglich da, die Hand auf dem Reißverschluß 117
ihrer Jacke, und schaut in den Eingangsbereich. Dunkle Holzvertäfelung. Offener Kamin. Schieferbodenplatten. Eine breite Treppe mit einem schön geschnitzten Geländer. Es sieht aus wie das Bühnenbild für ein Stück von Hjalmar Bergman. Gleich wird eine Tür geöffnet, und die Großmutter oder Frau Ingeborg treten ein … Nein, natürlich nicht. Statt dessen huscht Katrin an ihr vorbei und wirft Lina einen verwunderten Blick zu. »Willst du dich nicht ausziehen?« Der Alte schaut auf, als er ihre Stimme hört, sein Gesicht verzerrt sich. »Das ist die Kriegstochter!« ruft er und wedelt mit einer fleckigen Hand. »Die Mörderin!« Katrin schaut ihn nicht einmal an, lacht nur gehässig auf und zuckt leicht mit den Schultern. »Genau«, sagt sie. »Die Mörderin ist wieder da.« Katrin klappert mit irgend etwas in der Küche, während Lina den Alten unter den Arm nimmt und ihn die Treppe hinaufführt. Jeder Schritt erfordert Konzentration, er hält sich krampfhaft mit der linken Hand am Geländer fest und packt Linas Handgelenk mit der rechten, während er intensiv auf seine nackten Füße starrt. Linker Fuß zuerst, dann ein Augenblick Pause, bevor er sich aufrafft und den rechten Fuß folgen läßt. Jetzt weint er nicht mehr, aber auf halbem Weg die Treppe hinauf wendet er sich plötzlich ihr zu und platzt mit einer Frage heraus. »Wer?« »Ich heiße Lina. Ich komme von der Häuslichen Krankenpflege. Nachtdienst.« Seine Unterlippe zittert: »Bist du nett?« Lina verzieht das Gesicht. Das ist eine Gewissensfrage. »Doch, ja«, erklärt sie schließlich. »Ich bin ziemlich nett.« 118
»Du mordest nicht?« »Nein«, sagt Lina. »Ich morde nie.« Der Alte grunzt und richtet seinen Blick wieder auf seine Füße. Linker zuerst. Pause. Dann der rechte. Der erste Stock sieht aus wie ein Schlachtfeld. Kleidung und alte Zeitungen liegen auf dem ganzen Boden verstreut herum. Ein umgekippter Stuhl streckt seine Beine in die Höhe. Vier Türen von vier Schlafzimmern stehen offen. Überall ist das Licht eingeschaltet, Deckenlampen und Stehlampen, Nachttischlampen und Schreibtischlampen, Wandlampen und Spotlights. Lina streckt sich zu einer schneckenförmigen Wandlampe, um sie auszuschalten, wird aber vom Flüstern des Alten aufgehalten. »Nein!« »Soll ich sie nicht ausschalten?« Er schüttelt den Kopf und legt sich den Zeigefinger auf den Mund. Unbewußt senkt sie selbst auch die Stimme. »Und warum nicht?« Er beugt sich vor und läßt seinen Atem an ihrem Ohr vorbeiwehen. »Die Mörderin ist im Haus. Deshalb.« Er sitzt mit geschlossenen Augen auf einem Sessel, während sie sein Bett frisch bezieht und nach einem trockenen Pyjama sucht. Es gibt keinen, ein Paar lange Unterhosen und ein altes Hemd ist alles, was sie findet. Er öffnet nicht einmal die Augen, als sie ihm vorsichtig die nasse Pyjamahose herunterzieht, hebt aber hilfsbereit den Hintern, wie um zu zeigen, daß er wach ist. Erst als er angezogen ist und alle acht Knöpfe seines Hemds ordentlich zugeknöpft sind, blinzelt er, sieht sie an und macht eine ausholende Geste. »Sie sind tot«, sagt er. »Alle.« 119
Erst jetzt sieht sie die Blumentöpfe am Fenster. Ein paar vereinzelte Zweige, die einmal einem riesigen Hibiskus gehört haben müssen, ein halbkahler Ficus mit gelben Blättern, ein erschöpftes Fensterblatt, dessen dicke Stiele weich geworden und umgekippt sind. Die löchrigen Blätter liegen wie schwarze Seerosen auf dem Parkett. »O je«, sagt Lina. »Was ist denn hier passiert?« Der Alte schluchzt und bekommt feuchte Augen, während er langsam zum Bett schlurft. »Sie sind ermordet worden«, sagt er. »Alle.« Plötzlich steht Katrin in der Tür. Sie hält einen Becher in der einen Hand und einen elektrischen Wasserkocher in der anderen. Sie zeigt mit dem Becher auf Lina. »Er soll diese Nährflüssigkeit bekommen. Kannst du sie ihm geben? Bei mir meckert er immer, wenn ich es versuche …« Lina nickt. Katrin hebt lächelnd den Wasserkocher hoch. Es dampft aus ihm. »Dann kann ich inzwischen ein bißchen aufräumen. Und die Blumen gießen.« Sie sitzt mit einer Tasse Kaffee am Küchentisch, als Lina nach einer Weile mit dem leeren Becher herunterkommt. Der Alte ist eingeschlafen. Oder hat zumindest die Augen geschlossen und angefangen, ruhiger zu atmen. »Das ist ein schönes Haus«, sagt Lina, während sie den Becher ausspült. Katrin schnaubt nur. »O ja. Neun Zimmer. Plus verdammt viel Krimskrams, das den Staub nur so anzieht. Meine Mutter hat dreiundzwanzig Jahre lang hier geputzt und ist fast wahnsinnig geworden.« Lina stellt den Becher zum Abtropfen hin und dreht sich um. Im Küchenfenster stehen die Pelargonien in Reih und Glied. Braun und halb verrottet. 120
»Was ist mit den Pflanzen hier im Haus passiert?« Katrin schnaubt wieder. »Keine Ahnung. Nee, wirklich, ich habe keine Ahnung.« Danach bleibt es eine Weile still. Sie sitzen sich am abgenutzten Kieferntisch gegenüber und halten ihre Kaffeetasse in der Hand. Draußen hat es angefangen zu schneien, die Flocken wirbeln im Schein der Straßenlampen herab. »Warum bist du zurückgekommen?« fragt Katrin schließlich. Lina antwortet nicht sofort. Eigentlich weiß sie nicht, warum sie zurückgekommen ist. »Ich war einsam«, sagt sie schließlich. Katrin lacht halbherzig auf. »Und du glaubst, daß du hier nicht so einsam bist?« Lina zuckt mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.« Katrin steht auf und dreht ihr den Rücken zu, stellt sich ans Fenster und schaut hinaus. »Du hättest nicht zurückkommen sollen. Diese Stadt ist nicht gut für Menschen. Man wird gemein.« »Wirklich?« »Ja.« »Wieso?« Katrin zögert mit ihrer Antwort, schiebt sich die Hände in die Hosentaschen und zieht die Schultern hoch. Ihr Gesicht spiegelt sich in der schwarzen Fensterscheibe. »Nimm nur diese Spitznamen. Ich glaube nicht, daß es eine andere Stadt in Schweden gibt, wo es so viele Spitznamen gibt. Der Diplomat. Der Engelküsser. Die Mikrobe. Der Brösakomet.« 121
Lina hebt lächelnd ihre Kaffeetasse hoch. Doch, daran erinnert sie sich. Im Gymnasium war sie umgeben von Schulkameraden mit den sonderbarsten Spitznamen. Gemein und zutreffend. »Der Pferdetöter«, sagt sie. »Der Pfau. Und Linus mit dem Arsch.« Katrin dreht ihr immer noch den Rücken zu. »Das klingt ja ganz witzig. Verdammt witzig. Aber wenn man erst einmal so einen Namen verpaßt gekriegt hat, dann wird man ihn nie wieder los. Sie hätten ihn einem ebensogut auf die Stirn tätowieren können …« Lina stellt ihre Kaffeetasse ab, schaut Katrins Rücken an, sagt aber nichts. »Ich habe meinen Spitznamen von dem Alten hier abgekriegt. Von Carlbäck. Eines Tages, als er besonders gut gelaunt war, hat er einem der Lehrer erzählt, daß seine Frau und er seine Putzfrau als ›Der Krieg‹ bezeichnen würden. Weil sie immer so verhärmt aussehe … Und das war ja witzig. Ungemein witzig.« Katrin dreht sich um und kommt zurück an den Küchentisch. Sie läßt sich auf den Stuhl fallen und greift nach ihrer Kaffeetasse. »Es hat höchstens zwei Stunden gedauert, dann war es in der ganzen Schule rum. Die Kinder grinsten, und die Lehrer lächelten auf diese verflucht wohlerzogene Art und Weise, die sie so verinnerlicht haben. Nur ich habe nicht kapiert, was so witzig war, bis Inger, die neu zugezogen war und nicht wußte, wer ich und meine Mutter waren, mir alles erzählte. Und da wußte ich es natürlich. Im gleichen Moment, als sie mir alles erzählte, wußte ich, daß ich meinen Namen weghatte. Ich hieß nicht mehr Katrin. Ich war die Kriegstochter.« Lina nickt. »Wie alt warst du da?«
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»Sechzehn. Ging in die erste Klasse der Oberstufe. Ich war sogar ziemlich gut.« Sie steht auf und geht zum Schrank, öffnet ihn und wühlt darin herum, kommt dann mit einer Dose Pfefferkuchen zurück zum Tisch. »Man denkt ja, daß so etwas keinen großen Unterschied macht«, erklärt sie dann. »Daß man das einfach abschüttelt und sich aus diesem Grinsen nichts macht. Aber so einfach war das nicht. Plötzlich war alles anders. Ich schaute meine Mutter an und sah, daß sie recht hatten. Sie sah wirklich total verhärmt aus. Was mich wütend machte. Warum konnte sie nicht ihre Haare toupieren, Lippenstift auflegen und frisch gebügelte weiße Blusen tragen wie alle anderen? Warum nicht?« Sie beißt einem Pfefferkuchenmann den Kopf ab und kaut langsam. »Es war mir so peinlich. Zuerst sie und dann auch ich selbst. Daß sie putzen ging. Daß ich keinen Vater hatte. Daß wir in einer heruntergekommenen Zweizimmerwohnung in einem Betonhochhaus lebten. Daß ich mir eingebildet hatte, hübsch zu sein. Ich war verdammt noch mal nicht hübsch … Ich sah doch auch aus wie so ein verfluchtes Schlachtfeld.« Sie hebt ihre Kaffeetasse und bohrt ihren Blick in Lina. »Daraufhin zog ich mich zurück. Fing an zu schwänzen. Und nach einem Jahr saß ich im Irrenhaus. Seitdem habe ich so einiges durchgemacht.« Lina stützt ihren Kopf in die Hände. »Die Menschen können einem leid tun«, sagt sie. »Ja«, nickt Katrin. »Das stimmt.« »Aber einige Topfpflanzen können einem auch leid tun.« Katrin lacht kurz und hebt ihre Tasse, als wollte sie Lina zuprosten.
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»Das ist wohl wahr«, sagt sie. »Fröhliche Weihnachten wünsche ich dir.« Lina lehnt sich zurück und hebt ihre Tasse. »Dir auch fröhliche Weihnachten. Wollen wir eine Runde drehen und die Lampen ausschalten?« »Nein«, sagt Katrin, »laß dem alten Teufel seinen Willen und laß sie brennen.«
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INGER JALAKAS Als er endlich kam, war er müde Okay! Ich bin kein Engel. Nicht, daß ich ausgesprochen bösartig wäre, aber ich habe diese Wut in mir. Ich weiß nicht, woher sie kommt. Vielleicht spukt da mein verfluchter Vater herum. Er ist eben, wie er ist, und kann jeden in den Wahnsinn treiben. Ich weiß es nicht. Egal, ich werde manchmal ziemlich wütend. Wenn man mich provoziert, kocht die Wut über und ergreift Besitz von meinen Gedanken. Manchmal neige ich vielleicht dazu, zu weit zu gehen. Doch inzwischen bin ich lammfromm. Wirklich. Was jedoch im letzten Sommer passierte, war vielleicht ein bißchen zuviel des Guten. Ich bin wohl übers Ziel hinausgeschossen. Ja, das stimmt. Das muß ich zugeben. Aber die Götter sollen wissen, daß ich gute Gründe hatte. Zum Teufel mit den Handwerkern! Mehr sage ich nicht. Also, ich wohne allein. Das war schon immer so. Natürlich habe ich im Lauf der Jahre hin und wieder eine Affäre gehabt. Aber alle sind im Sande verlaufen. Oder, besser gesagt, ich habe sie mir vom Hals geschafft, als sie ihre wahren, schwachsinnigen Seiten zeigten. Das heißt, ich habe Schluß gemacht. Niemanden umgebracht oder so. Man soll Böses mit Gutem vergelten, sagt eine meiner Freundinnen immer. Sie ist verheiratet. Ich nicht. Nie im Leben könnte ich mich damit abfinden, so runtergeputzt zu werden wie sie. Nein, am besten bleibt man allein. Definitiv. Wenn man mich in Ruhe läßt, bin ich friedlich wie nur was. Harmonisch. Ich gehe gern meinem gewohnten Tagesablauf nach. Und zu diesem Vorfall im letzten Sommer wäre es nie gekommen, wenn
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die Belüftungsanlage in dem Haus, wo ich wohne, nicht den Geist aufgegeben hätte. Es ist ein schönes altes Haus von der Jahrhundertwende. Ich habe ganz oben eine wunderbare Wohnung mit Blick über die Dächer. Bei klarem Wetter sehe ich ganz bis nach Vinga. Aber ich weiß nicht, wieviel bei der Renovierung des Hauses gepfuscht wurde. Egal, es geht immer wieder etwas kaputt. Und letzten Sommer hat also die Belüftungsanlage ihren Geist aufgegeben. Im Juli. Mitten in der schlimmsten Hitzewelle. Draußen wie drinnen waren es dreißig Grad. Und ausnahmsweise herrschte Windstille, darum brachte es nichts, die Fenster zu öffnen. Ja, Sie erinnern sich bestimmt, was für eine Hitze das war. »Ein Gewittersturm hat die Anlage ausgeschaltet«, erklärte der Grundstücksverwalter, nachdem es mir endlich gelungen war, seine Handynummer herauszufinden und ihn an die Strippe zu bekommen. Er hatte Urlaub. »Aha. Und?« sagte ich. »Warum schalten Sie nicht einfach den Ventilator wieder ein?« Eine vollkommen berechtigte Frage, oder etwa nicht? Doch, er versprach, sich darum zu kümmern, obwohl er Urlaub hatte. Jemand würde kommen. Bald. Damit gab ich mich zufrieden und kehrte zu meinem keuchenden Dasein auf dem Sofa zurück. Damit verging der Tag. Und der nächste. Und noch immer hatte ich nicht die Spur von einem Installateur gesehen. Es war noch immer genauso heiß. Es war unmöglich, am Tag etwas zu unternehmen oder in der Nacht zu schlafen. Es muß an dieser Stelle gesagt werden, daß ich Schriftstellerin bin. Ich sitze nämlich zu Hause und schreibe. Normalerweise. Bei der Hitze ging es natürlich nicht. Ich lag meist mit einem nassen Handtuch auf dem Gesicht da und litt vor mich hin.
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Schließlich raffte ich mich auf und rief abermals den Grundstücksverwalter an. Diesmal war meine Stimme kühl. Mit vollem Recht, fand ich. »Es ist mitten in der Urlaubszeit«, meinte er. »Schwierig, einen Installateur zu kriegen.« »Ja, mein Gott noch mal. Das ist ein Notfall. Es sind über dreißig Grad in der Wohnung«, erklärte ich. Da hatte der Kerl die Frechheit zu behaupten, er litte mit mir. »Tatsächlich? Wirklich?« wiederholte ich. »Dann können Sie doch so freundlich sein und den Fehler beheben. Sofort.« Doch es kam niemand. Nach einer weiteren schlaflosen Nacht rief ich wieder an. Und bekam Brummen und Ausflüchte zur Antwort, als ich fragte, ob er einen Installateur aufgetrieben habe. Das hatte er natürlich nicht. Da wurde ich richtig wütend. Ich hatte wirklich anderes zu tun, als tagelang irgendwelchen Handwerkern hinterherzutelefonieren. Am Ende sagte er, er würde jemanden anrufen, sobald wir aufgelegt hatten. Ich legte also auf und wartete. Sinnlos war das Warten, wie sich herausstellte. Auch an diesem Tag kein Installateur in Sicht. Jetzt war ich langsam verzweifelt. Eine Woche in einer kochendheißen Sauna hatte wirklich an meinen Kräften gezehrt. Also rief ich an und beschwerte mich wieder. »Wo sind Sie?« fragte ich. »Sie scheinen es schön kühl zu haben.« Ich hörte schließlich fröhliche Stimmen im Hintergrund und das Klirren von Eiswürfeln in dem Glas, das er vermutlich in der Hand hielt. Die Frage schien ihn nervös zu machen. Er weigerte sich jedenfalls, sie zu beantworten. Statt dessen schwor er, unverzüglich dafür zu sorgen, daß ein Installateur aufkreuzte. Glauben Sie es oder nicht. Am nächsten Morgen klingelte es an der Tür. Draußen stand ein auffällig kleiner Mann mit 127
wildem Haarschopf und extrem dicken Brillengläsern. Er bat mich, die Tür zum Ventilatorenraum zu öffnen. »Die ist abgeschlossen«, klärte er mich auf. Keine große Überraschung, meiner Meinung nach. Aber warum meinte er, ich hätte den Schlüssel? Den hatte natürlich der Grundstücksverwalter. Als ich mit meinen Überlegungen soweit gediehen war, machte er auf dem Absatz kehrt und ging. »Hallo!« rief ich ihm nach. »Warten Sie! Gehen Sie nicht weg! Wir rufen ihn an!« Doch er stieg in den Fahrstuhl und verschwand. Darum rief ich natürlich selbst an. Eine Frau meldete sich. Vermutlich seine Frau. Oder seine Mutter, was weiß ich. Zumindest hatte sie denselben Nachnamen. Sie log auf jeden Fall, da bin ich sicher. Als ich nach dem Grundstücksverwalter fragte, behauptete sie, er sei nicht da. Ich glaubte ihr nicht. Ich erklärte ihr die Lage. Sie klang nicht sonderlich interessiert. Sie war sogar ziemlich kurz angebunden. Abweisend. Ihre schnodderige Art ärgerte mich so sehr, daß ich das Telefon auf den Boden warf. Das war natürlich dumm, denn es ging kaputt. Anschließend mußte ich mich hinaus in die Affenhitze begeben und ein neues kaufen. Wieder zu Hause überlegte ich, was ich machen sollte. Da fiel mir ein, daß ich eine Freundin habe, die bei Telia arbeitet, und das Handy des Grundstücksverwalters hatte eine Telia-Nummer. Ich rief sie sofort an und versprach ihr das Blaue vom Himmel, wenn sie sein Handy lokalisierte. Das kann man ja heutzutage machen. Die Telefongesellschaft sieht, woher die Signale kommen. Na, das wissen Sie bestimmt. Natürlich ist es nicht legal, aber wir sind schließlich Freundinnen. Jedenfalls tat sie es. Das Handy befand sich in einem Ferienhausgebiet bei Varberg. Sobald ich die Adresse hatte, fuhr ich hin. 128
Es gab jede Menge Ärger. Ich fand ihn in einem Liegestuhl mit einem großen Whisky in bequemer Reichweite. Er fand das gar nicht lustig. Er war sogar außerordentlich unverschämt. Tat, als würde ich ihn in seinem wohlverdienten Urlaub belästigen, und drohte damit, mich wegen Hausfriedensbruchs anzuzeigen. Das war das Dümmste, was ich je gehört hatte, worauf ich hinwies. »Glauben Sie wirklich, ich würde in dieses obskure Kaff fahren, wenn ich nicht dazu gezwungen wäre? Das ist Ihre Schuld. Hätten Sie Ihr Versprechen gehalten, würde ich nicht hier stehen. Beheben Sie den Schaden!« sagte ich. Recht laut. Dann kehrte ich zum Wagen zurück und fuhr nach Hause. Und, Wunder über Wunder, am nächsten Morgen stand der kleine Mann wieder vor meiner Tür. Mit dem Schlüssel. »Ich gehe hoch und repariere sie jetzt«, verkündete er. Das tat er auch. In gewisser Hinsicht. Dieser merkwürdige Mann hat bestimmt irgendwelche Fähigkeiten, aber Belüftungsanlagen gehörten nicht dazu. Der Ventilator legte zwar los, aber nur die höchste Stufe funktionierte. Man konnte den Luftstrom weder drosseln noch abschalten. Mit dem Ergebnis, daß es klang, als würde in der Wohnung ein Orkan toben. Da war mir die Hitze fast noch lieber gewesen. Ich ging in den Ventilationsraum hinauf, um den Fehler zu beanstanden. Er war abgeschlossen. Und das Licht war aus, stellte ich fest, als ich durch das Schlüsselloch spähte. Er war fort. Blieb also nichts anderes übrig, als den guten alten Grundstücksverwalter wieder anzurufen. Sicherheitshalber stellte ich die Rufnummernunterdrückung ein, damit er nicht erkennen würde, daß ich dran war.
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Er nahm selbst ab und stöhnte, als ich meinen Namen nannte. Ich ignorierte das Stöhnen, sagte, was Sache war, und fragte ruhig, ob es nicht besser gewesen wäre, einen kompetenten Installateur zu schicken. Ihm gefiel die Frage nicht. »Versuchen Sie doch selbst mitten in den Werksferien jemanden zu finden«, keifte er. »Gern«, antwortete ich. »Kommen Sie dann her und schließen auf?« Da knallte er den Hörer auf. Frech sondergleichen, wenn Sie mich fragen. Ich regte mich so sehr auf, daß ich in Ohnmacht fiel. Zumindest fast. Ich sank am Schreibtisch zusammen und schlug mit dem Kopf auf die Tastatur des Computers. Der war an. Ich hatte offensichtlich vergessen, ihn auszuschalten, nachdem mir ein paar Zeilen gelungen waren. Leider traf ich zufällig die Löschen-Taste. Ein ganzes Kapitel war gelöscht. Die Arbeit einer Woche. Davon wurde meine Laune nicht besser. Danach verliefen die Tage ähnlich. Ich telefonierte und beschwerte mich. Er log, schob alles auf die lange Bank, kam mit Ausreden oder scherte sich nicht um eine Antwort. An Arbeit war nicht zu denken. Ich brauche Ruhe, um kreativ sein zu können. Die Nächte waren noch schlimmer als die Tage. Jetzt war wegen des Lärms nicht an Schlaf zu denken. Stunde um Stunde drehte und wälzte ich mich im Bett herum, ohne ein Auge zuzumachen. Erst nach weiteren zwei Wochen kehrte der Grundstücksverwalter aus seinem schönen Urlaub zurück. Da war ich vollkommen erschöpft. Ich merkte, daß er zurück war, weil es plötzlich still wurde. Eine Weile. Dann ging der Lärm von neuem los.
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Vorsichtig öffnete ich die Wohnungstür und lauschte die Treppe hinauf. Doch, dicke Holzschuhe trampelten da oben im Ventilatorenraum herum. Ich trug weiche Pantoffeln an den Füßen. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, meine Nachbarn durch Holzschuhe zu stören. Bösartig bin ich nicht, wie schon gesagt. Wie ich gerade dastand und überlegte, ob ich die Kraft hatte, mich die Treppe hinaufzuschleppen, verstummte das Trampeln. Ich stand lauschend da. Er hatte aufgehört herumzulaufen. Es war nur noch das Donnern des Ventilators zu hören. Mir blieb keine Wahl. Ich mußte hochgehen und nachsehen, was er da machte. Ich schlich die Treppe hinauf. Und da saß er und schlief, an eine grün gestrichene Ventilatortrommel gelehnt. Braungebrannt, schwabbelig und mit einer Fahne. Die Werkzeugkiste zu Füßen und deren Inhalt über den Boden verstreut. Schraubenzieher und Schraubenschlüssel, Zollstock und Hammer. Ein einziges Durcheinander. Der Mann hielt wirklich keine Ordnung. »Was machen Sie da?« fragte ich. »Haben Sie den Schaden repariert?« Er zuckte zusammen und blinzelte verschlafen. »Bin wohl eingeschlafen«, murmelte er. »Ich bin müde.« »Müde! Da kommen Sie endlich und sind müde! Für wen halten Sie mich eigentlich? Ich habe wochenlang nicht geschlafen.« Sagte ich. Leise, damit die Nachbarn nichts hörten. Dann erschlug ich ihn mit dem Hammer. Das Verhör wurde am 8. September 2003 um 14 Uhr 27 beendet. Es wurde geführt von Kriminalinspektorin Margareta Nordin, Bezirkskriminalkommissarin in Göteborg. 131
ÅKE EDWARDSON Nie in Wirklichkeit Sie hörte sich den Wetterbericht an, und er konzentrierte sich aufs Fahren. Er folgte der Spur der Sonne. Ein kleines Aufblitzen, ein Schatten genügte. Er war jederzeit bereit, die Richtung zu wechseln. Kehrtwendungen beherrschte er mittlerweile bis zur Vollendung. Sie las die Karte. Das konnte sie richtig gut. Sie entfernten sich immer weiter von der Zivilisation, aber ihr entging keine einzige Abzweigung. »Als wärst du in dieser Gegend aufgewachsen«, sagte er. Sie antwortete nicht und studierte weiterhin die Landkarte auf ihren Knien. »Wir sind ungefähr einen Kilometer von einer Kreuzung entfernt, an der drei Straßen aufeinandertreffen«, sagte sie und sah auf. »Hm.« »Dort mußt du links abbiegen.« »Kommen wir dann zur Sonne?« fragte er. »Im westlichen Teil der Provinz soll’s besser sein«, meinte sie. »Das haben sie ja gerade im Radio gesagt.« »Um so größer die Chance, daß es sonnig wird«, sagte er. Er sah, wie die blaugraue Wolkendecke im Nordwesten aufbrach, als hätte jemand einen Spieß zwischen die Wolken gestoßen. Vielleicht ist es ja Gott, dachte er. Vielleicht ist er uns endlich ein wenig von Nutzen. »Da ist die Kreuzung«, stellte sie fest. Der Himmel war unfaßbar blau, als sie durch das Dorf fuhren.
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»Aha, so sieht das also aus, wenn die Sonne zum Vorschein kommt«, sagte er und nahm seine Sonnenbrille in die Hand. »Vielleicht gibt es ja wirklich einen Gott.« »Glaubst du, er denkt an uns?« fragte sie. »Er glaubt vielleicht sogar an uns«, meinte er. »Das grenzt geradezu an Gotteslästerung«, sagte sie. »Ich glaube, das ist ihm ganz egal. Er ist vollauf damit beschäftigt, für Hochdruck zu sorgen.« »Woher weißt du, daß es sich um einen Er handelt?« fragte sie leise, aber er hörte es trotzdem. »Sprich mit den Leuten hier nicht zuviel über Gott«, fuhr sie fort. »Wir befinden uns in einer frommen Gegend.« »Da sollte man doch erst recht über Gott reden?« wandte er ein. »Das kann man auf unterschiedliche Arten tun.« »Erstaunlich, wieviel du auf einmal weißt, sowohl über die Leute als auch über Gott.« Sie antwortete nicht. »Jedenfalls bleiben wir hier«, sagte er. »Jetzt haben wir schon so lange nach der Sonne gesucht, dann hauen wir nicht einfach ab, wenn wir sie gefunden haben.« Mitten im Dorf, an einer weiteren Straßengabelung, bog er rechts ab. Auf einer Anhöhe lag eine kleine Kirche, weißgekalkt und tausendjährig. Obwohl die meisten Leute hier einer Freikirche angehörten, pflegten sie ihre uralten Gemeindekirchen. Vielleicht hatte das ja gar nichts mit Religion zu tun. Ein Mann mit Schirmmütze mähte sich auf seinem Rasentraktor den Abhang hinunter. Das Motorengeräusch klang weich, fast wie das Summen einer Hummel. Das Gras war grün und üppig und nicht von der Sonne verbrannt. Vielleicht hatten sie wochenlang darauf warten müssen, mähen zu können. Noch ein 133
paar Tage, und sie hätten die Sense nehmen müssen. Den Sensenmann herbeirufen, dachte er und lächelte. Der Mann mit Schirmmütze schaute hoch, als das Auto vorbeifuhr, und senkte sofort wieder grußlos seinen Blick. »Vielleicht gibt es irgendwo in der Nähe eine kleine Badestelle«, meinte sie. »Dort bauen wir unser Zelt auf«, erwiderte er. Sie waren alleine am See. Oder an dem Tümpel oder was immer es auch sein mochte. Das Flüßchen floß hier vorbei, und die Dorfbewohner hatten es aufgestaut und sich so ihren eigenen kleinen See geschaffen. Er konnte das Stauwerk auf der anderen Seite sehen, bis dorthin waren es kaum mehr als hundert Meter. Am Badeplatz gab es einen Tisch und zwei Bänke und zwei Umkleidekabinen, eine für Damen und eine für Herren. »Solche habe ich nicht mehr gesehen, seit ich ein kleiner Junge war«, sagte er und nickte zu einem der roten Schuppen hinüber. Er stand auf der Liegewiese. Das Wasser glitzerte im Sonnenschein. Plötzlich war es sehr warm geworden, als befänden sie sich auf einmal in einem anderen Land. Hier gehöre ich hin, dachte er. Hoffentlich findet sonst niemand hierher. Neben der Badestelle lag der Campingplatz oder wie man es nun nennen sollte. Es gab zwei Wasserhähne über einem Spülund Waschbecken aus Holz, ein Plumpsklo aus demselben Holz und Platz für Auto und Zelt, also alles, was das Herz begehrte. Sie schaute vom Gepäck auf. »Wir müssen irgendwohin einkaufen fahren. Wir haben nur noch einen Schluck Mineralwasser in der Kühltasche.« »Ich weiß, ich weiß«, antwortete er. »Aber zuerst bauen wir das Zelt auf.«
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Es waren knapp zwanzig Kilometer bis zur nächsten Stadt, wenn man sie überhaupt als solche bezeichnen konnte: ein stillgelegter Bahnhof, geschlossene Läden mit leeren Schaufenstern und eine leere Hauptstraße in der prallen Sonne. Wenn ein Schaufenster keine Waren mehr zur Schau stellt, kann es doch nicht mehr als Schaufenster bezeichnet werden, überlegte er. Aber es gab ein Konsumwarenhaus und eine staatliche Weinhandlung. Was will man mehr in den Ferien, dachte er. »Ich geh in die Weinhandlung und du in den Konsum«, sagte er. »Wollen wir nicht zusammen einkaufen?« fragte sie. »Wir haben doch Zeit.« Er antwortete nicht. »Dazu hat man doch die Ferien«, fuhr sie fort. »Um sich Zeit zu lassen.« »Ja, ja«, erwiderte er. Im Einkaufszentrum war es kühl, fast schon kalt. Soweit er beurteilen konnte, waren sie mit Ausnahme der jungen Frau an der Kasse am hinteren Ende ganz allein. Keine weiteren Kunden. Als sie durch die Stadt gefahren waren, hatte er keinen einzigen Menschen auf der Straße gesehen. Vielleicht waren alle geflohen, bevor die Sonne gekommen war. Diese Gegend lag genau in der Mitte zwischen den beiden Küsten. Die Leute hatten zum Schluß einfach die Geduld verloren und im Westen oder Osten Jagd auf die Sonne gemacht. Er hatte es umgekehrt gemacht, und das hatte sich ausgezahlt. Die Sonne da oben würde lange bleiben. Wenn sich das Hochdruckgebiet im Landesinneren erst einmal gefestigt hatte, war es unerschütterlich. »Die Koteletts sehen gut aus«, sagte sie. 135
Er genoß die endlose Dämmerung. Die Sonne wollte jetzt, wo sie sich endlich einmal zeigen durfte, einfach nicht hinter den Wipfeln untergehen. Er hatte sich, während er die Marinade für die Koteletts vorbereitete, einen kleinen Whisky genehmigt und dann noch einen, während er den Grill aufbaute. Das Leben war wunderbar. Man mußte ihn nur anschauen: In der siebenundzwanzig Grad warmen Abendluft trug er nur ein Paar Shorts. Ein herrlicher Duft kam aus dem Wald, ein anderer herrlicher Duft vom Wasser her, ein herrlicher Duft von dem Whisky und bald ein herrlicher Duft vom Grill! Er zündete den Grill an und nippte an einem weiteren kleinen Whisky. »Bist du dir sicher, daß du keinen möchtest?« fragte er und hielt sein Glas hoch. Ein Sonnenstrahl traf den Alkohol, und der Bernstein darin blitzte auf. Eine wunderbare Farbe. »Nein, ich halte mich an den Wein«, sagte sie und deutete mit dem Kopf zur Weinflasche, die bereits entkorkt im Schatten unter dem Campingtisch wartete, auf dem sie den Salat anmachte. Er hatte eigentlich zwei Flaschen öffnen wollen, aber sie hatte eingewandt, es genüge vorerst eine. Sie waren sich auch einig gewesen, daß sie keinen Wein aus dem Tetrapak trinken wollten, nicht einmal jetzt in den Ferien an diesem abgelegenen Ort. Tetrapakwein zu trinken war stillos, das war schon immer seine Meinung gewesen, in allen Lebenslagen mußte man auf Stil achten. Leute, die Tetrapakwein konsumierten, konnten ihn auch gleich aus einem Pappbecher trinken. Und mit Plastikbesteck von Papptellern essen. Und ihm überhaupt gestohlen bleiben! dachte er, lächelte und leerte sein Glas. Ein guter Whisky. Sollen sie sich doch alle zum Teufel scheren. Das hier sind meine Ferien, das ist meine Sonne, mein See und mein Campingplatz. Dieses Scheißland hat immerhin einen Vorteil, 136
man kann überall sein Zelt aufbauen, ohne daß einen gleich irgendein Bauerntölpel abknallt. Vielleicht sollte ich ja zur Abzweigung gehen und das Schild zum Badeplatz abmontieren, dachte er. Das ist unser Platz. Ich habe doch meinen Steckschlüsselsatz dabei. Plötzlich hielt er das für eine strahlende Idee, aber ihm war auch klar, daß der Whisky dahintersteckte. Schließlich könnte einer dieser Bauerntölpel mit seinem Heuwagen vorbeikommen und sich fragen, was er da eigentlich tat, und das wäre dann nicht gut, nur wahnsinnig zeitraubend. Er hielt die Hand über den Rost. »Ich lege die Koteletts jetzt auf den Grill«, sagte er. Später saß er dann mitten in dem, was man zu einer anderen Jahreszeit als Dunkelheit bezeichnet hätte. Die Sonne war nur kurz hinter dem Tannenhorizont verschwunden, um gleich wieder zurückzukehren. Das Wasser war glatt. Er konnte die Umrisse auf der anderen Seite erkennen. Es sah aus wie ein Dschungel, ein hundert Meter entfernter Dschungel. Plötzlich sah er ein Licht. »Was war denn das?« Er wandte sich ihr zu und deutete über das Wasser. Sie hatte angekündigt, zu Bett zu gehen, saß aber immer noch da. Das war wieder typisch. Sie sagte eine Sache und tat das Gegenteil. Er hätte gern die letzte Stunde allein hier gesessen und die Stille und die Ruhe genossen. Jetzt hatte er den Eindruck, daß sie ihn betrachtete. Ja, betrachtete. In letzter Zeit hatte er immer öfter dieses Gefühl gehabt. Als mustere sie ihn. Aber jetzt starrte sie über den See, als tue sie es nur, weil er es tat. Da war das Licht wieder, wie von einer Taschenlampe. Es blinkte. Einmal, ein zweites Mal, ein drittes Mal, ganz kurz. 137
»Da war es wieder!« »Wo denn?« fragte sie. »Hast du es denn nicht gesehen?« »Hat da was geblinkt?« »Aber ganz sicher!« »Vielleicht habe ich ja auch was gesehen«, meinte sie. »Vielleicht? Da war jemand mit einer Taschenlampe.« »Aber es könnte doch auch ein Lichtreflex gewesen sein?« »Ein Reflex?« erwiderte er. »Wo hätte der denn herkommen sollen?« Sie zuckte mit den Schultern. »Die Sonne geht erst in ein paar Stunden wieder auf.« Er versuchte etwas zwischen den Dschungelkonturen zu erkennen, aber nichts regte sich mehr. »Da drüben war jemand.« »Vielleicht ist da jemand, der einen Spaziergang macht.« »Hm.« »Nein, jetzt gehe ich schlafen.« »Du bist ja wirklich unbekümmert«, meinte er, »und zu Hause traust du dich kaum, ohne Licht zu schlafen.« »Hier ist das anders«, sagte sie. Am Morgen waren alle vagen Konturen verschwunden. Alles erstrahlte deutlich im Sonnenlicht. Er ging sofort baden und staunte darüber, wie klar das Wasser war und wie kalt. Er warf sich nach vorne und spürte, wie die Kälte ihn umschloß, und als er wieder an die Oberfläche kam, war sein Kater verschwunden, noch ehe er ihn gespürt hatte. Richtige Ferien! Er sah sie aus dem Zelt kommen, sich recken, gähnen und dann blinzelnd erst in die Sonne schauen und dann auf ihn. 138
»Willst du nicht ins Wasser kommen?« fragte er und planschte mit der Hand. »Gleich«, antwortete sie und ging zum Plumpsklo. »War da nicht irgendwo in dieser beschissenen Kleinstadt eine Bäckerei?« rief er hinter ihr her. Sie drehte sich um. »Doch, ich glaube schon.« »Ich habe plötzlich so verdammte Lust auf frische Brötchen. Und auf Kopenhagener. Ich fahr los und besorge uns ein Frühstück.« Er schwamm auf das Ufer zu. »Kannst du überhaupt fahren, Bengt?« »Was soll denn das?« »Der Whisky.« »Verdammt, das war doch gestern. Und ich wette hunderttausend, daß es im Umkreis von hundert Kilometern keine Bullen gibt.« »Wir haben keine hunderttausend«, meinte sie und drehte sich wieder um. Er bog beim Badeplatzschild links ab und an der Straßengabelung im Dorf auch. Die Kirche war so strahlendweiß verputzt, daß er trotz Sonnenbrille Kopfschmerzen bekam. Etwa hundert Meter vor ihm stand ein Pick-up quer auf der Straße. Ein Mann mit Baseballmütze stand vor dem Auto. Er hob eine Hand. Was sollte das denn? Er ließ das Seitenfenster herunter. Der Mann beugte sich vor. »Was ist los?« 139
»Eine große Elchfamilie überquert gerade die Straße«, antwortete der Mann. Er sprach einen Dialekt, der ihm vage bekannt vorkam, diese Satzmelodie hatte er schon einmal gehört, er konnte sich nur nicht erinnern, wo. »Ich sehe keine.« »Das ist auch weiter vorn. Wir wollen nicht, daß jemand zu Schaden kommt.« »Ihr seid hier wirklich auf Zack.« »Das ist unsere Aufgabe.« »Ich dachte, Ihre Aufgabe wäre es, die Elche abzuschießen«, sagte er und lachte. »Das stimmt«, meinte der Mann, lächelte und richtete sich wieder auf. »Aber zu dieser Jahreszeit ist Elchsafari angesagt.« »Richtig, das stand auf irgendwelchen Schildern.« »Sie haben sie gesehen?« »Das ließ sich kaum vermeiden.« Er hatte die blauweißen Schilder mit dem Text »Elchsafari«, einem dicken Pfeil und dem Bild eines Elchs an beiden Ortsausgängen gesehen. »Haben Sie denn auch schon mal einen Elch gesehen?« fragte der Mann. »Unzählige Male.« »Ach?« »Auf Fotos«, sagte er und lachte wieder. »Aber noch nie in Wirklichkeit.« Der Mann lächelte erneut. »Das ließe sich mühelos einrichten.« »Wie meinen Sie?«
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»Wir ziehen heute abend in der Dämmerung los. Ich garantiere Ihnen, daß Sie dann etwas zu sehen kriegen, was Sie noch nie gesehen haben.« Er lächelte. »In Wirklichkeit, meine ich.« »Tja, ich weiß nicht.« Er versuchte an dem Pick-up vorbeizuschauen, sah aber keine Elche. Wenn er welche gesehen hätte, dann hätte er das Angebot oder was es nun war leichter ausschlagen können. »Was ist denn das eigentlich?« fragte er. »Eine Elchsafari?« »Es gibt hier ein paar Leute, die wissen, wo im Wald sich die Elche aufhalten. Wir nehmen andere Leute mit und zeigen ihnen diese Stellen. Mehr ist nicht dabei.« Der Mann beugte sich vor. »Wir haben natürlich was zu essen dabei und Bier und Schnaps. Außerdem gibt es einen Unterstand, und da sitzen wir dann und grillen, wenn es dunkel wird.« Der Mann lächelte unter seinem Mützenschirm. Seine Augen waren nicht zu erkennen. »Das ist immer recht nett.« Unterstand, Grillen, Wald. Wilde Tiere. Das klang wirklich nach Abenteuer, ein organisiertes Abenteuer zwar, aber immerhin. Bier und Schnaps. Er hatte bereits eine trockene Kehle und trockene Lippen. Er sah sich schon mit einem Klaren vor dem Lagerfeuer sitzen. Unter Männern. Die Welt der Männer, astrein. »Wir veranstalten einen Fünfkampf. Der ist auch immer sehr beliebt.« Der Mann lächelte. Die Zähne waren dunkel, vielleicht lag es ja am Schatten der Mütze. »Da geht’s meistens ziemlich hoch her.« »Was … was kostet der Spaß?« »Fünfhundert. Aber da ist dann alles enthalten, soviel vom Grill, wie Sie essen können, und soviel Schnaps, wie Sie trinken können. Und die Elche natürlich!« »Wann?«
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»Wir fangen um sieben an. Treffpunkt ist vor der Kirche«, sagte der Mann und deutete mit dem Kopf in die Richtung, aus der er gekommen war. »Jenseits der Kreuzung.« »Wie viele sind dabei?« »Bisher sind wir zu fünft und sechs, wenn Sie auch mitkommen. Das ist genau richtig, bei mehr Leuten wird der Wald zu unruhig.« Der Wald wird zu unruhig, dachte er. Das war ein guter Ausdruck. Als hätte der Wald ein Eigenleben. Vielleicht hatte er das ja auch. Das Blinken, das er in der vergangenen Nacht gesehen hatte, waren vielleicht die Augen des Waldes gewesen. »Ich bin dabei«, sagte er. Als er zurückkam, stieg sie gerade aus dem Wasser. »Das war angenehm«, sagte sie. »Hab ich doch gesagt.« »Hast du die Brötchen?« »Darauf kannst du Gift nehmen!« »Du bist aber guter Laune.« »Stört dich das etwa?« »Nein, nein.« »Vielleicht könntest du dich ja ein bißchen darüber freuen, daß ich in die Stadt gefahren bin, um frische Brötchen und Kopenhagener zu kaufen?« »Das war doch sowieso deine Idee.« »Soll das heißen, es ist dir egal?« »Habe ich das gesagt?« »Vielleicht hätte ich ja gar nicht in die Stadt fahren sollen?« Er wog die Tüte in der Hand. Sie kam ihm schwerer vor als zu dem Zeitpunkt, als er sie aus der Bäckerei getragen hatte. 142
»Vielleicht sollten wir das Zeug gar nicht erst zum Frühstück essen?« »Sei nicht dumm, Bengt.« »Dumm? Bin ich dumm?« Er trat einen Schritt auf sie zu. »Behauptest du, daß ich dumm bin?« Er sah, wie sie zurückwich, als würde er gleich zuschlagen. Das war früher schon mal vorgekommen, aber er wußte, daß sie begriffen hatte, daß er jenes Mal keine andere Wahl gehabt hatte. Oder jene Male. Sie war zu weit gegangen, und er hatte seine Hand oder seinen Arm nicht stoppen können. Darüber hatten sie gesprochen. Sie hatte es begriffen. Aber was er nicht begreifen konnte, war, daß sie es offenbar doch nicht begriff. Sie bezeichnete ihn als dumm. Mitten in den Ferien. Ausgerechnet wenn er vom Einkaufen zurückkam, wenn er sich Mühe gegeben hatte. Gerade jetzt, wo er anfing zu relaxen. Und wo er die ersten richtigen Elche seines Lebens zu Gesicht bekommen würde. Würde sie auch das als dumm bezeichnen? Er wog die Tüte in der Hand. Dann schleuderte er sie weg, so weit er konnte. Sie war schwer genug, um ein gutes Stück über den See zu fliegen. Er sah sie stromabwärts treiben. Er hörte sie aufschluchzen, drehte sich aber nicht um. So ging es eben, wenn man das, was geboten wurde, nicht zu schätzen wußte. Da gab es eben keine frischen Brötchen. Da wurde was ganz anderes aufgetischt. Während des Mittagessens schwieg sie, und das war genauso gut. Er trank nur zwei Bier zum Essen. An jedem anderen Tag hätte er auch noch ein paar Schnäpse getrunken, aber der Abend würde lang werden.
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Er hatte ihr davon erzählt, und sie hatte genickt, fast so, als wisse sie Bescheid. Das war aber nur so ein seltsames Gefühl, das ihn beschlich. Er hatte von der Elchsafari erzählt, und sie hatte genickt und dann weggeschaut, über den See und auf die andere Seite und zu der Stelle, wo in der vergangenen Nacht das Licht aufgeblitzt war. Als stünde dort jemand. Das war aber nur ihre Art, das, was er gesagt hatte, zu verarbeiten. Ihr war klar, daß sie ihm nicht mit irgendwelchen Einwänden kommen konnte, es waren doch verdammt noch mal auch seine Ferien? Er durfte doch wohl auch mal seinen Spaß haben? »Ist das … mit Übernachten?« fragte sie nach einer Weile. »Nein, nein. Wir brechen irgendwann nach Mitternacht das Lager ab.« Ihm gefiel der Ausdruck. Das Lager abbrechen. Das war etwas Richtiges, nur unter Männern. Abbrechen. Das Lager. »Wo liegt denn dieser … Unterstand?« »Dort draußen«, sagte er und deutete auf den Wald, der sie auf allen Seiten umgab. »Mehr braucht man nicht zu wissen.« Ein weiteres Mal schaute sie weg. Er trank den letzten Schluck Bier und erhob sich. »Jetzt gehe ich noch mal schwimmen.« Rasch begab er sich ins Wasser und tauchte den Körper unter. Es war bedeutend wärmer als am Morgen. Er vermied es, weiter rauszuschwimmen. Irgendwann einmal hatte er gehört, daß es gefährlich sei, nach dem Essen zu schwimmen, weil man untergehen könne wie ein Stein. Und von denen gab es hier schon genug, auf dem Grund und am Ufer. Er sah, wie sie sich erhob und ins Zelt ging. Nach einer Minute kam sie wieder heraus, ging zur Spüle und holte eine Plastikschüssel für das schmutzige Geschirr. Wenn sie etwas gelassener gewesen wäre, dann hätte er ihr anbieten können, das Spülen zu übernehmen. Jetzt war es zu spät. 144
Er legte sich auf den Rücken und ließ sich treiben. Das ging leicht, als wäre das Wasser ein klein wenig salzig. Er nahm den Geruch des Waldes, des Ufers und des Wassers wahr. Dieser Badeplatz war eine Perle. Seltsam war nur, daß sie die einzigen hier waren. Natürlich befanden sie sich in einer ziemlich entvölkerten Gegend, aber schließlich war Ferienzeit. Und da füllten sich diese Landstriche mit Menschen aus halb Europa. In der Bäckerei hatte er Deutsch gehört. Die Deutschen hätten eigentlich auch hierherfinden müssen. Die Landstraße war asphaltiert und das Schild zum Badeplatz deutlich zu sehen. Auf dem Campingplatz hätten weitere Zelte stehen müssen. Glücklicherweise war das nicht der Fall, aber trotzdem. Und irgendwelche Dorfbewohner müßten eigentlich auch herfinden, um zu schwimmen, in einem der Höfe mußte es auch Kinder geben. Es gab mehrere Höfe in der Nähe. Und die Bauerntölpel müßten doch eigentlich auch herkommen, um nach dem Arbeitstag das Heu abzuwaschen. Aber nein. Vielleicht war es ja zu heiß, dachte er. Vielleicht befanden sich die Kinder ja im Ferienlager am Meer. Nein, wohl kaum. Wahrscheinlicher wäre, daß es hier irgendwelche Ferienkinder aus der Stadt gäbe. Das war ein lustiger Ausdruck, als ob es Kinder nur in den Ferien gäbe oder als ob sie nur dann Kinder wären. Sie war ein Ferienkind gewesen. Er erinnerte sich nicht, wann sie ihm das erzählt hatte oder ob er es von jemand anderem wußte. Wer immer das gewesen sein mochte. Sie hatte als Kind einige Sommer auf dem Land verbracht. Vielleicht in einer Gegend wie dieser. Er erinnerte sich nicht, wo. Aber eine Bäuerin war aus ihr nicht geworden. Nur seltsame Spuren eines seltsamen Dialekts waren ihr aus dieser Zeit geblieben, ab und zu ein Dialektwort. So seltsam wie dieser Mützentyp, wie dieser Elchsafarimann. Vielleicht klangen diese Bauerntölpel ja alle so, vielleicht war das etwas Universelles. 145
Er lächelte und ließ sich weiter auf dem Wasser treiben. Um fünf vor sieben parkte er unterhalb der Kirche. Die Sonne schien noch stark. Er schloß den Wagen ab und ging die Anhöhe hinauf. Irgendwann später am Abend würde sie einen Spaziergang hierher unternehmen und das Auto holen. Bis zum Camping- und Badeplatz waren es nicht mehr als drei oder vier Kilometer. Es war ihr eigener Vorschlag gewesen. Wäre schön, wenn das öfters vorkäme. Die Kirche schien in dem weißen Sonnenlicht von innen zu leuchten. Alles hier war weiß: die Fassade der Kirche, das Gras und die Gräber im Gegenlicht und der Himmel direkt über ihm. In einigen Stunden würde sich das blaue Abendlicht herabsenken. Das war die beste Zeit. Er stellte sich vor die schmiedeeiserne Pforte. Der Friedhof dahinter war sehr klein, nur etwa zwanzig Gräber ließen darauf schließen, wie wenige Menschen hier lebten, genauer gesagt gelebt hatten. Wenige hatten hier ihr Leben verbracht, und deswegen starben hier auch nur wenige. Er dachte einen Augenblick darüber nach, ob er hier wohl leben könnte. Die Antwort auf diese Frage war ein einfaches Nein. Wenn die Sonne schien, ging es ja noch, aber sonst? Hier war das Hochland, mitten im Winter sank die Temperatur in dieser Gegend bis auf minus dreißig Grad. Bei diesem Gedanken schauderte es ihn fast. Er betrachtete wieder die Gräber. Wenn er hier sterben würde? Wohl kaum. Wenn man nicht hier lebte, starb man hier auch nicht. Oder? Er lächelte. Hinter sich hörte er einen Automotor und drehte sich um. Der Pick-up fuhr auf den Kies des Parkplatzes, und der Mann mit der Baseballmütze schaute auf der Fahrerseite aus dem Fenster. »Steigen Sie ein«, rief er. Er ging auf den Wagen zu und stieg auf der Beifahrerseite ein. »Wo sind die anderen?« fragte er. 146
»Die warten schon im Wald.« »Ich dachte, wir würden uns alle hier treffen?« »Die anderen sind schon früher gekommen. Mein Geschäftspartner ist mit ihnen vorgefahren.« Er fragte nicht weiter. Sie fuhren denselben Weg, den er gekommen war. Der Wind drang warm durch das Seitenfenster. Rechts sah er weidende Kühe. Die Euter waren geschwollen. Bald mußten sie gemolken werden. Die Cowboys würden angeritten kommen und sie zusammentreiben. Movin’, movin’, movin’. Er hatte vor vielen Jahren eine Fernsehserie gesehen, und die Titelmelodie war hängengeblieben. Diese Serie hätte man auch hier drehen können. Hier schien sich nichts verändert zu haben, einmal abgesehen davon, daß man die Pferde durch Pick-ups ersetzt hatte. Auf den Weiden gab es aber immer noch genug Reitpferde. Sie passierten die Abzweigung zum Badeplatz. Zumindest kam es ihm so vor. Es gab dort kein Schild mehr. Er drehte sich um, nachdem sie vorbeigefahren waren. Ja, das war zweifellos die Abzweigung. Er erkannte zwei miteinander verwachsene Tannen wieder, die etwa fünfzig Meter Richtung Badeplatz wuchsen. Er wandte sich an den Fahrer. »Das Schild ist weg.« Der Mann mit der Baseballmütze warf ihm einen raschen Blick zu, antwortete aber nicht. »Das Schild zum Badeplatz. Da unten steht ja mein Zelt.« Der Mann schaute in den Rückspiegel. »Das Schild?« »Ja, das Schild. Blau und weiß. Ein ganz normales Badeplatzschild.« 147
»Hm. Da haben Sie recht«, meinte der Fahrer und schaute weiter in den Rückspiegel. »Da hängt sonst immer eins.« »Jetzt nicht mehr.« »Hm. Vielleicht haben sie es ja zum Reparieren oder so runtergenommen.« »In der Hauptsaison?« »Tja, keine Ahnung.« Der Mann warf ihm einen raschen Blick zu. »Ist das so wichtig?« »Nein, vermutlich nicht … Mir kommt das nur so komisch vor.« Der Mann antwortete nicht. Plötzlich bog er auf einen Forstweg ab, der noch vor ein paar Sekunden nicht sichtbar gewesen war. Ein Schild gab es nicht. Der Weg war kein Weg, sondern eher ein breiter Pfad. Vielleicht ist das ja die Landstraße der Elche, dachte er. Hier trotten sie ruhig dahin und ahnen nichts Böses, und oben auf den Hochsitzen warten die Bauerntölpel und zielen. Er schielte zu dem Fahrer hinüber. Lieber vorsichtig sein. Er hatte so einen Bauerntölpel neben sich. Ungut, wenn der ahnte, was er dachte. Mit ihm war sicher nicht zu spaßen. Sie erreichten eine Weggabelung, und er dachte plötzlich an das geplante Grillen. An den Schnaps und an das Bier. Er hatte seinen Nachmittagswhisky nicht getrunken, und das spürte er jetzt. Er hatte eine trockene Kehle. Seine Zunge fühlte sich an, als gehörte sie nicht recht in seinen Mund. Nie wieder würde er auf seinen Nachmittagswhisky verzichten. Der Pick-up schaukelte eine Anhöhe hoch. Die Bäume wurden spärlicher und verschwanden oben ganz. Der Fahrer hielt an und drehte den Zündschlüssel herum. »Da wären wir«, sagte er und stieg aus. Dort oben schien man auf dem Dach der Welt zu stehen oder zumindest auf dem Dach der Provinz. Kilometer um Kilometer 148
konnte man in alle Richtungen sehen. Wie mitten auf dem Meer mit Tannenwipfeln als Horizont. Im Westen näherte sich die Sonne allmählich dem Horizont. Man würde ihrem Lauf mit den Blicken folgen können, bis sie gelb aufloderte und dann wieder aufging, wenn man nur lange genug ausharrte. Aber jetzt ging’s los. »Da sind die anderen«, sagte der Mann mit der Baseballmütze. Einige Gestalten schlenderten vom Waldrand auf sie zu. Er zählte vier Personen. Sie trugen derbe Jeans, karierte Hemden, stabile Stiefel und dieselbe Baseballmütze wie der Mann neben ihm. Sie sahen alle aus, als stammten sie aus der Gegend. Er selbst hingegen sah nicht aus, als stamme er von hier. Er trug ein blaues Leinenhemd, das er in eine Baumwollhose gesteckt hatte. Dazu Seglerschuhe, stabile zwar, aber trotzdem. Und er trug keine Baseballmütze. Der Mann mit der Baseballmütze stellte ihn den anderen vor, als sei er der einzige Fremde. Vielleicht trifft das ja auch zu, dachte er. Vielleicht sind ja fünfhundert Kronen viel Geld für diese Bauerntölpel, hundert für jeden. Da können sie dann zur Genossenschaft fahren und sich ein paar Säcke von dem Zeugs kaufen, das sie gerade brauchen. Aber niemand hat bisher Geld gefordert, dachte er. »Dann nehmen wir unsere Posten ein«, sagte der Mann mit der Baseballmütze. Für ihn war er der Mann mit der Baseballmütze, obwohl sie alle eine trugen. Das war eine merkwürdige Formulierung: Dann nehmen wir unsere Posten ein. Der Mann mit der Baseballmütze ging voran zu einer Art Aussichtsturm, der neu aussah. Er wirkte hier oben fast überflüssig, aber vielleicht hatte man von dort oben eine noch bessere Aussicht auf die Elche. Vielleicht störte man sie dort auch weniger. Sie stiegen die Treppe aus groben Holzbohlen hinauf. 149
Es war höher, als es von unten wirkte, aber so war es immer. Stets hatte ihn dieses Gefühl befallen, wenn er sich, was nun schon lange her war, auf einem Sprungturm befunden hatte. Oder auf irgendeinem anderen Turm. Plötzlich hatte er das Gefühl, daß es sehr lange her war, daß er überhaupt etwas unternommen hatte. Er hatte hauptsächlich existiert, was auch immer das heißen mochte. Er war nicht wie jetzt auf Türme geklettert. Er hatte kein Feuer gemacht. Er hatte Schnaps getrunken, aber das konnte man schließlich überall. Er hatte geglaubt, in der Wirklichkeit zu leben, aber das hier war die Wirklichkeit. Er spürte den Wind hier oben. Er kam sich sowohl groß als auch klein vor. »Schau mal dort unten«, hörte er einen der Männer sagen. Er schaute. Etwas bewegte sich zwischen den Tannenzweigen. Er sah, wie sich Laub regte, hob und senkte. Er sah etwas Braunes oder Schwarzes, die Farbe war nicht so leicht auszumachen, da die Sonne langsam am Horizont unterging, und das bedeutete, daß die Farben in der Erde versanken. Er konnte sehen, wie die Elche auf die Weggabelung dort unten zumarschierten und ihren Weg Richtung Osten fortsetzten. Die Elche! Seine ersten Elche! Sie schienen eine Familie zu sein, obwohl alle von hier oben ungefähr gleich groß aussahen. Sie kamen wie auf Bestellung. Einen Moment lang dachte er, sie seien darauf dressiert, aufzutauchen, wenn sich Leute auf dem Turm zeigten, doch das wirkte zu weit hergeholt. Aber man konnte nie wissen. Die Leute in dieser Einöde kommunizierten vielleicht besser mit Tieren als ein Stadtmensch wie er. Die Elche staksten ohne Hast gen Osten. Sie blieben ein paarmal stehen und rissen ein paar Blätter ab, als wollten sie Frische und Geschmack testen. Ihre Bewegungen waren ruckartig und etwas unbeholfen, aber gleichzeitig wirkten sie 150
majestätisch. Die Könige und Königinnen des Waldes. Plötzlich wünschte er sich, sie würde hier neben ihm stehen. Der Gedanke überraschte ihn. Er dachte, daß alles anders hätte sein können. Sie hätten eine Familie sein können, eine richtige Familie. Wie die Elche dort unten. Jetzt verschwanden sie wieder im Wald. Der Augenblick war vorüber. Er hatte seinen Augenblick in der Wirklichkeit gehabt, und jetzt war er vorbei, schritt langsam gen Osten. Er schaute sich um und merkte, daß ihn alle Männer betrachteten. Seine Reaktion beobachteten. Er war sich ziemlich sicher, daß er der einzige Zahlende war, aber das spielte keine Rolle. Er hatte seinen Augenblick gehabt. Er war ein anderer geworden. Er wollte ihr das erzählen, und zwar sofort. Aber das wäre unmöglich. Er würde den Weg nicht finden, er konnte auch nicht den ganzen Weg laufen, außerdem mußten ihm die Männer schließlich etwas für sein Geld geben. Das war für sie Ehrensache, und sie wären beleidigt, wenn er jetzt schon zurückgefahren werden wollte. Der Mann mit der Baseballmütze übernahm die Führung, und sie stiegen wieder die Treppe hinunter. Unten zog der Mann eine große Holzkiste unter dem Turm hervor und nahm etwas heraus. Er sah nicht, was es war, weil er mit dem Rücken zu ihm stand. Er trat näher und erblickte Zielscheiben, die der Mann auf die Erde gelegt hatte. Schießscheiben zur Jagdübung. Sie stellten Elche in fast natürlicher Größe dar. Der Mann mit der Baseballmütze stellte eine von ihnen auf. Der Elch wirkte fast lebendig. Ein anderer von den Typen mit kariertem Hemd war zum Pick-up gegangen und kam mit einem Arm voller Gewehre zurück. 151
Der Mann mit der Baseballmütze schüttelte den Elch. »Jetzt gehen wir ein wenig auf die Jagd.« »Wie … das?« fragte er. »Wir stellen die Scheiben unten am Waldrand auf«, antwortete der Mann mit der Baseballmütze, »und dann treffen wir sie!« »Ich habe … noch nie geschossen«, wandte er ein. »Dann ist es aber höchste Zeit.« Der Mann mit der Baseballmütze nickte einem der Karohemden zu, woraufhin ihm dieser ein Gewehr überreichte. Vielleicht war das ja so ein Elchstutzen. Diesen Ausdruck hatte er schon mal gehört. Er nahm das Gewehr entgegen und spürte sein Gewicht. Plötzlich dachte er an das Gewicht der Brötchentüte, die er in den See geworfen hatte. Er bereute es jetzt. Plötzlich bereute er es mehr als alles andere. Als er umringt von Bauerntölpeln mit dem verdammten Gewehr in der Hand dastand, kam es ihm so vor, als hätte er etwas Unverzeihliches getan, als er die Tüte geworfen hatte. Er wußte nicht, warum er das in dieser Sekunde dachte, aber es kam ihm vor, als hätte er mit dieser Tat eine Grenze überschritten. Eine letzte Grenze. Eine letzte Grenze in ihrer Beziehung. Er hatte die letzte Grenze überschritten. Sie hatte einige Male in eine andere Richtung gehen wollen, weg von ihm. Auf eine andere Grenze zu. Aber er hatte ihr keinen einzigen Schritt erlaubt. Sie hatte gewußt, was sie erwartete, wenn sie versuchte, ihn zu verlassen. »Dann stellen wir die Scheiben auf«, sagte der Mann mit der Baseballmütze. Er wußte selbst nicht, was geschehen würde, wenn sie versuchte, ihn zu verlassen. Vielleicht wußte sie mehr als er. Wußte mehr über ihn. Was er mit ihr machen würde, wenn sie es versuchte.
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Lieber Gott, laß mich von hier wegkommen. Ich will von hier weg, ehe es zu spät ist. Bald ist es zu spät, dachte er, gleichzeitig fragte er sich, weshalb er das dachte. Er wartete ab, während die Männer die Elche in ungleichmäßigem Abstand unten an dem gottverdammten Waldrand aufstellten. Einige waren zu sehen, andere nicht, als sollte er einfach in den Wald hineinballern. Aber er würde nicht schießen, für ihn war das Abenteuer vorbei. Er wollte nur weg, zurück zu ihr. Er war jetzt ein anderer. Die Männer standen mit ihren Gewehren um ihn herum. Sie sahen aus, als wären sie mit einem Gewehr auf dem Arm zur Welt gekommen. So war das wohl in solchen Gegenden. Sie sahen ihn an, als warteten sie darauf, daß er den ersten Schuß abgab. Wer den ersten Schuß abgibt, dachte er und mußte fast grinsen. Aber niemand hatte ihm auch nur gezeigt, wie es ging. Er hatte auch keine Patronen bekommen, oder wie die Dinger hießen. »Ich glaube, eine der Scheiben ist umgefallen«, sagte der Mann mit der Baseballmütze und nickte ihm zu. »Könnten Sie nicht runtergehen und sie wieder aufstellen?« »Ich?« fragte er. Der Mann mit der Baseballmütze nickte erneut. Vorsichtig, als sei es geladen, legte er das Gewehr auf die Erde und begann auf den Waldrand zuzugehen. Er konnte keine umgefallene Scheibe sehen. Hatte es hier eine gegeben, so war sie jetzt weg wie das Schild zum Badeplatz. »Weiter links«, hörte er die Stimme des Mannes mit der Baseballmütze irgendwo von hinten. »Hinter dem Wacholderbusch.« Und plötzlich erkannte er den Dialekt wieder. Es war dieselbe Satzmelodie, die sie manchmal hatte. Hier war sie als Ferienkind gewesen. 153
Hier. Sie kannte diese Männer. Auch sie waren hier Kinder gewesen, und zwar nicht nur in den Ferien. Sie hatte die Landkarte gelesen. Es kam ihm vor, als sei das hundert Sommer her. Sie hatte sie hierhergelotst. Es gab in Wirklichkeit gar keinen Campingplatz. Jetzt sah er die Zielscheibe hinter dem Wacholderbusch. Sie stand aufrecht. Der Elch schielte aus den Augenwinkeln auf ihn herab, vielleicht schielte er auch auf etwas hinter ihm. Er drehte sich um. Er sah die Karohemden, die Baseballmützen, die Stiefel. Die Gewehre. Sie waren jetzt erhoben. Auf ihn gerichtet. Ihr sollt doch verdammt noch mal auf den Elch zielen, dachte er, ehe er begriff. Wirklich begriff. Aus den Gewehren ertönte ein scharfes metallisches Geräusch, das er nicht kannte. Aber er wußte, was es war. Gewisse Dinge erkennt man schon beim ersten Mal wieder, dachte er. Der Himmel hinter den Männern loderte gelb. Er konnte den Turm als Silhouette vor dem Feuer erkennen. Er konnte die Gestalt dort oben stehen sehen. Er wollte winken. Er wollte rufen. Er wollte alles erklären. Er wollte die Treppenstufen hochrennen. Er wollte fliegen. Die Abendbrise erfaßte plötzlich ihren Rock und ließ ihn wie eine schwarze Fahne flattern.
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KARIN FOSSUM Die Säule Der Vater geht mit langen Schritten, seine Füße treten fest und zuversichtlich auf. Eine frische Brise vom Meer schlägt ihm entgegen. Sie hebt seine dünnen hellen Haare vom Schädel und bläst sie nach hinten, ein kleines weißes Haarbüschel. Der Kleine stolpert auf dünnen Beinen hinterher. Er hat Sandalen an. Sie sind ein bißchen zu groß. Die Knie sind spitz, die rote kurze Hose flattert ihm wie der Rock eines Mädchens um die Beine. Vemund. Der Vater nimmt den Namen in den Mund und schmatzt, schiebt ihn in den Mundwinkel wie eine fremde Frucht. Vemund ist kein Männername, denkt er, sondern etwas Schwaches und Mädchenhaftes, etwas Schwebendes. Er ist so zerbrechlich! Blaß und dünn mit zu feinen Zügen. Nicht wie Söhne sein sollten, stattlich und kräftig wie er selbst. Er trifft nie den richtigen Ton, weiß irgendwie nicht so ganz, wer er ist, dieser zarte Körper, der hinter ihm hertaumelt. Etwas Blasses und Undefinierbares, das wimmert und friert. Sagt, daß das Wasser kalt aussieht und daß er nicht will. Er selbst dagegen ist vorneweg gelaufen, schon immer. »Man kann dem Meer nicht ansehen, welche Temperatur es hat!« Der Vater ist gereizt. Ein Schuljunge, der nicht schwimmen kann, das ist unerträglich. Lernen will er es auch nicht. »Es sieht aber so kalt aus!« Vemund guckt auf die dunklen Dünungen mit den weißen Schaumgipfeln. Das Wasser ist grau wie Blei, eine Woche vor Mittsommer. Es ist noch nicht richtig warm gewesen dieses Jahr. 155
Er weiß, daß das Wasser kalt wie Eis ist, und es ist nicht wahr, daß er nicht schwimmen kann. Er hält sich gerade so über Wasser und schafft es auch ein winziges Stück vorwärts, die Beine hängen aber im Wasser nach unten und bremsen ab. Er kann tolle Armschläge und auch Beinstöße. Er schafft es nur nicht gleichzeitig. Der Vater dreht sich um. »Wenn du ins Meer fallen würdest, ins tiefe Wasser«, er starrt ihn an, »dann würdest du ertrinken. Du würdest Panik bekommen. Du bist nicht sicher genug. Sieben bis acht Schwimmzüge heißt nicht, daß du schwimmen kannst. Wir wohnen am Meer, Vemund. Man kann nicht wie wir wohnen, ohne schwimmen zu können. Eigentlich dürftest du nicht einmal im Boot mitfahren, weißt du das?« »Aber dann trage ich doch eine Schwimmweste.« »Ja schon. Du mußt es aber jetzt lernen. Diesen Sommer oder nie. Wir können nicht jahrelang so weitermachen. Jetzt ist eine Kraftanstrengung fällig, Junge.« Er geht weiter. Sie sind an der Spitze des kahlen Felsens angekommen, jetzt fällt der Pfad steil ab zum Strand und Bootssteg hinunter. Wenn er jetzt ins tiefe Wasser fiele, würde er wie der Teufel schwimmen, denkt Vemund. Denn dann hätte er gemußt. Wenn sie üben, ist er im seichten Wasser. Der Boden ist die ganze Zeit so nahe. Die Beine werden schwer und sinken ganz von selbst nach unten, und er schluckt Wasser. Und außerdem ist es so kalt. Er strengt sich an, um Schritt zu halten. Der Vater hat lange Beine, und er ist gereizt. Vemund sieht jetzt den Strand, wo das Wasser seichter und heller ist. Es sieht freundlich aus, mit gelbem Sand und einem Gürtel von blank gescheuerten Steinen in verschiedenen Farben, die wie Perlen verstreut liegen, weiße, graue, rosa oder bunt gesprenkelte. Und weiter drüben sieht er den Steg, schwarz und naß, ein Weg vom Land geradeaus ins Meer. Wo der Steg aufhört, beginnt die Tiefe. Drei Meter, hat der Vater gesagt. Ein 156
Stück weiter draußen liegt eine blaue felsige Insel, ziemlich groß und nackt, wohin die größeren Kinder meistens schwimmen, wenn das Wasser warm genug ist. Vierhundertundfünfzig Meter. Die Erwachsenen haben nachgemessen. Die Insel wird der »Räuber« genannt, sie sind mit dem Boot dort gewesen. Der Vater bleibt plötzlich stehen und hält inne, ein harter, eckiger Mann, fast wie eine dunkle Skulptur gegen den blassen Himmel. »Wenn du bis zum Räuber und zurück schwimmen kannst, dann erst kannst du schwimmen. Einen knappen Kilometer. Soviel mußt du schaffen. Ich meine, so nach und nach, da wir doch am Meer wohnen und auf Boote und all das angewiesen sind.« Er dreht sich um. »Zieh dir die kurze Hose aus. Es gibt auflandigen Wind. Dann wird das Wasser besser.« Vemund beginnt zu waten. Es ist eisig kalt. Der Schock ist jedesmal gleich groß, obwohl er weiß, daß es kalt ist, und darauf vorbereitet ist. Der Boden ist weich, der Sand wie Samt mit einzelnen vereinsamten Muscheln. Er wirbelt etwas Sand auf, während das Wasser ruckweise an ihm hochsteigt, bis zu den Knien, zur Mitte der Oberschenkel und zur Badehose mit den weißen und blauen Streifen. Jetzt kommt der Gürtel mit Steinen und Muscheln, den muß er überwinden, um weit genug hinauszugelangen, damit ihm das Wasser zur Taille reicht. Bis kurz oberhalb des Nabels. »Jetzt mußt du stehenbleiben, Vemund!« Er hebt die Arme, will mit den Händen nicht hineintauchen. Der Vater hat sich auf einen großen Stein gesetzt, jedesmal sitzt er auf diesem Stein und schaut zu, während er ruft und gestikuliert und erklärt. »So, ja! Das ist doch nicht so schlimm, oder?« 157
Er antwortet nicht. Er versucht auf den Zehenspitzen zu stehen. Er denkt daran, daß sie bald fertig sind und wieder nach Hause gehen können. »Dann fangen wir an. Du stößt ab und läßt dich nach vorne fallen. Mach schon, Vemund!« Er knickt ein wenig in den Knien ein. Das Wasser gleitet die Brust hoch, und die Wellen schlagen über seinen Armen zusammen, die Beine sterben im kalten Wasser ab. Zögernd läßt er sich nach vorn fallen, mit hochgezogenen Knien, vier- bis fünfmal fuchteln die kleinen Hände in rasender Geschwindigkeit, dann schlägt das Wasser über das ganze Gesicht, und er muß sich wieder aufrichten. Die Zähne klappern. Er trippelt hin und her und begreift nicht, warum er es nicht schafft. Welches Geheimnis ist es, an dem er nicht teilhaben darf? Wie alle anderen hat er zwei Arme und zwei Beine. Vielleicht ist es nicht vorgesehen, daß er es lernen kann. Und das Wasser ist sowieso zu kalt. Warum kann er nicht hier im Seichten bleiben? Der Vater schüttelt den Kopf. Starrt auf die Steine hinunter und sucht Bruchstücke seines guten Willens zusammen, bis es für eine Aufmunterung reicht. »Es läuft doch gut, Vemund. Jetzt bist du sogar getaucht! Es dauert nicht mehr lange, dann wird das Wasser besser. Aber du mußt etwas kräftiger abstoßen. Und langsamere Schwimmstöße, Junge, nicht so schnell. Und du darfst das Atmen nicht vergessen. Füll deine Lunge mit Luft, dann schwimmst du wie ein Ballon, nicht wahr?« Vemund holt Atem und wirft sich nach vorne. Er schiebt das Wasser zur Seite und strampelt ein wenig mit den Beinen, ein Stoß, zwei Stöße, drei – dann bläst er die Luft aus und zieht wieder ein, etwas Salzwasser ist auch dabei, er hustet kräftig, aber die Arme machen weiter, vier Züge, fünf – die Beine werden schwer, sie beginnen zu sinken …
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»Die Beine, Vemund, die Beine! Toll machst du das, stoß dich so fest wie möglich ab!« Er taucht unter und schnellt wieder hoch, das eiskalte Wasser fließt in Strömen, er reibt sich die Augen und spuckt. »Es geht schon besser, Vemund! Findest du nicht auch?« Nach zehn Versuchen ist der Vater zufrieden. Er hat neun Stöße geschafft. Er hat aber die Beine nicht mitbekommen, und er hat sich im Wasser nicht vorwärts bewegt. Der Vater trocknet ihm unbeholfen den Rücken ab und hilft ihm, die kurze Hose über die nasse Badehose zu ziehen. Vemund zittert, ihm klappern die Zähne, und er hat blaue Lippen. Der Vater hat eine tiefe Falte auf der Stirn, ein Grab voller Sorgen. Er mag die Falte nicht ansehen. »Komm. Wir setzen uns einen Moment auf den Steg.« Er sieht, wie der Kleine friert, und fühlt sich nicht wohl dabei. Vemund folgt ihm zögernd. Der Vater setzt sich ans Ende des Bootsstegs und läßt die Beine baumeln. »So ist gut. Setz dich hin. Du wirst schon nicht ins Wasser fallen, ich sitze ja hier. Komm jetzt, Junge!« Er läßt sich auf den Hintern fallen und rutscht das letzte Stück, spürt, wie ihm der Vater ganz leicht über den Rücken streichelt. »Weißt du noch, wie du radfahren gelernt hast? Auf dem kleinen roten Fahrrad?« Er nickt. »Weißt du noch, wie du dich angestrengt hast, um es zu schaffen?« »Ja. Aber besonders doll habe ich mich nicht anstrengen müssen. In drei Tagen hab ich es gelernt. Damals hast du gesagt, daß ich zu langsam geradelt bin. Jetzt sagst du, daß ich zu schnell schwimme. Es ist einfach, radzufahren. Schwimmen ist viel schwieriger.« 159
»Sicher nicht. Du mußt aber … eine Schwelle übertreten, sozusagen. Verstehst du, was ich meine?« »Nein.« Der Vater seufzt. »Radfahren zu können, das ist nicht so wichtig. Aber das Schwimmen, Vemund! Das kann eine Frage von Leben oder Tod sein. Schau dir das Meer an!« Vemund schaut. »Der größte Teil des Meeres ist tief. Vielleicht einige hundert Meter. Nur an den Rändern entlang ist es seicht.« Er zittert und bekommt eine Gänsehaut. »Jeden Sommer ertrinken viele Menschen. Erwachsene und auch Kinder. Weil sie nicht schwimmen können. Ziemlich erschreckend, nicht wahr?« »Ich glaube, es gibt bald Mittagessen.« »Hörst du nicht zu?« »Doch.« »Wenn du hier ins Wasser fallen würdest«, der Vater beugt sich nach vorn und starrt ins schwarze Wasser hinunter, »dann würdest du ertrinken, nicht wahr? Drei Meter, Vemund! Das ist nicht besonders tief. Du würdest auch bei zwei Metern ertrinken. Sogar bei anderthalb. Weißt du, warum?« Vemund ist sich der Antwort nicht sicher. »Du bist nämlich nur einen Meter vierzig groß.« Der Vater starrt die ganze Zeit ins Wasser hinunter. Behutsam legt er ihm eine Hand auf die Schulter. Es wird still. Das Wasser kräuselt sich ganz leicht vor dem Steg. Vemund wartet. Etwas stimmt nicht. Er will aufstehen, weiß aber nicht, wie. Wenn er sich nach vorn beugt, wird er ins Wasser fallen. Der Arm des Vaters hält ihn dort fest, er kann nicht zurückrutschen, um sich in Sicherheit zu bringen, nicht 160
solange der Vater so sitzt und ihm mit dem starken Arm den einzigen Fluchtweg versperrt, und er kann nicht schwimmen, das Wasser ist eisig kalt und tief, drei Meter tief. Der Vater starrt auf einen Punkt weiter draußen. Vemund sucht zwischen den Dünungen und findet einen undeutlichen, schwimmenden, orangefarbenen Fleck. Er schaut ihn unentwegt an. Eine Feuerqualle. Sie dümpelt und schaukelt von einer Welle zur anderen, ohne näher zu kommen. Vemund starrt und hält die Qualle mit seinem Blick fest. Die Hand auf der Schulter wird immer schwerer, so kommt es ihm zumindest vor. Die Zehen in den Sandalen sind wie abgestorben. Er hat das Gefühl zu schrumpfen. Aus dem Augenwinkel heraus sieht er den Vater ganz verschwommen. Ein dunkler, undeutlicher Schatten, der nicht mehr sprechen kann. »In alten Zeiten«, sagt er plötzlich, »warfen sie die Kinder mit einer Leine um die Taille ins Meer. Dann mußten sie vorwärts planschen, so gut sie konnten. Das war vielleicht brutal, aber sie haben das Schwimmen gelernt, ohne dafür den ganzen Sommer zu brauchen.« Er lächelt wehmütig. Es wird wieder still. Plötzlich schaukelt die Qualle kräftig und ist für einige Sekunden völlig verschwunden. Und genau in dem Augenblick fällt Vemund vom Steg. Er fällt langsam und weich, der dünne Körper liegt waagerecht in der Luft, doch die Beine sind gekrümmt und die Fäuste geballt. Er trifft mit einem zögernden Platscher aufs Wasser und sinkt langsam Richtung Meeresgrund, beinahe überrascht, doch mit unveränderter Körperhaltung, er liegt auf dem Bauch in der Tiefe, und das Wasser ist so kalt, daß es in den Schläfen schmerzt. Sein Körper ist nicht gerade groß, eigentlich nur ein Spänchen von einem Kind. Eine Dünung kommt angerollt und läßt die winzige Gischt auf der Oberfläche verschwinden. Als der Vater die Situation begreift, verschlägt es ihm fast den Atem. 161
Dann erhebt er sich jäh, um nachzuschauen, aber er sieht nichts und springt mit einem gewaltigen Platscher kopfüber ins Meer. Es ist ein Schock. Das Wasser ist viel kälter, als er geglaubt hat, sein Körper ist wie gelähmt, verschwindet beinahe, und er besteht nur noch aus zwei wunden Augen, die im dunklen Wasser starr umherblicken, nach einem dünnen weißen Unterschenkel, nach einer kleinen Hand oder nach blauen und weißen Streifen Ausschau halten, er sucht etwas, das sich gegen das viele dunkle aufgewühlte Wasser abzeichnet, aber er sieht nichts, nur seine eigenen fuchtelnden Hände, die jegliche Farbe verloren haben. Schließlich schießt er wieder zur Oberfläche, denn das Kind ist natürlich nicht auf dem Meeresgrund, denkt er, der Kleine ist doch so leicht. Endlich bekommt er den Kopf über Wasser und sieht weiterhin nichts, er starrt zum Horizont und lauscht, aber niemand schreit, einen Augenblick wird er von Panik ergriffen, bevor er wieder abtaucht, er schwimmt um den Bootssteg herum, sieht die schwarzen, glitschigen Pfähle und etwas Schwarzes, das auf dem Meeresboden davoneilt, und denkt: Hier muß er ja sein, er ist doch direkt nach unten gefallen, direkt von der Kante des Bootsstegs ins Wasser, und es gibt in dieser Bucht keine Strömung, ein kleines Kind verschwindet nicht ohne weiteres, obwohl das Meer groß und tief ist, denn schwimmen kann der Junge nicht, also liegt er direkt vor dem Steg, vielleicht nur einen Meter von den Pfählen entfernt und müßte sichtbar sein, er ist ja so blaß, aber es gibt so verdammt viel Tang überall, riesige Wälder aus grünschwarzem Blasentang und anderen Dingen, deren Namen er nicht kennt, er schiebt etwas Glitschiges, Weiches zur Seite, um darunter nachschauen zu können, er ist doch so klein und braucht nicht viel Platz, aber er sieht nichts und bekommt zuwenig Luft, hat Angst, das Bewußtsein zu verlieren, und stößt sich wieder ab, bricht wie ein Torpedo durch die Oberfläche und glaubt nicht, daß dies wirklich passiert, es ist nur ein böser Traum.
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Er tritt Wasser und dreht sich im Kreis, ziellos, späht nach den blonden Haaren, hält Ausschau nach Luftblasen, taucht wieder ab, denn die Zeit läuft, die Zeit ist zu knapp, um Hilfe zu holen, es ist zu weit, das hier muß er allein schaffen, Vemund ist irgendwo dort unten im kalten Wasser, er muß nur dranbleiben, denkt er, während es ihm ein wenig schwarz vor Augen wird, sie sind jetzt vom Salzwasser angestrengt, er sieht nicht mehr soviel, fuchtelt ziellos umher, voller Panik, bis er die Kälte und das Wasser fast nicht mehr spürt, nur eine überwältigende Müdigkeit, die das Tempo in Armen und Beinen drosselt, und er steigt wieder, bekommt das Kinn über Wasser und schnappt ungläubig nach Luft. Ich finde ihn nicht! Das ist nicht möglich! Er schwimmt zum Steg und hält sich an einem der Pfähle fest. Hängt an einem Arm und schaukelt schlaff hin und her. Alles ist still. Die Kleider sind bleischwer. Auf wackeligen Beinen geht er langsam den steilen Pfad hoch, während er sich immer wieder umdreht und aufs Meer hinausschaut. Er will die ganze Zeit umkehren, es gibt aber nichts zu sehen, nichts zu tun. Mitunter stolpert er über Grashügelchen und Steine, obwohl er mit seinem Blick den Boden vor sich kehrt. Wenn er den Kopf höbe, könnte er vielleicht das Haus entdecken, das immer näher kommt, den spitzen weißen Giebel zwischen dunklen Tannen, das Haus, das er betreten muß, vielleicht sind die Fenster geöffnet, vielleicht schaut sie kurz hierher und sieht schon aus der Ferne, daß er alleine kommt, deswegen geht er leise und hält den Atem an, geht wie ein Dieb in der Nacht, während er denkt: Das kann nicht wahr sein! Doch seine Schritte führen ihn immer näher, bald sieht er das Dach und später das offene Küchenfenster, eine helle Gardine flattert weich und lustig wie ein Segel, ein unbekümmerter Tanz, aber dort drinnen ist es dunkel, und die Eingangstür ist ein schwarzer Schlund. 163
Er ist an der Treppe angekommen. In diesem Augenblick sieht er eine nackte Schulter am Fenster vorbeistreifen, hört von innen ihre Schritte, schnell, sie öffnet, und er hebt schwerfällig den Kopf und begegnet ihrem Blick. »Was ist denn hier los?« Sein Kopf sinkt hinab, die Kleider sind kalt wie Eis, der Wind weht von hinten ins Haus, und er zuckt zusammen, als er ihre Stimme hört, tadelnd, mit einem Hauch von Unsicherheit. »Aber so antworte doch! Mein Gott, du bist ja völlig durchnäßt!« »Nein«, murmelt er und stützt sich am Türrahmen, »ich weiß nicht genau, es ist so schnell gegangen …« Der Rest wird zu einem Wimmern, und als er wieder hochschaut, sieht er die Angst in ihren Augen. »Aber du paßt doch auf ihn auf! Mein Gott, er ist doch nur ein kleiner Junge!« Dann lehnt er den Kopf wieder gegen den Türrahmen und muß einsehen, daß sie nicht versteht. Er schließt die Augen und fühlt sich schwach, er sieht die Zukunft in einer verschwommenen Dunkelheit verschwinden, und der Weg führt nicht weiter, er hört dort auf, wo er steht, es gibt keine Möglichkeit weiterzukommen. Dann sieht er Vemund. In blauem Trainingsanzug, halb hinter der Mutter versteckt. Er hat nasse Haare. Die Mutter dreht sich um und streichelt ihm über den Kopf. »Ich bin unter Wasser geschwommen, Papa«, sagt er nervös. »Und dann konnte ich dich nirgendwo entdecken!« Der Vater will einen Schritt nach vorn tun, aber die Knie versagen. Der große Mann fällt vornüber, und Vemund starrt ihn erschrocken an, diese riesige Säule aus Granit, die immer die Wirklichkeit aufrecht hält, er sieht, wie sie in der Mitte plötzlich 164
abknickt und jegliche Farbe verliert. Das Gesicht ist grau und der Mund so seltsam geöffnet. »Ist Papa krank?« Die Mutter schüttelt den Kopf und beißt sich auf die Lippe. Und schließlich fällt er um. Mit einem gewaltigen Knall trifft das Kinn auf den Boden.
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JOHANNA SINISALO Der Rest ist Schweigen Hör zu, Ham, zunächst mal, wenn es je einen Mann gegeben hat, der in seine eigene Mutter verliebt war, dann bist du so einer. Dafür gibt es bestimmt ein treffendes Wort, aber woher soll ein so ungebildetes Mädchen wie ich das kennen? Du hast wohl um deinen Vater getrauert, und zwar wirklich getrauert. Man trauert ja immer, wenn Leute sterben, aber andererseits ist das auch nicht so außergewöhnlich und erstaunlich, daß man es endlos beweinen müßte. Menschen pflegen zu sterben. Jeder von uns endet als Fraß für die Würmer, früher oder später. Und ganz unter uns, ich finde, er hat genau das bekommen, was er verdient hat. Auch für unser Verhältnis hatte er nur Verachtung übrig. Ich gehörte ja seiner Ansicht nach zum Gesinde, obwohl ich die Tochter eines Mannes in ziemlich hoher Position bin. Und laufe ich vielleicht mit umwölkter Stirn herum, obwohl auch mein Vater seine Tage durchaus vorzeitig beschließen mußte? Nein, aber du, du hast die Trauer oder das Zurschautragen der Trauer voll ausgekostet. Du bist mit verknoteter Nase und einem Mund, so geschürzt wie die Sau unterm Schwanz, durch Höfe und Wallanlagen geschweift und hast geseufzt und lamentiert. Komisch, anfangs kam keiner auf die Idee, daß das gar keine große Trauer war, sondern Liebeskrankheit. Die Symptome bei großer Trauer und großer Liebe gleichen sich völlig, äußerlich bemerkt man kaum einen Unterschied. Denn liebeskrank warst du, eifersüchtig wie nur was. Irgendwie hattest du es geschafft, nicht daran zu denken, daß deine Mutter mit einem Mann im Bett lag, denn der eigene Vater ist ja 166
kein Mann, er ist ein Möbelstück. Doch dann, als der im selben Bett liegende Mann nicht mehr dein Vater war, da mußtest du notgedrungen feststellen, daß deine Mutter eine Frau ist und vielleicht sogar Spaß daran hat, wenn in ihrem Bettzeug eine verspielte Schlange herumkriecht. Daß sie in ihren Pfühlen mit einem neuen Mann herumtollt ohne das hehre Prinzip, dich zu zeugen. Ich hatte mir eingebildet, der Tod deines Vaters hätte dir Haltung und Macht beschert (zum Beispiel ganz allein die Entscheidung zu treffen, wen du heiraten willst) und natürlich über kurz oder lang den Hauptgewinn, das heißt den Thron. Aber ich als junge Frau konnte natürlich nicht ahnen, welche Menge von Säften noch in deiner Mutter strömte. Ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet, daß sie noch einmal heiraten würde, und das schon so bald, noch ehe du alles bekommen konntest, was dir zustand. Und das war der Fehler, Ham, daß ich nicht ahnen konnte, wer die Frau war, die du wirklich und am meisten liebtest. Ich war so offensichtlich die Nummer zwei. Ich war ganz klar die Nummer zwei, nachdem deine Mutter ihre neue Ehe geschlossen hatte (die du »inzestuös« nanntest, weil dein neuer Papi zufällig dein Onkel war – du bist gerade der Richtige, von inzestuösen Verhältnissen zu sprechen!). Ja, die Liebe. Die Liebe an sich hat keine sonderlich große Bedeutung. Teils ist sie eine Erfindung der Poeten und teils die bloße Anziehungskraft, die das Fleisch auf anderes Fleisch ausübt, und der größte Teil besteht aus der Eitelkeit, daß es einem schmeichelt, wenn jemand einen für wichtiger hält als die anderen. Du hast in den Augen deiner Mutter die Stellung ihres Favoriten verloren, und deshalb hast du dich aufgeführt wie ein betrogener Bräutigam. Und du hast mich betrogen, Ham, denn du warst für mich der einzige Ausweg aus diesen lähmend heißen Räumen, wo die von Nadelstichen hart und rauh gewordenen Fingerspitzen an dem 167
rippenzerquetschenden Brokat der viel zu engen Kleider hängenbleiben. Oder ich glaubte, du seist der einzige Ausweg; gab es doch noch diesen anderen. Und ich kam auf den Gedanken, daß wir dich vielleicht zur Vernunft bringen und deine Mutter in deinen Augen zurück auf den Sockel der Alltagsmadonna hieven könnten, wenn wir es schafften, uns deines Onkels zu entledigen. War er doch der Splitter in deinem Auge, war er es doch, der deine untadelige Mutter in Schmutz und Ausschweifung gezogen hatte. Aber du bist nun mal ein Waschlappen durch und durch, Ham. Hast zwar mit den Zähnen geknirscht, grimmig dreingeschaut und dich nach ein paar Bier über deinen Stiefvater lustig gemacht, aber du warst nicht Manns genug, irgend etwas zu tun. Genauso ein Waschlappen warst du auch, was unsere Beziehung anging – wenn du dich ermannt und rechtzeitig um meine Hand angehalten hättest, wäre nichts von alledem jemals geschehen. Für mich war es ein leichtes, aus den Truhen deines Vaters einige Kleidungsstücke und den Waffengürtel zu holen – mein Vater behielt sein Schlüsselbund, mit dem er sich in den Räumen der Burg bewegen konnte, nicht immer im Auge. Ich bin fast genauso groß, wie dein Vater war, und die Fülle und Breitschultrigkeit bringt man leicht mit mehreren Schichten Kleidung zustande. Mit einem überzeugenden Bart gab es ein paar Schwierigkeiten, aber ich wollte niemanden so nahe an mich heranlassen, daß er mein Gesicht studieren konnte. Am schwierigsten war es mit der Stimme, aber du weißt, wie gut ich andere nachahmen kann. Mein Vater nannte mich nicht Ophy, wie alle anderen. Sein Kosename für mich war »Kleines Echo«. Von Kindheit an habe ich alles und alle nachgeahmt. Ich habe Worte und Mienen und Handbewegungen wiederholt, manchmal 168
beängstigend genau. Das galt als komische, auch ein wenig rührende Marotte. Kaum jemand erkannte, daß das eine Methode war, mich zu schützen, wie eine Echse aus dem Süden, die die Farbe ihrer Umgebung annimmt. Denn es wird ja wohl niemand sein Spiegelbild angreifen oder mit einem Echo Streit beginnen. Und du weißt doch, Ham, wie sehr ich mich immer für Pflanzen interessiert habe, zumal für Heilpflanzen. Ebensosehr wie Ophy, das Kleine Echo, bin ich auch Ophy, die kleine Botanikerin. Es war leicht, die Kräuter und Wurzeln zu finden, deren Extrakt die Kehle so anschwellen läßt, daß die Stimme für ein oder auch zwei Stunden um mehrere Lagen tiefer wird. Zunächst war es allerdings gar nicht nötig zu sprechen. Ein paarmal zeigte ich mich in meiner Rüstung und mit Bart den dummen Wachleuten, und sobald sie gedeutet hatten, wer und was ich war, begannen sie zu sehen, was sie sehen wollten, bis hin zum letzten Gesichtszug und Augenausdruck. Und endlich schafften es die Männer, dir davon zu erzählen; einmal hatte ich das Warten schon satt und wollte gerade laut sagen, daß ich mit meinem Sohn Ham zu sprechen wünschte, als der Hahn krähte und ich einsah, daß es schon zu hell geworden war, und da mußte ich verschwinden. Aber zum Glück kamst du dann auch bald selbst, um dir den Geist deines Vaters anzusehen. Weißt du noch, wie wir zu dem abgelegenen Wall gingen, fort von den Laternen, und wie ich mich bemühte, mit dem Gesicht im Schatten zu stehen, den Rücken dir halb zugewandt? Aber da auch du sahst, was du sehen wolltest, und vor allem etwas zu hören bekamst, was du hören wolltest, kamen dir keinerlei Zweifel. Ach, deine Miene war sehenswert, Ham, als ich dir das Geheimnis verriet. Daß dein Onkel deinem Vater giftigen Bilsenkrautsaft ins Ohr geträufelt hatte, als er im Park ruhte, obgleich alle in dem Glauben waren, die Todesursache sei ein Schlangenbiß gewesen. Du hast dich kein bißchen über die 169
Geschichte gewundert, obwohl selbst ein Kind auf die Idee hätte kommen können zu fragen, ob so ein Giftgeträufel nun die Art eines gestandenen Mannes sei, jemanden zu töten. Man sollte doch meinen, dein Onkel hätte etwas Beherzteres, Männlicheres getan, zum Beispiel einen Jagdunfall inszeniert. Aber da du hörtest, was du hören wolltest, nämlich daß dein Onkel in mancherlei Sinn wahrlich eine Schlange sei, da glaubtest du es. Dein kleines Palaver mit den Toten war kaum zu Ende (ich hatte es gerade geschafft, mich umzuziehen und zum Nähen hinzusetzen), da kamst du zu mir. Ich sah sofort, daß das Treffen Wirkung gezeitigt hatte. Du kamst im offenen Mantel, ohne Hut, mit schmutzbespritzten, schlammigen Strümpfen und bleich wie Leinwand, und ich schwöre, daß dir die Knie zitterten. Und dein Blick war, als wärst du gerade der Hölle entstiegen. Du packtest mich am Handgelenk mit einem Griff, der mir leicht die Knochen hätte brechen können, und sahst mich lange an, wobei du die Augen mit der anderen Hand beschirmtest, so als wolltest du dir mein Gesicht einprägen, um es bis in alle Einzelheiten zu zeichnen. Und dann, so als hättest du dich endlich von etwas überzeugt, nicktest du heftig und seufztest tief und gequält. Dann ließest du meine Hand los, so als wäre sie ein fauler Fisch, und verließest das Zimmer, indem du noch von der Tür einen letzten Blick auf mich warfst, der etwas Namenloses atmete. Und in diesem Augenblick, Ham, empfand ich für dich mehr denn je, denn dein Griff an meinem Arm war stark, und du warst so entschlossen und wußtest, was du wolltest, und in deinen Augen lag ein Blick, so als hättest du mich zum ersten Mal wirklich gesehen, mich, und nicht nur das kleine, reizende Gesicht und den vorgestreckten Busen. Aber später begriff ich, was dein Verhalten bedeutete. Ich hatte schon den zweiten Fehler begangen. 170
Du hattest dir bis dahin eingeredet, Frauen seien gute, unschuldige, freundliche Wesen, ohne böse und destruktive Gefühle, ohne schmutzige Leidenschaften, und dumm wie die Schafe. Als du erfuhrst, was für eine Schlange deine Mutter in ihr Bett geholt hatte, da legtest du diese Sünde ihrem ganzen Geschlecht zur Last. Zugleich nahmst du Untadeligkeit und Tugend nur noch als bloßen Mummenschanz wahr, als dünne und brüchige Schale, aus deren Rissen schwarzer Schleim quillt. Plötzlich waren wir alle in deinen Augen lüsterne Intrigantinnen, Wesen der Nacht, die die Männer durch die Bewegungen ihrer Finger und das Schwingen ihrer Hüften wie Marionetten tanzen lassen. Du faßtest mich bei der Hand, betrachtetest prüfend meine Züge und fandest das, was du finden wolltest: daß auch ich jenem verfluchten Geschlecht angehöre. Dein Stiefvater und deine Mutter hatten sich – zu Recht – schon eine Weile über dein Verhalten, deine wirren Reden und deine selbstzerstörerischen Phantasien gewundert, und siehe da, endlich ging auch ihnen ein Licht auf. Plötzlich sahen sie ganz klar, daß du dich vor Liebeskummer verzehrtest. Richtig, ein richtiges Gefühl, nur das Objekt war falsch gewählt. Es ist schon seltsam, wie sofort andere Saiten aufgezogen werden, wenn es um die seelische Gesundheit des eigenen Sohnes oder des Sohnes des Arbeitgebers geht. Noch ehe man amen sagen konnte, war es schon unerhört wichtig, dich bei Laune zu halten, Ham. Im Handumdrehen ließen alle ihre Bedenken wegen der unstandesgemäßen Ehe fahren und spornten mich, sprühend vor Eifer, an, dir wieder meine Gunst zu bezeigen. Mein Vater und dein Onkel versteckten sich sogar, um heimlich mit anzuhören, was du mir sagen würdest, wenn wir vermeintlich miteinander allein waren, in der Annahme, der 171
Grund für deine Seufzer, dein finsteres Wesen und dein Gemurmel von Selbstmord sei ich, ein in seinen Gefühlen launisches Dummchen, das an einem Tag liebt und sich am anderen weigert, auch nur eine im Vorübergehen dargereichte Wiesenblume anzunehmen. Und du erinnerst dich noch, erinnerst dich doch noch, Ham: Anstatt an meiner wunderbaren Kälte zu verzweifeln, hieltest du eine verächtliche Brandrede über die Falschheit des weiblichen Geschlechts und darüber, daß das Frauenkloster für uns der einzig richtige Ort sei. Ich konnte deswegen nicht gekränkt sein: Wären diese Worte doch nicht an mich, sondern an die heimlich Lauschenden gerichtet, deren erbärmliches Versteck du gleich beim Eintreten entdeckt hattest, und du beschlossest, auch auf diesem Weg deine Meinung über deine Mutter kundzutun. Und natürlich waren alle noch ratloser und fragten sich, was mit dir los sei. Ich wußte es etwas besser und wartete die ganze Zeit darauf, wann du nun zur Tat schreiten würdest. Denn dann, wenn alles klar sein würde, würde ich dich rasch dazu bringen, wieder an den unschuldigen Liebreiz des weiblichen Geschlechts zu glauben. Ja, die sofortige – ich betone hier das Wort sofortige – Beseitigung deines neuen Stiefvaters hätte viele Dinge gelöst. Deine Mutter hätte sich wohl nicht so bald in eine neue Ehe gestürzt, war doch dieser Bund nach skandalös kurzer Zeit geschlossen worden. Du hättest also die wunderbare Chance gehabt, dein Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen und die Stellung in der Erbfolge, um die man dich betrogen hatte, wiederzuerlangen, wenn du nur dem braven Geist geglaubt und sofort etwas unternommen hättest. Du hättest deinen Stiefvater mit allem Anstand erledigen können, wenn du dir einen guten Vorwand für einen Zweikampf ausgedacht hättest – dafür hätte es zum Beispiel genügt, dir bei einem Festessen einen Hühnerknochen in den Schoß fallen zu lassen. Man kann immer einen Streit 172
anzetteln, wenn der andere genügend berauscht ist. Oder man kann einen praktischen Jagdunfall inszenieren, Ham! Du aber hast dich wie ein Volltrottel benommen und wolltest dich durch eine unglaublich kindische Intrige zuerst von der Schuld deines Onkels überzeugen. Eine Schauspielertruppe sollte gastieren; du gingst sofort, um mit ihnen zu palavern, und batest sie, in das Drama eine von dir erdachte Szene einzubauen, in der der schurkenhafte Bruder, der die Macht an sich reißen will, dem guten König Gift ins Ohr gießt. Und beobachtetest mit fiebrigen Augen, wie dein Stiefvater diese Anspielung aufnahm. (Du setztest dich für die Zeit der Vorstellung mir zu Füßen, aber zu jenem Zeitpunkt war ich sicherlich das kleinere Übel, als du dich zwischen meiner und der Nähe deiner Mutter entscheiden mußtest.) Natürlich sprang dein Stiefvater eine halbe Elle vom Sitz hoch, als er die in das Drama eingefügte Szene sah. Es würde ja wohl jeder X-Beliebige einen Wutanfall kriegen, wenn ihm aufgeht, daß er unter Mordverdacht steht. Ach, welch ein Fehler, welch ein Fehler, Ham! Mit einem Schlag hast du ihn dir zum Todfeind gemacht, während er dich bis dahin nur für den ungefährlichen, unfähigen, zu Schwermut neigenden Stiefsohn gehalten hatte. Jetzt beim Zucken des Blitzes sah er dich als Bedrohung, als paranoiden, lauernden Intriganten (und garantiert wurde er auch von Qualen und Schuldgefühlen umgetrieben, denn jeder hat irgendwann gegen jeden intrigiert). Ach Ham, Ham! Nach diesem Vorfall hätte er dir nicht mal mehr aus Versehen einen Hühnerknochen in den Schoß fallen lassen, und schon gar nicht hätte er mit dir zusammen einen Jagdausflug gemacht. Und warum hast du nicht gehandelt, Ham, sobald du die entsetzte Miene deines Stiefvaters bemerktest? Nein, anstatt ihm sofort das Schwert in den Leib zu stoßen und hinterher zu erklären, daß du dich von seiner Schuld am Mord deines Vaters überzeugt hättest (und dir zugleich den einzigen Zeugen, der die 173
Sache hätte bestreiten können, geschickt vom Halse zu schaffen), gingst du zu deinen Freunden, um die Zeit totzuschlagen, und als es dann später die Gelegenheit gegeben hätte, ihn unter vier Augen den Stahl kosten zu lassen, da kam ein Ruf deiner Mutter oder irgendein anderer Unsinn dazwischen. Ach Ham, Ham! Daraus könnte man schon fast schließen, daß du im Grunde gar nichts tun wolltest, auch wenn dir selbst nicht bewußt war, was dich davon abhielt. Auch für so etwas gibt es sicherlich ein schönes Wort. Und so gabst du deinem Onkel unendlich viel Zeit, seine Vorkehrungen zu treffen. Alles habe ich für dich getan, Ham; alles hast du früher oder später verpatzt. Ärgerlicher sollte ich wohl darüber sein, wie die Ereignisse dann aus dem Ruder liefen. Da du jetzt den gewünschten letzten Beweis bekommen hattest (hättest du doch dem Geist geglaubt, Ham!), stürztest du natürlich zu deiner Mutter, ebenso in Rage wie jeder beliebige andere betrogene Kavalier, der die entscheidende Kränkung erfahren hat. Und mein närrischer Vater, dieser halbprofessionelle Spion, heimliche Lauscher und Quatschkopf, hatte es wieder einmal für richtig erachtet, sich in dem Zimmer zu verstecken, bereit, all die qualvoll faszinierenden Einzelheiten deiner Geistesverwirrung seinem Herrn zu berichten. Und als du, hochrot vor Wut, eine Drohung gegen deine Mutter ausstießest, da hat doch mein Vater, dieser Angsthase, in seinem Versteck einen Hilfeschrei herausgejault. Es wundert mich nicht, daß du ihn auf der Stelle ins Jenseits befördert hast. Du hattest ja vermutet, es handele sich um deinen Onkel. Ich muß diese Tat einfach akzeptieren, weil sie einem so guten Zweck diente. Als du aber fortfuhrst, deine Mutter mit schrecklichen Worten zu tadeln und deinen Stiefvater zu beschimpfen und des Mordes zu zeihen, da öffnete sich eine jener Türen, die man in die durchsichtige und vibrierende Mauer zwischen den Welten 174
brechen kann, wenn man den Willen dazu und genug zu sagen hat. Und von dort blies ein eisiger Wind. Und dein Vater trat hervor. Dein richtiger Vater. Ein richtiger Geist. Deine Mutter sah und hörte ihn nicht, aber du sahst und hörtest ihn. Nur konnte dein Vater, der alle seine Kräfte angespannt hatte, um zu kommen und dir zu sagen, daß du gegen die Falschen wütetest, nur einen Augenblick im Jenseits verweilen und schaffte es nicht, alles zu sagen, was er zu sagen hatte. Und da du nicht das zu hören bekamst, was du zu hören erwartetest, verstandest du ihn nicht. Sonst hättest du spätestens in diesem Moment begreifen müssen, daß der Geist, den du auf den Wallanlagen gesehen hattest, eine Fälschung gewesen war. Denn wenn er jetzt nur dir erschien, ohne daß die anderen – nicht einmal seine frühere Frau – ihn wahrnahmen, wie hatten dann die Wachleute, diese Banausen, ihn auf den Wallanlagen sehen können? Woher ich das weiß? Dein Vater hat es mir selbst erzählt. Im übrigen haben wir kaum miteinander gesprochen. Die Folgen des kindischen Versteckspiels meines Vaters beschränkten sich nicht auf seinen Tod. Du bekamst den Laufpaß nach England, und es bestand Grund zu der Annahme, dein Onkel würde dafür sorgen, daß du niemals zurückkehrtest. Ich hatte dein Spiel gespielt – nur um unsretwillen, Ham –, aber du hast jeden meiner Züge zunichte gemacht. Ich habe Fehler begangen, aber du noch mehr. Und für mich gab es keinen Ausweg mehr aus diesen erstickend heißen Räumen, kein Mittel, meine Fingerspitzen zu glätten, denn wer will eine Frau, die von einem Höherstehenden geliebt und verlassen wurde? Wir werden wahrhaftig verkauft und gekauft wie Fische, und der Preis, den wir einbringen, ist um so besser, je frischer wir sind.
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Ich hatte nur noch einen einzigen Strohhalm, einen dünnen, durchweichten, der sich kaum an der Oberfläche hielt. Wenn nun deiner Mutter etwas zustieße, Ham? Dein Stiefvater war ein heißblütiger Mann, einer von der Sorte, die sich im Bett wohl fühlt. Er würde sich bald eine Frau suchen, die mit ihm das Lager teilte. Ophy würde es verstehen, sich ihm als Kleines Echo seiner verblichenen Gattin in den Weg zu stellen. Ach, welche Ähnlichkeit, wie ähnlich der Klang ihrer girrenden Stimme, wie vertraut der Schwung ihrer Hüfte! Aber zuerst hätte man deine Mutter loswerden müssen. Und zugleich sicherstellen, daß ich auf keinen Fall in Verdacht geriet. Am leichtesten war es, so zu tun, als hätten deine Abreise und der Tod meines Vaters mir das Hirn erweicht. Ich redete dummes Zeug und sang Schlittenlieder und wurde bemitleidet, ich ungefährliches, armes kleines Dummerchen. Allerdings war mir auch bewußt, daß, falls man meine Absichten durchschauen sollte, meine Verrücktheit eine schickliche Erklärung bieten und ich vielleicht nicht sofort gehenkt werden würde. Und ich ging auf die Wiesen und in die Wälder und sammelte Kräuter und Wurzeln und Blumen von starken Farben, von denen ich wußte, daß ich daraus ein neues, geeignetes Gift extrahieren konnte. Aber nicht Bilsenkraut, diesmal nicht Bilsenkraut, natürlich nicht – das würde ja zu auffällig wieder auf deinen Stiefvater hindeuten, und ihn wollte ich diesmal nicht auf die Anklagebank bringen, weil ich für ihn jetzt eine andere Verwendung hatte. Ich stieß auf deinen Onkel und meinen Bruder, als ich mit meiner ersten Partie Kräuter – Hahnenfuß, Eisenhut, Tollkirsche, Fingerhut, alle sehr verdächtig, wenn man sich in der Botanik auch nur ein wenig auskennt – hereinkam, aber als Kleines Echo ahmte ich wieder deinen Irrsinn nach, Ham, und ich glaube, das wurde mir abgenommen. Aber ich erkannte, daß ich rasch handeln mußte, denn mein dämlicher Bruder rauchte vor heiligem Zorn über die Ermordung unseres Vaters; er 176
forderte Vergeltung und plante schon halb im Ernst einen Umsturz und die Absetzung deines Stiefvaters samt seiner eigenen Ausrufung zum Herrscher, und das konnte ich nicht zulassen, denn ich hätte ja nicht meinen Bruder heiraten können. Aber dann, als ich mit meinem neuesten tödlichen Strauß (unter anderem mit harmlos wirkenden Orchideen) am Flußufer war und ihn noch mit Faulbaumzweigen ergänzen wollte, kletterte ich auf eine Weide, um an die Zweige zu kommen. Dabei rutschte ich mit der Hand ab und fiel in das eisige Wasser. Und so starb ich, Ham. Im Diesseits traf ich sowohl deinen als auch meinen Vater, aber wie gesagt, wir haben nicht viel miteinander geredet. Aber dadurch hat sich die Geschichte verbreitet, daß ich es gewesen sei, die deinem Vater die Bilsenkrautbrühe ins Ohr geträufelt hatte. Und jetzt meidet mich mein eigener Vater und betrachtet mich mit Grauen, obwohl er vom selben Fleisch und Blut ist. Na ja, zumindest im übertragenen Sinne. Natürlich habe ich auch dich gesucht. Ich war mir ganz sicher, daß dein Stiefvater dich auf deiner Englandreise hatte aus dem Weg räumen lassen, aber du warst im Diesseits nicht zu finden. Und deshalb empfand ich das Sterben als um so frustrierender, weil auch du am Leben geblieben warst. Na, ich war jedenfalls tot, Ham, und da ich im Jenseits weder dich noch die ersehnte Stellung bekommen hatte, dachte ich, wir könnten die Ewigkeit zusammen verbringen, was ein sehr romantischer Gedanke ist. Denn du erinnerst dich doch an den Brief, Ham? An den Brief, an dessen Ende du schriebst: »Der Deinige auf ewig, teuerstes Fräulein, solange dieser Körper mir zugehört.« So kam ich darauf, daß du auch noch danach mein sein könntest. Und da die Kleinen Echos Ideen aus dem Tun anderer Menschen schöpfen, beschloß ich, es so zu machen, wie auch dein 177
Vater es jenes eine einzige Mal getan hatte, und die Wand zwischen den Welten zu durchbrechen. (Sie erinnert an eine riesige, gewaltig hohe Meereswelle, die erstarrt ist wie Sülze und durch die hindurch man das Jenseits betrachten kann – allerdings sieht man nur Gestalten und Bewegungen, man kann nicht einmal die Gesichter richtig erkennen, und deshalb langweilt es einen schnell. Freilich habe ich beobachtet, wie du mein Grab besuchtest, das war allerliebst und rührend.) Na, ich raffte also alle Kräfte zusammen, die ich hatte – diese Sülze zu durchdringen ist eine ziemlich harte Arbeit, und deshalb machen sich nur ganz wenige die Mühe hinüberzugehen, wenn sie keinen wirklich triftigen Grund haben –, und ging meinen Bruder besuchen. Ich war sehr bleich und pathetisch, und mein dummer Bruder fiel auf die Knie und hätte sich vor Angst fast in die Hosen gemacht. Ich sagte ihm, du habest nicht nur auf niederträchtige Weise unseren Vater umgebracht, sondern auch mich in den Selbstmord getrieben, und es sei seine Pflicht, den abscheulichen Ham zu töten, sobald du ihm über den Weg laufen würdest. Mein Bruder versprach es und schwang drohend seinen Degen, aber da ich von seinen Fechtkünsten nicht sonderlich überzeugt war, deutete ich an, in meinem Zimmer befänden sich mehrere Steingutgefäße mit interessanten Arzneien, mit denen man zum Beispiel die Degenspitze bestreichen oder die man in den Wein tun konnte. Aber man hätte es sich denken können: Wenn man die Männer herummurksen läßt, geht alles daneben. Wie habt ihr es eigentlich geschafft, im Getümmel des Zweikampfs die Degen zu vertauschen, na, und der vergiftete Kelch – ihr stellt ihn einfach an den Tischrand, so daß jeder X-Beliebige daraus schlürfen kann! Und als der Staub sich gelegt hatte, war die Stätte voller Leichen. Ehrlich gesagt, Ham, als ich dich hier haben wollte, habe ich keineswegs angenommen, daß du deinen Stiefvater und meinen Bruder und zu allem Überfluß auch noch deine dumme
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Mutter mitschleppen würdest, die ursprünglich an dem ganzen Tohuwabohu schuld war. Und ich dachte, oh verflixt, jetzt fängt alles wieder von vorn an. Aber wir brauchen mit den anderen ja nicht zu reden, nicht wahr? Wir können ganz für uns bleiben. Auf ewig, denk nur mal. Nur wir beide, du und ich. Oder, Ham? Ham? Ham!?
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LINE BAUGSTØ Fatal Orange Ihr Gesicht ist halbseitig gelähmt. Der Mund hängt schief, das eine Auge kann sie nicht ordentlich öffnen. Aber sie kann reden, obgleich sie nuschelt. Auch ihr Kopf ist klar, die Sprache erhalten. Das sagt der Oberarzt. Er sagt es, als wäre das das Wichtigste, als hätte sie trotz allem Glück gehabt. Er begreift nicht, daß der Schlag ihre empfindlichste Stelle getroffen hat. Ihr Äußeres. Die Fassade, die sie der Welt zeigt. Sie, die so schön war, ist jetzt häßlich. Weiß außer mir noch jemand, wie schlimm das für sie sein muß? Sie ist mit ihrem Aussehen immer zufrieden gewesen, sie hat immer gewußt, welche Farben ihr stehen und welcher Schnitt ihre beste Seite betont. Ich glaube, sie ist nie aus dem Haus gegangen, ohne geschminkt und perfekt gekleidet zu sein. Natürlich gehörte das zu ihrem Beruf als Schauspielerin, aber es war mehr als das. Es war aufrichtiges Interesse und Leidenschaft. Ich hatte definitiv die eleganteste Mama der Klasse. Man sollte meinen, ich hätte etwas von ihr gelernt. Das Taxi fährt die Auffahrt zu meinem Elternhaus hoch, das Haus, das sie von ihrem Mann geerbt hat, von meinem Vater, der gestorben ist, ehe ich ihn kennenlernen konnte. Ich zahle, und der Fahrer hilft mir, sie aus dem Auto in den Rollstuhl zu heben. Dann schließe ich die Haustür auf. Zum Glück ist das Haus groß, die Türen breit. Es gelingt mir, den Rollstuhl durchzuschieben. Aber es wird unumgänglich sein, ihr das Bett unten zu richten, ich werde es niemals schaffen, sie alleine in den ersten Stock zu tragen. Ich bringe sie ins Wohnzimmer und stelle die Koffer auf den Boden.
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»Wollen wir erst mal einen Kaffee trinken?« frage ich mehr mich selbst als sie. Seit ich sie im Krankenhaus abgeholt habe, hat sie kein Wort gesagt. »Ja, gerne.« Ihre Stimme ist schwach, die Worte undeutlich, als gehorche ihre Zunge nicht. Aber es fällt mir nicht schwer zu verstehen, was sie sagt. Sie lächelt rasch, ein schiefes Lächeln, und mir wird klar, daß sie trotz allem dankbar dafür ist, daß ich mein eigenes Zuhause verlassen habe, um hier zu wohnen und mich um sie zu kümmern. Ich lächle zurück, um ihr zu zeigen, daß ich die Botschaft verstanden habe, und sage nichts davon, daß ich längstens drei Monate bleiben werde. Dann ist mein Forschungsfreisemester zu Ende. Dann muß ich wieder anfangen zu unterrichten, und entweder wird sie mit mir mitkommen, oder wir werden einen Heimplatz finden müssen. Ich koche Kaffee und helfe ihr beim Trinken. Ich halte die Tasse und vorsorglich eine große Stoffserviette. Sie trinkt das lauwarme Getränk in kleinen Schlucken, aber ein wenig rinnt ihr doch übers Kinn und tropft auf ihr Kleid. Ich trockne sie ab, so gut ich kann, und sage, daß sie ein Lätzchen brauchen wird. Darauf erwidert sie nichts. Dann beschließen wir gemeinsam, daß ich ihr den Diwan in der Bibliothek herrichten werde, das ist am einfachsten. Ich hole ihr Bettzeug und breite es über den Diwan. Ich räume den Nippes von dem runden Rauchtischchen und funktioniere ihn zu einem Nachttisch um. Ich packe ihren Koffer aus, hänge die Kleider in die Garderobe und bringe die Waschsachen ins Bad. Die Bibliothek trägt diesen Namen nicht zu Unrecht. Es stehen ein paar große Regale mit Büchern dort, die meisten hat sie von ihrem Vater geerbt, der Literaturwissenschaftler war, genau wie ich. Als er starb, durfte ich mir aussuchen, was ich haben wollte, und einen Teil spendete sie einem Flohmarkt. Aber sie behielt auch ziemlich viele selbst, und ich hatte immer den Verdacht, 181
daß es dabei mehr um die Einrichtung der Bibliothek ging als um das Vergnügen, die alten Klassiker zu besitzen. Es läßt sich aber auch nicht leugnen, daß sich die abgegriffenen Lederrücken in diesem Raum gut machen. Darüber hinaus sind die Wände mit Bildern von ihr gepflastert. Es gibt gerahmte Schwarzweißfotografien, aufgenommen von berühmten Kunstfotografen und anonymen Theaterfotografen. Es gibt Bilder, die für Programmhefte verwendet oder an die Presse verschickt wurden, Bilder, die an der Straße aushingen, vor dem Theater, um die Leute anzulocken. Sigrun Larsson als Nora, Sigrun Larsson als Hedda Gabler, Sigrun Larsson als Antigone. Solange ich denken kann, hingen diese Bilder an den Wänden der Bibliothek, sie sind ein Teil des Hauses, aber seit ich erwachsen bin, habe ich sie mir nicht mehr oft angesehen. Jetzt tue ich es. Ich gehe von Bild zu Bild und bleibe vor jedem einzelnen stehen. Es ist, als sähe ich sie zum ersten Mal, denn jetzt betrachte ich sie mit dem Abstand, den ich als Kind nicht hatte. Was ich sehe, ist meine Mama, die schöne Mama meiner Kindheit, in voller Kostümierung. So sah sie auf der Bühne aus, jeden Abend, wenn sie mich verließ, um zur Arbeit zu gehen. Und so sah sie aus, wenn ich bei der Generalprobe im Zuschauerraum sitzen und nach der Vorstellung in die Garderobe kommen durfte. Sie muß jung gewesen sein, aber sie sieht nicht jung aus mit der dicken Schminke, den aufwendigen Kostümen, dem dramatischen Ausdruck in den Augen. Einige der Bilder sind von Premierenfeiern, und auf ihnen kommt ihre Jugend besser zur Geltung. Sie hat fast immer jünger ausgesehen, als sie war, vielleicht war das ihr wichtigstes Kapital. Auf einigen Bildern steht sie mit anderen bekannten Persönlichkeiten zusammen, ich erkenne einen Schriftsteller, einen Musiker, mehrere andere Schauspieler. Sie alle blicken in die Kamera, lächeln breit und beten verzweifelt darum, daß das Rampenlicht auf sie fallen möge. 182
Ich gehe von Bild zu Bild und sehe sie so, wie sie in Erinnerung bleiben möchte. Das ist ihr Leben. Das ist es, was sie vorzeigen kann. Aber wer erinnert sich daran? Die Größten werden als Legenden der Theatergeschichte weiterleben, aber sie hat nicht zu den Größten gehört. Sie ist nie mehr als die Zweite geworden, nur beinahe Primadonna. Natürlich spielte sie große Rollen und bekam wunderbare Kritiken, natürlich funkelte sie auf Premierenfeiern. Aber das taten viele andere auch. Auf jeden Star kommt ein Meer von guten Schauspielern, auf jede Primadonna unzählige Rivalinnen. Jetzt sitzt sie hier in diesem schönen Stadtviertel, in ihrem fast staubfreien Wohnzimmer. Halbseitig gelähmt, das Gesicht schief, grau, alt, vergessen. An den Wänden hängt die, die sie war, die sie versuchte zu sein. Jetzt hat sie nur noch mich. Sie ist vollkommen abhängig von meinem Wohlwollen. Ich versorge sie und helfe ihr beim Essen. Jeden Morgen ziehe ich sie an. Ich muß die Kleider mit Bedacht wählen. Sie achtet sehr darauf, was sie anzieht, obwohl sie nie ausgeht und selten Besuch bekommt. Natürlich mäkelt sie auch an meiner Kleidung herum, das hat sie immer getan. »Warum kannst du nicht wenigstens versuchen, ein bißchen hübsch auszusehen«, nuschelt sie. »Du hebst dich ja nicht einmal von der Tapete ab.« Ich bade sie, wenn die Haushaltshilfe kommt. Dann tragen wir sie zusammen nach oben ins Bad. Ansonsten überlasse ich der überraschend jungen Frau den Großteil der Wäsche und das Staubwischen. Die Zeit, die mir bleibt, versuche ich, für meine Forschung zu nutzen. Wenigstens einen Aufsatz muß ich in diesem Semester fertigbekommen. An einem Mittwochvormittag ruft ihr alter Chef an. Der berühmte Theaterintendant, der längst nicht mehr Intendant des Theaters ist, aber noch fast so berühmt wie früher. Er ist zufällig 183
in der Nähe und fragt, ob er auf einen Sprung vorbeikommen kann. Ich sage ja, er solle einfach kommen. Wir haben nichts vor. Er sagt, er sei in zehn Minuten da. Ich sehe die Panik, die sie durchfährt, sehe, wie ihr für einen Augenblick das Gesicht entgleist. Dann fängt sie sich wieder. »Bitte gib mir den Spiegel«, sagt sie mit ihrer belegten Stimme. Ich hole den Spiegel und halte ihn ihr vor. »Ich brauche Rouge«, stellt sie fest. »Und ein bißchen Wimperntusche.« Das soll sie haben. Ich hole die Wimperntusche und das Rougetöpfchen und schraube ihr den Deckel ab. Sie gräbt ihren krummen Zeigefinger in die rote Creme und verteilt sie vorsichtig. Ich sehe, wie die Farbe in ihre Wangen zurückkehrt. Ich tusche ihr die Wimpern dezent mit Schwarz und halte ihr wieder den Spiegel vor. Sie richtet sich auf und streckt den Hals. Kinn nach vorne, Kopf leicht geneigt. Dann bittet sie um den Lippenstift. Sie bittet mich, ihn aus ihrem Schlafzimmer im ersten Stock zu holen. Er stehe auf der Ablage unterm Spiegel. »Es ist einer von Dior«, erklärt sie meinem Rücken. Ihr Toilettentisch hat eine schwere Marmorplatte und einen goldgerahmten Spiegel. Ich sehe vor mir, wie sie auf dem niedrigen Hocker saß und ihr Gesicht verwandelte, es neu erschuf. Sie cremte sich ein, zog Striche, vergrößerte und verschönerte. Vor diesem Spiegel war sie eine Meisterin, unnahbar, in teures Parfüm und seidene Wäsche gehüllt. Ich sehe den Lippenstift, den sie sich wünscht, er steht genau da, wo sie gesagt hat, auf der Ablage unter dem Spiegel. Er steckt in einer hübschen Hülse aus Gold, mit dunkelblauen Ringen um die Mitte. Dennoch ziehe ich die oberste Schublade des Toilettentisches auf. Dort liegen sie, all ihre anderen 184
Lippenstifte, fein säuberlich sortiert. Sie haben Namen, die eßbar sind, Namen wie Sorbet, Chili, Soft Peaches. Die Schublade duftet nach ihrem Parfüm, und auf einmal merke ich, wie der Geruch eine jähe Welle von Übelkeit durch meinen Körper jagt. Es heißt, nichts wecke stärkere Erinnerungen als Gerüche, und plötzlich bin ich zurück in meiner Kindheit, auf verbotenem Terrain. Ich habe mich ins Allerheiligste geschlichen und ihr etwas gestohlen, ich habe die teuersten Tropfen geklaut. Aber ich wollte doch nur mein eigenes Parfüm machen, Marianne hat mir beigebracht, wie das geht, sie paßt auf mich auf, wenn Mama arbeiten muß. Sie hat mir gezeigt, wie ich ein wenig von Mamas Parfüm in ein leeres Fläschchen träufeln und es mit Wasser strecken kann. Ich gestehe sofort, und die Ohrfeige schwirrt rot über mein halbes Gesicht. Wenn sie schreit, kommt Spucke aus ihrem Mund. Sie steht da, in der einen Hand den kostbaren Flakon und in der anderen den großen, gewaltigen Zorn. Und ich verstehe, ich verspreche, ich werde nie, nie mehr etwas von ihr stehlen. Und auf gar keinen Fall Parfüm. So viele Lippenstifte. Ich öffne einige von ihnen, sehe mir die Farben an. Ich entscheide mich für einen in einer sandfarbenen, ganz unscheinbaren Hülse. Er heißt Fatal Orange. Dem goldenen Dior-Teil versetze ich mit dem Zeigefinger einen Stoß, daß er vom Marmortisch kullert, über den Boden, unters Bett, wo er zur Ruhe kommt. »Da stand kein Lippenstift auf der Ablage unterm Spiegel«, sage ich und reiche ihr den, den ich statt dessen ausgesucht habe. »Das kann nicht sein«, nuschelt sie. »Du mußt hochgehen und noch einmal nachsehen.« »Den hier oder keinen. Das ist der einzige Lippenstift, den ich finden konnte«, sage ich und übersehe ihren zornigen Blick, als ich die Hülse abziehe und den Lippenstift hochdrehe.
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»Das paßt nicht zusammen«, sagt sie, und jetzt höre ich das Weinen, das unter ihrer Stimme liegt. »Siehst du das nicht? Das Rouge hat einen Stich ins Blaue und dieser Lippenstift ist orange. Es paßt nicht.« »Aber nein«, sage ich. »Du wirst hübsch aussehen. Willst du ihn selbst auftragen?« Ich halte ihr den Spiegel, während sie den Lippenstift aufträgt. Ihre Hand ist unsicher, die Farbe verschmiert. In ihren Augen stehen die Tränen jetzt bis unter den Rand. »Hilf mir«, flüstert sie. Ich hole ein Papiertaschentuch und wische den Lippenstift ab. Dann trage ich eine neue Schicht auf. Es wird ebenmäßig und schön, aber dort, wo ich weiß, daß ich aufhören soll, mache ich weiter und lasse die Farbe bis in die Mundwinkel gleiten. Man darf niemals Lippenstift in den Mundwinkeln haben. Das ist absolutes Gesetz, auf einer Ebene mit dem Verbot, Blau und Braun zu kombinieren. Sie sitzt mit offenem Mund da, schnappt nach Luft. Aus ihrem Hals dringen zornige Laute. Sie schafft es nicht mehr, etwas zu sagen. Es klingelt an der Tür, und ich reiße den Spiegel mit mir, als ich gehe, um zu öffnen. Da steht der Mann, für den sie sich schön gemacht hat, die Berühmtheit, die nur ein winzig kleines bißchen verblaßt ist, mit einem Blumenstrauß in den Händen. Er lächelt breit und streckt die Hand aus, um mich zu begrüßen. Leise fragt er, wie es ihr gehe, und ich sage, daß es ihr gutgehe, sie sei nicht mehr so beweglich, aber ansonsten ganz klar. Ich nehme den Strauß entgegen und schicke ihn ins Wohnzimmer. Als ich wenig später mit den roten Rosen in der schönen Kristallvase ins Zimmer komme, sehe ich, daß sie versucht hat, den Lippenstift aus den Mundwinkeln zu wischen. Aber ohne den Spiegel hat sie nicht alles abbekommen. Statt dessen hat sie die Farbe nur noch weiter verschmiert.
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Ich stelle die Vase auf den Tisch und frage, ob sie einen Kaffee möchten. Der Theaterchef lehnt dankend ab, er hat nicht soviel Zeit. Da sage ich, daß ich einen kleinen Spaziergang machen wolle, aber ich bekomme keine Antwort. Er erzählt gerade eine Geschichte, die sie zum Lachen bringt. Draußen im Flur ziehe ich mir Jacke, Mütze und Schal an. Dann gehe ich nach oben in den ersten Stock. Ich krieche unter ihr Bett. Da liegt die goldene Hülse. Ich blase den Staub weg und ziehe den Deckel ab. Es ist eine satte, dunkelrote Farbe. Vor dem Spiegel über dem Toilettentisch trage ich ihn vorsichtig auf meine Lippen auf und sehe, wie gut er zu meinen dunklen Haaren paßt. Es ist ihre Farbe, sie hat schon immer einen guten Geschmack gehabt.
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PIA JUUL Elverdams Bach Die Luft duftete süß nach Heu. Der Himmel war knallblau, die kleinen Wolken aus Watte. Mir war kalt. Ich fror, körperlos. Er piekste mich mit einem Stock, doch ich konnte nichts spüren. Ich starrte zu ihm hoch und zwinkerte mehrere Male, damit sein Anblick verschwände, aber offenbar gab es ihn. Ich hatte nur Kopf und Schultern über Wasser, lag in einer verdrehten Haltung an der Wasserkante, konnte mich aber nicht bewegen und konnte nichts spüren. Es war ein kleiner Junge, er sagte nichts, und als ich ihn um Hilfe bitten wollte, kam kein Laut über meine trockenen Lippen. Warum war ich nicht tot? War ich tot? Wie war ich hier hingekommen? War ich hier hingekommen, oder hatte ich mich nur hier hingelegt? Zwei Männer kamen von weitem angelaufen. Sie trugen schwarze Anzüge, weiße Hemden, die hoch geknöpft waren, der eine sogar einen lockeren Schlips. Er ruderte mit den Armen, der andere rief. Der Junge piekste mich. »Warum liegst du da? Steh doch auf!« sagte er. Warum lag ich da? »Vivian! Ach, Vivian«, rief der Mann, der mich zuerst erreichte. Vivian? War das mein Name? Ich schaute seine braunen Augen und seine weißen Haare an, während er mit Schuhen und allem in den Bach sprang. »Ich kann mich nicht bewegen«, flüsterte ich. Er packte mich, doch der andere schrie: »Du darfst sie nicht bewegen!« Der Weißhaarige zog und zerrte unverdrossen an mir herum. »Wir müssen sie hier rausholen, sie ist ja halb to vor Kälte!« Dann halfen sie sich gegenseitig. Ich starrte sie an, während sie mit mir beschäftigt waren; ich konnte ihnen nicht helfen, und 188
ich erkannte sie nicht, ich zermarterte mein Gedächtnis, um diese beiden Männer wiederzufinden, aber es gelang mir nicht. Überhaupt fand ich gar nichts wieder. Meinen Namen nicht, nicht den Bach, vielleicht den Himmel. Der war blau, das hatte ich schon einmal gesehen, das erfüllte mich mit Freude, die so gar nicht zu meiner Unruhe und Verwirrung paßte. »Wo bin ich?« fragte ich. »Du liegst im Bach!« rief der Junge. Er stocherte mit dem Stock in der Erde herum und guckte mit offenem Mund und großen Augen zu, wie sie mich aufs Gras legten. Der Weißhaarige zog seine Jacke aus und wickelte sie um mich. »Lauf!« rief er dem Jungen zu. »Lauf, so schnell du kannst, zu Inga nach Hause, und sag ihr, sie soll einen Krankenwagen rufen! Lauf schnell! So schnell du kannst! Sag, daß sie auf Sørens Feld liegt. Nein, lauf du mit«, sagte er zu dem anderen Mann. »Lauft alle beide!« Dann liefen sie los. »Was für ein Bach?« flüsterte ich. Er setzte sich auf die Erde und zog mich auf seinen Schoß beim Versuch, mich in den Arm zu nehmen und zu wärmen. »Du darfst sie doch nicht bewegen!« rief derjenige von ihnen, der zurücklief. Aber er schüttelte nur den Kopf und nahm mich in die Arme. Er zitterte am ganzen Körper, sein Gesicht war dicht über meinem, er weinte, und die Tränen waren noch warm, als sie auf mein Gesicht trafen. Ich leckte sie von den Lippen ab. »Was für ein Bach?« wiederholte ich. »Elverdams Bach«, schluchzte er. »Wie konntest du das nur tun? Wir haben die ganze Nacht nach dir gesucht.« »Wer bist du?« fragte ich. »Was habe ich getan?« Er verstummte und starrte mich einen Moment lang an, er starrte, als wollte er mir direkt ins Gehirn schauen, dann gab er es auf und schloß die Augen. »Eines Morgens fand ich dich in 189
Elverdams Bach«, sagte er. »Kalt und steif und tropfnaß. Wir hatten die ganze Nacht nach dir gesucht. Du bist vom Fest weggegangen, plötzlich warst du fort. Und als uns klar wurde, daß du tatsächlich fort warst, war das Fest zu Ende. Das ist typisch für dich, daß du ein Fest steuerst, selbst wenn du nicht da bist. Arme Lena, armer Jakob.« »Wer ist das?« fragte ich. »Du tust doch nur so«, sagte er. »Wie was?« fragte ich. »Kannst du dich wirklich nicht erinnern?« »Ich weiß nichts. Wer bist du?« fragte ich wieder. Er schrie. Ein wütender Schrei über die Wiese, doch er blieb dabei ruhig sitzen. »Das ist so typisch für dich!« schrie er. »Wer bist du?« wiederholte ich. »Entschuldige«, weinte er. »Entschuldige, ich habe solche Angst gehabt. Du darfst nicht so sein, das macht alles nur noch schlimmer.« »Der Himmel ist so blau«, sagte ich. Er schaute auf. »Das stimmt«, sagte er. »Er ist sehr blau.« »Was habe ich getan?« fragte ich. »Entschuldige!« rief er. »Ich habe es nicht so gemeint.« »Was?« »Kannst du dich wirklich an nichts erinnern?« Ich schüttelte den Kopf. Ich war sehr müde und schloß die Augen. »Nicht schlafen!« rief er. »Warum nicht?« flüsterte ich. »Das weiß ich nicht, aber ich glaube nicht, daß du schlafen darfst. Der Krankenwagen kommt gleich, versuch dich wach zu halten.« 190
»Glaubst du, daß ich sterben werde?« »Nein! Das glaube ich nicht«, sagte er. »Glaubst du es?« »Ich kann nichts spüren.« »Gar nichts?« »Nichts. Was habe ich getan?« »Du hast nichts getan, das war ich.« »Was ist passiert?« flüsterte ich. »Du hast gesagt, daß das typisch für mich sei.« »Entschuldige.« »War es typisch für mich?« »Ja. Und typisch für mich und typisch für alles. Lena und Jakob haben gefeiert.« »Lena und Jakob?« »Dein Bruder.« »Mein Bruder?« »Es waren ganz viele Menschen überall auf dem Hof. Viel zu essen. Wein. Schöne Musik. Wir haben getanzt.« »Wir haben getanzt?« »Aber du wolltest nicht mit mir tanzen.« »Warum wollte ich das nicht?« Ich schaute sein weißes Haar an. Ich wollte die Hand danach ausstrecken, doch die Hand bewegte sich nicht. »Ich weiß es nicht, Vivian. Ich weiß es nicht. Du warst nur ein bißchen betrunken und etwas albern. Du hast mit allen möglichen anderen getanzt.« »Du auch?« »Nein, ich bin in den Garten gegangen.« »Dann bist du also verschwunden?«
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»Nee. Ich habe Karen draußen im Gras getroffen, und wir haben uns auf die Treppe gesetzt und uns unterhalten. Ich hoffte, du würdest es sehen und eifersüchtig werden.« »Wer ist Karen?« »Meine Exfrau.« »Mit wem bist du jetzt verheiratet? Mit mir?« »Ja, mit dir.« »Und habe ich es gesehen?« »Ja, das hast du.« »Und was habe ich dann gemacht?« »Du bist angerannt gekommen und hast die Gartentür aufgerissen, daß sie Karen im Rücken getroffen hat. Sie ist vornübergefallen, sie hat geschrien, das hat weh getan. Irgend etwas ist mit ihrem Rücken passiert. Ich mußte sie zum Notarzt fahren.« »Wirklich?« »Als ich zurückkam, warst du weg. Wir haben die ganze Nacht gesucht.« Wieder weinte er. »Entschuldige! Entschuldige!« »Wer ist Inga?« fragte ich. »Inga? Jakobs Nachbarin.« »Wie heißt du?« fragte ich. »Das ist doch egal«, sagte er. »Ja«, sagte ich. »Das ist doch egal.« Er weinte leise, und ich starrte an ihm vorbei in den Himmel. »Kannst du sie kommen hören?« flüsterte er. Das konnte ich nicht. Er hob den Kopf und lauschte. Sie kamen nicht. Es war vollkommen still. Der Himmel war blau. Der Junge kam zurückgelaufen. »Sie kommen!« rief er. Er stellte sich ein Stück entfernt von uns hin und starrte uns an.
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»Wie heißt du?« fragte ich. Er antwortete nicht. »Warum hast du Leppo getreten?« fragte er und sah mich vorsichtig an. »Was meinst du?« fragte ich. »Du hast meinen Hund getreten!« sagte er. »Hast du seinen Hund getreten?« fragte der Mann verärgert, der mein Mann sein sollte. »Das weiß ich nicht, ich hoffe nicht.« Aber mir dämmerte etwas. Nicht dieser Junge oder sein Hund, sondern ein Gefühl von Ekel, Haß und Wut. Ich erinnerte mich an ein Gefühl. Das hatte mit dem Hund zu tun; den konnte ich nicht leiden, das mußte ich festhalten. Eine Frage lag mir auf den Lippen. Sind wir glücklich? Aber ich konnte spüren, daß etwas an der Frage falsch war. Da gab es einen Motor, der lärmte, doch das war nicht der Krankenwagen. In der Ferne sah ich einen roten Mähdrescher Gras ausspucken, und ich empfand es sehr intensiv und mußte bei diesem Anblick lachen. »Sieh!« rief ich überwältigt. »Sieh!« Ich mußte ein glücklicher Mensch sein, wie könnte es anders sein?
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ARNE DAHL Fu chou Das Merkwürdige war, daß sie an Drachen dachte. Sie schaute zu den regenschweren Wolken hoch und dachte an Drachen. Obwohl das, näher betrachtet, im Grunde gar nicht so merkwürdig war, denn wenn man genauer hinschaute und einigermaßen mit Phantasie gesegnet war, sah die Wolke, die sich auf die trostlosen Hochhausreihen herabsenkte, tatsächlich aus wie ein Drache. Als würde gleich der gesamte oststaatenanmutende Vorortkomplex mit all den parallel ausgerichteten, turmhohen Wohnblöcken von einer Bestie aus den Tiefen lang vergangener Zeiten verschlungen werden. Es war einer dieser Winter, die sich hartnäckig weigerten, dem Frühling den Platz zu räumen. Während der Drache sich auflöste und in den heranrollenden Nebelschwaden aufging, seufzte sie schwer, hob die schweren Lebensmitteltüten wieder hoch und streckte den schmerzenden Rücken. Sie ging mit schweren Schritten zwischen den Hausreihen entlang. Als ihr plötzlich ein Schauer den Rücken hinunterlief, schoß ihr durch den Kopf, daß er grau war. Schmutziggrau. Die Farbe schien auf ihr ganzes Dasein abzufärben. Ihre ganze Existenz war irgendwie in etwas Graues, Schmutziges gehüllt. Wie die Innenseite einer Puppe. Der Himmel war noch einen Blick wert. Als sie durch eine der identischen Haustüren ins Gebäude trat, spannte sie erneut die Nackenmuskeln an und erhaschte einen flüchtigen Blick auf einen Fetzen grauen Himmel. Er war wie gespalten, ein knappes, eingezwängtes Stück Universum zwischen zwei Hochhäusern, die viel zu dicht standen. Sie betrat den Fahrstuhl. Es stank nach Urin, und jeder Millimeter der Wände war beschmiert. Nichts Neues unter der Sonne. 194
Sie seufzte noch einmal und überlegte, ob sie die Tüten abstellen sollte, während der Fahrstuhl sich die elf Stockwerke nach oben kämpfte, oder ob sie sie in der Hand behalten sollte. Was erforderte mehr Energie? Was wäre am schmerzhaftesten? Daß sie schließlich die Tüten in der Hand behielt, war letztendlich wohl doch eher auf ihre Unentschlossenheit zurückzuführen als auf einen aktiven Beschluß. Die Griffe schnitten gehörig in ihre Hände ein, bis der Fahrstuhl den erlösenden Gong von sich gab und die Türen aufglitten. Sie trat in den langen Korridor mit all den exakt gleichen Türen. Es roch moderig, eine Mischung aus Abfällen und Verwesung. Irgendwie schien in diesem Haus immer jemand zu sterben, in völliger Einsamkeit, von allen vergessen. Der Gestank war wie die nachträgliche Rache, die sagte: Jetzt werdet ihr mich jedenfalls nicht so schnell vergessen. Sie stellte die Tüten ab, betrachtete ihre malträtierten Handinnenflächen, nahm das Schlüsselbund heraus und suchte eine Weile unter den zwei Dutzend Schlüsseln. Am Ende fand sie den richtigen und schloß die Tür mit dem Namen Berglund am Briefkastenschlitz auf. Stöhnend betrat sie die Wohnung, in der es wie immer nach einer Mischung aus abgestandener Luft und Urin stank. Er saß wie üblich am Küchentisch der kleinen Einzimmerwohnung und bastelte. Diese ewige Bastelei. Aber klar, wenn man nichts anderes zu tun hat. Das war immer noch besser als nichts. Denn das wäre die einzige Alternative. Nichts. Seine Möglichkeiten waren beschränkt. Er war so gut wie bewegungsunfähig, außer in den Händen, und sprechen konnte er auch nicht. Seine Bastelei ließ darauf schließen, daß das Gehirn noch arbeitete, auch wenn er die Fähigkeit verloren hatte, aus Buchstaben Worte und Sätze zu bilden, mündlich wie schriftlich. Er saß im Rollstuhl und konnte selbständig zur Toilette fahren und auf die Klobrille rutschen, aber das ging selten gut. Er pinkelte daneben und war auf tägliche Hilfe 195
angewiesen. Beim Schlafengehen und Aufstehen, bei der persönlichen Hygiene, beim Spülen und Wäschewaschen, beim Einkaufen und Kochen. Sie stellte die schweren Lebensmitteltüten auf die Spüle und konstatierte, daß sie diese Hilfe war. Das war ihr Job. Aber so war es nicht immer gewesen. Früher war sie eine andere gewesen. Sie hielt inne und sah sich selbst. In einem anderen Frühling als diesem, zur gleichen Jahreszeit, aber in einem ganz anderen Frühling. Einem richtigen Frühling. Sie sieht sich eine lange Allee entlanggehen, auf ein klassisch elegantes Haus zu, ein richtiges Herrenhaus, während sie die Frühlingssonne an dem strahlendblauen Himmel in sich aufsaugt. Sie ist freudig gespannt, weiß, daß sie den Job gut machen wird, weiß, daß sie erfolgreich sein wird. Sie hat schon so manches heruntergewirtschaftete Unternehmen aus der Krise gerettet, verschwenderische Gewohnheiten abgestellt, energischen Enthusiasmus in halbtote Buchhalterseelen geblasen, effektive Strategien entworfen, das kranke Fleisch aus der Wunde geschnitten. Als sie den üppigen Garten durchquert und zum Herrenhaus schaut, vor dem das Banner mit dem Firmenlogo träge in der warmen Frühlingsbrise zittert, ist sie voller Zuversicht. Wie schon die letzten fünf Jahre. Ihr gesamtes berufstätiges Leben. Aber das war lange her. Sie seufzte und begann, die Tüten auszupacken, wobei sie einen Blick zum Küchentisch hinüberwarf und sagte: »Alles in Ordnung bei dir, Åke?« Er drehte den Kopf zur Seite und sah sie an. Sie begegnete seinem erloschenen Blick. Der so deutlich zeigte, daß seine Zeit längst abgelaufen war, daß er eigentlich schon viel zu lange gelebt hatte. Die faltige Gesichtshaut schien einmal einen deutlich umfangreicheren Kopf beherbergt zu haben. Überhaupt schien der ganze Körper einmal sehr viel größer gewesen zu sein als jetzt. Es war, als würde alles an diesem Körper, außer 196
dem größten Organ, der Haut, rapide schrumpfen, bis irgendwann nur noch eine leere Hülle übrig wäre. Als ob das einen Unterschied machte, dachte sie, während sie die Milchtüten und Konserven mit Fischklopsen, eingelegten Heringen, Muscheln, Krebsschwänzen und Sardellen auspackte. Sie machte die Sardellen auf und richtete sie auf einem Teller an, Filet für Filet. Die übrigen Konserven räumte sie weg, goß ein Glas Milch ein und trug die Mahlzeit zum Küchentisch. Sie setzte sich ihm gegenüber, stellte das Glas und den Teller vor ihn hin und nahm seine Bastelarbeit in Augenschein. Sie bestand aus lauter kleinen grünen, durchsichtigen Glasperlen, mit denen er ein Muster legte. Mit unendlicher Geduld nahm er jeweils eine Miniaturperle zwischen die Finger, versah sie mit einem Tröpfchen Kleber aus einer kleinen Tube und setzte sie dann auf eine durchsichtige, selbstklebende Kunststoffolie. Die Perlen glitzerten hübsch grün und hatten in dem gedämpften Winterfrühlingslicht etwas beinahe Magisches an sich. »Aber du bist ja bald fertig, Åke«, sagte sie und folgte den eigenartigen Windungen des Musters. »Du hast höchstens noch zwanzig Perlen übrig.« Er betrachtete sie mit diesem Blick, der keine Gefühlsregung offenbarte, diesem gänzlich neutralen Blick, in den sie so viel hineinlas. Sie wandte den Blick wieder dem Muster zu. Es schien aus zwei verschiedenen Hälften zu bestehen, mit phantasievollen Strichen und Windungen. Sie beugte sich zu ihm hinüber und legte eine Hand auf seinen Arm. »Erinnerst du dich noch, als ich das erste Mal gekommen bin, Åke? Ein halbes Jahr mag das hersein. Weißt du noch, wie du dich anstrengen mußtest, um mir begreiflich zu machen, daß ich dir all diese Sachen aus der Schublade drüben im Schrank bringen sollte?« Er starrte auf ihre Hand, ließ sie aber auf seinem Arm liegen, bevor er wieder ihren Blick suchte. 197
»Bis ich endlich verstanden habe, daß das dein Hobby ist.« Dabei war es ein ganz anderes Hobby, das seine Erinnerung beherrschte. Sein Gedächtnis klammerte sich in seinem hilflosen, eingeschränkten Zustand an etwas ganz anderes. Das, was einmal die größte Leidenschaft seines Lebens gewesen war. Der Weg hatte sich in seinem Innern eingebrannt, der Weg vom Fahrstuhl durch den kahlen Flur bis zu der unauffälligen Tür. Der besondere Rhythmus des Klopfens. Und wie sich alles verändert, der Alltag ein anderer wird. Er geht zwischen den Tischen hindurch, in der rauchigen, roten Beleuchtung, und das Geräusch von Spielkarten, die auf filzbezogene Tischplatten geworfen werden, mischt sich mit dem arhythmischen Klicken der Kugeln, die durch die Roulettescheiben schnurren. Hier ist er zu Hause. Er sieht sich um, zierliche Frauen trippeln leichtfüßig hin und her. Er betritt den inneren Raum. Sein Stuhl an dem ansonsten vollen Roulettetisch ist nicht besetzt. Der Croupier nickt ihm zu und zeigt mit einer auffordernden Geste auf den leeren Stuhl, die Menschenmenge öffnet sich, spaltet sich wie das Rote Meer vor Moses, und er nimmt seinen Platz ein und fühlt, wie das Leben seinem Höhepunkt entgegenstrebt, als er die Spielmarken strategisch auf dem Spielplan verteilt hat und die kleine Kugel sich in Bewegung setzt. Sie nahm ihre Hand von seinem Arm. Sein Blick schien zurückzukehren. Er klebte eine weitere Perle in sein Muster. Und noch eine. Die Zeit verstrich. Sie schob den Teller dichter an ihn heran, so daß der Duft der symmetrisch angeordneten Sardellenfilets deutlich in seine Nasenlöcher stieg. Sie beobachtete wie immer seinen Blick, wenn der Duft des Essens bei ihm ankam. Und sie hatte das Gefühl, daß etwas darin erwachte. »Du mußt jetzt was essen, Åke. Ich weiß doch, daß du Sardellen magst.«
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Sie fütterte ihn. Was inzwischen sehr viel leichter ging. Anfangs war es schwierig gewesen. Aber nach ein paar Wochen hatte er wohl eingesehen, daß er etwas essen mußte, um zu überleben. Etwa zur gleichen Zeit hatte er auch mit seiner Bastelei angefangen. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie die Sachen aus der Schublade geholt hatte. Das Flackern in seinen Augen und wie sie seinem stur auf den Schrank und die Schublade gerichteten Blick gefolgt war. In dem Augenblick hatten sie tatsächlich kommuniziert. Sie hatte die kleinen grünen Perlen hervorgekramt, den Klebstoff, die selbstklebende Folie, und er hatte begonnen. Das war seine erste aktive Handlung gewesen. Sie erinnerte sich noch deutlich an die erste Perle, die ganz einsam auf der Folie gelegen hatte. Inzwischen war ein richtiges Muster entstanden. Über die Monate war es gewachsen, mit einer Präzision, die sie diesem alten, körperlich so eingeschränkten Mann niemals zugetraut hätte. Er hatte seine Sprache verloren, die Fähigkeit zu sprechen, zu schreiben, die Fähigkeit, sich zu bewegen – es war fast, als hätte sich all das auf die eigenartige Fähigkeit verschoben, kleine Perlen in einem ganz bestimmten Muster aufzukleben. Und das Muster war nun so gut wie fertig. Es waren vielleicht noch zwanzig Perlen übrig. Sie betrachtete es, während sie ihn fütterte. Als sie das Milchglas mit dem Trinkhalm an seinen Mund hob, sah sie sich die linke Hälfte des Musters mit seinen eleganten, schlichten Windungen und Linien an, und als sie ihm ein weiteres Sardellenfilet in den Mund schob, glitt ihr Blick über die rechte Hälfte, die etwas verworrener aussah, mit mehr und kürzeren, aber intensiveren Linien. Zusammengenommen schien dieses Gebilde einer Phantasie entsprungen zu sein, die offenbar keine Worte mehr besaß. Sie schaute auf ihre alte Armbanduhr und blieb gedankenverloren mit dem Blick am Zifferblatt hängen, ehe sie registrierte, 199
wie spät es war. Die Uhr gehörte zu ihrem früheren Leben. Sie sah sich selbst während einer Sitzung in dem Herrenhaus davon aufblicken. Es sind einige Wochen vergangen, inzwischen hat sie die Unternehmensstrukturen einigermaßen durchschaut, sie weiß, was zu tun ist, und in ebenjener Sitzung, die zu dem Zeitpunkt, als sie auf die Uhr schaut, bereits zwei Stunden andauert, wird ihr klar, womit sie es zu tun hat. Zuerst ist es noch nicht konkret (und genau das war das Problem, das immer akuter wurde), sie registriert lediglich einen allgemeinen Widerstand. Natürlich hat sie das früher auch schon erlebt, den konservativen Widerstand der Mitarbeiter gegen jede Veränderung. Aber diesmal ist es anders. Es ist noch eine weitere Sitzung nötig, die sich über mehrere Stunden hinzieht, bevor ihr die Dimensionen klarwerden. Sie begreift, daß sie es mit einem Widersacher zu tun hat, einem starken Gegner, der gegen jede noch so kleine Veränderung ist, der um jeden Preis an seiner Macht festhalten will, aber noch weiß sie nicht, um wen es sich handelt. Wenn es denn überhaupt eine Person ist. In diesem Moment, im Laufe dieser entscheidenden Sitzung, weiß sie noch nicht, daß es eine Person ist – es kommt ihr eher wie ein Machtgefüge vor, eine abstrakte Übermacht, eine Art Unternehmenskultur, die alles Neue scheut wie der Teufel das Weihwasser. Es dauert noch ein paar weitere Wochen, bis ihr endgültig klar wird, daß es sich um eine Person handelt. Eine Person ohne formale Macht – aber mit einer um so größeren realen Macht. Es war ein Uhr. Das Milchglas war leer. Von den Sardellenfilets waren nur noch ein paar braune Spuren auf dem Teller übrig. Sie stand auf und räumte das Geschirr weg. Darum würde sie sich später kümmern. Sie durchschritt die kleine Einzimmerwohnung – wie schon so viele Male im letzten halben Jahr. Sie ging zu dem Schrank, dem einzigen Schrank, und ließ die Hand langsam über die wenigen Bücher gleiten, vorwiegend triviale Krimis, und dann weiter bis zu einem Aschenbecher. In 200
dem Aschenbecher lagen zwei kleine Metallkugeln. Sie nahm sie auf und rollte sie in der Hand, bis sie umeinander kreisten. Dann legte sie sie zurück und nahm den nächsten Gegenstand in die Hand. Eine schwarze, flache, geriffelte Plastikscheibe, etwas größer als eine Münze. Sie warf sie in die Luft, verfolgte den trudelnden Abwärtsbogen und sagte – das war wie eine Routine: »Du hast also Roulette gespielt, Åke?« Es gab einige wenige unterschiedliche Ausdrücke in seinem ansonsten gänzlich ausdruckslosen Gesicht. Im Grunde genommen waren es keine Ausdrücke – zu wirklichen Gesichtsausdrücken war er nicht mehr fähig –, sondern vielmehr ein leichter, fürs untrainierte Auge unmerklicher Wechsel in der Intensität und Richtung seines Blickes. Der erste Ausdruck, den sie den Wunschblick nannte, drückte einen besonderen Wunsch aus – den hatte sie nur einmal an ihm gesehen, als er sie dazu gebracht hatte, ihm die Bastelutensilien aus der Schublade zu bringen. Der zweite Ausdruck war aller Wahrscheinlichkeit nach ein Erinnerungsblick. Der kam um so häufiger vor. Zum Beispiel jetzt. Ja, er spielte Roulette. Er sah ihn vor sich, seinen Stuhl, diesen ganz privaten Stuhl an dem ganz privaten Spieltisch in dem rauchigen Lokal mit der roten Beleuchtung, dessen Lederbezug schon ganz blank gesessen war. Und nun sitzt er auf seinem durchgesessenen Stuhl und verteilt die Spielmarken in einem strategischen Muster. Er ist von einer unendlichen Trauer erfüllt, während die zierlichen, trippelnden Frauen ihn umschwirren und ihm einen Drink nach dem anderen servieren. Das ist ein ganz besonderer Moment. Sein Blick folgt der Kugel, die entgegen der Laufrichtung der Drehscheibe im Kreis schnurrt, der zentralste Bewegungsablauf in seinem Leben, und er weiß, daß es vorbei ist. Ein für allemal. Der Inhaber kommt zu ihm, legt ihm den Arm um die Schulter. Gemeinsam verfolgen sie die kurzen Sprünge der Kugel, bevor sie sich zur Ruhe legt. Er verliert. Hat nur noch eine einzige Spielmarke vor sich auf dem 201
Tisch liegen. Der Inhaber geht neben ihm in die Hocke und sagt in gebrochenem Schwedisch: »Stimmt es, daß du uns verlassen willst, Åke?« Er nickt langsam und antwortet: »Ich bin krank.« Der Inhaber hebt die Augenbrauen und sagt: »Krank?« Er nickt erneut und fügt leise hinzu: »Sie sagen, daß ich mich irgendwann nicht mehr bewegen können werde. Mir bleibt höchstens noch ein Monat.« Der Inhaber sieht ihn lange an. Dann sagt er: »Du warst unser bester Kunde, Åke. Behalt die Marke als Andenken.« Er bedankt sich, nimmt sie und steckt sie ein. Der Inhaber beugt sich ein Stück vor und flüstert: »Und dann habe ich noch etwas für dich.« Ein leises Klirren, sein Erinnerungsblick erlosch. Sie beugte sich vor und hob die Spielmarke vom Boden auf. »Entschuldige«, sagte sie. Sie legte sie zurück in den Aschenbecher und ging langsam zum Küchentisch. Die muffige Luft stand still. Der Himmel vor dem Fenster – oder das, was davon oberhalb des gewaltigen Wohnblocks gegenüber zu sehen war – wirkte gleichmäßig grau. Als ob sich das Wetter nie wieder ändern würde. Als wäre die Zeit stehengeblieben. Und doch nicht ganz. Als sie sich ihm gegenüber auf den Stuhl setzte, nahm er eine grüne Perle auf, tröpfelte ein wenig Klebstoff darauf und klebte sie auf. Dann legte er die Hände auf den Tisch, neben die Plastikfolie mit dem merkwürdigen Muster – und zum zweiten Mal in ihrem Leben sah sie seinen Wunschblick. Er war fest auf sie gerichtet. Sie ließ ihn eine Weile gucken, dann richtete sie den Blick auf das Muster. »Ist es fertig?« fragte sie. »Das ist aber schön geworden.« Sie hob den Kopf. Sein Blick war fest und völlig klar. Dann bewegte er sich zum Fenster. Er senkte sich auf das Muster, auf die abgeschlossene Bastelarbeit, und wanderte zurück zum Fenster. Die Prozedur wiederholte er ein paarmal, ehe sie nickte
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und sagte: »Du möchtest, daß wir es ins Fenster hängen? Ist es das, was du willst?« Und sein Blick war wieder fest. Fest auf ihren gerichtet. Sie nickte erneut und streckte sich vorsichtig nach der Folie mit all den festgeklebten grünen Perlen in dem eigenartigen Muster aus. Vorsichtig hob sie die Folie hoch und trug sie zum Fenster. Sie drehte sich zu ihm um. Sein Blick war vollkommen fest. Sie drückte die selbstklebende Folie gegen die Fensterscheibe. Die Folie blieb haften. Sie rieb sie noch ein wenig fester. Das fahle Licht in der Wohnung war wie verwandelt. Es sickerte durch die grünen Perlen und ließ das prachtvolle Muster nahezu magisch glitzern. Wie undefinierbare Zeichen einer eigentümlichen Sprache. Sie setzte sich wieder an den Küchentisch, ihm gegenüber. Sie betrachtete den Mann, der dort in seinem viel zu großen Hautkostüm saß und mit dem schönen Muster am Fenster um die Wette zu strahlen schien. Sie befindet sich wieder in dem Herrenhaus. Die Wochen vergehen. Es ist alles so eigenartig. Wie bei Kafka. Alles, was sie tut, alle Änderungsvorschläge, die sie vorbringt, bleiben bei einer unbekannten Instanz hängen. Es ist, als wate sie durch knietiefen Teer. Es zehrt an ihr, höhlt sie in einer Geschwindigkeit aus, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Ganz allmählich lokalisiert sie die Ursache, den geheimnisvollen Machtfaktor, der sie so effektiv in ihrer Berufsausübung blockiert. Es ist ein Mann, einer, der sozusagen zum Inventar gehört. Alle nennen ihn den Dicken, und er ist eine der Instanzen, die sie wegrationalisieren will. Aber er ist wie ein Blutegel, der sich festsaugt, wie ein Seeigel, der alle Stacheln ausfährt, wie eine Molluske, die sich formlos in alle Richtungen ausbreitet und alles infiziert. Ihr wird immer deutlicher bewußt, daß er derjenige ist, der ihre Arbeit zunichte macht, sie dazu treibt, 203
zuviel zu trinken, der ihren Schlaf stört und all die Zeichen totaler Ausgebranntheit in ihr wachruft, die sie vorher nicht kannte. Aus Wochen werden Monate, und sie sinkt immer tiefer. Sie gibt ihr Bestes, untersucht jeden Winkel, versucht sich von hinten an ihn anzupirschen, aber es funktioniert nicht. So viele Sympathien für ihre Sache ihr auch von den andern Mitarbeitern entgegengebracht werden, am Ende landet sie immer wieder bei dem einen Satz, den sie zu hassen begonnen hat: »Ich kann Sie absolut verstehen, natürlich haben Sie recht. Aber Sie wissen ja, der Dicke sitzt auf dem Material, und er ist der einzige, der was davon versteht.« Und eines Tages bricht einfach alles über ihr zusammen. Sie bricht durch die Erdoberfläche, der Schmerz walzt über sie hinweg. Sie verläßt das Herrenhaus als gebrochener Mensch, nachdem der stellvertretende Direktor ihr mitgeteilt hat, daß man keinen Nutzen mehr in ihrer Arbeit sehe. Sie wandert ziellos durch die Stadt. Später begibt sie sich in das Stammlokal in der Nähe des Herrenhauses. Sie rechnet damit, sie dort anzutreffen. Sie tritt unbemerkt ein und sieht sie an einem der hinteren Tische sitzen. Er thront am Tischende, wie ein Häuptling. Sie hört jemanden sagen: »Du bist ein echter Satansbraten, Dicker. Aber wem erzähle ich das.« Der Dicke antwortet: »Kleine Mädchen, die glauben, sie wären was Besseres, die muß man ein bißchen fester anfassen, verdammt.« Eine andere Stimme, merklich angetrunken: »Zum Teufel mit dir. Du ißt ja schon wieder einen Hamburger, Dicker. Das ist ein Fischrestaurant. Welcher verdammte Hamburger lebt im Meer?« Der Dicke lacht und sagt: »Ich hasse alles, was aus dem Meer kommt. Fischklopse, Heringe, Muscheln, Krebsschwänze, Sardellen. Davon dreht sich mir der Magen um. Es gibt nur eine Sache, die ich noch mehr verabscheue.« Die andere Stimme: »Ha, ha. Und das wäre?« Der Dicke: »Milch.« Sie drehte den Kopf ein wenig, sah den Mann in dem viel zu großen Hautkostüm an und sagte langsam: »Du weißt, daß es
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ewig so weitergehen kann, Åke. Die Hölle besteht darin, daß sich niemals was ändert.« Sie ging in die Küche, um ein weiteres Glas Milch einzuschenken und eine Konserve mit Krebsschwänzen zu öffnen. Er richtete seinen Blick auf das glitzernde Muster an der Scheibe. Er sah sich selbst durch die Tür hinausgehen, den sogenannten Zwischenhof zwischen den hohen Wohnblöcken überqueren und im Haus auf der anderen Seite verschwinden. Er betritt den Fahrstuhl und fährt ein paar Stockwerke nach oben. Er geht den kahlen Flur entlang bis zu der unauffälligen Tür. Sein Klopfen folgt einem besonderen, lang eingeübten Rhythmus. Die Tür öffnet sich, und er tritt in das vertraute, rauchig rote Licht. Die klingelnde, asiatische Musik begleitet das Geräusch der Spielkarten, die auf filzbezogene Tische geworfen werden, und das arhythmische Klicken der Kugeln, die durch die Roulettescheiben schnurren. Er setzt sich auf seinen blankgescheuerten Stuhl und spielt, bis er nur noch eine Spielmarke übrig hat. Da kommt der Inhaber und setzt sich zu ihm. Sie unterhalten sich. Im Hintergrund leuchten die roten Lampen mit den Drachen auf den Schirmen. Schließlich sagt der Inhaber: »Du warst unser bester Kunde, Åke. Behalt die Marke als Andenken.« Er bedankt sich, nimmt sie und steckt sie ein. Der Inhaber beugt sich zu ihm und flüstert: »Und dann habe ich noch etwas für dich. Ich biete dir meinen Schutz an, Åke. Du brauchst mich nur zu rufen.« Er hebt eine Augenbraue und sagt: »Und wie mache ich das?« Der Inhaber reibt sich über die tiefe, schalenförmige Narbe an seiner linken Wange, zieht mit den Fingern seine schrägen Augenbrauen nach und sagt: »Benutz das chinesische Wort für Rache, Vergeltung. Fu chou. Es setzt sich aus zwei chinesischen Zeichen zusammen. Nimm diesen Zettel. Lern das Zeichen auswendig. Du weißt nie, wann du es brauchen wirst.« Sie kam an den Küchentisch zurück. Sein Blick war starr auf das Muster im Fenster gerichtet. Sie schob den Trinkhalm 205
zwischen seine Lippen und empfand die Geste, mit der er die Milch in sich hineinsaugte, fast als genußvoll. Zeit verging. Es kam ihr vor, als wäre es eine ganz andere Art von Zeit. An den Zusammenbruch selbst konnte sie sich nicht mehr erinnern. Ein akutes Burn-out-Syndrom. Aber an den Schmerz erinnerte sie sich. Wie die Welt die Form veränderte. Wieviel Selbstüberwindung jede noch so kleine Handlung bedeutete. Vor die Wand laufen. An die Wand gefahren werden. Von einem einzigen Mann. Überleben aus Rachsucht. Gezwungen sein, Jahre vergehen zu lassen, und alle Kraft aus dem Wunsch zu ziehen, sich eines Tages an dem rächen zu können, der mit einem einzigen Achselzucken versucht hat, einen auszulöschen. Der Schmerz, wieder aufzustehen. Diese ständige Müdigkeit, das Bedürfnis zu schlafen, immerzu schlafen zu wollen, und nur aufzuwachen, um zu versuchen, sich das Leben zu nehmen. Aber es geht weiter. Sie steht auf. Alles passiert in extremer Zeitlupe. Die Welt bewegt sich langsam. Sie kehrt ins Leben zurück, trotz allem. Packt sich selbst am Schopf. Und dann macht sie sich auf die Suche. Zeit vergeht, viel Zeit. In dem Herrenhaus ist er nicht mehr. Keiner weiß, wo er ist, er hat aufgehört, niemand weiß, warum. Schließlich findet sie ihn. Sie beobachtet ihn aus der Distanz, erfährt alles über sein Leben. Sie lernt einen Mann aus seinem nächsten Umfeld kennen. Es dauert einige Monate, ehe sie sich eingesteht, daß er der Mann ihres Lebens ist. Er ist so freundlich, so rücksichtsvoll. Sie versteht ihn nicht richtig – der kulturelle Abstand zwischen ihnen ist groß, es liegen Welten zwischen ihnen –, aber es gelingt ihnen trotzdem, zusammenzukommen. Das Leben hat sie wieder, sie wird geliebt. Sie heiraten. Und sie bittet ihren Mann, ihren reichen Mann, arbeiten zu dürfen. Ihr Gatte ist erstaunt, versteht den Grund nicht, aber er akzeptiert ihre Entscheidung. Sie weiß, daß der Dicke erkrankt ist, und wird seine Pflegerin. Er ist in seinem enormen Hautkostüm zusammengeschrumpft und 206
unfähig zu protestieren, er hat seine Sprache verloren und jede Bewegungsfähigkeit, außer in den Händen. Und auf seinem Speiseplan stehen ausschließlich Milch und Meeresfrüchte. Sie sahen sich über den Küchentisch hinweg an. Sie suchten nach etwas in den Blicken des anderen. Sie fanden nicht viel. Beide wußten, wie man zumacht. Das lag inzwischen ein halbes Jahr zurück. Danach war eine Menge passiert. Ihr Mann wurde bösartig. Er wurde gefährlich, gehässig. Er zeigte sein wahres Gesicht. Und das war nicht schön. Sie suchte andere Kanäle, neue Kontakte. Fu chou, dachte sie. Plötzlich flog die Tür auf. Ein harter, wütender Knall, und sie waren da. Sie traten in die Wohnung. Zwei kaltblütige Chinesen mit Schußwaffen in den Händen. Der Größere ging herum und postierte sich hinter dem alten Mann im Rollstuhl. Der Kleinere blieb auf der Türschwelle zum Flur stehen. Er sah verdutzt aus. Er ließ die Waffe sinken, rieb sich über die tiefe, schalenförmige Narbe an der linken Wange und fuhr sich mit den Fingern über die schrägen Augenbrauen. Dann wandte er sich an den Alten und sagte in gebrochenem Schwedisch: »Das ist doch meine Frau.« Worauf der größere der beiden eine Kugel auf sein Herz abfeuerte. Er blieb einen Augenblick stehen, während sich maßloses Erstaunen in seinem Gesicht ausbreitete. Dann kippte er nach vorn und blieb auf dem Küchenboden liegen. Sie streckte den Hals. Es knackte. Dann erhob sie sich und sagte: »Danke, Fai. Du weißt, was du zu tun hast.« Der große Chinese wischte die Pistole ab, beugte sich über den Mann im Rollstuhl, drückte seine Hand gegen den Kolben und legte die Waffe so hin, daß er sie nicht ganz erreichen konnte.
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Sie holte tief Luft und sagte: »Es gibt noch eine Patrone, Åke. Du entscheidest selbst, was du tun willst.« Sie schaute in seine Augen, in denen kein Blick mehr zu finden war. Dann sagte sie: »Jetzt, Fai, haben wir ein Unternehmen auf Vordermann zu bringen.«
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LEENA LEHTOLAINEN Der Weihnachtsengel Liisa stand vor dem Fenster im Schnee und wartete. Sie betrachtete den Weihnachtsengel, der am dunklen Fenster nur als Silhouette zu erkennen war. Er zeichnete sich gegen den Lichtstreifen aus dem Flur ab, die Lampen im Eßzimmer brannten nicht. Die Bewohner des Hauses waren noch am Grab der Schwiegereltern auf dem Friedhof Hietaniemi. Das heißt, es waren ja nicht mehr Liisas Schwiegereltern. Aino hatte die Weihnachtsengel gebastelt, vor zwölf Jahren. Den einen besaß Liisa immer noch, wollte ihn aber nicht ans Fenster hängen, weil sie wußte, daß Kari den anderen hatte. Ein Weihnachtsengel allein wirkte verloren, er brauchte sein Gegenstück. Als sie die Autoscheinwerfer sah, zog sie sich hinter die Hecke zurück, doch das Auto fuhr am Haus von Kari und dieser Frau vorbei. Die Frau hatte auch einen Namen, aber Liisa nannte sie in Gedanken nie beim Vornamen. Außerdem war es ein dummer Name. Janita. Das paßte zu einem Fotomodell für Unterwäsche. Irgend so was war das Flittchen wohl auch gewesen, bevor sie sich Kari geangelt hatte. Daß sie jung war, hörte man schon am Namen. Frauen in Liisas Alter hießen nicht so. An Weihnachten vor zwei Jahren waren sie noch zusammengewesen, wie die Weihnachtsengel. Aber am zweiten Feiertag hatte Kari gesagt, er halte es nicht mehr aus. Er wolle die Scheidung. Er könne nicht mehr ohne Janita leben. Im letzten Jahr hatten Aino und Kalle bei ihr Weihnachten gefeiert, aber diesmal war ihr Vater an der Reihe, sie zu bewirten. Auch der sechs Monate alte Sohn von Kari und Janita würde dabeisein, Kalle wollte den Weihnachtsmann für ihn 209
spielen. Als würde ein Baby das verstehen. Angst würde es haben, sonst gar nichts. Es stimmte Liisa traurig, daß ihre Kinder sie allein ließen. Das Sozialamt konnte ihnen nicht vorschreiben, jedes zweite Weihnachtsfest bei Kari zu verbringen, denn sie waren schon volljährig, Kalle war einundzwanzig und Aino neunzehn. In dem Herbst, in dem Kari Janita kennengelernt hatte, war Kalle bei der Armee und Aino als Austauschschülerin in Frankreich gewesen. Liisa hatte von dem neuen Leben geträumt, das sie mit Kari führen würde, wenn sie endlich wieder zu zweit wären. Dinner bei Kerzenlicht, lange Spaziergänge, Wochenenden in Kurbädern und Kulturstädten. Aber das neue Leben hatte sich als etwas ganz anderes entpuppt. Den nächsten Wagen, der um die Ecke bog, erkannte Liisa. Kari fuhr den silbergrauen Audi mit Sonderausstattung bereits seit drei Jahren. Sie zog sich noch weiter in den Schatten der Hecke zurück. Ihre Hose und ihre Winterjacke waren schwarz, die Haare hatte sie unter die ebenfalls schwarze Mütze geschoben. Schon deshalb hätte Kari sie nicht erkannt, denn sie setzte nicht einmal zum Skilaufen eine Mütze auf. Den Reflektor hatte sie natürlich zu Hause gelassen. Alles, was sie brauchte, hatte sie in einen kleinen schwarzen Rucksack gepackt, der unglaublich viel wog. Sie sah ganz und gar nicht mehr wie die Liisa aus, die einmal Karis Frau gewesen war. Im letzten Jahr hatte sie mehr als zehn Kilo abgenommen. Zum Friseur war sie nicht mehr gegangen, die Dauerwelle war längst herausgewachsen, und die grauen Haare hatte sie sich auch nicht mehr färben lassen. Für wen denn auch? Die Garagentür fiel zu, dann waren Stimmen zu hören. Liisa war froh, daß man von der Garage nicht direkt in Karis neues Haus gelangte, wie es in ihrem früheren Haus der Fall gewesen war. Auch das Wohngebiet war nicht so schön wie der Stadtteil Marjaniemi, wo sie früher gewohnt hatten, in Meeresnähe. Hier ragten nur einen Kilometer weiter Hochhäuser auf, mit Sozial210
wohnungen, in denen zweifelhaftes Gesindel lebte. Im Sommer war sogar Kalles Mountainbike gestohlen worden. Liisa und Kari hatten keine Gütertrennung vereinbart gehabt, daher war die Hälfte der Verkaufssumme für das alte Haus an sie gefallen. Im ehemals gemeinsamen Zuhause hatte sie nicht bleiben mögen, da die Kinder auch nicht mehr dort wohnen wollten. Das war das Allerschlimmste gewesen. Bevor er zum Wehrdienst einrückte, hatte Kalle einen Studienplatz an der Technischen Hochschule in Otaniemi bekommen und wollte deshalb nach Lauttasaari oder Tapiola ziehen. Kari hatte seine Beziehungen spielen lassen und ihm eine Einzimmerwohnung besorgt. Das hätte Liisa zur Not noch akzeptiert, aber daß Aino ebenfalls … Das Mädchen hatte damals ein halbes Jahr vor dem Abitur gestanden, in dem Alter wohnten Kinder noch bei den Eltern. Doch Aino hatte sich zusammen mit einer Schulfreundin, die von außerhalb zugezogen war, um das Sibelius-Gymnasium zu besuchen, ein kleines Reihenhaus mit zwei Zimmern geteilt, von denen eines schallisoliert war, so daß Aino Cello spielen konnte, wann immer sie wollte. Ihre Mitbewohnerin war Posaunistin. Liisa hatte gar nicht gewußt, daß Frauen Posaune spielen. Gewiß, auch sie hatte das Haus in Marjaniemi loswerden wollen, aber als sie die Umzugskisten packte, war sie aus dem Weinen nicht mehr herausgekommen. Auf dem Dachboden hatte ihr ganzes Leben gelegen: das Taufkleid der Kinder, sämtliche Schulbücher, der grellbunte Strohhut, den sie im ersten gemeinsamen Urlaub mit Kari auf Capri gekauft hatte, sogar ihr Hochzeitskleid, das sie für Aino aufbewahrt hatte und nun kurzerhand in den Müll warf. Der Fetzen brachte sowieso nur Unglück. Bei Karis und Janitas Hochzeit war Aino Brautjungfer gewesen. Das hatte Liisa nicht etwa von ihrer Tochter selbst erfahren, sondern von Leila Hakanen, deren Mann Karis engster Kollege war. Jahrelang hatten sich die beiden Ehepaare gegenseitig 211
besucht und ein paarmal sogar gemeinsam Golfurlaub in Portugal gemacht. Liisa hatte Leila für ihre Freundin gehalten. Doch nach der Scheidung hatte Leila nichts mehr von sich hören lassen, bis sie sich eines Tages, zwei Wochen nach Karis Hochzeit mit dem Flittchen, auf der Aleksanterinkatu zufällig über den Weg gelaufen waren. »Hallo Liisa«, hatte Leila gerufen und sie auf beide Wangen geküßt. »Ich wollte dich längst mal anrufen. Meine Güte, du hast aber abgenommen! Bist du verliebt? Hast schon einen Neuen, stimmt’s?« Leila hatte darauf bestanden, ins Café Strindberg zu gehen, und Liisa hatte nicht nein sagen können. Sie hatten Kaffee und Sherry getrunken, Leila hatte ihr ein Stück Himbeertorte aufgedrängt. Da Leila aus den Berichten ihres Mannes den Eindruck gewonnen hatte, die Exehegatten stünden auf freundschaftlichem Fuß, hatte sie ungehemmt über Karis Hochzeit gesprochen. »Für eine zweite Ehe war es ein bißchen großspurig! Trauung in der deutschen Kirche und so weiter. Und das Brautkleid – also wirklich, ein Wunder, daß es oben geblieben ist! Die Brustwarzen waren gerade noch bedeckt, absolut geschmacklos, und dazu ein Schleier! Aber Aino war eine hübsche Brautjungfer, ihr Kleid war auch viel eleganter.« Der Rest war an Liisa vorbeigerauscht. Warum hatte Aino ihr nicht erzählt, daß sie Brautjungfer sein sollte? Kalle hatte verlegen gestammelt, zur Hochzeit ihres Vaters müßten sie wohl gehen, und Liisa hatte geglaubt, einen mißbilligenden Ton herauszuhören. Aber daß Aino als Brautjungfer … Sobald sie wieder allein war, rief sie ihre Tochter an, erreichte aber nur ihren Anrufbeantworter. Das Warten auf Ainos Rückruf schürte ihren Haß. Als er schließlich kam, loderte die Wut in ihrem Herzen wie ein Scheiterhaufen.
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»Wie konntest du mir das antun!« schrie sie ihre Tochter an. »Denkst du denn überhaupt nicht an meine Gefühle?« Nach diesem Gespräch war Aino einen ganzen Monat lang nicht zu Besuch gekommen. Kalle hatte die Rolle des Schlichters übernommen. Aber Aino hatte sie nie um Verzeihung gebeten, und Liisa hatte ihr nie vergeben. Sie hatte gefürchtet, Aino würde sich rächen, indem sie ihre Abiturfeier in Karis Haus veranstaltete. Liisa hätte keinesfalls daran teilnehmen können, nicht unter dem Dach dieser Frau, als Gast beim Fest ihrer eigenen Tochter. Zum Glück hatte sie sich einen Kompromiß einfallen lassen, den auch Aino akzeptieren konnte: Das bestandene Abitur war auf der Terrasse eines Restaurants am Meer gefeiert worden, Liisa und Kari hatten sich die Kosten geteilt, und Janita – hochschwanger und ruhebedürftig – war zu Hause geblieben. Liisa sah, wie im Haus die Lichter angingen. Diese Verschwender knipsten natürlich sämtliche Lampen an, was ihr andererseits die Ausführung ihres Plans erleichtern würde. Sie hatte sich im Immobilienregister einen Grundriß des Hauses besorgt und wußte genau, wo sich die einzelnen Zimmer befanden. Das Herzstück des Hauses bildete das kombinierte Wohn- und Eßzimmer, das zur Straße hinausging und an der Westseite zum Garten lag, daneben dann die Küche, an der Ostseite die Schlafzimmer. An der Südseite gab es Saunaräume und eine Terrasse. Das Haus hatte drei Schlafzimmer. Kari bevorzugte harte Matratzen, in ihrem gemeinsamen Ehebett hatte jeder seine eigene Matratze gehabt. Verzichtete er seiner jungen Frau zuliebe jetzt auf seine Bequemlichkeit? Der Junge schlief neben seinen Eltern. Liisa wußte, daß das Gitterbettchen rechts vom Fenster stand, sie hatte einmal Gelegenheit gehabt, hineinzuspähen. Es lag nur wenig Schnee, der zudem hart gefroren war, sie würde also keine erkennbaren Fußabdrücke hinterlassen. Die Außenbeleuchtung war zum Glück ausgeschaltet, aber sie mußte trotzdem vorsichtig sein, 213
denn der Lichtkegel der Straßenlampe reichte bis in den westlichen Teil des Gartens. Obwohl die Temperatur nur ein paar Grad unter Null lag, fühlte Liisa sich wie ein Eisklumpen. Sie versuchte sich an ihrem Haß zu wärmen. Da drinnen feiern sie jetzt Weihnachten, meine Kinder. Meine Kinder, mein Mann, seine Neue und ihr Balg. Ohne den Fratz wäre Kari bestimmt zu mir zurückgekehrt, wenn der Reiz der Abwechslung erst einmal verflogen war. Das Kind mußte weg. Liisa schlüpfte aufs Nachbargrundstück und beschloß, ein Stück zu gehen, um nicht ganz steif zu werden. Kalle hatte gesagt, der Weihnachtsmann käme zeitig, weil Karis Sohn früh schlafen gehe. Er war angeblich ein pflegeleichtes Kind, das die Nächte durchschlief. Nach seiner Geburt hatte Kari zwei Wochen Vaterschaftsurlaub genommen, und Leila hatte zu berichten gewußt, daß er die Vaterschaft mit über fünfzig viel intensiver genoß als in den hektischen Jahren, als er an seiner Karriere bastelte. Wenn es etwas Unangenehmes zu erzählen gab, rief Leila immer an, andererseits verdankte Liisa ihr viele nützliche Einblicke in das Leben von Karis neuer Familie. Kalle und Aino mußte sie dagegen jede Information mühsam aus der Nase ziehen. Vor Karis Haus hielt ein Auto, dem ein Weihnachtsmann entstieg. Liisa wunderte sich: Die Rolle hatte doch Kalle spielen sollen! Doch der Weihnachtsmann hielt auf das Nachbarhaus zu, in dessen Garten sie gerade stand. Sie versuchte sich unsichtbar zu machen. Wenn sie es nur wagen könnte, durch das Wohnzimmerfenster zu spähen, ob bei Kari schon Bescherung war. Danach würde der Balg ins Bett gelegt werden. Es gab natürlich ein Babyfon, aber sie würde das Kind erledigen, bevor es einen Mucks tun konnte. Sie war den Plan immer wieder durchgegangen: das Fenster einschlagen, einsteigen, die Tat – in fünf Minuten würde alles vorbei sein. Während Kari und die anderen sich ahnungslos den 214
Bauch vollstopften, kam der Weihnachtsengel und holte das Kind. Liisa tastete nach der Brechstange in ihrem Rucksack. Schwer genug, um das Fenster einzuschlagen. Dummerweise wußte sie nicht, ob das Haus eine Alarmanlage hatte. Aber selbst wenn – die war sicher nicht eingeschaltet, wenn sich die Bewohner im Haus aufhielten. Der Weihnachtsmann blieb nicht lange im Nachbarhaus. Sobald er verschwunden war, ging Liisa zurück in den Vorgarten vor Karis Haus. Sie hätte sich ebenfalls als Weihnachtsmann verkleiden sollen, das wäre eine hervorragende Tarnung gewesen, doch dafür war es jetzt zu spät. Für einen Rückzug auch. Den ganzen dunklen Herbst hindurch hatte sie sich ihre Tat ausgemalt und an ihrem Plan gefeilt. An Weihnachten würde sie zum Racheengel werden. Liisa trat äußerlich gelassen auf die Straße und ging bis zur nächsten Ecke. Sie könnte versuchen, Kalle oder Aino per Handy zu erreichen, um ihnen noch einmal frohe Weihnachten zu wünschen, dabei würde sie vielleicht erfahren, wie weit man dort war. Aber würde man nicht hören, daß sie auf der Straße stand? Der offiziellen Erklärung zufolge saß sie allein zu Hause, hatte das Telefon abgestellt und sah sich ein Video an. Das ersparte es ihr, sich Zeugen oder ein kompliziertes Alibi zu verschaffen. Hatte sie nicht irgendwo gelesen, daß man nachträglich feststellen konnte, von wo ein Anruf per Handy getätigt worden war? Hastig schaltete sie das Gerät aus. Die Eigenheime in Karis Wohngebiet waren hell erleuchtet, die Mietskasernen dahinter ebenfalls. Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Das hatte sie verloren, und daran war Kari schuld, Kari, der sie betrogen hatte. Liisa machte kehrt und ging, sich verstohlen umblickend, zur Garagenwand. Dort wartete sie. Sicher wurde der verdammte Fratz bald zu Bett gebracht. Die Kälte kroch unaufhaltsam unter ihre Kleidung, ihr Atem bildete kleine Wölkchen, als ob sie rauchte. Wenn sie 215
wieder zu Hause war, würde sie drei Schlaftabletten nehmen und sich einreden, sie hätte schlecht geträumt. Offenbar hatte ihre Aufmerksamkeit für einen Moment nachgelassen, denn plötzlich sah sie ein Mädchen im Garten stehen. Die Gestalt zeichnete sich im Gegenlicht nur als schmale Silhouette ab, aber an den langen Haaren und der engen Kleidung war sie als weiblich zu identifizieren, Jungen trugen Schlabberkleidung. Liisa erstarrte, doch die Stimme des Mädchens, das jetzt auf sie zukam, klang freundlich. »Ist dir auch kalt?« flüsterte das Mädchen. »Ich weiß, wie man die Tür hier aufkriegt, drinnen sind mindestens fünfzehn Grad, und es gibt Decken und Matratzen. Ich hab schon ein paarmal hier geschlafen. Guck mal!« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und fuhr mit der Hand unter die Dachrinne der Garage. »Da haben sie den Reserveschlüssel liegen. Die Frau hatte mal ihren Schlüssel vergessen, und ich hab gehört, wie sie ihren Mann angerufen und gefragt hat, wo der Reserveschlüssel ist. Dann hab ich einfach geguckt, wo sie ihn rausgeholt hat. Es ist nicht so leicht, ein warmes Plätzchen zu finden, da muß man jede Chance nutzen. Aber wart mal! Ich will erst noch in die Mülltonne gucken. Die schmeißen oft Reste weg. Aber mit dem Weihnachtsessen sind sie bestimmt noch nicht fertig.« Verblüfft folgte Liisa dem Mädchen zur Mülltonne. Die Kleine schlug geräuschlos den Deckel zurück und schob sich mit dem ganzen Oberkörper in die Tonne. Liisa spürte Übelkeit aufsteigen. In anderer Leute Abfällen wühlen, igitt! »Diesmal ist nichts da.« Das Mädchen richtete sich auf. »Ich bin irgendwann mal auf die Idee gekommen, mich hier zu versorgen, an einem Sonntagabend, als ich gewartet hab, bis ich mich in die Garage trauen konnte. Artsi hatte nämlich wieder gesoffen, da setz ich mich besser ab. Die Frau kam raus, sah ziemlich geladen aus, und der Mann stand an der Tür. Mensch, Janita, hat er gebrüllt, kannst du das Tikka Masala nicht morgen abend essen, wenn ich bei der Besprechung bin? Die Frau ist 216
ausgeflippt, Reste ißt sie nicht, hat sie gekreischt, sie haßt Reste, und ob er vergessen hätte, daß sie nur am Wochenende rotes Fleisch ißt. Ich hatte keine Ahnung, was Tikkadingsbums ist, hat aber echt gut geschmeckt, bloß ziemlich scharf. Es war in so ’ner Tiefkühldose, war fast, als hätt ich vom Teller gegessen.« Während sie erzählte, schloß sie die Garagentür auf und winkte Liisa herein. Liisas Augen hatten sich zwar schon an die Dunkelheit gewöhnt, aber in der Garage war es stockfinster. Vorsichtig tastete sie sich an der Wand entlang. Das Mädchen zog rasch die Tür zu und knipste das Licht an. Da die Stahltür kein Fenster hatte, fiel der Lichtschein nicht nach draußen, das hoffte Liisa jedenfalls. Sie dachte an die Essensreste. Für sie war es immer Ehrensache gewesen, keine Lebensmittel wegzuwerfen, sie hatte es meisterhaft verstanden, aus den Resten vom Vortag neue Gerichte zu zaubern. Kari hatte ihre Sparsamkeit zu schätzen gewußt. Wer das Geld zum Fenster rauswarf, wurde nicht reich, und wenn er noch soviel verdiente. Die Garage war geräumig, sie bot genug Platz für Karis großen Audi und für den kleinen roten Cityflitzer. Auf den Regalen an der Wand lag Werkzeug, die Fahrräder hingen unter der Decke. Es gab auch Wolldecken und Matratzen, die Liisa kannte. Sie stammten aus der Wohnung ihrer Schwiegereltern und hatten früher in ihrer Garage in Marjaniemi gelegen, für den Fall, daß die Kinder eine Pyjamaparty veranstalteten und ein Nachtlager für zehn oder mehr Gäste gerichtet werden mußte. »Da hab ich reingepinkelt.« Das Mädchen zeigte auf den Abfluß. »Das stinkt zwar ein bißchen, aber ich gieß immer Wasser nach. Das gibt’s zum Glück auch.« An der Wand befand sich ein Wasserhahn, wie in vielen Garagen. Liisa konnte sich gut vorstellen, wie Kari hier seinen Wagen wusch und das Blech anschließend hingebungsvoll wachste. Autos waren ihm immer wichtig gewesen. Ein Wunder, daß er den Audi noch nicht gegen ein neueres Modell eingetauscht hatte. 217
Das Mädchen holte eine Matratze und Decken aus dem Regal und legte sie auf den Boden. Erst jetzt konnte Liisa sie genauer ansehen. Sie war noch ein Kind. Der nackte Bauch, der zwischen dem kurzen Hemd und der verschlissenen Jeans hervorblitzte, war flach, und unter dem Hemd wölbte sich auch noch nichts. Die schmutzige Jacke stand offen, der Reißverschluß war kaputt. Handschuhe hatte sie nicht, dafür aber einen dicken Schal, doppelt so lang wie sie selbst. »Bist du auch abgehauen oder hast du kein Zuhause?« fragte das Mädchen und winkte Liisa zu sich auf die Matratze. »Ein bißchen zu essen hab ich, guck hier, das hab ich ’ner Frau aus dem Einkaufswagen gemopst, als sie ihr Auto aufgeschlossen hat.« Sie zog eine kleine Fertigpizza unter der Jacke hervor, einen plastikverschweißten Fladen. Kalle und Aino hatten sich immer geweigert, die labberigen Dinger zu essen. »Willst du die Hälfte abhaben?« »Nein, danke«, erwiderte Liisa und sah fasziniert zu, wie das Mädchen die kalte Pizza direkt aus der Packung aß. Die Portion war im Nu weg, und nach dem hastigen Mahl bekam das Mädchen Schluckauf, den sie zu bekämpfen versuchte, indem sie Wasser aus dem Hahn trank. Wie sie den kleinen Mund durstig unter den Strahl hielt – Liisa fand den Anblick fast zu intim. »Kommt man mit dem Garagenschlüssel auch ins Haus?« fragte sie, als das Mädchen genug getrunken hatte. »Hab ich nie probiert. Zu gefährlich. Wär doch blöd, geschnappt zu werden und einen guten Schlafplatz zu verlieren. Ich heiße übrigens Jenni«, sagte das Mädchen und streckte die Hand aus. An ihren Fingern klebte Ketchup, und die Nägel, von denen der rote Nagellack abblätterte, hatten schwarze Ränder. Liisa zog den rechten Handschuh aus, bevor sie die Hand ergriff. »Liisa«, stellte sie sich ebenfalls vor und merkte im selben Moment, wie unklug das war. Das verflixte Mädchen hatte sie gesehen! Der Rucksack drückte, sie setzte ihn ab. Von 218
dem festen Stoff würden sich wohl keine verräterischen Fasern lösen. Aber ohne Handschuhe durfte sie hier nichts anfassen. Sie zog den rechten wieder an. Mit dem zierlichen Mädchen würde sie schon fertig werden. »Warum bist du an Heiligabend nicht zu Hause?« fragte sie. Jenni zuckte die Achseln. »Geht nicht, Mutsch und Artsi sind am Saufen. Dann verkloppen sie sich entweder gegenseitig, oder sie verdreschen mich. Und wenn der Nachbar die Bullen ruft, komm ich ins Jugendheim, und da will ich nicht hin. Ich will weiter in meine Schule gehen, mit meinen Freundinnen. Reetta hat mich über Weihnachten zu sich eingeladen, sie weiß, was bei uns los ist, aber Mutsch hat’s nicht erlaubt.« Jenni setzte sich auf die zusammengerollte Matratze und versuchte, das Hemd über den Bauch zu ziehen. Liisa beugte sich über den Rucksack und tastete nach dem Inhalt. Das Messer war lang genug, um ganz durch den zarten Oberkörper des Mädchens zu dringen. »War der Weihnachtsmann denn schon da?« versuchte sie das Gespräch weiterzuführen, aber Jenni starrte sie an, als wäre sie nicht bei Trost. »Der Weihnachtsmann? Babykram! Ich bin schon elf. Hast du mal ’ne Zigarette für mich?« Die anfangs so freundliche Stimme war hart geworden, und Liisa merkte, daß das Mädchen sie argwöhnisch musterte. Sah man ihr an, daß sie nicht in Jennis Welt gehörte? Verdammt, die Sache ging schief, Jenni hatte einen wachsamen Blick, sie würde Liisa genau beschreiben können. Eine Stimme riß sie aus ihren Gedanken. Sie schien aus dem Lüftungsschacht zu kommen. Karis Stimme. Liisa hätte sie überall wiedererkannt. »Bitte, Janita, dieses eine Mal könntest du Thomas ins Bett bringen. Ich möchte mich gern mit meinen Kindern unterhalten, so oft sehe ich sie ja nicht.« 219
Liisa trat näher an den Lüftungsschacht, um kein Wort zu verpassen. »Das kommt aus dem Babyzimmer«, wisperte Jenni. »Deine Kinder! Immerhin ist Thomas auch dein Kind!« Die zweite Stimme hatte Liisa bisher nur einmal gehört, als die Frau sich an Karis Telefon gemeldet hatte. Damals hatte die Stimme wie Honig mit einem Spritzer Zitrone geklungen, jetzt klang sie nach Essig. »Klar, aber deins auch. Bring du ihn ins Bett, ich deck inzwischen mit den Großen den Tisch. Bei Liisa muß ich auch rasch anrufen, sie ist heute abend ganz allein.« Bei Karis Worten begann Liisa zu zittern. Jenni merkte es, schwieg aber, denn nun sprach Janita wieder. Diesmal lag Chilipfeffer in ihrer Stimme: »Liisa! Das ist unser Weihnachtsfest, da brauchst du nicht mit deiner Ex zu reden! Sollen die Kinder sie anrufen, die werden dir dann schon erzählen, wie elend sich ihre Mutter fühlt. Als wäre sie die einzige verlassene Frau auf dieser Welt!« Das Baby weinte, und Liisa hörte Karis beschwichtigende Stimme, dann das wütende Pochen von Absätzen. Offenbar verließ Janita den Raum. Eine Weile war alles still, Liisa vernahm nur ein leises Rascheln, wie von Stoff. Dann begann Kari zu singen. Er hatte einen schönen Baß, und das Lied vom wundersamen Tapir, das er anstimmte, hatte er damals auch Kalle und Aino vorgesungen, an den seltenen Abenden, an denen er zur Schlafenszeit der Kinder schon zu Hause gewesen war. Liisa hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. »Heißt du nicht auch Liisa?« fragte Jenni plötzlich. Liisa war zu keiner Antwort fähig. »Spionierst du denen nach?« Im Nu hockte das Mädchen vor ihrem Rucksack und schnallte ihn auf. »Warum hast du das Messer und die Brechstange dabei?«
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»Weil ich mich fürchte, wenn ich im Dunkeln allein unterwegs bin«, sagte Liisa mit bebender Stimme. Kari sang immer noch. »Ja, ich bin die Liisa, von der die beiden gesprochen haben. Ich wollte nur … meine Kinder sehen, an Heiligabend.« Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten, sie flossen so reichlich wie damals, als Kari gegangen war und sie nur noch geweint hatte. Später, als das Haus verkauft wurde, hatte sie keine Tränen mehr gehabt, auch an dem Tag nicht, als Karis Sohn geboren wurde. Liisa weinte lange, während Kari immer weiter sang, das Lied von den Katzenjungen und den Tanz der Pinguine. Erst danach zog sie ein Taschentuch hervor und versuchte, die Fassung wiederzugewinnen. Es war Zeit, Karis Familie sich selbst zu überlassen und nach Hause zu gehen. »Ich gehe jetzt. Wirst du die ganze Nacht hier verbringen?« fragte sie Jenni, die ihren Weinkrampf mit ruhigem Interesse beobachtet hatte, als gäbe es nichts auf dieser Welt, was sie noch in Erstaunen versetzen konnte. »Gegen drei kann ich mich wahrscheinlich nach Hause wagen, bis dahin sind Mutsch und Artsi entweder abgesackt oder in der Ausnüchterungszelle«, meinte Jenni. Liisa holte tief Luft, nahm allen Mut zusammen und sagte: »Komm mit zu mir. Wir nehmen ein Taxi.« Jenni starrte sie an, als wäre sie die böse Hexe aus dem Knusperhaus. »Ich weiß nicht …« »Ich bin nicht verrückt, ehrlich, ich tu dir nichts. Ich bin bloß einsam. Bei mir ist der ganze Schrank voll mit Weihnachtsgerichten und Wein … Nein, der ist noch nichts für dich. Aber wir können unterwegs Cola kaufen, irgendein Kiosk wird wohl noch aufhaben. Du kannst in einem richtigen Bett schlafen, ich hab ein Gästezimmer. Bitte, komm doch. Ich würde mich sehr freuen.« Liisa versuchte zu lächeln, brachte aber nur eine Grimasse zustande.
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Sie brauchten kaum fünfzehn Minuten auf das Taxi zu warten, und eine halbe Stunde später saßen sie bereits am Tisch und machten sich über die Vorspeisen her, die Liisa vor dem Aufbruch zubereitet hatte. Die Putensteaks und das Wurzelgemüse standen im Ofen. Liisa hatte das Taxi an einem Kiosk halten lassen, wo sie eine Literflasche Limonade – das Mädchen mochte Sprite am liebsten – und eine Riesenschachtel Pralinen als Weihnachtsgeschenk für Jenni gekauft hatte. Liisa hatte die Kerzen angezündet, einen Weihnachtsbaum hatte sie nicht. Sie überlegte eine Weile, dann holte sie den Weihnachtsengel aus dem Schrank und hängte ihn ins Fenster, bevor sie den Nachtisch servierte. Jenni hatte noch nie Preiselbeer-Lebkuchen-Parfait gegessen, aber es schmeckte ihr. Sie unterhielten sich ein wenig. Jennis Lieblingsfach war Mathematik. Liisa erzählte von ihrer Arbeit als Finanzchefin eines Versandhauses, obwohl es darüber nicht viel zu sagen gab. Erst nach dem Essen dachte sie daran, das Handy einzuschalten. Sie hatte mehrere Kurzmitteilungen erhalten, von den Kindern, aber auch von Kari, der sich erkundigte, ob er Liisa am zweiten Feiertag besuchen dürfe und ob sie nicht Frieden schließen könnten. Liisa schickte ihm eine SMS, er sei am zweiten Feiertag um drei Uhr zu einem Glas Glühwein willkommen. Jenni saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Sofa, blätterte in einer Illustrierten und naschte von ihren Pralinen. Liisa deckte den Tisch ab und brachte das Geschirr in die Küche. Als sie zurückkam, war das Mädchen weg. Die verdammte kleine Kröte! Liisa griff in ihren Rucksack. Die Geldbörse war noch da. War sonst etwas verschwunden? Die silberne Vase, der CD-Player, das Videogerät … Im selben Moment hörte sie das Rauschen der Wasserspülung und schämte sich.
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»Du hast ja sogar ’ne Badewanne … Darf ich? Nur ganz kurz? Ich hab noch nie in der Badewanne Schokolade gegessen«, bat Jenni, und Liisa nickte. So spät war es ja noch nicht. Während Jenni badete, spülte Liisa das gute Geschirr, das sie nicht in die Spülmaschine stecken wollte, und hörte dabei Radio. Soile Isokoski sang ein Weihnachtslied: Die Häuser schlafen schneebedeckt. Bei der Zeile »wo der Weihnachtsengel geht, wird aller Kummer fortgeweht« sang Liisa mit. In ihrer Stimme lag ein Lächeln.
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LEVI HENRIKSEN Nur weiche Päckchen unterm Baum Die Kinder und ich bekommen zu Weihnachten, was wir uns wünschen. Tone bekommt, was sie verdient. Es ist kein besonders gutes Jahr gewesen. Moment, laß mich noch mal anfangen. Es ist ein Scheißjahr gewesen. Dreiunddreißig ist für einen Mann noch nie ein gutes Alter gewesen. Jesus nagelten sie an ein Kreuz, ich selbst bin nach Hause gekommen, nur um zu entdecken, daß Tone das Schloß an der Haustür ausgewechselt hatte und nicht daran dachte, mir einen neuen Schlüssel zu geben. Okay, es war ihr Haus. Von ihren Eltern geerbt und so weiter. Und vielleicht hatten wir ja auch nie zusammengelebt, wir hatten nur dasselbe Haus geteilt. Vielleicht bin ich selbst schuld daran, weil ich sie nie zum Traualtar geschleppt habe, womit sie mir anfangs immer in den Ohren gelegen hat. Aber trotzdem, all meine Platten und Bücher waren noch immer da drin, und nicht zuletzt die Kinder: Thorbjørn und Turid. Sechs und vier. Anfangs sagte Tone, es sei, weil ich viel zuviel weg sei, weil ich die Kleinen zuwenig sähe. Verflucht noch mal, wie selektiv die Frauen sein können, wenn es darum geht, woran sie sich erinnern wollen. Okay, ich war viel auf Achse – an den Wochenenden. Klapperte das Østland ab und spielte vor mehr Menschen mit Filzhüten und in Flanellhemden, als ich es im Grunde genommen selbst wahrhaben wollte. Aber ich bezahlte die Miete und die Raten fürs Auto. Außerdem hatte ich im großen und ganzen die Woche über frei. Bis Thorbjørn in die Schule kam, brauchte er mittwochs nicht in den Kindergarten zu gehen, und Turid hatte nur einen Halbtagsplatz. Am ersten Abend in meinem angemieteten Zimmer blieb ich stehen und betrachtete mich im Spiegel. Ich dachte, vielleicht 224
hat Tone doch recht. Vielleicht war doch nicht viel Staat mit mir zu machen. Boots und Jeans waren meine Art, mich in Schale zu schmeißen. Das Beeindruckendste an meinem Lebenslauf war eine Single, die es nicht einmal in die norwegischen Charts geschafft hatte. Ich spielte mit dem Gedanken, mir einen Job als Musiklehrer zu suchen, feste Arbeitstage und einmal im Monat das Gehalt aufs Konto. Aber das ist so eine Sache: Wenn Frauen anfangen, davon zu reden, daß du dich verändern müßtest, ist es schon zu spät. Niemand ist dir fremder als eine Frau, mit der du das Bett geteilt hast und die sich für einen neuen Mann interessant macht. Genau dieser Gedanke kam mir plötzlich, nachdem ich zu Hause angerufen hatte – oder bei Tone – vor einem Job in Trøgstad. »Ich hab einen neuen Mann kennengelernt, Lars Roar mit H«, sagte Tone. »Hä?« »Lars Roar mit H. Roar schreibt sich mit H: H-r-o-a-r«, buchstabierte Tone. »Mit H?« fragte ich. »Er ist neu im Betrieb. Es hat einfach peng gemacht. Ich könnte ihn auf der Stelle heiraten«, sagte Tone, und dann folgte eine Menge Gequatsche, das sie sich für ihre Freundinnen hätte aufsparen können. Ich hatte nicht vor, Tones Freundin zu werden und vertraulich über Lars Roar mit H zu reden, und das sagte ich ihr. Genau da kam das Ganze richtig in Schwung. Plötzlich wurde ich ein gefährlicher Mann. Tone fühlte sich bedroht. Eigentlich komisch, denn ich saß nur einmal stundenlang bei der Polizei, während die Russen einen nach dem anderen von meiner Familie umbrachten: Vater, Mutter und meine kleine Schwester. »Was würden Sie tun«, fragte der Polizist, »wenn einer versuchte, Ihren Vater umzubringen, und Sie hätten ein Gewehr?« 225
»Nichts«, sagte ich. »Ich glaub nicht, daß ich von einer Waffe oder von Gewalt Gebrauch machen würde.« »Und wenn einer Ihre Mutter vergewaltigen würde und anschließend Ihre Schwester dran wäre?« »Nichts. Ich würde nichts machen!« Das hab ich gesagt. Natürlich wußte der Polizist ebensogut wie ich, daß das gelogen war. Ich wurde aber trotzdem als Pazifist eingestuft und kam ums Militär herum. In all den Jahren danach kann ich mit gutem Gewissen sagen, daß ich nie etwas von dem, was ich damals beim Verhör behauptet habe, zurückgenommen habe, vor allem aber deswegen, weil das ganz leicht gewesen war, solange die Russen auf der richtigen Seite von Pasvikdalen blieben. Als ich kam, um meine Sachen zu holen, waren die Kinder bei der Schwiegermutter, und Tone führte sich auf, als ob ich abgehauen sei. Möglich, daß ich irgendwas nicht kapiert hatte, daß es in diesen Dingen eine Art Psychologie gibt, die ich nicht ganz mitbekommen hatte. Eine Art Verleugnungsmechanismus. Ihr fiel es jedenfalls leichter, von all den Abenden zu reden, an denen ich »Guitar Town« gesungen hatte, als darauf zu antworten, was der neue Rasierapparat im Bad zu suchen hatte. Das schlimmste war, daß in der Küche ein Käfig mit einem verdammten Wellensittich stand. Ich fragte, ob er den Kindern gehöre. Sie sagte, sie kümmere sich um ihn, während Lars Roar mit H ein Seminar besuche. Ich zeigte meine Abscheu etwas zu offensichtlich. Ich tat nichts, um zu verbergen, was ich von einem Kerl hielt, der Vögel im Käfig mochte. In dem Moment kappte Tone alles, was zwischen uns gewesen war, und ließ ihren Worten freien Lauf. Und es endete damit, daß ich sie bei den Schultern packte und schüttelte, nur um den Wortstrom zu stoppen, um nicht mit anhören zu müssen, wie sie ihr schlechtes Gewissen erleichterte, um nicht mit ansehen zu müssen, wie die Mutter meiner Kinder mit verzerrtem und kantigem Gesicht 226
redete. Vielleicht hätte ich zuschlagen sollen. Ja, ich bereue fast, daß ich es nicht getan habe. Es wäre sowieso auf das gleiche hinausgelaufen. Jetzt hab ich Thorbørn und Turid seit sieben Wochen nicht gesehen. Und heute ist Heiligabend. Tone hat gesagt, ich könne die Geschenke für die Kleinen vielleicht irgendwann in der Woche nach Weihnachten abliefern. Sie werde mich wegen der Details noch anrufen. Meine Rhythmusgruppe und ich haben bei den Pfingstlern gespielt, um auf Weihnachten einzustimmen. Ich habe die ganze Zeit an die Kinder gedacht. An Turids Hand, die sich wie eine Mutter um meinen Zeigefinger schraubte, wenn wir spazierengingen. An Thorbørn, der immer zu mir ins Bett kam, wenn er Angstträume hatte. Der Gemeindevorsteher Tordenskiold, den alle Donnergroll nennen, kommt hinterher zu mir. Er hat gehört, daß es nicht zum besten steht. Möchte wissen, wo ich Weihnachten feiern werde. »Gemeinsam mit den Kindern«, antworte ich. »Wie schön«, sagt Donnergroll. »Vielleicht wendet es sich zum Besseren.« »Ja«, sage ich. »Alles wird jetzt gut.« Draußen bleibe ich stehen und rauche eine Zigarette mit dem Bassisten und dem Trommler. Neben uns steht die Weihnachtskrippe. Donnergroll und die jungen Leute haben sich in diesem Jahr selbst übertroffen. Die Figuren haben fast Lebensgröße und sehen sehr echt aus. Die Jungs, mit denen ich spiele, sind in Ordnung. Wir halten seit über zehn Jahren zusammen. Für sie ist es ein Hobby. Der Bassist arbeitet in einer Apotheke, der Trommler ist Journalist bei der Lokalzeitung. Er hat auch herausgefunden, daß Tone, die Kinder und Lars Roar mit H heute abend auf Skogli sein 227
werden. Wir wünschen uns gegenseitig schöne Weihnachten, und der Bassist steckt mir das Päckchen zu, um das ich gebeten habe. Den ganzen Tag hat es auf Skogli heftig geschneit, und in der Dämmerung sehen die Häuser am Weg wie spitze, innen beleuchtete Schneepyramiden aus. In den meisten Gärten ist alles beleuchtet, von Fichten und Kiefern bis zu Rosenhecken und Geräteschuppen. Wind und Schneetreiben lassen die Lichterketten blinken, und ich habe das Gefühl, als würde ich dahintreiben, als stünde ich auf einem Schiffsdeck und sähe zum Land hinüber. Dann finden meine Scheinwerfer wieder die Reflexstreifen an den Leitpfosten, und ich blinke mich hinauf zu unserem Haus. Tones Haus. Ich parke an der abfallenden Seite der Scheune. Ich weiß, daß ich alles auf eine Karte setze. Schließe wieder die Augen und spreche ein kleines Gebet, während ich die Tür zum alten Schweinestall aufschiebe. Same procedure as last year, Miss Sophie? Same procedure as every year, James! Lieber, lieber Gott, blick herab auf mich kleines Menschenkind. Ich öffne die Augen. Das Weihnachtsmannkostüm und die Maske hängen an der Wand. Hinten bei der Mistluke kann ich undeutlich den Sack mit den Geschenken erkennen. Ich schalte die Taschenlampe an und stelle sie auf den schmalsten Lichtstrahl ein. Finde die Pakete von Lars Hroar für Turid und Thorbørn. Ich werfe sie zur Luke hinaus, stecke meine in den Sack, ziehe das Weihnachtsmannkostüm an und setze die Maske auf, wie ich es die letzten fünf Jahre getan habe. Ich fingere die kleine braune Flasche aus dem Päckchen, das ich in der Pfingstkirche bekommen habe, ziehe den Lappen aus der Tasche und probiere, ob sich der Korken herausziehen läßt. Dann heißt es nur noch warten. Ich denke an den Tag, als wir das Weihnachtsmannkostüm drüben in Schweden im Spargrisen von Charlottenberg kauften. Wir hatten drei Tragetaschen voll Fleisch und so viel Wein und 228
Bier über die erlaubte Menge hinaus dabei, daß wir uns auf Schleichwegen aus der EU herausstahlen. Es war Thorbørns zweites Weihnachtsfest, und als wir nach Hause kamen – ich glaube, es war am Tag vor Heiligabend –, wollte ich nur das Kostüm anprobieren. Tone war gerade mit dem Stillen fertig und hatte Thorbørn in die Wiege gelegt, als ich wie ein Mannequin in die Stube stolziert kam. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wie es passiert ist oder wer den ersten Schritt machte, aber plötzlich hatte sie mich aus der roten weiten Hose geschält, und wir waren auf dem Fußboden vor dem ungeschmückten Baum zugange. Wenn ich jemals etwas wie experimentierfreudigen Sex erlebt habe, dann da. Einen Augenblick hatte ich das furchtbare Gefühl, hinter der Weihnachtsmannmaske zu ersticken, dann glitt Tone auf eine Art und Weise unter mich, wie sie es nie zuvor getan hatte, und alles war nur noch Bewegung. Hinterher waren wir beide verlegen, aber am nächsten Tag lachten wir, als wir versuchten, der Maske einen neuen Bart anzukleben. Seit dem Abend erinnert der, der mit den Geschenken zu uns nach Hause kommt, eher an einen ziegenbärtigen Bassisten in einer Grungeband als an den Mann vom Nordpol. Die Außentür klappt, ich schraube den Korken von der Flasche, kippe einen Schwung auf den Lappen und bin bereit. Habe zu Hause geübt. Weiß genau, was ich tun muß. Ich nehme den Lappen in die linke Hand, damit ich mit der rechten festhalten kann. Ich brauchte eine Weile, bis ich mir das ausgedacht hatte, aber im Grunde ist es sehr logisch. Ich bin Rechtshänder und habe die meiste Kraft im rechten Arm. Das einzige, was ich nicht völlig unter Kontrolle habe, ist die Größe von Lars Roar mit H. Wenn er viel größer oder kleiner als ich sein sollte, könnte es schwierig werden, ihn zu packen. Er ist fast genauso groß wie ich. Ich packe ihn, als er das Licht anmachen will. Er zappelt, schafft es, den Kopf zu drehen, aber als er sieht, wer ihn überfällt, scheint er aufzugeben. Lars Roar 229
mit H ist wie eine Forelle. Eine Forelle ergibt sich, wenn du sie aus dem Wasser gezogen hast. Ein Flußbarsch zappelt immer weiter, bis ihm das Genick gebrochen wird. Flußbarsche waren mir immer am liebsten. Forellen werden überbewertet. Nachdem er ganz ruhig geworden ist, bette ich ihn auf den Heuballen, die noch immer hier liegen, in stabile Seitenlage. Breite die alten Schlafsäcke über ihn, die Thorbørn und ich benutzt haben, als wir im Frühling hier übernachteten. Einen Augenblick bleibe ich stehen, die Hände um seinen Hals gelegt. Zähle langsam bis zehn, während ich überlege, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn ich zudrückte. Ich ziehe die Maske leicht vom Gesicht, warte, bis das Herz wieder normal schlägt, nehme dann den Sack auf und öffne die Tür. Draußen hat es aufgehört zu schneien. Mir fällt eine Zeile aus einem schwedischen Lied ein. »Nun löscht Gott das Licht, nun entzünden wir es. Die Gefangenschaft ist vorbei, die Freiheit beginnt.« Es ist umgekehrt, denke ich. »Nun löschen wir das Licht, nun entzündet Gott es«, aber das andere paßt gut. Schon bin ich über den Hofplatz, die Treppe hinauf und zur Tür hinein. »Ho ho ho, gibt es hier artige Kinder?« frage ich brummend. Der Duft von fetten Rippchen und Sauerkohl dringt durch die Weihnachtsmannmaske und erinnert mich daran, daß ich seit Mittag nichts gegessen habe. Ein Gefühl, als ob der Magen mit einem Löffel ausgehöhlt worden wäre. Thorbørn kommt mit einem jubelnden »Ja!« angelaufen und umklammert mein Bein, als wollte er mich überwältigen. Turid ist zurückhaltender, bleibt in der Türöffnung zum Wohnzimmer stehen und kaut auf einem Zopf. Ich knie mich hin und hole eines der Pakete hervor, das ich für sie gekauft habe. Vielleicht ist es das Muminhaus. »Bist du Turid?« frage ich und muß husten, bin es nicht gewohnt, in einer so tiefen Stimmlage zu sprechen. Sie nickt. 230
»Meine Helfer haben mir gesagt, daß du in diesem Jahr sehr artig gewesen bist«, sage ich, und sie kommt näher und drückt mich genau in dem Augenblick, als Tone den Kopf aus dem Zimmer steckt und fotografiert. »Hallo, Weihnachtsmann!« sagt sie. »Es sieht so aus, als ob du heute schon weit gegangen wärst. Willst du nicht in die Stube kommen und dich ein bißchen ausruhen?« »Ja, gerne«, sage ich, und mir kommen die Tränen, als Turid mich bei der Hand nimmt. Thorbørn schiebt hinten am Sack, und wie ein dreiköpfiger Troll schieben wir uns ins Haus hinein. Der Weihnachtsbaum steht zwischen den Fenstern statt in der Ecke, und Mamas Adventsstern, der sonst im Fenster hing, ist gegen einen elektrischen Kerzenständer ausgetauscht worden. Sonst sieht es genauso aus wie letztes Mal, als ich hier Weihnachten feierte. Tone ist ein wenig verdutzt, als Turid das Muminhaus auspackt, und ich beeile mich, meiner Tochter eines von Tones Päckchen zu geben. Ein weiches. Sicher etwas Vernünftiges. Thorbørn hat das Papier von einem Buch über Davy Crockett gerissen, und ich achte darauf, daß er auch etwas von seiner Mama bekommt. Viele sagen, Thorbørn sei eine genaue Kopie von mir aus der Zeit, als ich zur Schule kam. Auf so was habe ich früher nie recht geachtet, aber jetzt sehe ich deutlich, daß er dieselbe Haarfarbe hat und diesen Wirbel auf der Stirn, der die Haare zu Berge stehen läßt wie ein Horn. Doch warum ich mich in den Schenkel kneifen muß, um nicht laut zu flennen: ich weiß nicht, ob ich dies noch einmal erleben werde. Und als Turid so weit aufgetaut ist, daß sie näher kommt und sich auf meinen Schoß setzt, wünsche ich mir, daß Gott mein Licht ausblasen möge. Hier, heute abend. Jetzt. Daß er mich einfach heimholen könnte. Daß er meiner Seele Flügel verleihen könnte und mich davon schweben lassen wie ein Bethlehem-Engel, hinauf zu Mama, Großvater, Johnny Cash und all den andern, die vor mir die goldene Leiter hochgestiegen 231
sind. Aber Gott verleiht meiner Seele keine Flügel. Nicht jetzt. Turid springt von meinem Schoß, und als ich vom Stuhl aufstehe, bleibt ihre Wärme auf meinem Schenkel, als wäre ich eine Wand und sie die Sonne. Ich weiß: An diesen Augenblick werde ich mich mein ganzes Leben lang erinnern. Ich werde ihn mit in meinen Kiefernsarg nehmen. Was auch immer geschieht, ich habe es geschafft, mir meine Kinder am Heiligabend für ein paar Minuten zurückzustehlen. Der Vater zu sein, der ich immer gewesen bin. Es gibt etwas auf das Holzkreuz zu schreiben, unter dem ich einst liegen werde: »Er gab alles für seine Kinder.« Ich gehe in die Küche. Tone rührt die Reiscreme. Ich umarme sie von hinten, freue mich, daß der Wulst um ihre Taille gewachsen ist, und als ich ihre Brüste liebkose, könnte ich schwören, daß sie nicht die Spur herunterhängen. Sie dreht sich um, die Zunge wie ein rohes Stück Fleisch zwischen den Zähnen, als sie die Hand in meine Weihnachtsmannhose steckt. »Später, Weihnachtsmann«, sagt sie, und ich nicke nur. Fühle nichts. Es könnte genausogut ein Arzt sein, der meine Pobacken umfaßt hält. »Der Weihnachtsmann muß auf die Toilette«, sage ich, und Tone lächelt. Ich mache, daß ich schnell nach oben komme. Greife mir den Käfig mit dem Wellensittich, der auf einem Tisch am Fuß der Treppe steht. Öffne den Käfig und bekomme den Vogel zu fassen. Im Bad finde ich in der Hausapotheke eine Rolle mit Klebeband, und langsam und sorgfältig klebe ich die Flügel am Körper fest. Was nicht leicht ist. Der Wellensittich zappelt und hackt mich mehrmals in die Finger, aber schließlich ist er ordentlich mit Klebeband umwickelt. Ich öffne den Deckel und werfe den Vogel ins Klo. Der Wellensittich versucht, herauszuklettern, findet aber an dem glatten Porzellan keinen Halt, bleibt liegen und schwimmt mit den Beinen nach oben. Ich ziehe die 232
Spülung. Die Vogelaugen sehen aus wie große ungemahlene Pfefferkörner, ehe sie verschwinden. Im Wohnzimmer drücke ich die Kinder länger an mich, als ich dürfte. Tone kommt aus der Küche, ich brumme, daß ich weiter müsse, und bin zur Tür hinaus – wieder aus ihrem Leben. Im Schweinestall lade ich mir Lars Roar mit H auf die Schulter und lege das Bündel auf den Rücksitz des Chevys. Eigentlich hatte ich vor, ihm vorher das Weihnachtsmannkostüm anzuziehen, will aber nicht riskieren, daß Tone rauskommt. Ich entwische bergab in Richtung Skogli-Zentrum. Halte im Dunkeln hinter der stillgelegten Skifabrik an. Ziehe Lars Roar mit H mühsam das Kostüm über und bekomme plötzlich Stiche vor lauter Panik, weil ich befürchte, er sei tot. Dann spüre ich, daß der Puls gleichmäßig schlägt. Er schläft nur. Er wird bis weit nach dem Frühstück am ersten Feiertag schlafen. Vor der Pfingstkirche halte ich an und ziehe ihn aus dem Auto. Hin zur Krippe. Muß Josef und den einen Esel leicht zur Seite schieben, bevor ich ihn hingesetzt bekomme, den rechten Arm um das Jesuskind gelegt. Zum letzten Mal vergewissere ich mich, daß er keine Papiere bei sich hat, dann gieße ich ihm ein bißchen Wodka in den Mund, passe aber auf, daß alles wieder rausläuft, damit er nicht erstickt. Ich begieße das Weihnachtsmannkostüm gehörig, gehe über den Hofplatz und setze mich in den Chevy. Schiebe eine CD ein. »Hey pretty baby, are you ready for me, it’s your good rockin’ daddy down from Tennessee.« Wähle die Nummer der Polizei und drehe die Lautstärke runter, als ich durchkomme. »Vor der Pfingstkirche in Skogli liegt ein besoffener Mann und schläft in der Weihnachtskrippe. Ich glaube, ihm muß der Magen ausgepumpt werden«, sage ich. Dann lege ich auf und trete das Gaspedal durch, und ab in Richtung Schweden. Über mir hängen die blinkenden Lichtkreuze der Flugzeuge im Luftkorridor von Gardermoen. Ich denke mir, daß ich froh bin, nicht einer der Heiligen Drei Könige zu sein. Daß es heute so 233
viele Lichter gibt. Daß es so viele Arten gibt, in die Irre zu gehen.
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JUSSI SIIRILÄ Meister Montag. Ich hörte schon um Viertel nach drei auf zu arbeiten, kam aber wegen Straßenbauarbeiten erst um zehn vor vier an der Halle an. Ich zog mich so schnell wie möglich aus und schmiß alle Sachen auf einen Haufen in den Schrank. Dann noch kurz unter die Dusche, ein paar Sekunden in die Sauna, die Badehose an und ab ins Becken. Gutes Timing, das Training ging gerade los. Die Jungs und Mädchen saßen noch unentschlossen und verfroren mit ihren Handtüchern auf den Bänken rum, doch der schwabbelige Trainer kommandierte sie kurz darauf ins Wasser. Der schwabbelige Trainer hatte immer dasselbe gelbe Hemd und blaue Plastiksandalen an. Für das Wettkampftraining waren an diesem Tag die Bahnen drei und vier reserviert; ich selbst ging auf die Zwei, auch wenn dort drei Rentner herumplanschten. Hauptsache, man schwamm auf einer benachbarten Bahn, ansonsten ließ sich die Geschwindigkeit schlecht vergleichen. Das Training begann mit vierhundert Metern Einschwimmen. Glücklicherweise hatte der schwabbelige Trainer eine durchdringende Stimme, seine Anweisungen waren auch unter Wasser gut zu hören. Beim Tempo der Wettkampfschwimmer mitzuhalten war für mich kein Problem. Ich schwamm fast die ganze Strecke neben einem kleinen dünnen Jungen her, ganz dicht an seiner Bahn – was ihn zu stören schien. Er legte etwas an Tempo zu, doch ich blieb mühelos auf gleicher Höhe. Ich überholte ihn sogar, verlangsamte dann aber wieder, um meine Kräfte nicht unnötig zu verpulvern. Nach dem Einschwimmen hieß es zehnmal hundert Meter mittelschnelle Lagen. Ich hielt locker mit, obwohl ich beim Rückenschwimmen ein paarmal mit einer Oma zusammenstieß, die hartnäckig auf der Zwei geblieben war. 235
Normalerweise wechseln die Freizeitschwimmer sofort die Bahn, wenn sie mein Tempo bemerken. Auf den letzten zweihundert Metern waren meine Muskeln ziemlich übersäuert. Trotzdem ließ ich mich von dem Mädchen auf der Nebenbahn nicht abhängen. Nach den Lagen kamen Sprints mit jeweils zehn Sekunden Pause dazwischen. Wieder schwamm ich neben dem dünnen Jungen. Er versuchte bei jedem Sprint aufs neue, mich abzuhängen, doch ich blieb hartnäckig an ihm dran. Nach der letzten schnellen Bahn standen wir am flachen Beckenende nebeneinander, und er schaute wütend zu mir herüber. Ich sah derart herausfordernd zurück, daß er seinen Blick abwandte. Einen kurzen Moment lang ließ sich ein Ausdruck von Erniedrigung in seinem Gesicht erahnen. Garantiert war der Junge irritiert über meine Geschwindigkeit, was er jedoch halbwegs zu verbergen wußte. Nach den Sprints bekam jeder Schwimmer ein Brett, um den Beinschlag zu trainieren. Ich konnte schlecht ein Brett vom Schwimmverein nehmen, obwohl mir diese Möglichkeit kurz durch den Kopf ging. Also streckte ich die Arme gerade durchgedrückt nach vorn und begann mit dem Beinschlag. Ich ließ mich nicht überholen, obwohl ich den Jugendschwimmern natürlich einen klaren Vorteil ließ, so ohne Brett. Nach den Beinübungen kamen nur noch ein paar Bahnen Ausschwimmen; locker und spielerisch zog ich durchs Wasser. Dann stieg ich aus dem Becken und ging in die Sauna. In meinem Rücken konnte ich deutlich die Blicke spüren. Instinktiv korrigierte ich meine Haltung und zog den Bauch ein. Lange schon hatte ich mich nicht mehr so gut und stark gefühlt. Dienstag. Ich konnte erst um fünf zur Halle. Unterwegs war ich dermaßen nervös, daß ich meinem Vordermann fast hinten reingefahren wäre. Anne hatte mich mitten am Tag im Büro angerufen und gesagt, daß sie die Mädchen nicht vom Kindergarten abholen könne, weil irgendein Bypass-Patient gleich zum zweiten Mal in den OP müsse. Ich gab ihr deutlich zu verstehen, 236
daß ich über diesen Umstand in keiner Weise erfreut war. Um kurz vor vier holte ich die Mädchen ab und fuhr schnell nach Hause. Ich servierte ihnen eine kleine Zwischenmahlzeit – Brot und Joghurt – und zog ihnen gleich wieder Jacken und Schuhe an. Dann setzte ich die Mädchen hinten ins Auto und fuhr zur Halle, wo ich sie ins Café brachte und ihnen Eis und Limo kaufte. Das Café hatte eine Glaswand; es war also kein Problem, die Kinder beim Schwimmen im Auge zu behalten. Das Training war schon zur Hälfte um, als ich endlich am Becken war. Mit einem Kopfsprung tauchte ich auf der Nebenbahn ins Wasser und paßte mein Tempo den Jugendlichen an. Es waren gerade die Sprints dran. Anfangs kam ich bestens mit, und das ohne Einschwimmen. Dann aber kriegte ich einen heftigen Krampf in der linken Wade; eindeutig, weil ich unaufgewärmt ins Wasser gesprungen war. Dennoch schwamm ich die Bahn zu Ende, ohne an Geschwindigkeit zu verlieren – obwohl mein linkes Bein schlaff im Wasser herumhing. Der Schmerz war so extrem, daß ich bunte Punkte sah. Als ich im Ziel ankam, massierte ich meine Wade mit beiden Händen. Der Krampf löste sich schnell, und bei der nächsten Bahn konnte ich mich den Wettkampfschwimmern wieder anschließen: fünfmal zweihundert Meter Lagen. Neben mir schwamm ein Mädchen. Ich hätte sie gut überholen können, hatte aber Angst, daß der Wadenkrampf wieder losgehen würde. Also begnügte ich mich damit, an der Seite des Mädchens locker meine Bahnen zu ziehen. Beim Brustschwimmen wendete das Mädchen wie alle anderen mit einer neuen Technik, bei der man nach dem Abstoßen in der Gleitphase unter Wasser sein durfte. Ich selbst machte die Wende im alten Stil: Der Scheitel mußte immer über Wasser bleiben. Die neue Technik hat etwas Abgehacktes, sieht überhaupt nicht so flüssig und elegant aus wie die alte. Zu der Zeit, als ich noch die Kreismeisterschaften gewonnen habe, hätte man Schwimmer mit heutigem Schwimmstil disqualifiziert, wegen Tauchens. In der Pause zwischen der vierten und fünften Runde 237
schaute ich kurz zu dem Mädchen auf der Drei; sie wässerte ihre Schwimmbrille. Meiner Meinung nach sah das Mädchen gedemütigt und niedergeschlagen aus. Für einen jungen Menschen ist es mit Sicherheit ein unerträglicher Gedanke, daß ein Freizeitschwimmer mit ihm mithalten kann und sogar noch in der Lage ist, sich tempomäßig von ihm abzusetzen, wenn’s drauf ankommt. Auch den Trainern mag das zu denken gegeben haben. Nach den Lagen wurden die Handpaddles und Pullboys rausgeholt. Ich hatte nichts dergleichen dabei, schwamm also ohne Beinschlag neben den anderen her und beschränkte mich auf kräftige Armzüge. Ein paarmal kriegte ich von den Paddles ordentlich einen auf den Kopf und die Arme, dennoch blieb ich unbeirrt direkt neben der Bahn. Schließlich warfen die Schwimmer die Paddles an den Beckenrand und gingen den Anweisungen des Trainers gemäß zum Ausschwimmen über. Überrascht zog ich neben ihnen her. Gerade eben erst war ich warm geworden; für meinen Geschmack brach das Training viel zu früh ab. Als die Jugendlichen weggegangen waren, blieb ich noch eine Weile im Wasser. Träge und ein wenig ziellos schwamm ich weitere zweihundert Meter. Irgendwie fühlte ich mich leer. In meiner Brust drückte es seltsam, und ich merkte, daß ich kurz davor war, zu weinen. Ich stieg aus dem Becken, winkte den Mädchen durch die Glasscheibe zu und ging duschen. Donnerstag. Gestern habe ich es nicht zur Halle geschafft. Als ich endlich mit der Arbeit Schluß machen konnte, war es schon zu spät für die Trainingsgruppen. Die Projektplanung hinkte eine Woche hinterher, und so blieb mir nichts anderes übrig, als mit den anderen im Büro zu bleiben und zu programmieren. Heute habe ich trotzdem zugesehen, daß ich rechtzeitig wegkam – endlich mal ohne Eile in die Sauna und unter die Dusche. Als ich zum Becken kam, waren die Bahnen der Wettkampfschwimmer noch frei; die Jugendlichen saßen auf der Bank und 238
warteten auf den Trainer. Ich fühlte mich enorm selbstsicher. Die Schwimmer sahen schwächlich und blaß aus, wie sie da mit krummen Schultern unter ihren Handtüchern hockten. Als ich an ihnen vorbeiging, hörte ich, wie ein Junge zu dem Mädchen neben sich eine Bemerkung über mich machte. Ich verstand nichts Genaues, fühlte aber, wie die Blicke der Schwimmer sich an meinen Rücken hefteten. Ich stieg auf den Startblock und legte einen astreinen Kopfsprung hin. Erst in der Mitte des Beckens durchbrach ich wieder die Wasseroberfläche und schwamm die nächsten anderthalb Bahnen in einem kraftvollen Delphin. Ich fühlte mich noch leichter als sonst; wie von allein glitt ich durchs Wasser. Ich fing an zu pfeifen und schaffte sogar eine weitere Runde, ehe die widerwilligen Jungen und Mädchen an die Nebenbahn kommandiert wurden. Ich schwamm die fünfhundert Meter Aufwärmtraining parallel zu den Jugendlichen und konzentrierte mich dabei auf die Technik meiner Armzüge und Beinschläge. Auch die Wenden vollführte ich so einwandfrei wie möglich. Als die Sprints mit den zehn Sekunden Pause begannen, war ich bereit für eine kleine Provokation. Ich wählte mir einen langen, schmächtigen Jungen zum Opfer und nahm den ersten Sprint an seiner Seite. Anfangs schwamm ich noch exakt auf gleicher Höhe, doch dann legte ich einen Zahn zu. Mit jedem Zug fiel der Junge weiter hinter mich zurück. Beim nächsten Sprint wiederholte ich die Taktik; mein Plan ging mühelos auf. Das Wasser schäumte nur so, in meinen Ohren rauschte es. Als ich ins Ziel kam, bemerkte ich, wie der schwabbelige Trainer sich über mich beugte. Ich stand am Beckenrand und sah zu, wie sein schlaffer Mund sich bewegte. In meinen Ohren war Wasser, ich verstand keinen Ton; im meinem Kopf rieselte und pochte es. Träge, wie in Zeitlupe, verstrichen zehn Sekunden. Ich lächelte den Trainer die ganze Zeit freundlich an, denn mir war klar, daß er meine Geschwindigkeit und meinen Stil würdigte. Dann war die Pause um, und ich startete an der Seite des Jungen in die nächste Bahn. 239
OLA KLINGBERG Die spanische Tragödie plus Das Interessante an der Rache ist nicht, wie sie geübt wird, und auch nicht, welche Ungerechtigkeiten und Demütigungen sie veranlaßt haben, sondern wie sie die Gedanken und Gefühle eines Menschen beeinflußt und wie sie Seele und Körper durchdringt, bis alle Emotionen mit Ausnahme der Rachegelüste zum Schweigen gebracht worden sind. Rache ist nicht süß, soviel ist sicher. Im Gegenteil, sie ist bitter. Und trotzdem will man sie auskosten, weil sie das einzige ist, was man noch genießen kann. Aber solche Gedanken stellen sich erst anschließend ein. Ich hegte keine derartigen Gedanken, als ich dem Goldfrosch, der zur Spezies der Dendrobatidae gehörte, einem Phyllobates terribilis, vorsichtig mit einem Wattestäbchen über seinen feuchten Rücken strich. Während ich die Bitterkeit der Rache auskostete, vertiefte ich mich gänzlich in meine Aufgabe. Das zerbrechliche Geschöpf hatte versucht wegzuhüpfen, als ich es mit meiner gummibehandschuhten Hand packen wollte, aber jetzt verhielt es sich zwischen meinen Fingern vollkommen reglos. Was jedoch nicht bedeutete, daß es jeglichen Widerstand aufgegeben hätte, es versuchte mich loszuwerden, einen Feind, der mehrere tausend Mal so groß war wie es selbst, indem es sein giftiges Sekret absonderte – und ich sammelte die Tropfen auf, bis der kleine Wattebausch am Ende des Stäbchens vollständig damit getränkt war. Dann setzte ich den Frosch – den unfreiwilligen Komplizen meiner Rache – in seinen Käfig zurück. Mit langsamen, sorgfältigen Bewegungen strich ich mit dem Wattestäbchen an den beiden scharfen Klingen des Rapiers entlang. 240
Ja, ein Rapier. Eine altmodische Waffe, aber glänzend und sehr gut gearbeitet und, mit dem Neurotoxin des Frosches präpariert, noch dazu tödlich. Das Genre, das als elisabethanische Rachetragödie bezeichnet wird, wurde im späten 16. Jahrhundert von einem englischen Dramatiker namens Thomas Kyd erfunden. Bei seinem Meisterwerk »Die spanische Tragödie« handelt es sich um die schauerliche Geschichte eines Vaters, der seinen ermordeten Sohn rächt. Der Vater weiß, wer die Mörder sind, bei einem von ihnen handelt es sich um den Neffen des Königs. Von der Obrigkeit kann er bei einem so etablierten Schurken nicht auf Gerechtigkeit hoffen. Wenn der Junge überhaupt gerächt werden soll, dann muß der Vater die Sache selbst in die Hand nehmen. Sein Plan ist sehr listig. Er führt zur Unterhaltung des Hofes ein Schauspiel auf, in dem er selbst und die Mörder auftreten. In dem Moment, in dem er auf der Bühne die Mörder erdolchen soll, tut er es wirklich. Aus den dargestellten Morden werden richtige Morde. Die Schurken brechen blutend zusammen und sterben, während sich ihre Väter noch beim Publikum rühmen, welch begabte Schauspieler ihre Söhne doch seien. Einmal abgesehen von allen moralischen Bedenken muß man zugeben, daß es sich um eine sehr clevere und passende Rache handelte. Heute wird »Die spanische Tragödie« nur noch selten gespielt, ganz im Unterschied zu der vielleicht berühmtesten elisabethanischen Tragödie überhaupt: »Hamlet«. Wenn man in den frühen achtziger Jahren in meiner HighSchool in einer Vorstadt von Phoenix, Arizona, etwas gelten wollte, mußte man gut in Sport sein. War man das nicht, so konnte man immer noch auf ein Mindestmaß an Respekt hoffen, wenn man ein sehr guter Schüler war. 241
Ich war ein Schwächling und hatte keinerlei Talent für Ballsportarten. Für akademische Fächer allerdings auch nicht. Ich konnte mich auf mathematische Abstraktion nicht konzentrieren, mir fehlte jedes Interesse an amerikanischer Geschichte, meine Orthographie war furchtbar, Fremdsprachen lagen mir ebenfalls überhaupt nicht, und es fiel mir im allgemeinen überaus schwer, etwas auswendig zu lernen. Ich besaß nur ein Talent, eine Gabe, die sich einer gewissen Wertschätzung erfreute, und das auch nur bei Leuten, die meine Leidenschaft teilten. Ich konnte mich in den Kopf eines anderen Menschen hineinversetzen und dessen Gefühle auf der Bühne darstellen. Daher belegte ich auch während meiner ganzen HighSchool-Zeit das Fach Drama. Für mich war das Theater mehr als ein bequemes Wahlfach, eine Kleinigkeit, die man auflistete, wenn man sich für ein College bewarb. Es war das einzige Gebiet, auf dem ich mich bewähren konnte. So zu tun, als ob, ist auf der Bühne kein Kinderspiel, sondern eine geschätzte Fähigkeit, und mühelos schlüpfte ich in jede Rolle, in die des Sportlers, des Gelehrten, des Diebes oder Liebhabers, des Clowns oder Tyrannen – oder in die eines gequälten, nachdenklichen dänischen Prinzen. Der Auswahl des Stückes, das wir in meinem letzten Jahr aufführen wollten, gingen erhitzte Diskussionen voraus. Alle wollten etwas, was gerade ihren eigenen Stärken entsprach. Jene, die das richtige Timing eines Witzes beherrschten, bevorzugten eine Komödie, alle, die auf Kommando weinen konnten, eine Tragödie. Da ich beides gleich gut konnte, war es mir relativ egal. Star einer Komödie oder tragischer Held – beides war verlockend. Da es einen konkurrierenden MusicalKurs gab, hatten wir zu wenige Mädchen und einigten uns schließlich auf Hamlet, ein Stück mit unzähligen Männern, aber nur zwei richtigen Frauenrollen: der schönen Ophelia und der Königin Gertrud. 242
Eines der für diese Rollen in Frage kommenden Mädchen war die sehr sommersprossige und grünäugige Anne. Ihr widerspenstiges, kupferdrahtähnliches Haar widersetzte sich allen Versuchen, es zu bändigen. Sie galt nicht als sonderlich schön, sie war zu andersartig und abweichend von der polierten, gängigen Norm. Aber mich faszinierten ihre durchdringenden Blicke, der seltsam harmonische Kontrast von Rot und Grün und ihr seltsam zweifarbiges Gesicht: eine Explosion brauner Punkte auf ihrer Nase und auf ihren Wangen. Anne und ich entdeckten bald, daß wir gut zusammen improvisieren konnten, und ich hielt mich zunehmend an sie, wenn ich mit jemandem Dialoge üben und Szenen vorbereiten wollte. Das Stück befand sich immer noch im vorbereitenden Probenstadium, und die Rollen waren nicht verteilt. Anne wechselte zwischen der demütigen Ophelia und der sich vor Angst verzehrenden Gertrud hin und her. Ich für meinen Teil war bereits voll und ganz auf Hamlet eingestellt. Es gab natürlich auch noch andere interessante Rollen, aber letztendlich gibt es nur einen einzigen Grund für den dauerhaften Ruhm des Stückes: die Komplexität seiner Hauptperson. Das war die Rolle für mich. Mein Schauspiellehrer war der Meinung, daß ich Talent zur Schauspielerei hätte, aber noch wichtiger war mir Annes Auffassung. Oh ja, sie war vollkommen hingerissen. Sie beneidete mich um meine Gabe, das Shakespeare-Englisch so natürlich klingen zu lassen, so bedeutungsvoll, so lebendig, obwohl es vor fast einem halben Jahrtausend auf einem anderen Kontinent geschrieben worden war. Sie sagte, es klinge so, als würde ich jedes Wort wirklich so meinen. Und das tat ich. Mein Talent lag darin, zu empfinden, was die Person des Stückes empfand, und wenn ich erst einmal ein Gefühl für eine Rolle entwickelt hatte, so ließ ich mich einfach von den Gefühlen dieser Person leiten. Bewegungen und Sprache ergaben sich dann mühelos. Anne lachte, wenn ich der ausgelassene, komische Hamlet war, ihr traten die Tränen in die Augen, wenn ich 243
über die Sinnlosigkeit des Lebens nachsann, und sie zuckte zusammen, wenn ich ihr, in der Gestalt der Gertrud, eifersüchtig vorwarf, so bald nach dem Tod ihres Ehemanns wieder geheiratet zu haben. Anne und ich schlüpften in unsere Rollen, aber wir waren klar genug im Kopf, um den Unterschied zwischen den Rollen und uns selbst zu erkennen. Wir erprobten einfach die unterschiedlichen Empfindungen aus einem großen Register menschlicher Gefühle. Und wenn die Szene zu Ende war, verließen wir die Angst, die Eifersucht und den Haß mit Leichtigkeit – die Intensität des Erlebnisses blieb jedoch, und diese Intensität erwies sich als kraftvoller Brennstoff für Gefühle. Aus der Liebe zur Schauspielerei war Liebe geworden. Wir sprachen jedoch nicht über unsere Empfindungen. Die Magie der Schauspielerei und das Wechselspiel von Schauspielerei und Leben waren allzu süß. Wir wollten unsere Gefühle in diesem Treibhaus des Theaters noch etwas wachsen lassen, bevor wir sie in Worte kleideten, von Taten ganz zu schweigen. Damit soll nicht gesagt sein, daß meine Gefühle keuscher Natur waren. Ganz im Gegenteil. Ich hatte Anne noch nie ohne Kleider gesehen, besaß aber trotzdem eine Vorstellung ihres nackten Körpers, ihrer schlaksigen, eckigen Glieder und ihrer kleinen, spitzen Brüste mit Sommersprossen um die Brustwarzen herum – diese Bilder waren so klar und deutlich, daß es mir manchmal so vorkam, als hätte ich sie wirklich nackt gesehen. Im Schlaf hatte ich das auch. Manchmal, wenn ich morgens aufwachte, war ich einen Moment lang überrascht, daß sie nicht neben mir im Bett lag. In der Dusche machte ich mir die Bilder der Nacht zunutze. Ich verfügte über äußerst wenig sexuelle Erfahrungen, auf die ich mich stützen konnte, und trotzdem kam es mir so vor, als wüßte ich genau, wie sich ihre Brüste anfühlten, nein, wie sie sich unter meinen vorsichtig-erkundenden Fingern angefühlt hatten. Diese Eindrücke, diese Erinnerungen, wie wir uns liebevoll und nackt berührt hatten, waren so 244
konkret, daß ich es als selbstverständlich erachtete, daß es wieder passieren würde. Nicht daß es passieren würde, sondern daß es wieder passieren würde. In meinem Englischkurs, einem Pflichtfach, das ich immer nur mit Mühe absolvierte, begann ich an einer Semesterarbeit über elisabethanische Rachetragödien zu arbeiten. Hamlets Unentschlossenheit hatte meine Neugier geweckt, sein Zögern und seine Unentschlossenheit, ehe er schließlich den Mord an seinem Vater rächt. Ich kam zu dem Schluß, daß es besser gewesen wäre, wenn Hamlet auf das Überlegen und Brüten verzichtet und seinen Onkel sofort erschlagen hätte, wäre das Schauspiel Wirklichkeit gewesen. So wäre nur eine Person zu Tode gekommen statt einer langen Reihe von Leuten. Aber gerade das Zögern und das Aufschieben machen das Stück so großartig. Mein Englischlehrer verfolgte meinen Fleiß und meine Fortschritte mit nicht geringem Erstaunen, und meine Eltern waren drauf und dran zuzugeben, daß mein Interesse am Theater vielleicht doch keine Zeitverschwendung war. Ich bekam die Rolle des Hamlet nicht. Nicht mangelndes Schauspieltalent kostete mich die Hauptrolle, sondern meine Schwierigkeit, mir Sätze zu merken, die heutzutage keine Bedeutung mehr haben. Mich beeindrucken einige von Shakespeares Sentenzen, aber hier und da ist seine Sprache wirklich veraltet. Wenn ich mit dem Text in der Hand spielte, dann behinderten mich seltsame Ausdrücke und abwegige Grammatik nicht weiter. Ich wußte, was Hamlet empfand, obwohl ich mir über die genaue Bedeutung der Worte nicht im klaren war. Aber wenn ich aus dem Gedächtnis rezitierte, dann vertauschte ich Sätze oder ersetzte sie durch andere ebenso 245
geheimnisvoll klingende, die jedoch laut meinem Schauspiellehrer keinen Sinn ergaben. Im Verlauf der Proben hatten die Spannungen zwischen ihm und mir zugenommen. Ich erachtete meine Fähigkeit, überzeugend weiterzuspielen, auch wenn mir der Sinn der Worte entglitt, als eine Stärke. Keine Gedächtnislücke, kein Lampenfieber würde mich je vor einem Publikum erstarren und sprachlos werden lassen. Und wenn ein Satz einem modernen Amerikaner ohne eine ausführliche Fußnote sowieso nicht verständlich gewesen wäre, so spielte es doch wohl keine Rolle, ob ich ihn wortwörtlich wiedergab oder nicht? Das Publikum würde es nicht merken. Schlimmer als die Enttäuschung darüber, die Rolle nicht spielen zu dürfen, war die Demütigung. Alle wußten, daß ich darauf gezählt hatte, die Rolle des Hamlet zu bekommen. Ich hätte das verwinden können, wenn ich statt dessen eine andere wichtige Rolle bekommen hätte, die des von Gewissensbissen geplagten Claudius, des großspurigen Polonius, des koketten Laertes oder sogar die des liebenswürdigen Horatio, dieses alltäglichen Gesellen. Aber um noch Salz in meine Wunden zu streuen, besetzte mein Schauspiellehrer die Rolles des Osric mit mir. Er sagte, er hätte mir gern eine bessere Rolle gegeben, wirklich, aber wir hätten es mit einem klassischen Stück zu tun, und da könnten wir uns keinerlei Freiheiten beim Text erlauben. Er traue mir einfach nicht zu, einen längeren Monolog zu bewältigen. Es besteht kein Grund zur Beunruhigung, wenn einem der Name Osric nichts sagt, man erinnert sich höchstens dann an ihn, wenn man das Stück am Vortag gelesen hat. Es handelt sich um einen dummen Höfling, kaum mehr als einen Statisten, der im letzten Akt ein paar Sätze äußert. Ich bin mir ziemlich sicher, daß sich nie jemand nach einer Hamlet-Vorstellung dazu bemüßigt gefühlt hat, die Interpretation des Osric zu diskutieren. Die Proben gingen weiter, und nach einer Woche meinte der Schauspiellehrer, daß Osric im Stück eigentlich überflüssig sei. 246
Er ließe sich mit Leichtigkeit streichen, wenn ich mich nicht zusammennähme und meine Zeilen, die wenigen, die ich hätte, ordentlich lernte. »Gerade Sie müssen was über die Treue zum Original sagen!« fuhr ich ihn an, nahm meine Tasche und stürmte aus dem Zimmer. Anne übernahm die Rolle der Gertrud, die perfekt für sie war. Sie würde der nervösen Königin mit angemessenem Gefühlsregister gerecht werden. Nachdem ich ein paar Proben weggeblieben war, kroch ich zu Kreuze, entschuldigte mich beim Schauspiellehrer aus der Tiefe meines unaufrichtigen Herzens und willigte dankbar ein, die mir zugewiesene Rolle anzunehmen, wenn er mich nur im Stück beließe. Mein eigentliches Anliegen war natürlich, mich in Annes Nähe aufzuhalten. Sie wußte von meinen schauspielerischen Fähigkeiten, woran selbst meine Degradierung nichts änderte. Aber während der folgenden Proben sah ich sie seltener als früher. Es gab keine Dialoge, die wir zusammen hätten proben müssen. Um mich neben meiner Nebenrolle noch auszulasten, teilte mich der Schauspiellehrer dem Requisitenteam zu. Ich hatte von einer Schauspielkarriere geträumt, und jetzt war ich Bühnenarbeiter. Während ich in Phoenix herumrannte, um höfische Kleidung, Totenschädel aus Plastik und Theaterdegen mit stumpfen Klingen aufzutreiben, probte Anne die Gertrud zusammen mit dem Burschen, der als Hamlet besetzt war, einem großen und kräftigen jungen Mann, der mit der Schauspielerei erst angefangen hatte, nachdem man ihn wegen eines Knieproblems aus der Football-Mannschaft geworfen hatte. Er strahlte Gesundheit und Kraft aus, und obwohl ich ihm zugute halten mußte, daß er die Hamlet-Monologe wie ein Ave-Maria abspulen konnte, überzeugte er mich nicht als der berühmteste Zweifler der Welt. Das Sein oder Nichtsein aus seinem Munde war kein Ausdruck existentieller Bedrohung, es war nicht 247
einmal eine Frage, über die nachzudenken sich lohnte, sondern einfach nur ein Posten auf einer Erledigungsliste, den es abzuhaken galt, ehe der Vorhang fiel. Beim ersten Treffen der Theatergruppe am Anfang des Semesters hatte der Lehrer scherzhaft geäußert, die Hauptaufgabe eines Schauspiellehrers bestehe darin, die Schüler vom Sex während der Unterrichtsstunden abzuhalten. Es schmerzt mich, daß ich Zeuge seines Mißlingens werden mußte. Ich ertappte sie nämlich einmal, als ich alle Schauspieler aus den leeren Klassenzimmern zusammentrommelte, in denen sie paarweise oder in kleinen Gruppen probten. Obwohl ich sie durch die Tür hören konnte, klopfte ich nicht oder gab mich anderweitig zu erkennen. Statt dessen öffnete ich leise die Tür und quälte mich mit einer neuen Variante des Bildes, das ich bereits im Schlaf gesehen hatte. In dieser neuen Version hatte ein anderer Schauspieler meine Rolle übernommen, und die Szene besaß mehr Finesse als alles, was ich mir je hatte vorstellen können. Ich will auf die Details verzichten. Was spielen exakte Stellung und Art des Aktes schon für eine Rolle? Es genügt, zu sagen, daß ich die Tür wieder schloß, ohne gesehen worden zu sein. Annes nackte Brüste sahen nicht ganz so aus wie in meinen Träumen: Einzig in der Mitte zwischen ihren beiden Brüsten gab es einen Flecken Sommersprossen und nicht auf beiden Brüsten wie in meiner Erinnerung, und dieses Detail schien mir von größter Bedeutung zu sein, als ich den Korridor entlangging. Ihr Busen sah nicht so aus, wie ich ihn mir vorgestellt hatte – so wie ich mich an ihn erinnerte. Meine Erinnerung an ihre unbekleidete Schönheit hatte sich als fehlerhaft erwiesen und würde nun verworfen werden müssen. Aber das neue Bild, die wirkliche Erinnerung, die jetzt an die Stelle der alten treten würde, war unauflöslich mit der Anwesenheit meines kräftigen Rivalen verknüpft, eines Burschen, dessen Namen ich dem Vergessen anheimgeben möchte. Er nahm mir nicht nur Anne weg, sondern
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auch die Sanftheit meiner erotischen Phantasien. Romantik war durch Hardcore ersetzt worden. Ich ging auf die Toilette, schloß mich in einer Kabine ein und holte mir mit bitterer Effektivität einen runter. Auch ich konnte es, ja, mein Körper funktionierte ebenfalls, und ich hätte ihr das beweisen können, wenn sie mir nur eine Chance gegeben hätte. Innerhalb einer halben Minute oder weniger ergoß ich meinen Höhepunkt in ein Knäuel Toilettenpapier. Das Bild der beiden stand mir immer noch lebhaft und roh vor Augen – aber es hatte sich verändert, seit ich die Toilette aufgesucht hatte; ich war mir nicht mehr so sicher, daß ich nicht gesehen worden war. Anne hatte mich nicht gesehen, soviel war sicher, aber einen Augenblick lang hatte mir der ehemalige Football-Spieler seinen Kopf halb zugewandt. Er hatte mich seitlich mit halbgeschlossenen Augen angesehen. Er hatte gelächelt – vor Vergnügen und Anstrengung, wie mir schien, aber das Lächeln, das ich jetzt in meiner Erinnerung sah, war ein Lächeln des Triumphs. Da stand ich allein in einer Toilettenkabine und hatte mein frustriertes Fleisch mit einem Bild meiner eigenen Erniedrigung befriedigt. Ich trocknete meine Augen mit etwas mehr Papier und schwor mir, niemals wieder zu masturbieren. Ich sagte mir, daß mir meine selbstauferlegte Enthaltsamkeit abgebrühte Härte und bitteren Stolz bescheren würde. Indem ich diktatorische Kontrolle über meinen eigenen Körper ausübte, würde ich die Qual, nicht erhört worden zu sein, würdevoll durch stilles Leiden ersetzen. Ich stellte mir vor, wie ich morgens mit einer pochenden Erektion und schmerzenden Hoden erwachen, aber statt mir Erleichterung zu verschaffen, in das eiskalte Badezimmer schleichen und eiskalt duschen würde. Meine aufgestaute Energie würde meine Seele in Stahl verwandeln. Aber als die Tage vergingen und sich die entsagten Orgasmen in meinem siebzehnjährigen Körper aufstauten, wurde ich nur zappelig und ruhelos – schwach statt gestählt und auf eine schwindelnde, mir bisher unbekannte Art, krank. Die Wirklich249
keit hatte einen Riß erhalten. Die Person, die mein wahres Ich hätte sein sollen, war der vielversprechende junge Schauspieler, der sich auf seinen ersten großen Auftritt vorbereitete und eine Liebesbeziehung mit der Hauptdarstellerin unterhielt. Was sich mir jedoch darbot, war das Bild eines Seelenlosen, Erniedrigten, der sich in die Schule und zu den Proben schleppte und sich dabei von außen zusah: Ich war nur noch ein Geist meiner selbst, ein unbehauster Geist, der mit den Zähnen über die Ungerechtigkeiten knirschte, die er erlitten hatte. Ja, Ungerechtigkeiten. Warum sollte ich mich um Objektivität und Details bemühen? Die Rolle des Hamlet stand mir zu. Anne gehörte mir. Beides hatte man mir weggenommen. Mir war Unrecht getan worden. Eines Abends saß ich in der Schulbibliothek und tat so, als würde ich mich mit meiner Semesterarbeit über die elisabethanische Rachetragödie beschäftigen. Ich mußte erst eine Linie finden, konnte mich aber nicht darauf konzentrieren und las deshalb nochmals Teile von Kyds »Spanischer Tragödie«, die das Genre begründet hatte. Zum ersten Mal, seit man mich um die Rolle des Hamlet gebracht hatte, konnte ich mich ganz und gar in etwas anderes als meine eigene Verzweiflung vertiefen. Die Racheintrige in »Die spanische Tragödie« war viel einfacher und direkter als die in »Hamlet«. Der Vater des ermordeten Jungen wird nie von seiner eigenen Unentschlossenheit behindert. Er schwankt nicht, was das Ob angeht, sondern interessiert sich nur für das Wie. In ihm ist nichts von Hamlets Sein oder Nichtsein. Es ist ihm vollkommen egal, welche Vorgehensweise edler sein könnte. Er nimmt die Fallstricke und Pfeile eines himmelschreienden Schicksals nicht einfach hin, er widersetzt sich ihnen und will ihnen ein Ende bereiten. Dazu dann noch der fürchterliche Schluß: das Stück im Stück, in dem der Vater die anderen Schauspieler erdolcht. 250
Ich gab mich einem wunderbaren, fürchterlichen Tagtraum hin: Die Pläne waren geändert worden, und wir würden nicht mehr den »Hamlet« aufführen, sondern »Die spanische Tragödie«. Ich würde den Vater spielen, der ehemalige FootballPlayer einen der Schurken. Der Premierenabend: Die Aula ist voller Eltern, die nervös darauf warten, ob ihr Nachwuchs sie in Verlegenheit bringt oder ob sie stolz auf ihn sein können. Das Licht wird schwächer, das Gemurmel verstummt, der Vorhang teilt sich, und ich – nur ich – weiß, daß heute abend Wirklichkeit und Schauspiel in der »Spanischen Tragödie« auf einer neuen Ebene verschmelzen werden. Eine Stunde lang phantasierte ich nur – ein pornographischer Rachetraum, dem ich mich hingab, weil ich mich dabei so wohl fühlte. Ich baute ihn aus und änderte ihn ab, um ihn wahrscheinlicher zu gestalten. Ich sah ein, daß ich »Die spanische Tragödie« gar nicht benötigte, ich konnte auch Hamlet einen neuen Schluß verpassen. Es spielte keine Rolle, daß ich an dem Schwertkampf zwischen Hamlet und Laertes in der letzten Szene nicht teilnahm. Schließlich war ich für die Requisiten zuständig. Ich erwachte aus dem Traum in meinem eigenen gedemütigten Körper. Es war Zeit, meine Bücher zu nehmen und wieder in die Realität zurückzukehren, diesen elenden Platz, an dem ich ein erniedrigter Versager war, ein Nichts ohne Stolz, der sich von einem sorglosen Verführer demütigen ließ. Ich hatte keine Anzeichen einer Beziehung oder auch nur einer Affäre zwischen Anne und meinem Widersacher nach ihrem Stelldichein bemerkt. Im Gegenteil, in seiner Gegenwart wurde sie immer ganz still, und jetzt schaute sie sogar zu Boden, wenn er das Zimmer betrat. Anfänglich hatte es mich erleichtert, daß kein Liebespaar aus ihnen geworden war, und ich versuchte, ihr wieder näherzukommen. Ich hätte ihr sofort vergeben, aber sie blieb mir gegenüber verschlossen. Er hatte dieses wundervolle Pflänzchen getötet, das zwischen uns gewachsen war. Und 251
wofür? Ganz offensichtlich hatte er ihr den Laufpaß gegeben, wahrscheinlich nach diesem einzigen Liebesakt. Vermutlich hatte er auch nie etwas anderes im Sinn gehabt. Ich erinnerte mich an sein Lächeln. Ja, er hatte mich gesehen, und ja, sein Lächeln war ein Lächeln des Triumphes gewesen. Er empfand nicht für sie, was ich für sie empfunden hatte. In meinen Träumen von ihr und von mir hatte es keinen Triumph gegeben, kein Imponiergehabe, keine Prahlerei. Es ging mir um sie, nicht um eine Eroberung. Was für eine Eroberung mochte sie überhaupt für ihn gewesen sein, sie galt nicht mal als heißer Feger. Er hatte sie in einen Gegenstand verwandelt, den er bei seinen ehemaligen Football-Freunden beiläufig erwähnen konnte. Klar war er stolz darauf, sie flachgelegt zu haben. Der Wert dieser Eroberung lag in seiner nonchalanten Einstellung. Dann fragte ich mich: Warum sollte ich mich eigentlich mit Skrupeln und moralischen Bedenken herumquälen, wenn er sie nicht hatte? Warum sollte ich mich nicht einfach selbstbewußt meiner Rachephantasie hingeben? Ich hatte die Degen für den Schwertkampf in einem Laden für Theaterrequisiten besorgt. Es handelte sich um richtige Schwerter, also mit Klingen aus Stahl, die sich ganz besonders eigneten, weil sie so stumpf waren, daß man nicht einmal weiche Butter mit ihnen schneiden konnte. Ich ging dann noch einmal in den Laden und kaufte eine genaue Kopie von einem der beiden Schwerter und verbrachte einen Nachmittag in unserer Garage damit, es mit der Schleifmaschine meines Vaters zu schärfen, bis es mühelos ein Blatt Papier zertrennte. Ein Gift aufzutreiben war schon schwieriger. Ich vermutete, daß normale Haushaltschemikalien zu schwach sein würden, da die Substanz nicht oral zugeführt werden würde. Ich weiß nicht, wie mir die Idee mit dem Gift von den Goldfröschen kam, 252
vielleicht hatte ich in einem Dokumentarfilm im Fernsehen davon gehört. Ich rief bei zahlreichen Tierhandlungen in der Gegend von Phoenix an und stieß schließlich auf eine, die auf Reptilien und Amphibien spezialisiert war und einige Arten dieser kleinen, knallbunten Geschöpfe führten. Ich ließ mir die lateinischen Namen geben und suchte in einer zoologischen Enzyklopädie die giftigste Sorte heraus. Phyllobates terribilis, der goldene Baumsteiger. Ein paar Tage später fuhr ich ans andere Ende von Phoenix und kaufte ein Exemplar. Der Anblick des kleinen, perfekten Tieres erfüllte mich mit einem angenehmen Schrecken. Der Körper hatte eine leuchtend goldene Farbe, die an den Beinen ins Kupferrote changierte. Wenn man ihn nicht störte, saß der Frosch so reglos da, daß man ihn für ein Plastikspielzeug hätte halten können, und doch wußte ich, daß mich dieses Geschöpf töten konnte – und zwar ganz lautlos. Kein sichtbarer Akt der Gewalt, kein Beißen, kein Kratzen, nur etwas Flüssigkeit von seinem Rücken, die durch meine Haut eindrang und die Nervenverbindung zwischen Gehirn und Lunge blockierte. Als würde man das Kabel zwischen Zündschlüssel und Anlasser in einem Auto durchschneiden. Meine Lungen würden nicht geschädigt werden und vollkommen funktionstüchtig bleiben, aber trotzdem aussetzen. Umgeben von frischer, sauerstoffreicher Luft würde ich ersticken – und der Frosch würde davonhüpfen und sein amphibisches Leben fortsetzen, unbelastet von der Tatsache, mich umgebracht zu haben, genau wie ich, wenn ich eine Fliege totschlug. Wie heimtückisch die Natur doch sein kann. Nachdem ich das Rapier mit den giftigen Tropfen des Frosches präpariert hatte, legte ich es zum Trocknen unter meine Schreibtischlampe. Ich streifte die Gummihandschuhe ab und drehte dabei die Außenseite nach innen. Ich flüsterte dem Geschöpf in seinem Glas zu: »Nein, du hast mich nicht umgebracht, du und ich, wir werden zusammenarbeiten.«
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Unser Stück würde wie geplant am nächsten Abend Premiere haben und sollte insgesamt dreimal aufgeführt werden. Ich würde das präparierte Rapier in der Tasche mit meinem Kostüm in die Schule bringen, und zu einem bestimmten Zeitpunkt während des ersten Akts, wenn sich die meisten Schauspieler auf der Bühne und der Rest zum Schminken in der Umkleide aufhielten, würde ich sie austauschen. Die Premiere würde gleichzeitig auch die letzte Vorstellung werden. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und genoß das Gefühl. Ja, es war bitter, ganz eindeutig, aber es war eine Bitterkeit, die mich stärkte. Hier, endlich, hatte ich das Gefühl, eine Seele aus Stahl zu besitzen. Meine Energie, die nicht zum Zuge gekommen war, hatte endlich ein Ventil gefunden. Mein Leben hatte wieder einen Sinn bekommen. Wenn das vorüber sein und ich im Gefängnis sitzen würde, weit vom Theater und von Anne entfernt und jeden Kontaktes mit Frauen beraubt, dann würde es mir vollkommen egal sein, was ich getan hatte, wie sich meine Zukunft gestalten würde und daß ich keine Seele aus Stahl hatte. Ich würde sagen, zum Teufel damit, würde mir einen runterholen, und alles würde mir egal sein. Dorthin zu gelangen, das war jetzt mein Ziel im Leben. Der Dramakurs unserer Schule führt »Hamlet« auf. Es ist der Premierenabend, und wir sind bei der letzten Szene des fünften und letzten Aktes angelangt. In dem bunten Kostüm Osrics stehe ich auf der Bühne vor einem vollbesetzten Saal, vor Mitschülern, Geschwistern und Eltern. Ich strecke die Rapiere aus, damit sich Laertes eines aussuchen kann. Er nimmt jenes mit den blauen Intarsien im Griff und läßt es ein paarmal durch die Luft pfeifen. Dann erklärt er, es sei zu schwer, und verlangt ein anderes – genau wie vorgesehen. Er wählt das Rapier mit den grünen Intarsien. Das richtige. Im vorigen Akt hat er dem König erklärt, er würde seine Spitze in Gift tauchen. Wenn Hamlet sich 254
nur die kleinste Wunde bei ihrem freundlichen Fechten zuzieht, wird er sterben. Hamlet und Laertes nehmen ihre Positionen ein. Der König verspricht Hamlet eine kostbare Perle, wenn er den ersten Treffer landet. »Kommt, Herr«, sagt Hamlet und hebt seine Waffe. »Wohlan, mein Prinz«, sagt Laertes, und der Schwertkampf beginnt. Zu Anfang dieser Seiten habe ich festgestellt, daß die Rachegelüste Körper und Seele durchdringen, bis alle anderen Gefühle verstummt sind. Das war eine Lüge oder bestenfalls zu einfach. Was mich trieb, als ich meinen bizarren Plan umsetzte, war nicht so sehr der Wunsch nach Rache, sondern der Wunsch nach einer Geschichte über Rache, einer Geschichte, in der Raum für Formulierungen sein würde wie »durchdringen Körper und Seele«. Ich war nicht nur auf Rache aus, sondern auf die Rachetragödie. Und jetzt hat der Schwertkampf begonnen. Das ist der Moment, in dem meine großartige Rachetragödie Wirklichkeit werden soll. Aber ich habe meinen Plan aufgegeben. Selbst wenn Goldfrösche in Gefangenschaft giftig wären, was, wie ich mehrere Jahre später herausfand, nicht zutrifft, so wäre ich doch nicht zum Mörder geworden. Aber es waren keine moralischen Bedenken, die mich zurückhielten, sondern es war eine ästhetische Erwägung. Irgend etwas im dritten Akt hatte mich die praktische Schwäche meines Plans einsehen lassen. Es war ein winziger Vorfall in der Szene, in der Gertrud, der König und eine Anzahl von Adligen und Hofdamen feierlich den großen Saal des Schlosses betraten. Langsam schritten sie voran, als Anne über den Saum ihres Kleids stolperte. Sie fiel jedoch nicht hin, sondern fand schnell zu ihrer Haltung zurück und setzte den feierlichen 255
Einzug fort. Dieser Vorfall – falls man ihn überhaupt so bezeichnen konnte – hatte kaum eine Sekunde lang gedauert. Aber einen Moment lang war die Verzauberung des Stückes in Gefahr geraten, und ich hatte irgendwo im Publikum ein halblautes Kichern gehört. Den nächsten Akt sah ich seitlich von den Kulissen aus und dachte über den kommenden Schwertkampf nach, der den Höhepunkt bilden sollte. Ich hatte ein klares Bild von dem großartigen Finale vor Augen. Folgendermaßen sollte es aussehen: Laertes stößt sein Rapier vor, und Hamlet ist leicht verwundet. Der ehemalige Football-Spieler greift sich an den Oberarm und merkt, daß er wirklich verwundet worden ist. Er glaubt, es sei ein bloßer Zufall gewesen, beißt die Zähne zusammen und fällt nicht aus seiner Rolle. Er weiß nicht, daß das Gift seinen Weg durch die offene Wunde in seine Venen findet. Laertes und Hamlet kämpfen erneut, und bei dem Streit verlieren beide ihr Rapier. Sie lassen sich auf die Knie fallen und greifen nach ihnen. Das ist mein Einsatz. Ich trete vor und nehme Laertes’ Waffe. Das Publikum kennt seinen Shakespeare nicht gut genug, um die Abweichung vom Text zu bemerken. Die anderen Schauspieler jedoch wissen sehr gut, daß Osric an diesem Punkt keinen Auftritt hat. Vielleicht begreifen sie, daß ich absichtlich gegen das Skript verstoße, oder vielleicht denken sie auch nur, daß ich vergeßlich bin. Der Schauspiellehrer hat ihnen sicher allen gesagt, wie schlecht ich mir meinen Text merken kann. Aber egal, sie können nichts unternehmen, ohne das Stück zu unterbrechen. Sie müssen abwarten und können nur hoffen, daß ich mich eines Besseren besinne, ohne die Vorstellung zu ruinieren. Während die Bühne voller Leute ist und ich sie ganz für mich habe, sind alle mein Publikum. Ich deute mit dem Schwert auf den ehemaligen FootballSpieler. Er steht auf allen vieren und starrt mich an. Er fragt 256
mich mit seinem Blick, was zum Teufel ich da tue. Ich antworte ihm mit einer Zeile von Laertes: »Hier, Hamlet: Hamlet, du bist umgebracht. Kein Mittel in der Welt errettet dich. In dir ist keine halbe Stunde Leben. Des Frevels Werkzeug ist in deiner Hand. Unabgestumpft, vergiftet.« Dann füge ich mit meinen eigenen Worten höhnisch hinzu, aber ohne den Rhythmus der Blankverse zu unterbrechen: »Das Gift auf diesem Schwert war echt, mein Freund. Es hilft, zu spielen Hamlet richtig gut.« Ich schreite von der Bühne. Im Publikum wird gemurmelt. Die letzte Zeile schien nicht ganz in den Zusammenhang zu passen. Gehörte sie wirklich zum Stück? Was ist eigentlich los? Das Gift wirkt inzwischen, und der ehemalige Football-Spieler ringt nach Luft. Welcher Schauspieler wird als erster aus der Rolle fallen und zu ihm hinlaufen? Diejenige, die sein Zusammenbruch am meisten beunruhigt und der er etwas bedeutet, obwohl sie ihm nichts mehr bedeutet: Anne. Sie verabschiedet sich von der Illusion und von ihrem Stolz, rennt über die Bühne und kniet neben ihm nieder. Er ist immer noch ganz bei Bewußtsein, aber seine Atemmuskulatur weigert sich, Luft in seine Lungen zu befördern. Wenn sie wüßte, was sie tun muß, könnte sie ihn durch den »Kiss of life«, die Mund-zu-Mund-Beatmung, retten. Es sind nur seine Muskeln, die nicht mehr arbeiten, sein Lungengewebe ist immer noch in der Lage, Sauerstoff zu absorbieren. Wenn sie ihm Luft gibt, bis die Sanitäter kommen, können sie übernehmen und ihn die paar Stunden, in denen alles auf Messers Schneide steht, künstlich beatmen, bis sich das Toxin verflüchtigt hat und er wieder allein atmen kann. Nur der Kuß des Lebens ist nötig. Aber sie weiß davon nichts. Als seine Glieder erstarren, fängt sie nur an zu zittern und schreit seinen Namen, statt ihn zu küssen. Als schließlich jemand, der umsichtiger ist, herbeieilt und ihn zu beatmen versucht, ist es bereits zu spät. 257
Jemand hat den Zusammenhang zwischen meiner Rede und dem Zusammenbruch meines Widersachers begriffen. Einige seiner Football-Freunde eilen herbei, um mich festzuhalten, bis die Polizei eintrifft. Man legt mir Handschellen an und führt mich weg. Später werden die Fernsehreporter herausfinden, daß ich an einem Essay über elisabethanische Rachetragödien schrieb. Wenn sie Nachforschungen über »Die spanische Tragödie« anstellen, wird ihnen aufgehen, was ich getan habe. Ich habe Kyds Schauspiel mit Shakespeares zu einem neuen verschmolzen, einem bösartigen, genialen Meisterwerk. Wir könnten es als »Die spanische Tragödie plus« bezeichnen. Ja, mir ist jede Verhältnismäßigkeit abhanden gekommen. Aber nach dem kurzen Gekicher aus dem Publikum, das Annes Stolpern ausgelöst hatte, begann die Wirklichkeit in meine vermessene Illusion einzudringen. Im Verlauf des vierten Aktes mußte ich mir eingestehen, was wirklich geschehen würde, wenn der eigentliche Schwertkampf erst einmal begann. Würde der ehemalige Football-Spieler wirklich von dem geschärften Schwert verletzt werden? Wie lange würde es dauern, bis das Gift wirkte? Würde er seine Rolle wie vorgesehen weiterspielen, was ich vorausgesetzt hatte, oder würde er ausrufen: »Verdammt! Ich bin verletzt! Ich brauche einen Arzt!« Ich würde nicht in der Lage sein, es zu kontrollieren. In meiner Vorstellung hatte ich, ein einfacher Schauspieler im Drama des Lebens, mich irrtümlich für den Allmächtigen gehalten: für den Dramatiker, der die Handlung lenkt. Zu Beginn des fünften Akts tauschte ich also die Rapiere wieder aus. Als die Kampfszene begann, lag das vergiftete Schwert wieder in meiner Tasche. Stück und Wirklichkeit würden nicht verschmelzen. Hamlet würde sterben, wie von Shakespeare vorgeschrieben, und der unverletzte FootballSpieler würde sich dann erheben, um den Beifall entgegenzunehmen. 258
Aber in meinem Kopf … Ja, in meinem Kopf …
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INGEBORG ARVOLA Schaf tötet Bauern Ein eisigkalter Tag im Stall. Der Bauer ist im Anmarsch. Sie hören, wie er an der vereisten Tür rüttelt. Die drei Schafe verkriechen sich in einer Ecke. Die anderen sind schon vor Wochen erfroren. Nur sie sind übrig. Und deswegen muß nun jedes von ihnen um so mehr Mißhandlungen aushalten. Tritte und Würgegriffe. Der Bauer befriedigt seine Bedürfnisse an ihnen. Das bedeutet für alle ein paar Runden mit dem zappelnden Bauern im Hinterteil. Futter bekommen wir immerhin, wie sie lakonisch anmerken, wenn es Nacht ist. Doch das einzig und allein, weil ihre Zukunft der Hammel- und Kohleintopf ist. Sie haben kein Ziel, außer diesem gut gefüllten Teller, der dampfend auf einer Wachstuchdecke steht. So ein perverser Typ, sagen sie des Nachts, stell dir das mal vor, sein eigenes Mittagessen von hinten zu nehmen, määh, bääh. Doch tagsüber zittern sie, nicht nur vor Kälte, und in einer Ecke des Stalls schmiegen sie sich eng aneinander. »Na? Friert ihr etwa, ihr armen Teufel?« Die Schafe antworten nicht. Sie starren ihn nur dumm an und trampeln nervös mit den Beinen. Doch es gibt kein Entrinnen. Sie winden ihre Köpfe hin und her, mit flehenden Augen. Nie hatte jemand von ihnen behauptet, daß sie es mit ihrem Bauern gut getroffen hätten. Häßlich ist er außerdem. Er schielt, und hinter seinen Lippen der Geruch verfaulter Zähne. Der Bauer kommt zu ihnen herein. Er streut Heu aus und wirft den Schafen finstere Blicke zu. Als er fertig ist mit dem Heu, bewegen sich seine Bauernfinger hinab zum Hosenlatz. Erst als es Abend wird, fragt sich die Bauersfrau, wo ihr Mann wohl stecken mag. Eigentlich ist es eine Erleichterung, ihn nicht sehen zu müssen. Aber daß er gleich einen ganzen Tag weg260
bleibt? Seit dem Morgen hat er sich nicht mehr blicken lassen. Die Frau des Bauern geht eine Runde über den Hof. Sie wirft einen Blick in den Stall und in die Schuppen, sucht in der Scheune und drüben beim Traktor. Der Bauer ist wie vom Erdboden verschluckt. Die Frau zuckt mit den Schultern und geht zurück ins Haus. Einige Tage danach erscheinen die Überschriften in allen Zeitungen: Schaf frißt Bauern Drama in Gryllefjord Schaf: Genug ist genug! Die Frau des Bauern schafft es in die Illustrierten und zehrt lange von einem Entsetzen, das sie nie verspürt hat. »So etwas …«, sagt sie. »Grauenhaft«, schluchzt sie. Als die Frau des Bauern ihren Mann als vermißt meldete, war der Verdacht nicht gleich auf die drei verfrorenen Schafe gefallen. Für einen Moment glaubten sie, sie würden davonkommen, und schenkten den Polizisten deshalb ihre allerdümmsten Blicke. Erst bei genaueren Untersuchungen fanden die Ermittler Fetzen, die von der Unterhose des Schafbauern stammten und mit Schafmist beschmutzt waren. Daraufhin wurden sofort zwei der Schafe geschlachtet und deren Mageninhalt untersucht. Jedes von ihnen hatte ein Auge gefressen, wußte der Veterinär der Bauersfrau zu berichten. Das dritte Schaf hatte seinen Mund gefressen und sich so eine Stimme verschafft. Von nun an stand es auf dem Hof und vertrat seine Rechte. »Schafe sind auch Tiere!« meinte das Schaf.
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JOHAN HARSTAD Plexiglas Ich bin auf dem Weg nach Tokio. Ich habe dort eigentlich nichts zu tun. Es wartet niemand auf mich. Auch in Tokio wartet niemand auf mich. Aber ich bin aufgebrochen. Ich bin auf dem Weg. Ich weiß nicht, warum. Das Fenster in der Kabinenwand ist klein und oval, aber nicht rund, eher viereckig, doppelt verglast, mit Plexiglas, und es wird schon ein gewisser Kraftaufwand nötig sein, um es einzuschlagen. Wir befinden uns in einer Höhe von zehntausend Metern, und ein eventuelles Loch in der Flugzeugkabine wäre nichts Geringeres als eine Katastrophe. Der Druck würde abfallen, die Bedingungen lebensfeindlich werden. Wir würden hinausgesaugt werden, mit dem Kopf voran, wie bei der Geburt. Solche Gedanken gehen mir durch den Kopf, während ich so dasitze, mit der Nase ganz dicht an der Scheibe. Jedesmal wenn ich ausatme, bilden sich zwei tropfenförmige Kondensstreifen, die bereits nach wenigen Sekunden wieder verschwinden. Bevor das geschieht, kann ich mit dem Finger Sachen auf das beschlagene Fenster schreiben, Sachen, die mir einfach so einfallen. Ich schreibe: I AM. Ich wische es weg, atme ein, dann aus, und das Fenster beschlägt wieder, an derselben Stelle. Ich schreibe: BORED. BEYOND. BELIEF. Der Mann neben mir wirft mir einen flüchtigen, herablassenden Blick zu, der nichts mehr der Phantasie überläßt, bevor er wieder in dem Bordmagazin blättert, das er aus der Tasche an dem Sitz vor sich genommen und bereits zweimal durchgelesen hat, zumindest soweit ich das mitbekommen habe. Er hustet. Ein kurzes, trockenes Husten, Gewohnheitshusten, völlig unnötig, als ob er seinen Standpunkt in der Sache bekräftigen wollte. Beispielsweise, daß er davon 262
überzeugt ist, daß ich mich idiotisch aufführe. Ich wische die drei Worte mit den Fingern weg. Dabei hinterlassen Mittel- und Zeigefinger zwei fettige Streifen, bestimmt von dem Mittagessen, das man uns vor kurzem serviert hat, ich putze sie mit dem Handrücken weg. Noch neun Stunden. Ein Film wird gezeigt, einer, den ich noch nicht gesehen habe, wir bekommen Kopfhörer ausgehändigt, die wir in die Armlehnen einstöpseln, und dann sitzen wir da wie eine stumme Gemeinde, vollständig von den tanzenden Bildern in Bann gezogen, die vor unseren Augen über die kleinen Fernsehapparate flimmern, welche strategisch günstig in der Flugzeugkabine verteilt sind. Die Flugbegleiterinnen bewegen sich lautlos wie Darstellerinnen eines Stummfilms durch die Reihen, Fragen werden durch einfache Zeichen ersetzt, Handzeichen – noch Kaffee? –, und genauso schnell, wie sie aufgetaucht sind, verschwinden sie auch wieder, ich habe keine Ahnung, wo sie sich verstecken. Ich versuche, mich auf den Film zu konzentrieren, eine amerikanische Produktion, völlig selbstverständlich, etwas anderes darf man ja auch gar nicht erwarten, der Film handelt von einem Mann und einer Frau, die sich anfangs nicht ausstehen können, beide sind in ihren straffen Zeitplänen gefangene Alleinerziehende, er mit einer Tochter, sie mit einem Sohn, und auf sehr vorhersehbare und beruhigende Art und Weise vertauschen die beiden ihre Handys, daraus entstehen Schwierigkeiten, alles muß neu organisiert werden, die Kinder zur Schule gebracht und abgeholt, ein Nachmittagsprogramm organisiert werden, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die beiden sich ineinander verlieben. Das Ganze ist natürlich dämlich und unglaubwürdig, ich kann das gelegentliche Grunzen und Schnauben der anderen Passagiere hören, durch die Kopfhörer hindurch, viele schütteln den Kopf, einige haben den Film bereits gesehen, es ist bestimmt schon eine Weile her, seit er in den Kinos lief, sowohl in den USA als auch in Norwegen, 263
der Mann neben mir gibt auf, zieht wieder das Bordmagazin hervor, das er bereits zweimal gelesen hat, und beginnt mit einem dritten Durchgang, er liest den Leitartikel, die kleinen Artikel, ich verfolge weiter den Film, den dämlichen Film, ich trinke Kaffee und Bier, mein Kopf ist schwer, und mir fällt auf, daß meine Wangen feucht sind, ich weine, obwohl ich weiß, daß das idiotisch ist, ein idiotischer Film, eine Lüge, mir fällt es zunächst gar nicht auf, nicht bevor ich meine Wangen mit den Händen berühre, ich weine heftig, ohne zu wissen, warum, aber als der Abspann beginnt, befinde ich mich schon wieder in einem ganz anderen Register meiner Gefühlswelt, nämlich im Halbschlaf, und sie verteilen Decken und Kissen, um mich herum herrscht reger Betrieb, mein Sitznachbar hat neuen Nachschub an Illustrierten bekommen, amerikanische Filmzeitschriften, als Ergänzung zu »Times«, »Newsweek« und solchen Sachen, dadurch lasse ich mich ablenken, vergesse zu weinen, schlafe ein und träume von einem explodierenden Flugzeug, von schwebenden Körpern, die mit Hunderten von Stundenkilometern Richtung Erde fallen, irgendeiner Stadt entgegen, wo die Einwohner reglos im Stadtkern stehen und mit weit aufgerissenen Augen in den blauen Himmel hinauf starren, der nur von einer dunklen Rauchwolke entstellt wird, Stichflammen. So stehen sie einfach da, bis sie sterben, bis sie von verbogenen Aluminiumteilen und Armen, Beinen, abgerissenen Köpfen und Teddybären getroffen werden, bis das Grundwasser von unseren Überresten verunreinigt und ungenießbar wird, ich wache aber nicht auf, wie man es für gewöhnlich in Träumen tut, in denen man irgendwo hinunterfällt, sondern ich schlage hart auf dem Erdboden auf, direkt neben einer jungen Frau, die mit leeren Augen zu mir herunterblickt, und erst in dem Moment, als ich versuche, ihr die Arme entgegenzustrecken, damit sie mir aufhilft, erst in dem Moment erkenne ich, daß ich keine Arme mehr habe, und erst in dem Moment wache ich auf, aber nur zu einem neuen Film, ebenfalls amerikanisch, mit nahezu identi264
scher Handlung, und ich schaue aus dem Fenster, lasse erneut die Scheibe beschlagen, versuche die Wolken zu zählen, verliere aber den Überblick, als mir eine Mahlzeit serviert wird und ich Glas und Besteck, Teller und Serviette von neuen Flugbegleiterinnen entgegennehmen muß, und ich frage mich, ob sie wohl einen Schichtwechsel hatten, ob wir zwischengelandet sind und das vorherige Team von Bord gegangen ist, oder ob sie sich immer noch an Bord befinden, ob sie schlafen, in ihrem Aufenthaltsraum sitzen, vielleicht bei einer einfachen Mahlzeit, müde, mit denselben Filmen auf einem kleinen Bildschirm, so daß sie vergessen, miteinander zu reden, was hätten sie sich andernfalls auch zu sagen? Ich habe mir freigenommen. Zwei Wochen. Ich habe gesagt, daß ich das brauche. Ich habe denen erklärt, daß ich unbedingt etwas Ruhe und Erholung brauche. Ich weiß nicht, von was. Ich habe gesagt, daß ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch stünde, daß alles mögliche passieren könne, daß ich mich angegriffen und ausgelaugt fühlte. Ich weiß nicht, ob ich gelogen habe. Ich habe mich für Tokio entschieden, weil vor zwei Tagen die letzte Antwort bei »Wer wird Millionär?« Tokio gelautet hatte. Ich werde kein Millionär werden. Ich habe mich nicht einmal angemeldet, obwohl alle meine Kollegen das getan haben. Einer durfte mitmachen. Ich weiß nicht mehr, wie er heißt. Wenn man genau aufpaßte und nicht blinzelte, gelang es einem unter Umständen, einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen. Er war einer von denen, die in dem Halbkreis um die Bühne sitzen, wo man die Kandidaten plaziert, die eine Chance bekommen sollen, sich für das eigentliche Spiel zu qualifizieren. Sie flogen ihn nach Bergen oder Oslo, bezahlten ihm eine Nacht im Hotel, brachten ihn ins Studio, ein ganzer Tag ging dabei drauf. Er konnte sich nicht durchsetzen. Die Aufgabe bestand darin, die vier größten Binnenseen Norwegens der Größe nach 265
zu sortieren. Er war der Drittschnellste, jemand anders schaffte es in viereinhalb Sekunden und durfte auf dem Stuhl auf der Bühne sitzen. Er gewann sechzehntausend. Das meiste ist wohl beim Bezahlen seiner Schulden draufgegangen. In ein paar Jahren wird sein Gesicht auf dem Titelblatt irgendeiner Illustrierten zu sehen sein, wo er dann, mit reuiger Miene, dazu einlädt, seine Geschichte nachzulesen, zu erfahren, wie ebenjenes Geld, das er damals gewann, ihn zu einem Alkoholiker machte. Die ganze Geschichte. Die Überschrift in der Art: »Ich bin nicht verbittert«. Nach zwei Wochen wird er wieder in Vergessenheit geraten sein und erst dreizehn Jahre später, nachdem er jahrelang mit einem ihm auf den Leib geschriebenen Vortrag durch die Schulen getingelt ist, um den Jugendlichen dabei zu helfen, den Versuchungen des Rausches zu widerstehen, erst dann ist er wieder auf den Titelseiten zu sehen, mit demselben Foto, er hat einen Spitznamen bekommen, ich weiß nicht, wie sie ihn nennen werden, aber irgend etwas haben sie sich bestimmt ausgedacht, das gilt als illustriertengerecht, Personifizierung, jetzt ist er tot, und die beiden Seiten, die sich mit dem Fall beschäftigen, werden nur wenig Neues hergeben, abgesehen von einem Nachdruck des Titelblatts von vor dreizehn Jahren als Beweis dafür, daß man bereits damals wußte, wo das alles enden würde, einer kleinen Fotografie von seiner Familie, die leer in die Kamera blickt, alles miteinander im Fließtext des Artikels arrangiert, sowie einer kurzen, aber inhaltsreichen Darstellung, die Aufschluß darüber gibt, wie er gestorben ist, mit welcher Schnapsmarke er sich zu Tode gesoffen hat und wer ihn in der Garage gefunden hat. Zwei Wochen später ist er vergessen. Unlike many vitamins you can have too much vitamin A. Die Firma, für die ich arbeite, hält den größten Marktanteil an der gesamten Bibelproduktion des Landes. Wir stellen Bibeln 266
für Hotels her, für Schulen und für Pflegeheime. Jeden Dienstag und Mittwoch bin ich unterwegs und liefere die Heilige Schrift aus. Bestimmt wären Sie sehr schockiert, wenn Sie wüßten, wie viele Bibeln zum Beispiel aus Hotels gestohlen werden, jede einzelne Nacht, Sie würden es mir gar nicht glauben. Jetzt könnte man natürlich anfangen, sich die Ursachen zu überlegen. Aber es gibt vieles, das man nicht wissen will. Vieles muß einfach so bleiben, wie es ist, und deshalb bin ich zweimal die Woche unterwegs und ersetze verlorengegangene Bibeln, ich bin ein Handlungsreisender für dünnes Papier, und gleich einem Mantra muß ich jedesmal, jedes einzelne Mal, wenn ich Karton für Karton in den Kofferraum meines Wagens lade, an jene Geschichte denken, mit der wir alle aufgewachsen sind, an die wir uns alle klammern, die wir einander erzählen, wenn wir von einer langen Reise zurückkehren, wenn wir in der Firma im Pausenraum sitzen, bei einer Tasse Kaffee, und uns fragen, was es zum Abendessen geben soll, ob man hätte heiraten sollen, ob ich mein Psychologiestudium von damals wieder hätte aufnehmen sollen oder ob ich statt dessen anfangen sollte, die Smileys aus den Coca-Cola-Flaschendeckeln zu sammeln, um damit vielleicht eine Weltreise zu gewinnen, im schlimmsten Fall nur eine Snowboardausrüstung, die ich den Kindern meines Bruders schenken könnte, er hat zwei, irgendwas gewinne ich bestimmt, vielleicht auch einen Minidiscplayer, obwohl ich auch von dem nicht wüßte, wofür ich ihn brauchen könnte. Die Geschichte, die Sie bereits gehört haben, unzählige Male, in vielen verschiedenen Varianten, sie handelt von diesem Missionar, ich habe vergessen, wo das genau war, es ist auch nicht so wichtig, vielleicht Madagaskar, ja, ziemlich sicher war es Madagaskar, und dieser Missionar, dieser Auserwählte Gottes auf Erden, versucht die Ungläubigen und Hoffnungslosen zu bekehren, jene, die ruhig dasitzen und auf ihren Untergang in der Finsternis Gottes warten, und sie lassen sich bekehren, einer nach dem anderen verstehen sie, daß die Worte des Missionars 267
wahr sind, daß er direkt von Gott zu ihnen spricht, und sie kehren um, sie werden Christen. Aber da ist einer, da ist immer einer, der nicht will, der nicht kann, der will, daß für ihn alles so bleibt, wie es ist, aber der Missionar weiß, daß auch er erlöst werden kann, sogar er, und sie treffen eine Vereinbarung: der Missionar gibt ihm eine Bibel, und der letzte Ungläubige sagt, gottlos, wie er ist, daß er das ganze Buch rauchen wird, denn ihm fehlt das Papier zu seinem Tabak, der Missionar aber versteht, er entdeckt den schwachen Punkt. Selbstverständlich, sagt er und fügt hinzu: Aber lies zuerst, rauch nur die Seiten, die du gelesen hast, und der letzte, der vor Gott scheinbar ewig Verlorene, liest, raucht und liest. Er nähert sich dem Ende, es sind nur noch ein paar Seiten, und der letzte Ureinwohner, der Verdammte, der ungläubige Wanderer in der Finsternis, sitzt auf dem Boden, mit den letzten Resten, den letzten Seiten der Bibel, und der Missionar weiß, der Missionar versteht, daß dieser Mann verstanden hat, und er hat nicht nur verstanden, er hat auch aufgehört zu rauchen, so sagt er, und das ist ein Zwei-zuNull für Gott, denn auch der Letzte ist gerettet, aber ich habe vergessen, welcher Teil der Bibel dafür gesorgt hat, daß er, auch er, umgekehrt ist, und wenn ich genauer darüber nachdenke, bin ich mir eigentlich sicher, daß sich das nicht auf Madagaskar zugetragen hat, sondern in einem Gefängnis in den USA, mit einem zum Tode Verurteilten, aber auf der anderen Seite hat das nichts zu bedeuten, es ist nur eine Geschichte, etwas, um sich daran festzuhalten, und ich frage mich, für wen ich eigentlich arbeite, für Gott oder die Tabakindustrie, oder ob das zwei Seiten ein und derselben Medaille sind, und ich frage mich, wie viele Smileys oder Flaschenetiketten ich wohl sammeln muß, bevor ich irgendwelche Ausrüstung von Coca-Cola gewinne. Letzte Woche, eines Nachts, wenige Stunden bevor ich aufstehen muß, um zur Arbeit zu gehen: Ich werde von einem Krankenwagen geweckt, der direkt vor dem Haus anhält, die 268
Sirene wird ausgeschaltet, und ich höre die Geräusche der Krankenwagenbesatzung und das Klicken der Trage, Metall auf Metall, sie sind unterwegs die Treppe hinauf, vorbei an meiner Tür, mir wird klar, daß sie vorbeigegangen sind, aber bevor ich höre, wie sie auf eine der Türen im dritten Stock einhämmern, fürchte ich, daß sie gekommen sind, um mich zu holen, daß ich krank geworden bin, ohne es zu wissen, daß ich gestorben bin, es aber nicht weiß. Ich habe immer einen Koffer mit Kleidern und den wichtigsten Sachen neben der Tür stehen, Rasierzeug, Kopien meiner Krankenversicherungsunterlagen, eine Bibel. Für alle Fälle. Er steht seit fünfzehn Jahren da. Ich liege still, bis ich höre, wie sie jemanden die Treppe hinuntertragen, vielleicht fünf, sechs Minuten später, höre, daß sie wieder draußen im Krankenwagen sind und wegfahren, und ich schlafe wieder ein. Noch vier Stunden, bis wir Tokio erreichen. Ich habe keine Pläne. Ich habe kein Hotelzimmer reserviert. Ich habe kein Geld gewechselt. Ich habe keine Filme für den Fotoapparat gekauft. Ich habe keinen Fotoapparat gekauft. Ich bilde mir ein, daß ich möglicherweise mehrere Tage darauf verwenden werde, eine perfekte Buddhafigur für zu Hause zu finden, nur so zum Spaß. Außerdem möchte ich eine Bibel mitnehmen, übersetzt ins Japanische, ich weiß nicht, irgend etwas muß ich ja kaufen, wenn ich schon mal da bin. Glaube ich wenigstens. Darüber hinaus habe ich keine Ahnung, wie ich die Zeit sonst noch totschlagen soll. Man kann selbstverständlich immer in ein Bordell gehen, die gibt es dort haufenweise. Aber ich schlage mir die Idee rasch wieder aus dem Kopf. Ich nehme an, daß ich viel zu schnell kommen würde, als daß es irgendeinen Sinn hätte, und am wichtigsten ist es doch, die Zeit herumzukriegen.
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Der Passagier neben mir ist dabei, sich durch den Stapel Zeitschriften zu arbeiten, den er sich über eine der Flugbegleiterinnen verschafft hat. Seine Finger sind ganz fleckig von Druckerschwärze, nachdem sie sich durch eine zweistellige Anzahl von Tageszeitungen geblättert haben, er blättert mit den Handflächen, um keine Spuren zu hinterlassen, ich glaube, daß er sich die Zeitschriften ausgeliehen hat, ich sehe eine Sammelaktion im Aufenthaltsraum der Flugbegleiterinnen vor mir, eine kommt mit diesem Gesichtsausdruck herein, Sie wissen schon, unzufrieden, und sie sagt etwas wie: »Herrgott, da draußen ist ein Kerl, der sagt, daß er Zeitschriften braucht, haben wir welche? Hat von euch jemand welche aus Norwegen mit? Ja, er hat die aus unserem Sortiment alle schon durch – gebt mir einfach die Zeitschriften, die ihr dabeihabt.« Dann geht sie wieder hinaus, zur sechzehnten Reihe, linke Seite, überreicht ihm die Zeitschriften und wirft ihm einen kurzen, aber strengen Blick zu, einen, der ihm niemals auffallen wird, bevor sie wieder gangabwärts in die Flugzeugküche verschwindet, um eine Flasche Weißwein für denjenigen zu holen, der kurz zuvor den Serviceknopf in der vierunddreißigsten Reihe, Mittelgang, gedrückt hat. Er ist bei einer der letzten Zeitschriften angelangt, sie sieht aus wie eine dieser bornierten Illustrierten aus den USA, eines dieser Nischenblätter. Ich spähe über seinen Arm hinweg, lese heimlich mit, die Aussicht ist seit beinahe zwölf Stunden unverändert. There are millions more passengers around the planet than ever before and we are running out of runway. Einhundertundzwölf Millionen Passagiere sind im Laufe des Jahres 1999 von Heathrow, Gatwick, Stansted, Southampton, Edinburgh, Glasgow und Aberdeen aus gestartet oder dort gelandet. So steht es in der Zeitschrift. Schwarz auf weiß. Ich weiß nicht, ob das viel oder wenig ist. Ich weiß nicht, wie ich 270
mich dazu verhalten soll. Oder was von mir erwartet wird. So gesehen ist die Information sinnlos. Er blättert um. Eine ganzseitige Anzeige der National Rifle Association, Charlton Heston prangt auf Hochglanzpapier und schlägt vor, daß alle Väter mit Respekt gegenüber sich selbst und ihren Familien aus Sicherheitsgründen mindestens eine Handfeuerwaffe anschaffen sollten. Er empfiehlt eine Pistole, Kaliber neun Millimeter, weil die bekanntermaßen niemals Ladehemmungen hat (siehe Bild). Außerdem ist die natürlich auch ganz nützlich, wenn man zum Beispiel auf der Jagd zwischendurch auf Hasen schießen möchte. Er selbst besitzt ein high powered assault rifle, eine 12gauge double-barrelled shotgun, eine regular shotgun, ein regular hunting rifle, eine 9-Millimeter, eine 357, eine .45 handgun, eine .38 special und ein M-16 fully automatic round assault rifle. Zusätzlich hat seine Frau mehrere scharfe Messer in der Küche, aber die sind ordentlich in einem der obersten Schränke verwahrt, damit die Kinder nicht herankommen können. Ich denke mir: Es findet sich immer eine Schere. Die Waffenkammer ist hingegen leicht zugänglich, im Schlafzimmer, in unmittelbarer Nähe zur Munition. Unter dem Bild der Text: You don’t want to mess with me. Ich drehe mich zum Fenster. Es ist längst nicht mehr beschlagen, aber meine fettigen Finger haben Spuren hinterlassen. Wenn ich meinen Kopf etwas zur Seite neige, kann ich immer noch lesen, was ich geschrieben habe. Draußen gibt es nichts zu sehen. Einen Moment denke ich darüber nach, das Fenster einzuschlagen, das Plexiglas zu zerschmettern. Ich könnte die Ecke meines Koffers benutzen, der ordentlich unter dem Sitz vor mir verstaut liegt. Ich könnte meinen Gurt fester anziehen, dann meinen Koffer zwischen den Beinen hervorholen und das Fenster mit der stahlbeschlagenen Ecke einschlagen, dem 271
Passagier neben mir würden die Magazine aus den Händen gerissen werden, bevor dann auch er verschwinden würde, er ist nicht angeschnallt, die Schuhe liegen lose neben seinen Füßen, viele Passagiere schlafen, sie würden von den Sauerstoffmasken geweckt werden, die ihnen auf die Gesichter knallen, der Kaffee in den Kannen der Flugbegleiterinnen würde zum Fenster hinausgesaugt werden, und ich genauso, nachdem das Loch im Rumpf groß genug wäre, daß sich auch mein Sitz nach draußen pressen könnte, und das Flugzeug würde abstürzen, völlig klar, und ich rechne mir die Chancen aus, noch am Leben zu sein, wenn ich auf dem Wasser aufschlage oder vielleicht auch auf dem Land, wir nähern uns schließlich Japan, oder ob ich in der dünnen Luft hier oben vielleicht gar nicht in der Lage wäre, zu atmen, bei den Minustemperaturen. Ich spreize die Beine, sehe zu meinem Nebenmann und beuge mich hinunter, greife nach dem Koffer, ziehe ihn zu mir herauf und lege ihn mir auf den Schoß, ich öffne ihn. Es ist nahezu unnötig, den Inhalt des Koffers zu beschreiben. Er beschränkt sich auf einen Paß und eine alte Zeitung, von letztem Samstag, der einzigen, die ich zu Hause herumliegen hatte, ich dachte einfach, daß ich irgend etwas bei mir haben sollte. Ich nehme den Paß und lese darin. Es ist ein ziemlich neuer Paß, das Bild ist erst sechs Monate alt, aber darauf sehe ich besser aus als jetzt. Mehr Haare. Der Paß ist eine Bestätigung dafür, daß ich geboren wurde. Die Zeitung dafür, daß ich ein engagiertes Mitglied der Gesellschaft bin. Es gibt keine Stempel im Paß, keine besonderen Merkmale, meine Augenfarbe ist falsch, bestenfalls ungenau. Als ob das was zu bedeuten hätte. Ich schließe den Koffer. Ich klappe den Deckel zu, drücke die Riegel herunter, sie schnappen mit einem Klicken in ihre 272
Schlösser, ich drehe an den Zahlenrädern, stelle die Ziffern so ein, daß sie möglichst weit von der richtigen Kombination entfernt sind, ich schaue den Passagier an, er legt die letzte Illustrierte hin, sieht auf die Uhr, das tue ich auch, noch eine halbe Stunde, er seufzt, streckt die Beine aus, starrt ins Leere, klappt den kleinen Tisch vor sich herunter, nur um ihn gleich darauf wieder hochzuklappen. Dann meldet der Kapitän, daß der Anflug begonnen hat. Dann gehen die Lichter an. No smoking. Please fasten seatbelts. Bored. Beyond. Belief. Dann hebe ich meinen Koffer an. Der Passagier sitzt mit den Händen im Schoß da und sieht mich an. Know your personal Jesus. Raise the back of your seat to an upright position and fold your table. Berühren Sie den Bildschirm. Berühr mich. Schick Geld. Schreib nach Hause. Reach out and touch faith. Dann schlage ich die Ecke gegen das Plexiglas, es gibt beim ersten Versuch nach. Ich bin auf dem Weg nach Tokio.
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AUTOREN- UND QUELLENVERZEICHNIS Hans Christian Andersen, 1805-1875, schrieb Gedichte, Romane und Reiseschilderungen, doch erst durch seine Märchen wurde er weltberühmt. »Der große Claus und der kleine Claus« [Lille Claus og store Claus. 1835]. Aus dem Dänischen von Christel Hildebrandt. In: Samlede Eventyr og Historier. Gyldendal, Kopenhagen 1975. Ingeborg Arvola, geboren 1974 in Honningsvåg, schreibt seit ihrem Debüt 1998 für Kinder und Erwachsene. Auf deutsch liegen der Roman »Am Ende der Sehnsucht« und das Jugendbuch »Simon gibt sich nicht geschlagen« vor. »Schaf tötet Bauern« [Sau dreper sauebonde]. Aus dem Norwegischen von Steffen Hahn. In: Livet i et skilpaddeskall og andre historier. © 2000 Cappelen Forlag, Oslo. Majgull Axelsson, geboren 1947 in Nässjö, arbeitete lange als Journalistin und begann zunächst Sachbücher zu schreiben, bis sie mit »Die Aprilhexe« ihren großen Durchbruch hatte und auch den wichtigsten schwedischen Literaturpreis bekam. Außerdem erschienen von ihr auf deutsch »Augustas Haus« sowie der Sachroman »Rosarios Geschichte«. »Die Mörderin« [Mördaren]. Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt. Originalbeitrag. © Majgull Axelsson. Line Baugstø, geboren 1961 in Kristiansand, ist Schriftstellerin und Journalistin. Bisher veröffentlichte sie vier Romane und
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zwei Erzählbände. Auf deutsch erschien ihr Kinderbuch »Tara und der Krempelkobold«. »Fatal Orange« [Fatal orange]. Aus dem Norwegischen von Friederike Buchinger. In: Kvinnen i den lille gondolen. Noveller. © 2002 Forlaget Oktober, Oslo. Arne Dahl ist das Pseudonym des schwedischen Romanautors Jan Arnald, geboren 1963. Er arbeitet für die schwedische Akademie, die jährlich die Nobelpreise vergibt. Als Arne Dahl wurde er in den letzten Jahren mit seinen Kriminalromanen um den Stockholmer Inspektor Paul Hjelm und die Sonderermittler der A-Gruppe bekannt und vom Publikum und von der Kritik begeistert aufgenommen. Nach »Misterioso«, »Böses Blut«, »Falsche Opfer« und »Tiefer Schmerz« erschien zuletzt »Rosenrot«. Arne Dahl erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter zweimal den Deutschen Krimipreis. »Fu chou« [Fu chou]. Aus dem Schwedischen von Maike Dörries. Originalbeitrag. © Arne Dahl. Åke Edwardson, geboren 1953 im småländischen Vrigstad, wo sein Vater eine Konditorei besaß, ist gelernter Journalist und lebt in Göteborg. Mit seinem Kriminalkommissar Erik Winter hat er sich in die Herzen auch der deutschen Leser geschrieben und zählt heute zu den bekanntesten Krimiautoren Schwedens. Zuletzt erschienen auf deutsch sein Roman »Geh aus, mein Herz«, die Erzählungen »Winterland« sowie sein Kinderbuch »Samuraisommer«. »Nie in Wirklichkeit« [Aldrig i verkligheten]. Aus dem Schwedischen von Lotta Rüegger. In: Ulf Örnkloo (Hg.): Noveller för Världens barn. Informationsförlaget, Stockholm 2005. © Åke Edwardson.
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Karin Fossum, geboren 1954 in Sandefjord, lebt in Sylling bei Oslo. Bevor sie mit Gedichten und Erzählungen ihre Karriere begann, arbeitete sie als Krankenschwester in der Psychiatrie. Nach »Evas Auge« und dem mit dem renommierten RivertonPreis ausgezeichneten Bestseller »Fremde Blicke« erschienen auf deutsch ihre Romane »Wer hat Angst vorm bösen Wolf«, »Stumme Schreie«, »Dunkler Schlaf«, »Schwarze Sekunden« und zuletzt »Der Mord an Harriet Krohn«. »Die Säule« [Søylen]. Aus dem Norwegischen von Åse Birkenheier. In: Søylen. Noveller. © 1994 Cappelen Forlag, Oslo. Johan Harstad, geboren 1979 in Stavanger, machte durch zwei Novellenbände von sich reden, seinen großen Durchbruch in Norwegen hatte er mit seinem ersten Roman, der 2006 auf deutsch unter dem Titel »Buzz Aldrin, wo warst du in all dem Durcheinander« erscheint. »Plexiglas« [Pleksi]. Aus dem Norwegischen von Philipp Schneider. In: Ambulanse. Noveller. © 2002 Gyldendal Norsk Forlag, Oslo. Kolbjørn Hauge, geboren 1926 in Ryfylke in Nordnorwegen, begann nach einem Leben als Arbeiter und später als Lehrer erst ein Jahr vor seiner Pensionierung zu schreiben. Sein Krimidebüt erschien 1991. Neben Krimis, für die er auch den anerkannten norwegischen Riverton-Preis 1995 bekam, schreibt er auch Sachtexte und Kinderbücher. »Todesprophezeiung« [Varsel om død]. Aus dem Norwegischen von Christel Hildebrandt. In: Astrid de Vibe und Irene Engelstad (Hg.): Mistanken brer seg. Norske kriminalnoveller. Gyldendal Norsk Forlag, Oslo 1999. © Kolbjørn Hauge.
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Levi Henriksen, geboren 1964, wohnhaft am Elvis Presley Boulevard in Granli bei Kongsvinger, ist Journalist, Musiker, Songschreiber und Schriftsteller. Nach zwei Erzählbänden hatte er 2004 seinen großen Durchbruch mit dem Roman »Bleicher als der Schnee«. »Nur weiche Päckchen unterm Baum« [Bare mjuke pakker under treet]. Aus dem Norwegischen von Ruth Stöbling. In: Bare mjuke packer under treet. © 2005 Gyldendal Norsk Forlag, Oslo. Inger Jalakas, geboren 1951 in Nässjö, arbeitet als Journalistin und Autorin von Fachbüchern sowie von Kinderbüchern in Göteborg. Dies ist auch der Schauplatz ihrer Krimis um die Journalistin Anna Hansson, die zum Teil auf deutsch vorliegen. »Als er endlich kam, war er müde« [När han äntligen kom var han trött]. Aus dem Schwedischen von Dagmar Mißfeldt. In: Svarta diamanter. Elva berättelser om liv och död. Alfabeta, Stockholm 2004. © Inger Jalakas. Margaret Johansen, geboren 1922, ist eine von Norwegens beliebtesten Erzählerinnen. Ihr Schwerpunkt liegt auf Novellen, sie hat aber auch mehrere Romane veröffentlicht. Auf deutsch erschienen die Romane »Damenwalzer« und »Du kannst doch nicht einfach gehen«. »Ein poetisches Rendezvous« [Et poetisk rendevouz]. Aus dem Norwegischen von Dagmar Lendt. Originalbeitrag. © Margaret Johansen. Pia Juul, geboren 1962 in Korser, veröffentlichte ihre erste Gedichtsammlung 1985. Seitdem schreibt sie vorwiegend Gedichte, es sind jedoch auch ein Roman, zwei Novellenbände und Hörspiele von ihr erschienen. Sie gehört zu den bekannte277
sten Lyrikerinnen Dänemarks. 2002 erschien in Deutschland ihre Gedichtsammlung »Augen überall«. »Elverdams Bach« [Elverdams å]. Aus dem Dänischen von Christel Hildebrandt. In: Dengang med hunden. Noveller. © 2005 Tiderne Skifter, Kopenhagen. O1a Klingberg, geboren 1969 in Stockholm, ist Journalist und erregte mit seinem Roman »Onans bok« auch außerhalb Schwedens Aufsehen. Er lebt seit einigen Jahren in New Jersey. Auf deutsch erschien sein Roman »Der Ring«. »Die spanische Tragödie plus« [The Spanish Tragedy+]. Aus dem Englischen von Holger Wolandt. Originalbeitrag. © Ola Klingberg. Lis Vibeke Kristensen, geboren 1943 in Svendborg, hat viele Jahre in Kopenhagen und Schweden als Regisseurin und Dramaturgin am Theater gearbeitet. Sie schrieb Bühnenstücke und Drehbücher und debütierte 1983 als Schriftstellerin. Seitdem hat sie eine Reihe von Büchern geschrieben, auf deutsch erschienen bisher »Ein bretonischer Sommer« und zuletzt »Ein Haus am Ende der Welt«. »Eine kleine Sopranistin« [En lille sopran]. Aus dem Dänischen von Christel Hildebrandt. In: Knælerens sommer. Noveller. Lindhardt og Ringhof, Kopenhagen 1995. © Lis Vibeke Kristensen. Leena Lehtolainen, geboren 1964 in Vesanto, lebt als Kritikerin und Autorin von Jugendbüchern, Kurzgeschichten und Fortsetzungsromanen bei Helsinki. Seit 1993 erscheinen die Kriminalromane mit der attraktiven Anwältin und Kommissarin Maria Kallio, von denen sechs auch auf deutsch vorliegen.
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»Der Weihnachtsengel« [Jouluenkeli]. Aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara. Originalbeitrag. © Tammi, Helsinki. Edda Magnúsdóttir, geboren 1936, lebt in Hóll (Ostisland) und beschäftigt sich neben ihrer Tätigkeit als Autorin mit Zeichenarbeiten und Kunsthandwerk. Auf deutsch sind von ihr bisher Erzählungen in mehreren Anthologien erschienen. »Fischabfälle« [Slor]. Aus dem Isländischen von Dirk Gerdes. Originalbeitrag. © Edda Magnúsdóttir. Margit Sandemo, geboren 1923, ist mit über vierzig Millionen verkaufter Romane die erfolgreichste skandinavische Autorin aller Zeiten, für das deutsche Publikum allerdings noch zu entdecken. Das in der Fangemeinde hartnäckig kursierende Gerücht, sie sei die uneheliche Enkelin von Norwegens erstem Literaturnobelpreisträger, Bjørnstjerne Bjørnson, hat sie bisher weder bestätigt noch abgestritten. »Engel mit versteckten Hörnern« [Ängel med dolda horn]. Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs. In: Ängel med dolda horn. Sagan om isfolket. Boknöje, Helsingborg 1985. © Schibsted, Oslo. Jussi Siirilä, geboren 1967 in Espoo, lebt in Helsinki. Der Diplomchemiker ist schriftstellerischer Autodidakt und debütierte 2000 mit dem Band »Sopuli«. »Meister« [Mestari]. Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat. In: Sopuli. © 2000 Jussi Siirilä und Gummerus Publishers, Helsinki. Johanna Sinisalo, geboren 1958 in Sodankylä, debütierte 1974 als literarische Autorin. Sie schreibt Science-fiction- und Fantasy-Geschichten sowie Drehbücher fürs Fernsehen und für 279
Radiohörspiele. Ihr Roman »Troll« wurde 2000 mit dem Finlandia-Preis ausgezeichnet und liegt auch auf deutsch vor. »Der Rest ist Schweigen« [Loppu hiljaisuutta]. Aus dem Finnischen von Angela Plöger. Originalbeitrag. © Johanna Sinisalo. Birgitta Stenberg, geboren 1932 in Stockholm, war zunächst Dolmetscherin, unter anderem in der Pressestelle des schwedischen Außenministeriums. Seit ihrem Debüt 1956 schrieb sie eine Reihe autobiographisch inspirierter Romane sowie Lyrik und Bücher für Kinder und Jugendliche. Ihr Werk umfaßt bisher gut 25 Titel. 1992 gab sie eine erotische Novellensammlung schwedischer Autoren und Autorinnen heraus. Bisher liegen auf deutsch ein Roman und zwei Kinderbücher vor. »Ein paar Walzerschritte zu Haffners Ehren« [Några valssteg till Haffners ära]. Aus dem Schwedischen von Dagmar Mißfeldt. In: Mats Söderlund (Hg.): Noveller för världens barn. Informationsförlaget, Stockholm 2004. © Birgitta Stenberg. Hanne Marie Svendsen, geboren 1933 in Skagen, zählt zu den bedeutendsten Autorinnen Dänemarks. Zuletzt erschien auf deutsch ihr Roman »Die Frau von den Sternensteinen«, der im 13. Jahrhundert in einem Frauenkloster auf Grönland spielt. »Der Rächer« [Hævneren]. Aus dem Dänischen von Christel Hildebrandt. Originalbeitrag. © Hanne Marie Svendsen. Indriði G. þorsteinsson, 1926-2000, machte durch drei Bände mit Erzählungen von sich reden. Sein Sohn Arnaldur Indriðason war der erste isländische Krimiautor mit internationalem Erfolg. »Was einen Mann im Innersten bewegt« [Lífid í brjósti manns]. Aus dem Isländischen von Dirk Gerdes, durchgesehen von
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Coletta Bürling. In: Andvari, Reykjavik 1967. © Edda, Reykjavik.
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DIE HERAUSGEBERINNEN leben als Übersetzerinnen in Hamburg und haben gemeinsam bereits mehrere erfolgreiche Anthologien herausgegeben. Sie sind nicht nur große Kennerinnen ihres Gebiets, sondern zählen auch zu den maßgeblichen Vermittlerinnen der skandinavischen Literatur im deutschsprachigen Raum. Gabriele Haefs, geboren 1953 in Wachtendonk, schloß ihr Studium in Volkskunde, Sprachwissenschaft, Keltischen Sprachen und Skandinavistik 1982 mit einer Arbeit über »Das Irenbild der Deutschen« ab. Zunächst versuchte sie als Verlagslektorin und Lehrbeauftragte in Hamburg alle Fächer unter einen Hut zu bringen. Seit 1987 ist sie als Übersetzerin von unter anderem Jostein Gaarder, Anne Holt und Ingvar Ambjörnsen tätig. Neben den mit Dagmar Mißfeldt und Christel Hildebrandt herausgegebenen skandinavischen Anthologien hat sie Sammlungen neuer keltischer Autorinnen und walisischer Gegenwartsliteratur herausgegeben. Für ihre Übersetzungsarbeiten wurde sie unter anderem mit dem Deutschen und dem Österreichischen Jugendbuchpreis, dem Akademika-Preis der Universität Oslo und dem Willy Brandt-Preis ausgezeichnet. Christel Hildebrandt, geboren 1952 in Lauenburg, studierte Germanistik, Soziologie und Literaturwissenschaft. Nach dem Lehrerstudium und der Promotion über Frauenliteratur in der DDR wandte sie sich der skandinavischen Literatur zu. Seit 1988 arbeitet sie als freie literarische Übersetzerin aus den Sprachen Norwegisch, Dänisch und Schwedisch. Ihre erste große Übersetzung war »Yesterday« von Lars Saabye Christensen (1989), von dem sie bisher sieben Bücher ins Deutsche übersetzt hat, zuletzt »Der Halbbruder«, für den sie für den 282
Paul-Celan-Preis nominiert wurde. Die Übersetzung von Kim Fupz Aakesons »Ulla und alles« wurde für den Deutschen Kinder- und Jugendliteraturpreis nominiert. Daneben reicht die Palette ihrer Übersetzungen von Henrik Ibsen und Jon Ewo über Håkan Nesser und Jógvan Isaksen bis zu Kim Fupz Aakeson und Hanne Marie Svendsen, von Klassikern über Sachbücher, Kriminalromane bis zu Kinder- und Jugendbücher. Mit ihrem Mann, drei Töchtern und einer Katze lebt Christel Hildebrandt in Hamburg. Dagmar Mißfeldt, 1964 in Hamburg geboren und aufgewachsen, studierte nach vielen Besuchen in den nordischen Ländern die beiden Hauptfächer Skandinavistik und Finnougristik in Hamburg, Göttingen und Turku (Finnland), dort 1989 sowohl an der schwedischsprachigen Åbo Akademi als auch an der finnischsprachigen Turun yliopisto. Der Magister-Abschluß folgte 1993. Heute lebt sie wieder in Hamburg und arbeitet seit 1994 als freie Literaturübersetzerin für Finnisch und Schwedisch sowie Norwegisch und Dänisch und ist Mitherausgeberin und Übersetzerin nordischer Anthologien. Daneben ist sie seit vielen Jahren an der Universität Lüneburg und der Universität Hamburg als Lehrbeauftragte für Schwedisch tätig.
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