John Grey
Pony-Expreß Ronco Band Nr. 200/21
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen...
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John Grey
Pony-Expreß Ronco Band Nr. 200/21
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen Bauarbeiter bei Abbrucharbeiten in einer kleinen Geisterstadt im Süden New Mexicos unter einem ausgebrannten Boardinghouse auf eine zugemauerte Kellernische. Sie fanden darin einen alten Revolver, der noch mit drei Patronen geladen war, ein silbernes US-Marshal-Abzeichen und einen indianischen Ledersack. Der mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierte Sack enthielt fünf mit Lederriemen zusammengeschnürte Bündel alter Schulhefte. Es handelte sich um das Tagebuch eines Mannes, der in der Pionierzeit Amerikas gelebt hat. Dieser Mann ist nicht in die Geschichte eingegangen. Er hat sich auch nicht darum bemüht, Geschichte zu machen. Trotzdem hat er aufgeschrieben, was er erlebt hat. Vielleicht, weil er niemanden hatte, mit dem er über sein Leben sprechen konnte. Er nannte sich RONCO. Wir wissen nicht, ob das sein richtiger Name war. Vielleicht hat er aus Scham oder Stolz seinen Namen verschwiegen. Denn er war ein Outlaw, ein Gesetzloser, der Grund hatte, seinen Namen manchmal zu verschweigen. Obwohl aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, daß er unschuldig in die Mühlen der Behörden geriet und verzweifelt um seine Rehabilitation kämpfte. Aber seine Berichte zeigen mehr: Sie sprengen den Rahmen unserer Vorstellungen von der Pioniergeschichte der USA. Sie schildern diese Zeit wesentlich härter, rauher und wilder, als wir sie bisher gesehen haben. Basierend auf diesen Unterlagen wurde die Romanreihe RONCO gestaltet. Jedoch handelt es sich bei den für die Serie ausgewerteten Aufzeichnungen nur um einen Teil der Tagebücher. Um Ihnen, unseren Lesern, die ganze Geschichte dieses faszinierenden Mannes RONCO offenzulegen, haben wir uns entschlossen, in Abständen von fünf Wochen die Tagebuchaufzeichnungen dieses Geächteten zu veröffentlichen. Bearbeitet von den Autoren der RONCO-Serie. In diesen Romanen erzählt der Mann, der sich RONCO nannte, seine
eigene Geschichte.
Die Hauptpersonen des Romans Ronco – Erreicht das was er sich sehnlichst wünscht er wird PonyExpreß-Reiter – aber damit beginnt der Ärger. Gap Brennan – Zwölf Jahre alt, verliert seine Eltern bei einem Indianerangriff und dreht durch. Max Gothenburg – Verteidigt seine Postkutschen-Station und ist ein Mann aus Eisen. Calvin Downs – Ist wie Ronco Pony-Expreß-Reiter, zwar zäh, aber zu dickschädelig um sehr alt zu werden. Anne Brennan – Zwei Jahre alt, brüllt viel und schweigt nur, wenn sie an einem whiskygetränkten Lappen lutschen kann.
Pony-Expreß 6. August 1879 Ich bin gefangen und sitze in einer Arrestzelle von Fort Bent, Colorado. Die Zelle ist zwei Yards lang und zwei Yards breit. Da sind eine eiserne Tür mit einer schmalen Klappe, durch die das jämmerliche Essen geschoben wird, und ein Fenster, durch das nicht mal eine fette Ratte passen würde, das aber dennoch vergittert ist. Es gibt eine Pritsche in diesem schäbigen Loch und einen stinkenden Kotkübel, der dringend mal gereinigt werden müßte. Sie nennen die Zelle den Affenkäfig. Andere an meiner Stelle würden vermutlich Tobsuchtsanfälle kriegen. Ich nicht. Ich habe mich daran gewöhnt, mit schlimmen Situationen fertig zu werden. Jetzt habe ich eins der Schulhefte auf den Knien. Ich hatte zuletzt darin geschrieben und es unter mein Hemd gesteckt. Man hat es mir nicht abgenommen, und so kann ich meine Geschichte weiterschreiben. Ich schreibe mit dem bleiernen Geschoßkopf einer 45er Patrone, die ich in einer Tasche gefunden habe. Anfangs war das nicht ganz einfach, jetzt habe ich mich daran gewöhnt, und es geht ganz gut. Zuletzt habe ich meine Erlebnisse geschildert, die ich auf meiner ersten Fahrt als Kutschenbegleitmann hatte. Danach passierte nicht viel. Das Leben ging weiter. Ich fuhr ab und zu auf dem Kutschbock mit, wenn Geldtransporte durchgeführt wurden, aber Aufregendes erlebte ich nicht. Als das Jahr 1860 anbrach, wußte bald jeder in St. Joseph, daß die »Russell, Majors and Waddell Company« etwas plante, und als der Schnee schmolz, war es heraus: Die Gesellschaft richtete eine Postreiterlinie ein. Die größte, die es bis dahin je gegeben hatte. Sie sollte bis nach Sacramento in Kalifornien führen, was für mich so weit entfernt lag wie etwa der Mond. Es gab nicht wenige Leute, die Mr. Majors, der das alles eingefädelt hatte, für verrückt erklärten und die meinten, daß es ihm
nicht gelingen werde, auch nur einen einzigen Brief sicher durchzubringen. Aber es war alles gut geplant, und so schien die ganze Sache trotz der unbekannten Wildnis, die weiter westlich wartete, trotz der Indianer, die überall gegen die weißen Eindringlinge kämpften, und trotz der Banditen, die es im ganzen Land gab, ein sicheres Unternehmen zu sein. Überall hingen Plakate aus, auf denen Reiter gesucht wurden. Um die vierzehn Jahre sollten sie sein und reiten und schießen können. Waisen bevorzugt. Das traf alles auf mich zu, und ich sprach mit Cargo Flatt, dem Sicherheitsagenten der Company. Er meinte, was andere könnten, könnte ich auch, und wollte sich für mich verwenden. Hunderte von Jungen in meinem Alter tauchten in diesen Tagen in St. Joseph auf und standen Schlange vor dem Patee House, dem Hauptquartier der Company. Die meisten wurden wieder nach Hause geschickt, aber über hundert durften bleiben und wurden bald mit großen Pferdeherden nach Westen geschickt und auf die vielen Raststationen verteilt, die Mr. Majors am Rande des Trails nach Kalifornien hatte errichten lassen. Es sollten über hundertfünfzig Stationen sein, wurde gesagt, und es wurde überall gemunkelt, daß die Company vor dem Bankrott stehe, wenn das Unternehmen scheitern würde. Am 3. April 1860 sprengte der erste Pony-Expreß-Reiter, ein Junge, nicht älter als ich, dessen Namen ich vergessen habe, über die Main Street von St. Joseph, schwenkte seinen Hut und wurde von Tausenden von Menschen, die sich rechts und links der Straße gesammelt hatten, bejubelt. Eine Fähre brachte ihn über den Missouri ans andere Ufer, von wo er im höllischen Tempo westwärts jagte. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Nachricht erhalten, ob ich ebenfalls als Expreß-Reiter akzeptiert worden war. Ich hoffte inbrünstig, das es klappen würde, ich wünschte es mir mehr als alles andere. Die ersten Reiter wurden wie Helden gefeiert. Sie brachten ihre Post glatt nach Sacramento durch. Ab und zu gab es Zwischenfälle auf der langen Strecke, aber sie konnten dem Unternehmen keinen Abbruch tun. Tagtäglich verließen Reiter St. Joseph und trafen
andere von Westen kommend ein. Aber erst einen Monat später wußte ich, daß ich bald zu ihnen gehören würde …
1. Mein Herz pochte, als ich vor der hohen, eichenen Tür stand, auf der ein poliertes Messingschild mit dem Namen »Alexander Majors« prangte. Ich atmete tief durch, dann klopfte ich an. Eine tiefe Stimme rief: »Herein!« Ich stieß die Tür auf und betrat den Raum. Ich hatte das Gefühl, bis zu den Knöcheln in dem Teppich zu versinken, der den Boden bedeckte. Das große Büro war holzgetäfelt und mit schweren, kostbaren Möbeln ausgestattet. Ich registrierte das alles nur am Rande. Meine ganze Aufmerksamkeit nahm der Mann in Anspruch, der neben einem mächtigen Schreibtisch aus schwarzer Mooreiche stand. Er war ungefähr sechs Fuß groß und sah kräftig aus. Seine Schultern waren breit. Sein Gesicht war schmal geschnitten und hatte strenge Züge. Unter buschigen Brauen blickten mir zwei dunkle Augen entgegen, von denen ein eigenartiges Glänzen ausging, das ich später noch häufiger bei Männern gesehen habe, die von großen Ideen besessen waren. Er war glattrasiert und trug sein Haar straff nach hinten gekämmt und in der Mitte gescheitelt. Sein langer Gehrock war städtisch geschnitten, aus dunkelgrauem Stoff. Darunter trug er ein blütenweißes Hemd und eine schwarze Schnürsenkelkrawatte. Alexander Majors. Ich hatte ihn bisher nur selten gesehen. Meist erschien er sehr früh in seinem Office, bevor die anderen Angestellten ihre Arbeitsplätze aufsuchten, und meist ging er sehr spät, so daß ihn selten jemand zu Gesicht bekam. Bei der Eröffnung des Pony-Expreß hatte ich ihn zum erstenmal etwas länger beobachten können. Er hatte eine Rede gehalten, viel von der Gnade Gottes und von der Zivilisierung des Landes gesprochen und war danach mächtig bejubelt worden. Jetzt stand er vor mir und musterte mich so, daß ich mich klein und häßlich fühlte.
Ich war nicht ganz einen Kopf kleiner als er und ziemlich breit und kräftig für meine vierzehn Jahre. Äußerlich wirkte ich sowieso erheblich älter, denn das Leben, das hinter mir lag, hatte Spuren hinterlassen. Innerlich und äußerlich. Ich war reifer als andere Jungen meines Alters. Mein Gesicht wies einige Falten auf, und ich hatte die Augen eines Mannes. Mein Haar war blond und fiel noch immer, seit der Zeit, die ich bei den Apachen zugebracht hatte, bis auf meine Schultern. Ich trug eine abgeschabte Leinenhose, einfache Schuhe und ein verwaschenes, farbloses Hemd, das offen über meinen Gürtel hing. »Du bist Ronco?« fragte Mr. Majors. Ich beeilte mich, zu nicken. »Jawohl, Sir.« »Ich hoffe, du weißt, wie ehrenvoll die Aufgabe ist, mit der du ab heute betraut wirst.« »Natürlich, Sir.« »Du sollst das Eigentum fremder Menschen befördern, die dafür viel Geld bezahlt haben. Die haben ein Recht darauf, daß du deine Arbeit gut ausführst.« Ich nickte wieder. »Der Weg nach Westen ist lang und hart und mit vielen Versuchungen gespickt. Manchmal wird die Post, die du zu befördern hast, wertvoll sein. Du wirst dich nie an ihr vergreifen, und du wirst verhindern müssen, daß andere sich an ihr vergreifen.« »Ja, Sir«, sagte ich. »Bist du getauft worden, Ronco?« »Ja, Sir«, sagte ich. »Ich bin von Mönchen aufgezogen worden.« »Nun«, sagte Mr. Majors. »Ich habe gehört, daß du lange Zeit unter Heiden zugebracht hast. Hoffentlich hat deine Seele dabei keinen Schaden genommen.« Ich zog es vor, darauf lieber zu schweigen, denn ich wollte ihn nicht verärgern. Ich wußte, daß er ein sehr frommer Mann war, der täglich in die Kirche ging, stundenlang in der Bibel las und jede Ansprache mit einem Gebet beendete. Es hätte zu nichts geführt, wenn ich versucht hätte, ihm zu erklären, daß Indianer keineswegs »Heiden« waren, daß sie ebenfalls ihren Gott hatten, wenn er auch nicht so hieß wie der, an den Mr. Majors glaubte.
»Du bist ab heute Expreß-Reiter«, sagte er. »Ab heute erhältst du jeden Monat einhundertfünfundzwanzig Dollar Lohn. Das ist sehr viel Geld für euch Jungen, und genau wie den anderen sage ich dir, daß du dich damit in acht nehmen und es nicht für sündige Vergnügungen verwenden sollst. Denke immer daran, daß Gott, der Herr, alles sieht, was du tust, und daß er dich eines Tages zur Verantwortung zieht wie jeden von uns.« Ich nickte wieder, und Mr. Majors nahm eine in Leder gebundene Bibel von seinem Schreibtisch. Er reichte sie mir, und ich nahm sie. »Lies jeden Tag darin«, sagte er. »Das stärkt dich und befreit dich von Angst und bösen Gedanken. Wenn du den Weg des Herrn gehst, wird sein starker Arm immer schützend über dir sein.« Er drehte sich um und holte hinter dem Schreibtisch einen nagelneuen Sharps-Karabiner hervor, den er mir ebenfalls in die Hand drückte. »Damit wirst du das dir anvertraute Gut verteidigen«, sagte er. Er langte unter seinen Gehrock und zog einen nagelneuen NavyColt hervor. Die bläulich schimmernde Brünierung glänzte wie eine Speckseite. Er wollte weiterreden, aber ich unterbrach ihn. »Verzeihung, Sir«, sagte ich. »Aber ich möchte meinen Revolver behalten.« Ich zog meinen Navy-Colt unter dem Hemd hervor. Es war eine stark gebrauchte Waffe mit fleckiger Brünierung und ein paar Rostnarben. Der scharfe Geruch von Pulverdampf haftete ihr an, und auf dem zerbeulten Griff war der Stempel »El Moro Prison Guard« zu erkennen, der bewies, daß die Waffe einmal einem Wachtposten in einem Straflager in Colorado gehört hatte. Mr. Majors warf einen Blick darauf, wirkte seltsam berührt und steckte den nagelneuen Revolver wieder weg. »Also gut«, sagte er. Einen Moment wirkte er etwas verwirrt. Ich hatte ihn Wahrscheinlich aus dem Konzept gebracht. »Nichts darf dich aufhalten«, sagte er. »Du reitest so schnell, wie du kannst, denn die Menschen, die sich uns anvertrauen, wollen ihre Post schnell befördert wissen. Gehe hin in Frieden und tue deine Pflicht.« Ich durfte gehen, sagte: »Danke, Sir«, und verließ das Office. Die
Bibel in der Linken, den Sharps-Karabiner in der Rechten schritt ich den Gang hinunter zum Ausgang. Jetzt war ich Pony-Expreß-Reiter, wie ich es mir gewünscht hatte. Dennoch fühlte ich mich nicht ganz glücklich. Eine seltsame Beklommenheit erfüllte mich für einige Minuten. Ich dachte an die Worte von Alexander Majors und begriff, daß mir eine große Verantwortung übertragen worden war. Ich hoffte, daß ich damit fertig werden würde. Als ich auf den Wagenhof hinaustrat, blendete mich die Vormittagssonne. Ich winkte einem der Kutscher zu, der neben einer wuchtigen Concord-Kutsche stand, die gerade abfahrbereit gemacht wurde. »Hat es geklappt?« fragte einer der Stallknechte, als ich die Treppe zu meiner Kammer hinaufstieg, die über den Ställen lag. »Sicher, was denkst du«, sagte ich. In der Kammer wartete Shita auf mich. Er blickte mir aus seinen großen runden Augen entgegen und wedelte mit dem Schwanz. Erwartungsvoll kläffte er mich an. Ich lehnte den Sharps-Karabiner gegen den wackligen Tisch und hockte mich neben Shita auf den Boden. »Hör zu«, sagte ich. Er musterte mich, und ich wußte, daß er jedes Wort verstand. »Wir werden uns jetzt trennen«, sagte ich. »Nicht für lange, aber es muß sein. Ich würde dich gern mitnehmen, aber so schnell kannst du nicht laufen, wie ich reiten muß. Du würdest womöglich unterwegs liegenbleiben, und wegen dir anhalten, das darf ich nicht. Also wirst du hierbleiben. Alle werden sich um dich kümmern, bis ich wieder zurück bin.« Er hatte aufgehört, mit dem Schwanz zu wedeln, und rückte ein Stück von mir ab. Traurig schaute er mich an. Er winselte leise und vorwurfsvoll und fuhr sich unruhig mit der Zunge über die schwarze Nase. »Ja, ich weiß, zum Teufel, es gefällt dir nicht. Mir gefällt es auch nicht. Aber ich muß meine Arbeit tun.« Ich strich ihm über den Kopf. Er duckte sich jedoch, klemmte den Schwanz zwischen die Beine und ging steifbeinig in eine Ecke der Kammer, wo er sich einfach zu Boden plumpsen ließ, den Kopf zwischen die ausgestreckten
Vorderpfoten legte und starr zur Wand blickte, ohne mich weiter zu beachten. »Verdammt noch mal«, sagte ich. »Was ist denn schon dabei? Ich bin ja bald wieder zurück. Stell dich nicht so an. Schließlich bin ich nicht zum Vergnügen auf der Welt. Du willst regelmäßig deinen Knochen. Dafür muß ich schließlich auch was tun.« Er war beleidigt. Da konnte ich nichts tun. Ich kannte ihn. Ich erhob mich und ging zur Tür. Den Sharps-Karabiner nahm ich mit. Er schielte mich an. »Tut mir leid, alter Junge«, sagte ich. Dann ging ich hinaus, und irgendwie war mir nicht wohl zumute, daß ich ihn zurücklassen mußte. Wir waren seit fast einem Jahr zusammen und in dieser Zeit eigentlich nie getrennt gewesen. Shita war mein Freund, einen besseren hätte ich mir nicht wünschen können. Wenn er nicht bei mir war, fehlte etwas. Aber ich konnte ihn wirklich nicht mitnehmen. Ich begab mich in das neu errichtete Expreß-Depot seitlich der Stallgebäude und Remisen. Hier lieferte einmal am Tag ein Clerk die zum Transport aufgegebene Post an, sauber gebündelt und sorgfältig gestempelt. Es waren auf sehr dünnem Papier geschriebene Briefe, denn sie durften nicht schwer sein. Ein Brief bis nach San Francisco kostete fünf Dollar Gebühr, das war ein kleines Vermögen. Der Depot-Agent führte mich zu einer riesigen Landkarte, die neben seinem Schreibtisch an der Wand hing. Hier waren sämtliche Pferdewechselstationen eingezeichnet. Ich hatte eine Strecke von etwas mehr als siebzig Meilen vor mir, die ich im Laufe von höchstens zwölf Stunden zurücklegen mußte. Dann war ich in Rock Creek Station in Nebraska. Dort würde ein anderer Reiter die Post übernehmen und weiterreiten bis Liberty Farm, wo wieder gewechselt wurde. Ich würde mit der Gegenpost zurückkehren. Die größeren, weiteren Ritte durfte ich erst durchführen, wenn ich mich bewährt hatte. Zwar war ich der Meinung, daß ich das längst hatte. Aber es gab keine Ausnahmen. Nachdem ich mir die Route eingeprägt hatte, erhielt ich meine Mochilla, den Spezialsattel, der höchstens halb so schwer wie ein normaler Reitsattel war und viele Packtaschen hatte, die bereits mit fast zwanzig Pfund Post gefüllt waren. Ich schleppte den Sattel mit,
als der Agent mich zu den Pferden führte. Es waren besonders ausgewählte Tiere, die robust, unempfindlich, außergewöhnlich schnell und zäh sein mußten. Zur Eröffnung des Expreß-Dienstes hatte die Company über fünfhundert dieser Tiere angeschafft, die auf die verschiedenen Wechselstationen verteilt worden waren. Ein paar Reiter standen herum, als wir den Stall betraten. Ich kannte sie. Die meisten waren so alt wie ich, sahen aber jünger aus, obwohl auch ihnen anzusehen war, daß sie kein einfaches Leben hinter sich hatten. Ein hagerer, pickelgesichtiger Bursche mit langen schwarzen Haaren, der, wie ich wußte, Johnny Frye hieß, trat auf mich zu, schüttelte mir die Hand und wünschte mir Glück. »Kurz vor Rock Creek mußt du aufpassen«, sagte er. »Da ist so ein verdammtes Tal, lauter Wald, du kannst keine fünfzig Yards weit sehen. Danach viele Hügel. Eine lausige Gegend. Wenn dir jemand an den Kragen will, dann dort. Außerdem ist der Boden weich. Eine Menge Präriehundbauten. Bleib am besten auf der Wagenstraße. Nimm keine Abkürzung.« Ich nickte und bedankte mich. Dann sattelte ich das Pferd, das der Agent mir gab, und ich führte es aus dem Stall. Die Sonne stand bereits hoch. Ich schwang mich in den Sattel. Spätesten, gegen Mitternacht sollte ich in Rock Creek Station sein. Ich hatte mir zum Schutz gegen die Sonne und eventuellen Regen einen Hut aufgesetzt, den ich mir jetzt fest in die Stirn drückte. Den Karabiner schob ich in einen Scabbard. Dann trieb ich das Pferd an, ritt vom Hof und lenkte es zum Hafen hinunter. Ein paar Menschen blieben auf der Straße stehen, als ich vorüberritt. Sie schauten mir nach. Ich fühlte ihre Blicke und genoß es. Ich war aufgeregt, als würde ich meinen ersten Ritt unternehmen. Dabei hatte ich bereits abenteuerlichere und gefährlichere Erlebnisse hinter mir und oft genug Kopf und Kragen riskiert. Dagegen war das, was mir jetzt bevorstand, der reinste Spazierritt – dachte ich. Aber es war einfach ein gutes Gefühl, wieder ein Pferd unter mir zu haben, wieder einmal die große Stadt verlassen zu können, in die Ebene hinausjagen zu dürfen, die Luft der Prärie zu atmen, die nach grenzenloser Freiheit, nach Wildheit und Kraft schmeckte, die mich an die Zeit erinnerte, da ich ein Teil der Wildnis gewesen war, ein
weißer Apache. Ich hörte nicht darauf, was der Fährmann sagte, der mich über den Missouri brachte. Ich hatte es eilig. Und als ich die weite Savanne vor mir sah, beugte ich mich im Sattel vor und trieb mein Pferd an.
2. Seit acht Stunden war ich unterwegs. Gerade ging die Sonne unter. Ich hatte keine Sekunde gerastet, seit ich St. Joseph verlassen hatte. Bis zum Spätnachmittag war ich der ausgefahrenen Wagenstraße gefolgt. Dann war ich ins offene Gelände ausgewichen, wie die Landkarte im Depot in St. Joseph es mir vorschrieb. Lange Zeit war das Land eben und übersichtlich gewesen. Jetzt buckelten sich flache Hügelrücken vor mir, die der glutrote Schein der Abendsonne in mächtige schwelende Aschehaufen zu verwandeln schien. Das Land war menschenleer und still. Ich war allein, nur mein eigener Schatten folgte mir. Ich spürte meinen Körper kaum noch. Die verkrampfte Haltung, in der ich seit Stunden im Sattel saß, hatte ihn fast gefühllos werden lassen. In stetigem Tempo jagte ich dahin. Das Pferd unter mir zeigte keinerlei Ermüdungserscheinungen. Es griff kräftig aus wie bei Beginn des Ritts. Das Hügelland rückte näher. Ich tauchte darin unter. Die Dämmerung wurde immer dichter, ein kühler Wind strich mir entgegen. Nach der brütenden Hitze des Tages war es angenehm. Der Schweiß auf meinem Gesicht trocknete. Die Nacht sank über das Land. Eine schmale Mondsichel spendete bleiches Licht, das mir aber völlig ausreichte, um die Landschaft zu erkennen. Ich ritt Stunde um Stunde. Als ich vor mir das graue Band der Wagenstraße wieder auftauchen sah, das sich in zahllosen Windungen durch das weite Grasland Nebraskas schlängelte, wußte ich, daß ich es nicht mehr weit bis zur Rock Creek Station hatte. Nur wenig später entdeckte ich das Feuer. Ein glutrotes Brandmal stand am Himmel. Flammen fraßen ein häßliches Loch in die schwarze Decke der Nacht. Ich zügelte das Pferd und hatte jäh ein flaues Gefühl im Magen.
Als ich mich im Sattel aufrichtete, verspürte ich einen scharfen Schmerz in meinen steif gewordenen Gelenken. Ich wußte nicht, was das Feuer zu bedeuten hatte, aber instinktiv spürte ich, daß es mich etwas anging. Dort, wo es brannte, mußte die Rock Creek Station liegen. Ich war nie dort gewesen, aber ich war mir ganz sicher. Es hatte schon bei früheren Ritten Schwierigkeiten mit Indianern gegeben, aber die Reiter waren immer damit fertig geworden. Merkwürdig. Ich dachte in diesem Moment nur an Indianer. Daran, daß das Feuer eventuell etwas mit weißen Banditen zu tun haben könnte, glaubte ich nicht eine Sekunde. Für Banditen gab es auf einer Pferdewechselstation nicht viel zu holen, nur die Reiter waren interessant, denn sie trugen die teilweise wertvolle Post bei sich. Für Indianer aber mußten die Raststationen eine Bedrohung darstellen. Sie standen für den Fortschritt der Zivilisation, die die Stämme mehr und mehr aus ihren Jagdgründen verdrängte. Das war etwas, was ich verstand, und wahrscheinlich dachte ich deshalb sofort an einen Überfall von Indianern. Meine Gedanken waren noch die eines weißen Indianers, in vielen Fällen zumindest. Das trennte mich noch immer von der Welt der Weißen, in die ich sonst wieder zurückgefunden hatte. Ich war nicht traurig darüber. Ich überlegte, ob ich weiterreiten sollte. Dann besann ich mich auf meine Aufgabe. Egal was geschah, ich hatte in jedem Fall weiterzureiten und alles zu versuchen, die mir anvertraute Post durchzubringen. Ich beugte mich wieder im Sattel vor und trieb das Pferd an. Es verfiel rasch wieder in seinen gewohnten Laufrhythmus. Dumpf hämmerten seine Hufe auf dem harten Boden des Wagenweges. Das Feuer vor mir war fast so etwas wie ein Wegweiser. Es wurde etwas kleiner, blieb aber gut zu sehen, bis die Station am Rock Creek vor mir auftauchte. Da wußte ich, daß ich mich nicht geirrt hatte. Brennende Ruinen waren alles, was von ihr übriggeblieben war. * Ich durchritt die Furt des Rock Creek ein Stück unterhalb der Station.
Schäumende Gischt spritzte unter den Hufen meines Pferdes auf. Als ich es die Uferböschung hinauftrieb, sah ich den ersten Toten. Er lag am Rand des Hofes der Station, unmittelbar neben einem Korral, dessen Gattertor eingerissen worden war. Er lag mit dem Gesicht nach unten am Boden. Die linke Hand war noch im Tode um die unterste Korralstange gekrampft, die Rechte hatte sich in den Staub gekrallt. Der gefiederte Schaft eines Pfeiles ragte aus dem Rücken des Mannes. Das Hemd war dunkel von Blut. Die Indianer waren verschwunden. Auf dem Hof hielt ich das Pferd an und rutschte aus dem Sattel. Erst jetzt wurde mir bewußt, wie erschöpft ich war. Ich fühlte mich leer und ausgebrannt. Ein Ritt von fast zwölf Stunden lag hinter mir. Zwölf Stunden ohne Pause im Sattel. Ich verspürte Hunger und Durst und hatte mich schon auf das weiche Bett der Station gefreut. Davon konnte jetzt keine Rede mehr sein. Eine Wand des brennenden Stalles war noch nicht zusammengestürzt. Dort stieß ich auf die Leiche eines jungen Burschen, vermutlich des Postreiters, der mich ablösen sollte. Der tanzende, flackernde Feuerschein verlieh ihm etwas unheimlich Lebendiges. Er lehnte mit dem Rücken an der Stallwand. Eine Kriegslanze hatte ihn durchbohrt und gegen das Holz genagelt. Sie hatten auch mit ihren Pfeilen auf ihn geschossen. Unweit von ihm entdeckte ich eine Frauenleiche. Es waren Cheyennes gewesen. Ich war ganz sicher. Die Fiederung der Pfeilschäfte verriet es, und hier, im südlichen Nebraska, hatten sie noch ihre Jagdgründe. Als ich im vorigen Jahr als Begleitmann in einer Kutsche mitgefahren und zum erstenmal in Nebraska gewesen war, hatte es bereits Zusammenstöße mit ihnen gegeben. Es war damals das erstemal gewesen, seit ich von einem weißen Waffenschmuggler von den Apachen verschleppt worden und zwangsweise wieder in die Welt der Weißen zurückgebracht worden war, daß ich wieder gegen Indianer gekämpft hatte. Die Cheyennes waren mir fremd gewesen, aber sie hatten die gleiche Hautfarbe wie jene, denen ich mich einmal zugehörig gefühlt hatte, die mich einst in die Geheimnisse der Wildnis eingeführt und mich gelehrt hatten, zu kämpfen und zu überleben. Die Sache hatte
mir damals einiges Kopfzerbrechen bereitet. Aber ich hatte begriffen, daß ich mir in diesem Land Gewissensbisse dieser Art nicht leisten durfte. Ich mußte gegen jeden kämpfen, der mein Leben bedrohte. Das war die Regel. Ich ging auf dem Hof umher. Der Wind wurde stärker und drückte den Rauch herunter. Er wirbelte glühende Ascheteilchen zum Flußufer. Ein paar trafen mich im Gesicht, und ich schrie auf vor Schmerz. Rasch lief ich zum Brunnen hinüber, zog einen Eimer mit Wasser herauf, kühlte meine Wangen und wusch mir den Schweiß ab. Krachend brach hinter mir die letzte Stallwand zusammen. Der Tote mit der Lanze in der Brust wurde von den glühenden Trümmern begraben. Ein Funkenregen stieg auf. Ich konnte nichts mehr tun. Die Cheyennes hatten ganze Arbeit geleistet. Sie hatten die Pferde der Station mitgenommen und offenbar auch alles andere, was sie verwerten konnten. Ich ging zurück zu meinem Pferd und nahm es am Zügel. Es stand mit hängendem Kopf da und atmete geräuschvoll. Es sah verdammt müde aus. Fast zwölf Stunden war es ununterbrochen galoppiert. Es hatte alles gegeben, was an Kraft und Ausdauer in ihm steckte. Ich strich ihm durch die Mähne und führte es hinunter zum Fluß. Hier rupfte ich Grasbüschel aus, nachdem ich ihm den Sattel abgenommen hatte, und rieb sein schweißbedecktes Fell trocken. Dann ließ ich es saufen. Nachdenklich hockte ich mich zu Boden. Was erwartete mich, wenn ich weiterritt. Was sollte ich tun, wenn Indianer auftauchten? Das Pferd war erschöpft. Bis zur nächsten Station waren es abermals fast sechzig Meilen. Sechzig Meilen durch ein Land, das ich nicht kannte. Einmal dachte ich daran, umzukehren. Aber nur sehr kurz. Ich war erledigt, wenn ich das tat. Es gab kein Zurück. Hinter mir sank das Feuer in sich zusammen. Der scharfe Brandgeruch hing zäh in der Luft. Der Wind vermochte nicht, ihn zu vertreiben. Ich erhob mich, hob die Mochilla auf und legte sie dem Pferd wieder auf den Rücken. Es war ein gutes Tier. Es schnaubte nur
leise, und es klang vorwurfsvoll. Ich sagte: »Tut mir verdammt leid, mein Lieber. Aber ich kann schlecht zu Fuß weitergehen und mir den Sattel selbst auf den Buckel binden. Du kannst auch nicht allein hierbleiben. Die Burschen in St. Joseph würden mir schön was erzählen, wenn ich ohne dich zurückkehrte. Die sind bei so was sehr eigen, weißt du. Ich bin auch hundemüde, aber wir müssen einfach weiter. Es geht nicht anders, klar?« Es schnaubte abermals. Ich zurrte die Sattelgurte fest, stieg auf, lenkte das Pferd wieder die Uferböschung hinauf und ritt über den Hof der Station, vorbei an den Toten und den Ruinen. Ich ritt jetzt langsam, denn ich wollte das Tier nicht zu Tode hetzen. Die Prinzipien des Expreß-Dienstes galten jetzt nicht mehr. Schnelligkeit war jetzt unwichtig, wichtig war, daß ich sicher mit der Post mein Ziel erreichte. Mein Ziel? Ich wußte nicht einmal genau, wo das war. Die nächste Station nannte sich Liberty Farm. Ich hatte mir ihre Lage auf der Karte gut eingeprägt. Dennoch würde es nicht einfach sein, sie zu finden, denn ich kannte das Land nicht. Es mußte jetzt Mitternacht sein. Wenn ich die Kräfte des Pferdes gut einteilte, konnte ich gegen Mittag des nächsten Tages Liberty Farm erreichen. Das Hügelland, von dem die Rock Creek Station umgeben wurde, öffnete sich vor mir. Im silbrigen Mondlicht sah ich eine tellerartige Ebene vor mir liegen, die im Süden von einem langgestreckten düsteren Waldgürtel begrenzt wurde. Nach Norden hin war sie völlig offen und schien in einer finsteren Unendlichkeit zu versinken. Ich ritt auf die Ebene hinaus. Fast gleichzeitig sah ich die Indianer. Es war unmöglich, auszuweichen. Es hatte auch keinen Sinn, umzudrehen und zu versuchen, irgendwo Deckung zu finden. Auch sie hatten mich bereits entdeckt und lenkten ihre Ponys in meine Richtung. Sie waren zu dritt. Ich vermutete, daß es sich um Kundschafter handelte, während die anderen Krieger irgendwo in der Nähe rasteten.
Ich bemühte mich, so ruhig wie möglich zu bleiben, ließ aber den Sharps-Karabiner im Scabbard stecken und rührte auch meinen Revolver nicht an. Ich ritt einfach weiter, als seien sie gar nicht da. Bis sie unmittelbar vor mir ihre Pferde zügelten, mir den Weg versperrten und mich damit zum Halten zwangen. Wir musterten uns schweigend. Die drei waren noch jung. Sie hatten Wildlederhosen mit langen Fransen an den Nähten an. Einer trug lediglich eine Lederweste über dem breiten Oberkörper, die seine mächtigen, muskulösen Arme freiließ. Der zweite trug einen bestickten Fellumhang, und der dritte hatte eine hüftkurze Armeejacke angezogen, die vermutlich von einem toten Soldaten stammte. Auf den Ärmeln waren zwei gelbe Streifen aufgenäht. Der Mann trug außerdem einen etwas zerbeulten Zylinder auf dem Kopf. Die beiden anderen hatten Federn im Haar stecken, das sie alle drei zu Zöpfen geflochten hatten. »Hokahey, Weißauge«, sagte einer in kehligem, schwer verständlichem Englisch. »Du Ponyreiter?« Er grinste breit, auch die anderen grinsten und musterten mich, als wollten sie mich gleich am Spieß braten und mit Haut und Haaren verspeisen. Wie schon im vergangenen Jahr, als ich zum erstenmal CheyenneKriegern gegenübergestanden hatte, fiel mir auch diesmal wieder auf, wie groß der Unterschied zwischen ihnen und den Apachen war, deren Stammesbruder ich gewesen war. Apachen waren meist klein, stämmig und gedrungen. Sie hatten breitflächige Gesichter und schmale, leicht schrägstehende Augen. Diese Krieger vor mir waren durchweg hochgewachsen und athletisch gebaut. Sie hatten ovale, gut geschnittene Gesichter mit markanten Zügen. Ich überlegte fieberhaft, was ich sagen sollte. Alles hing davon ab, wie ich mich jetzt verhielt. Ich hätte nur eine Chance, wenn es mir gelang, sie zu überrumpeln. Dazu aber mußte ich sie erst einmal ablenken und sie verblüffen. Ich kannte mich aus mit Indianern. Mochten sie sich auch äußerlich noch so sehr unterscheiden, in vielen Dingen waren sie sich ähnlich. So, als hätte ich die Worte des Kriegers gar nicht gehört, griff ich
zu einer Tasche meiner Mochilla und zog die in Leder gebundene Pony-Expreß-Bibel heraus, die ich von Mr. Majors erhalten hatte. Mir stand der Schweiß in dicken Tropfen auf der Stirn, aber ich ließ mir meine innere Erregung nicht anmerken. Als ich kurz hochschielte, sah ich, daß mein seltsames Benehmen bereits Wirkung zeigte. Die drei Krieger beobachteten mich erstaunt und sichtlich neugierig. Ich klappte die Bibel blindlings auf und hoffte nur, daß es mir gelingen würde, die Aufmerksamkeit der Cheyennes lange genug abzulenken. Erst jetzt sah ich, daß ich die Bibel beim Psalter aufgeschlagen hatte. Der einhundertvierzigste Psalm befand sich direkt vor meiner Nase. Ich überlegte nicht lange, sondern begann mit dröhnender Stimme, einer Stimme, die nicht mir zu gehören schien, zu lesen. »Errette mich, Herr, von den bösen Menschen, behüte mich vor den frevelnden Leuten, die Böses gedenken in ihrem Herzen und täglich Krieg erregen!« Ich schrie geradezu, hielt die Bibel in der Linken und fuchtelte mit der Rechten drohend in der Luft herum. Die Krieger waren tief beeindruckt. Ich sah es an ihren erstarrten, ernsten Gesichtern und geweiteten Augen. Vor meinen Blicken verschwammen die Buchstaben, begannen die Zeilen zu tanzen. Ich versuchte, weiterzulesen. Es gelang mir nicht. Ich stotterte ein wenig, und plötzlich war der Krieger mit dem Zylinder neben mir, beugte sich im Sattel vor und riß mir die feine, nagelneue Bibel aus den Händen. Er blätterte darin herum, schnüffelte daran wie ein Hund an einem Knochen und stieß dann ein lautes Gelächter aus. »Du, Ponyreiter!« Er lachte und tippte sich mit dem Zeigefinger der Linken an die Stirn. Dann riß er plötzlich mehrere Seiten aus der Bibel, zerknüllte das Papier, zog sein Messer und spießte die Bibel auf. Er wirbelte sie hoch über seinen Kopf und lachte dröhnend. Ich fand das gar nicht komisch, aber ich hatte mein Ziel erreicht. Die beiden anderen Krieger lachten ebenfalls und starrten nur auf die Bibel, nicht auf mich. Ich zog meinen Navy-Colt unter dem Hemd hervor und schoß, ohne zu zögern.
Die dumpfe Detonation hallte durch die Nacht. Sie übertönte das Lachen der Cheyenne-Krieger. Der Bursche mit dem Zylinder war tödlich getroffen, als er rücklings aus dem Sattel stürzte. Er ließ meine Bibel fallen und begrub sie unter sich, als er am Boden aufschlug. Da hatte ich den Revolver schon herumgeschwenkt und schoß den zweiten Krieger aus dem Sattel. Die Kugel erwischte ihn eine Handbreit über der Gürtelschnalle. Er schnaufte laut, als er ganz langsam nach hinten kippte. Sein Pferd stieg vorn steil hoch, und er rutschte nach hinten ab. Als das Pferd durchging, wurde der Krieger von den Hufen getroffen. Er wälzte sich durch das Gras und stieß ein geradezu tierisches Gebrüll aus. Ich spannte abermals den Hammer des Revolvers und duckte mich gleichzeitig im Sattel. Mein Pferd scheute, und das rettete mir das Leben. Der dritte Indianer schoß aus einer altertümlichen Steinschloßpistole auf mich. Das Geschoß strich sengend an meinem Kopf vorbei. Ich hatte einige Mühe, mein Pferd zu beruhigen, und der dritte Krieger hatte Gelegenheit, seinen Tomahawk aus dem Gürtel zu reißen und auf mich loszugehen. Ich feuerte und traf sein Pferd in den Kopf. Es brach wie vom Blitz getroffen zusammen. Der Krieger vermochte sich nicht rechtzeitig aus dem Sattel zu werfen. So wurde sein linkes Bein unter dem Pferdeleib festgeklemmt. Er konnte sich nicht erheben. Dafür schleuderte er mit einem Wutschrei seinen Tomahawk, aber hinter dem Wurf steckte zuwenig Kraft. Das Beil trudelte an mir vorbei. Ich trieb mein Pferd an und ritt den Mann nieder, den ich in den Bauch geschossen hatte und der sich gerade wieder erheben wollte. Die breite Brust meines Pferdes rammte ihn mit voller Wucht und wirbelte seinen Körper ein paar Schritte weit durch die Luft. Sein gellendes Geschrei brach ab. Er plumpste wie ein nasser Sack zu Boden und blieb reglos liegen, während ich mich weit im Sattel vorbeugte und über die Ebene westwärts sprengte.
3. Sie jagten mich. Der Kriegerverband, dem die drei Kundschafter
angehört hatten, mußte in der Nähe gerastet haben. Offenbar waren die Krieger nach dem Überfall auf die Rock Creek Station nicht mehr sehr weit geritten, um die Beute zu verteilen. Jetzt waren sie hinter mir her. Knapp eine halbe Stunde nach dem Kampf mit den drei Cheyennes hatte ich sie bemerkt. Es war eine ganze Horde. Fünfzehn oder vielleicht sogar zwanzig Krieger. Als ich einmal auf einem Hügelrücken angehalten und zurückgeschaut hatte, hatte ich sie gesehen. Meine Chancen standen schlecht. Das Pferd würde eine Verfolgungsjagd nicht lange durchhalten. Ich auch nicht. Ich war übermüdet, und in meinem Magen wühlte der Hunger. Meine Chance war die Nacht, war die Hoffnung, daß die Cheyennes die Gebräuche des Pony-Expreß kannten und vermuteten, daß die Expreß-Reiter immer denselben Trail benutzten. Sie würden annehmen, daß ich schnurgerade nach Westen reiten würde wie alle Pony-Expreß-Reiter, die diesen Weg benutzten, wenn sie Rock Creek Station verlassen hatten. Sie würden sich nicht damit aufhalten, den Boden nach Spuren abzusuchen. Wenn ich die vorgeschriebene Route verließ, würden sie es wahrscheinlich zunächst einmal gar nicht merken. Zumindest so lange nicht, wie ich benötigte, um einen guten Vorsprung herauszuholen. In einer Bodenfurche zog ich das Pferd herum und ritt nach Norden. Es war nur eine vage Hoffnung, die Cheyennes damit abschütteln zu können, aber es war die einzige Hoffnung, die mir blieb. Ich lag fast flach auf dem Pferdehals. »Lauf«, flüsterte ich, und mußte mich zusammenreißen, um dem ausgepumpten Tier nicht die Absätze in die Weichen zu hämmern. »Lauf, solange du kannst. Sie dürfen nicht merken, daß wir nicht mehr nach Westen reiten.« Die Bodenfalte war lang, und als ich gezwungen war, sie zu verlassen, bot sich mir eine Hügelkette als Deckung an. Die ganze Zeit über redete ich auf das Pferd ein. Ich fluchte, schmeichelte, bettelte und lobte. Ich nahm alle erdenklichen Haltungen an, um dem Tier meine Last zu erleichtern. Ich versuchte
alles, nur damit es durchhielt. Es hielt durch. Schaumflocken flogen von seinem Maul, als nach ein oder zwei Stunden ein Waldgebiet vor uns auftauchte. Seine Flanken waren schweißbedeckt. Ich ritt noch bis zum Waldrand, dann hielt ich an und rutschte steifbeinig aus dem Sattel. Meine Augen schmerzten. Sie waren mir während des Ritts immer wieder zugefallen. Es fiel mir schwer, sie weiter offenzuhalten. Ich spähte über die flache Savanne nach Süden. Wie lange ich so dastand und durch die Nacht starrte, bis in der Ferne die Hügelkette vor meinen Blicken zu tanzen begann, wußte ich nicht. Als meine Augen zu tränen begannen, senkte ich den Kopf und wandte mich ab. Alles blieb ruhig. Ich hatte es geschafft. Meine Verfolger mußten weiter nach Westen geritten sein. Sie hatten nicht gemerkt, daß ich nicht mehr vor ihnen war. Vermutlich würden sie es erst bei Tagesanbruch feststellen, dann zurückreiten und meine Spur suchen. Aber bis dahin hatte ich noch lange Zeit. Ich nahm das Pferd am Zügel und zog es hinter mir her, als ich das dichte Gehölz am Waldrand durchbrach und ins Unterholz eindrang. Auf einer Lichtung blieb ich stehen und nahm dem Tier die Mochilla ab. Das Tier blieb mit hängendem Kopf stehen. Seine Flanken zitterten. Es mußte erst wieder zur Ruhe kommen. Ich konnte von Glück sagen, wenn es nicht zusammenbrach. Ich ließ mich ins Moos sinken und legte den Kopf auf die Mochilla. Es vergingen nur wenige Sekunden, bis ich eingeschlafen war. * Der Morgennebel hing wie nasse Watte zwischen dem Unterholz. Der hatte sich wie der schmutziggraue Baldachin eines großen Bettes über der Lichtung ausgebreitet. Es war kalt, und die Luft war klamm. Fröstelnd richtete ich mich auf. Ich fühlte mich miserabel, noch immer müde, und ich hatte das Gefühl, keinen heilen Knochen mehr im Körper zu haben. Jede Bewegung tat mir weh. Meine Glieder, Sehnen und Muskeln waren völlig verkrampft. Mein Magen knurrte.
Das Pferd stand bereits am Ostrand der Lichtung und zupfte an den Spitzen des hohen Grases. Ich nahm einen Schluck aus der kleinen Feldflasche, die an der Mochilla hing. Es war ein jämmerlicher Wasservorrat, aber er war ja auch nicht für Situationen gedacht wie die, in der ich jetzt steckte. Ich fand ein paar Walderdbeeren und aß sie. Mit meinem Messer grub ich ein paar Wurzeln aus und verzehrte auch sie, obwohl sie scheußlich bitter schmeckten. Aber ich wußte, sie waren nahrhaft und genießbar. Danach ging ich zu meinem Pferd hinüber. Es hob kurz den Kopf und schnaubte leise. Ich klopfte ihm auf den Hals und tätschelte seine Nüstern. Es wirkte völlig ausgeruht und nicht im geringsten mehr erschöpft. Ich wußte nun eins mit Bestimmtheit: auf dieses Tier konnte ich mich in jeder Situation verlassen. Es verfügte über enorme Energien, große Zähigkeit und absolute Zuverlässigkeit. Mehr konnte ich nicht verlangen, und das war in meiner Lage schon eine ganze Menge. Ich schleppte die Mochilla heran und sattelte das Pferd. Dann stieg ich auf und lenkte es durch das dichte Unterholz zum Waldrand. Bevor ich aus dem Schutz des Waldes auf die Ebene hinausritt, beobachtete ich eine Weile das Land im Süden. Kein Mensch war zu entdecken. Ich hatte wirklich Glück gehabt. Ich trieb das Pferd aus dem Wald und ritt südwestwärts. Es galt jetzt, Liberty Farm zu erreichen, ohne erneut mit Cheyennes aneinander zu geraten. Als im Osten die Sonne aufging und sich die letzten Nebelschwaden auflösten, war ich bereits zwei oder drei Meilen geritten und sah wieder Indianer. Ich befand mich auf einer von dichtem Strauchwerk bewachsenen Erhebung und spähte hinunter in ein Tal, das von einem Trampelpfad fast genau in der Mitte durchschnitten wurde, einem Pfad, der an einem kleinen Wasserloch vorbeiführte, an dem die Indianer offenbar gerastet hatten. Rasch zog ich das Pferd herum, sprang aus dem Sattel und verbarg mich hinter einem Doughwood-Strauch. Die Cheyennes unter mir brachen gerade auf. Der Wind stand gegen mich und trug mir dann und wann ein paar Wortfetzen herauf, die ich nicht verstand. Ich nahm auch den intensiven, strengen
Geruch von ranzigem Büffelfett wahr, mit dem sie sich zum Schutz gegen die stechende Sonne einrieben, eine Sitte, die ich auch bei den Apachen kennengelernt hatte, wenn sie dort auch seltener anzutreffen war. Nirgends sah ich Squaws oder Kinder. Es war ein Kriegslager. Die Männer hatten sich die Gesichter bemalt, einige auch die Oberkörper. Sie führten Schilde aus Büffelhaut mit sich, Lanzen, Pfeile und Bogen und auch ein paar Schußwaffen. Die meisten trugen Federn im Haar. Sie saßen in einfachen Holzsätteln. Ich war sicher, daß es nicht jene waren, die mich in der Nacht verfolgt hatten. Sie rückten ostwärts ab. Sie ritten hintereinander, angeführt von einem großen Mann in prächtiger Büffelrobe. Am Schluß des Zuges trotteten ein paar Packtiere mit, die offenbar mit Beutestücken beladen waren. Der Krieger, der sie führte, hatte an seiner Lanzenspitze eine bunte Stoffpuppe hängen. Sie verließen das Tal und schwenkten etwa eine halbe Meile östlich nach Süden. Dann verschwanden sie zwischen grasbewachsenen Hügelbuckeln. Ich verließ meine Deckung, schwang mich in den Sattel und ritt ins Tal hinunter. Am Wasserloch hielt ich an. Ich füllte meine Feldflasche neu auf und suchte den Lagerplatz nach Essensresten ab. Ich fand nichts. Nur ein paar abgenagte Knochen. Mir hing der Magen bis auf die Knie, als ich wieder in den Sattel stieg. Jagdbares Wild hatte ich bisher nirgends entdeckt. Wahrscheinlich hätte ich auch gar nicht gewagt, zu schießen, denn überall konnten Indianer stecken, die ein Schuß alarmiert hätte. Ich hoffte, Liberty Farm bis zum Abend zu erreichen und mir dort den Bauch vollschlagen zu können. Als ich das Tal in südwestlicher Richtung verließ, war das Land leer und still. * Die Station lag vor mir in der Dämmerung. Es erschien mir fast wie ein Wunder, daß ich sie noch gefunden hatte. Die Sonne stand schon sehr tief, und die Schatten waren lang. In
der Station brannte kein Licht. Unwillkürlich ritt ich schneller, denn der Hunger war kaum noch zu ertragen, und das Pferd mußte endlich in einen Stall. Die Liberty Farm war erheblich größer als es die Rock Creek Station gewesen war. Ich zählte vier Gebäude und mehrere Korrals. Am Hofeingang waren zwei hohe ungeschälte Baumstämme in den Boden gerammt worden. Zwischen ihnen war ein Schild aufgehängt worden, ein rohes Brett, in das der Name der Station eingebrannt worden war. Seitlich der Farm war ein Maisfeld angelegt worden. Die Stauden waren jetzt noch recht klein und grün. Ein Windstoß strich unvermittelt über die Savanne und bewegte ein halb offenstehendes Scheunentor. Es quietschte leise in den Angeln. Ich stieg auf dem Hof aus dem Sattel und führte das Pferd zur hölzernen Tränke neben dem Brunnen. Ein seltsames Gefühl packte mich, ich konnte es nicht erklären. Das ganze Anwesen machte einen so leblosen Eindruck auf mich, als sei es schon lange nicht mehr bewohnt. Langsam ging ich über den Hof. Da erst sah ich, was die Dämmerung bis jetzt verborgen hatte. Eins der Fenster in der Vorderfront des Hauptgebäudes war zerbrochen. Unmittelbar daneben ragte ein gefiederter Pfeilschaft aus der Wand. Ich entdeckte jetzt mehrere Pfeile. Sie steckten im Dach und auch in der Haustür, aber hier waren die Schäfte abgebrochen worden. In meinem Magen schien sich ein eiskalter Klumpen zu bilden. Ich griff unter mein Hemd und zog den Navy-Colt aus dem Hosenbund. Dann stieß ich mit einem Fußtritt die nur angelehnte Haustür auf. Sie schwang nach innen und schlug gegen die Wand des Gangs, der dahinter lag. Ich zögerte einen Moment, dann trat ich ein. Auf der Schwelle blieb ich stehen, um mich an die Dunkelheit im Innern des Hauses zugewöhnen. Dann ging ich weiter. Eine Tür im Gang stand offen. Ich warf einen Blick in die Kammer. Es mußte sich um den Aufenthaltsraum gehandelt haben. Er war nicht sonderlich groß, war aber gemütlich eingerichtet
gewesen. Eine mit buntem Stoff bezogene Couch lag umgekippt am Boden. Die Polster waren aufgeschlitzt und die Füllung herausgequollen. Ein Stuhl und ein Tisch waren ebenfalls umgestürzt. Ich ging weiter. Hinter der nächsten Tür fand ich einen Toten. Es war ein Mann von höchstens vierzig Jahren mit struppigem Bart. Er lag auf dem Rücken, hatte Arme und Beine von sich gestreckt. Sein Mund stand weit offen, genau wie seine Augen. In seiner Brust war eine Tomahawkwunde. In der Küche lag das Geschirr zerbrochen am Boden. Die anderen Zimmer waren leer. Mutlosigkeit erfaßte mich. Ich ließ den Revolver sinken und trottete müde zurück zur Haustür. Als ich auf den Hof trat, verglühte gerade im Westen hinter den Wäldern die Sonne. Sie verwandelte hohe Tannenspitzen in lodernde Flammen und färbte die Schatten kupfern. Einen Moment überlegte ich, was ich tun sollte. Ich brauchte Schlaf, auch das Pferd brauchte Ruhe. Vermutlich gab es noch ein paar Lebensmittel im Haus. Es sah nicht so aus, als ob die Indianer sehr gründlich gesucht hätten. Ich beschloß, zu bleiben. Ein leises Scharren im Staub ließ mich herumfahren. Ich sah, wie sich das letzte Tageslicht auf dunklem Metall spiegelte. Augenblicklich ließ ich mich fallen. Ein Schuß krachte. Unweit von mir schlug das Geschoß in den Boden und zauberte eine Staubfontäne in die Höhe. Ich wälzte mich herum und riß den Colt hoch. Meine Kugel bohrte sich in die Hausecke, von der aus der Schuß gefallen war. Ich sprang auf, hetzte mit langen Sätzen über den Hof zu einem der Stallgebäude hinüber und sah im selben Moment einen schmalen Schatten hinter dem Haus verschwinden. Ich zögerte nicht, umrundete das Haus und warf mich mit pantherhaftem Sprung hinter eine alte Regentonne, die an der Rückseite des Hauptgebäudes stand. Unmittelbar vor mir hockte ein Junge von höchstens zwölf Jahren mit einem Sharps-Karabiner im Arm. Er versuchte verzweifelt, die Waffe neu zu laden. Aber eine Papierpatrone war ihm bereits
geplatzt. Das Pulver war in den Staub gerieselt, und jetzt bemühte er sich mit zitternden Händen, ein Zündhütchen auf den Pistonstift zu setzen. Ich richtete mich auf und zielte mit dem Navy-Colt auf ihn. »Laß das Gewehr fallen und steh auf«, sagte ich. Sein Kinn klappte herunter. Er verlor das Zündhütchen, das er gerade in der Hand hielt, und riß sofort beide Hände über den Kopf. Der Karabiner fiel in den Staub. Langsam richtete sich der Junge auf. Er starrte mich aus riesengroßen Augen an.
4. Mit hängenden Schultern stand der Junge vor mir. Er wirkte kindlich gegen mich. Er war mager und trug ein viel zu großes Hemd. Dafür waren seine Hosen löchrig und zu kurz. An den Füßen trug er primitiv gefertigte Sandalen. Sein Gesicht war schmal. Eine widerspenstige Tolle seines braunen Haares fiel ihm in die Stirn. Sommersprossen bedeckten seine Wangen und seine Nase. »Wer bist du?« fragte ich. Er starrte mich eine Weile stumm an. Verwirrung und Angst spiegelten sich in seinen Augen. »Ich bin Gap«, sagte er. »Gap was?« fragte ich. »Gap Brennan«, sagte er. Mir dämmerte plötzlich etwas, obwohl ich den Namen nicht kannte. »Du gehörst hier auf die Station?« »Mein Vater …«, sagte er, dann konnte er nicht weiterreden. Er schluckte und senkte den Kopf. Ein paar Tränen rannen aus seinen Augen. »Dein Vater war der Stationer?« Er nickte. »Wir gehen besser rein«, sagte ich. Ich kam mir plötzlich mit dem großen Revolver in der Faust etwas lächerlich vor. Ich steckte ihn in den Gürtel, hob den Sharps-Karabiner auf und drückte ihn dem
Jungen in die Hand. »Geh schon vor«, sagte ich. »Ich stell das Pferd in den Stall. Wir reden später.« Er nickte wieder und ging vor mir her. Ich holte das Pferd und führte es in eins der Stallgebäude. Die Boxen waren alle leer, also stellte ich es in die erste, nahm ihm die Mochilla ab, rieb es dann gründlich mit Stroh ab und schüttete reichlich Hafer in die Krippe. Es hatte gute Behandlung wahrlich verdient. Als ich später mit der Mochilla auf der Schulter zum Haus ging, war es Nacht. Ein paar Sterne glitzerten am Himmel. Der Mond wurde von einer großen Wolke verborgen. Ich tappte durch den finsteren Gang und fand Gap Brennan in der Küche. Er saß zusammengesunken wie ein Häufchen Elend auf einem Stuhl neben der kalten Feuerstelle. Sein Gewehr lag auf dem Tisch. Daneben stand ein Talglicht, dessen Flämmchen tanzende Schatten auf das bleiche Gesicht des Jungen warf und es noch magerer und knöcherner erscheinen ließ. »Wann waren sie da?« fragte ich. Ich setzte mich und stellte meinen Karabiner zwischen meine Beine. »Die Indianer?« »Wer sonst?« »Gestern morgen«, sagte er. Er schaute mich nicht an, sondern blickte an mir vorbei zum Küchenfenster, hinaus in die Dunkelheit. »In der Rock Creek Station waren sie auch«, sagte ich. »Sie haben alles niedergebrannt und alle getötet. Warum steht das Haus noch?« »Mein Vater hatte die Balken mit Kupfervitriol getränkt«, sagte Gap. »Die Balken vom Haus und von den Ställen. Sie können nicht brennen.« »Das hat ihm auch nichts genützt«, sagte ich. »Nein«, sagte Gap. »Und Mutter auch nicht. Und auch Maria nicht.« »Was ist mit ihnen?« fragte ich. »Ich habe nur einen Toten gefunden.« »Sie haben sie mitgeschleppt«, sagte Gap. »Maria ist erst zehn.« »Deine Schwester?«
»Ja.« Plötzlich stand er auf. »Komm mit«, sagte er. An der Tür drehte er sich um. »Du bist doch ein Pony-Reiter, nicht wahr?« »Ja«, sagte ich. Ich deutete auf die Mochilla, die ich neben der Küchentür fallen gelassen hatte. Er ging vor mir her. Ich folgte ihm. In einer Kammer im hinteren Teil des Hauses befand sich eine Luke im Fußboden, von einem Teppich getarnt. Gap rollte ihn weg und öffnete die Klappe. Darunter war es so finster wie in einem Bärenhintern. Ich konnte nur die obersten Sprossen einer Leiter erkennen. Gap stieg ohne zu zögern die Leiter hinunter. Ich wartete am Rand der Luke, bis unten eine Kerze aufflammte. »Komm«, sagte er und hielt die Kerze hoch, so daß die Leitersprossen gut erhellt waren. Ich kletterte in den Keller hinunter und drehte mich am Fuß der Leiter um. Die Luft im Kellerraum war abgestanden und roch nach Moder. Gap ging mit der Kerze in die Knie, und plötzlich hörte ich einen kieksenden Laut. Dann ein leises Weinen. Das Licht der Kerze fiel auf ein Deckenbündel, zwischen dem ich ein kleines Gesicht erkannte, ein höchstens zweijähriges Baby. * Wir saßen in der Küche an dem grob gezimmerten Tisch und aßen. Die Indianer hatten die große Speisekammer neben der Küche ausgeräumt, aber Phil Brennan, der Vater Gaps, hatte in weiser Voraussicht für Notzeiten eine versteckte Proviantkammer angelegt, in der lange haltbare Lebensmittel untergebracht waren, eingepökeltes Fleisch, geräucherte Wurst, getrocknete Bohnen, Kaffee, Mehl und viele andere Dinge. Wir hatten Schweinefleisch und Bohnen gebraten. Für mich war es geradezu ein Festessen. Der heiße, starke Kaffee weckte meine Lebensgeister. Auf einem Stuhl neben der Kochstelle lag das in Decken gewickelte Baby. Es hatte lange Zeit geschrien, dann hatte Gap eine Flasche Whisky gefunden, ein sauberes Stoffläppchen damit getränkt
und es dem Kind zum Lutschen gegeben. Seitdem nuckelte es an dem Stoff und war still. »Ich hoffe, das schadet nichts«, hatte Gap gesagt. »Ich verstehe nichts von Babys«, hatte ich geantwortet. Dann hatten wir uns zum Essen niedergelassen. »Wie heißt es?« fragte ich, nachdem ich mein Fleisch vertilgt hatte und mich daranmachte, die Kaffeekanne zu leeren. »Anne«, sagte Gap. »Anne ist vor knapp zwei Jahren geboren worden. Als die Cheyennes auftauchten, hat Vater Maria, Anne und mich in den Keller gesteckt. Aber Maria wollte nicht unten bleiben. Sie hatte fürchterliche Angst und ist einfach die Leiter hoch und raus. Ich hab gerade noch die Luke zuziehen können. Dann waren die Indianer im Haus. Ich frag mich jetzt noch, warum sie die Klappe nicht gesehen haben.« »Zwei Frauen sind eine gute Beute«, sagte ich. »Sie werden nicht besonders gründlich gesucht haben.« »Du weißt eine Menge von Indianern, wie? Ich seh dir's an. Du bist schon ganz schön herumgekommen?« »Ich bin von Apachen großgezogen worden«, sagte ich. »Aber die Cheyennes sind ein anderer Stamm.« »Du hast richtig bei Indianern gelebt?« »Ja«, sagte ich. Ich stand auf. »Jetzt bin ich hundemüde. Wir können morgen weiterreden. Nimmst du die erste Wache?« »Sicher.« Er musterte mich mit großen Augen. »Du warst ein richtiger Apache?« »Ich habe Medizin gemacht«, sagte ich. »Ich hatte einen Medizinbeutel und war damit so gut wie jeder andere Apache.« »Hast du auch Leute skalpiert?« »Manchmal«, sagte ich. »Ich leg mich jetzt hin. Weck mich um Mitternacht.« Gap nickte. Er erhob sich und ging zu dem Deckenbündel neben der Feuerstelle. Ratlos blickte er auf sein Schwesterchen hinunter. Ich warf ihm einen letzten Blick zu und ging dann in den Aufenthaltsraum der Station. Hier hatte ich einen großen, gepolsterten Stuhl gesehen, in dem ich mich zum Schlafen ausstreckte. So war ich immer in der Nähe, wenn etwas passierte.
Kaum hatte ich die Augen geschlossen, schlief ich auch schon ein. Als Gap mich weckte, hatte ich das Gefühl, höchstens zehn Minuten geschlafen zu haben. Aber es war bereits eine Stunde nach Mitternacht. »Es ist nichts passiert«, sagte er. »Alles ruhig. Und Anne schläft tief und fest. Ich glaube, das macht der Whisky.« »Wahrscheinlich.« Ich richtete mich mit steifen Gliedern auf und gähnte. »Es ist noch kalter Kaffee da«, sagte er. »Kalter Kaffee ist besser als gar nichts«, sagte ich. »Her damit.« Er holte die Kanne aus der Küche und einen Blechbecher. Während ich trank, musterte er mich aufmerksam. »Jetzt sind wir schon seit Stunden zusammen«, sagte er, »und ich kenne deinen Namen immer noch nicht.« »Ich heiße Ronco«, sagte ich. »Haben die Apachen dich so genannt?« »Nein, zum Teufel«, sagte ich. »Hör mit den Apachen auf.« Die ständige Erwähnung dieses Themas schmerzte mich noch immer, obwohl ich mich von meiner Vergangenheit gelöst hatte. »Tut mir leid«, sagte er. »Schon gut.« Ich trank den kalten Kaffee. Er schmeckte scheußlich. Ich erhob mich und nahm meinen Sharps-Karabiner. »Leg dich jetzt hin«, sagte ich. »Du brauchst auch deinen Schlaf. Ich paß schon auf, auch auf Anne.« Er nickte und nahm zögernd meinen Platz in dem gepolsterten Stuhl ein. Ich verließ den Raum und trat auf den Hof hinaus. Langsam ging ich zum Brunnen. Ich ließ den Eimer in den Schacht hinunter, zog ihn gefüllt wieder herauf und wusch mich mit dem eiskalten Wasser. Danach fühlte ich mich frischer. Ich warf einen kurzen Blick in den Stall, umrundete die Gebäude der Station und kehrte ins Haus zurück. Als ich auf den Gang zurückging, fiel mir wieder der widerliche Geruch auf, den ich schon beim Erwachen registriert hatte. Er kam aus dem Raum, in dem die Leiche von Gaps Vater lag. Ich zögerte nicht, ging hinein, klemmte mir die Füße des Toten unter die Arme
und schleifte ihn hinter mir her durch den Gang auf den Hof hinaus. Neben einem der Ställe ließ ich ihn liegen. Der Rest der Nacht versprach langweilig zu werden. Ich wollte mir etwas Beschäftigung verschaffen. Aus einem Geräteschuppen holte ich einen Spaten und begann seitlich der Ställe ein Grab auszuheben. Der Boden war fest und steinig, was die Arbeit sehr erschwerte. Aber ich hatte ja Zeit, alle Zeit der Welt, so wollte es mir scheinen. Ab und zu dachte ich an die Post, die ich zu transportieren hatte. Aber ich konnte Gap und das Baby nicht einfach zurücklassen. Irgend etwas mußte geschehen. Bei Tagesanbruch würde ich mit Gap darüber reden müssen. Er schien mir etwas einfältig zu sein. Dennoch hatte er wohl den Ernst der Lage halbwegs begriffen, wenn er auch anders darauf reagierte als ich, der ich Gefahrensituationen gewöhnt war. Ich schwitzte, denn die Nacht war schwül. Als ich bis zu den Knien in der Grube stand, legte ich den Spaten beiseite und setzte mich auf den Rand des Grabes, um auszuruhen. Der Mond war noch immer nicht zu sehen. Das Licht der Sterne war sehr schwach. Alles, was weiter als zwanzig Yards von mir entfernt war, verwandelte sich in schwarze Kolosse, die mich drohend anzustarren schienen. Ich wischte mir den Schweiß vom Gesicht und dachte, daß ich mir meinen ersten Ritt als Pony-Expreß-Reiter anders vorgestellt hatte. Aber mich traf ja keine Schuld an dem, was vorgefallen war. Inzwischen wußte man in St. Joseph sicherlich, daß etwas nicht in Ordnung war, denn die Gegenpost von Westen war ja ausgeblieben. Mir war kein Reiter begegnet, und auf der Liberty Farm war vor mir auch niemand gewesen. Normalerweise hätte ich bereits wieder in St. Joseph sein müssen. Wahrscheinlich hielt man mich dort inzwischen für tot. Wie hieß die nächste Station? Ich überlegte und versuchte, mir die Landkarte vorzustellen, die im Depot in St. Joseph hing. »Gothenburg Station«, sagte ich leise vor mich hin. Ich erhob mich und nahm den Spaten wieder auf. Als ich einen Blick zur Leiche von Phil Brennan hinüberwarf, bemerkte ich
plötzlich den Schatten nicht weit davon. Auf dem Hof zwischen den beiden Stallgebäuden stand ein Indianer. Ich war anfangs so verdattert, daß ich mich nicht rühren konnte. Der Krieger stand da wie eine Statue und beobachtete mich. Er war sehr groß und athletisch gebaut. Er trug nur einen Lendenschurz. In der rechten Hand hielt er locker einen Schädelbrecher. Einen Moment dachte ich daran, meinen Revolver zu ziehen, aber ich wußte ja nicht, ob der Krieger allein war, oder ob bereits weitere Indianer in der Nähe lauerten. Ich warf einen Blick zum Haus hinüber, wo ich Gap wußte, aber der schlief vermutlich tief und fest, genauso wie die kleine Anne. Unvermittelt setzte sich die hohe Gestalt in Bewegung. Der Indianer glitt fast lautlos heran. Er ging an Phil Brennans Leiche vorbei und verharrte einen Moment, als er auf die offene Haustür blickte. Als sich dort nichts rührte, näherte er sich mir und blieb höchstens zwei Schritte von der Grube entfernt stehen, in der ich mich befand. Er hatte eine einzelne Feder im Haar stecken. Sie war mittels eines mit bunten Perlen und Stachelschweinborsten verzierten Knopfs befestigt. Um den Hals trug er eine fellbesetzte Kette aus Bärenklauen und Bärenzähnen. Wir schauten uns direkt in die Augen. Ich kannte mich mit indianischen Gesichtern aus. Obwohl das Gesicht des Kriegers scheinbar ausdruckslos war, erkannte ich doch an seinen Blicken, daß er überrascht war, auf der Station ein lebendes menschliches Wesen anzutreffen. Ich hatte den Schreck überwunden und war jetzt innerlich ganz ruhig. Inzwischen war ich überzeugt, daß der Krieger allein hier war. Anderenfalls wären längst seine Begleiter aufgetaucht. Der Cheyenne bewegte plötzlich den rechten Arm. Er winkte mir mit dem Schädelbrecher auffordernd zu. Ich tat so, als würde ich die Grube wirklich verlassen und seiner Aufforderung Folge leisten. Er sah, daß ich noch sehr jung war und scheinbar keine Waffe hatte. Deshalb unterschätzte er mich. Das war meine Chance. Ich fuhr blitzschnell mit dem Spaten, den ich noch in den Fäusten
hielt, in die lockere Erde, die ich neben dem Grab aufgehäuft hatte, und riß den Spaten fast gleichzeitig hoch. Eine Ladung Dreck wirbelte dem Krieger entgegen. Er konnte nicht mehr ausweichen und wurde voll ins Gesicht getroffen. Geblendet krümmte er sich zusammen und riß die linke Hand vor die Augen, während er mit dem Schädelbrecher unkontrolliert in der Luft herumfuchtelte. Ich war mit einem Satz aus dem Grab und schlug mit dem Spaten zu. Das scharfe Metall riß dem Krieger die linke Schulter auf. Er stürzte auf den Rücken, rollte sich jedoch geschmeidig herum. Als er wieder hochkam, schleuderte er seinen Schädelbrecher auf mich, als ich gerade den Spaten fallen ließ und meinen Revolver ziehen wollte. Der steinerne Kopf der Waffe traf mich mit mörderischer Wucht am rechten Oberschenkel. Ich brüllte vor Schmerz und stürzte zu Boden, während mir unwillkürlich das Wasser in die Augen schoß und Betäubungsschleier in mir aufstiegen. Ich ließ meinen Revolver fallen und wälzte mich halb wahnsinnig vor Schmerzen durch den Staub. Ich hatte das Gefühl, das ganze Bein sei zerschmettert worden. Der Krieger rieb sich wieder den Sand aus den Augen. Breitbeinig wankte er auf mich zu und bückte sich nach dem Schädelbrecher. Durch dichte Tränenschleier sah ich verschwommen, daß er die Keule aufnahm und zum Schlag ausholte. Verzweifelt versuchte ich etwas zu tun, aber der Schmerz hatte mich fast gelähmt. Ich rollte mich zur Seite und hörte im selben Moment ein drohendes, scharfes Knurren, ein wildes Kläffen und dann einen dumpfen Aufprall. Ich sammelte alle meine Kraft und stemmte mich hoch. Mein rechtes Bein war wie taub. Trotzdem gelang, es mir, auf dem linken Bein zu stehen und den Spaten aufzuheben. Nur wenige Schritte vor mir kämpfte der Indianer mit einem Hund. In der Dunkelheit erkannte ich nicht viel. Ich sah nur, daß der Indianer den Hund, der wütend aufjaulte, von sich schleuderte, aber offenbar durch Bißwunden verletzt war. Er drehte sich schwerfällig
um, und ich schlug zu. Mit dem Spatenblatt traf ich den Mann seitlich an den Schädel. Er taumelte, hielt mühsam das Gleichgewicht und wurde wieder von dem Hund angesprungen und fast zu Fall gebracht. Zitternd vor Schmerzen stand ich da, vor meinen Augen verschwamm alles. Ich stützte mich verzweifelt auf den Spatenstiel und sah nur noch, daß der Krieger davontorkelte. Dann schwanden mir die Sinne. Ich merkte nicht einmal mehr, daß ich stürzte.
5. Ein nasser Lappen wischte über mein Gesicht, immer und immer wieder. Ich schlug die Augen auf und sah einen großen Schatten über mir. Unwillkürlich streckte ich abwehrend die Arme aus und griff in einen weichen Pelz. Ich wälzte mich herum, hörte ein leises Winseln und setzte mich auf. Mein rechtes Bein schmerzte noch immer, aber es ließ sich wieder bewegen. Einen Moment später warf das pelzige Etwas, das über mir gestanden hatte, mich wieder auf den Rücken und versuchte, mich von oben bis unten abzulecken. Ich konnte es kaum glauben. Es war Shita. »Weg mit dir, du verdammter Kerl«, sagte ich, gleichzeitig schlang ich die Arme um ihn und preßte ihn an mich. Das Glücksgefühl, das mich bei seinem Anblick erfüllte, ist nicht zu beschreiben. Ich ließ ihn los, ständig auf ihn einredend, und er jaulte und winselte vor Freude. Er mußte in St. Joseph ausgerissen sein und den weiten Weg auf der Spur meines Pferdes zurückgelegt haben. Als ich mich aufrichtete, sah ich Gap auf der Türschwelle stehen. Er blickte skeptisch zu uns herüber. »Gehört der Hund dir?« »Ja«, sagte ich. Ich lachte. »Stell dir das bloß vor, dieser verrückte Kerl ist mir von St. Joseph nachgelaufen.« »Ich hab gedacht, er würde mich fressen«, sagte Gap. »Deshalb habe ich mich nicht an dich rangetraut. Ich dachte, du bist tot.«
»Noch nicht«, sagte ich. »Was ist mit dem Indianer?« »Ich hab keinen Indianer gesehen«, sagte Gap. Er näherte sich. »Als ich wach geworden bin, ist jemand davongeritten.« »Das war er«, sagte ich und fluchte leise. »Verdammt noch mal. Wahrscheinlich war es ein Kundschafter. Weiß der Teufel, was er hier wollte, aber jetzt weiß er, daß es hier noch ein paar Leute gibt, die am Leben sind.« Shita knurrte Gap warnend an, und der blieb sofort stocksteif stehen. Ich bückte mich und strich dem Hund über den Kopf. »Ganz ruhig«, sagte ich. »Er ist in Ordnung.« Shitas Haltung entspannte sich sofort, nur Gap schien dem Frieden noch nicht ganz zu trauen. »Wie heißt er?« fragte er. »Shita«, sagte ich. »Das klingt wie ein Mädchenname.« »Mein erstes Pony bei den Apachen hieß so«, sagte ich. »Es war eine Stute. Trotzdem habe ich ihn so genannt. Er hat nichts dagegen.« Shita bellte, als wolle er mich unterstützen. Gap stand etwas verloren und übermüdet vor mir. Er bot einen wahrhaft trostlosen Anblick. »Glaubst du, sie kehren zurück?« fragte er. »Bestimmt«, sagte ich. »Du wolltest Dad begraben?« Er zeigte auf den Leichnam seines toten Vaters. Der Anblick schien ihn nicht mehr sonderlich zu berühren. Ich hatte das Gefühl, daß er nach und nach innerlich härter und erwachsener wurde. »Ja«, sagte ich. »Es wird Zeit.« Er nickte. »Wir sollten es zusammen tun«, sagte er. »Ich kann jetzt doch nicht mehr schlafen.« Er ging zu dem Geräteschuppen, und Shita lief zur Pferdetränke neben dem Brunnen. Er soff gierig und blickte zwischendurch immer wieder auf, als wolle er sich davon überzeugen, daß ich noch da war. Sein Maul stand weit offen, die Zunge hing heraus, und es sah so aus, als lache er mich an. Ich holte ein Stück kaltes Schweinefleisch aus dem Haus und warf
es ihm hin. Er schlang es mit Heißhunger hinunter, und mir wurde klar, daß er auf dem langen Weg nichts gefressen hatte. Ich konnte es kaum fassen. Er war ein wirklicher Freund. Als Gap und ich Phil Brennan begruben, streckte Shita sich auf dem Hof aus und beobachtete uns. »Was mag aus Ma und Maria geworden sein«, sagte Gap plötzlich. Wir waren fast mit dem Grab fertig, und er stützte sich versonnen auf den Spatenstiel. »Denk nicht daran«, sagte ich. »Wenn sie durchhalten, werden sie Cheyenne-Squaws. Wie alt ist deine Schwester?« »Zehn.« »Dann wird sie es schaffen«, sagte ich. »In spätestens einem Jahr spricht und denkt sie wie eine Squaw. Ein paar Jahre weiter ist sie mit einem Krieger verheiratet und hat vergessen, daß sie jemals unter Weißen gelebt hat.« »Und Mutter?« Ich zuckte mit den Schultern und widmete mich mit verbissenem Eifer meiner Arbeit. Ich wollte nicht antworten, denn ich hatte Gaps entsetzte Augen gesehen, als ich ihm gesagt hatte, was für ein Schicksal auf Maria wartete. Wenn ich ihm gesagt hätte, daß ich seiner Mutter nicht einmal ein Jahr gab, hätte er vermutlich die Fassung verloren. Das Leben bei den Indianern war hart. Wer sich nicht anpaßte, wurde sehr schnell zum Außenseiter und hatte keine Chance, alt zu werden. Ein zehnjähriges Kind konnte sich in die neue Umgebung eingewöhnen, eine erwachsene Frau nicht. Gap schien trotzdem zu ahnen, was ich verschwieg. Er hockte sich auf den Rand des Grabes und starrte versonnen in die Nacht. »Hol eine Decke«, sagte ich zu ihm. »Wir wickeln deinen Vater darin ein, bevor wir ihn in die Grube legen.« Gap nickte und ging schweigend davon. Wenig später kehrte er mit einer Decke zurück. Er traute sich aber nicht, seinen Vater anzufassen. Er hatte Schiß, und ich verstand ihn. Für ihn war der Tod etwas Außergewöhnliches, Unheimliches, etwas, das ihm Angst einjagte. Mir war der Tod vertraut. Bei den Apachen hatte ich gelernt, daß der Tod zum Leben gehörte. Der Tod hatte nichts
Schreckliches für mich. Ich rollte Phil Brennan in die Decke ein und schleppte ihn allein zum Grab. Gap stand daneben und hatte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepreßt. Seine Züge waren starr, seine Augen glänzten verdächtig. Ihm war anzusehen, daß er sich krampfhaft darum bemühte, nicht mehr zu weinen. Ich ließ die Leiche in das Grab plumpsen. Gap wandte sich ab. Ich griff nach einem Spaten und warf Erde auf den toten Körper. Nach und nach bedeckten die Erdkrumen den Leichnam, und das Grab füllte sich wieder mit Erde. Gap half mit, nachdem ich fast fertig war. Am Ende wölbte sich ein flacher Hügel über dem Grab, und Gap meinte, er werde ein Kreuz anfertigen und hineinstecken. * Wir saßen am Küchentisch und tranken heißen Kaffee, der so schwarz und stark war, daß er einen Toten hätte erwecken können. Gap hatte sich einen Haufen Zucker hineingeschüttet, ich trank ihn so bitter, wie er war. Anne nuckelte stillvergnügt an einem Läppchen, das Gap wieder mit Whisky getränkt hatte. Ich hatte meine Zweifel, ob das wirklich die richtige Methode war, aber immerhin war sie Gaps Schwester, nicht meine. Shita schien Gefallen an dem Deckenbündel gefunden zu haben, das noch vor einer Minute gekeift und gekreischt hatte. Er hatte sich direkt daneben niedergelassen und nagte an dem großen Knochen, den ich ihm gegeben hatte. »Wir müssen weg hier«, sagte ich. »Alle. Noch an diesem Morgen.« »Aber warum denn?« fragte Gap. »Zum Teufel, ich hab dir doch gesagt, daß die Cheyennes bestimmt hier auftauchen werden.« »Aber wir haben Waffen …« »Dein Vater war auch bewaffnet. Wir haben ihn gerade eingegraben. Wenn es dir recht ist, graben wir noch zwei Löcher und legen uns gleich daneben.«
»Wo sollen wir denn hin ?« »Zur nächsten Station«, sagte ich. »Wie weit ist es bis Gothenburg Station?« »Fünfzig Meilen ungefähr.« »Na also. Das ist zu schaffen.« Ich erhob mich und trat ans Fenster. Ohne mich umzudrehen, sagte ich: »Wir packen allen Proviant zusammen, setzen uns gemeinsam auf mein Pferd und reiten zur nächsten Station.« »Und dann?« »Was, und dann?« Ich zuckte mit den Schultern und starrte aus dem Fenster. Über der Savanne ging die Sonne auf, ein feuriger Ball, der in den grauweißen Schwaden des Morgennebels badete. »Dann sind wir in Sicherheit«, sagte ich. »Zumindest hoffe ich, daß wir dann in Sicherheit sind.« »Ich meine, was soll dann aus Anne und mir werden?« »Zunächst mal ist wichtig, daß wir überleben«, sagte ich. »Alles andere findet sich. Ich hab meinen Vater und meine Mutter nie gesehen. Ich war so alt wie Anne, als meine Eltern von Apachen getötet wurden. Als ich so alt war wie du, war ich bereits bei den Apachen. Ein Army-Scout hatte mich aus der Mission, in der ich erst gelebt habe, verschleppt und an die Indianer verkauft. Ich habe es nie einfach gehabt, aber ich denke, daß du und Anne es leichter haben werdet.« Gap schwieg lange. Ich beobachtete weiter, wie sich der Frühnebel auflöste, wie das Licht des neuen Tages das Land überflutete. »Ich werde hierbleiben«, sagte Gap plötzlich. Ich war nicht ganz sicher, richtig gehört zu haben, drehte mich halb um und fragte: »Was wirst du?« »Ich komme nicht mit«, sagte er. Seine Stimme zitterte jetzt. Ich musterte ihn von oben bis unten. Er war blaß wie ein Bettuch, und seine Hände zitterten. Auch das noch. Er hatte Angst. Er fürchtete sich vor der ihm unbekannten Welt, die außerhalb der Station lag, die er wahrscheinlich nie verlassen hatte. Ich verstand ihn, zumindest versuchte ich es. Das änderte aber nichts an der Tatsache, daß es Unsinn war, was er sagte. »Du redest Quatsch«, sagte ich. »Pack die Lebensmittel
zusammen. Ich geh das Pferd satteln.« Ohne darauf zu warten, ob er antwortete, verließ ich die Küche und das Haus. Ich ging zum Stall, wo ich dem Pferd die Mochilla auf den Rücken schnallte. Ich ahnte, daß Gap nicht so einfach zu überzeugen war und mir noch Ärger bereiten würde. Ich war aber wild entschlossen, ihn und das Baby mitzunehmen, denn später würde man mich zweifellos fragen, warum ich die beiden nicht gerettet hätte, später, wenn ich in Sicherheit war und Gap und Anne womöglich von den Cheyennes verschleppt worden waren. Dann konnte ich mich nicht damit herausreden, daß Gap sich geweigert hätte. Man würde mir nicht glauben. Ich kannte mich aus. Man würde glauben, daß ich die beiden eiskalt sitzengelassen hätte, um mich selbst zu retten. Dann war ich erledigt. Ich kannte die Spielregeln. Nein, ich hatte keine Lust, wieder zum Ausgestoßenen zu werden. Gap würde mich begleiten, ob er wollte oder nicht. Ich führte das Pferd aus der Box und ließ es am Stalltor stehen. Dann kehrte ich ins Haus zurück. Gap saß noch auf seinem Platz in der Küche. Allerdings hatte er jetzt seinen Sharps-Karabiner neben sich stehen. Shita lag auf dem Boden und wackelte unruhig mit den Ohren. Er blickte mich wachsam an. »Hast du die Lebensmittel eingepackt?« »Nein«, sagte er. »Aber du kannst dir mitnehmen, was du brauchst.« »Hör zu«, sagte ich. »Daß es dir nicht leichtfällt, hier alles zurückzulassen und zu Leuten zu gehen, die du nicht kennst, zumal du gar nicht weißt, was später aus dir werden soll, das verstehe ich. Aber das Leben ist nun mal nicht immer so, wie wir es gern hätten. Glaubst du nicht, daß ich mir manchmal auch was anderes vorgestellt habe? Du kannst nicht hierbleiben. Vielleicht kannst du später, wenn der Indianerkrieg vorbei ist, hierher zurückkehren. Jetzt aber mußt du hier weg.« »Nein«, sagte er. Sein mageres Gesicht wirkte starr. »Du bist ein Idiot«, sagte ich. »Ich komme zurecht.« »Ich werde dich mitnehmen«, sagte ich. »Ich habe keine Lust,
später wegen dir Ärger zu kriegen.« Ich setzte mich in Bewegung und trat auf ihn zu. Da riß er seinen Karabiner hoch und richtete ihn auf mich. »Bleib stehen!« Seine Stimme klang schrill. In seinen Augen flackerte Angst. Er umklammerte Kolbenhals und Lauf des Gewehrs so fest, daß die Knöchel seiner Fäuste weißlich unter der Haut hervorschimmerten. »Jetzt bist du völlig verrückt geworden«, sagte ich. »Hör auf zu reden!« Er schrie nun fast. »Geh endlich! Los, auf was wartest du? Hau ab! Ich brauch dich nicht? Ich brauche niemanden …« Tränen schossen plötzlich aus seinen Augen, aber der Karabiner zeigte nach wie vor drohend auf meinen Bauch. Shita war aufgesprungen. Mit gesenktem Kopf stand er da und knurrte. Er hatte die Lefzen hochgezogen. Seine nadelscharfen Reißzähne waren sichtbar. »Du bist ein gottverdammter Trottel«, sagte ich. Im selben Moment stieß ich den mir am nächsten stehenden Stuhl um. Gap zuckte zusammen und fuhr mit dem Gewehr herum. Ich sprang auf ihn zu. Er schrie vor Angst auf, und ich war beinahe sicher, daß er in diesem Moment auf mich geschossen hätte, wenn er gekonnt hätte. Ich ließ ihm keine Chance. Ich versetzte ihm einen Fußtritt gegen den rechten Arm. Er ließ das Gewehr fallen und warf sich brüllend gegen mich. Da zog ich meinen Colt und schlug ihm damit auf den Kopf. Er schnaufte und ging bewußtlos zu Boden. Shita stand sofort neben ihm und hatte die Zähne gefletscht. »Schon gut«, sagte ich. Ich steckte den Revolver zurück. »Er ist ein armes Würstchen. Laß ihn zufrieden.« Shita setzte sich und blickte mich an. »Du wirst jetzt laufen müssen, mein Lieber«, sagte ich zu ihm. »Das hast du dir selbst eingebrockt. Du bist mir gefolgt, jetzt mußt du weiterlaufen, bis dir die Pfoten dampfen. Hoffentlich machst du nicht schlapp.« Er warf mir einen verächtlichen Blick zu und begann, sich demonstrativ zu kratzen. Ich holte sämtliche Lebensmittel
zusammen, die ich im Haus finden konnte, und steckte sie in einen Kopfkissenbezug. Ich fand auch eine Feldflasche, die ich am Brunnen füllte. Das alles hängte ich an den Sattel meines Pferdes, das in den nächsten Stunden eine große Last würde tragen müssen. Gott sei Dank war Gap nicht schwer. Er war noch bewußtlos, als ich alle Vorbereitungen für den Ritt getroffen hatte. Ich wollte ganz sichergehen und fesselte ihm die Hände auf den Rücken. Dann schleppte ich ihn hinaus und setzte ihn vor den Sattel auf den Pferderücken. Zum Schluß holte ich Anne. Ich mußte sie in eine neue Decke wickeln. Die alte zeigte Spuren ihrer Verdauung und stank bestialisch. Ich wusch sie auch noch ab, was ich offenbar sehr ungeschickt tat, denn sie fing prompt wieder an zu brüllen. Ich störte mich nicht daran, sondern gab ihr am Ende der Prozedur ihren whiskygetränkten Lappen zurück, an dem sie sofort stillvergnügt weitersaugte. Zwar war mir nicht ganz wohl dabei, aber immerhin erfüllte das Läppchen seinen Zweck. Mochte sich später, wenn wir in Sicherheit waren, jemand anders um das Baby kümmern, jemand, der mehr davon verstand. Shita folgte mir aus dem Haus. Die Sonne stand schon recht hoch, und es war heiß, als ich das Pferd bestieg, Anne weiter im Arm haltend, und den Stationshof in westlicher Richtung verließ. Shita lief eine Weile neben uns her, sprang aber dann voraus.
6. Gap Brennan stöhnte leise. Er bewegte sich schwach. Ich war fast ein wenig erleichtert. Es ging auf Mittag zu, und ich hatte schon befürchtet, etwas zu heftig zugeschlagen zu haben. Gap hatte eine beachtliche Beule am Schädel. Er richtete sich vor mir auf und rang nach Atem. Stöhnend sank er dann wieder auf den Pferdehals. Ich nahm an, daß er Kopfschmerzen hatte, aber er hatte es nicht anders verdient. Ich hielt Anne noch immer in den Armen und wiegte sie ab und zu ein wenig. Es schien ihr zu gefallen, denn sie war fest eingeschlafen, vielleicht war aber auch der Whisky daran schuld. Wahrscheinlich sogar.
Shita war mir stets etwa hundert Yards voraus. Manchmal blieb er stehen und schaute sich um. Ich ritt nicht sehr schnell, um das Pferd zu schonen, aber wir gelangten gut voran. Gap richtete sich jetzt wieder auf. Er blinzelte in die Sonne und hatte das Gesicht verzogen. Schließlich wandte er den Kopf, stöhnte und zerrte an seinen Fesseln. »Du Schwein«, sagte er. Ich nickte unbeeindruckt. »Spuck nur aus, was dich bedrückt.« »Ich will nach Hause.« Jetzt klang seine Stimme jämmerlich. Er heulte sogar ein bißchen. »Da ist niemand mehr«, sagte ich. »Höchstens die Cheyennes, und die sind nicht da, um dich zum Kaffee einzuladen.« »Ich will nach Hause«, wiederholte er beharrlich. »Halt die Klappe«, sagte ich. »Bind wenigstens die Fesseln los.« »Später.« Jetzt schwieg er. Zusammengesunken hockte er vor mir, manchmal stöhnte und wimmerte er. Ich legte keine Rast ein, als es Mittag wurde. Das konnten wir uns nicht leisten. Wahrscheinlich waren wirklich längst Cheyennes in der Liberty Farm gewesen, vielleicht verfolgten sie uns jetzt. Ich konnte nur hoffen, daß sie uns nicht für wichtig genug hielten, um uns zu jagen. Andererseits verzichtete keine Kriegerbande auf menschliche Beute. Den ganzen Vormittag über war das Land flach und grasbewachsen gewesen. Jetzt tauchte ein ausgedehntes Brushgebiet vor uns auf, das das Land wie ein unwirklicher, lebensfeindlicher Stachelpelz überzog. Auf einer kleinen Erhebung zügelte ich das Pferd und spähte über das Land. Es gefiel mir nicht, den Buschgürtel zu durchreiten. Aber es hätte zu lange gedauert, ihn zu umgehen. Also lenkte ich das Pferd direkt darauf zu. Shita war zurückgefallen. Er lief nur noch wenige Schritte voraus, auch ihm schien das Brushland unheimlich zu sein. Abweisend, drohend und nahezu undurchdringlich erhoben sich die ineinander verwachsenen, mächtigen Dornenbüsche wie natürliche Wälle vor uns.
Hier und da ragten Cottonwoods mit weitausgreifendem Geäst hervor, umwuchert von Teufelsdornensträuchern und anderem Gestrüpp, dessen Namen ich nicht genau kannte. Shita fand einen schmalen Pfad, so daß ich nicht lange zu suchen brauchte. Anhand der Spuren war ich sicher, auf dem richtigen Weg zu sein, obwohl der Pfad den Eindruck vermittelte, als führe er direkt in die Hölle. Aber es schien der Weg zu sein, den die Expreß-Reiter benutzten. Er war sehr schmal. Ich ritt vorsichtig, um nicht von den langen und nadelscharfen Dornen der Sträucher rechts und links vom Pfad verletzt zu werden. Kein Windhauch drang in das dichte Brushgebiet. Hier hatte sich die Hitze gestaut wie in einem Backofen. Die Luft war stickig und erfüllt von schweren, betäubenden Pflanzendüften. Ich schwitzte, und auch Gap, der gar nichts zu tun brauchte, der nicht einmal das Pferd auf dem engen, gewundenen Pfad lenken mußte, was gar nicht einfach war, schwitzte. Nur Anne schien nicht zu schwitzen. Anne schlief. Gott sei Dank. Ein schreiendes Baby hätte mir jetzt gerade noch gefehlt. Shita tappte wenige Yards vor uns her. Er bewegte sich wie auf dünnem Eis, das jeden Moment brechen konnte. Meistens hatte er die Nase dicht am Boden, manchmal nahm er auch in der Luft Witterung auf. Ich verließ mich auf ihn, denn ich war sicher, daß er uns warnen würde, wenn er irgendeine Gefahr wahrnahm. Meine eigene Konzentration hatte in der brütenden Hitze nachgelassen. Ich hoffte inständig, daß in dieser Dornenwildnis nichts passierte. Hier gab es kaum Verteidigungsmöglichkeiten. Wir folgten Stunde um Stunde dem Wildpfad, der am Spätnachmittag plötzlich breiter wurde und in eine Lichtung mündete. Ich zügelte das Pferd, drehte mich um und richtete mich steil im Sattel auf. Trotzdem konnte ich nicht weit zurücksehen. Ich suchte den Himmel nach Zeichen ab, daß irgendwo im Land Menschen unterwegs waren. Aber ich sah keinen Vogel, der sich auffällig benommen hätte. Ich stieg ab, und beschloß, bis zum Abend zu rasten und im Schutz der Nacht weiterzureiten. Gap schien alles gleichgültig zu sein und
nichts mehr zu interessieren. Nachdem ich den Boden nach Schlangen und Ungeziefer abgeklopft und Anne in den Schatten gelegt hatte, half ich Gap herunter. Er fiel fast auf mich drauf und ließ sich sofort mit gesenktem Kopf am Boden nieder. Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, ihn von den Fesseln zu befreien. Dann ließ ich es aber, ich war mir nicht ganz sicher, wie er reagieren würde. Ich begab mich auf die Suche nach trockenem spröden Holz, das rauchlos verbrennen würde, und fachte ein Feuer an, über dem ich etwas von dem Fleisch briet, das ich aus der Station mitgenommen hatte. Der Bratenduft erinnerte mich daran, daß ich in der letzten Nacht nur wenig geschlafen, schwer gearbeitet und am Morgen des Tages nur wenig gegessen hatte. Gap zeigte keine Reaktion. Er starrte nur dumpf brütend vor sich hin. Anne schlief noch immer, sorgsam bewacht von Shita, der sich direkt neben dem Deckenbündel ausgestreckt hatte. Ich war der Meinung, daß auch das Baby etwas zu essen brauchte, aber was sollte ich ihm geben? Wahrscheinlich brauchte es Milch, aber woher sollte ich eine Kuh nehmen? Schließlich hatte ich eine Idee. Ich fand in der Nähe der Lichtung einen flachen Stein, auf dem ich mit Mehl und Wasser einen Teig knetete, dem ich noch Zucker beifügte. Ich klopfte den Teig so lange, bis er einen flachen Fladen bildete, dann legte ich den Stein mit dem Teigfladen ins Feuer und schaute zu, wie der Teig braun wurde und etwas aufquoll. Ich verbrannte mir die Finger, als ich ihn aus den Flammen angelte. Ich kostete ihn, aber er schmeckte nicht sonderlich gut. Trotzdem war das besser als nichts. Während der Teig abkühlte, versuchte ich, Gap dazu zu bewegen, etwas gebratenes Fleisch zu essen. Ich bot ihm an, ihn zu füttern, aber er reagierte nicht. Sein Gesicht hatte einen trotzigen Zug angenommen, und so packte ich das Fleisch sorgfältig weg, denn ich war sicher, er würde früher oder später doch Hunger verspüren und es essen wollen. Danach fütterte ich Anne. Ich brach den Fladen in kleine Stückchen, die sie willig annahm und langsam kaute. Auch Shita aß ein Stück davon, schüttelte sich aber angewidert und streckte sich
wieder am Boden aus. Er warf mir strafende Blicke zu, weil ich Anne mit dem zähen, abscheulich süßen Backwerk fütterte. Sie entwickelte einen enormen Appetit, trank danach ein bißchen Wasser, hustete etwas und rülpste zufrieden, bevor sie die Augen schloß und wieder einschlief. Offenbar wirkte der Whisky noch, und ich beschloß, ihr das alkoholgetränkte Läppchen zu lassen. Das Feuer war fast schon niedergebrannt. Ich trat die Glut auseinander und warf mit den Händen Erde auf das noch schwelende Holz. »Steh auf«, sagte ich zu Gap. »Wenn du nicht allein aufsteigst, muß ich dir wieder eins auf die Nuß geben und dich hochheben. Das macht mir keinen Spaß.« Gap richtete sich wortlos auf. Er blickte an mir vorbei. Er war wütend auf mich. Irgendwann würde er mir dankbar sein, aber das eine war mir so egal wie das andere. Mir ging es nur darum, selbst mit heiler Haut davonzukommen und nicht wegen ihm einen Sack voll Ärger zu kriegen. Neben dem Pferd blieb er stehen. »Ich hab jetzt Hunger«, sagte er. »Du bist ein Trottel«, sagte ich. »Ich weiß«, sagte er, aber er blickte mich immer noch nicht an. »Schneid mir jetzt die Fesseln durch und gib mir das Fleisch.« Einen Moment zögerte ich, dann dachte ich, daß er jetzt doch vernünftig geworden war und aufgehört hatte, zu bocken. Ich zog mein Messer und zerschnitt die Fesseln. Er rieb sich die Handgelenke, die von rötlich schimmernden Striemen gezeichnet waren. Dann schlug er mir unvermittelt mit aller Kraft ins Gesicht. Ich hatte alles andere erwartet, nur das nicht. Deshalb nahm ich den Hieb voll. Ich spürte, daß meine Lippe aufplatzte, schmeckte mein Blut auf der Zunge und stürzte rücklings zu Boden. Mir wurde schwarz vor Augen. Ich hörte Shita wütend knurren, dann klang Hufschlag auf. Benommen wälzte ich mich herum. Verschwommen sah ich Gap auf meinem Pferd nach Osten auf dem Wildpfad verschwinden. Hinter ihm jagte kläffend Shita her. Ich kniete im Gras, wischte mir mit dem Handrücken der Rechten das Blut vom
Mund und fluchte über meine Dummheit. * Ich erhob mich, taumelte ein wenig und warf einen Blick zu dem Baby hinüber. Dann folgte ich Shita und Gap zu Fuß. Was war dieser Junge nur für ein Idiot? Er hatte es gar nicht verdient, daß man ihm half. Aus dem, was seinem Vater, seiner Mutter und seiner zweiten Schwester passiert war, hatte er nichts gelernt. Jetzt brachte er auch mich in Gefahr. Wenn ich das Pferd nicht zurückerhielt, konnte ich mich auf einiges gefaßt machen. Nach nur etwa zweihundert Yards hörte ich Shitas lautes Bellen, Gaps schrille Flüche und das nervöse Wiehern des Pferdes. Wenig später sah ich sie alle drei hinter einer Biegung. Shita hatte es geschafft, Gap zu überholen. Er hatte sich dem Pferd in den Weg gestellt und hinderte es daran, weiterzulaufen, sosehr Gap auch versuchte, es anzutreiben. Das Tier wagte sich nicht an Shita vorbei. Es stellte immer wieder. Gap klammerte sich wie ein Affe an seinem Hals fest und schrie geradezu hysterisch. Aber Shita ließ sich nicht einschüchtern. Er schnappte nach den Fesseln des Pferdes und wich geschickt dessen Huftritten aus. Dann war ich heran und sprang federnd von hinten auf den Pferderücken. Ich packte Gap am Kragen. Er brüllte wie am Spieß und schlug mit beiden Armen wie rasend um sich. Ich hielt ihn trotzdem fest und ließ mich rücklings wieder zu Boden fallen. Dabei riß ich ihn mit. Wir prallten hart auf dem schmalen Pfad auf. Ich lag unter Gap und fing daher für ihn die meiste Wucht des Sturzes ab. Er versuchte sofort, sich zu befreien. Wild brüllend schlug er auf mich ein. Aber diesmal traf es mich nicht unvorbereitet, und Gap hatte keine Chance. Ich riß beide Knie an den Leib und traf Gap in den Magen. Seine Beschimpfungen wurden zu einem unartikulierten Jaulen, und dann schlug ich ihm beide Fäuste gleichzeitig ins Gesicht. Er rollte von mir weg, versuchte sich aufzurichten und wurde von einem Fußtritt von mir gegen die linke Schulter getroffen. Rücklings
fiel er gegen den Stamm eines Cottonwood-Baumes. Er wollte erneut aufspringen, aber da war ich bereits auf den Beinen. Gap krümmte sich zusammen, riß schützend beide Arme vor das Gesicht und begann haltlos zu schluchzen und zu jammern. Ich hatte ihn schlagen wollen, ich hatte vorgehabt, ihm eine Lektion zu erteilen, ihm die Prügel seines Lebens zu verabreichen. Jetzt ließ ich die Fäuste sinken, wandte mich ab und ging zu dem immer noch scheuenden, nervös schnaubenden Pferd hinüber, das von Shita am Weglaufen gehindert worden war. Ich beruhigte es und strich dann Shita über den Kopf. »Fein gemacht, alter Junge«, sagte ich. Dann ging ich zu Gap zurück. Sofort hob er wieder die Hände vor sein angstverzerrtes Gesicht. »Nicht – nicht schlagen«, wimmerte er. »Bitte, schlag mich nicht. Laß mich doch nach Hause. Bitte, bitte, laß mich nach Hause. Ich will zurück, zu Dad und zu Ma und …« »Steh auf«, sagte ich. »Hör auf zu heulen. Ich tu dir nichts.« Er tat mir auf einmal wieder leid. Zögernd erhob er sich. Er zitterte am ganzen Körper. Das Hemd hing ihm aus der Hose und war über der rechten Schulter eingerissen. Unter seinem linken Augen war ein dunkler Fleck, der rasch anschwoll. »Ich – ich will doch nur nach Hause«, flüsterte er. »Warum läßt du mich nicht dort, wo ich hingehöre.« »Später«, sagte ich. »Vielleicht kannst du später wieder zurück. Jetzt reiten wir nach Gothenburg Station.« »Aber ich kann doch genausogut zu Hause bleiben.« »Schon gut«, sagte ich. Ich klopfte ihm beruhigend auf die Schultern. Er unternahm keinerlei Anstalten, mich noch einmal anzugreifen. Während er redete und leise weinte, ließ er sich willig zu dem Pferd zurückführen. Er stieg auch allein auf, und ich kletterte hinter ihm in den Sattel. Wo war Shita? Ich drehte mich um, konnte ihn aber nirgends entdecken. Dafür sah ich in einiger Entfernung über dem Brushgebiet eine Staubwolke in der Luft hängen. Ich fluchte und stieß einen scharfen Pfiff aus. Als ich das Pferd antrieb, jagte Shita auf dem engen Pfad heran. Er
bellte mehrmals kurz und scharf. Sein Schwanz bewegte sich heftig, die Zunge hing ihm aus dem Maul. »Schon gut«, sagte ich. »Ich hab's gesehen.« Dann ritt ich los. Shita überholte uns und lief voraus, zurück zu der Lichtung, auf der noch immer Anne lag. Gap blieb im Sattel sitzen, während ich absprang, schnell unsere Sachen zusammenpackte und Anne auf den Arm nahm. Dann stieg ich auf und trieb das Pferd wieder an. Shita war schon ein gutes Stück voraus. Ich sagte Gap nicht, was ich gesehen hatte. Es war nicht nötig, daß er wieder die Nerven verlor. Wir hatten einen ganz ordentlichen Vorsprung, und mit etwas Glück konnten wir Gothenburg Station erreichen, ohne daß uns die Cheyennes überhaupt entdeckten. Aber darauf wollte ich mich lieber nicht verlassen.
7. Wir verließen das Brushland etwa eine Stunde später. Vor uns erstreckte sich ein etwas zerklüftetes Gelände. Der Boden war hart und steinig, hier und da wucherten kniehohe Sträucher. Das Gras wuchs nicht flächig, sondern bildete kleine Inseln in der Landschaft. Bevor ich das Pferd in eine langgestreckte Bodenvertiefung lenkte, schaute ich mich um. Die Staubwolke war verschwunden. Das bedeutete, daß die Verfolger sich bereits tief im Buschland befanden. Ich trieb das Pferd zu größerem Tempo an. Ich war mit dem Tier jetzt so weit vertraut, daß ich seine Kräfte sicher abschätzen konnte. Dumpf trommelten seine Hufe auf den Boden. Feiner Staub wallte auf. Anne erwachte und begann zu brüllen. Das hatte mir noch gefehlt. Ich versuchte, so gut es ging, sie mit einer Hand hin und her zu wiegen. Aber das gelang mir nicht, und es nützte auch gar nichts. Anne plärrte nur noch lauter. Ich konnte mich ihr nicht widmen. Mit der Rechten mußte ich die Zügel halten, und auf dem unebenen, steinigen Boden bedurfte das Pferd einer strafferen Führung als auf gangbarerem Gelände. Am liebsten hätte ich Gap das schreiende Bündel in die Hände
gedrückt. Schließlich war Anne seine Schwester. Aber ich befürchtete, er könnte sie fallen lassen. Er machte auch nicht die geringsten Anstalten, mir Anne abzunehmen. Er schien überhaupt nicht wahrzunehmen, daß sich die Situation geändert hatte und es jetzt ernst wurde. Er hockte mit tief gesenktem Kopf vor mir im Sattel und hing seinen Gedanken nach. Anne brüllte immer noch. Ihr Gesicht war rot angelaufen. Ihr kleiner Mund stand weit offen. Sie krähte, daß ich befürchtete, ihre Lungen würden platzen. Aus großen blauen Augen blickte sie mich dabei an. Ihr Geschrei ging mir auf die Nerven, und ich fragte mich, wo das Whiskyläppchen geblieben war. Wahrscheinlich war es verlorengegangen. Erst jetzt wurde mir der Segen dieses alkoholisierten Stück Stoffes richtig bewußt. Ich trieb das Pferd über ein paar kahle Hügelrücken und fragte mich, warum, zum Teufel, ich unbedingt Pony-Expreß-Reiter hatte werden wollen und nicht Stallknecht in St. Joseph geblieben war. Was wäre mir alles erspart geblieben! Vor mir sank die Sonne den Bergen weit im Westen zu. Nach und nach färbte sie sich rötlich. Dunkelviolette Schatten bedeckten den Boden des Tales. Sie krochen über die Hügel, und der Tag stahl sich davon wie ein ertappter Dieb. Annes Schreien hatte nachgelassen. Sie hatte die Augen geschlossen und weinte nur noch leise. Shita trabte im Wolfstrott neben uns her. Ich hoffte nur, daß er nicht müde, wurde und zurückblieb, wenn ich gezwungen sein sollte, schneller zu reiten. Ich erreichte das westliche Ende des Tals und verhielt auf einem Hügelrücken. Ich drehte mich im Sattel um. Etwa vier oder fünf Meilen war die Grenze des Buschlandes bereits entfernt. Trotz der Dämmerung war die Sicht gut. Ich sah die Indianer aus dem Brushgebiet reiten. Sie ritten hintereinander – fünf Krieger. Ich wollte mich bereits abwenden und mein Pferd wieder antreiben, als ich ein Stück hinter ihnen weitere Krieger aus dem Dickicht reiten sah. Ich zählte insgesamt dreiundzwanzig Mann, und jetzt hielt ich mich nicht mehr länger auf. Ich lenkte das Pferd den Hügel hinunter
und sah wenig später die Overland-Straße vor mir, die auch auf der Landkarte im Expreß-Depot in St. Joseph eingezeichnet war. Sie führte direkt zu der Gothenburg Station. Wenn es mir gelang, den Vorsprung zu halten und uns nichts anderes mehr dazwischengeriet, konnte uns nicht mehr viel passieren. Ich stieß Gap an, als wir die Overland-Straße erreichten und ihr folgten. Er hob den Kopf und schien aus einem tiefen Schlaf aufzuwachen. »Kennst du dich hier aus?« fragte ich. Er schüttelte stumm den Kopf. »Verdammt noch mal, hat dich dein Dad nie mitgenommen, wenn er mal losgefahren ist, um einzukaufen oder jemanden zu besuchen?« »Dad hat nie jemanden besucht«, sagte Gap. »Und er ist höchstens einmal im Jahr nach Fort Kearny gefahren, um einzukaufen. Was wir brauchten, hatten wir selbst, und wenn es mal irgendwo knapp wurde, hat die Kutsche, die früher auf dieser Strecke verkehrt ist, uns mitgebracht, was wir brauchten. Ich bin immer nur zu Hause gewesen.« »Dann hast du keine Ahnung, wie weit es jetzt noch bis zur Gothenburg Station ist?« »Fünfzig Meilen«, sagte Gap. Er wirkte geistesabwesend. »Von euch aus waren es fünfzig Meilen«, sagte ich. »Aber jetzt …« Gap antwortete nicht. Er stierte stupide nach vorn. Ich hatte gute Lust, ihm rechts und links ein paar hinter die Löffel zu hauen, aber ich dachte daran, was Gap hinter sich hatte, und daß ich nicht schon wieder in den Fehler verfallen durfte, ihn mit meinen Maßstäben zu messen. »Es sind Indianer hinter uns«, sagte ich. Ich beschloß, ihm nicht länger zu verheimlichen, wie es stand. »Wenn wir auf eurer Station geblieben wären, dann hätten sie uns jetzt schon erledigt oder weggeschleppt.« Gap antwortete wieder nicht. Er schien mich gar nicht gehört zu haben. Ich sagte nichts mehr. Es war doch sinnlos. Hoffentlich würde Gap sich wieder fangen. Wir ritten in die Abenddämmerung. Ich hatte das Gefühl, an
diesem Tag bereits weit über fünfzig Meilen zurückgelegt zu haben. Nach meinen Berechnungen hätten wir längst in der Gothenburg Station sein müssen. Aber was waren diese Berechnungen wert? Ich war nervös. Ich hatte die Verantwortung für die Post in den Taschen der Mochilla, für ein kaum zweijähriges Baby und einen zwölfjährigen Jungen, gegen den ich mir wie ein uralter Mann erschien. Wäre ich allein in dieser Situation, alles wäre einfacher und besser gewesen. Aber so … Die Indianer waren hinter uns, und ich konnte nicht schneller reiten, als ich jetzt bereits ritt. Wahrscheinlich sorgte alles das dafür, daß ich mir einbildete, längst über fünfzig Meilen geritten zu sein, die Station womöglich verfehlt zu haben. Am schlimmsten aber war diese verdammte Ungewißheit. Ich kannte das Land nicht. Alles, was ich wußte, wußte ich von einem flüchtigen Blick auf die Landkarte im Pony-Expreß-Depot in St. Joseph. Da ich nicht damit gerechnet hatte, weiter als bis zur Rock Creek Station reiten zu müssen, hatte ich dem Land weiter westlich kaum Aufmerksamkeit gewidmet. Das rächte sich jetzt. Ich wäre vermutlich ruhiger gewesen, wenn ich gewußt hätte, wie weit es wirklich noch bis zur Gothenburg Station war. So aber wußte ich nur, daß die Cheyennes uns dicht auf den Fersen waren und die Gothenburg Station am Ende der Welt zu liegen schien. Bisweilen überfielen mich Zweifel. Zwei Stationen hatte ich bisher angesteuert. Auf beiden waren die Cheyennes vor mir gewesen. Wer garantierte eigentlich, daß sie nicht auch die nächste bereits heimgesucht hatten? Vielleicht warteten nur Trümmer auf uns, vielleicht war es sinnlos, das Pferd abzuhetzen und weiterzufliehen. Es mochte alles so sein. Aber ich hatte niemals kampflos aufgegeben. Ich wollte es auch diesmal nicht tun, und sei die Sache noch so hoffnungslos. Außerdem hatten wir, Anne, Gap und ich, noch alle Chancen dieser Welt, solange wir nicht vor der rauchenden Ruine der Gothenburg Station standen. Weit im Westen berührte der glühende Sonnenball die Bergspitzen. In diesem Moment fing mein Pferd an zu lahmen.
* Ich hielt es sofort an. Es senkte den Kopf, schnaubte schmerzerfüllt und zog in einer krampfartigen Bewegung den linken Hinterlauf leicht an. Ich sprang aus dem Sattel, legte Anne auf den Boden und bückte mich, als ich den Huf in die Hände nahm. Still ließ das Tier sich die Untersuchung gefallen. Es war leicht zu finden, was ihm fehlte. Das Eisen hatte sich gelockert, kein Wunder bei dem tagelangen, harten Ritt. Normalerweise wurden die Expreß-Pferde nach jedem Ritt gründlich untersucht, besonders ihre Eisen, bevor sie wieder eingesetzt wurden. Dazu hatte ich keine Zeit gehabt, und ich hatte auch nicht daran gedacht. Unter dem lockeren Eisen hatte sich ein kleiner Stein festgesetzt, der dem Tier bei jedem Schritt erhebliche Schmerzen bereiten mußte. »Steig ab!« raunzte ich zu Gap hinauf. »Los, runter mit dir.« Er gehorchte schweigend. Shita baute sich in seiner Nähe auf und ließ ihn nicht aus den Augen. Gap schien zu spüren, daß der Hund ihm mißtraute. Er schnitt ein unglückliches Gesicht und wagte nicht, überflüssige Bewegungen zu vollführen, die Shitas Argwohn hätten erregen können. Ich hatte mein Messer gezogen und versuchte vorsichtig, den Stein unter dem Eisen hervorzuholen. Ein paarmal rutschte die Klinge ab. Schweiß perlte auf meiner Stirn, und ich mußte mich zwingen, mich auf den Huf zu konzentrieren. Immer wieder huschte mein Blick unwillkürlich zu den Hügeln im Osten, die unsere Verfolger verdeckten. Dann gelang es mir, den Stein herauszudrücken. Er fiel in den Staub, und das Pferd schnaubte und zuckte mit dem Huf. Ich schob das Messer zurück in die Scheide und nahm meinen Colt. Abermals hob ich den Huf an, faßte meinen Navy-Revolver am Lauf und schlug mit dem Griff das Eisen wieder fest. Es war nur eine Notlösung. Ich wußte, das Tier mußte neu beschlagen werden. Das Hufeisen würde sich wieder lösen. Aber vielleicht würde es so lange halten, bis wir in der Gothenburg Station
waren. Gothenburg Station! Ich dachte immer wieder das gleiche. Der Name ging mir nicht mehr aus dem Sinn. In meiner Vorstellung wuchs sich die Station zu einem Paradies aus, zum sichersten Platz auf dieser Welt. »Was ist das für eine Staubwolke?« fragte Gap plötzlich und riß mich aus meinen Gedanken. »Wie?« Ich hob den Kopf und steckte den Revolver weg. Gap zeigte nach Osten. Im letzten Tageslicht sah es aus, als schwebe hauchfeiner Dampf über dem Hügelland. »Das sind Indianer«, sagte ich. »Cheyennes.« »Suchen die uns?« »Wahrscheinlich. Das hab ich dir schon vor fast einer Stunde gesagt.« Er starrte mich stumm an, und mir war klar, daß er kein Wort von dem mitgekriegt hatte, was ich gesagt hatte, und auch jetzt war ich mir nicht ganz sicher, ob er begriff, was eigentlich los war. »Was – was sollen wir denn tun?« »Abhauen«, sagte ich. »Los, nimm deine Schwester.« Er gehorchte und stieg mit Anne im Arm wieder auf. Ich kletterte hinter ihm in den Sattel und nickte Shita zu. »Lauf zu, alter Junge.« Er bellte, aber nur einmal. Es hörte sich an wie eine Antwort. »Verstanden!« Dann jagte er auch schon davon, und ich fragte mich, woher er die Ausdauer nahm. Ich trieb das Pferd wieder an. Jetzt, da ich nicht mehr das Deckenbündel mit dem Baby im Arm halten mußte, saß ich bequemer, und ich hatte auch das Gefühl, daß wir nun schneller vorangelangten, weil ich die Zügel mit beiden Händen halten und das Pferd besser führen konnte. Es wurde rasch dunkler. Vor uns verglühte die Sonne. Die Dämmerung verdichtete sich. Ich drehte mich öfter im Sattel um, aber die Staubwolke unserer Verfolger war in der Finsternis nicht zu entdecken. Trotzdem wußte ich, daß die Cheyennes da waren. Die Tatsache, sie nun nicht einmal
mehr eindeutig ausmachen zu können, um festzustellen, wieviel Vorsprung wir noch hatten, war mehr als beunruhigend. Unwillkürlich trieb ich mein Pferd abermals zu größerem Tempo an. Wir ritten um eine scharfe Wegbiegung und passierten eine Juniperengruppe. Im selben Moment fing Anne völlig unmotiviert wieder an zu brüllen, und das Pferd lahmte wieder und blieb einfach stehen. Ich stieß einen lästerlichen Fluch aus und rutschte aus dem Sattel. »Steig ab!« schrie ich Gap an. »Herunter mit dir, los, los! Auf was wartest du?« Während er abstieg, Anne hin und her wiegte und vergeblich versuchte, sie zu beruhigen, untersuchte ich wieder den Huf des Pferdes. Das Eisen hatte sich bereits wieder gelockert. Ich schlug es noch einmal mit dem Griff meines Colts fest, aber mir war klar, daß nicht daran zu denken war, weiterzureiten. Wir mußten zu Fuß gehen, das Tier mußte ich am Zügel mitführen. Bei größerer Belastung war das Hufeisen bald wieder locker, und das Pferd würde sich noch mehr quälen müssen. Ich drehte mich zu Gap um. In seinen Zügen lag der Schmerz dieser Welt. Äußerlich wirkte er jetzt viel älter, als er war. »Wir unternehmen jetzt einen Fußmarsch«, sagte ich. »Wandern ist gesund. Mal sehen, bei wem zuerst die Sohlen durch sind.« Er musterte mich traurig. Das schreiende Baby auf dem Arm, nickte er gottergeben und setzte sich in Bewegung. Müde trottete er vor mir her. Ich nahm das Pferd am Zügel und zog es mit. Shita hielt sich dicht neben mir. Er war müde, ich konnte es ihm ansehen, aber er verfügte immer noch über Energien. Ich fragte mich, ob die Cheyennes bei Einbruch der Dunkelheit angehalten hatten, um zu rasten, oder ob sie uns auch während der Nacht verfolgten. Ob der Vorsprung von etwa fünf Meilen, den wir am Spätnachmittag gehabt hatten, noch immer bestand oder geschrumpft war. Ich befürchtete das letztere. Wie lange würden die Indianer brauchen, um uns einzuholen? Ich fragte mich allen Ernstes, was ich dann tun sollte. Hatte es überhaupt Sinn, zu kämpften? Mehr als zwanzig Krieger hatte ich gezählt. Gegen die sollte ich uns verteidigen? Anne zählte
nicht und Gap im Grunde auch nicht. Aber nicht nur aus diesem Grund war es sinnlos, zu kämpfen. Die Krieger würden uns wahrscheinlich nicht töten. Zumindest Anne und Gap nicht. Sie würden die beiden in jedem Fall mitschleppen und zu weißen Indianern machen. Was mich betraf, war ich da nicht so sicher. Zwar fürchtete ich mich nicht vor einem solchen Schicksal. Immerhin hatte ich lange unter Apachen gelebt und war nur mit Gewalt von ihnen fortgebracht worden. Mich lockte eine solche Aussicht, erneut zum Indianer zu werden, aber auch nicht besonders. Vermutlich würde sich mir eine solche Chance jedoch gar nicht bieten. Ich war Pony-Expreß-Reiter, ich trug Waffen und konnte kämpfen. Damit war ich für die Cheyennes kein Kind mehr. Sie konnten mich nicht mehr in ihrem Sinne formen, sie konnten mich nicht meine Herkunft vergessen lassen. Ich war nicht mehr so stark beeinflußbar wie etwa Gap. Ich war ein Mann, und ich war ein Feind. Mich würden sie töten. Ja, ich würde kämpfen, wenn es sein mußte. Auch für Gap und Anne. Zwar hatte mir meine Zeit bei den Indianern gutgetan, und häufig sehnte ich mich zu ihnen zurück. Bei Gap allerdings war ich überzeugt, daß er nicht stark genug war, um mit einer solchen Umstellung fertigzuwerden, nachdem ihn bereits ein Verlassen der väterlichen Station fast um den Verstand gebracht hatte. Gap würde bei den Cheyennes zerbrechen und jämmerlich zugrunde gehen. Für ihn war es besser, er blieb unter Weißen. Anne brüllte immer noch. Es war erstaunlich, welche Ausdauer dieses winzige Kind hatte. Gap trug sie vor sich her wie einen Korb voller roher Eier. Er bewegte seine Füße schwerfällig und schleppend. Ich marschierte hinter ihm her und konnte nicht sagen, daß ich meine Beine schneller bewegte. Auch ich war müde und erschöpft. Ich zog meinen Navy-Colt und hielt ihn locker in der Rechten, während ich meinen Weg fortsetzte, immer Annes Gebrüll im Ohr. Auf einmal blieb Gap stehen und sagte: »Dort vorn!« Auch ich blieb stehen und schaute über seine Schulter hinweg durch die Nacht. Ich sah ein langgestrecktes Blockhaus mit sauber
gedecktem Schindeldach, ein Stück abseits davon ein flaches Stallgebäude, zwischen beiden ein Brunnen. Die Overland-Straße führte geradewegs darauf zu. Das mußte die Gothenburg Station sein, ich hatte schon geglaubt, daß sie nur in meiner Einbildung existierte. Wir hatten es geschafft. In diesem Moment hörte ich dumpfen Hufschlag durch die Nacht hallen. Ich drehte mich um und sah in knapp einer Meile Entfernung im milchigen Mondlicht Reiter durch die Ebene jagen. Der Hufschlag wurde lauter und steigerte sich zu einem wilden Stakkato, zu einem Wirbel von Paukenschlägen einer höllischen Symphonie. »Vorwärts!« schrie ich Gap an. Meine Stimme war heiser und schnappte fast über. »Verflucht, lauf, sonst kriegen sie uns jetzt noch!« Und Gap begann zu rennen. Ich hörte, daß er vor Angst schluchzte, aber er rannte, die brüllende Anne im Arm. Und ich stürmte hinter ihm her. Verzweifelt zerrte ich das lahmende Pferd mit. Noch mehr als zweihundert Yards trennten uns von der rettenden Station, die auf einer Erhebung lag. Zweihundert Yards, eine, wie es schien, endlose Strecke. Wir schienen auf der Stelle zu treten und nicht einen Yard voranzugelangen. Hinter uns aber waren die Cheyennes, die auf schnellen Pferden heranjagten. Gap stolperte jetzt wirklich. Er stürzte der Länge nach auf den Weg. Anne flog durch die Luft und landete im Gras am Wegrand. Ich versetzte Gap einen Tritt in den Hintern, während ich vorbeistürmte. »Hoch mit dir, lauf!« schrie ich. »Vergiß Anne nicht.« Er kam hoch, hob das schreiende Bündel auf und eilte hinter mir her. Wir erreichten den Fuß des Hügels und liefen den Hang hinauf auf den Hof der Station. Als ich mich umwandte, waren die Indianer keine dreihundert Yards mehr von uns entfernt.
8. Hinter einem der Fenster flackerte Licht auf. Ich ließ das Pferd stehen und hastete zur Tür. Mit dem Griff des Navy-Colts hämmerte
ich gegen das rauhe Holz. »Aufmachen!« schrie ich. »Aufmachen!« Die Tür öffnete sich, und ein untersetzter Mann, der so breit wie hoch war, stand vor mir, nackt bis auf eine fleckige Leinenhose. Strähnig hing ihm graublondes Haar in das kantige Gesicht. Die daumendicke Mündung einer mächtigen Kentucky-Rifle glotzte mir bösartig entgegen. Der schwielige Daumen des Mannes lag auf dem Hammer des großen Steinschlosses. Ich brauchte nichts zu erklären, ich brauchte kein Wort zu sagen. Die Augen des Mannes wurden riesengroß und rund, denn er blickte über meine Schulter weg zur Wagenstraße und sah die Cheyennes, die in breiter Front über die Ebene heranjagten. Er ließ das Gewehr sinken und drängte an mir vorbei. Er sah mein erschöpftes Pferd mit der Mochilla und Gap mit dem schreienden Baby im Arm. »Ins Haus!« schrie er. Ich sprang zurück, packte Gap am Hemdkragen und zerrte ihn zum Haus. Hier nahm ihn der bullige Mann in Empfang und stieß ihn über die Schwelle. Gap stolperte und heulte jetzt laut auf. Die Angst, die sich in ihm aufgestaut hatte, brach aus ihm heraus. Ich stand bereits neben dem Pferd und riß ihm die Mochilla vom Rücken. Eilig zerrte ich es am Zügel zu dem Stall hinüber, öffnete das Tor, trieb es einfach hinein und schlug das Tor wieder zu. Dann hastete auch ich, die Mochilla in den Fäusten, zum Haupthaus zurück, wo noch der bullige Mann mit der Kentucky-Rifle stand und mir etwas zurief, das ich nicht verstand. Ich hörte Shitas Bellen. Er stand am Rande des Hofes und kläffte den heranreitenden Indianern entgegen. Als ich einen scharfen Pfiff ausstieß, warf er sich herum und jagte mit heraushängender Zunge heran. An mir vorbei sauste er in den finsteren Hausflur, dann war auch ich drin. Hinter mir schlug der Stationer die Tür zu und warf zwei starke Riegel in ihre Verankerungen. Das Schreien des Babys wies mir den Weg. Ich tappte durch den Gang und trat in einen Raum, in dem eine trübe Petroleumlampe brannte. Hier hockte Gap auf einem Stuhl, haltlos schluchzend. Ab und zu stöhnte er durchdringend und klagend wie ein gepeinigtes
Tier. Anne lag unweit von ihm in einem mit geblümtem Stoff bezogenen Sessel. Ihr Schreien war leiser geworden. Am Fenster kniete mit einem Sharps-Karabiner in den Fäusten ein junger Bursche im Wildlederhemd. Er hatte kurze, feuerrote Haare und ein knochiges Gesicht. Er mochte in meinem Alter sein, und ich vermutete, daß es sich um einen Expreß-Reiter handelte. »Licht aus!« schrie der bullige Stationer, als er Hinter mir in den Raum polterte. Er griff selbst nach der Lampe und drehte den Docht herunter, bis die Flamme erlosch. Es wurde mit einem Schlag stockfinster im Raum. Am Fenster begann der Rothaarige zu schießen. Wenig später kniete ich neben ihm. An einem anderen Fenster ging der untersetzte Mann in Stellung. Wir sprachen kein Wort. Wir wußten, was wir zu tun hatten. Keiner von uns war unerfahren. Weder der Stationer noch der rothaarige Junge. Ich sah es an der Art, wie sie handelten, wie sie sich bewegten. Sparsam, überlegen, ohne Nervosität. Mehr Zeit blieb mir nicht, sie einzuschätzen. Von der Ebene her krachten Schüsse. Aber nur vereinzelt, nur wenige der Cheyennes schienen Feuerwaffen zu besitzen. Dann flogen Pfeile heran. Einer durchschlug die Fensterscheibe über dem Rothaarigen und mir. Das Glas zerbarst, Splitter rieselten auf uns nieder. Der Pfeil bohrte sich in die Platte des großen Tisches mitten im Raum. Ich drehte mich zu Gap um und brüllte ihn an: »Leg dich flach hin, du Idiot! Auf den Boden mit dir. Und nimm Anne mit. Legt euch unter den Tisch!« Er rutschte mit ungelenken Bewegungen, wie eine an Fäden hängende Gliederpuppe, vom Stuhl, kroch auf allen vieren durch den Raum, zog Anne an sich, die plötzlich gar nicht mehr schrie, und legte sich mit ihr unter den Tisch. Da schaute ich bereits wieder nach vorn und sah die berittenen Krieger den Hügel heraufreiten. Sie stießen grelle, kollernde Schreie aus, schwangen Schädelbrecher und Tomahawks und schossen Pfeile ab. Mit häßlichem, saugenden Ploppen bohrten sich die Pfeilspitzen in die Außenwand des Hauses. Ein Tomahawk wirbelte durch das
Fenster, an dem der Stationer hockte, und streifte ihn am linken Ohr. Augenblicklich war seine ganze linke Schädelhälfte blutig, aber er stieß nicht den kleinsten Schmerzenslaut aus, wischte sich nur mit einem Halstuch über die linke Wange und lud sein Gewehr neu auf. Der rothaarige Junge und ich feuerten pausenlos mit unseren Sharps-Gewehren. Pulverdampf füllte stinkend den Raum. Aufsprühende Pulverrückstände bei jedem Schuß verbrannten unsere Gesichter und schwärzten unsere Haut. Schlösser und Läufe unserer Gewehre wurden heiß. Pausenlos griffen die Cheyennes an. Tief im Sattel hängend fegten sie über den Hof. Ich traf ein Pferd, das im vollen Lauf stürzte und sich zweimal überschlug. Der Krieger, der es geritten hatte, wirbelte durch die Luft und prallte hart am Boden auf. Schwerfällig kämpfte er sich hoch. Der rothaarige Junge neben mir feuerte kaltblütig und traf den Krieger seitlich in den Kopf. Unmittelbar vor unserem Fenster ritt ein riesiger Krieger mit einer prächtigen Federhaube auf dem Kopf vorbei. Er war fast nackt, Schweiß bedeckte seinen Oberkörper, seine stark hervortretenden Muskeln glänzten im Mondlicht. Ich zielte, aber der Stationer war schneller. Das mächtige Geschoß aus seiner Kentucky-Rifle durchschlug den herkulischen Brustkorb des Kriegers glatt, riß ihn aus dem Sattel und tötete noch einen weiteren Krieger, der hinter dem ersten her jagte und in die Schußlinie geriet. Unvermittelt flaute der Angriff ab. Die Krieger rissen ihre Pferde herum und jagten den Hügel hinunter zurück auf die Ebene. Wir schickten ihnen noch ein bißchen heißes Blei hinterher, und ich glaube, ich traf noch einen Indianer. Aber er war nicht tot, er fiel nur nach vorn auf den Pferdehals und konnte sich festklammern. Dann waren sie außerhalb des Bereichs unserer Waffen, und wir stellten das Feuer ein. »Ich denke«, sagte der Stationer. »Ich mache erst mal Licht. Wir hängen ein paar Decken vor die Fenster.« *
»Ich heiße Gothenburg«, sagte der bullige Mann. »Max Gothenburg.« Sein harter Akzent war mir schon aufgefallen, als er die Tür geöffnet hatte, aber da hatte ich nicht weiter darauf geachtet. Er stammte aus Deutschland und war seit über zehn Jahren im Westen. Seine Frau hatte er vor zwei Jahren begraben, zusammen mit seinem Sohn. Er hatte sie bei Indianerangriffen verloren. Jetzt war er allein und sah ganz so aus, als komme er auch so zurecht. Der rothaarige Junge hieß Calvin Downs und stammte aus Irland, zumindest glaubte er das. Er konnte sich nicht mehr recht an seine Eltern erinnern. Vermutlich war er auf einem Auswandererschiff geboren worden. Jahrelang hatte er dann in einer schäbigen Baracke am Rande New Yorks gelebt. Fünf Jahre war er alt gewesen, als sein Vater fortgelaufen war. Zwei Jahre später war die Mutter an Schwindsucht gestorben. Ein älterer Bruder hatte ihn einfach zurückgelassen und war auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Von da an war Calvin herumgereicht worden, von einer Pflegefamilie zur anderen, bis er die Nase voll gehabt hatte und vor zwei Jahren in Boston ausgerissen und in den Westen getrampt war. Er gehörte zu den Typen, die, wenn sie einmal kämpften, niemals aufgaben, die sich lieber totschlagen ließen, als jemals zurückzustecken. Ich hatte häufig solche Männer getroffen, auch später sind mir immer wieder ähnliche Typen begegnet. Alt ist keiner von ihnen geworden. Calvin war Pony-Expreß-Reiter wie ich. Er war aus Fort McPherson heruntergekommen und hier abgelöst worden. Jetzt wußte ich, wo die Kette der Reiter abgerissen war. Der fünfzehnjährige Sam Jobe, der die Mochilla von Calvin Downs übernommen hatte, hatte die Liberty Farm nicht mehr erreicht. Er mußte irgendwo dazwischen von Cheyennes abgefangen worden sein. Ich schüttelte Calvin die Hand, genauso wie Max Gothenburg, der den Raum verließ, mit ein paar Decken zurückkehrte und sich ein Hemd übergezogen hatte. Calvin und ich brachten die Decken vor den zerschossenen Fenstern an, und erst dann, als wir sicher sein
konnten, daß kein Lichtschimmer nach draußen drang, zündete der Stationer die Lampe wieder an. Wir sahen schlimm aus, unsere Gesichter waren schwarz und noch dazu von Schweiß verschmiert. Gap kroch leise wimmernd unter dem Tisch hervor. Er holte Anne nach und bettete sie auf den Tisch, neben den Pfeil, der sich in die Platte gebohrt hatte. »Wer ist das Baby?« fragte Calvin Downs. Er zeigte dabei auf Gap, nicht auf Anne. »Er heißt Gap Brennan«, sagte ich. »Brennan?« fragte Gothenburg. »Ist das der Junge von Phil Brennan?« »Das ist er«, sagte ich. »Und das ist Anne, seine Schwester.« Ich deutete auf das Deckenbündel. »Sein Vater ist tot. Seine Mutter und eine andere Schwester sind verschleppt worden.« »Mein Gott«, sagte Gothenburg. »Der arme Bengel.« Er stampfte mit schweren Schritten auf Gap zu und strich ihm mit seiner riesigen, schwieligen Hand über den Kopf. Ein gutmütiger, beinahe liebevoller Zug trat in das grobschlächtige Gesicht des stiernackigen Mannes. »Kommst du jetzt von der Liberty Farm?« fragte Calvin. »Jetzt ja«, sagte ich. »Aber ich habe seit St. Joseph das Pferd nicht gewechselt. Außerdem habe ich verdammt wenig geschlafen, so daß ich nicht mal mehr genau weiß, wann ich St. Joseph verlassen habe.« »Das heißt, daß von hier bis St. Joseph keine Station mehr existiert?« »Die Rock Creek Station ist niedergebrannt«, sagte ich. »Die Liberty Farm steht noch, ist aber jetzt leer.« »Schöner Mist.« Calvin nahm sich sein Gewehr, verließ den Raum und begab sich zur Haustür, die er ein Stück öffnete. Er spähte hinaus auf die Ebene und beobachtete die Cheyennes, die sich dort gesammelt hatten und berieten. »Sie haben uns gejagt«, sagte ich. »Und vor ein paar Meilen fing das Pferd an zu lahmen.« »Ich koch Kaffee«, sagte Max Gothenburg. »Ihr müßt ganz schön fertig sein.«
»Gap bestimmt«, sagte ich. »Und das Baby braucht etwas Richtiges zu essen.« »Ich hab Milch da.« Gothenburg zuckte etwas ratlos mit den breiten Schultern. »Vielleicht kann ich einen Brei kochen.« »Ich denke, das ist das richtige«, sagte ich. »Meine Ma hat auch immer Milch genommen, wenn sie für Anne einen Brei gekocht hat«, sagte Gap. Er schluckte wieder und wischte noch ein paar Tränen von seinen Wangen. Noch immer zitterte er am ganzen Körper. »Na also«, sagte Gothenburg freundlich. »Dein Dad war mein Freund, Junge. Er hat oft von dir erzählt, wenn er hier auf dem Weg nach Fort Kearny gerastet hat.« Gothenburg schob Gap energisch vor sich her. Ich nahm Anne auf den Arm und folgte den beiden. Wir gingen in die Küche der Station. Hier flackerte ein kleines Feuer in der Kochstelle. Gothenburg griff nach einem Blasebalg, warf ein paar harzige Holzscheite in die Flammen und betätigte den Blasebalg, bis das Feuer die rußige Kochplatte darüber zum Glühen brachte. Der Stationer stellte einen zerbeulten Kessel mit Wasser auf und holte eine Pfanne aus einem Schrank. »Eier mit Schinken?« fragte er, ohne sich umzudrehen. »Klar«, sagte ich. »Du hast doch auch Hunger, Gap, wie?« Gap saß auf der anderen Seite des Tisches und starrte abwesend zu Boden. Er antwortete nicht. Er war völlig fertig, hoffentlich würde er sich wieder fangen, sonst würde er womöglich noch den Verstand verlieren. Max Gothenburg schien sofort erfaßt zu haben, was in Gap vorging. Dieser ungeschlachte Mann schien ein weiches Herz zu besitzen. Wenn einer Gap wieder aufrichten konnte, dann er. Er konnte ihn mit der Freundlichkeit und der Nachsicht behandeln, die ich nicht hatte aufbringen können, denn mir war es zunächst einmal darum gegangen, sein und Annes Leben zu retten. Ich hatte ihn nicht mit Samthandschuhen anfassen können, zumal er mir ja auch einen Haufen Ärger bereitet hatte. Ich hatte das Gefühl, daß es ein Glücksfall für Gap war, an einen Mann wie Max Gothenburg zu
geraten. Gothenburg schlug Eier in die Pfanne und schnitt Schinken zu fingerdicken Würfeln. »Mein Sohn war so alt wie du«, sagte er zu Gap. »Du siehst ihm sogar ein bißchen ähnlich. Wir wollten immer auch noch ein Mädchen haben, meine Frau und ich. Wir wollten überhaupt noch eine Menge Kinder haben. Aber dann …« »Es war bestimmt nicht einfach für Sie«, sagte ich. »Nein«, sagte er. »Aber ich bin darüber hinweg. Das Leben geht weiter. Eines Tages sehe ich meine Wilma bestimmt wieder. Und meinen Johnny.« Die Eier und der Schinken begannen in der Pfanne zu brutzeln. Gothenburg rührte mit einer Gabel darin herum. Versonnen blickte er in den rußigen Rauchfang über der Kochstelle. Ich holte Teller aus einem Regal, während er die Pfanne auf den Tisch stellte. Das Wasser kochte, und er wandte sich der Kanne zu, während ich das Essen austeilte. Gothenburg warf eine Handvoll Arbuckle-Kaffee in das brodelnde Wasser, das sich sofort pechschwarz färbte. Er nahm die Kanne vom Feuer und stellte sie auf den Tisch. »Das ganze muß ein bißchen ziehen«, sagte er. »Ich hol derweil die Milch für das Baby. Wenn ich bloß wüßte, was man in so einen Brei fein tut …« »Süß muß er sein«, sagte ich. »Anne mag Zucker gern.« »Zucker habe ich da«, sagte er und ging hinaus. Ich nahm meine Gabel und begann zu essen. Kauend schaute ich über den Tisch auf Gap. »Das Ei wird kalt«, sagte ich. »Es ist gut. Du solltest es probieren.« Er nahm beinahe widerstrebend die Gabel auf und stocherte lustlos in der Mahlzeit herum. Shita stand plötzlich neben mir und jaulte fordernd. Ich fragte mich, wo er sich während der Schießerei verkrochen hatte. Nachdem das Gefecht losgegangen war, hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Ich warf ein wenig von meinem Ei hinunter, und er schlang es gierig in sich hinein. Schwanzwedelnd blickte er mich an. Ich erhob
mich, suchte in Gothenburgs Geschirr nach einer Blechschüssel und fand eine. Ich füllte sie mit Wasser und stellte sie Shita hin. Er stürzte sich sofort darauf und soff gierig, während ich mich wieder setzte und meine Mahlzeit fortsetzte. Gap aß jetzt auch. Er kaute langsam und blickte mich unverwandt an Plötzlich sagte er: »Tut mir leid, Ronco.« »Was?« »Ich hab mich blöd benommen. Ich hätte dich umbringen können.« »Ich lebe noch.« »Gott sei Dank.« Er stocherte in dem Rührei herum. »Als ich das Pferd genommen habe, um damit abzuhauen … Ich wäre den Cheyennes direkt in die Arme geritten. Und du und Anne, ihr hättet im Wald allein gesessen. Euch hätten sie auch erwischt.« »Es ist vorbei«, sagte ich. »Jeder begeht mal Fehler. Ich hab dich verdammt hart angepackt, aber es ging nicht anders.« Gap nickte, und irgendwie schien er erleichtert darüber zu sein, mit mir gesprochen zu haben. Er fiel plötzlich mit Heißhunger über sein Rührei her. Ich schenkte Kaffee in dicke Porzellantassen. Max Gothenburg betrat die Küche wieder, nahm erfreut zur Kenntnis, daß Gap seinen Teller fast schon geleert hatte und setzte einen Topf mit Milch auf die Kochplatte. »Ich habe mehr Zucker reingeschüttet, als ich in einer Woche verbrauche«, sagte er. »Ich weiß zwar immer noch nicht, mit was man einen Brei kocht, aber ich werd erst mal Brot reinbrocken. Das hat mir meine Frau früher immer gekocht, wenn ich Bauchschmerzen hatte, und es hat geholfen.« Er schnitt ein sorgenvolles Gesicht. Der grobschlächtige Mann wurde mir immer sympathischer. Mit seinen klobigen Fingern schnitt er Weißbrot zu kleinen Würfeln. Die Milch im Topf begann bereits zu kochen und stieg bis fast zum Rand des Gefäßes hoch. Gothenburg rückte den Topf rasch vom Feuer und warf das Brot hinein. Er rührte eine Weile darin herum und meinte dann, jetzt sei es gut. »Es darf aber nicht zu heiß sein«, sagte ich. »Sonst verbrennt sie
sich den Mund.« »Richtig«, sagte Gothenburg. Er bewegte sich mit der Behutsamkeit eines tapsigen Bären. »Merkwürdig, wie ruhig alles draußen ist. Aber Calvin sitzt ja an der Tür und paßt auf. Hat es geschmeckt, Gap? Hast du noch Hunger?« »Danke, Mr. Gothenburg«, sagte Gap. »Jetzt nicht.« »Du kannst Max sagen«, sagte Gothenburg. »Du auch«, sagte er zu mir. »Wie heißt du?« »Ronco«, erwiderte ich. »Ronco? Na ja, komische Namen habt ihr Burschen vom PonyExpreß. Ich hab noch nie so viele Bengels gesehen, die mit Gewehren und Revolvern wie Männer umgingen und so merkwürdige Namen hatten. Einer heißt Boston, weißt du das? Er nennt sich einfach nur Boston, wie die Stadt im Osten.« »Ich weiß«, sagte ich. »Ich kenne ihn.« »Ein anderer wird Little Yank genannt.« Gothenburg schüttelte den kantigen Schädel. Er nahm Anne hoch. »Der Mensch braucht doch einen richtigen Namen, ich meine, einen Vornamen und einen Familiennamen. Damit man weiß, wo er herstammt, damit er selbst weiß, wo er hingehört. Aber das wißt ihr ja meistens nicht. Ihr wißt nicht mal, daß ihr mal Eltern hattet. Jetzt berührt euch das noch nicht, aber später, wenn ihr älter seid, denkt ihr anders darüber. Und was tut ihr dann?« Shita knurrte ihn warnend an, als er sich mit Anne auf dem Schoß niederließ. Gothenburg betrachtete den Hund mit großen Augen. Er wiegte Anne, die leise weinte, hin und her. »Du brauchst dir keine Sorgen um das Baby zu machen«, sagte er zu Shita. »Ich will es füttern, verstehst du? Du bist ein guter Hund, daß du so auf das Baby aufpaßt.« Shita lauschte Gothenburgs Stimme und schien zufrieden zu sein. Er streckte sich wieder am Boden aus, als Gothenburg ihm später einen Knochen versprach, beobachtete den Mann aber mißtrauisch, als er den Milchtopf an sich heranrückte und mit einem kleinen Löffel hineinfuhr. Vorsichtig versuchte er, Anne mit dem Löffel etwas von der süßen warmen Milch und den darin eingeweichten Brotkrumen einzuflößen.
Ich trank meinen Kaffee und schaute zu, wie Gothenburg Anne fütterte. Er pustete vorher jedesmal auf den Löffel, um die Milch noch etwas abzukühlen, und Anne schluckte mit sichtlichem Wohlbehagen die warme Milch. »Es schmeckt ihr«, sagte Gothenburg verzückt. »Seht nur, es schmeckt ihr.« Er lächelte. »Mein Gott, ich hab mir immer ein Mädchen gewünscht. Ich würde euch gern hierbehalten, Gap, dich und das Baby.« Gap antwortete nicht. Seine Augen glänzten plötzlich wieder verdächtig. »Ich möchte nur wissen, was mit den Cheyennes los ist«, sagte ich. »Es ist so verdammt still.« »Calvin paßt schon auf«, sagte Gothenburg. Anne verschluckte sich und fing an zu husten. Gothenburg erhob sich erschrocken und stellte sie auf den Kopf. Shita knurrte, aber der Hustenanfall war schon wieder vorüber. Anne hatte die Decken, in die sie gewickelt war, mit Milch vollgekleckert. Gap nahm den Topf mit der Milch und ließ sich von dem entsetzten Gothenburg, der aus dem bißchen Husten eine große Sache machte, den Löffel geben. Er kostete und verzog das Gesicht. »Süß«, sagte er. Er schüttelte sich etwas. »Verteufelt süß.« »Es hat ihr geschmeckt«, sagte Gothenburg. »Ihr habt es gesehen.« »Sie hat sich nur verschluckt«, sagte ich. »Füttere sie nur ruhig weiter, Max.« Das Küchenfenster zersplitterte klirrend. Gap ließ den Topf mit der Milch fallen. Er zerbrach am Boden. Die Milch ergoß sich auf die Dielen, versickerte zwischen den Rillen und bildete weiße Pfützen. Gap taumelte. Sein Gesicht war käsebleich. Die Augen quollen ihm fast aus den Höhlen. Er hatte den Mund zu einem tonlosen Schrei aufgerissen. Aber ihm fehlte wohl bereits die Kraft, um noch zu schreien. Gaps Arme zuckten unvermittelt hoch, so als wolle er nach einem unsichtbaren Strick greifen und sich daran festhalten. In der Luft ballten sich seine Hände zu Fäusten. Dann versuchte er, einen Schritt auf mich zuzugehen. Er stolperte. Ich las maßloses Erstaunen in seinen Augen, und dann sah ich
schattenhaft vor dem zerbrochenen Küchenfenster eine muskulöse, halbnackte Gestalt, die einen Tomahawk schwenkte. Im selben Moment kippte Gap nach vorn und fiel aufs Gesicht. Aus seinem Rücken ragte der gefiederte Schaft eines Pfeiles. Gap war tot.
9. Ich warf mich nach vorn und riß die Petroleumlampe von ihrem Haken. Ich verbrannte mir die Finger, aber ich blies das Licht aus, ließ die Lampe fallen und griff nach dem Kaffeetopf auf dem Tisch. Noch brannte das Feuer in der Kochstelle und erhellte den Raum. Mit Schwung schüttete ich den Kaffee in die Flammen, die sofort zischend erloschen. Stinkend stieg Qualm auf. Ich ließ mich fallen, wo ich gerade stand, und stürzte auf Shita, der jaulend flüchtete. Dann zerbarst bereits krachend der Rest der Fensterscheibe, als ein Tomahawk in den stockfinsteren Raum wirbelte. Ich spürte den Luftzug, als die Axt über mich wegflog und sich mit häßlichem Laut in den Türrahmen grub. Dann hielt ich bereits meinen Revolver in der Faust und schoß blindlings zum Fenster. Für einen Sekundenbruchteil erhellte der grelle Mündungsblitz den Raum. Ich sah Max Gothenburg. Er stand noch an derselben Stelle, an der er gestanden hatte, als Gap tot umgefallen war. Und er hielt Anne im Arm. Hinter mir hörte ich ein Geräusch und wälzte mich herum. Im Türrahmen stand eine schmale, drahtige Gestalt. Calvin Downs. »Verdammt noch mal!« schrie ich. »Warum hast du nicht aufgepaßt? Sie sind um das Haus herumgeschlichen.« »Ich hab aufgepaßt, ich hab nichts anderes getan!« schrie Calvin zurück. »Gap ist tot«, sagte ich. »Zum Teufel mit so einer Wache!« »Sag das noch einmal!« Ich achtete nicht mehr auf ihn. Ich stemmte mich hoch und wollte zum Fenster eilen. Da stolperte ich über Gaps Leiche und stürzte wieder zu Boden.
Im selben Moment schwirrten mehrere Pfeile durch das zerborstene Fenster. Max Gothenburg schrie auf. Laut klang Annes Weinen durch das Haus. Ich robbte zum Fenster, richtete mich auf die Knie und sah die Cheyennes über den hinteren Teil des Hofes heranschleichen. Sie hatten ihre Pferde nicht dabei. Sie hatten im Schutz der Dunkelheit den Hügel umrundet, auf dem sich die Station befand. Calvin hatte nichts davon bemerkt. Aber das war jetzt unwichtig. Ich hob meinen Revolver und feuerte wahllos auf den Hof hinaus. Ein Krieger stürzte, ein anderer stolperte und trat die Flucht an. Ein dritter spannte seinen Bogen, und meine Kugel traf das Holz der Waffe. Unvermittelt löste sich die Spannung des Geräts, und der Bogen wirbelte dem Krieger um die Ohren, daß er ihn schreiend fallen ließ. Meine Kugel hatte ihn außerdem am Gesicht gestreift. Taumelnd flüchtete auch er in die Nacht zurück. Hinter mir hörte ich Calvins Stimme aus dem Gang. »Jetzt greifen sie auch von vorn an!« Ich erhob mich und lud mit fliegenden Fingern meinen Revolver erneut auf. »Max!« rief ich. »Max, was ist los mit dir?« Ich hörte ihn stöhnen. Meine Augen hatten sich an die Finsternis im Raum gewöhnt, ich sah Gothenburg am Boden liegen. Jetzt richtete er sich auf. Anne weinte noch immer. Mit dem linken Arm hielt er sie fest, aus seiner rechten Schulter ragte ein Pfeil. »Setz dich«, sagte ich. Ich rückte einen Stuhl zurecht, während vorn Calvin Downs mit seinem Sharps-Karabiner zu schießen begann. Max Gothenburg ließ sich schwerfällig auf den Stuhl nieder. Sein Gesicht wirkte starr wie eine Maske. Ich zerschnitt sein Hemd über der rechten Schulter und betrachtete die Wunde, aus der nur wenig Blut floß, denn der Pfeilschaft verschloß das Loch wie ein Korken einen Flaschenhals. »Ich muß ihn durchstoßen«, sagte ich. »Wenn er Widerhaken hat, reiße ich dir sonst die ganze Schulter kaputt, wenn ich ihn herausziehe.« Der bullige Mann nickte nur. Fast geistesabwesend schaukelte er
Anne hin und her, die aufgehört hatte zu weinen. Ich stemmte die Linke gegen seine Schulter und umklammerte mit der Rechten den Pfeilschaft. Mit aller Kraft stieß ich zu. Gothenburg röchelte und zerbiß sich die Unterlippe. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Er atmete geräuschvoll, und meine Bewunderung für ihn stieg. Er war wirklich ein harter Mann. Blitzschnell brach ich den Schaft des Pfeiles ab, packte die Spitze, die am Rücken herausschaute, und zog den restlichen Pfeil aus der Wunde. Sofort begann das Blut geradezu zu sprudeln. Gothenburg sackte für einen Moment auf die Seite, überwand die Schwäche aber schnell und wies mich an, Pulver auf die beiden Öffnungen der Wunde zu schütten und anzubrennen. Ich tat, was er sagte, und diesmal verlor er wirklich das Bewußtsein. Es stank in der ganzen Küche nach verbranntem Fleisch, die beiden Wundöffnungen sahen schwarz verkohlt aus, aber es hörte auf zu bluten. Ich nahm ihm Anne aus dem Arm und trug sie aus der Küche in die Kammer, in der wir den ersten Angriff abgewehrt hatten. Hier bettete ich sie unter den großen Tisch. Dann kehrte ich in die Küche zurück, riß das Hemd des Stationers in Streifen und legte ihm einen festen Verband an. Als ich damit fertig war, kam er wieder zu sich. Im selben Moment tauchten Schatten vor dem Fenster auf. Ein großer Cheyenne-Krieger schwang sich auf das Fensterbrett. Er stieß die Fensterflügel mit dem zersplitterten Glas nach innen. Ich langte nach meinem Revolver. Da warf sich der Krieger bereits mit einem Hechtsprung in den dunklen Raum. Ich riß Max Gothenburg vom Stuhl, gerade, als ein zweiter Krieger auf dem Fensterbrett auftauchte. Der erste hatte im Sturz zwei Stühle umgerissen. Er rollte über den Boden, fuhr wenig später hoch und schwang einen Schädelbrecher. Ich zielte auf ihn, und er schlug bereits zu. Mir blieb keine Zeit mehr, abzudrücken. Ich ließ mich zur Seite fallen, unmittelbar vor mir krachte der steinerne Kopf des Schädelbrechers auf die Tischkante. Das Holz splitterte und brach, und die Spitze des Schädelbrechers blieb stecken. Der Krieger konnte die Keule nicht rasch genug
zurückziehen. Ich spannte blitzschnell den Hahn meines Revolvers und feuerte. Gerade sprang der zweite Krieger in die Küche, und hinter ihm tauchte ein weiterer Schatten am Fenster auf. Der Mündungsblitz meines Revolvers stach wie ein Flammenschwert auf den Indianer auf der anderen Seite des Tisches zu. Er taumelte und wurde vom Aufschlag der Kugel zurückgeworfen. Sein Gesicht war verzerrt, als er zu Boden ging. Mich durchzuckte es glühend heiß. Ich hatte schon wieder getötet. Wie ich das haßte. Aber es ging um meinen eigenen Kopf. Überall war der Tod, alles war Kampf. Es gab keinen friedlichen Fleck in diesem verfluchten Land. Der zweite Indianer, der durch das Fenster eingedrungen war, stieß einen wütenden Schrei aus. Ich konnte mich nicht mehr rasch genug zu ihm umdrehen. Er rammte einfach den Tisch gegen mich. Die Tischkante bohrte sich mit gewaltiger Wucht in meinen Leib. Ich verlor den Boden unter den Füßen, hatte das Gefühl, zu schweben und wurde auch schon wie ein willenloses Stoffbündel gegen den Küchenschrank geschleudert. Die Schmerzen raubten mir fast das Bewußtsein. Ich ließ meinen Revolver fallen und spürte nicht, daß ich am Schrank hinunterrutschte. Ich hörte ein scharfes Kläffen, Shita huschte schattenhaft an mir vorbei und ging auf den Krieger los. Ich konnte ihn nicht daran hindern. Ich konnte überhaupt nichts tun. Der Schmerz lähmte mich vollständig und trieb mir das Wasser in die Augen. Ich konnte nichts mehr sehen. Mein Magen schien zerrissen zu sein. Wie durch dicke Mauern drangen die Geräusche an meine Ohren: das Fallen eines Stuhles, das wütende Knurren Shitas, das Schreien des Indianers, das Klirren von Glas und dann das wütende, verbissene Stöhnen von Männern, die miteinander kämpften. Das schlimmste war meine absolute Hilflosigkeit. Nur ganz langsam ließen die Schmerzen nach. Bewegen konnte ich mich trotzdem nicht. Nur mein Blick wurde etwas klarer. Durch Tränenschleier sah ich, daß Max Gothenburg mit dem Indianer, der
mir den Tisch in den Leib gerammt hatte, rang. Die Männer rollten über die rauhen Bodendielen, mal lag Gothenburg oben, mal der Cheyenne. Aber Gothenburg gab nicht auf, obwohl er verletzt war und mörderische Schmerzen haben mußte. Shita sprang um die beiden herum und versuchte, nach dem Indianer zu schnappen. Ein paarmal mußte es ihm gelungen sein, denn der Krieger blutete ziemlich heftig aus einer Wunde an der rechten Schulter, außerdem war seine Hose zerrissen. Ich lehnte mich zurück und wischte mir die Tränen aus den Augen. Sofort durchschoß mich der Schmerz wieder mit vernichtender Gewalt. Mein Unterleib war wie abgestorben. Ich konnte nicht aufstehen, es war unmöglich. Vorn im Haus krachte noch immer die Sharps von Calvin Downs. Offenbar griffen dort die Cheyennes mit unverminderter Heftigkeit an. Auf dem Fensterbrett tauchte ein weiterer Krieger auf. Er hielt einen Tomahawk in der Rechten. »Shita!« versuchte ich zu rufen. Nur ein leises Krächzen brachte ich zustande. In diesem Moment gewann der stämmige Deutsche bei dem Kampf die Oberhand und konnte dem Krieger das Messer entwinden. Er zögerte nicht und stieß zu. Der Indianer wehrte sich verzweifelt. Er konnte dem tödlichen Stoß noch einmal ausweichen, aber die Messerklinge drang tief in seinen linken Oberarm. Als Gothenburg das Messer zurückriß, fetzte er ein Stück Fleisch aus dem Arm. Der Krieger schlug Gothenburg ins Gesicht, und der Stationer bohrte ihm einen Sekundenbruchteil später das Messer in den Körper. Gurgelnd sackte der Krieger zurück und starb, während Gothenburg sich schwerfällig zur Seite fallen ließ und erschöpft auf den Rücken rollte. Da sprang der Indianer auf dem Fensterbrett in den Raum. Aus der Dunkelheit schoß ihm Shita entgegen. Er warf sich gegen den Oberkörper des Kriegers, der durch den unerwarteten Anprall aus dem Gleichgewicht gebracht wurde und rücklings gegen die Kante
des Fensterbretts krachte. Stöhnend versuchte er, sich aufzurichten und den Tomahawk zu heben. Es gelang ihm nicht. Er stand in verkrümmter Haltung da, und Shita sprang ihn abermals an und schnappte nach seiner Kehle. Der Krieger konnte ausweichen, stürzte aber zu Boden, und Shita griff ihn stürmisch an. Ich konnte meine Beine wieder bewegen und versuchte, aufzustehen. Es gelang mir, obwohl mein Magen nur noch aus wundem Fleisch, zu bestehen schien. Ich tastete nach meinem Revolver. Schweiß brach mir aus allen Poren. Ich kriegte die Waffe zu fassen, als der Krieger sich gerade wieder aufrichtete. Er konnte Shita abwehren, obwohl er an beiden Unterarmen blutete. Auch Max Gothenburg stemmte sich hoch. Ich versuchte, meinen Revolver zu heben und auf den Indianer zu schießen. Aber mir fehlte die Kraft dazu. Die Waffe war zentnerschwer. Der Indianer hatte seinen Tomahawk verloren. Er versetzte Shita einen Tritt, und der Hund flog winselnd in eine dunkle Ecke. Aber der Krieger kämpfte nicht weiter. Er sprang auf das Fensterbrett und verschwand in der Nacht. Auch das heftige Schießen vor dem Haus flaute ab. Dann wurde es ganz still. Ich streichelte Shita über den Kopf, als er leise jaulend herantappte. Max Gothenburg hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und stützte den mächtigen Schädel in die linke Hand. Auf einmal stand Calvin Downs wieder in der Küchentür. Aus der Laufmündung seines Sharps-Karabiners kräuselte sich noch Pulverdampf. Er sah entsetzlich hager und erschöpft aus. »Feuer«, stieß er hervor. »Es brennt. Diese Schweine haben Brandpfeile geschossen.«
10. Ich hielt nasse Decken im Arm, als ich mit einer Leiter auf das Dach kletterte. Die Cheyennes hatten sich zurückgezogen. Sie waren stark dezimiert und schossen ihre Brandpfeile, die wie feurige Sternschnuppen durch die Nacht heranjagten, aus sicherer
Entfernung ab. Ich war zum Küchenfenster hinausgestiegen. Als erstes war ich über einen toten Indianer gestolpert. Ich hatte eine Leiter aus dem Schuppen geholt und an die Rückseite des Hauses gelehnt. Jetzt stieg ich auf das Dach. Vier Brandpfeile steckten in den Schindeln, die aus hartem Holz gefertigt worden waren, das nicht so rasch brannte. Es hatte erst zu glimmen angefangen. Unmittelbar vor mir schlugen zwei weitere Pfeile ein, als ich über das flache Dach lief. Unter mir an der Haustür begann Calvin Downs wieder zu schießen, um mir Feuerschutz zu geben. Ich breitete die nassen Decken aus und schlug damit auf die kleinen Brandherde ein. Die ersten drei löschte ich sofort. Zwei andere hatten sich bereits etwas ausgebreitet. Ich trat mit den Stiefelabsätzen direkt in die Flamme und warf dann Decken darüber. Aber es dauerte eine Zeit, bis ich sie gelöscht hatte. Ein ganzes Stück des Daches war verkohlt. Weitere Pfeile waren herangeflogen. Ich rannte nur immer auf dem Dach hin und her und schlug und trat nach den neu aufflackernden Flammen. Ich schaffte es, ein Ausbreiten des Feuers zu verhindern, und es fiel mir nicht schwer, den heranfliegenden Pfeilen auszuweichen, die in der Nacht gut sichtbar waren und im hohen Bogen heranflogen. Ich konnte auch die Schützen erkennen. Es waren zwei Krieger, die in etwa hundert Yards Entfernung in der Ebene hockten. Dann erloschen die Feuer plötzlich, an denen die Bogenschützen die mit Gras umwickelten Pfeilspitzen in Brand gesetzt hatten. Sekunden später klang Hufschlag auf. Die Cheyennes sprengten wieder den Hügel herauf. Es waren höchstens fünfzehn Mann. Die anderen waren tot oder verletzt. Unter mir krachte Calvins Sharps-Karabiner. Vielleicht war es auch meiner. Ich hatte gesehen, bevor ich das Haus verlassen hatte, daß er sich auch mein Gewehr zur Haustür geholt hatte, um ab und zu die heißgeschossenen Waffen wechseln zu können. Die Indianer ritten in weit auseinandergezogener Linie heran. Sie
waren nicht leicht zu treffen. Sie schossen ihre Pfeile ziemlich spät ab, so daß sie sicher sein konnten, zu treffen. Floppend bohrten sich die Pfeile in den Türrahmen und in die Tür. Calvin Downs mußte das Feuer einstellen und die Tür schließen, um nicht verletzt zu werden. Ich legte mich flach auf das Dach und begann mit meinem Revolver zu schießen, als die Cheyennes den Hof der Station erreicht hatten. Da meine Deckung nicht gut war und ich nicht sonderlich bequem lag und nicht nachladen konnte, schoß ich sparsam und in größeren Abständen. Nach vier Schüssen hatten die Indianer meine Stellung erkannt, und ich mußte mich schleunigst zurückziehen, um nicht vom Dach geschossen zu werden. Ich erreichte die Leiter und stieg hastig hinunter. Als ich mich umdrehte und zum Küchenfenster laufen wollte, sprengte ein Krieger um die Ecke des Hauses. Mir blieb keine Zeit, meinen Revolver zu ziehen. Ich griff kurzerhand nach der Leiter und riß sie einfach um. Der Krieger hatte sich im Sattel vorgebeugt und umklammerte eine mehr als sechs Fuß lange Lanze, an der ein langer Skalpzopf baumelte. In der Linken hielt er schützend einen runden Schild aus Büffelhaut, der mit dem Zeichen des Donnervogels bemalt war. Ich warf mich unwillkürlich nach hinten, prallte mit dem Rücken gegen die Hauswand und zog den Kopf ein. Die Leiter kippte langsam, einen Augenblick befürchtete ich sogar, sie könnte zurück gegen die Wand fallen. Aber dann stürzte sie in Richtung des Reiters, und der Cheyenne konnte nicht ausweichen. Die Leiter traf ihn, als er gerade seine Lanzenspitze auf mich richtete. Sie traf ihn so, daß sein Kopf zwischen zwei Sprossen geriet. Sein Pferd galoppierte weiter, während er von der Leiter aus dem Sattel gerissen wurde. Er hing hilflos zwischen den Sprossen, ließ Lanze und Schild fallen und wurde in die Luft geschleudert. Dann krachte er mitsamt der Leiter zu Boden. In völlig verrenkter Haltung blieb er liegen. Das Gesicht war ihm fast auf den Rücken gedreht. Er rührte sich nicht mehr. Er hatte sich das Genick gebrochen. Ich warf mich herum, eilte zum Küchenfenster und stieg hinein. ' Nur die Toten lagen hier auf dem Boden. Max Gothenburg war
verschwunden. Ich fand ihn an der Vorderseite des Hauses zusammen mit Calvin Downs. Obwohl er seinen rechten Arm kaum gebrauchen konnte, kniete er an einem Fenster und schoß mit seiner Kentucky-Rifle. Ich hockte mich neben ihn und feuerte mit meinem Revolver, bis er leer war. Dann hatten wir auch diesen Angriff abgeschlagen. Die restlichen Cheyennes flüchteten zurück in die Ebene, und es sah ganz so aus, als würden wir für den Rest der Nacht unsere Ruhe haben. * »Du meinst also, daß ich ein schlechter Wachtposten bin«, sagte Calvin Downs. Er stand breitbeinig in der Tür des Raumes, von dem aus wir nach der Ankunft von Gap, Anne und mir den ersten Angriff abgewehrt hatten. Wir hatten die Fenster abgedunkelt. Eine Petroleumlampe stand auf dem Tisch. Calvin hatte während des Kampfes sein Wildlederhemd ausgezogen. Schweißbahnen hatten helle Striche in die schwarze Pulverschicht auf seinem Gesicht gezeichnet. Er blutete etwas aus einer schmalen Wunde am linken Oberarm. Sein Oberkörper war knochig und sehnig, ich konnte jede Rippe sehen. Auch seine Arme waren lang und dünn, aber mir war klar, daß der Junge zäh wie eine Ratte war und ich seine Kräfte nicht unterschätzen durfte. »Du warst an der Tür, nicht wahr?« Ich lud in aller Ruhe die abgeschossenen Kammern meines Navy-Colts auf. Gothenburg lag noch immer in einer Ecke des Raumes unter dem Fenster, aus dem er auf die Indianer geschossen hatte, und stöhnte leise. Sein grobschlächtiges Gesicht wirkte sehr hager, hatte eine graue, ungesunde Farbe und war von einem feinen Schweißfilm bedeckt. »Du wolltest aufpassen, damit die Cheyennes uns nicht überraschen. So war es doch, nicht wahr? Nun, sie haben uns überrascht. Um ein Haar wäre noch mehr passiert, und wir würden nicht mehr hier sitzen.« »Was willst du damit sagen?« Calvin strich sich sein rotes Haar
aus der Stirn. Seine Augen glühten. »Gap ist tot«, sagte ich. »Der war nicht viel wert«, schnappte Calvin. »Paß auf, was du sagst!« Sonderlich sympathisch war der Bursche mir im Grunde von Anfang an nicht gewesen, jetzt aber begann ich ihn zu verachten, und als ich hörte, wie er über Gap redete, erfaßte mich eine Stinkwut. Aber ich dachte an das, was ich bei den Apachen gelernt hatte: Ein wütender Mann begeht Fehler, er handelt überstürzt und meistens voreilig. Also beherrschte ich mich, denn ich sah, daß Calvin immer wütender wurde, und ich hatte nichts dagegen, daß er derjenige von uns beiden war, der die Fehler beging. »Ich habe so gut aufgepaßt, wie ich konnte«, sagte Calvin. »Dann war es nicht gut genug«, erwiderte ich. »Du hast nicht gemerkt, daß die Cheyennes um den Hügel geschlichen sind und das Haus von hinten angreifen wollten. Gap ist tot, und Max ist verwundet.« »Das ist meine Schuld, wie?« Er starrte mich lauernd an. »Es ist vorbei«, sagte ich. »Wir brauchen nicht mehr darüber zu reden. Das ändert auch nichts mehr. Du hast davon angefangen.« »Du willst kneifen, wie?« Ich antwortete nicht. Ich hatte meinen Revolver geladen und steckte meine Pulverflasche und den Kugelbeutel weg. Shita war auf einmal neben mir. Ich hatte ihn nicht mehr gesehen, seit ich das Haus verlassen hatte, um aufs Dach zu klettern. Er hatte die ganze Zeit unter dem Tisch gelegen, wo sich auch Anne befand. Er hatte das Baby bewacht. Jetzt war er da und knurrte Calvin an. »Mit deinem Köter bist du stark«, sagte Calvin. »Ich möchte bloß wissen, wie du Pony-Reiter geworden bist.« »Vielleicht bin ich nicht so blöd wie du«, sagte ich. »Geh zur Seite, Shita. Der Junge hat Angst vor dir.« »Angst!« Clavins Stimme schnappte fast über. »Hast du Angst gesagt?« Shita streckte sich gehorsam am Boden aus und knurrte nicht mehr. Ich richtete mich aus der Hocke auf und musterte Calvin kühl. »Wenn du Streit willst, solltest du nicht soviel reden.« »Du nimmst also nichts zurück?«
»Warum sollte ich etwas zurücknehmen, was stimmt«, sagte ich. »Du hast nicht aufgepaßt, das ist eine Tatsache. Als ich noch mit den Apachen ritt, wurde ein Posten, der nicht aufgepaßt hatte, davongejagt.« Calvin starrte mich fassungslos an. »Was hast du gesagt? Als du mit den Apachen geritten bist? Du – du hast mal bei Rothäuten gelebt?« Ich antwortete nicht. »Du bist also nichts weiter als ein schmutziger Renegat«, fuhr er fort, mein Schweigen offenbar als eine Art Schuldbekenntnis auslegend. »Dir werde ich's zeigen.« »Was willst du mir zeigen?« fragte ich. »Das!« schrie er. Er stand mit zwei Sätzen vor mir und schlug mit der Rechten zu. Ich pendelte mit dem Oberkörper geschmeidig zur Seite, und seine Faust raste an meinem linken Ohr vorbei. Vom Schwung des eigenen Schlages mitgerissen, taumelte er vor und stürzte fast gegen mich. Ich riß das rechte Knie hoch, denn ich dachte gar nicht daran, mich auf eine lange Prügelei mit diesem verrückten Kerl einzulassen. Draußen befanden sich noch die Indianer, und wir hatten anderes zu tun, als uns gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Außerdem war mir klar, daß ich Calvin schnell besiegen und ihm eine ordentliche Lehre erteilen mußte, sonst würde er mich nicht mehr in Ruhe lassen, solange wir hier in der Station zusammen waren. Ich rammte ihm mein Knie in den Bauch, was nicht gerade fair war, aber Fairneß war ein Luxus, den ich mir in diesem Moment nicht erlauben konnte. Calvin torkelte zurück und krümmte sich nach vorn. Sein Gesicht verzerrte sich. Ich dachte, er würde sich übergeben. Er schnappte nach Luft und preßte beide Hände auf den Leib. Ich betrachtete ihn ruhig und nahm ohne Erregung Maß. Dann schlug ich ihm meine Rechte mitten ins Gesicht. Calvins Oberkörper wurde hochgerissen. Ein wenig verblödet sah er jetzt aus. Seine Augen waren weit aufgerissen. Er taumelte mit rudernden Armen rückwärts und versuchte verzweifelt, das Gleichgewicht zu halten. Shita hatte sich erhoben, bereit, einzugreifen.
»Bleib ganz ruhig«, sagte ich scharf zu ihm, und seine Haltung entspannte sich sofort. Dann ging ich Calvin nach. Er sah mich kommen, obwohl er benommen war, und versuchte, sich zu schützen. Aber seine Bewegungen waren zu unkontrolliert, zu wenig planvoll, viel zu schwerfällig und langsam. Mit der Linken wischte ich seine Arme zur Seite. Dann setzte ich ihm die Rechte knapp oberhalb des Brustbeins gegen den Oberkörper. Er wurde rücklings gegen die rückwärtige Wand des Raumes geworfen und röchelte. Seine Arme sanken schlaff nach unten. Es bereitete mir keinen Spaß, was ich tat, wie mir Gewalt in jeder Form verhaßt ist und ich mich bemühe, sie nur anzuwenden, wenn ich selbst bedroht bin. Aber ich wußte, daß ich Calvin verdreschen mußte, sonst würde er wieder versuchen, sich mit mir zu messen. Als ich diesmal zuschlug, traf ich ihn richtig ans Kinn. Sein Kopf knallte gegen die Wand, und er rutschte langsam an der Wand hinunter. Mit glasigen Augen blieb er sitzen. Meine Faustknöchel schmerzten. Ich drehte mich um und ging zu Shita zurück. Mit einem Blick aus dem Fenster überzeugte ich mich, daß während unserer Auseinandersetzung die Indianer in der Ebene sich nicht gerührt hatten. Alles war ruhig. Ich zog die Decke, die wir am Fenster angebracht hatten, wieder herunter. Hinter mir versuchte Calvin Downs, sich wieder aufzurichten. Nach Atem ringend blieb er eine Zeitlang auf den Knien liegen. Als er dann aufstehen wollte, gaben die Beine unter ihm nach, und er plumpste wieder auf die Dielen. Schnaufend kroch er auf allen vieren zum Tisch, klammerte sich an der Kante fest und zog sich daran hoch. Ich rührte keinen Finger, um ihm zu helfen, denn das hätte er als Schwäche ausgelegt. Als er endlich stand, mußte er sich noch lange auf den Tisch stützen, bis er sich schließlich taumelnd in Bewegung setzen konnte. Er hielt den Kopf tief gesenkt und schaute mich nicht an, als er aus der Tür wankte. Ich hörte ihn in der Küche rumoren, und später tauchte er wieder auf, tropfnaß. Er hatte sich gewaschen und offenbar Kaffee getrunken. Sein Gesicht trug deutlich die Spuren meiner Schläge. Wortlos zog er sich in eine Kammerecke zurück, hockte
sich dort auf den Boden und starrte verbissen vor sich hin.
11. Ich stützte Max Gothenburg, als er sich erhob und durch den Raum zu einem Stuhl schlurfte. Im trüben Licht der Lampe wirkte sein Gesicht kalkig. Ich löste den Verband. Er war völlig durchblutet, denn die Wunde war aufgebrochen. Inzwischen hatte sich über beiden Wundöffnungen ein dünner Grind gebildet. Vorn öffnete er sich wieder, als ich die Stoffetzen, die das Blut an den Wundrändern festgeklebt hatte, abriß. Gothenburg stöhnte. »Hast du Whisky im Haus, Max?« fragte ich. »He, hör zu, hast du Whisky hier?« Er nickte schwach. »In der Speisekammer.« Ich ging und suchte die Speisekammer. Sie lag gegenüber der Küche. Ich fand mehrere Flaschen Red-Eye-Bourbon-Whisky und nahm eine mit, als ich zurückkehrte. In einem anderen Raum fand ich ein paar Leinentücher. Auch sie nahm ich mit. Max Gothenburg schaute mich dankbar an, als ich mit einem whiskygetränkten Lappen begann, die Wunde zu reinigen. Die Blutung hatte bereits wieder aufgehört. Als ich dem Stationer einen sauberen Verband anlegte, griff er mit der Linken nach der Flasche, setzte sie an die Lippen und trank mit großen, gierigen Schlucken. Danach schien es ihm besserzugehen. »Danke«, murmelte er schwach. »Ich hätte nie gedacht, daß mich ein so kleines Loch umhaut.« »Du hast eine Menge Blut verloren«, sagte ich. »Im Grunde dürftest du dich nicht bewegen und müßtest ein paar Tage flach liegen.« Er schien gar nicht auf das zu hören, was ich sagte. Er stierte geistesabwesend an mir vorbei. »Wo ist Gap?« fragte er unvermittelt, ohne mich dabei anzuschauen. »Gap ist tot«, sagte ich.
»Wo ist er?« beharrte er. »Er liegt in der Küche«, sagte ich. »Er muß ein anständiges Grab kriegen.« Seine Stimme klang plötzlich laut und kräftig. Seine schwielige Linke krampfte sich um meinen rechten Unterarm wie ein Schraubstock. »Versprich mir, daß er ein anständiges Grab kriegt. Hörst du, versprich es mir!« »Wenn die Indianer weg sind, können wir ihn zusammen begraben, Max«, sagte ich. Er nickte und ließ meinen Arm wieder los. »Er war ein guter Junge«, sagte er. Seine Stimme klang schleppend und kratzte wie ein Reibeisen. »Er hat mich so an meinen Jungen erinnert. Ich hätte ihn hierbehalten, und er hätte es verdammt gut bei mir gehabt.« »Er ist tot, Max«, sagte ich. »Es hat keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.« »Er ist tot, ja, aber er war noch so jung.« Ich dachte an das, was Little Friend einmal erklärt hatte, und sagte: »Niemand ist zu jung um zu sterben.« »Wo ist das Baby?« »Unter dem Tisch«, sagte ich. »Ich glaube, es schläft.« »Es muß was zu essen kriegen«, sagte Gothenburg. Er schien mit sich selbst zu sprechen. »Später«, sagte ich. »Wenn es nicht mehr schläft.« »Milch steht in der Speisekammer.« »Leg dich jetzt hin und schlaf ein bißchen«, sagte ich. »Die Nacht ist nicht mehr lang, und ich denke, wir werden jetzt Ruhe haben.« Wortlos erhob er sich. Er schwankte etwas, und ich stützte ihn, aber er konnte dann doch allein den Raum durchqueren. Ich folgte ihm bis in eine Schlafkammer. Er ließ sich einfach auf ein breites Bett fallen, und ich zog ihm die Stiefel aus. Da schlief er bereits. Ich hätte auch gern geschlafen, aber jemand mußte wachen. Auf Calvin war kein Verlaß. Jetzt erst recht nicht mehr. Einen Moment tat es mir leid, daß ich so hart mit ihm umgesprungen war. Dann schob ich diese Bedenken wieder beiseite. Er hatte es nicht besser verdient. Er hatte es herausgefordert, obwohl er im Unrecht gewesen
war. Ich ließ den Stationer allein. Er hatte eine Bärennatur und würde nach ein paar Stunden Ruhe wie neugeboren aufwachen. Viel mehr als die vergleichsweise unbedeutende Verletzung, die erst durch den starken Blutverlust gefährlich geworden war, hatte der plötzliche Tod Gap Brennans den äußerlich so robusten, stiernackigen Mann getroffen. Ihm steckte der Schock in den Knochen, mir auch, aber Max hatte Gap andere Gefühle entgegengebracht. Er hatte sich an seinen Sohn erinnert, hatte Gaps Vater gekannt und war mit ihm befreundet gewesen. Er hatte den Jungen aufnehmen und ihm den Vater ersetzen wollen. Und mit einem Schlag war alles aus gewesen. Ich ging in die Küche und zündete die Lampe an. Es sah in dem Raum aus, als hätte eine Granate eingeschlagen. Gap lag verkrümmt da, unweit von ihm zwei Indianer. Der Tisch, den mir ein Krieger in den Leib gerammt hatte, war umgestürzt. Ein Stuhl war zerbrochen. Ein Tellerregal war von der Wand gerissen worden, die Splitter der Porzellanteller lagen überall verstreut auf dem Fußboden herum. Auch der Topf lag noch am Boden, in dem sich die Milch für Anne befunden hatte. Die Milch hatte sich mit dem Dreck vermischt, der die Dielen bedeckte. Ein widerwärtiger Geruch erfüllte den Raum. Die Leichen mußten so schnell wie möglich aus dem Haus gebracht werden. Aber solange die Cheyennes draußen lauerten, war das fast unmöglich. Und wenn sie unbestattet draußen lagen, würde der Leichengeruch nur Aasvögel anlocken. Ich holte mir einen Laib Brot aus dem Schrank und verließ die Küche rasch wieder. Hinter mir schloß ich sorgfältig die Tür, obwohl mir klar war, daß ich dadurch die Ausbreitung des Leichengeruches im Haus kaum verhindern konnte. Die Nacht war schwül, was den Gestank noch verstärken würde. Ich kehrte zurück in die Kammer, in der Calvin Downs in der Ecke hockte und Anne schlafend unter dem Tisch lag, bewacht von Shita, der müde den Schwanz hin und her bewegte, als ich eintrat. Ich rückte mir einen Stuhl an eines der Fenster und lüftete die davor hängende Decke etwas an, so daß ich die Ebene im Auge behalten konnte.
Aus den Niederungen wallten bereits die Nebelschwaden heran. Sie schwebten dicht über dem Boden und breiteten sich langsam aus wie eisgrauer Rauch, der von einem mächtigen, unsichtbar verglimmenden Feuer aufsteigt. Die Sicht wurde schlecht. Schon bald konnte ich die Ebene unterhalb des Hügels, auf dem die Station stand, nicht mehr beobachten. Das Land außerhalb des Hauses glich einer von Dampfschwaden durchzogenen großen Waschküche. Ich ließ den Deckenzipfel, den ich angehoben hatte, wieder fallen. Während der ganzen Zeit – es mochte eine Stunde vergangen sein – hatte ich von dem Brot gegessen, das ich mir aus der Küche geholt hatte. Die Müdigkeit in mir wurde immer größer. Ich stand auf und lief im Raum auf und ab, um sie zu überwinden. Dabei schob ich mir immer wieder einen Bissen Brot in den Mund, denn auch das schien zu helfen, mit der bleiernen Schwere, die sich in meinem Körper ausbreitete, fertig zu werden. Schließlich verließ ich die Kammer, um noch einmal in die Küche zu gehen und Kaffee zu kochen. Mein Bedürfnis nach einer Tasse starken, schwarzen, heißen Kaffee war so groß, daß ich bereit war, meinen Widerwillen gegen den typischen Geruch des Todes, der jetzt bereits den Gang vor der Küche erfüllte, zu überwinden. Da begann hinter mir Anne zu weinen. Sie war aufgewacht. Sofort drehte ich um und kehrte in das Zimmer zurück. Shita winselte beunruhigt. Calvin Downs rührte sich nicht, er schien das klägliche Jammern des Kindes nicht zu hören. Ich holte Anne unter dem Tisch hervor. Im Moment herrschte keine Gefahr. Ich legte sie auf die Tischplatte, versuchte, sie zu schaukeln, redete freundlich mit ihr. Aber es half nichts. Ihr kleines Gesicht wirkte verkniffen und faltig. Ich wickelte sie vorsichtig aus ihrer Decke und sah sofort, daß sie wieder alles naßgemacht hatte. Es stank beinahe schlimmer als die Leichen in der Küche. Mit spitzen Fingern zog ich die Tücher, die als Windeln gedient hatten, unter ihr weg, trug sie zu einem Fenster und warf sie hinaus. Mir war klar, Anne mußte neu gewickelt werden, sie war drauf
und dran, sich wundzuliegen. Ich wußte, daß Babys regelmäßig gebadet und ihre Haut mit einer Salbe behandelt werden mußte, aber Anne jetzt zu baden, hielt ich nicht für gut, und woher sollte ich eine Salbe nehmen? Vielleicht reichte es, wenn ich sie mit Öl abrieb. Öl war immer gut. Ich war sicher, in der Speisekammer eine Flasche mit Olivenöl gesehen zu haben. Tatsächlich fand ich die Flasche, und als ich in die Schlafkammer von Max Gothenburg schlich, der wie ein gefällter Baum auf seinem Bett lag und schnarchte wie ein Dutzend betrunkener Mormonenweiber, fand ich auch noch einige saubere, weiße Leinentücher. Damit im Arm kehrte ich zurück und dachte über meinen Job nach. In St. Joseph hatte mir kein Mensch gesagt, daß ein Pony-Expreß-Reiter in der Lage sein mußte, Babys zu wickeln und zu versorgen. Anne hörte auf zu weinen, als ich ihren wunden Hintern mit Öl einrieb. Es schien ihr gutzutun. Sodann versuchte ich, aus den weißen Tüchern eine Art Windel zustande zu bringen und sie sachgerecht darin einzuwickeln. Es war eine Prozedur, die mir Schweißperlen auf die Stirn trieb. Schließlich war ich überzeugt, es richtig hingekriegt zu haben, auch wenn der Knoten, den ich in die Windel geknüpft hatte, eher dazu geeignet war, einen Ochsen festzubinden als die Windel eines Babys. Anne schien jedoch nichts dagegen zu haben, und ich bettete sie in eine neue Decke. Sie schob den kleinen Daumen ihrer rechten Hand in den Mund und schloß die Augen. Seufzend setzte ich mich auf einen Stuhl neben dem Tisch und war sehr zufrieden mit mir. * Ich stand in der Küche an der Feuerstelle und blies in die Flammen, die zaghaft aufflackerten. Der Leichengeruch hing zäh im Raum, aber ich brauchte einen Kaffee, sonst schlief ich im Stehen ein, und Anne brauchte Milch. Ich hatte die Leichen der Indianer mit Müh und Not allein zum Fenster geschleppt und hinausgeworfen. Erst hatte ich auch Gap hinterherwerfen wollen, dann aber hatte ich das lieber gelassen. Ich wollte keinen Ärger mit Max Gothenburg.
Als das Feuer brannte, setzte ich einen Kessel mit Wasser auf und bereitete gleichzeitig Annes Milch vor. Gerade, als ich in Gothenburgs Küchenschrank nach dem Kaffee suchte, hörte ich das Klirren eines Gewehrschlosses auf dem Gang. Shita, der vor der Küchentür lag und sich wegen des Leichengeruches nicht hereintraute, sprang auf und knurrte leise. Ich ging zur Tür. Auf dem Gang stand Calvin Downs. Sein verschwollenes Gesicht glich einer Maske. Er hatte sein Wildlederhemd wieder übergestreift. Auf dem Kopf trug er einen Schlapphut, den ich bis jetzt an einem Wandhaken hatte hängen sehen und nicht sonderlich beachtet hatte. In der linken Hand hielt er seine Mochilla, in der rechten seinen Sharps-Karabiner. Er warf mir einen kurzen Blick zu und wandte sich dann der Haustür zu, ohne ein Wort zu sagen. Ich ging ihm nach. »He, was ist los?« Er blieb an der Haustür stehen und hob mit der rechten Schulter den Riegel aus seinen Halterungen. Mit dem Fuß drückte er die Tür auf. Auf der Schwelle wandte er den Kopf. Da hatte ich ihn fast eingeholt. »Ich reite nach Fort Kearny«, sagte er. Ich musterte ihn aufmerksam. »Du bist verrückt«, sagte ich. »Vielleicht«, sagte er. Plötzlich steigerte sich seine Stimme: »Laß mich in Ruhe, verdammt, ich tue, was ich will. Du hast mir nichts vorzuschreiben. Geh mir bloß vom Leib, sage ich dir!« »Ich denke gar nicht daran, mich um deinen Kram zu kümmern«, sagte ich. »Jeder bringt sich so gut um, wie er kann. Aber was du vorhast, ist sinnlos. Und wenn du nur wegen mir wegreiten willst – nun gut, wir können uns aus dem Weg gehen. Das Haus ist groß genug dazu.« »Wegen dir? Ich sollte wegen dir wegreiten? Warum denn?« Seine Stimme zitterte jetzt. Er schürzte trotzig die geschwollenen Lippen. »Gut«, sagte ich, »du willst also wegreiten. Wie weit ist es bis Fort Kearny?« »Etwas mehr als vierzig Meilen.« »Und du bildest dir ein, daß du durchkommst?«
»Warum nicht?« Er drehte mir den Rücken zu und stapfte auf den Hof hinaus. Ich folgte ihm. Der Nebel hing dicht und feucht über dem Land. Man konnte kaum zehn Schritte weit sehen. Wir gingen nebeneinander über den Hof zum Stall. »Hast du dir die Sache richtig überlegt?« »Zum Teufel, laß mich in Ruhe!« schrie er. Ich sah, daß seine Augen verdächtig glänzten. Seine Niederlage hatte ihm offenbar stärker zugesetzt, als ich geglaubt hatte. »Ich hatte genug Zeit, um zu überlegen.« »Also gut«, sagte ich. Ich sah ein, daß er nicht von seinem Vorhaben abzubringen war. Unabhängig von unserem Streit fühlte ich plötzlich die grenzenlose Verlassenheit, die uns beide umgab. Hinter uns mochten harte Erfahrungen liegen, Jahre, in denen wir schneller gereift waren, als andere unseres Alters. Jahre, in denen wir das Leben von seiner schmutzigsten und härtesten Seite kennengelernt hatten. Aber im Grunde waren wir eben doch noch Kinder, und auf uns lastete eine Verantwortung, vor der sich viele erwachsene Männer gedrückt hätten. Ich schob diesen Gedanken rasch wieder beiseite. Solche Gedanken belasteten zusätzlich. »Du solltest die Station nach Süden verlassen«, sagte ich. »Später solltest du dann in einem Bogen nach Westen reiten. Zunächst aber solltest du dein Pferd am Zügel führen. Sieh zu, daß du so weit wie möglich gelangst, bevor der Nebel sich auflöst.« »Ich weiß, was ich tun muß«, fuhr er mich an. Er blieb stehen und wandte mir sein Gesicht zu. Wir standen höchstens zwei Schritte voneinander entfernt. »Ich brauche dein Geschwätz nicht.« Ich schwieg, blieb am Stalltor stehen und schaute zu, wie er sein Pferd, das in einer der hintersten Boxen stand, sattelte. Er stieg noch im Stall auf und ritt an mir vorbei. »Du armer Irrer«, sagte ich. »Wenn du glaubst, daß der Nebel den Hufschlag dämpft, irrst du dich. Sie werden dich trotzdem hören.« Er beachtete mich nicht, sondern ritt zum Westrand des Hofes. Er war wirklich ein Idiot, denn ich war sicher, er hörte nur deshalb nicht auf mich, um mir seine Verachtung zu zeigen, dabei wußte er genau,
daß ich recht hatte. Am Hofrand stieg er allerdings doch wieder ab, nahm sein Pferd am Zügel und führte es den Hügel hinunter. Die grauen Nebelschwaden verschluckten ihn und das Tier. Ich hörte ein paar Sekunden noch die Hufgeräusche des Tieres, dann war es wieder still. Irgendwo im Frühdunst schrie ein Vogel. Ich blieb noch eine Weile auf dem Hof stehen, dann schlenderte ich zum Haus zurück, etwas ratlos. Calvin war ein Widerling. Das hatte er jetzt wieder zur Genüge bewiesen. Er war ein Streithammel, der sich sehr stark fühlte, wenn er glaubte, einem Gegner überlegen zu sein, der aber nicht verlieren konnte und wenn etwas nicht nach seinem Kopf ging, ohne Rücksicht auf die Folgen einfach alles stehen und liegen ließ. Hätte Shita nicht aufgepaßt, wäre er einfach abgehauen, ohne mich oder Gothenburg zu informieren. Andererseits wünschte ich mir, daß er es schaffte. Daß ich ihn nicht leiden konnte, bedeutete nicht, daß ich ihm den Tod wünschte. Er betrachtete mich offenbar als Feind, aber ich hegte solche Gefühle nicht. Ich gönnte ihm ein langes Leben und hoffte, daß er nach Fort Kearny gelangen würde. Dann brauchten wir uns hier auch nicht mehr zu sorgen. Ich betrat das Haus und verriegelte die Tür. Shita wartete im Gang auf mich. Ich tätschelte seinen Kopf und ging an ihm vorbei zurück in die Küche. Hier stank es entsetzlich, aber nicht wegen Gaps Leiche, sondern weil neben dem Wasserkessel die Milch übergekocht und angebrannt war. Weiße Schaumwolken quollen aus dem Topf mit der Milch und ergossen sich zischend auf die glühende Herdplatte. Ich stand mit zwei Sätzen an der Kochstelle und riß den Topf mit der Milch herunter, wobei ich mir die Hand verbrannte und den Topf auch noch umkippte. Geistesgegenwärtig konnte ich mich mit einem Sprung nach hinten in Sicherheit bringen, aber ein paar Spritzer der kochenden Flüssigkeit trafen mich doch, und es tat höllisch weh. Fluchend suchte ich nach einem Lappen, um die Milch aufzuwischen und ging daran, wieder Ordnung zu schaffen. Auch das Wasser in dem verbeulten Kessel kochte sprudelnd. Ich
warf Kaffee hinein und nahm den Kessel von der Platte. Während ich den Kaffee ziehen ließ, reinigte ich den Milchtopf und holte neue Milch aus einem großen Krug in der Speisekammer. Ich rührte viel Zucker hinein und ging gerade daran, Weißbrot in kleine Würfel zu schneiden, als ich leise das dumpfe Krachen von Schüssen hörte. Zögernd ließ ich das Messer sinken und lauschte angespannt zum zerbrochenen Fenster hin. Der Nebel war nicht mehr ganz so dicht. Die grauen Schwaden bewegten sich hin und her, ein leichter Wind schien aufgekommen zu sein. Wieder klang das dumpfe, trockene Knallen auf. Einmal, zweimal. Das war ein Gewehr. Kein Zweifel. War es Calvins Gewehr? Ich zog die Milch vom Herd, verließ die Küche, holte mein Gewehr und öffnete die Haustür. Als ich auf den Hof trat, fuhr gerade ein Windstoß über den Hügel und wirbelte die Nebelschleier über der Ebene auseinander. Trübe, wie hinter einem dicken Vorhang, sah ich im Osten die Sonne aufgehen. Noch hatte sie nicht Kraft genug, den Dunst zu durchdringen. Es war noch recht kühl, was ich nach der Schwüle der Nacht dennoch nicht als angenehm empfand. Ich zog fröstelnd die Schultern hoch. Als abermals Schüsse fielen, stand ich neben dem Brunnen. Diesmal war es Calvins Revolver. Ich war ganz sicher. Die Schüsse fielen zu dicht hintereinander für ein einschüssiges Gewehr, und sie klangen noch dumpfer und nicht ganz so laut. Wummernder Hufschlag war zu hören. Die Geräusche klangen von Westen heran, sie bewegten sich eindeutig auf die Station zu. Ich eilte zum Haus zurück und suchte ein Zimmer mit Fenstern zum Westen hin auf. Ich stieß die Flügel eines Fensters auf und duckte mich mit dem Sharps-Karabiner im Anschlag. Laut fluchte ich vor mich hin. Ich hätte ihn notfalls mit Gewalt festhalten sollen, auch wenn er mich dann nur noch mehr gehaßt hätte. Darüber nachzudenken war es aber jetzt zu spät. Nur Shita hörte meinen Verwünschungen zu.
12.
Sie tauchten wie Monster aus dem Nebel auf. Schemenhafte Gestalten auf riesig wirkenden Pferden. Ihr langes Haar flatterte im Reitwind. Ich sah ihre bemalten nackten Oberkörper. Sie schwangen Kriegskeulen und Tomahawks. Calvin Downs ritt vor ihnen her. Er drosch wie von Sinnen auf sein Pferd ein. Den Hut hatte er verloren. Auf der Stirn hatte er eine klaffende Wunde. Sein hageres Gesicht war vor Angst verzerrt. Er sprengte quer über den Hof und um das Haus herum, obwohl ich mir die Kehle heiser schrie und ihm zurief, er solle auf das Fenster, an dem ich saß, zureiten und vom Sattel aus hindurchspringen. Er hörte mich nicht. Die Indianer jagten ihm nach. Es waren nur drei oder vier. Ich feuerte einen Schuß ab, traf aber nicht, dann waren sie vorbei. Ich verließ meinen Platz und stürmte durch das Haus zur Tür. Ich riß den Riegel herunter, öffnete die Tür und kniete mich mit dem Navy-Colt in der Faust auf die Schwelle. Da tauchte Calvin Downs bereits hinter der Hausecke auf. Er hatte offensichtlich die Kontrolle über sein Pferd verloren. Das Tier stürmte schnurgerade auf den Brunnen zu, während Calvin wie wild am Zügel zerrte und es zur Haustür lenken wollte. Da wurde das Tier von einem Pfeil seitlich in den Hals getroffen und stürzte. Es brach mit den Vorderläufen zusammen und überschlug sich. Calvin Downs konnte im letzten Moment die Füße aus den Steigbügeln ziehen. Er wurde hochgeschleudert und prallte hart am Boden auf. Wie eine Katze sprang er wieder auf die Beine, während sein Pferd, das noch nicht tot war, vergeblich versuchte, wieder aufzustehen. Es scharrte wie wild mit den Hufen und schnaubte schrill. Schaum tropfte aus seinem Maul. Calvin Downs stürmte über den Hof auf die Tür zu, die ich weit aufgerissen hatte. Er hatte nur wenige Schritte getan, als die Indianer auftauchten. Calvin hatte keine Chance, das Haus zu erreichen, bevor sie ihn einholten. Ich begann zu schießen und versuchte, ihm Feuerschutz zu geben. Aber es ging alles zu schnell. Ich feuerte drei oder vier Schüsse ab und verletzte einen der Krieger, aber selbst da war ich mir nicht ganz
sicher. Dann hatten sie Calvin. Sie ritten ihn einfach nieder. Eines der Pferde rammte ihn, und Calvin wirbelte durch die Luft. Wie durch ein Wunder gelang es ihm, nicht schwer zu stürzen, und obwohl der gewaltige Rammstoß ihn hätte umbringen können, richtete er sich wieder auf und versuchte noch immer zu fliehen. Sosehr ich ihn verachtet hatte, jetzt stieg meine Hochachtung vor ihm. Er war wirklich zäh, und er war ein härterer Kämpfer, als ich gedacht hatte. Er hinkte, und ich war sicher, daß er große Schmerzen hatte. Aber er gab nicht auf. Staub wallte auf und hüllte ihn ein. Die Indianer ritten an ihm vorbei. Für einen Moment war er meinen Blicken entzogen. Ich schoß meinen Revolver leer und tötete eines der Pferde. Der Reiter wurde sofort von einem zweiten Krieger mit in den Sattel genommen. Die Cheyennes galoppierten davon und verschwanden wie unwirkliche Schattenreiter im Nebel, der zögernd blasser wurde. Alles hatte kaum eine Minute gedauert. Es war abgerollt wie ein böser Traum. Ohne auf meine Sicherheit zu achten, ohne dran zu denken, daß die Indianer zurückkehren oder weitere Krieger im Nebel lauern und mich unter Beschuß nehmen konnten, stürmte ich mit dem leergeschossenen Navy-Colt in der Faust auf den Hof. Der von den trommelnden Hufen aufgewirbelte Staub hatte sich gesenkt. Reglos lag Calvin Downs auf dem Hof, unweit des toten Indianerpferdes. Shita jagte hinter mir her und sprang aufgeregt um den reglosen Jungen herum, als ich neben ihm in den Staub sank und mich tief über ihn beugte, sein Hemd öffnete und mein rechtes Ohr auf seine Brust preßte. Ein Schädelbrecher hatte ihn in die rechte Brusthälfte getroffen und seinen Brustkorb eingebeult, ohne äußerlich mehr als ein paar Schrammen zu hinterlassen. Trotzdem war es eine böse Verletzung. Mindestens fünf oder sechs Rippen waren gebrochen. Ich befürchtete, daß Calvin noch erheblich schwerere innere
Verletzungen davongetragen hatte, die ihn nicht überleben lassen würden. Er war bewußtlos, atmete aber pfeifend und wimmerte sogar ab und zu leise. Am liebsten hätte ich ihn liegen gelassen, um nicht durch den Transport ins Haus weitere Verletzungen herbeizuführen. Aber das war unmöglich. So packte ich ihn unter den Achseln und schleppte ihn so vorsichtig, wie ich es nur vermochte, ins Haus. An der Tür seiner Schlafkammer lehnte Max Gothenburg. Er war von der Schießerei geweckt worden, und ich brauchte nichts zu sagen, er sah auch so, was passiert war. Er selbst sah noch immer nicht besonders gut aus, aber er sagte: »Leg ihn in mein Bett.« Ich schaffte Calvin in Gothenburgs Bett und zog ihn aus, indem ich Hemd, Hose und Stiefel einfach mit dem Messer auftrennte. Kurz darauf erwachte er und stieß einen schrillen, geradezu unmenschlichen Schrei aus, der zu einem durchdringenden, monotonen Wimmern abklang, das das ganze Haus erfüllte. Max Gothenburg hockte sich auf einen Stuhl am Fußende des Bettes und starrte kopfschüttelnd auf den Verletzten. Tiefe dunkle Ringe lagen unter seinen Augen. Ich untersuchte flüchtig seine Wunde, aber damit war alles in Ordnung. Es sah sogar so aus, als würde dem Stationer eine Entzündung erspart bleiben. Er fühlte sich lediglich schwach, aber das war ganz normal. Ich eilte in die Küche, wo noch der Kaffee stand, den ich kurz vor dem Überfall gebrüht hatte. Er war noch immer heiß. Ich trug die Kanne und ein paar Becher in Gothenburgs Schlafkammer. Wir tranken beide, und dann versuchte ich, Calvin etwas einzuflößen. Nach einigen Schwierigkeiten schluckte er. Er wurde still und schlug die Augen auf. Sie waren blutunterlaufen. Ich erschrak fast. Seine Haut war wächsern bleich, er sah aus, als sei er bereits gestorben. »Sie – sie haben mich erwischt, als ich den Hügel schon fast hundert Yards hinter mir hatte«, sagte er. Ich mußte genau hinhören, denn er redete so leise, daß er kaum zu verstehen war. »Sie haben die Straße nach Westen bewacht«, sagte er. »Hätte ich – hätte ich doch nur auf dich gehört …«
Er hustete, und ich stützte ihn. Etwas Blut erschien auf seinen Lippen. Ich wischte es ihm weg. »Ich war ein – Trottel«, flüsterte er. »Wäre ich doch bloß nie zum Pony-Expreß gegangen. Es – ist – aus …« Ich widersprach nicht. Ich dachte nicht daran, ihm etwas vorzulügen. Ich flößte ihm noch etwas Kaffee ein, und er trank, dann verschluckte er sich und hustete wie rasend. Er hatte große Schmerzen dabei, und plötzlich brach er alles, was er im Magen hatte, heraus. Danach sank er erschöpft auf die Seite. Er atmete flach. Sein Oberkörper und das Bett waren mit Erbrochenem bedeckt. »Hör – zu …«, wisperte er schwach. Seine Stimme klang wie raschelndes Papier. »Es – es sind nicht mehr viele. Zehn vielleicht und …« Er sagte nichts mehr. Ich beugte mich tiefer über ihn und schüttelte ihn sanft. »Was weiter, Mann? Red weiter!« Dann sah ich seine gebrochenen Augen. Calvin Downs war tot. Mutlos sank ich auf einen Stuhl. Max Gothenburg und ich starrten uns lange schweigend an. Ohne daß wir sprachen, wußten wir, daß wir beide das gleiche dachten: wir bezweifelten, daß wir überleben würden. * Die Sonne stand hoch. Ich sah das Camp der Cheyennes in der Ebene, außerhalb der Reichweite unserer Sharps-Karabiner. Max Gothenburg hätte vielleicht mit seiner Kentucky-Rifle eine Chance gehabt, die Indianer ein bißchen durcheinanderzubringen. Er sagte mir, daß er damit schon mal auf tausend Yards einen Büffel geschossen hätte, als er noch jünger gewesen war. Ich glaubte ihm aufs Wort. Aber um so etwas zu können, brauchte man eine sichere, ruhige Hand und ein gutes Auge. Max Gothenburg war jedoch verletzt, konnte nur den linken Arm richtig gebrauchen und war durch den Blutverlust geschwächt, so daß er manchmal, wenn er sich zu sehr anstrengte, sogar Sehstörungen hatte. Ihm wurde dann
schwarz vor Augen, und er mußte sich schnell setzen, um nicht von aufsteigenden Schwindeln umgeworfen zu werden. Max konnte mit seinem Gewehr jetzt nicht viel anfangen, und für mich war die Waffe zu ungewohnt und zu schwer. Ich mußte mich auf meinen SharpsKarabiner und meinen Navy-Colt verlassen. Wie viele Cheyennes uns tatsächlich belagerten, war schlecht festzustellen. Sie hatten entlang der Straße nach Westen eine Postenkette gebildet, und es konnten durchaus weitere Krieger hinter den Hügeln im Norden und Westen verborgen sein. Außerdem konnten Boten unterwegs sein, die Verstärkung holten. Ich dachte, daß die Idee Calvins gar nicht so schlecht gewesen war, nach Fort Kearny zu reiten. Nur seine Motive waren falsch gewesen, und er hatte auch alles andere falsch angepackt. Am späten Vormittag verließ ich das Stationshaus, ohne daß etwas geschah. Das nährte in mir den Verdacht, daß die Cheyennes etwas planten, und ich war immer sicherer, daß sie weitere Kriegerhorden benachrichtigten und bald verstärkt erneut angreifen würden. Es bestand kein Zweifel darüber, daß sie am längeren Hebel saßen, und daß wir bisher nur verdammt viel Glück gehabt hatten. Ich holte mir einen Spaten aus dem Geräteschuppen, und begann neben dem Stall ein Doppelgrab auszuheben. Es war eine schwere Arbeit, zumal ich übernächtigt und erschöpft war. Aber ich grub bis zum Mittag ein tiefes Loch. Dann schleppte ich die Leichen Gaps und Calvins heraus und legte sie nebeneinander in die Grube. Als ich das Grab geschlossen hatte, schmerzten meine Schultermuskeln so sehr, daß ich glaubte, nie mehr einen Spaten heben zu können. Mit bleischweren Füßen marschierte ich zum Haus zurück. Es war jetzt unerträglich heiß. Am Himmel keine Wolke, kein Windhauch. Die Luft über der Ebene war wie zum Schneiden. Max saß mit Anne auf dem Schoß in einem Sessel. Shita lag zu seinen Füßen. Max fütterte Anne mit süßer Milch und Weißbrotbröckchen, und sie speiste mit sichtlichem Appetit. »Du siehst schlimm aus«, sagte Max. »Du solltest ein bißchen schlafen. Ich bin ja soweit in Ordnung und kann dich wecken, wenn etwas passiert.« Ich hätte ihm die Füße küssen mögen. Dankbar nickte ich ihm zu.
Bevor ich ins obere Stockwerk des Hauses hinaufstieg, um mir ein Bett zu suchen, sagte ich: »Heute abend versuche ich, nach Fort Kearny zu reiten.« Max starrte mich fassungslos an. »Hör mal«, sagte er. »Calvin …« »Calvin ist tot, aber er war ein Idiot«, sagte ich. »Ich hoffe, daß er die Cheyennes nicht zu mißtrauisch gemacht hat durch seinen Alleingang. Jedenfalls werden mir nicht seine Fehler unterlaufen, und ich kenne die Indianer besser als er. Ich war schließlich selbst mal einer. Meine Chancen sind größer. Wenn es nicht klappt, ist sowieso alles aus.« Gothenburg antwortete nicht, und ich suchte eine Kammer auf, die für die Pony-Expreß-Reiter eingerichtet worden war. Ich sah, daß Calvin hier gewohnt hatte. Das Bett war benutzt. Ich nahm mir nicht mal die Zeit, es aufzuschütteln. Ich ließ mich einfach hineinfallen und schlief sofort ein. * Als ich erwachte, war ich so benommen, daß ich eine Zeitlang brauchte, bis ich wieder wußte, wo ich mich befand. Ich war sicher, Blei in den Gliedern zu haben; als ich mich erhob. Mein Schädel brummte wie nach einem Vollrausch. Ich wankte zu der Waschkommode, auf der ich einen Wasserkrug und eine Porzellanschüssel entdeckte. Nachdem ich mich gewaschen hatte, fühlte ich mich besser. Ein Blick aus dem Fenster zeigte mir, daß ich offenbar nichts versäumt hatte. Die Abenddämmerung lag bereits wieder über dem Land. Und die Indianer waren noch immer da. Ich war beunruhigt, denn die Posten auf den Hügeln und seitlich der Overland-Straße wirkten selbst auf die große Entfernung noch verteufelt sicher, was mich in meiner Vermutung bestärkte, daß uns nicht mehr viel Zeit blieb. Als ich die Treppe hinuntergestiegen war, dankte ich Gott, daß Shita nicht folgsam in St. Joseph geblieben, sondern ausgerissen war, um mir zu folgen. Ohne ihn hätte sonst niemand gewacht, während ich geschlafen hatte. Max Gothenburg war mit Anne auf dem Schoß eingeschlafen. Er schnarchte sogar. Die Cheyennes hätten vermutlich
das ganze Haus ausräumen können, ohne daß er etwas gemerkt hätte. Aber Shita hatte gewacht, und er war sich seiner Aufgabe voll bewußt gewesen. Stolz wedelte er mit dem Schwanz, als ich ihn streichelte. »He, wach auf«, sagte ich, und Max Gothenburg schreckte verstört hoch. Er beeilte sich, zu versichern, er sei gerade erst eingeschlafen, aber ich grinste nur und fragte ihn, ob er sich stark genug fühle, eine Zeitlang ohne mich auszukommen. Er hatte sich offenbar während der vergangenen Stunden alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen und stimmte meinen Absichten zu. Er klopfte auf den NavyColt des toten Calvin und behauptete, damit werde er die Indianer persönlich bis zum Tor der Hölle jagen. Tatsächlich wirkte er schon wieder recht kräftig, und ich sagte mir, daß es ohnehin keine andere Möglichkeit gab, als Verstärkung heranzuholen. Ich mußte einfach versuchen, nach Fort Kearny zu reiten. Während ich mich darauf vorbereitete, erklärte Gothenburg mir lang und breit den Weg, so daß ich nach etwa fünfzehn Meilen auf den Platte-Fluß stoßen würde und dann nur seinem Lauf zu folgen brauche, um sicher nach Fort Kearny zu gelangen. Als die Sonne gesunken war, verließ ich mit meiner Sharps und der Mochilla das Haus und sattelte im Stall mein Pferd, das sich gut erholt hatte. Das Schicksal meinte es gut mit mir, denn der Mond verbarg sich hinter ein paar dunklen Wolken, als ich die Station verließ. Ich führte das Pferd am Zügel nach Süden. Ich war allein. Shita hatte ich bei Gothenburg zurückgelassen, damit der Mann auch mal schlafen konnte. Diesmal war ich sicher, daß Shita nicht ausreißen würde. Alle zwanzig Schritte blieb ich stehen und lauschte. Aber es geschah nichts. Ich ging gut eine Meile zu Fuß, bevor ich in den Sattel stieg und in großem Bogen nach Westen ritt. Trotzdem bemerkten die Cheyennes mich, aber da war es schon zu spät für sie. Ich hatte bereits einen kleinen Vorsprung, und mein Pferd war, wie alle Pony-Expreß-Pferde, dazu ausgebildet, schneller zu laufen als jedes andere Tier. Ich hängte die Cheyennes ab, und als
ich nach einem rasenden Ritt nur wenige Stunden nach Mitternacht die Palisaden eines Forts oberhalb des mächtigen Platte-Flußes, der mir den Weg gewiesen hatte, auftauchen sah, wußte ich, daß ich es geschafft hatte. * Die Gothenburg-Station lag wie ausgestorben vor uns. Ich ritt zusammen mit einer etwa dreißig Mann starken Kavallerietruppe darauf zu. Es war am Spätnachmittag des folgenden Tages, und ich war hundemüde, aber ich hätte es nicht fertiggebracht, auch nur eine Minute zu schlafen, bevor ich nicht wußte, was in der Zwischenzeit geschehen war. Wir entdeckten kein Leben, als wir den Hügel hinaufritten. Das Indianercamp in der Ebene war nicht mehr da. Es gab nur noch eine Menge Hufspuren. Hier und da lag noch ein totes Pferd. Die toten Indianer waren ebenfalls weggeräumt worden. Mein Herz pochte unruhig. Ich befürchtete das Schlimmste, und der junge Lieutenant, der die Truppe anführte, offenbar auch. Wir sprachen kein Wort, aber die Aufregung, die sich des Offiziers bemächtigt hatte, war ihm deutlich anzusehen, und bei mir war das wohl nicht anders. Ich sprang als erster aus dem Sattel, eilte über den Hof und stieß die Stationstür auf. Da ertönte ein scharfes Bellen, dann tauchte Shita auf und sprang schwanzwedelnd auf mich zu. Erleichtert ging ich in die Knie und schlang die Arme um seinen Hals, während er sich vor lauter Freude wie wild gebärdete. Hinter mir traten die Soldaten ein, und dann fanden wir Max Gothenburg, der schlafend und pulverdampfgeschwärzt auf einem Stuhl am Fenster hockte, Anne, die genauso friedlich schlief, auf den Knien. Auf dem Fußboden neben ihm lagen Dutzende von abgeschossenen Zündhütchen. Erst jetzt wachte der bullige Mann auf und berichtete, daß die Cheyennes im Morgengrauen zum letztenmal angegriffen hätten. Es war ihm gelungen, sie abzuwehren, und dann waren sie verschwunden. Still und leise hatten sie ihre Toten eingesammelt.
Als sie Sonne aufgegangen war, war die Ebene leer gewesen. Egal, auf was die Cheyennes am gestrigen Tag noch so zuversichtlich gewartet hatten. Meine gelungene Flucht hatte ihnen offenbar signalisiert, daß die Schwierigkeiten, die ihnen daraus erwachsen würden, ihre Möglichkeiten übersteigen würden. Während sich ein Feldscher um Max Gothenburg und das Baby kümmerte, stieg ich in die Schlafkammer hinauf und streckte mich auf dem Bett aus. Shita legte sich auf den Fußboden, und dann schlief ich auch schon ein. Das letzte, was ich hörte, waren die Befehle des Lieutenants, der unten auf dem Hof ein paar kleine Patrouillen ausschickte. * Es war zwei Tage später, als ich die Wasser des Missouri vor mir in der Mittagssonne blinken sah. Ich zügelte mein Pferd und dachte noch einmal zurück an das, was hinter mir lag. Ich dachte an Max Gothenburg, der sich standhaft geweigert hatte, seine Station mit den Soldaten zu verlassen. Er hatte sich nur schwer von Anne getrennt, aber er hatte schließlich eingesehen, daß ein Baby in dem Alter weibliche Pflege brauchte. Jetzt war alles vorbei, und ich war froh, wieder zu Hause zu sein. Shita trabte neben mir her, und auch er war müde von dem langen Weg. Ich brachte die Mochilla Calvins mit, so daß die Post aus Kalifornien, wenn auch mit einiger Verspätung, St. Joseph doch noch erreichte. Der Fährmann, der uns über den Fluß setzte, redete aufgeregt auf mich ein und wollte wissen, was passiert sei. Seit Tagen sei St. Joseph in Aufregung wegen des Ausbleibens der Expreß-Reiter. Aber ich hatte keine Lust zu reden, und so war er mit meinen Informationen sehr unzufrieden, was mich aber nicht im geringsten kümmerte. Später im Depot des Pony-Expreß erstattete ich knapp, aber ausführlich Bericht. Sogar Mr. Majors hatte sich herabgelassen, sein Office zu verlassen, um zuzuhören. Er meinte danach, daß mir die Bibel, die er mir gegeben habe, sicherlich Trost und Stärkung in den
kritischen Tagen und Stunden gewesen sei, und ich sagte ihm, daß ich sogar ein paar Indianern daraus vorgelesen habe, was ihn in schieres Entzücken versetzte. Was aus der Bibel geworden war, verriet ich ihm lieber nicht. Dann begab ich mich in meine Kammer über den Ställen. Überall auf dem Wagenhof wurde ich angehalten. Jeder wollte genau wissen, was geschehen war, aber ich hatte keine Lust mehr, zu erzählen. Ich wollte nichts als schlafen. Ich stieg mit Shita die schmale Stiege hoch und traf in meiner Kammer Charly McClister an, mit dem ich den Raum teilte. Er lag halbnackt auf seinem Bett, und auch er überfiel mich, kaum daß er meiner ansichtig wurde, mit einem Haufen Fragen. Ohne mir die Stiefel auszuziehen, warf ich mich aufs Bett und antwortete auf die Frage, was denn um Himmels willen geschehen sei: »Nichts Besonderes.« McClister schimpfte mich einen gottlosen Teufelsbraten, weil ich nichts erzählen wollte. Aber ich grinste nur und schloß die Augen. Das war eben so meine Art. Während ich einschlief, brach unten auf dem Hof bereits der nächste Postreiter auf. Der Pony-Expreß ging weiter …
ENDE
Vorschau Die Straße war menschenleer, und darum fiel Ronco der Mann auf, der plötzlich aus einer Seitengasse auftauchte und sich ihm in den Weg stellte. Der mittelgroße, schwarzhaarige Mann trug keine Waffe. Seine eisgrauen Augen musterten Ronco kalt. Seine rechte Hand hing regungslos nach unten. Links trug er statt der Hand eine Prothese. »Ich werde dich umbringen«, sagte der Mann. Aber er hatte keine Waffe, jedenfalls nicht sichtbar. Er hob den linken Arm, bis der Zeigefinger der Prothese auf Ronco zeigte. Auf sein Herz. Da erst begriff Ronco. Wie ein Blitz traf ihn die Erkenntnis, und er warf sich zur Seite. Zugleich mit dem Schuß platzte in der ledernen Zeigefingerkuppe des Mannes ein Loch auf, aus dem ein dünner Rauchfaden in die Luft stieg … Die Jagd auf Ronco, den Geächteten, geht weiter. Lesen Sie nächste Woche Band 201 dieser großen deutschen WesternSerie:
Coltfinger