BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 35
PLANET AUS GLAS von Michael Marcus Thurner
Die RUBIKON hat die Große...
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BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 35
PLANET AUS GLAS von Michael Marcus Thurner
Die RUBIKON hat die Große Magellansche Wolke erreicht. Von dort flohen die Foronen vor Jahrzehntausenden an Bord der SESHA-Arche vor den übermächtigen Virgh. Im so genannten Sonnenhof, einer beispiellosen Ansammlung Schwarzer Sonnen, wird warnungslos eine unbekannte Strahlung freigesetzt, die bis auf Sobek und Siroona sämtliche Foronen an Bord tot zusammenbrechen lässt. John Cloud, der mit seinen Gefährten von den Foronen-Führern Sobek und Siroona gezwungen worden war, sich der Expedition zur Nachbargalaxis anzuschließen, übernimmt das Kommando der RUBIKON. Ein historischer Moment, waren die Menschen zuvor doch immer nur Geduldete an Bord, im Status von Gefangenen. In dieser Rolle finden sich nun Sobek und Siroona wieder. Dennoch ist an eine Rückkehr zur Milchstraße vorerst nicht zu denken, denn die RUBIKON ist beschädigt. Und so bleibt als einziger gangbarer Weg der Vorstoß in die sehr viel näher gelegene alte Heimat der Foronen...
Sirenen gellten. Darabos sah auf und spürte, dass ein Kribbeln an seinem Körper hoch kroch. Es folgte ein unangenehmes Ziehen, ein Zittern der Glieder, ein Hauch von Unbestimmtheit – und schlussendlich die Lähmung. All dies gemeinsam hatte einen Namen. Einen Begriff, der längst verloren geglaubt war in der äonenlangen Historie seines Volkes. Sie hatten das Wort wieder gefunden: Angst. Ein gänzlich neues Vokabular war in den letzten Jahren – wieder! – entstanden. Furcht. Entsetzen. Panik. Die Jungen ihres Volkes waren damit aufgewachsen, die Älteren hatten sich erst daran gewöhnen müssen. Wieder ertönten die Sirenen. »Sie kommen«, sagte Balderis, der Nanologe, mit dem er zusammenarbeitete. »Ja, sie kommen«, echote Darabos. Bedauernd blickte der Biologe auf die Samenaufzucht. Perstem wuchs hier auf Galvaur heran, ein Savannenkraut, das genetisch verändert und ultimativ resistent gegen Schädlinge war. Fast keine Feuchtigkeit und nahezu kein Sonnenlicht waren für das Wachstum dieses genetischen Meisterwerks erforderlich. Die Befruchtung erfolgte durch Selbstbestäubung. Letzte Versuchsreihen, die Balderis und er zurzeit durchführten, sollten nahezu endlose Haltbarkeit der stark duftenden Pflanze bewirken. Zu Öl gepresst und sanft in den Körper gerieben, verursachte Perstem ein prickelndes, wohliges Gefühl, dem man sich nicht entziehen konnte. Doch diese Versuche würden nicht zu Ende gebracht werden können. Denn der Feind war heran. Es wurde Zeit, dass sie sich ihrer Angst stellten.
Die Virgh waren im Anflug. Er, Balderis und Millionen andere aus dem Volk der Foronen, der Krönung evolutionärer Schöpfung in der Sterneninsel Samragh, gingen ihrem Untergang entgegen. 1. John Cloud »Samragh«, murmelte John Cloud und betrachtete die Sternenwolke, die seit Tagen den großen Panoramaschirm der RUBIKON II beherrschte: die Große Magellansche Wolke. Auf einem kleinen Nebenschirm war die Milchstraße in einer atemberaubenden Draufsicht wiedergegeben. Fantasievolle Künstler waren bislang die einzigen Menschen gewesen, die derartige Bilder der heimischen Galaxis gestaltet hatten, doch mit eigenen Augen hatte sie noch kein Vertreter der Rasse Homo sapiens sapiens zu sehen bekommen. Die Wirklichkeit, das kunterbunte, wolkenähnliche Durcheinander aus gelb, rot und weiß – angeordnet wie ein mehrarmiges Windrad rund um ein grell leuchtendes Zentrum – war imposanter als alles, was John Cloud jemals gesehen hatte. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Hauptbildschirm zu und sagte erneut: »Samragh!« »Wie bitte?« »Ich habe bloß laut gedacht, Scobee.« Er strich sich über die Stirn und begann, unruhig auf und ab zu gehen. »Was bedrückt dich?«, fragte die GenTec-Frau mit sanfter Stimme. Sie stand nahe des Eingangs. Scobee vermied es, das zentrale Innere des Raumes zu betreten. Die sieben kreisförmig angeordneten Sarkophag-Sitze, die für Foronen bestimmt waren, erweckten in ihr wohl Scheu.
Begründete Scheu. Auch wenn sie bereits mehrmals in den >Särgen< gesessen hatte und das Gefühl kannte, mit dem Schiff verbunden zu sein – die Künstliche Intelligenz der RUBIKON hatte ihr noch nie das Gefühl gegeben, mehr als nur ein geduldeter Störenfried zu sein. Cloud drehte sich abrupt um und deutete auf die unregelmäßigen Konturen der Großen Magellanschen Wolke. »Was machen wir hier eigentlich? Kannst du mir auf diese Frage eine vernünftige Antwort geben?« »Nun... wir suchen Hilfe für einen Weg zurück nach Hause«, erwiderte die Frau zögernd. »Wo ist unser Zuhause? Etwa die Erde der Zukunft, die von fremdartigen Wesen besetzt ist? Von den Keelon, Zeitreisenden Monstern, die sich die Menschheit zurechtbiegen, wie sie wollen? Dort soll unsere Heimat sein? Nein danke!« Die Heftigkeit, mit der er die Worte ausstieß, überraschte ihn selbst am meisten. »Zuhause ist dort, wo man sich heimisch fühlt«, sagte Scobee, »und das ist nun mal die Erde.« »Das sagst ausgerechnet du?« John blickte die Frau an. Bewunderte ihren wohl proportionierten Körper, ihr zart geschnittenes Gesicht, die manchmal verwirrend auf und ab tanzenden Tattoos oberhalb ihrer tiefgrünen Augen. »Ein von Machtbesessenen Militärs und Wissenschaftlern geklontes Wesen, jahrzehntelang in Bunkern gefangen gehalten, gedemütigt und derart beeinflusst, dass es über Jahrhunderte hinweg Befehlen gehorchen muss?« Was, um Gottes Willen, war in ihn gefahren? Warum brüllte er Scobee an? Warum beleidigte er sie? Er wusste es nicht. Er spürte nur, dass es endlich einmal gesagt werden musste. Wie ein Schwall drang es aus ihm heraus. Mit bloßen Worten drängte er die Frau zurück an die Wand
der Zentrale. Wie ein kleines Kind lehnte sie sich an, seinem Ausbruch scheinbar machtlos ausgeliefert. Er sah das Erschrecken in ihren Augen. Dann die Furcht. Den Zorn. Und schließlich – das Verstehen... »Ich weiß, was du meinst«, sagte sie, stieß sich von der Wand ab und tat einen zögerlichen Schritt auf ihn zu. »Ich habe auch Angst.« Angst? War es das? »Es... es tut mir Leid«, murmelte er und ging einen Schritt vorwärts. Dann noch einen und noch einen – bis sie sich trafen. John umarmte sie impulsiv. Nur kurz versteifte sie sich, und für einen Moment spürte er die stählernen Muskeln, die sich unter der dünnen Haut ihrer Kombination verbargen. Doch plötzlich wurde sie zu einem weichen, anschmiegsamen Wesen, das sich wie von selbst seinen Armen und seinem Körper anpasste. Er tauchte sein Gesicht in ihr dunkelviolettes Haar, das exotisch nach ihm gänzlich unbekannten Pflanzenextrakten duftete. Es roch so gut, dass er darin eintauchen, endlos lange mit ihr beisammen sein wollte... Doch der Moment verging. Zu frisch waren die Narben, der Gedanke an ihren Verrat. Misstrauen wallte erneut in ihm auf. Natürlich konnte Scobee nichts dafür. Eine gentechnisch bestimmte Funktion hatte dafür gesorgt, dass sie den Befehlen eines leibhaftig gewordenen Teufels des 21. Jahrhunderts namens Reuben Cronenberg gehorchen musste. Aber... Sanft drückte John die Frau von sich. Nur widerstrebend folgte sie seinem Willen. Es war ihr anzumerken, dass sie mit jeder Faser ihres Körpers dasselbe wollte wie er. Doch es war der falsche Ort, und es war die falsche Zeit. Er küsste sie zärtlich auf die Stirn, steckte ihr ein Papier zu, das er bereits die längste Zeit in der Hand hielt und drehte sich
erneut zum Panoramaschirm um. »Samragh«, murmelte er zum dritten Mal. »Die Große Magellansche Wolke. Ehemalige Heimat der Foronen.« John Cloud rief sich das wenige astronomische Wissen in Erinnerung, das er über die unregelmäßige Galaxie in unmittelbarer Nachbarschaft der Milchstraße besaß, und verglich es mit den Daten, die ihm die RUBIKON übermittelte. »Ein Spiralnebel mit deutlich erkennbarer Achsbildung, 170.000 Lichtjahre von der Hauptachse der Milchstraße entfernt«, sagte er leise und fuhr mit den Fingern durch das fein gewebte Netz der dreidimensionalen Aufbereitung vor seinen Augen. »Durchmesser 25.000 Lichtjahre.« Er deutete auf ein nebelartiges, mehrfach in sich verschlungenes Gebilde. Scobee folgte ihm aufmerksam, ebenso wie Jelto und Aylea, die mittlerweile zu ihnen in die Zentrale gestoßen waren. John Cloud holte tief Luft. Seine Zuhörer blickten gebannt auf die dreidimensionale Projektion, einen Kubikmeter groß. Was bislang lediglich als verwaschener Nebel in Aufnahmen von irdischen Hochleistungsteleskopen erschienen war, bekam mit Hilfe des Foronen-Schiffes eine greifbare Form. »Intensive Strahlung hat jegliche Reste kosmischen Staubes weggeweht und gewaltige Hohlräume entstehen lassen. Sterne, hundertmal so massereich wie die irdische Sonne, verbreiten ihr Licht.« Der Forscher ging mit ihm durch. Er spürte, wie Neugierde ihn packte. Denn er näherte sich einem Geheimnis, für dessen Enthüllung mancher irdische Wissenschaftler sich alle Glieder hätte abhacken lassen. Und er, sowie seine Schicksalsgenossen näherten sich nun dieser verkrüppelten Galaxis und seinem geheimnisvollen Nebel. Mehr für sich selbst als für seine Zuhörer dozierte er weiter. Schließlich unterbrach ihn Scobee müde lächelnd. »Wem
willst du eigentlich über deine Forschungsergebnisse berichten?« »Ich...« John stutzte überrascht. Es war, als ob er aus einem Traum erwachte. »Entschuldigt mich, ich habe mich wohl mitreißen lassen.« Verlegen grinsend zog er sich aus der Projektion zurück, in die er mittlerweile mit dem ganzen Körper eingedrungen war. Er betrachtete seine Gefährten. Jelto stand da, angewachsen wie eine seiner geliebten Pflanzen, gedankenverloren und vermutlich völlig ratlos. Aylea, weder Teenager noch Kind, war seinen Ausführungen mit der ihr eigenen Neugierde gefolgt. Scobee, seine letzte verbliebene Begleiterin. Stütze, Freundin und Partnerin – und manchmal auch seine größte Kritikerin. Jarvis, das menschliche Bewusstsein, in einem unglaublichen Körper der Foronen-Technologie, war seinem Aufruf zur Zusammenkunft ebenso wenig gefolgt wie Boreguir, das mysteriöse katzenähnliche Wesen. Und da war noch sein Vater... Später, sagte er sich. Immer ein Problem nach dem anderen. »RUBIKON«, sagte er laut, »erneuter Statusbericht! Priorität Schadens- und Problemmeldungen!« »Meine korrekte Bezeichnung lautet SESHA!« »Nein!«, forderte Cloud vehement. »Ein für alle Mal: Dein Name ist RUBIKON!« Das Schiff schwieg für endlos lange Sekunden. Man konnte förmlich spüren, wie es mit sich rang. Hochrangige Befehlsketten kämpften mit den Anweisungen, die der derzeit einzige Weisungsbefugte an Bord gab: John Cloud. Schließlich antwortete die wohl modulierte Frauenstimme: »Statusbericht der RUBIKON: Treibstoffparameter nach Auftankvorgang zu neunzig Prozent erfüllt, Überlichtfaktor eine Million Lichtjahre. Bedeutsame Einschränkung durch
Beschädigung des Externwandlers Zwei: Ausfallquote achtundneunzig Prozent, erneutes Hochfahren misslungen. Nanotrupps zeigen mit Bordmitteln irreparable Schäden. Derzeitige Reichweite also noch knapp achtzigtausend Lichtjahre...« »Stop!«, rief Cloud. »Was ist dieser Wandler?« »Auskunft negativ! Du gehörst nicht zu den ausreichend Legimitierten Personen.« Schwang da so etwas wie Häme in der Stimme der Bord-KI mit? »Seht ihr?«, wandte sich Cloud an seine Freunde. »So geht es mir bereits die ganze Zeit. Ich erfahre, dass etwas defekt ist, aber nicht, was. Ich habe es schon mit allen Mitteln versucht. Mit Drohungen und Bitten – es ist alles einerlei. Die KI erkennt meinen Befehlsstatus nicht in genügendem Maße an, um Auskünfte zu erteilen.« Cloud zögerte kurz. »Abgesehen davon, dass ich ohnehin nicht helfen könnte. Aber ich möchte zumindest einen Überblick erhalten, was dieses Schiff eigentlich antreibt und wie seine Funktionen sind.« »Du warst doch schon mehrmals mit der RUBIKON verbunden, nicht wahr?«, fragte ihn Aylea. »Hast du denn während des Kontakts kein Wissen übermittelt bekommen?« Cloud unterdrückte ein Lächeln. »Es ist, als ob du einen neuen Körper hättest. Du fragst nicht nach dem Wie, sondern du registrierst bloß, dass er funktioniert. Du spürst die Maschinen oder den Antrieb nicht. Sie sind einfach da und halten den Körper am Leben.« Kurz dachte er über seine Worte nach und fügte schließlich hinzu: »Wenn ich mich jetzt in die RUBIKON versetze, bemerke ich Unruhe. Oder Schmerzen, wenn du es so nennen willst. Um beim Vergleich mit dem menschlichen Körper zu bleiben: Als ob mich ein Stechen im Herz daran hindern würde, zu schnell und zu weit zu gehen.« »Was können wir also tun?« Scobee wurde sichtlich unruhig.
»Wir können gar nichts tun. Wir sind wieder einmal auf andere angewiesen.« »Das heißt?« Er seufzte. »Es wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als Sobek um Hilfe zu bitten.« *** Cloud trat seinen Gang zu Sobek alleine an. Der Forone hatte Scobee und seine anderen Begleiter stets geduldet, aber niemals akzeptiert. Sie würden also keine wirkliche Unterstützung bei den bevorstehenden Gesprächen sein. Nur am Rande bemerkte Cloud die Änderungen, die das Raumschiff in den letzten Tagen und Stunden dank seiner Willenskraft durchgemacht hatte. Wände und Decken der Gänge, die er durchwanderte, hatten freundliche Farben angenommen. Es gab Orientierungshilfen in Form von Markierungen im Nahbereich der Zentrale. Monochromes Einerlei war bunter Behaglichkeit gewichen. Cloud versuchte, sich von diesem Gedankengang zu lösen. Er musste sich konzentrieren, sich auf die Begegnung mit dem Führer der Hohen Sieben, Sobek, vorbereiten. Jenem Foronen, den er als legitimen Eigentümer des Schiffes betrachten musste, ob er nun wollte oder nicht. Der Gang öffnete sich in einen strahlend weißen Platz, an dessen Ende der breite, hölzern getäfelte Eingang zu einer Art Auditorium halb offen stand. Clouds Schritt wurde fester. Er durfte jetzt und hier keine Schwäche zeigen, er musste dem Foronen mit allem Selbstbewusstsein gegenübertreten, das er besaß. Ohne zu klopfen, trat er ein... und stand unvermittelt in einer endlos weiten Savannenlandschaft.
Eine weiße Sonne, die hoch im künstlichen Horizont stand, heizte erbarmungslos auf ihn herab. Er drehte sich um. Die Tür war noch da und stand offen. Sie war der einzig sichtbare Beweis dafür, dass er sich in einer Trugwelt befand. Denn rundherum breiteten sich gelbliche, hohe Gräser aus, unterbrochen von einzelnen, hochragenden Dünen aus weißem, stark reflektierendem Sand. Cloud hielt die rechte Hand über die Augen und suchte den Horizont ab. Da! Dort vorne stand das Wesen, das er gesucht hatte. Auf der Spitze der größten Düne, vielleicht fünfhundert Meter entfernt. Er dachte nicht lange darüber nach, dass er sich in einer perfekt gestalteten Illusionslandschaft befand und sich möglicherweise gar nicht vom Fleck bewegte. Schwitzend machte sich der Commander auf den Weg auf den Foronen zu. Er teilte das teilweise hüfthohe Gras, registrierte nur beiläufig handtellergroße Insekten mit grünlich-giftig glänzenden Stacheln und in der Ferne vorbeieilende Käfer, die auf meterhohen Beinen dahinstaksten. Nichts konnte ihn hier gefährden. Die RUBIKON würde auf keinen Fall das einzige Wesen, das sie derzeit als Befehlsgeber anerkannte, einem Risiko aussetzen. Selbst dann nicht, wenn Sobek oder die Foronen-Frau Siroona es forderten. Mühsam stapfte Cloud die vielleicht zwanzig Meter hohe Sanddüne hinauf. »Ganz schön heiß hier, nicht wahr?«, sagte er zu dem Wesen, das ihm den Rücken zugekehrt hatte. »Heiß für dich, angenehm für mich«, erwiderte Sobek, ohne sich umzudrehen. »Was willst du?« Die Membran, die sich an der Stelle spannte, wo bei Humanoiden der Mund saß, knisterte vernehmlich. »Deine Unterstützung, Sobek.« »Willst du mich verhöhnen, Mensch? Mich demütigen?«
Der Forone drehte sich nicht um, er änderte auch nicht seine Körperhaltung – und dennoch meinte John Cloud, von einem Moment zum nächsten, einem abrupt aus dem Winterschlaf erweckten Grizzlybären gegenüberzustehen. Die mentale Präsenz des unheimlichen Wesens war noch weitaus stärker als seine ohnedies schon spürbare körperliche Überlegenheit. Mit aller Kraft drängte Cloud die Angst beiseite. »Keineswegs, Sobek. Niemand hier an Bord will dich und deine Gefährtin demütigen. Wir sind aufeinander angewiesen«, sagte er so ruhig wie möglich. »Also suche ich deine Hilfe.« Überraschenderweise drehte sich der Forone nun doch um. Seine mächtigen Beine stampften im Sand umher, in dem er sich zentimetertief eingegraben hatte. Wie immer schienen tausende Ameisen über seinen Körper zu irrlichtern. »Du schwitzt, Mensch!«, sagte Sobek voller Abscheu. Cloud wischte sich den Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn und spritzte ihn mit einer raschen Armbewegung in den Sand. Fast erschrocken sprang der Forone einen Schritt zurück. Cloud wusste mittlerweile von der tief verwurzelten Abscheu der Foronen vor Wasser und Flüssigkeiten im Allgemeinen. Er konnte nicht verleugnen, dass es ihm Spaß bereitete, den so ungleich Stärkeren derart in Panik zu versetzen. »Verzeih«, sagte er. »Ich bin diese hohen Temperaturen nicht gewohnt.« Der Forone ging nicht weiter auf seine Entschuldigung ein. »Was willst du also von mir?« »Wie du weißt, ist der Antrieb des Raumschiffs beschädigt.« Cloud vermied es bewusst, einen Namen zu nennen. »Angeblich ist einer von drei Wandlern während unseres Aufenthaltes im Sonnenhof in Mitleidenschaft gezogen worden, was auch immer das heißen mag...«
»Ein Wandler verändert Dunkle Energie und bereitet sie nutzungsgerecht auf«, unterbrach der Forone, und schwieg dann. Diese Information war äußerst allgemein gehalten und bedeutete so gut wie gar nichts für Cloud. Er wartete ein paar Sekunden, ob Sobek noch zusätzliche Informationen preisgeben würde. Als das nicht geschah, fuhr er fort. »Die Künstliche Intelligenz des Schiffes sagt, dass die Beschädigung irreparabel sei. Wir müssten die Hilfe einer Raumschiffswerft der Foronen in Anspruch nehmen. Von den 100.000 Lichtjahren an Reichweite, die uns rechnerisch zur Verfügung stehen, haben wir bereits 20.000 in Schleichfahrt verbraucht. Es bleiben also noch 80.000.« Kurz dachte Cloud über den Begriff »Schleichfahrt« nach, der binnen kürzester Zeit einen gänzlich neuen Stellenwert erhalten hatte. »Die SESHA weiß sehr genau, wo sich Werften meines Volkes in Samragh befinden... befunden haben«, sagte der Forone verächtlich und betonte dabei den Namen des Schiffes besonders sorgfältig. Cloud seufzte. »Sobek, schieb nicht mir die Schuld zu, dass du hier an Bord die Befehlsgewalt verloren hast. Es war die Entscheidung des Schiffes selbst! Und es waren die Umstände, die dazu führten.« »Umstände, die du nur zu gerne ausnutzt, nicht wahr? Wolltest du SESHA nicht schon immer kontrollieren?« Wut, ohnmächtige Wut, und vielleicht sogar ein wenig Eifersucht schwangen in der Stimme des fremden Wesens mit. »Was soll denn das!«, schrie Cloud. Und, fast erschrocken über seinen Mut, fügte er etwas leiser hinzu: »Hättest du eine solche Gelegenheit nicht genau so wie ich beim Schopf gepackt?« »Natürlich«, gab Sobek unumwunden zu. »Aber ich wurde
durch einen Menschen ersetzt – durch einen Wurm!« Beide schwiegen daraufhin. Der eine, weil er offenbar nichts mehr zu sagen gedachte. Der andere, weil er schockiert war über die Worte seines Gegenübers. Nichts drückte die Verachtung der Foronen für die menschliche Rasse besser aus als die Tatsache, dass Sobek keinerlei Scham verspürte hatte, während er diese entwürdigenden Worte aussprach. Cloud wusste nicht, was er noch darauf erwidern konnte. Also drehte er sich um und stolperte die Düne hinab, die ihm nun um einiges höher vorkam als noch vor wenigen Minuten. »Warte!«, erschallte hinter ihm Sobeks Stimme, die Widerrede nicht gewohnt war. Cloud ging weiter. »Ich sagte, dass du warten sollst, Mensch!« Die Stimme, befehlsgewohnt, respekteinflößend – ja, nahezu hypnotisch – dröhnte in Clouds Innerem. Sie zerschnitt und zerfaserte ihn, wollte ihn zwingen, stehen zu bleiben. Er setzte alle Willenskraft ein, um seine Beine vorwärts zu bewegen. Weg von diesem Monster, für das er eben nichts anderes als ein... Wurm war. Schritte dröhnten hinter ihm. Schwer und scheinbar plump. Cloud ging weiter, immer rascher werdend. Es war kein Sand mehr, auf dem sie beide nun dahin liefen. Die KI der RUBIKON oder gar Sobek hatte die perfekte Illusion der Savannenlandschaft aufgehoben. Eine halbdunkle Halle, in der es nach ranzigem Öl roch, tauchte übergangslos vor Clouds Augen auf. Es blieb ihm keine Zeit, sich über den abrupten Wechsel zu wundern, denn der Forone hatte ihn überholt, blieb vor ihm stehen und versperrte den Weg. »Du kannst mir nichts antun, Sobek«, sagte der
Commander. »Das Schiff würde es nicht erlauben. – Nicht wahr?« Die beiden letzten Worte brüllte er, als ob die RUBIKON nicht ohnehin ihrem Gespräch gelauscht hätte. »So ist es, Kommandant!«, sagte die KI des Schiffes lapidar. War es momentaner, unbändiger Hass auf das Schiff, der den Foronen wanken ließ? Oder war es die körperliche und mentale Schwäche, die ihn und seine Begleiterin Siroona seit den Erlebnissen im Sonnenhof nicht mehr loslassen wollte? »Ich will dir nichts antun, Mensch!«, sagte Sobek. Sein Brustkörper hob und senkte sich merklich, das Gewirr der Ameisen seiner Körperrüstung wurde noch hektischer. Fast schien es, als würden Funken aus seinem Inneren schlagen. »Ich...« Er schwieg und setzte nochmals an: »Ich...« Erneut brach der Forone ab und stand still da, mit geneigtem Haupt. »Was willst du sagen, Sobek?« Cloud sprach möglichst ruhig. »Soll ich etwa dankbar sein, dass du mein Leben gerettet hast? Glaubst du, dass ich dir verpflichtet sein sollte? Oder soll ich ein schlechtes Gewissen haben, weil du von mir um dein Raumschiff betrogen wurdest?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Sobek! Alles, was du und deinesgleichen taten, geschah doch nur aus kalkuliertem Eigennutz. Es ging immer nur um das Volk der Foronen und darum, es in voller Blüte wieder auferstehen zu lassen. Wenn meine Begleiter oder ich in den letzten Wochen und Monaten in deinem Dienste gestorben wären – du hättest uns keine Träne nachgeweint!« Wie auch, überlegte Cloud, Foronen hatten keine Augen und kannten keine Tränenflüssigkeit. Im selben Moment wunderte er sich über den abstrusen Gedanken, der ihm gerade gekommen war. Er setzte fort: »Deshalb interessiert mich auch nicht, was du über uns Menschen denkst. Und jetzt lass mich bitte gehen!« Der Forone wich nicht zur Seite. Muskeln spannten sich
unter der Körperrüstung an. Hände mit Krallen, so scharf, dass sie einen Menschen mit einer beiläufigen Bewegung in Fetzen reißen konnten, deuteten in seine Richtung. »Du machst es mir nicht leicht, Mensch!«, stieß Sobek schließlich hervor. »Ich... ich will dir meine... Hilfe anbieten.« Cloud sog überrascht die Luft ein. Diese Worte waren wohl das Maximum dessen, was man von einem Foronen als Geste des guten Willens erhalten konnte. 2. John Cloud Sobek war John Cloud in die Zentrale gefolgt. Wenn er von den räumlichen Veränderungen überrascht war, die allerorts zu sehen waren, so zeigte er es nicht. Ohne ein weiteres Wort und ohne die anwesenden Scobee, Aylea und Jelto überhaupt zu beachten, trat er zum Panoramaschirm. Mit einer Kralle seiner linken Hand deutete er auf einen Ausschnitt der Großen Magellanschen Wolke. »Vergrößern!«, befahl der Forone knapp. Die KI der RUBIKON gehorchte. Erneut entstand ein Kubus der kleinen Galaxis, wie bereits vor einer Stunde. »Hier ist unser Ziel.« Sobek fasste in die Projektion, fing sich mit einer unglaublich präzisen Bewegung zwei der Sterne heraus und setzte sie vor sich in die Luft. Ein einziger Planet bildete sich scheinbar aus dem Nichts. Er umkreiste die namenlosen Sonnen auf einer gelb leuchtenden, nahezu kreisrunden Umlaufbahn. »Basisdaten des Planeten«, sagte der Forone lapidar. Die Stimme der RUBIKON begann sofort zu sprechen. »Galvaur. 1,2 Gravos.« Die KI hatte auf Clouds Wunsch hin, irdische Maß- und Recheneinheiten in ihre Sprachausgabe
übernommen. »Achtzehntausend Kilometer im Durchmesser. Achsneigung zu den Sonnen Ferne I und II vier Prozent, Rotationsgeschwindigkeit...« Die RUBIKON rasselte in schneller Abfolge die wichtigsten Daten über Galvaur herab. Cloud achtete kaum auf die vielen Informationen, sondern zeichnete lediglich in Gedanken ein Bild der Welt, die sie erwartete. Es war ein ungemütlicher Planet, viel zu heiß für sie, mit leicht erhöhter Schwerkraft. Doch die wahre Sensation für den Commander war die Tatsache, dass ein K- und ein M-Zwerg mit 0,6 beziehungsweise 0,2 Sonnenmassen einem offenbar bewohnbaren Planeten Licht und Wärme boten. Ein Doppelstern! Aus astronomischer Sicht war es durchaus nicht ungewöhnlich, dass sich Welten um physische Doppelgestirne bewegten. Mehr als die Hälfte aller bekannten Sterne der irdischen Kataloge waren Teil eines Doppel- oder Mehrfachsternsystems, wobei der Abstand zueinander von wenigen Lichtstunden bis zu mehreren tausend Lichtjahren differieren konnte. Im 21. Jahrhundert war man jedoch davon ausgegangen, dass lediglich Jupiterähnliche Körper in großem Abstand Chancen hätten, den mörderischen Gewalten zweier sich gegenseitig beeinflussenden Sonnen widerstehen zu können. Doch die Tatsachen, die Sobek und die Künstliche Intelligenz der RUBIKON mit ihren Worten schufen, wischten wieder einmal jegliches Schulwissen der Menschen beiseite. »Was erwartet uns auf Galvaur?«, unterbrach Cloud die Ausführungen des Schiffes. Er wandte sich an den Foronen. »Warum gerade diese Welt?« »Galvaur war die letzte Bastion unserer Rasse, bevor die Virgh kamen«, antwortete Sobek. »Es handelte sich um den geheimsten aller Planeten. Nur besonders ausgezeichnete
Mitglieder meiner Rasse fanden dort Aufnahme, um Forschungen im Kampf gegen die Feinde zu betreiben. Waffen, Abwehrsysteme, Informationen – auf Galvaur wurde entwickelt, getestet und verwertet. Und es ist...« »Meine Heimat«, ergänzte die RUBIKON. Unüberhörbare Sehnsucht schwang in ihrer Stimme mit. »Galvaur ist der Ort meiner Entstehung.« Das war allerdings eine Überraschung. Cloud wollte gar nicht glauben, dass der Forone – und das Schiff – endlich einmal freiwillig bedeutende Informationen herausrückten. »Galvaur war also Zentrum der wissenschaftlichen Forschung eures Volkes«, sagte er nachdenklich. »Und du erwartest, dass dort noch Angehörige deines Volkes leben?« »Es war der letzte Planet, der noch nicht von den Virgh überrannt worden war, während das Rettungsprogramm mit der SESHA und zehntausend weiteren Raumschiffen als Rettungsarchen anlief«, erwiderte Sobek. »Du kennst die Geschichte unseres Auszugs aus Samragh bereits.« »Und Galvaur war Ausgangspunkt eurer Flucht?«, warf Scobee ein. »Es war weniger Flucht als das vernünftige Zurückweichen vor dem übermächtigen Gegner, um in Ruhe frische Kräfte tanken zu können.« Nun, so kann man es auch sehen, wenn man das Gefühl der Niederlage unbedingt verdrängen will, dachte Cloud. Laut fügte er hinzu: »Wie groß ist deiner Meinung nach die Chance, dass uns dort Raumschiffe der Virgh erwarten?« »Geringer als irgendwo sonst. Wie gesagt – die Koordinaten des Planeten waren nicht einmal einer Hand voll meiner Landsleute bekannt, die Galvaur kannten beziehungsweise wieder verlassen durften. Die Abschirmung unserer Aktivitäten war dank des Emissionschaos in unmittelbarer Umgebung
nahezu perfekt.« Er griff in das Hologramm und zeigte auf die Sternenballung, aus der er Galvaur herausgeholt hatte. Abertausende Sonnen standen dort so nahe beisammen, dass man kaum noch einzelne von ihnen ausmachen konnte. Der Forone fuhr fort: »Eine gezielte Entdeckung des Planeten war so gut wie ausgeschlossen.« »Nicht aber eine zufällige«, sagte Cloud. »Darüber hinaus sind seit eurem Abschied aus der Heimat Jahrtausende vergangen. Sollten die Virgh also nach wie vor in Samragh tätig sein, hätten sie ausreichend Zeit gehabt, um die gesamte Sterneninsel zu durchkämmen.« »Der taktische Rückzug der Foronen in den Hinterhof der Milchstraße beruhte auf der Annahme, dass sich die Virgh nicht so lange halten würden. Unsere Exopsychologen haben sich ausgiebig mit ihren Verhaltensmustern auseinander gesetzt, um gewisse Parameter ihrer Lebenszyklen bestimmen zu können.« »Welche wären das, zum Beispiel?«, fragte Aylea unvermittelt. John wusste, dass sich das aus seiner Sicht hyperintelligente Mädchen seit dem Erwachen aus ihrer vorgeschobenen irdischen Utopie besonders intensiv mit Fremdrassenpsychologie befasste. Überraschenderweise reagierte Sobek auf den Einwurf. »Die Virgh sind unserer Ansicht nach als nomadische Eroberer zu sehen«, sagte er. »Sie fallen über den Gegner her, vernichten ihn restlos und ziehen dann weiter. Sie nehmen sich, was sie wollen mit konsequenter Erbarmungslosigkeit und hinterlassen einen Scherbenhaufen.« »Ein Verhalten ähnlich dem von HeuschreckenSchwärmen«, murmelte Scobee. »Wie bitte?«, fragte Aylea irritiert. »Was sind Heuschrecken?«
»Insekten. Pflanzenfeinde«, mischte sich Jelto ein, der bislang ruhig geblieben war. »Ich kenne sie aus Abbildungen. In unserer Zeit existieren sie nicht mehr.« Er wirkte angespannt. Alles, was seine geliebte Pflanzenwelt bedrohte, stellte für ihn einen Gegner dar. »Kannst du uns noch etwas anbieten – abgesehen vom Glauben, dass die Virgh mittlerweile weiter gezogen sind?« Cloud riskierte viel mit seinen Worten. Es war nicht ratsam, den Foronen zu reizen. Die momentane Situation konnte sich genauso schnell wieder drehen, wie sie sich zu ihren Gunsten ergeben hatte. Sobek ging nicht auf den Sarkasmus ein, sondern antwortete völlig nüchtern: »Die Passivbewaffnung der SESHA ist ausgezeichnet. Sowohl die Schutzschirme als auch die Ortungssysteme sollten denen der Virgh ebenbürtig sein. Und gegen die Kontinuumwaffe kannten die Invasoren damals kein Gegenmittel. Wir könnten es notfalls auch mit fünf oder sechs der feindlichen Superdreizack-Schiffe aufnehmen. Doch diese Gedanken sind müßig, solange wir keinen Überblick über die Lage in Samragh haben. Und auch aus diesem Grund wäre ich dafür, Galvaur anzufliegen. Nur dort können wir aktuelle Informationen erwarten.« Sobek sprach bedächtig, fast vorsichtig. Keinesfalls entsprach er zurzeit jenem überheblichen Wesen, das die Menschen kennen – und hassen – gelernt hatten. »Gut«, sagte Cloud und blickte seine Gefährten nacheinander an. »Wir werden uns deinen Vorschlag überlegen. Die Distanz nach Galvaur ist wie groß?« »Knapp zweitausend Lichtjahre«, sagte die RUBIKON. »Also selbst mit unserer eingeschränkten Reichweite kein Problem. Wir werden uns bei dir und Siroona melden, sobald wir eine Entscheidung getroffen haben.« Sobek rührte sich nicht von der Stelle. Wahrscheinlich
verstand er den kaum verhohlenen Rausschmiss nicht. »Du kannst jetzt gehen, Forone«, sagte Cloud leise und deutete auf das Zentralschott. Im ersten Augenblick reagierte Sobek immer noch nicht. Obwohl er nicht über Augen verfügte, fühlte Cloud sich gemustert. Muss ich es auf Gewalt ankommen lassen, um meine Position klar zu machen?, überlegte der neue Kommandant der RUBIKON. Da wandte sich der Forone um und stampfte schweren Schrittes davon. Mit jedem Schritt war seine mühsam unterdrückte Wut zu spüren. Er, einer der Hohen Sieben, musste sich von einem Menschen wie ein kleiner Schuljunge abkanzeln lassen. »Noch etwas, Sobek«, rief ihm Cloud hinterher. Der Forone blieb stehen, drehte sich aber nicht um. »Nur zu deiner Information: Das Schiff heißt von nun an RUBIKON und nicht mehr SESHA.« »Dies mag gelten, solange du Herr über das Seelenschiff bist«, flüsterte der Forone. Er schien allerdings geradezu auf telepathischem Weg zu schreien, sodass Clouds Ohren dröhnten, wenn dieser die Worte auch nicht verstehen konnte. Sobek ging weiter, und das Schott schloss sich hinter ihm. »Das hättest du nicht tun dürfen, John«, sagte Scobee vorwurfsvoll. »Du reizt ihn bis aufs Blut. Er wird es dich büßen lassen, sobald sich die Gelegenheit ergibt.« »Ich weiß«, erwiderte er, »aber ich konnte nicht widerstehen. Die Situation war einfach zu verlockend. Und ich werde mich bemühen, ihm keine Chance zu geben, sich zu revanchieren.« »Können wir ihm trauen?«, fragte Aylea. Du meine Güte, war das Mädchen naiv! Ihre Intelligenz war bemerkenswert, doch ihre Gedanken und ihre
Menschenkenntnis – eigentlich Foronen-Kenntnis – ließ eindeutig zu wünschen übrig. »Natürlich nicht«, sagte Scobee an Clouds statt. »Sobald sich die Möglichkeit ergibt, wird er uns in den Rücken fallen. Ich bin mir sicher, dass er bereits wieder in seinem überdimensionalen Sandkasten spielt und überlegt, wie er uns reinlegen kann.« »Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass der Flug nach Galvaur gleichzeitig das Ende meiner... unserer Befehlskraft über die RUBIKON sein kann.« Cloud kratzte sich nachdenklich über das unrasierte Kinn. »Sollten wir dort tatsächlich Sobeks Artgenossen begegnen, sind sie möglicherweise befehlsberechtigt über das Schiff und entziehen mir die Befehlsgewalt. Vermute ich richtig, RUBIKON?« »Positiv, Kommandant.« Cloud hatte sich in den letzten Tagen sehr darum bemüht, den Gefühlsfaktor, den der Foronen-Raumer bislang gezeigt hatte, zu reduzieren und ihm einen nüchternen Tonfall beizubringen. Bislang funktionierte es. »Sind alle Artgenossen Sobeks legitimiert, über dich zu bestimmen?«, fragte Cloud. »Nein, Kommandant. Bei meinem Aufbruch von Galvaur waren dies außer den Hohen Sieben nur noch zwanzig weitere Foronen.« »Welche sind die Kriterien, die darüber bestimmen?« »Auskunft negativ!«, erklärte die KI. »Du gehörst nicht zu den ausreichend Legimitierten Personen.« Cloud seufzte. Diese Antwort hatte er in den letzten Tagen und Stunden sehr oft gehört. Zu oft. Immer, wenn er glaubte, dem Ziel der vollkommenen Beherrschung der RUBIKON einen Schritt näher gekommen zu sein, taten sich neue Hindernisse vor ihm auf.
Er wandte sich an seine Begleiter. »Nichtsdestotrotz: Ich denke, wir müssen das Risiko eingehen, Galvaur anzufliegen. Trotz der Gefahr einer möglichen Falle durch Sobek, der das Kommando zurückgewinnen will. Trotz des latenten Risikos, dass die Virgh noch in der Großen Magellanschen Wolke auf Schiffe der Foronen lauern. Doch wenn alles gut geht, überwiegen auf jeden Fall die Vorteile.« »Die da wären?« Endlich zeigte der sonst so verschlossene Jelto ein wenig Interesse an der Situation. »Die Reparatur des Wandlers – wie auch immer das vor sich gehen mag. Informationen aus erster Hand – vor allem, was den Hintergrund dieses Konfliktes zwischen Foronen und Virgh betrifft. Und die Möglichkeit, wieder in die Milchstraße zurückzukehren...« »Darf ich auf Galvaur mit aussteigen?« Die Sehnsucht in Jeltos Stimme war unüberhörbar. Aha, daher wehte also der Wind! Der Florenhüter mit seinem Drang nach Natur und Pflanzen, benötigte Freiraum! Cloud konnte ihn nur allzu gut verstehen. So perfekt die Simulationen der RUBIKON auch waren, so viel Grün der Pflanzenmensch auch in seinen persönlichen Trakt eingebracht hatte – er benötigte einfach wieder frische Erde unter den Füßen. »Natürlich«, sagte Cloud sanft. »Wir werden alle, so es die Situation zulässt, diese Welt ein wenig erkunden.« »Bis auf dich, Kommandant«, sagte die RUBIKON lapidar. »Ja. Bis auf mich.« Cloud konnte ein kurzes Zittern seiner Hände nicht verhindern. Er war zwar der unumschränkte Herrscher über das Raumschiff – doch gleichzeitig auch sein Gefangener. Als derzeit einziger Befehlsgeber über die RUBIKON durfte er sich nach Ansicht des Foronen-Schiffes unter keinen Umständen in Gefahr bringen.
*** Sobek erschien diesmal in Begleitung von Siroona in der Zentrale. Die Foronin wirkte angeschlagener als ihr Begleiter. Soweit es sich Cloud zutraute, das zu beurteilen, sah sie ausgemergelt aus. Immer wieder zitterte sie sekundenlang, um gleich darauf orientierungslos, wie blind, mit den Armen zu rudern. Sobek nahm sie dann beruhigend bei den Händen. Es war das erste Mal, dass sie körperlichen Kontakt der beiden Foronen zu sehen bekamen. Sobek nahm ihre Entscheidung, Galvaur anzufliegen, ohne weitere Äußerung zur Kenntnis. Wie es seiner pragmatischen Art entsprach, ging er sogleich zum Kern der Dinge über: »Wir sollten das Netz aktivieren, jetzt, nachdem wir weiter ins Innere Samraghs vordringen.« »Das was?« »Das Ortungsnetz.« Der Körper des Foronen straffte sich. Er empfand offensichtlich Genugtuung, den Menschen wieder einmal einen Schritt voraus zu sein. »RUBIKON, Netz auswerfen.« Cloud spürte Sobeks Selbstgefälligkeit, weil der Forone daran gedacht hatte, den neuen Namen seines Raumschiffs zu verwenden. Aber nichts tat sich. Erst als Cloud leicht nickte, reagierte das Schiff. Er wusste, dass die KI seine Gestik längst analysiert hatte und einfache bis Komplizierteste menschliche Gebärden erkannte und sofort in Befehle umsetzte. Lediglich einmal, als der Commander bei seinen Nachforschungen, was das Schiff betraf, nicht weiter gekommen und unbeherrscht den von der Faust abgespreizten
Mittelfinger in Richtung Decke gezeigt hatte, waren merkwürdige Fehlfunktionen aufgetreten. Der Panoramaschirm leuchtete hell auf. Das natürliche Licht der Sterne der Großen Magellanschen Wolke, der sie sich nach wie vor auf Schleichfahrt näherten, verblasste und machte einer grünlich unterlegten Simulation Platz. Die RUBIKON wurde als rot blinkender Punkt sichtbar; die peripheren Sterne der Galaxis, knapp voraus, waren gelb gekennzeichnet. Plötzlich gingen wellenförmige Bewegungen, die sich dazu noch rasch um ihre Achse drehten, vom Schiff aus. In der Form eines spitzen Kegels mit einem Winkel von ungefähr 30 Grad schossen mehrere tausend dieser offensichtlichen Energiestrahlen überlichtschnell davon. Sie berührten sich hundertfach und zeichneten ein extrem dicht gewobenes Netz, wenn man es in der Simulation betrachtete. In Wirklichkeit waren die Abstände zwischen den einzelnen Strahlbögen sicherlich gewaltig groß und wuchsen an, je weiter sich die Energiestrahlen vom Schiff entfernten. Beständige Tonfolgen erklangen, ähnlich denen, wie sie von Walen ausgestoßen wurden. »Das Netz misst alle energetischen Signaturen an, die von Planeten der Zivilisationsstufe Ragh – etwa Erinjij-Niveau – und höher ausgestrahlt werden.« Unverkennbarer Stolz war in Sobeks Stimme zu hören. »Zur Zeit der Großen Kriege war das Netz unsere bedeutendste Passiv-Waffe. Wir waren auf Flottenbewegungen der Gegner vorbereitet und konnten dementsprechend handeln. Wenn es Schiffe aufspüren soll, ist die Reichweite allerdings weit geringer und umspannt nicht mehr ganz Samragh.« »Genutzt hat es euch nicht viel«, sagte Jelto geringschätzig. In seiner friedliebenden Art hatte er bis vor wenigen Wochen keinerlei Bezug zu Kriegen und Schlachten gehabt und sah die Dinge nach wie vor mit unglaublicher Naivität.
»Weil wir uns zu spät auf sie eingestellt hatten und unsere Offensivbewaffnung lange Zeit nicht mit der der Virgh Schritt halten konnte.« In Sobek arbeitete es, das war unübersehbar. Wahrscheinlich durchlebte er in diesen Sekunden die schrecklichen Endzüge jener Kämpfe, die schlussendlich zur Flucht der Foronen in die Milchstraße geführt hatten. »Was ist, wenn die Virgh ihre Energiekennung mittlerweile verändert haben?«, fragte Cloud. »Ich wiederhole mich ungern – aber es sind Jahrtausende vergangen, seitdem du Samragh das letzte Mal gesehen hast.« »Das Netz ist nur eine zusätzliche Vorsichtsmaßnahme«, sagte Sobek, und ein Hauch jenes kräftigen, suggestiven Timbres, das der Commander zu fürchten gelernt hatte, schwang in seiner Stimme mit. »Noch einmal: Unsere Exopsychologen waren sich sicher, dass die Virgh nach der Eroberung der Sterneninsel rasch weiterziehen würden.« »Nun... wollen wir hoffen, dass du Recht behältst, Sobek.« Cloud wandte sich wieder dem Schirm zu, doch dann kam ihm noch ein Gedanke. »Warum wusste ich nichts von der Existenz dieses Netzes, RUBIKON? Hättest du die gefährliche Situation beim Zusammenprall mit der Drohne, die möglicherweise von den Virgh stammte, im Leerraum nicht verhindern können?« »Erstens ist es nicht gesichert, dass es sich bei der Drohne um Foronentechnik handelte. Zweitens gab es von Sobek, meinem damaligen Kommandanten, keinen Befehl, das Netz bereits zu diesem Zeitpunkt auszuwerfen.« »Das heißt, dass auch ihr Fehler macht, nicht wahr?«, knurrte Cloud in Sobeks Richtung. Der Forone schwieg. »Na gut. Kann der Öffnungswinkel des Netzes auch verändert werden, oder können wir es immer nur sozusagen voraus auswerfen?«
»Selbstverständlich kann man das Ortungsnetz, einen ausreichend hohen Energiepegel vorausgesetzt, in alle Richtungen abstrahlen lassen. Die Reichweite ist dann allerdings auf zirka einhundert Lichtjahre beschränkt.« »Wie groß ist der zeitliche Vorsprung, den wir dadurch vor dem Feind erwirken?« Sobek überlegte kurz. »Je nach Situation und Geschwindigkeit zwischen zehn und fünfzehn Sekunden eurer Zeitrechnung. Dies ist auf jeden Fall ausreichend Zeit, um einen Fluchtvektor zu berechnen oder ein Ausweichmanöver einzuleiten.« »Nun gut.« Cloud seufzte. »Dann drehen wir mal die Zündung an und lassen vorglühen.« »Wie bitte?« Schiff und Sobek fragten unisono, und beider Stimmen wirkten ratlos. »Das war ein bescheidenes Beispiel für irdischen Humor.« Cloud grinste. »Ich meinte: Los geht’s!« 3. John Cloud Die momentane Besatzung der RUBIKON war eine bunte Ansammlung von Individualisten, die nie und nimmer gemeinsam an Bord eines Raumschiffes gehört hätte. Sobek und Siroona, die beiden letzten überlebenden Foronen der Katastrophe, die ihre Artgenossen vor wenigen Tagen im Sonnenhof getroffen hatte, waren natürlich sein größtes Problem. Cloud durfte keinen Moment in seiner Aufmerksamkeit nachlassen, um den unterschwelligen, im Verborgenen geführten Machtkampf gegen die beiden Mitglieder der Hohen Sieben nicht zu verlieren. Doch auch die weiteren Mitreisenden stellten einen steten Quell an Herausforderungen und unangenehmen
Überraschungen dar. Am Unkompliziertesten war da noch Clouds Verhältnis zu Scobee, der GenTec-Frau – und das wollte schon etwas heißen. Aylea, das zehnjährige Mädchen, lieferte ihm zwar immer wieder Einblicke in das Leben der Erde des 23. Jahrhunderts, die im Geheimen von den Mastern regiert wurde, und überraschte mit enormem Fachwissen, das einem Einstein oder Hawking zur Ehre gereicht hätte. Andererseits war sie, ihrem Alter entsprechend, charakterlich kaum ausgeprägt und nur wenig gefestigt. Jelto, der Florenhüter, war der beste Freund des Mädchens. Das verbindende Element zwischen ihnen war wohl die Tatsache, dass sie beide aus der irdischen Jetztzeit stammten. Dazu gesellte sich bei ihm eine Hypersensibilität, die besonders zum Vorschein trat, wenn es um Pflanzen ging. Was sollte Cloud bloß über Jarvis denken? Den GenTec, dessen Körperlichkeit auf dem Mars verloren gegangen war und dessen Bewusstsein nun in einer amorphen Masse steckte, einem wie Plastillin formbaren Kunstkörper? Cloud vertraute ihm – aber hatte er wirklich die volle Kontrolle über seinen neuen Körper? Boreguir, der Saskane, halb Katzen- und halb Igelwesen, war einstmals Mitstreiter von Jarvis und dem verstorbenen Resnick in der Marsstation der Foronen gewesen. Der Instinktbehaftete Barbar war mit erstaunlichen Fähigkeiten ausgestattet und eingewoben in ein enges Netz aus seinem Ehrenkodex, hehren Verhaltensmaßregeln und unverständlichen Riten. John mochte das Fremdwesen und seine teilweise abstrusen Ansichten nicht besonders, obwohl er ihnen im Kerker der Schwarzen Sonnen aus der Patsche geholfen hatte. Der wichtigste Grund für seine Abneigung war wohl, dass der Saskane aus unerfindlichen Gründen Nathan Cloud abrupt aus jahrhundertelangem Staseschlaf befreit und damit dessen
Leben gefährdet hatte. Und damit war Cloud beim letzten Mitglied der bunt gemischten Mannschaft angelangt: bei seinem Vater. Physisch gesehen, waren sie beide nahezu gleich alt. Doch Nathan Clouds Aufenthalt in einer Art Kunstharzblock, von den Foronen in eine Form gegossen wie ein Insekt, das man ab und zu erfreut betrachtete, hatte geistige Schäden an dem Mann angerichtet. Der in der Erinnerung des Jungen zu einer übermächtigen Figur erhobene Vater war nun eine traurige, scheinbar seelenlose Gestalt. Die Hoffnung, Nathans psychische Gesundheit wieder herstellen zu können, war derzeit mehr als ungewiss. Einigendes Moment für die sieben Schicksalsgenossen war der Zorn auf die beiden Foronen, die ihnen allen zu unterschiedlichsten Anlässen Schaden und Schmerz zugefügt hatten. Das alltägliche Leben an Bord der RUBIKON war für John Cloud ein steter Balanceakt. Er seufzte und trat an das Bett des Vaters. Auf der Erde wäre der psychisch labile Mann wohl mit Fixiergurten nieder gebunden worden. Hier reichten einige schwach leuchtende Fesselstrahlen, die ihn umhüllten. Sie erlaubten Nathan Cloud zwar, sich zur Seite zu drehen – doch bei der geringsten unkontrollierten Bewegung, mit der er sich selbst verletzen konnte, fassten sie fester zu. Johns Vater war seit einigen Tagen hyperaktiv. Fast ununterbrochen marschierte er oder rannte er laut vor sich hin brabbelnd durch die bekannten und gesicherten Korridore der RUBIKON. Er malträtierte einen Haufen Fitnessgeräte, die John für ihn mit Hilfe der RUBIKON erdacht hatte oder dehnte und streckte einzelne Körperpartien stundenlang. Es schien fast so, als wolle er binnen kürzester Zeit all jene
Bewegungsabläufe bis zum Exzess nachholen, die er in seinem halb bewussten Staseschlaf nicht hatte vollziehen können. Selbst in den wenigen Ruhestunden, die er sich gönnte, blieb er unruhig. Immer wieder glühten die Fesselfelder sanft auf. Unkontrollierte Bewegungen ließen den sehnigen Körper erzittern. Die Augen flatterten; Überwachungssensoren zeigten übermäßige Traumtätigkeit. Nathan Clouds Geist fand einfach keine Ruhe. »Dad... es tut mir alles so Leid!«, flüsterte John Cloud und streichelte ihm sanft über die verschwitzte Stirn. »Und ich bedaure, dass ich mich nicht ausreichend um dich kümmern kann. Es ist momentan schwer genug, mein eigenes Leben in den Griff zu bekommen.« Er lachte bitter. »Aber du wirst – hör mir ja gut zu! – du wirst nicht noch einmal verloren gehen, nachdem ich dich endlich wieder gefunden habe. Du hast kein Recht, dich erneut aus dem Staub zu machen, in irgendwelche Psychosen oder geistige Verwirrungen abzugleiten. Hast du mich verstanden?« Fest drückte er seinem Vater die Hand. Für einen kurzen Moment blieb Nathan Cloud ruhig liegen, dann murmelte er etwas Unverständliches. Sein Körper verkrampfte sich katatonisch, die Atem- und Herzfrequenz stieg bedrohlich an. Doch nach wenigen Augenblicken normalisierte sich die Situation und – John mochte es kaum glauben! – sein Vater glitt in einen ruhigen, gesunden Schlaf. Leise schlich sich John Cloud aus dem abgedunkelten Zimmer. Erst draußen wagte er, tief durchzuatmen. Eigentlich unternahm er alles, was er nur konnte, um Geist und Seele seines Vaters wieder zu beleben. Aber er brachte es seit Tagen nicht übers Herz, auch nur ein paar Worte mit ihm zu wechseln, während er wach war. Der Blick in die gefühllosen, scheinbar toten Augen ließ ihn jedes Mal erschaudern.
Scobee hatte schon Recht gehabt: Er hatte in vielerlei Beziehung Angst. Doch nicht, wenn es um ihr nächstes Ziel ging: Galvaur. Mit grimmiger Entschlossenheit betrat er die Zentrale... *** Cepheiden beherrschten das Bild in unmittelbarer Umgebung des Zielplaneten. Dies waren Sterne, deren Helligkeit rhythmisch schwankte und die sich scheinbar wie kosmische Tänzer bewegten. Cloud fühlte, in einem der Sarkophage der Hohen Sieben mit der RUBIKON verbunden, die besonderen Bedingungen, die in diesem Sektor herrschten. Kosmischer Staub prasselte in erhöhtem Maß gegen den Schmiegschirm des Schiffes, ebenso wie intensive Strahlung auf allen Wellenlängen. Er empfand es als unangenehmes Prickeln wie durch aufgewehten Sand an einem windigen Tag. Wie spürst du das Versagen des Wandlers?, fragte er gedanklich sein derzeitiges Alter Ego, die RUBIKON. Um in deinen Bildern zu sprechen: Ich muss humpeln, antwortete das Schiff. Und ich spüre, dass ich nicht mehr weit gehen kann, weil ich immer müder werde. Ich kann zwar Nahrung zu mir nehmen, sie aber nicht mehr verdauen. Dies war eine sehr verallgemeinernde Sicht der Dinge, und er wäre der RUBIKON für detailliertere Informationen dankbar gewesen. Doch Cloud bemerkte, dass die KI selbst überfordert war. Sie litt. Cloud wandte sich einer anderen wichtigen Aufgabe zu. Er fühlte mit dem so genannten Virgh-Netz weiter nach draußen. Er musste tatsächlich nur den Gedanken zu entwickeln, wie ein Fischer von seinem Kahn aus das Schleppnetz auszuwerfen,
und das Schiff setzte problemlos dieses Hilfsbild um. Natürlich war es weitaus komplizierter, doch er war mittlerweile an die Mechanismen des Schiffes derart gewöhnt, dass es keinerlei bewusstes Denken erforderte, den metallenen Körper nach seinem Willen Dinge tun zu lassen. Es war nichts zu sehen oder, besser gesagt, zu spüren. Das Netz prickelte leicht in seiner »Hand«, berührte da und dort Sterne, Planeten oder Kometen. Doch es war nichts dabei, das so »schmeckte« wie Virgh-Technologie. Um genau zu sein, war gar nichts dabei. Die gesamte große Magellansche Wolke schien ausgestorben zu sein. Hatte Sobek mit der Vernichtungswut der Virgh doch nicht übertrieben... Cloud merkte, dass seine Aufmerksamkeit nachließ. Den Rest der letzten kleinen Etappe konnte die KI ohne weiteres alleine erledigen. Alle Parameter waren fixiert, der Autopilot sozusagen programmiert. Cloud war froh, dass er nach längerer Zeit wieder in seine körperliche Hülle zurückschlüpfen durfte. Er stand auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Scobee wartete wie immer prüfend und alarmbereit in gehörigem Respektabstand zu den Sarkophagen. Sie betrachtete ihn, als befürchtete sie, dass der Geist der RUBIKON auf ihn übergegriffen hätte. Cloud lächelte sie an. »Alles in Ordnung«, sagte er. »Das Schiff verhält sich fromm wie ein Lamm.« »Das soll aber kein Grund sein, in deiner Wachsamkeit nachzulassen«, mahnte sie. »Natürlich nicht, Scob. Doch es scheint, als ob mir die RUBIKON keine Probleme mehr machen wollte.« »Diese Worte habe ich schon öfter gehört...« Unwillig winkte er ab. Diese Diskussionen führten zu nichts. Er lenkte Scobees Blick auf eine ganze Batterie von Schirmen, die die bevorstehende Annäherung an das
Doppelsternsystem in Datenkolonnen und Bildsimulationen vermittelte. Die GenTec zeigte sich interessiert und rief über ein zentrales Terminal Zusatzinformationen ab. Es war für Cloud immer wieder verwirrend zuzusehen, wie sie mit beiden Händen gleichzeitig voneinander unabhängige Aufgaben erledigte. Gentechnische Verbesserungen, dachte er. Effizienz und Geschwindigkeit hatten beim Design von Scobees Fähigkeiten im Vordergrund gestanden... Schaudernd wandte er sich ab. Sobek betrat die Zentrale, Siroona in seinem Schlepptau. »Wir sind da, ich kann es spüren!«, sagte er. »Du kannst es... spüren?«, fragte Cloud misstrauisch. »Wir sind empfindlicher als ihr gegenüber Änderungen der kosmischen Hintergrundstrahlung«, erwiderte der Forone. Dies war eine glatte Lüge, wusste Cloud. Er hatte die Abschirmung der RUBIKON angesichts der in diesem Raumsektor wirksamen Strahlungskomponenten auf ein Maximum hochgefahren. Nichts konnte derzeit die Schirme des Schiffes durchdringen. Sein Misstrauen erfuhr dadurch nur noch mehr Nahrung, doch er schwieg. Dies war der falsche Augenblick für eine weitere Auseinandersetzung. »Wie lange noch?«, fragte der Forone. Es sollte unverfänglich und gleichmütig wirken, doch Cloud hatte mittlerweile ausreichend Erfahrung mit Sobeks unterschiedlichen Stimmlagen gewonnen, um sagen zu können, dass es der Forone vor Ungeduld kaum noch erwarten konnte, Galvaur zu erreichen. Was aus seiner Sicht nur all zu verständlich war – nach wer weiß wie vielen Jahren. »Eine Stunde, bis wir in eine Umlaufbahn einschwenken«, antwortete Scobee an Clouds statt. »Warum so lange warten?«, schnappte Siroona. »Das Schiff
ist in der Lage, in wenigen Augenblicken zu landen!« Überrascht blickte Cloud sie an. Die beiden Foronen konnten sich tatsächlich kaum noch beherrschen. Steckte etwa mehr dahinter, als bloß die Sehnsucht nach etwas heimatlichem Boden? »Für eine Stunde gewonnener Zeit sollen wir jegliche Vorsicht fallen lassen?« Entschieden winkte er ab. »Nein! Ich konnte zwar keinerlei Tätigkeiten eures alten Feindes anmessen, aber wir bleiben wachsam. RUBIKON, du machst so weiter, wie ich es dir befohlen habe.« »Verstanden«, sagte das Schiff lapidar. Siroona wollte aufbrausen, an Sobek in seine Richtung vorbeistürmen, doch der Forone hielt sie auf. Es war gespenstisch zuzusehen, wie sie sich nun untereinander verständigten. Es fielen keine Worte; jegliche Kommunikation verlief über eine quasitelepathische Verbindung zwischen den beiden. Umso mehr, als sie sichtlich kein Interesse hatten, Cloud und Scobee an den Gründen für ihre Ungeduld Anteil haben zu lassen. »Dann mach, wie du es für richtig hältst, Mensch!«, sagte Siroona schließlich, ohne ihn anzusehen, und rauschte aus der Zentrale. Täuschte er sich, oder war sie bei wesentlich besserer Gesundheit als noch vor wenigen Stunden? Sie ging aufrecht, stolperte kaum und litt keinesfalls noch unter Orientierungsschwierigkeiten. Sobek war stehen geblieben, in unmittelbarer Nähe der sieben Sarkophage. Als ob er demonstrativ darauf hinweisen wollte, dass dies hier eigentlich sein Angestammter Platz war, den er nur für kurze Zeit abgetreten hatte. Die Arme hatte er in fast menschlicher Gestik vor der Brust verschränkt. Die langen Krallenfinger bewegten sich unruhig. Er wollte die Zentrale wohl nicht mehr verlassen, und Cloud wusste keinen Grund, ihn am Bleiben zu hindern.
Er wandte sich wieder den Bildschirmen zu. Scobee trat zu ihm. »Hier«, sagte sie und deutete auf einen kleinen, schwach leuchtenden Stern. »Das ist Ferne I. Der M-Zwerg. Nach galaktischen Maßstäben nahezu ausgebrannt. Er und Ferne II, der K-Zwerg, umkreisen einen imaginären Mittelpunkt und beeinflussen sich gravitational gegenseitig. Das System scheint stabil zu sein.« »Und Galvaur?« Cloud beugte sich interessiert nach vorne. »Wie bereits von Sobek angedeutet: Im Zentrum dieses seltsamen Systems umkreisen sich die beiden Sterne, und Galvaur wiederum bewegt sich auf einer nahezu kreisförmigen Umlaufbahn um das Doppelgestirn...« »Hältst du dies für eine bewusst herbeigeführte Konstellation?«, unterbrach sie Cloud, und ignorierte dabei vollends den anwesenden Sobek, der ihm sicherlich besser Auskunft geben konnte. »Das wäre möglich«, antwortete die Frau. »Wenn die technischen Möglichkeiten der Foronen für eine Sternenbewegung ausreichend waren...« »Ich muss euch enttäuschen«, mischte sich Sobek mit ärgerlicher Stimme ein. »Das Galvaur-System ist bloß eine Laune der Natur. Die rechnerische Spielart einer Konstellation, die nahe an der Unmöglichkeit kratzt – und dennoch existiert. Mein Volk hatte bei der Auswahl des Planeten lediglich eines im Sinne: möglichst hoher Schutzfaktor vor der Entdeckung durch potentielle Feinde. Galvaur bot sich inmitten dieser stark emittierenden Sternenballung an.« Cloud zwinkerte Scobee zu, und sie grinste zurück. So beachtenswert die Fähigkeiten und die Intelligenz des Foronen waren – manchmal ließ er sich mit den kleinsten Tricks aushebeln. Es funktionierte besonders gut, wenn man ihn wie Luft behandelte. Der Wunsch nach Selbstdarstellung war in
Sobek, trotz aller Dämpfer, die er in letzter Zeit erhalten hatte, nach wie vor stark ausgeprägt. Scobee konzentrierte sich plötzlich wieder auf ihre Datenreihen. Sie muss etwas entdeckt haben!, dachte Cloud und wurde nervös. Etwas Ungewöhnliches! »Die RUBIKON zeigt Unmengen von Metallverbindungen an. Im weiten Umfeld von Galvaur!« Sobek versteifte sich. Es war ihm anzumerken, dass er sich am liebsten in einen der Sitze geschmissen hätte, um die Ortungsergebnisse des Schiffes am eigenen Leib zu erfahren. »Raumschiffe?«, vermutete Cloud. »Aber wir haben bislang doch keinerlei Energieemissionen angemessen...« »Es sind keine Schiffe, John«, erwiderte Scobee leise. »Es sind bloß die zerstörten Reste davon...« Narr!, beschimpfte sich Cloud selbst, warum erschrickst du so? Wenn hier tatsächlich eine Flotte auf uns warten oder gar eine Gefahr bestehen würde, hätte uns die KI der RUBIKON längst gewarnt. Scobees Ergebnisse sind ja ganz nett, aber eigentlich ist dies eine Arbeit ohne großen Nutzen. Eine Beschäftigungstherapie für sie. Das Schiff kann alles viel präziser in deutlich kürzerer Zeit für uns auswerten. Sobek schien dies ähnlich zu sehen, so wie er dastand und seinen Sarkophag tunlichst ignorierte. Dankenswerterweise sagte er kein Wort. »Analyse«, verlangte Cloud von der KI. Wie aus der Pistole geschossen, folgte die RUBIKON seinem Befehl. »Es sind die Relikte einer Schlacht, die zur Zeit des Rückzugs knapp außerhalb der Umlaufbahn Galvaurs getobt haben muss. Laut meiner Hochrechnung handelt es sich um die Trümmer von maximal zweitausend Schiffen mit der Masse der Silex-Klasse... »Wie bitte?«, fragte Cloud.
»Raumer meines Volkes mit gehobener Kampfkraft«, warf Sobek unruhig ein. »Die in alle Richtungen versprengt wurden«, fuhr die KI fort. »Zweitausend Schiffe... Die ungefähre Stärke der damaligen Verteidigungsflotte. Sind... sind auch Virgh-Relikte angemessen worden?«, fragte der Forone. »Nein. Der Feind ist wie immer vorgegangen – wenn es ihm möglich war – und hat alles vernichtet, was auf seine eigene Technologie schließen lässt.« Vor Clouds innerem Auge bildete sich ein Horror-Szenario: Schiffe, so groß und so mächtig wie die RUBIKON, die gegen einen unbegreiflichen, nahezu unbezwingbaren Gegner angingen. Eines nach dem anderen wurde aus der Phalanx der Verteidiger rausgeschossen, zerplatzte wie eine reife Frucht, tonlos, in einem bald erkaltenden Flammeninferno... Ihm schwindelte. »Wir müssten demnach auch noch... Tote deines Volkes hier finden, Sobek. Umhertreibende, wahrscheinlich mumifizierte Foronen in ihren Raumanzügen.« »Nein!«, sagte Sobek leise. Er bemühte sich sichtlich, seiner Stimme einen möglichst nüchternen Anstrich zu geben. »Die Virgh vernichteten alles Leben. Immer und vollständig. Kurz nach einer gewonnenen Schlacht kamen die so genannten Totenschiffe und schleusten Unmengen an Robotern aus. Sie zerstrahlten Tote, Verwundete, Flüchtlinge – alles, was von organischer Substanz war. Nichts, rein gar nichts blieb übrig, nachdem sie ihre Arbeit getan hatten. Ich konnte es bereits einmal beobachten, bei der Großen Schlacht von Amtagua...« Cloud schluckte. Die Informationen, die ihm sozusagen Tröpfchenweise über die Virgh verabreicht wurden, zeichneten ein Bild, wie es grausamer nicht sein konnte. Nachdenklich blickte er nun den Foronen an, der seiner
Gefühle kaum noch Herr werden konnte. Gingen sie, die Menschen, von falschen Voraussetzungen aus? Waren Arroganz, Selbstherrlichkeit und Lebensverachtende Einstellung der Foronen nichts anderes als Schutzschilder? Unsichtbare Rüstungen, die sie vor den Grausamkeiten der Virgh schützten, wollten sie im Existenzkampf gegen den unbarmherzigen Gegner bestehen? Hatten sie jeglichen sozialen Gedanken – oder das, was die Foronen als solchen empfanden – bewusst abgelegt, um ihr wohl schreckliches, tägliches Leben meistern zu können? Cloud spürte, dass er der Lösung eines der vielen Rätsel, das Sobek und die Seinen umgab, nahe war. Sehr nahe... Scobee unterbrach abrupt seine Gedanken. »Ich habe erste Messergebnisse von Galvaur erhalten.« »Und?« »Dort unten bewegt sich nichts mehr.« »Gar nichts mehr?«, hakte Cloud nach. »Es gab riesige unterirdische Bauten«, warf Sobek ein. »Tunnelsysteme. Lager. Speicher. Bunker. Energiestationen...« Er war immer leiser geworden, bis er schließlich verstummte. Scobee blickte ihn bloß an, völlig bleich geworden. »Als ich sagte: Dort unten bewegt sich nichts mehr, meinte ich es auch so. Wortwörtlich. Es gibt weder Foronen, noch Tiere, noch Insekten. Nicht einmal ein Wiesenhalm, der sich im Wind wiegt.« 4. Aylea Aylea verzweifelte. »Das ist ein Fußball, und niemand, den du zerschnipseln sollst!«, schrie sie Boreguir an.
»Du sagtest, ich solle den Ball nicht an mir vorbei in dieses... Tor... lassen«, antwortete der Saskane. »Aber ich meinte nicht, dass du ihn mit deinem langen Fleischermesser filetierst, sodass er wie ein welkes Blatt zu Boden flattert! Man wehrt mit dem Fuß ab!« Sie imitierte die Bewegung eines Befreiungsstoßes. »So, siehst du?« »Das hättest du mir sagen sollen. Ich kenne dieses >Fußball< nicht. Und erklär mir bitte nochmals, warum ich abwehren soll.« Das Mädchen schluckte den ganz und gar nicht altersgemäßen Fluch hinab, der ihr auf der Zunge lag. Es war einfach unmöglich, Boreguir den Sinn und die Regeln des Fußballspielens beizubringen. Das Leben des Saskanen war auf Zweckmäßigkeit ausgerichtet und ließ keinen Platz für Gedanken an Vergnügungen. Aber vielleicht funktionierten die Mini-Translatoren, die die RUBIKON ihnen zur Verfügung gestellt hatte, ja nicht richtig. Abgesehen von John und Scobee – und natürlich Jarvis – waren sie darauf angewiesen. Die anderen verfügten nicht über einen implantierten Übersetzungschip. Was Aylea allerdings noch mehr reizte, war die gestelzte Redensweise des schlanken Wesens mit den katzenhaften Bewegungen und dem igelähnlichen Stachelrücken. Als Jugendliche an Bord dieses Schiffes hatte man kein leichtes Los. Verzweifelt musterte sie ihre Mitbeziehungsweise Gegenspieler. Jelto hing wie eine eingeschrumpelte Mohrrübe zwischen den Torpfosten, die die RUBIKON ebenso wie das kleine Spielfeld in eine leer stehende Halle gezaubert hatte. Verzweifelt bemühte er sich, Überblick zu bewahren und trat ab und zu – erfolglos – mit seinen großen Plattfüßen nach dem Ball. Er hatte noch niemals zuvor einen Fußball gesehen, ähnlich wie Boreguir.
Und Jarvis? Der ehemalige GenTec in einem Körper aus unzähligen Nanorobotern hatte von Anfang an klargestellt, dass er sich aufs Zusehen beschränken würde. »Nun gut«, sagte sie schließlich frustriert, »RUBIKON, können wir bitte noch einen Ball haben? Vielleicht funktioniert es ja diesmal...« Scobees gepresste Stimme ertönte über unsichtbare Lautsprecher. »Aylea, Jelto, Jarvis und Boreguir – ich bitte euch, in die Zentrale zu kommen. Und zwar rasch!« Sie blickten sich alarmiert an. Scobees harscher Tonfall ließ Schlimmes vermuten. Aylea setzte sich in Bewegung, den drei anderen hinterher. Von einem gemeinsamen Marsch konnte keine Rede sein. Boreguir schlich katzenhaft und leise, Jarvis stapfte in annähernd menschlicher Gestalt vorwärts, Jelto wischte nur ganz sanft und leicht über den Boden – und sie war die Einzige, die eine menschliche Gangart besaß. Boreguir glitt an ihre Seite. »Während wir zur Zentrale gehen«, sagte er mit so sanfter Stimme, dass sie ihn am liebsten erwürgt hätte, »könntest du mir bitte nochmals erklären, was der Sinn dieses Laufens und Balltretens ist?« Aylea hätte sich nie vorstellen können, dass sie einmal so denken würde. Aber sie war tatsächlich froh, dass das kleine Spiel zu Ende war. Ein halbes Dutzend zerquetschter, zertretener und zerschnittener Bälle blieb in der Halle zurück... *** Scobee empfing sie am Eingang zur Zentrale. Sie wirkte müde und etwas durcheinander; dunkle Schatten standen unter ihren Augen. »Alles in Ordnung, Kleine?«, fragte sie und klopfte Aylea
freundlich auf die Schulter. »Ja, danke«, antwortete das Mädchen und ging rasch weiter ins Innere des großen runden Raumes. Sie mochte die GenTec, aber übertriebenes mütterliches Gehabe konnte sie manchmal ganz schön nerven. Am liebsten war es Aylea, wenn man sie mit ihren Problemen einfach in Ruhe ließ. Sie wollte alleine damit fertig werden. »Wir schwenken in den nächsten Minuten in die Umlaufbahn um Galvaur ein«, sagte John Cloud, der aufrecht in einem Sarkophag saß. Sein Kopf war frei, also nicht in dem merkwürdigen Liegesitz verschwunden. Das hieß, dass er nicht mit dem Schiff verschmolzen war. Noch nicht. Jarvis, Boreguir, Jelto und Aylea schwiegen. Diese Ankündigung war nichts Neues. Sie alle wussten Bescheid darüber, dass das Raumschiff nicht so funktionierte, wie es eigentlich sollte, und einer Generalüberholung bedurfte. »Wir haben mittlerweile erste sehr gute Aufnahmen von der Oberfläche Galvaurs«, fuhr Cloud fort. »Sie sind... Nun, sie zeigen Ungewöhnliches. Um nicht zu sagen: Sie zeigen Außergewöhnliches.« So kannte Aylea den Kommandanten der RUBIKON sonst gar nicht! Normalerweise sagte er direkt heraus, was Sache war. Doch diesmal druckste er herum wie ein Neunjähriger, also wie ein kleines Kind. Cloud fuhr über die Tastatur zu seiner Rechten. Der große Panoramaschirm, der bislang bloß eintönige Bilder von endloser Schwärze und wenigen stark leuchtenden Sonnen gezeigt hatte, flammte überraschend hell auf. Übergangslos blickten sie auf die Oberfläche von Galvaur hinab. So etwas Eintöniges, dachte Aylea. Alles ist flach. Flach und gelb. Und es wirkt so statisch, wie eingefroren...
Jarvis neben ihr wurde unruhig. »Da stimmt was nicht, John«, sagte er mit dumpfer, hohler Stimme. »Diese Reflektionen«, er deutete auf mehrere Lichtblitze, die so wirkten, als ob riesige spiegelnde Flächen das Sonnenlicht zurückwerfen würden, »sind nicht normal. Es wirkt...« »... unheimlich!«, platzte Aylea heraus. Eine Gänsehaut kroch ihre Unterarme entlang. John lächelte sie an. Oh, wie sie es hasste, wenn Erwachsene das taten! Dieses Lächeln bedeutete nichts anderes als: >Jaja, bist ein liebes Kind – aber misch dich nicht dauernd ein, wenn Erwachsene sprechen!< Davon war sie überzeugt. Dabei hatte sie sich in manchen Schulfächern bereits mehr Wissen angeeignet, als dieser zweihundertvierzig Jahre alte Knacker besaß. Und sie war ohnehin schon fast erwachsen. »Unheimlich ist das richtige Wort«, sagte die GenTec und nahm ihr damit den ganzen Wind aus den Segeln. Wie gerne hätte sie diesem aufgeblasenen Schiffskommandanten, der sie wie ein Baby behandelte, einmal die Meinung gesagt. »Ich habe mich auch erschrocken«, fügte Scobee hinzu und sah sie einen nach dem anderen an. »Vor allem, nachdem ich Vergrößerungen gesehen habe. Die Reflektionen, die ihr sehen könnt, stammen von einer glasierten Fläche.« Die GenTec-Frau ließ ein neues Bild auf dem großen Schirm erscheinen. Leise fuhr sie fort: »Es scheint so, als seien große Teile Galvaurs von dieser reflektierenden Fläche verhüllt. Wahrscheinlich sogar der gesamte Planet.« Zuerst herrschte Schweigen, dann heilloses Durcheinander. »Das gibt’s doch gar nicht!« »Unmöglich!« »Was ist mit den Pflanzen?« »Wo sind die Foronen?«
»Beruhigt euch bitte!«, forderte Cloud. »Wir sind genauso schlau wie ihr. Sobek behauptete, dass dies das Werk der Virgh wäre. Manchmal hätten sie nach der Eroberung eines Planeten dessen Oberfläche sozusagen verglast. Er konnte mir allerdings nicht sagen, warum sie das taten...« »Wo sind Sobek und Siroona eigentlich?«, fragte Jelto und blickte sich unsicher um. »In ihren Trakten«, antwortete der Commander. »Die Bilder, die das Raumschiff machte, haben sie noch mehr getroffen als Scobee und mich. Aber sie werden von der Besprechung hier sicherlich erfahren.« »Was hast du vor, John?« Aylea räusperte sich nervös. »Wär’s nicht das Beste, sofort von hier zu verschwinden? Eine Werkstatt für die RUBIKON wird’s wohl hier nicht mehr geben. Wir sollten woanders Hilfe suchen.« »Im Prinzip hast du Recht. Aber ich denke, wir sollten uns zumindest kurz umblicken und zu ergründen versuchen, was dort unten tatsächlich passiert ist. Wir dürfen Dinge wie diese nicht einfach ignorieren. Wir bewegen uns in einem riesigen Puzzle, das zumindest zwei Galaxien und riesige Zeiträume umfasst.« Cloud holte tief Luft und sah über Aylea hinweg direkt zu Jarvis. »Das erste Mal, seitdem wir die Erde verlassen haben, um den Mars zu erkunden, haben wir mit Hilfe der neuen RUBIKON die Möglichkeit, von uns aus aktiv zu werden.« Grimmig bleckte er die Zähne. Aylea hatte ihn selten zuvor so entschlossen gesehen. »Ich möchte diese Chance nutzen! Ich möchte so viele Informationen wie möglich einholen. Der kleinste Hinweis kann uns weiterhelfen. Ich weiß, wir mischen uns wieder einmal in Sachen ein, die uns auf den ersten Blick überhaupt nichts angehen – aber mein Gefühl sagt mir, dass wir dieser Sache nachgehen sollten. Wir haben alle gemeinsam ein Ziel – Boreguir, verzeih mir bitte, wenn ich dich jetzt mal ausspare –, und das lautet: die Erde zu befreien.«
Kampfeslustig blickte sich Cloud um. »Wenn wir uns in galaxisweite Konflikte einmischen müssen, um dieses Ziel zu erreichen, dann soll es so sein! Irgendwelche Einwände?« »Gut gebrüllt, Löwe!«, sagte Scobee, die hinter dem Commander dessen Ausführungen gelauscht hatte. Es klang etwas amüsiert, aber zustimmend. »Hältst du Galvaur für so wichtig, um direkte Nachforschungen zu betreiben?« »Absolut. Schon alleine deswegen, um zu erfahren, was dort unten passiert ist. Warum die gesamte Welt verglast wurde. Ob dies tatsächlich eine Waffe der Virgh war. Ob und wie man ihr begegnen kann.« »Wenn die Foronen kein Mittel gegen diesen Gegner fanden, wird es uns noch weniger gelingen«, warf Jarvis ein. »Vielleicht dachten Sobeks Artgenossen einfach nur falsch. Vielleicht gibt es eine Methode, auf die sie wegen ihrer Einfachheit nicht gekommen sind... Natürlich hast du Recht: Alleine der Gedanke daran, schlauer als die Foronen zu sein, ist vermessen. Aber selbst wenn wir nichts Nützliches auf Galvaur herausfinden – ich halte es für ein Zeichen des guten Willens, wenn wir Sobek beweisen, dass wir uns auch um seine Probleme und Ziele kümmern. Wer weiß, wofür es einmal gut sein kann...« »Wir sollen Sobek aus freiem Willen helfen?«, hakte Jelto nach. »Er wird es uns nicht danken!« »Das sei dahingestellt«, entgegnete Cloud kühl. »Ich möchte jedenfalls eine Expedition mit zwei Mann nach unten schicken.« Er drehte sich nicht um, als er fragte: »Scobee?« »Ich bin dein Mann«, spöttelte sie, trat aber dann demonstrativ zu ihm. Aylea hatte das Bedürfnis, aufzuzeigen. Sie wollte laut rufen: >He, da bin ich, die Kleine, wie ihr immer so nett sagt! Nehmt mich mit, damit ich euch den Hintern retten kann, wenn
ihr nicht mehr weiter wisst!< Doch irgendetwas hinderte sie daran. »Ich gehe mit«, brummte das menschliche Zerrbild, das Jarvis’ Bewusstsein in sich hatte. Der Amorphe trat einen Schritt vor. »Ich denke, ich bin für Außenmissionen am besten geeignet.« »Ist in Ordnung«, sagte Cloud nach einem kurzen Zögern. »Gibt es noch irgendwelche Vorschläge oder Einwände?« Niemand sagte etwas, auch Aylea nicht. »Gut. In einer halben Stunde schleusen wir ein Beiboot mit Scobee und Jarvis aus.« Die so unterschiedlichen Besatzungsmitglieder gingen merkwürdig ruhig auseinander. Seltsam. So bestimmend und kraftvoll hatte Aylea John noch nie gesehen. Es war ein merkwürdiges Gefühl für sie. Als ob er mit der Ernennung zum Kommandanten der RUBIKON neue Kräfte, neues Selbstbewusstsein gefunden hätte. Ihr gefiel dieser neue John Cloud. Auch wenn er manchmal ganz schön ätzend sein konnte... 5. Jarvis Das Landungsboot ähnelte sehr den Teleporter-Kapseln, in denen Jarvis und Resnick vor gar nicht so langer Zeit ihre unfreiwillige Odyssee angetreten hatten. Dabei waren sie von dem Ding richtig gehend angesogen worden und nach einer unglaublichen Odyssee quer durchs Weltall auf dem Mars gelandet. Wo sein Freund Resnick schlussendlich ums Leben gekommen war... Düstere Erinnerungen wurden in Jarvis wach, als er neben Scobee das Innere der vier Meter hohen Transportkugel betrat.
Wenigstens tat er es diesmal freiwillig. »Jetzt beeil dich endlich!«, rief Scobee. Langsam drehte er sich zu der in seinen Augen zierlichen GenTec um. Sie erschrak. Kein Wunder. War sein Geist doch in einer blassgrauen, Metamorphen Substanz gefangen, die permanent in Bewegung zu sein schien. Es musste schwer für andere sein, sich daran zu gewöhnen. Noch schwerer war es allerdings für ihn selbst. Immerhin schaffte er es normalerweise, sich wie ein ganz normaler Mensch zu bewegen. Doch von Zeit zu Zeit verwandelte er sich ohne sein bewusstes Zutun in ein quecksilberähnliches Gewässer, das die Gänge und Korridore der RUBIKON entlang floss. Sobald seine Konzentration nur einen Moment nachließ... Jarvis wandte sich wieder Scobee zu, der hübschen, wohl proportionierten Frau mit dem etwas zu harten Herzen. »Jarvis, was ist mit dir?«, fragte Scobee. »Bist du in Ordnung?« »Ja«, antwortete er mit jener unheimlichen Stimme, an die er sich bis jetzt noch nicht gewöhnt hatte. »Ich habe nur nachgedacht...« *** Die Landung erfolgte sanft und ohne dass sich für sie etwas geändert hätte. Ein blaues Leuchten nahe der runden Schleuse kündete an, dass sie die Transportkapsel nun verlassen durften. Scobee schloss ihre leichte Raumkombination und schaltete mit geübten Griffen die anzuginterne Luftaufbereitung zu. Trotz der Hinweise der RUBIKON, dass die Luft auf Galvaur ohne weiteres für Menschen atembar war und keinerlei gefährliche
Viren herumschwirrten, hatte sie vorerst die üblichen Sicherheitsmaßnahmen ergriffen. Jarvis verzichtete auf jeglichen Schutz. Sein neuer Körper überstand sogar das Vakuum zwischen den Sternen. »Hörst du mich?«, fragte die GenTec-Frau, als sie ihren Kommunikator prüfte. Jarvis bestätigte. Er benötigte solche Geräte nicht mehr. »Fertig?«, fragte sie und atmete tief durch. »Ja«, antwortete er. Das Schott öffnete sich. Gleißende Sonnenstrahlen empfingen sie. Ein Schwall stickiger, heißer Luft wehte in die Schleuse. Jarvis drängte sich an Scobee vorbei und betrat als Erster den Boden des fremden Planeten. »Galvaur«, murmelte er. Und fügte sarkastisch hinzu: »Ein kleiner Schritt für einen amorphen Schlickhaufen, ein großer Schritt für die Menschheit.« Scobee sah ihn befremdet an und trat dann vorsichtig aus der Schleuse. »Fühlt sich ungewöhnlich an, nicht wahr?« Jarvis deutete mit einer ungelenken Handbewegung auf den Boden. Sie sagte nichts, sondern starrte bloß umher. Weit und breit war nichts anderes zu sehen als Savannenlandschaft. Grüngelbe Gräser, die sowohl in der weiten Ebene vor ihnen als auch auf den Hügeln hinter ihnen wuchsen, bogen sich im sanften Wind. In einem Wind, der vor Ewigkeiten geweht hatte. Denn ihre Füße berührten die Halme nicht. Die ganze Landschaft, so weit das Auge reichte, war eingefroren. Eine glasähnliche Schicht, durchsichtig und mehrere Zentimeter stark, war über die Savanne gegossen. »Das ist... das ist einfach... grässlich!«, stotterte Scobee. Sie stampfte laut auf.
Ein dumpfes Geräusch ertönte. Jarvis spürte leichte Vibrationen unter den Füßen, die, wie er plötzlich bemerkte, immer mehr zerrannen. Er war von der Umgebung wohl doch beeindruckter, als er gedacht hatte. Er konzentrierte sich und gab ihnen erneut eine annähernd menschliche Form. »Das Material erinnert mich an etwas«, sagte er. Scobee schaute auf und runzelte die Stirn. »Was meinst du?« »Die Masse, in der Nathan Cloud und die anderen Menschen für die Ewigkeit eingefroren waren«, erwiderte er. »Der Kunstharz, den du meinst, war bernsteinfarben, nicht so durchsichtig gläsern wie das hier.« Sie stampfte noch einmal auf. »Und? Ich meinte nur, dass mir die Technik als dieselbe erscheint. Man hat etwas konserviert, sozusagen wie ein Museumsstück für die Ewigkeit erhalten.« »Du glaubst also, dass es die Foronen selbst waren, die dies hier gemacht haben?« »Es könnte doch sein, oder?«, mutmaßte Jarvis. »Vielleicht haben die Foronen ihre Welt präpariert und dann fluchtartig verlassen. Möglicherweise wollten sie hierher zurückkehren, nachdem die Sache mit den Virgh ausgestanden war, um Galvaur schließlich wieder zum Leben zu erwecken.« »Eine sehr gewagte Theorie.« Scobee blickte zweifelnd umher. Dann sah sie auf die Instrumente an ihrem Unterarmband, nickte befriedigt und brachte die Energieblase, die bei ihr den Helm ersetzte, zum Verlöschen. Sie schnüffelte umher. Ihre Nase war immer sehr fein gewesen, wie Jarvis von ihrer gemeinsamen Ausbildungszeit her wusste. Als ich noch einen menschlichen Körper hatte, und mir selbst die anstrengendsten Übungen Spaß machten. Als ich noch einen Muskelkater nach einem 24-Stunden- Marsch
spürte, und mir die Riemen des schwer gefüllten Rucksacks blutig rote Striemen über die Schulterblätter zeichneten. Als ich noch fühlte, und nicht aus Nano-Gelee oder was auch immer bestand... »Alles in Ordnung, Jarvis?«, fragte Scobee argwöhnisch. »Natürlich«, antwortete er schroff, »siehst du etwa Augenringe? Oder Falten? Oder schwitze ich etwa?« »Ist schon gut! Ich mache mir bloß Sorgen um dich.« Er sah in ihren Augen, dass sie es ernst meinte. »Sollte nur ein Witz sein. Manchmal glaube ich, ich bin einfach nur ein lebender Toter...« Sie erschrak. »Red keinen Unsinn!« Er lachte bitter auf. »Na ja, normales Leben ist es sicher nicht. Weder Schuss- noch Strahlwaffen können mir etwas antun. Temperaturen von minus zweihundert Grad Celsius kosten mich einen Lacher. Ich weiß immer noch nicht genau, wie mein Körper eigentlich funktioniert. Ständig schwirren in meinem Hinterkopf irgendwelche Programme herum. Aber das hat auch sein Gutes. Sobek kann mit Hilfe seiner Rüstung Teleportieren, erinnerst du dich? Vielleicht werde ich das auch irgendwann können.« Ihr Gesicht war blass, und irgendwie gab es ihm ein besonderes Gefühl der Befriedigung, sie derart erschreckt zu sehen. Dann fing sie sich und versuchte ein Lächeln. »Dann dürftest du der GenTec sein, der die Erwartungen all unserer Erschaffer übertrumpft.« Jarvis nickte. Doch seine neuen Sinne fingen von ihr alle Zeichen von Nervosität auf... ***
Scobee war einfach drauflos marschiert, und automatisch folgte Jarvis ihr. Die Transportkugel hinter ihnen wurde immer kleiner, bis sie nur noch einer zu groß geratenen Murmel ähnelte, die im Licht der beiden Sonnen glänzte. Die GenTec sagte nichts. Die gespenstische, konservierte Landschaft ringsumher schien sie vollkommen zu fesseln. Doch tatsächlich war sie offenbar mit ihren Gedanken ganz woanders. Abrupt blieb sie stehen. »Bist du dir aller Programme in dir bewusst?«, fragte sie ihn unvermittelt. »Scob, sieh mich an! Ich muss mich konzentrieren, um auch nur annähernd so auszusehen, wie ein Mensch. Ich muss zwar nicht mehr schlafen. Aber wenn ich es tun würde, würde ich mich mit großer Sicherheit in eine Pfütze verwandeln. Das ist zwar nicht mehr so schwer wie zu Anfang, aber... Egal! Was ich damit sagen will, ist, dass ich weit davon entfernt bin, mir >aller Programme bewusst zu sein
einer seiner Rüstungen. Und warum sollte er mich unterstützen? Wir sind in letzter Zeit nicht besonders nett zu ihm gewesen, oder? Abgesehen davon, glaube ich nicht, dass der Forone momentan in der Lage wäre, mir in irgendeiner Form zu helfen. Ich kann seine Schwäche spüren...« »Du kannst... was meinst du damit?« Sie wirkte mit einem Mal aufgeregt. »Vergiss nicht, dass es die ursprüngliche Aufgabe meiner Hülle war, seinesgleichen zu schützen. Mein körperliches Ich saß vor langer, langer Zeit auf diesem verstorbenen Foronen namens Mont. Gefühle daran sind in ihr übrig geblieben. Ich konnte den Schmerz nachvollziehen, als Sobek und Siroona im Sonnenhof von dieser merkwürdigen Strahlung niedergestreckt und fast getötet wurden...« »Weißt du, was es war, das ihnen so zusetzte?« »Nein, das hätte ich euch doch längst berichtet. Es gibt keine Worte, keinen Begriff dafür. Es hat etwas mit ihrem Nervensystem zu tun, dessen bin ich mir sicher. Aber ich kann dir zumindest sagen, dass es sie, was auch immer es ist, noch für längere Zeit behindern wird...« »Interessant...«, murmelte Scobee. Sie sah ihn mit strahlenden Augen an. »Ich sehe, dass Sobek sich wieder mal verrechnet hat.« Sie grinste spitzbübisch und nahm ihn wie einen Geliebten am Arm. Ein wohliges Gefühl des Dazugehörens stieg in Jarvis auf, und er wunderte sich darüber. »Wie meinst du das?«, fragte er verwirrt. »Nun, mein Freund, John und ich haben eine kleine Theorie entwickelt. Du bist dir doch darüber im Klaren, dass du mit Hilfe von Foronentechnologie funktionierst?« Er nickte. »Das bedeutet wahrscheinlich, dass dich Sobek, wenn er will, sehr wohl beeinflussen könnte. Selbst in seinem
angegriffenen gesundheitlichen Zustand. Dass er auch Informationen aus deinem Körper abziehen kann. Dass er in dich eindringen und durch dich sprechen kann. Dass du seine fünfte Kolonne bist, um uns auszuspionieren.« Jarvis wusste es – und dennoch hatte er seine Existenz so noch nie betrachtet. Es versetzte ihm einen Dämpfer. Er war nur ein billiges Hilfsinstrument, um seine Freunde zu belauschen. »Aber so, wie es aussieht«, setzte Scobee fort, »können wir mit deiner Hilfe ebenso Informationen über die Foronen gewinnen!« Sie schwiegen beide. Die beiden rötlich leuchtenden Sonnen näherten sich langsam ihrem höchsten Punkt. Sie lagen zurzeit nahe beisammen – beziehungsweise standen sie hintereinander –, sodass man mit bloßem Auge kaum zwischen ihnen unterscheiden konnte. Für Jarvis war das allerdings kein Problem. Die Sonnen tanzten, so wusste er, in acht Stunden einmal um den virtuellen Mittelpunkt ihrer gemeinsamen kreisförmigen Umlaufbahn. In den nächsten zwei Stunden würden sich Ferne I und II optisch voneinander trennen, um dann erneut zueinander zu finden. »Was erwartest du also von mir?«, fragte Jarvis, nach wie vor verwirrt. Wut kroch in ihm hoch. Er wurde, ohne großartig gefragt oder gebeten zu werden, zum Spion für beide Seiten hochstilisiert. Nein, eigentlich reduziert! Er erfüllte eine Funktion, gleichermaßen für Foronen und Menschen. Wie es ihm dabei ging – das interessierte offensichtlich niemanden. »Ich weiß, dass du dich missbraucht fühlst«, sagte Scobee im nächsten Moment und bewies damit überraschendes Einfühlungsvermögen.
»Tust du das?«, fragte er etwas überrumpelt. »Es kann sein, dass du dich eines Tages zwischen Sobek und uns wirst entscheiden müssen«, fuhr sie fort, ohne auf seine Worte zu achten. »Die Foronen haben mit Sicherheit Druckmittel, die sie gegen dich verwenden können. Wahrscheinlich solche, die große Schmerzen verursachen oder gar zur Vernichtung führen.« »Das mit den Schmerzen halte ich für unwahrscheinlich«, entgegnete Jarvis leichthin. »Bislang habe ich noch nichts gefunden, das mir wehtun würde.« »Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte Scobee. »Als die Hülle noch ohne dein Bewusstsein auskam, verlangte sie danach, zu sterben, weil sie in der Zeit hin und her rutschte. Irgendeine Art Schmerzen muss sie damals empfunden haben. Etwas reicht über ihr rein vegetatives Bewusstsein hinaus. Außerdem gibt es ja nicht nur körperliche Schmerzen.« Er schwieg. Scobee hatte nur zum Teil Recht. Das amorphe Wesen, das nun seinen Körper ausmachte, hatte damals das Ende seiner Lebenszeit erreicht gehabt – möglicherweise durch die instabile Zeit, in der es gefangen war – und deshalb Sobek darum gebeten, in die Nichtexistenz eingehen zu dürfen. Erst mit der Übermittlung seines, Jarvis’, Bewusstsein, hatte der endgültige Zerfall der Nano-Masse gestoppt werden können. Jarvis wusste mittlerweile, dass Sobek es hasste, wertvolle Rohmaterialien zu verschenken. Deswegen war dem Foronen sein Geist in dem vorzeitig gealterten, sterbenden GenTecKörper gerade zupass gekommen. Der Gedanke, dass er sozusagen als Spionsonde ohne sein Wissen unter den Menschen wirkte, rundete diesen Verdacht noch mehr ab. Es war kein Gefallen gewesen, den der Forone John Cloud machen wollte, indem er Jarvis’ Bewusstsein vor dem Tod
bewahrte. Schiere Berechnung hatte dahinter gestanden. Doch Jarvis hütete sich, dies laut auszusprechen. Die Lage an Bord der RUBIKON war angespannt genug. Ein weiteres Argument, das einer der beiden Seiten in die Hand spielte, würde möglicherweise zu einer offenen Eskalation führen. Jarvis wagte nicht daran zu denken, wie ein Streit zwischen Foronen und Menschen ausgehen mochte. Und schon gar nicht, wie seine Rolle in diesem Konflikt sein würde. Scobee setzte sich wieder in Bewegung und schlug einen Kurs ein, der sie das Beiboot umrunden lassen würde, sodass es immer knapp am Horizont zu sehen blieb. Das Land vor ihnen wurde hügeliger und zerklüfteter. Was suchte Scobee hier eigentlich? Warum umflogen sie nicht einfach mit der Transportkapsel den Planeten und machten ihre Untersuchungen von Bord des Beibootes aus? Es musste für sie doch trotz Anzug äußerst unangenehm sein, in dieser Gluthitze über die stark reflektierenden Glasfelder zu wandern. Schließlich hatte sie ihn geöffnet und war nicht hermetisch von der Umwelt abgeschottet. Jarvis spürte zwar, dass es heiß war, doch es machte ihm nichts aus. Erneut schien Scobee Gedanken lesen zu können: »Du fragst dich wahrscheinlich, warum wir so scheinbar ziellos herurnmarschieren, nicht wahr?« Jarvis nickte. »Es ist die erste und wohl einzige Gelegenheit, mit dir unter vier Augen über all diese Dinge zu reden. Über die Rolle der KI der RUBIKON sind wir uns noch lange nicht im Klaren. Sie mag zwar auf Clouds Seite stehen, doch das könnte sich jederzeit wieder ändern. Cloud meint, dass die Foronen nach wie vor Einfluss auf das Schiff ausüben. Er hat mir gestern ein Blatt Papier zugesteckt, das er wahrscheinlich blind unter der
Bettdecke beschrieben hat. Wie ein kleiner Junge.« Sie lächelte. »Er hat mir all seine Befürchtungen mitgeteilt und mich gebeten, mit dir über die Situation an Bord zu sprechen.« »Wenn Sobek tatsächlich so viel Einfluss auf mich hat, wie ihr vermutet... Wer sagt denn, dass ich nicht unfreiwillig alles, was wir jetzt gerade besprechen, an die Foronen weitervermittle?« »Das Risiko müssen wir eingehen. John bemüht sich zurzeit an Bord der RUBIKON, die beiden Foronen auf Trab zu halten. Er hofft, sie derart ablenken zu können, dass sie keine Gelegenheit finden, uns zuzuhören – wenn sie das überhaupt können, was ja gar nicht bewiesen ist.« »Was bedeutet das ganze Gerede nun in der Praxis?«, fragte Jarvis ungehalten. Er spürte, wie er die Kontrolle über seinen Körper verlor und konzentrierte sich auf den Erhalt der Form. Sie legte ihm sanft eine Hand auf den Oberarm. »John und ich«, sagte sie stirnrunzelnd, »wir bitten um dein Verständnis. Wir können es in Zukunft nicht riskieren, dich in alles einzuweihen, was wir vorhaben. Sollten dir irgendwelche Entscheidungen, die Cloud trifft, merkwürdig vorkommen, so denk bitte an meine Worte. Es ist ein hässliches Psychospiel zwischen den Foronen und uns – das wir unbedingt gewinnen müssen.« Jarvis stapfte mit schwerem Schritt weiter, unter sich einen Ozean an Gräsern, der seit Ewigkeiten eingefroren war. »Um ehrlich zu sein, Scob«, sagte er schließlich, »das tut ganz schön weh, dass ihr mir nicht vertraut, nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht haben.« Er seufzte. »Aber ich kann euch verstehen. Vielleicht habt ihr sogar Recht, und ihr könnt, wenn es darauf ankommt, tatsächlich nicht mit mir rechnen.« Jarvis blieb stehen und wandte sich seiner Begleiterin zu. »Ich verspreche: Wenn ich gegen euch vorgehe, dann tue ich das nicht freiwillig.«
Sie nickte. »Danke.« Anschließend schaute sie sich um, als wüsste sie nicht, wie sie hierher gekommen waren. »Ich glaube, es wird Zeit, dass wir zur Transportkugel zurückkehren und uns um unsere Aufgabe kümmern. Man erwartet Ergebnisse von uns!« *** »Lande dort unten!«, sagte Scobee zur KI des Beibootes und markierte einen Punkt auf der Steuergraphik. Das transparent gewordene Beiboot gehorchte. In waghalsigem Sturzflug stieß es hinab. Unsichtbare Andruckabsorber schluckten problemlos Beschleunigungswerte von fünf oder mehr irdischen Gravos. Scobee konnte das nur schätzen. »Hast du etwas entdeckt?«, fragte Jarvis. »Nichts Aufregendes«, murmelte Scobee. »Doch in der Not frisst der Teufel Fliegen. Diese kümmerlichen Hügel dort unten stellen die größte Erhebung des ganzen Planeten dar. Und die Ausläufer der Berge enden an der einzigen größeren Wasserfläche Galvaurs. Einem kleinen, grünlich schimmernden Meer.« »Das natürlich ebenfalls verglast ist«, vermutete Jarvis. »So ist es. Die Glasdecke um den Planeten ist aller Voraussicht nach gänzlich geschlossen. Wir haben mittlerweile mehr als 98 Prozent der Oberfläche kartographiert.« Sie landeten. Scobee machte sich nicht mehr die Mühe, ihren Anzug zu schließen, als sie erneut die glatte Oberfläche Galvaurs betraten. Morgendliche Dämmerung in gänzlich klarem, ungefiltertem Licht empfing sie. Keine Wolke trübte den Himmel. Es sah aus wie überall auf dem merkwürdigen Planeten.
»Woher kommt die Luft, die du atmest?«, fragte Jarvis. »Ich weiß es nicht!«, antwortete Scobee. »Nichts hier ergibt einen Sinn. Ich habe tausende Fragen und finde keine Antworten. Warum, zum Beispiel, hat sich am Boden nicht einmal Staub angesammelt, der zum Zeitpunkt der Konservierung in der Atmosphäre gewesen sein muss? Warum hält die gläserne Hülle der sicherlich vorhandenen tektonischen Aktivität Galvaurs stand? Wo sind die Vögel? Warum sieht man unter der Schicht keine toten Foronen? Warum sieht man überhaupt keine eingefrorenen Lebewesen?« Sie fluchte leise, bevor sie sich ihm erneut zuwandte: »Wie sieht es mit Bodenproben aus?« »Keine Chance«, antwortete Jarvis. »Laut Analyse können wir weder mit physischer Gewalt noch mit Hilfe der Energiekanonen des Beibootes auch nur das winzigste Stück aus der Oberfläche herauskratzen. Das Material – so spröde es auch aussieht – widersetzt sich allen Versuchen, es genauer zu untersuchen. Und die Sensoren können es auch nicht durchdringen. Wenn du möchtest, dann leiere ich dir die Bestandsformel runter, aber die wird dir genauso wenig sagen wie mir.« »Sieh mal dort«, wechselte sie plötzlich das Thema und wies mit ausgestrecktem Arm in Richtung der aufgehenden Sonnen. Einen Fußmarsch von maximal zwanzig Minuten entfernt, ragten die Gipfel der so genannten Berge auf. Wenn man sie mit dem Niveau des einzigen kleinen Meeres südlich von hier verglich, erreichten die Kuppen knapp sechshundert Meter Höhe. »Etwas kommt mir hier seltsam vor«, sagte Jarvis. »Die Struktur der Berge ist augenscheinlich anders als überall sonst auf Galvaur. Irgendwie zerklüftet. Ist es das, was du vom Beiboot aus gesehen hast?«, fragte er.
Sie nickte kurz. »Gut. Dann lass uns gehen«, sagte er bestimmt und marschierte los. Scobee folgte ihm. Es war erträglich warm. Die Hitze der Sonnen würde erst in einer Stunde beginnen, unangenehm zu werden. »Seeanemonen«, murmelte Scobee, während sie sich den stark zerklüfteten Hügeln immer mehr näherten. »Was meinst du?« »Sieh dir die Struktur dieser Erhebungen an. Ähneln sie denn nicht den Fangarmen von Seeanemonen? Ich würde schätzen, dass sie bis zu einhundert Meter hoch in die Luft ragen. Innen scheinen die Tentakel hohl zu sein. Vielleicht haben sie wie auch immer geartete Nahrung in das Schlundrohr hinab gezogen.« Jarvis antwortete nicht. Was machte es für einen Sinn, irgendetwas auf Galvaur mit etwas auf der Erde zu vergleichen? Sie befanden sich nicht einmal in derselben Galaxie! Insgeheim gab er ihr jedoch Recht. Die merkwürdigen, riesenhaften Pflanzen wucherten auf nacktem Felsen und machten den eigentlichen Teil der Hügel aus. Die Berge entpuppten sich aus der Nähe betrachtet als riesige Massen heillos ineinander gewundener und verstrickter Monsterpflanzen. Trompeten- und schlauchförmig reckten sie sich hoch, ebenso wie alles andere auf Galvaur, im Abbild eines einzigen Moments gefangen und unter einen Glassturz gestellt. »Unheimlich«, sagte Scobee und glitt vorsichtig zwischen die ersten Ausläufer der hier noch niedrigen Anemonen. »Sei vorsichtig, Scob«, warnte Jarvis und folgte ihr. »Vor was soll ich Angst haben? Dass einer dieser Pflanzentürme umfällt?« Sie schnaubte verächtlich. »Wenn die
Glasstruktur so hart ist, dass sie uns nicht einmal erlaubt, eine Probe zu nehmen – wieso soll sie dann ausgerechnet hier zerbrechen?« »Ich meinte eher das Labyrinth«, entgegnete Jarvis, und wies in die dunklen Spalten vor ihnen. »Ich hatte ohnehin vor hinaufzusteigen.« Mit einem kräftigen Zug ihrer Arme schwang sie sich auf eine der nächsten Anemonen. »Komm schon, die Dinger beißen nicht!« Jarvis sah ihr nach, als sie sich erneut hochreckte und wie eine Gämse empor kletterte, von einem Anemonenarm zum nächsten. Schweiß bedeckte ihr Gesicht, und ihre Wangen glühten. Doch das alles schien ihr nichts auszumachen. Sie empfand wohl pure Freude darüber, ihren Körper in freier Natur bewegen zu können, endlich wieder einmal dem künstlichen Umfeld der RUBIKON entkommen zu sein. »Heh, warte auf mich«, rief er. Die Kräfte seines Körpers waren schier unerschöpflich, und ohne große Probleme wuchtete er sich von Pflanze zu Pflanze. Dennoch holte er die GenTec nicht ein. Das, was er beim Klettern an purer Energie in die Waagschale werfen konnte, machte Scobee mit ihrer ätherischen Leichtigkeit mehr als wett. »Scobee!«, rief er ihr hinterher. »Mach keinen Blödsinn!« Aber sie antwortete nicht. Jarvis steigerte sein Tempo noch. Er streckte Arme und Beine über die menschlichen Proportionen hinaus, sodass er auch weiter entfernte Ziele erreichte. Bald befand er sich auf halber Höhe. Seine Sensoren hatten die GenTec verloren. Er konnte sich das nur mit dem seltsamen Glaslabyrinth um ihn herum erklären. Nur das Echo leiser Schritte, hundertfach zwischen den einzelnen Fangarmen reflektiert, war zu hören. Er eilte weiter. »Ja... is?«
Er aktivierte seine Kommunikationseinheit. Das Gesicht einer schwitzenden und grinsenden Scobee strahlte seinem inneren Auge entgegen. Doch immer wieder gab es Störungen »Es... wunderschö... ...ier oben«, sagte sie. »Die Luft ist kühl... und ang...nehmer als unten. I... kann sich...lich fünfzig oder mehr Kil...eter weit sehen...« »Warte auf mich, Scob. In wenigen Minuten bin ich bei dir. Ich halte diesen Aufstieg übrigens für höchst leichtsinnig. Wenn du auf den Glasflächen ausrutschst und zwischen den Anemonen-Pflanzen nach unten fällst, kann dir niemand mehr helfen...« »Ach was, du alte... Schwarzseher! Beeil di... ...efälligst, damit ich mit dir Händchen halten ka...« So vergnügt und aufgekratzt hatte er sie schon lange nicht mehr gesehen. Und Scobees gute Laune war ansteckend. Sie hatte schon Recht; eine kleine Auflockerung nach der ständigen Routine an Bord der RUBIKON konnte nicht schaden. »Ich komme, holde Maid«, antwortete er und konzentrierte sich darauf, ihr ein Grinsen zu senden. »Du bi... einfach zu la...sam«, gab sie beschwingt zurück. »Moment!« Ihr Gesicht wurde ernst. »Was ist denn das? Jarvi..., ich glaube, ich ha...e etwas entdeckt, da... so ganz... gar nicht hie...er gehört. Bleib i... ...er Leit...g, da... muss ...ch mi... ...äher anseh...« »Warte Scob! Mach ja nichts Unüberlegtes, ich...« Jarvis verstummte, als er merkte, dass sie ihr Gerät ausgeschaltet hatte. Er fluchte und verdoppelte seine Anstrengungen, den Blumenberg in Rekordzeit zu bezwingen. Seit wann war diese Frau bloß so leichtfertig! Sie war ähnlich ausgebildet wie er! Das konnte sie doch nicht alles vergessen haben.
Er warf die Arme nach oben, schlang sie um die riesenhaften Anemonenarme und schwang sich weiter hinauf. Da stimmt doch was nicht! Sie hatte sich gleich wieder melden wollen! Kaum drei Minuten später erreichte er die oberste Blumenreihe. Terrassenförmig breiteten sich die Pflanzen vor ihm aus. Scobee hatte Recht gehabt. Trotz der nur geringen Höhe war die Sicht über die gefrorene Welt atemberaubend. Doch Jarvis hatte nur einen kurzen Blick für die Umgebung übrig. »Scobee!«, schrie er – sowohl akustisch als auch über Funk. Er rief ein Mal. Ein zweites Mal. Ein Dutzend Mal. Doch sie blieb verschwunden... *** »Sie ist was?«, fragte John Cloud und zog ein ungläubiges Gesicht. »Weg«, erwiderte Jarvis, »einfach weg. Meine Sensoren erfassen sie nicht mehr.« Er berichtete dem Commander, was passiert war und übermittelte ihm den letzten Ton/Bildkontakt. Währenddessen verfolgte er, wie sich Cloud bereits in den Sarkophag warf, der einstmals Mont gehört hatte. Die Kommunikation wurde dadurch nicht beeinträchtigt. Der Kommandant folgte seinen Ausführungen weiterhin konzentriert. »Okay, die RUBIKON sucht«, teilte Cloud Jarvis mit. »Bislang allerdings vergeblich. Hast du eine Idee, wo Scobee abgeblieben sein könnte?« »Eine Möglichkeit ist«, sagte der ehemalige GenTec, »dass sie in eine der Spalten stürzte. Der Untergrund ist glatt, und es
gibt hier Abstände von bis zu drei Metern zwischen den einzelnen Pflanzen, die man überspringen muss. Durch das Gewirr der Verglasung könnten meine Sensoren sie wahrscheinlich nicht mehr erfassen.« »Unwahrscheinlich. Scobee kann sehr gut auf sich aufpassen.« Jarvis überlegte. »Oder aber...« »Was aber?« Cloud wirkte immer besorgter und reagierte gereizt. »Ihr letzter Hinweis war, dass sie etwas Ungewöhnliches gesehen hat. Vielleicht etwas, das die Katastrophe überlebt hat und seitdem zwischen den Anemonen haust?« »Glaube ich nicht. Das Nahrungsangebot dürfte kaum ausreichend sein, um hier zu überleben«, meinte Cloud sarkastisch. »Vielleicht wartet jemand oder etwas in der Dunkelheit zwischen den verglasten Blumentieren. Auszuschließen ist es nicht.« »Du hast ja Recht. Aber... Moment mal!« Clouds Gesicht nahm einen leeren Ausdruck an, und Jarvis erkannte, dass er gedanklich mit der KI der RUBIKON kommunizierte. Bereits einen Lidschlag später wandte der Kommandant der RUBIKON sich wieder an Jarvis. »Du kommst auf dem schnellsten Weg zurück an Bord, hast du mich verstanden? In zehn Minuten bist du hier! Egal, wie du das anstellst!« »Aber...« »Keine Diskussionen, Mann! Wir haben eine Ortung, unweit von dir. Du solltest den großen Unbekannten gleich zu Gesicht bekommen. Los jetzt, ab mit dir!« Und tatsächlich: Noch während Jarvis mit weiten, gewagten Sprungschritten das Anemonenfeld hinabhetzte und dabei jegliche Vorsicht beiseite schob – ihm würde bei einem Absturz wahrscheinlich sowieso nicht viel passieren –, tauchten am Himmel über ihm mit gewaltigem Getöse die
fremden Raumjäger auf... 6. Scobee »Bleib in der Leitung, das muss ich mir näher ansehen«, hatte sie zu ihrem amorphen Begleiter gesagt. Dann hatte sie den Kommunikator zugeklappt und war dem silbernen Glänzen gefolgt, das sie unweit von sich entdeckt hatte. War das dort vorne ein Humanoider? Oder gar ein Mensch? Ein Schopf war zu sehen, wenige steil hochragende rote Haare auf einem glatt polierten Schädel. Ein Teil der Brust- und Schulterrüstung schimmerte silbern. Jagdfieber packte Scobee. Normalerweise war sie eher bedacht und minimierte jegliches Risiko. Doch der Aufstieg auf diesen merkwürdig anmutenden Blumenhügel hatte etwas in ihr geweckt, eine Art Übermut, den sie seit Jahren nicht mehr in sich gespürt hatte. Auf Samtpfoten huschte sie dem anderen nach. Es ging die Südseite des Hügels hinab. Unter ihr breitete sich das kleine Meer aus. Nur kurz warf sie einen Blick auf die eingefrorenen Wellen und Schaumkronen, dann konzentrierte sie sich erneut auf das Wesen vor sich. Da war er wieder! Eindeutig ein Humanoider. Er war um einiges größer als sie, maß zwei Meter oder mehr. Und dennoch bewegte er sich mit einer Agilität und Geschicklichkeit über den rutschigen Untergrund, dass sie nur staunen konnte. Die Sonnen standen mittlerweile im ersten Viertel ihrer Wanderungen und blendeten, wenn sie nach vorne blickte. »Scobee... eee... eee«, hallte es in diesem Moment über die Anemonenfelder.
Jarvis, dieser verdammte Idiot! Er schrie so laut, dass er Riesen aufwecken würde. Das Echo hallte tausendfach verstärkt zwischen den Hohlarmen der Anemonen wider. Scobee warf sich rasch zu Boden, wollte sich verstecken – doch es war zu spät. Das Wesen wirbelte suchend herum, kaum dreißig Meter entfernt. Kurz trafen sich ihre Blicke. Nein, eindeutig kein Mensch, dachte sie, aber trotzdem ziemlich ähnlich... Dann war der Moment vorbei. Der Humanoide drehte sich erneut um und lief weiter davon. »Willst du mit mir Fangen spielen?« Scobee rappelte sich hoch, ignorierte das ungeduldige Zirpen ihres Kommunikators und hetzte dem Fremden hinterher. Wenn sie ihn jetzt nicht erwischte, würden sie ihn vielleicht nie wieder finden. Dies war eindeutig kein Forone, und schon gar kein Virgh. Woher kam er? Was wollte er? Scobee wollte nicht ohne Antwort auf die dringendsten Fragen von Galvaur verschwinden. Sie sprang, glitt und rutschte bergab. Immer wieder erhaschte sie kurze Blicke auf die blitzende Rüstung des Wesens... Weg! Auf einmal war der Rothaarige wie vom Erdboden verschluckt. War er in seiner Hast in eine der vielen Klüfte zwischen den Anemonen gerutscht und in die Dunkelheit hinab gestürzt? Unwahrscheinlich. Die Behändigkeit des Wesens war mehr als beeindruckend gewesen. Wo war er dann? Wollte er etwa den Spieß umdrehen – und machte Jagd auf sie? Rasch drehte sie sich um die eigene Achse, blickte alarmiert umher, doch da war nichts... Eine eisern zupackende Hand hebelte sie aus, warf sie zu Boden. Scobee stürzte schwer auf den Rücken, sodass ihr die
Luft schmerzhaft aus der Lunge gepresst wurde. Sie rappelte sich hoch, so schnell es ging, ignorierte die weißen Punkte, die vor ihren Augen flimmerten. Immer in Bewegung bleiben, kein Ziel abgeben, dachte sie benebelt. Das Letzte, das sie durch ihr immer kleiner werdendes Gesichtsfeld erkannte, war eine merkwürdig klobige Schusswaffe, die auf sie gerichtet war und wie ein Geigerzähler vor sich hin knatterte. Dann explodierte etwas in ihrem Kopf, und sie fiel ins Nichts. 7. John Cloud Die RUBIKON hatte bislang im Orbit über Scobees Raumkapsel Vermessungsarbeiten von Galvaur vorgenommen. Die dreidimensionale kartographische Aufbereitung ergab nichts Neues. Die Informationen stimmten mit jenen überein, die das Schiff in seinen umfangreichen, uralten Datenblöcken gespeichert hatte. Die einzige Veränderung war die Glasur des Planeten – und dass bislang kein Lebenszeichen empfangen werden konnte. Als Jarvis’ Notruf John Cloud erreichte, befand sich die RUBIKON gerade auf der sonnenabgewandten Seite in knapp zwölf Kilometern Höhe. Mit einer Art Hechtsprung warf sich der Kommandant in den Sarkophag, die Kontakte schlossen sich, und er projizierte sich in das Schiff. Er beschleunigte mit Gewaltwerten. Der wenige Sauerstoff der dünnen Atmosphärereste in der Stratosphäre glühte rot auf, verbrannte. Die RUBIKON zog eine lange Flammenlohe hinter sich her.
Auf einem bewohnten Planeten hätte das Manöver möglicherweise Auswirkungen auf die fragile Atmosphäre gehabt – doch hier und jetzt kannte Cloud keine Skrupel. Binnen zehn Sekunden lenkte er seine metallene Hülle in einen stationären Orbit über dem Anemonenwald, der selbst von hier oben imposant aussah, und bremste ab. Aktivortung intensivieren, befahl er dem Schiff. Lebensimpulse bevorzugt im Zielgebiet suchen. Gleichzeitig formulierte er Worte, die Jarvis galten, über Normalfunk. Da! Die Aktivorter, sozusagen seine Fingerspitzen, prallten auf ein schmales, aufrecht stehendes Hindernis! Es verfügte offenbar über irgendeinen Schutz, der es für die passive Ortung der RUBIKON unsichtbar machte. Erst jetzt war es zu sehen. Das Objekt stand aufrecht und hatte einen Durchmesser von nur etwas über drei Meter, war aber annähernd fünfzig Meter hoch. Er verfeinerte das Raster seines Suchorters, konzentrierte sich auf die unmittelbare Umgebung des Erstfundes. Und tatsächlich – es tauchten noch mehrere der Objekte unter seinen »Fingern« auf! Sie steckten in schmalen, kaum einsichtigen Hohlräumen zwischen jenen mysteriösen Riesenanemonen, auf deren höchsten Fühlern Jarvis soeben herumkletterte – und auf denen Scobee verloren gegangen war. Er spürte mit seinen sensiblen Außenfühlern einen Aufschrei, geradezu ein Brüllen der fremden Energieaggregate. Die Objekte starteten! Sofort befahl er Jarvis zurück auf die RUBIKON. Hastig verglich er die energetischen Kennungen mit all jenen, die die KI gespeichert hatte. Das wichtigste Ergebnis hatte er binnen hundertstel Sekunden ausgefiltert: Diese Objekte entsprachen nicht der bekannten Technik der Virghs! Doch auch nach einer knappen zehntel Sekunde fand er keine
Übereinstimmung mit einem der mehr als dreitausend verfügbaren Vergleichswerte. Die Schiffe sind unbekannt, schloss die RUBIKON. Die Energiepegel der Objekte stiegen an. Sie schoben sich aus ihren Verstecken – und entfalteten sich! Es handelte sich tatsächlich um schnittige, aerodynamisch geformte Raumflugzeuge, die ihn an Segelflugzeuge erinnerten. Cloud griff nach unten, um zumindest eines der Schiffe zu erhaschen und ausführlich zu scannen. Doch sie entkamen. Wie glitschige Aale rutschten sie durch seine virtuellen Finger. Sechs Gegner waren es insgesamt. Sie zogen ihre filigranen Körper nun in die Waagerechte. Zwar erinnerten ihre weit gezogenen Schwingen vage an irdische Segelflieger; die Heckaufbauten waren jedoch wesentlich breiter und zerklüfteter. Es waren Schiffe, die offensichtlich für den planetennahen Flugverkehr gedacht waren – aber nicht zur Überbrückung großer interstellarer Distanzen. Oder? Er strahlte Grußsignale aus und bemühte sich, mit den Rechnern der anderen Schiffe eine Kommunikation herbeizuführen. Doch er erhielt keine Antwort. Im Gegenteil! Die energetische Ablehnung war eindeutig. Er empfand es, als ob ihn sein Gegenüber mit einem forschen Schubser an die Schultern von sich stieß. Noch konnte er sie aufhalten, indem er eine Vielzahl energetischer Fangnetze in die Atmosphäre warf. Immer wieder mussten die sechs Schiffe ihre Beschleunigungs- und Fluchtmanöver abbremsen. Aber irgendwann würden sie seine Hinhalte-Taktik durchschauen. Wann war Jarvis endlich an Bord der Transportkapsel? Er konnte den Amorphen hier schließlich nicht sitzen lassen – doch das sechsköpfige Geschwader durfte auf keinen Fall
entkommen! Drei Minuten waren seit Beginn des merkwürdigen Tanzes vergangen. Cloud – beziehungsweise die RUBIKON – sprang hin und her, brachte durch wildeste Manöver die Strato- und Exosphäre erneut zum Kochen. Die Schwingen des Raumschiffs schienen wie wild zu schlagen. Verdammt! Einer der Gegner war ihm endgültig entschlüpft. Er umrundete Galvaur und verließ auf der ihm abgewandten Seite das Normalkontinuum. Und noch einer nutzte gleich darauf einen Moment der Unachtsamkeit! Er schoss mit scheinbar brennenden Flügeln davon, hinauf ins Weltall, ließ sich von einem letzten Versuch, ihn einzufangen, nicht irritieren – und war bald darauf ebenfalls verschwunden. Sollte er seine Taktik ändern? Sollte sich Cloud nur auf ein einziges Schiff konzentrieren? Wenn er nur wüsste, in welchem sich Scobee befand. Doch seine Sensoren konnten ihre Außenhüllen einfach nicht durchdringen. Sechs von den zehn Minuten, die er Jarvis gegeben hatte, waren um. Mit einem kleinen Teil seiner Aufmerksamkeit registrierte er, dass der Amorphe das Anemonengebirge mittlerweile hinter sich gelassen hatte. Mit weit ausholenden Sprungschritten, mit den hinteren Extremitäten ähnlich kräftig beschleunigend wie ein Gepard, eilte er auf die Transportkapsel zu. Da! Er hatte eines der Schiffe in einem energetischen Netz eingefangen! Endlich! Cloud wandte sich dem nächsten Jäger zu. Plötzlich verschwand das bereits sicher geglaubte Schiff, war von einem Augenblick zum anderen aus Clouds Wahrnehmung gelöscht. Nur um im nächsten Moment wieder aufzutauchen – außerhalb des Fangnetzes der RUBIKON! Und weg war es, davon geflutscht wie ein Stück nasser Seife. Er muss kurz all seine Energie in die Tarnung transferiert
haben, erklärte die KI. Cloud sah ein, dass seine Strategie bislang falsch gewesen war. Er musste alle energetischen Kräfte auf nur einen Gegner konzentrieren und auf sein Glück hoffen, dass er ausgerechnet den erwischte, der Scobee an Bord hatte. Warum antworteten diese Bastarde nicht? Was hatten sie bloß vor? Für einen Erstkontakt zwischen zwei Vertretern raumfahrender Völker waren die Begleiterscheinungen höchst unangenehm – doch er konnte sich keine Schuld daran geben. Jarvis hatte die Kapsel erreicht und startete. Dabei leitete er alle Energie in den Antrieb, auch die der Andruckabsorber. Kein Mensch hätte das überlebt, und Jarvis selbst hatte sicherlich jede Form aufgegeben. Binnen weniger Momente landete er auf der RUBIKON. So, Freunde, dachte Cloud grimmig, jetzt habt ihr meine ganze Aufmerksamkeit. Er hob seinen metallenen Körper aus den Grenzbereichen der Atmosphäre hinaus ins Weltall. Die drei restlichen Gegner schwirrten unter ihm hin und her, auf und ab. Einer von ihnen versuchte auszubrechen und zog nach achtern. Cloud vergaß die anderen beiden und warf sein Energienetz mit aller Kraft von sich. Es war hoch verdichtet, so eng gewoben, wie es nur ging. Treffer! Der schnittige Raumgleiter wurde gestoppt. Cloud wies die RUBIKON an, ihre Scanner auf diesen einen Jäger zu konzentrieren, um ihn nicht wieder aus der Ortung zu verlieren. Anschließend maß er den Energieausstoß des Gegners an. Er stieg in beachtliche Höhen, bevor er plötzlich auf nahezu null hinab fiel. Er hat seine Tarnvorrichtung aktiviert, informierte die KI. Offensichtlich vergeblich, denn Cloud nahm ihn immer noch deutlich war. Da leitete der fremde Pilot wieder Energie in den Antrieb –
vergeblich. Der Fremde – Cloud wehrte sich nach wie vor dagegen, ihn als Feind zu sehen – stoppte. Er hatte die Sinnlosigkeit seiner Fluchtversuche rasch erkannt. Die RUBIKON beschoss ihn mit einem Bündel aus konzentrierten, Chaosorientierten Quantenbündeln, die, so teilte die KI der RUBIKON Cloud mit, die Verteidigungslinien unterschiedlichster Rechner binnen kürzester Zeit brechen konnte. Funkverbindung unter den fremden Jägern, teilte die RUBIKON mit. Entschlüsselung läuft. Wieso erst jetzt?, überlegte Cloud, als ihm auch schon die einzige Erklärung einfiel. RUBIKON, Störsender! Die planen etwas! Da war es bereits zu spät. Cloud fühlte sich, als habe ihn ein Lichtblitz geblendet, als sei eine Sonne direkt vor seinen Augen explodiert. Er wollte die Hände vor die Augen reißen – und die KI der RUBIKON benötigte einen Augenblick, bevor sie erkannte, dass dieser Befehl nicht an sie gerichtet war. Zu langsam schob sich ein Filter vor Clouds Sinne, zu langsam gewann er die Kontrolle über das Energienetz zurück. Seine Aufmerksamkeit ging kurz verloren, nur für wenige Momente, und dennoch ausreichend für die Fremden. Gleichzeitig beschossen die zwei übrig gebliebenen Flieger punktuell Clouds Energienetz. Es war nicht die RUBIKON, die versagte. Auch waren Clouds Fähigkeiten nicht unzureichend. Es war vielmehr die mangelnde Harmonie zwischen den beiden. Ein kurzer Augenblick des Missverständnisses – und schon war die Niederlage perfekt. Der gefangene Flieger befreite sich – auch mit Hilfe seiner beiden Kumpanen, die das dünner werdende Energienetz
buchstäblich zerfetzten –, nutzte gleichzeitig Clouds Momente der Verwirrung und gewann die notwendigen Zehntelsekunden, um Fluchtgeschwindigkeit zu erreichen. Fluchtvektor berechnen!, befahl Cloud hastig. Einen fliehenden Jäger erfassen und mit den Sensoren verfolgen! Dann war das Geschwader entkommen. Ungeduldig befreite sich Cloud aus dem Sarkophag und fluchte ungeniert. »Was war da los?«, verlangte er zu erfahren. »Eine energetische Spitze, die die Sensoren zu überlasten drohte, sodass ich einen Filter vorschob. Leider ist deine Belastungsgrenze niedriger als die meiner Erbauer. Ich werde die entsprechenden Subroutinen neu einstellen, sodass sie sich deiner geringeren Anpassungsfähigkeit angleichen, Kommandant.« »Und jetzt ist Scobee weg.« »Was meinst du mit: Scobee ist weg? Entführt?« Aylea stand plötzlich vor ihm und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Hatte er etwa laut gesprochen? Cloud hatte zwar noch im Sarkophag einen Rundruf an alle Besatzungsmitglieder durchgegeben, aber nicht damit gerechnet, dass sich Aylea ohnehin in der Zentrale aufhalten würde. Es war zum Verzweifeln. Der Umgang mit dem Schiff erwies sich immer mehr als gewaltige Herausforderung, an der er zu scheitern drohte. Der Einfluss der KI der RUBIKON war zwar weitestgehend zurückgedrängt – aber nun musste er mit sich selbst kämpfen. Die Leichtigkeit, mit der Sobek das Schiff im Griff gehabt hatte, erfuhr in seinen Augen eine neuerliche Aufwertung. Würde er jemals die Perfektion, die Konzentrationskraft und Routine des Foronen erreichen? »Ja, Scobee ist weg«, antwortete er Aylea müde. Endlich hob sich der Schleier vor seinen Augen vollends. Er
sah, dass auch Jelto bereits anwesend war. Und Jarvis, der Monts Rüstung trug – beziehungsweise war –, erschien gerade im Türtransmitter der Zentrale. »Was... was machen wir jetzt?« In Jeltos Stimme klang Panik durch. »Du kannst... wir können das doch nicht einfach so hinnehmen! Wer hat sie überhaupt entführt? Wie konnte das bloß geschehen?« »Viele Fragen auf einmal, Jelto.« Langsam fand Cloud zu seiner Konzentration zurück. »Ich habe, ehrlich gesagt, keine Ahnung, warum Scobee verschleppt wurde. Vielleicht gehen die Fremden bei allen Erstkontakten so vor.« Sobek und Siroona betraten ebenfalls die Zentrale, dicht gefolgt von Boreguir, dem Saskanen. Damit waren sie komplett, wenn man von Cloud senior absah. Aber Nathan war einfach zu instabil, und auch die psychische Betreuung durch die RUBIKON hatte noch keine Erfolge mit sich gebracht, die man als Durchbruch bezeichnen konnte. *** »Es waren definitiv keine Virghs«, schloss Cloud seine kurze Zusammenfassung und blickte in Richtung der beiden Foronen. »Zumindest wenn man die alten Energiekennungen heranzieht und mit jenen der sechs Raumjäger vergleicht. Auch ihr taktisches Verhalten, so hat mir die RUBIKON versichert, ist anders.« Sobek senkte zur Bestätigung den Kopf. Das, was Cloud mit Hilfe der RUBIKON verglichen hatte, wusste der Forone wohl aus seiner Erinnerung. Er und Siroona wirkten deutlich erholter. Ihre Körperspannung war wieder da, und sie zeigten kaum noch Anzeichen von Desorientierung.
»Was gedenkst du zu tun?«, fragte Sobek, und beantwortete sich die Frage gleich darauf selbst: »Die Menschenfrau ist entbehrlich. Dieser Angriff erfolgte scheinbar unmotiviert und hat unsere Sicherheit in keinster Weise gefährdet. Wahrscheinlich handelte es sich um das Forschungsgeschwader eines unterentwickelten Volkes...« »Unterentwickelt?« Cloud konnte die Arroganz nicht nachvollziehen. »Ihre Antriebs- und Verteidigungssysteme waren immerhin stark genug, um der RUBIKON für mehrere Minuten Widerstand zu leisten.« »Was wohl ein Versagen des derzeitigen Kommandanten des Schiffes war!«, dröhnte Sobek mit seiner tiefen Stimme. »Ich würde empfehlen, Galvaur weiter zu erforschen und nach Hinweisen über das Verschwinden der Foronen zu suchen...« »Du kannst Empfehlungen abgeben, so viele du willst, aber ich werde mich keinesfalls daran halten, Forone!« Mühsam unterdrückte John Cloud seinen Zorn. »Wann wirst du endlich einsehen, dass wir Menschen eine engere Bindung an unsere Artgenossen haben als die Mitglieder deines Volkes. Keinen Moment denke ich daran, diese mysteriösen Raumjäger entkommen zu lassen!« »Und wann wirst du endlich lernen, dass es wichtigere Dinge gibt als das Leben eines Einzelnen, Mensch? Wir haben nach wie vor keine Informationen über das, was hier nach unserem Auszug nach Bolcrain passiert ist. Unter der glasierten Oberfläche finden sich möglicherweise die Antworten auf all unsere Fragen.« »Damit ihr wieder die Vorherrschaft in dieser Sterneninsel übernehmen könnt?« Cloud lachte verächtlich. »Nein, Sobek, eure und unsere Ziele unterscheiden sich ganz gewaltig voneinander.« Der Forone versteifte. Es sah so aus, als wolle er sich auf den Commander stürzen.
Das werde ich nicht zulassen, Sobek, verkündete da die KI der RUBIKON. Ein gutes Zeichen!, dachte Cloud erleichtert. Das Schiff erkennt nach wie vor nur mich als Kommandanten an. Sonst würde es mich nicht schützen. Sobek entspannte sich umgehend. Foronen handelten rational und wurden nur selten von Gefühlen getrieben. Vielleicht ist dies auch nur ein Versuch gewesen?, argwöhnte Cloud. Ein Test, um festzustellen, ob Sobeks wieder gewonnene Kräfte bereits reichen, um Anerkennung und somit Befehlsgewalt von der RUBIKON zurückzuerhalten? Man konnte nie wissen, woran man bei dem Foronen war... »Nun gut, Mensch!«, sagte Sobek nüchtern. »Mache das, was du für richtig erachtest. Hast du das gegnerische Schiff wenigstens markieren können?« Cloud nickte. »Markieren?«, platzte Aylea heraus. »Was meint er damit?« »Die RUBIKON lässt einen der Fremden nicht mehr aus den Augen«, antwortete Cloud, ohne den Blick vom Foronen abzuwenden. »Wir konnten inzwischen immerhin seine Energiekennung scannen, sodass sie ihn nicht verlieren wird. Es reicht vielleicht nicht für eine Zielerfassung, aber wieder finden werden wir ihn, solange er in Reichweite des Netzes bleibt.« »Es bedarf eines ausgezeichneten Piloten bei dem, was du vorhast, Mensch«, warf Sobek ein. »Womit du sagen willst, dass es ohne dich nicht geht, nicht wahr?« Cloud hoffte, dass der Forone den sarkastischen Unterton heraushören würde. »Wenn du glaubst, dass du an Bord der SESH... der RUBIKON auf Dauer alleine zurecht kommst, irrst du dich, Mensch. Wir mögen geschwächt sein. Aber du wirst nur allzu bald merken, dass du ohne unsere Unterstützung ein Nichts
und ein Niemand bist.« Sobek drehte sich um und verließ die Zentrale, dicht gefolgt von Siroona, die ihm wie ein Schatten folgte. Das Schott glitt langsam hinter ihnen zu. »Du hast eine seltene Begabung, dir Feinde zu schaffen«, meinte Jarvis mit hohler Stimme. »Ich will keine Feinde«, entgegnete Cloud, »sondern Partner, die mich als ebenbürtig betrachten.« Abrupt wechselte er das Thema. »Hat Scobee mit dir sprechen können?«, fragte er möglichst unverfänglich. Die RUBIKON – und damit möglicherweise auch die Foronen – würde das Gespräch mitverfolgen. »Ja«, antwortete der Amorphe. »Und?« »Ich verstehe euren Standpunkt«, sagte Jarvis langsam. »Und ich akzeptiere ihn – auch wenn es mir natürlich nicht gefällt.« Damit verließ auch er die Zentrale und zog sich wohl in seine Kabine zurück. Cloud atmete tief erleichtert aus. Ein Problem war somit aus der Welt geschafft. Es wäre von großem Nachteil gewesen, wenn sich die ohnehin nur kleine Gemeinschaft an Bord der RUBIKON noch weiter zerstritten hätte. Jarvis war intelligent genug, um zu verstehen, warum er in nächster Zeit nicht in alle Besprechungen mit eingebunden sein würde. Doch nun gab es Wichtigeres zu tun, weitaus Wichtigeres – er musste sich auf die Jagd nach Scobees Entführer machen. In Momenten wie diesen fühlte er erst, wie wichtig sie ihm geworden war. Als Beraterin, als wertvolles Mitglied der Crew, als Freundin, als... als... ja – als was denn eigentlich noch? Nur Jelto und Aylea waren bei ihm geblieben. Boreguir musste den Raum schon früher verlassen haben. Auf seine übliche Art und Weise, nämlich so unauffällig, dass es keiner bemerkt hatte.
»Was nun?«, fragte Aylea, während Jelto sie in einer freundschaftlichen Geste an sich drückte. »Ich krieche wieder in meinen Sarkophag«, sagte Cloud, »und folge den Entführern. Und hoffe, dass ich mit dem Schiff nicht so schlecht umgehe, wie es Sobek mir einreden will.« Er lachte bitter. »Du wirst sie wieder finden, nicht wahr?« Das Mädchen sah ihn erwartungsvoll von unten herauf an. Verdammt, was sollte er denn nur darauf sagen? »Natürlich wird er sie zurückholen«, antwortete Jelto an seiner Statt. Er streichelt dabei das Amulett mit dem Ersten Korn, das er wie immer an der Brust trug. Wenigstens einer, der unverrückbar an ihn glaubte. Cloud nickte den beiden so unterschiedlichen Menschen kurz zu, trank einen Schluck Wasser und ließ sich schließlich erneut in Monts Sarkophag fallen. Er schloss sofort die Augen und konzentrierte sich darauf, die Nerven der RUBIKON zu den seinen zu machen. In den nächsten Minuten und Stunden galt es, höchst konzentriert den Raum um ihn zu erforschen. Im Kampf mit den sechs flinken Raumschiffen hatte Cloud zur Kenntnis nehmen müssen, dass er bei weitem noch nicht so weit war, seine Sinne auf die ganzen Möglichkeiten der RUBIKON anzuwenden. Letztendlich war es seine Schwäche gewesen, die den Raumjägern die Flucht ermöglicht hatte. Aber ich lasse dich nicht im Stich, Scob, dachte er so stark, so intensiv, dass er die KI des Schiffes weiter als jemals zuvor zurückdrängte. Er wurde einmal mehr zur RUBIKON... 8. Boreguir
Die innere Sammlung fiel ihm schwer, doch die Wandlung zum Vergessenen gelang schlussendlich. Er folgte dem Foronen-Paar, als es die Zentrale verließ. Boreguir dachte an nichts, spürte nichts, war nichts. Wo nichts war, konnte ihn auch niemand sehen. Die allgegenwärtigen mechanischen Spione der RUBIKON ließen sich ebenfalls in die Irre führen, so viel wusste er bereits. Sofort schob er den Gedanken beiseite, denn zu intensive Gedanken hatten manchmal heimtückische Substanz. Sie würden ihm seinen Körper zurückgeben und somit sichtbar machen. Der Saskane konzentrierte sich wiederum auf die innere Leere. Er beobachtete sich selbst, wie er in jenem merkwürdigen Trancezustand, den sein Volk unter den Notwendigkeiten des heimatlichen Überlebenskampfes entwickelt hatte, durch die so grässlich nüchternen Gänge des metallenen Raumschiffleibes spazierte. Auf Saskana war es unumgänglich, während der grimmigen Jahreszeit der Eisstürme zum Vergessenen zu werden, wollte man nicht am Bratspieß der Schlundbären enden. Kein noch so gut geführtes Seelenschwert konnte die halbintelligenten und stets blutgierigen Räuber davon abhalten, seinesgleichen zu zerfleischen. Ein jedes saskanische Junges, das aus dem Beutel seiner Mutter gekrochen kam, wusste vom ersten Moment an, seine Gedanken in Nichts zu versenken und sich damit für die Umgebung unsichtbar zu machen. Kinder, die diese Begabung nicht besaßen, wurden erbarmungslos getötet. Ein einziges Saskanen-Junges, das seine Seele nicht in der Leere auflösen konnte, hätte die Schlundbären auf die Fährte des gesamten Stammes gelockt. Die Erinnerung an Saskana, die düstere, von stetigen
Stürmen gebeutelte Heimat, ließ ihn aus jener fragilen, aufs Innere bezogenen Daseinsebene zurück in die Wirklichkeit fallen. Mühsam zwang er sich wieder in die Vergessenheit, atmete flach, wurde erneut zum Nichts. Wie ein Schlafwandler folgte er den beiden Foronen in Sobeks Unterkunft. Es war heiß hier und trocken. Hätte Boreguir seinen Körper gespürt, hätte er sich unwohl gefühlt. Saskana war eine Welt, die von Nebelstürmen und ständiger Kälte geplagt wurde. Kaum einmal drang die Sonne bis in die weiten Ebenen hinab, in denen er aufgewachsen und die er zwanzig Jahre – Saskana-Jahre musste er jetzt wohl sagen –, durch strengste Regeln dem Sippenverbund verpflichtet, durchzogen hatte. Die Foronen redeten laut. Sie kommunizierten seit ihrer Genesung kaum noch auf geistigem Wege, wie sie es vorher oft getan hatten, wenn keiner der Menschen ihr Gesprächspartner war. »Du warst unvorsichtig«, meinte Siroona. »Du hättest ihn nicht bedrohen sollen.« »Ich wollte ihn bloß provozieren«, entgegnete Sobek. »Ich musste es einfach versuchen. Der Mensch John Cloud ist noch schwach, doch er gewinnt an Erfahrung. Jeder Moment, den er mit SESHA verbringt, hilft ihm und entfernt uns vom Ziel, die Macht über das Schiff zurück zu gewinnen.« Die Forone nahm die Worte Sobeks hin, ohne eine Reaktion zu zeigen. »Wie stark fühlst du dich?«, fragte sie stattdessen. »Ich denke, die Folgeerscheinungen der Durchleuchtung im Sonnenhof sind beinahe abgeklungen. Wie ich bemerke, fühlst du dich ebenfalls besser. Der Aufenthalt im Galvaur-System tut uns wie erwartet gut.« »Hast du Fortschritte bei den Verhandlungen mit SESHA
erzielt?« »Ich versuche immer wieder, in Steuerungskontakt mit ihr zu kommen. Leider ist die KI meinen Argumenten nicht zugänglich...« »Was soll das heißen?«, fragte Siroona. »Es ist mittlerweile klar, dass uns das Schiff nicht nur aufgrund unserer allgemeinen Schwäche das Kommando entzogen hat. Es muss eine spezielle geistige Komponente geben, die uns seitdem fehlt.« Der Forone wurde plötzlich wütend. »SESHA denkt, dass wir schwachsinnig sind!« Die Frau nahm die Ausführungen Sobeks erneut mit äußerster Nüchternheit hin. Es war nicht diese Art der Beherrschtheit, wie sie Boreguir von seinem Volk kannte. Siroona war ganz offensichtlich ein Wesen, das alles andere Leben – und möglicherweise auch das ihrer Landsleute – geringer als das ihre achtete. »Wir benötigen also Hilfe von außen«, stellte sie fest. »Sonst hätten wir nicht den Weg nach Galvaur gesucht. John Cloud ist dümmer, als ich ahnte. Ich an seiner Stelle hätte keine Sekunde lang darüber nachgedacht, auch nur in die Nähe einer Foronensiedlung zu fliegen.« »Unsere Entscheidungskriterien unterscheiden sich wesentlich voneinander.« Eine längere Pause entstand, während der die beiden Wesen ihren Gedanken nachhingen. Schließlich fügte Siroona hinzu: »Moralische Wertprägungen sind eindeutig die Schwäche dieser minderwertigen Menschenwesen. Es liegt an uns, diesen Vorteil für uns zu nutzen.« Sobek wirkte unsicher. »Ich kenne Cloud und das Weibchen namens Scobee, nach dem er suchen will, besser als du. Aus irgendeinem Grund gelingt es ihnen immer wieder, diesen moralischen Kodex, dem sie sich unterwerfen, als Stärke zu
nutzen. Es ist mir zwar unbegreiflich – aber es funktioniert.« »Das ist lediglich ein gewisser unberechenbarer Faktor, den die Menschen >Glück< nennen. Schlussendlich wird unsere mentale Stärke den Ausschlag geben. Rücksichtnahme, Mitleid und dergleichen mehr sind Zeichen der Verlierer.« Mit einer Geste beider Klauen signalisierte Siroona Ungeduld. »Doch zurück zu unserem Problem: John Cloud will also das GalvaurSystem verlassen. Können wir dagegen etwas unternehmen? Reicht dein Einfluss auf die SESHA zumindest so weit, um das zu verfolgende Signal zu verzerren oder unkenntlich zu machen? So, dass wir einen längeren Aufenthalt hier erzwingen und unsere körperlichen und geistigen Kräfte rascher regenerieren können?« »Ich habe an diese Möglichkeit bereits gedacht. Über einen Nebenknoten des Schiffshirns mag es gelingen. Es besteht allerdings die Gefahr der Entdeckung...« »Willst du damit sagen, dass du vor möglichen Reaktionen des Menschen Angst hast?«, fragte Siroona ungläubig. »Er ist auf uns angewiesen, auf Gedeih und Verderb! »Das mag jetzt noch so sein«, erwiderte Sobek, »aber für meinen Geschmack lernt Cloud zu schnell. Viel zu schnell. Der Zeitpunkt, zu dem er die letzten Geheimnisse des Schiffes enträtselt, ist nicht mehr allzu fern.« »Lächerlich! Ich befürchte, du warst dem Einfluss der Menschen zu lange ausgesetzt. Du redest daher wie ein wimmerndes Kind.« Sobek erzeugte ein böses Knurren. »Hüte dich, Siroona! Vergiss niemals, wer ich bin!« Boreguir bemerkte schnell, dass die Foronen damit das Gespräch abgebrochen hatten und blieb nicht länger, sondern brachte seinen in sich versunkenen Körper dazu, den Wohnbereich der Foronen zu verlassen. Er behielt den Status als Vergessener bei, bis er durch
endlose labyrintartige Gänge in seine Raumhöhle zurückgefunden hatte. Dort erst atmete er tief aus, rezitierte aus Gewohnheit eines der vielen Sagengedichte seines Volkes und ließ den Geist langsam zurück in die Wirklichkeit finden. »Wo warst du?«, fragte die RUBIKON sofort, die wie erwartet sein Recht auf Privatsphäre missachtete. Für die Augen und Ohren der KI war er aus der Zentrale verschwunden und erst hier wieder aufgetaucht. Boreguir würdigte das Schiff mit keiner Reaktion. Er war niemandem Rechenschaft schuldig, schon gar nicht einem Ding, dessen Funktionen er ohnehin nie durchschauen würde. Er fuhr die igelartigen Stacheln aus und schärfte sie an einem Wandstück, das einem karstigen Felsbrocken nachempfunden war, indem er mit dem Rücken darüber scharrte. Wohlige Schauer durchliefen ihn, doch er ließ in seiner Beherrschung keinesfalls nach. Dann ließ er seine wenigen Bekleidungsstücke fallen und stellte sich unter den träge plätschernden Wasserfall, der das Zentrum seines Wohnbereiches ausfüllte. Aus einer Höhe von zwei Mannslängen spritzte das Nass herab, so kühl, dass es sogar kleine Eiskristalle mit sich führte. Boreguirs Atmung beschleunigte minimal. Ein Mehr an Reaktionen gestand er sich nicht zu. Der Katzenartige schüttelte sich, dass die Tropfen flogen und strich die Barthaare glatt. Nun verließ er eiligen Schrittes sein Domizil. Er musste sich sputen, wollte er noch etwas erreichen. Er würde John Cloud wichtige Informationen und seine Hilfe anbieten. Doch er würde auch eine Gegenleistung verlangen. Eine, die dem Menschen gar nicht gefallen würde...
9. John Cloud Der derzeitige Kommandant der RUBIKON schwankte zwischen Bangen und Hoffen. Ihm fehlten jegliche Vergleichswerte über die Leistungsfähigkeit der mysteriösen Raumflieger, die Scobee entführt hatten. Noch hielt er das Schiff im Galvaur-System und dämpfte mit allen verfügbaren Mitteln jegliche Störstrahlung, die das Doppelgestirn emittierte. Parallel dazu begann er, die wenigen Daten, die über die gläserne Welt gesammelt worden waren, zu sortieren und aufzubereiten. Clouds Gedanken glitten immer wieder ab. Er machte sich Sorgen um Scobee. Die Gleiter hatten bereits zweimal ihren Flugvektor geändert. Offensichtlich rechneten sie mit einer Verfolgung. Cloud hatte beschlossen, noch im Galvaur-System zu bleiben, um keine Ressourcen der RUBIKON von der Ortung abziehen zu müssen. Solange sich die Jäger nicht mehr als hundert Lichtjahre entfernten, sollte das kein Problem darstellen. Und irgendwo mussten sie ja schließlich ihre Basis haben. Denn das Navigieren in diesem jungen Sternensektor war nicht einfach. Selbst die Instrumente der Hochtechnisierten RUBIKON ließen sich von stark emittierenden Pulsaren, Strahlungen im Röntgen- und Infrarotbereich oder kosmischem Hintergrundrauschen immer wieder irritieren. Minuten vergingen, addierten sich zu einer Viertelstunde, und dann zu noch einer. Durch ihren Zickzackkurs entfernten sich die fremden Jäger nicht so schnell, wie sie nach Analyse der RUBIKON gekonnt hätten. Clouds Gedanken schweiften ab. Er begriff sich nicht als machtgieriger Mensch, aber er
spürte die Versuchung in sich. Was scherte ihn eigentlich die Erde? Zeit seines Lebens war er von machtgierigen Politikern und Militärs benutzt worden. Sie hatten seine fast manische Besessenheit, seinen Vater zu finden, für ihre Zwecke verwendet. Gab es denn einen triftigen Grund, Hilfe bei der Befreiung von den Mastern zu leisten? Hilfe, die von den meisten der jetzigen Erdenbürger nicht einmal als solche empfunden werden würde? Sollte er nicht die Möglichkeiten der RUBIKON nutzen und das tun, was ihn immer am meisten gereizt hatte? Herumzureisen, Forschungen zu betreiben, Abenteuer zu erleben? Diese riesige Anhäufung von purer Macht, in die er momentan eingebunden war, zu seinem rein persönlichen Vergnügen zu nutzen? »Johncloud?« Boreguir? Was konnte der Saskane wollen? »Ich müsste mir dir reden. Dringend.« Cloud überprüfte noch einmal alle Einstellungen der RUBIKON, dann löste er sich aus der Verbindung und erhob sich. »Was ist?« »Ich habe wichtige Informationen, die Scobee betreffen.« Was konnte der Saskane schon wissen, über das er keine Kenntnisse hatte? Hier an Bord blieb ihm nichts verborgen, sobald er in die RUBIKON schlüpfte. Oder hatte Scobee ihm vor dem Abflug nach Galvaur etwas Wichtiges mitgeteilt? Nein! Unmöglich! Das Schiff hätte es zumindest registriert. Moment mal! Boreguir besaß die Gabe, sich als »Vergessener« zu bewegen... Hatte er mit Hilfe seiner Gabe etwas erfahren? »Bist du... herumgeschlichen?«, fragte Cloud behutsam. Sein Misstrauen gegenüber der RUBIKON nahm mitunter krankhafte Züge an. So lange er sich nicht sicher war, dass die
KI gänzlich auf seiner Seite stand, blieb er vorsichtig. »So ist es«, antwortete der Saskane. »Ich möchte dir eine Information verkaufen.« »Verkaufen? Ich verstehe nicht...« »Es handelt sich nicht um einen Wert, den ich von dir im Gegenzug will. Ich möchte lediglich ein Versprechen. Das Versprechen eines Mannes mit Ehre.« »Wenn die Information mir helfen kann, Scobee zu finden, bin ich zu allem bereit«, versprach Cloud. »Ich habe dein Wort?« »So ist es.« »Gut.« Cloud spürte den Hauch von Erleichterung, der über Boreguir kam. Dann hatte sich der Saskane wieder unter Kontrolle. »Denke daran«, mahnte er. »Du musst schnell reagieren, nach dem, was ich dir jetzt sage.« Was sollte dieses lächerliche Spiel? Dennoch nickte Cloud. »Gut.« Cloud spürte, wie sich der Katzenähnliche sammelte. Was ihm der Saskane anschließend berichtete, ließ ihn jede Vorsicht vergessen. Die Verblüffung und der Schock dauerten nur kurz. »Danke«, murmelte Cloud noch kurz. Im nächsten Augenblick machte er sich auf die Suche. In irrsinnigem Tempo durchdachte er die Befehlsleitungen des Schiffes, suchte nach Unregelmäßigkeiten, schnüffelte nach Fehlern. Wie ein verrückt gewordener Gummiball flog er von einem Rechenknoten zum nächsten, verharrte Momente, stellte Überprüfungen an, reiste weiter. Er dehnte seine Suche immer weiter aus, von den Steuerungen seines Sarkophags ausgehend in die Nachbarräume, in die Decks darunter... Da! Er hatte ihn! Ein Tarnnetz – Cloud empfand es als eine
Art Wattebausch – deckte die minimale Tätigkeit ab, die sich an einer Nebenzentrale der RUBIKON entwickelt hatte. Eigentlich handelte es sich lediglich um eine einzige winzige Impulskette, deren Informationsgehalt in der Wertigkeit weit nach unten gedrückt wurde. Sobek! Der Forone saß nur wenige hundert Meter entfernt und dämpfte das eingehende Signal, sodass es Cloud nicht mehr korrekt erreichte. Bald würde es einfach verschwinden! SOBEK! Voll Wut schickte er dem Foronen eine geballte Ladung Licht und hässlicher Gedanken entgegen. Noch im selben Moment konnte er hören, spüren, sehen, fühlen und riechen, dass sich das so mächtige Wesen auf seinem Platz unter enormen Schmerzen wand. Clouds Kopf wollte schier platzen unter all dem Zorn, den er verspürte. Unbarmherzig, immer wieder, trieb er Ideen von dem, was Sobek am meisten verabscheute, in dessen Bewusstsein. Panisch schlug der Forone in Gedanken um sich, als er sich in einem Ozean wähnte und zu ertrinken drohte. Cloud ließ gischtende Wellen über ihm zusammenschlagen, gab ihm das Gefühl, dass seine Haut vollends von Wasser durchdrungen sei... Abrupt löste sich Sobek mit einem gedanklichen Brüllen aus der Verbindung zur RUBIKON. Er schien dem Wahnsinn nahe. Cloud hätte ihn aufhalten können, doch sein Zorn flaute bereits wieder ab. Warum sollte er den gefallenen Herrscher auch noch quälen. Außerdem wusste er nicht, wie weit ihn die KI gehen lassen würde. Sobek würde über die Schmerzen hinwegkommen, aber er würde niemals mehr vergessen, was Cloud ihm angetan hatte.
Doch das spielte in diesem Augenblick keine Rolle. Denn der fremde Gleiter entfernte sich immer mehr, hatte die hundert Lichtjahre Abstand bereits überschritten. Cloud musste sich sofort an die Verfolgung der Gegner machen... Momentane Entfernung: 87,3 Lichtjahre, annähernd in Richtung des heißen Zentrums der Großen Magellanschen Wolke. Namen von Sonnensystemen, Planeten und Monden, die ihm rein gar nichts sagten, ratterten an seinen vielen Sinnen vorbei. Die RUBIKON glitt mit trügerisch langsam schlagenden Schwingen zwischen den Sternen hindurch. Dem riesigen rochenförmigen Schiff würde die Beute jetzt nicht mehr entwischen. *** »Der fremde Gleiter hat aufgehört, Haken zu schlagen«, sagte er zu den Anwesenden, als er müde und durstig aus seinem Sarkophag stieg. »Ich nehme an, dass wir bald sein Ziel erreichen.« Boreguir reichte ihm einen Becher mit Wasser und blickte ihn starr an. Auch Aylea, Jarvis und Jelto hatten sich in der Zentrale versammelt. Manchmal scheinen sie nur Statisten zu sein, die das Schiff bevölkern, dachte Cloud, aber andererseits hätten wir es ohne sie niemals lebend bis hierher geschafft. Und wenn wir Scobee aus den Händen dieser mysteriösen Entführer befreien können, so verdanken wir es zu einem guten Teil den Augen und Ohren des Saskanen. »Okay«, sagte er zu Boreguir, »ich habe ein Versprechen gegeben; und ich muss zugeben, dass du deinen Teil der
Abmachung mehr als erfüllt hast. Was ist es also, das du von mir möchtest?« Der Katzenartige zog sein Herzblut-Schwert Feofneer in einer einzigen, geschmeidigen Bewegung und hielt Cloud den fein ziselierten Knauf hin. Automatisch legte Cloud seine Rechte darauf, und Boreguir umfasste sie. »Dies hier ist nicht das Leben, das ich führen wollte«, sagte der Saskane. »Meine Lebenszeit verrinnt, während auf meinem Heimatplaneten Dinge passieren, die meinen Schwertarm erfordern. Durch meine Neugierde bin ich in dieses unbeschreibliche Abenteuer gezogen worden. Ich habe Sachen gesehen, die meinen Horizont bei weitem überschreiten, und ich habe Kämpfe ausgefochten, die nicht die meinen sind. Meine Schuld der Sippe gegenüber hat sich durch meine Abwesenheit nur noch erhöht. Es wird Zeit, dass mir Gelegenheit gegeben wird, diese Schuld zu begleichen.« Boreguir stockte kurz. »Ich möchte von dir die Zusage, dass du mich bei nächster Gelegenheit auf Saskana absetzt.« »Ja, aber... aber wie soll ich das anstellen?« Cloud wusste nicht, was er antworten sollte. »Selbst wenn wir nicht zufällig in einer anderen Galaxis stecken würden... Wo soll ich denn die Daten über deinen Heimatplaneten herkriegen?« »Jarvis hat mir erklärt, dass die Transportkugel, mit der ich gelandet bin, Teil der Marsstation war. Die Marsstation wiederum ist inzwischen ein Teil dieses Raumschiffes geworden. Jarvis sagte auch, dass die Kugeln Erinnerungen haben. Sie müssen also wissen, wo und wann ich entführt wurde.« Cloud warf Jarvis einen langen und nachdenklichen Blick zu. Der Amorphe hatte ihn, wenn auch unbewusst, ganz schön in Schwierigkeiten gebracht. »Boreguir, hör mir jetzt gut zu«, sagte er vorsichtig. »Es
stimmt, dass diese >Erinnerungen< – wir nennen sie Daten – vorhanden waren. Die Marsstation hat sie an die RUBIKON übertragen. Zumindest das, was von ihnen übrig war.« »Was willst du damit sagen?« Der Saskane versteifte zusehends. Eine körperliche Reaktion war ihm selten anzusehen und deswegen umso bemerkenswerter. Besser gesagt: Angst einflößend. »Die Marsstation war nicht gerade das, was man als gesund bezeichnen würde«, fuhr Cloud fort. »Sie funktionierte nicht mehr richtig. Sie war alt und die Jahrtausende haben ihr geschadet. Ich befürchte, dass ihre Erinnerungen Lücken aufweisen.« »Heißt das, sie hat vergessen, wo sie mich hergeholt hat?« »Nein, so weit würde ich nicht gehen. Ich habe mich bislang noch nicht allzu viel um die Datenblöcke... um die Erinnerungen der Marsstation gekümmert. Aber es mag sein, dass sie zumindest fehlerhaft sind. Und wie du ja mittlerweile weißt, ist es einfach unmöglich, aufs Geratewohl und ohne die richtigen Daten einen bestimmten Planeten zu suchen.« Boreguir schwieg, und in dieser unheimlichen Stille lag eine Botschaft von Schmerz und Verzweiflung. »Johncloud«, sagte er schließlich. »Du hast ein Versprechen abgegeben. Ich habe dir geholfen. Und ich erwarte, dass du nun mir hilfst! Finde mir den Weg zurück nach Saskana!« »Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht«, erwiderte der Kommandant der RUBIKON. »So, wie ich es versprochen habe. Ich bitte dich nur, Geduld zu haben. Bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit kümmere ich mich um deinen Wunsch.« Wieder blickte ihn Boreguir lange und nachdenklich an, um sich schließlich abrupt umzudrehen und die Zentrale zu verlassen. Erst am Eingangsschott drehte er sich nochmals um und sagte: »Ich glaube dir.« Dann glitt er mit seinem
katzenartigen Gang davon. »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben«, sagte Jarvis, der neben Cloud getreten war. »Keine Sorge, ich vergesse nicht, was ich zugesichert habe. Ich hoffe bloß, dass Boreguir Verständnis haben wird, wenn ich mich um die Probleme in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit kümmere.« »Für den Saskanen gibt es nichts Wichtigeres, als so rasch wie möglich zurück auf seinen Heimatplaneten zu gelangen«, warnte Jarvis. »Denk daran.« Gereizt drehte sich Cloud zu Jarvis um. »Ich weiß! Jetzt kümmere ich mich aber erst einmal um Scobees Befreiung. Einverstanden?« »Ja, natürlich.« Jarvis’ Tonfall klang verletzt. Cloud atmete tief durch. »Tut mir Leid.« Er sagte nicht: Aber ich mache mir Sorgen um Scobee. Das wussten alle Anwesenden ohnehin... *** »Mensch, du hast dein Todesurteil unterschrieben!« Mit diesen Worten wurde Cloud von Sobek empfangen. Seine Stimme war durchdringend und wuchtig. Fast schien es Cloud, als wolle er ihn allein Kraft seiner Worte in die Knie zwingen. Aber er war gewappnet. »Nicht an Bord der RUBIKON!«, entgegnete Cloud kalt. »Sie ist mein Schiff. Du hast weder die Macht noch die Kraft, über mein Schicksal zu bestimmen. Ich bin auch nicht gekommen, um mir deine Drohungen anzuhören.« Sobek stand aufrecht da. Seine Klauen bewehrte Hände waren zu Fäusten geballt. Doch er versuchte keinen Angriff. Die RUBIKON hatte klar gemacht, dass sie ihren derzeitigen
Kommandanten schützen würde. Sobek wusste das. Und Cloud auch. Er trat an Sobek heran, ganz nahe. »Ich möchte, dass du mir aufmerksam zuhörst!« Er ignorierte, dass das Wesen vor ihm zwei Köpfe größer war und ihn in der Luft zerreißen konnte. Seine Stimme war leise, als er sagte: »Versuch so etwas nie wieder, Forone! Ich habe euch einmal erwischt, ich erwische euch auch das nächste Mal. Sieh also zu, dass es kein nächstes Mal mehr gibt. Nimm deine Position hin, so wie ich meine akzeptiert habe. Wir sitzen in einem Boot, und es war die Entscheidung der RUBIKON, mich als Kommandanten einzusetzen. Ich weiß nicht, welche Ziele du verfolgst. Ich weiß auch nicht, was Wahrheit und Lüge ist bei dem, was du sagst. Es interessiert mich auch nicht mehr. Du und Siroona, ihr werdet hier in euren Quartieren warten, bis ich euch rufe. Ihr macht keinen Schritt mehr ohne meine Erlaubnis. Ich werde euch jeglichen Zugang zur RUBIKON sperren. Ich werde dich nicht noch einmal schonen, solltest du dich mir erneut widersetzen. Und wenn Scobee wegen eures Verrats leiden musste, werdet ihr dafür büßen. HABEN WIR UNS VERSTANDEN?« Die gebrüllten letzten Worte hallten in der riesigen Halle wider. »Er hat dich gehört«, sagte Siroona hinter Cloud. Sie klang nüchtern und kühl, als ob sie dies alles nichts anginge. Vielleicht wollte sie die Wogen glätten. Möglicherweise war Sobek vor Zorn auch nicht in der Lage, sich akustisch auszudrücken. »Er hat die Drohung auch verstanden.« Sie atmete tief durch, schien mit sich zu kämpfen. »Er... Wir bitten dich, über all deinen Angelegenheiten mit der Frau Scobee auch die Probleme und Ziele der Foronen nicht aus den Augen zu verlieren. Es mag über das Schicksal zweier Sterneninseln entscheiden.«
Siroona drehte sich abrupt um und marschierte schnurstracks aus der Halle. Eine Bitte an einen Menschen formulieren zu müssen, überforderte sie zweifelsohne. Cloud hatte sie die ganze Zeit über ignoriert und Sobek fest im Blick behalten. »Mein Wort hättest du wesentlich einfacher haben können. Ich denke immerzu nur an die vielen Rätsel, die es in der Großen Magellanschen Wolke zu lösen gilt. Aber dein Herz, wenn du eines hast, ist so voll Misstrauen, dass du mir nicht einmal glauben würdest, wenn ich einen Pakt mit meinem Blut besiegeln würde. Du wirst einfach lernen müssen, mir zu vertrauen. So. Und jetzt begebe ich mich auf die Suche nach Scobee. Ihr Schicksal geht einfach vor.« Mit raschen Schritten verließ Cloud Sobeks Quartier. Siroona war nirgends zu sehen. Höchstwahrscheinlich verkroch sie sich in ihrem eigenen Privatbereich und schmollte. »Versiegeln«, befahl er laut. Die RUBIKON gehorchte. Sämtliche energetische Impulse, mit Ausnahme jener der Lebenserhaltung und der medizinischen Rehabilitation der Foronen, wurden mit diesem simplen Befehl abgeschnitten... *** Erneut schwebte Cloud im Raumschiff und betrachtete die sechs Raumjäger, die er über mehr als fünftausend Lichtjahre verfolgt hatte. Cloud spürte, er wusste, dass sie nahe an ihrem Ziel waren. Der Basisplanet der Raumjäger musste in unmittelbarer Reichweite sein. Und tatsächlich verringerten die Gleiter wenig später ihre Geschwindigkeit und steuerten ein System an. Cloud stoppte die RUBIKON, und die Orter nahmen sofort
ihre Arbeit auf. Sie übermittelten ihm Bilder eines knappen Dutzend Planeten, die eine gelbe Sonne umkreisten. Das Gugerell-System, rekapitulierte er die Daten. Ehemalige Heimat von mehreren Milliarden Foronen auf zwei bewohnbaren Planeten. Unbehaglich formulierte er den nächsten Gedanken. Beide sind scheinbar ebenso verglast wie Galvaur. Planeten aus Glas... Eine weitere Ortungsauswertung langte bei ihm ein. Hier befand sich eindeutig kein Basis-Planet, von dem die Fremden stammen könnten. Allerdings befand sich ein Objekt in einer sonnennahen Umlaufbahn, das die RUBIKON als Raumschiff identifizierte. Es war groß, und es war... ungewöhnlich... Eine Kugel, zweihundert Meter im Durchmesser, bildete das Zentrum eines aberwitzigen Konglomerates, das am ehesten mit der Kopie eines Bohrschen Atommodells verglichen werden konnte. Helle, sich stetig verändernde Schlieren wanderten um die Außenhülle des runden Zentralkörpers. Sechzehn kleinere Kugeln umliefen ihn mit unterschiedlichsten Geschwindigkeiten. Manche waren bloß zehn, manche mehr als fünfzig Meter stark. Wie auf Schienen glitten sie über verfestigte, verschieden breite Bahnen, die den Zentralkörper ineinander verschlungen und in verschiedensten Neigungen zueinander umgaben. Einer der Raumjäger landete soeben auf der äußersten Umlaufbahn. Ruhig und ohne messbare Energiewerte stand er wenige Momente auf der glatten Oberfläche. Und nur ein paar Sekunden mehr dauerte es, bis sich die silbern glänzende Kugel näherte, der diese manifestierte Umlaufbahn gehörte. Sie machte keine Anstalten zu stoppen...
Da war die Kugel heran – und fraß den Raumgleiter, löste ihn scheinbar in sich auf. Und gleichzeitig ertönte ein Schrei in ihm. In Cloud, dem Schiff. Todes-Energie, unbestimmbar und ihm dennoch bestens bekannt, erschütterte die RUBIKON in ihren Grundfesten, ließ ihre Hülle beben und trennte Myriaden von NanoVerbindungen, die das Foronenbauwerk zusammenhielten. Nur unter Aufbietung aller Willenskraft konnte er das Schiff in seiner Form halten, es vor dem drohenden Untergang bewahren. Denn Cloud hatte den verzweifelten Hilfeschrei eines Lebewesens gehört, das auf qualvolle Art und Weise sein Leben beendete. Es hatte Scobees Todesschrei gehört... Epilog Boreguir »Ich glaube dir«, hatte der Saskane John Cloud gesagt – und damit bewusst gelogen. Denn ein kurzes, nervöses Zucken des rechten Auges und das Krümmen eines Fingers hatte den Commander verraten. Cloud wollte ihm zwar helfen – doch keineswegs so rasch und konsequent, wie sich Boreguir das gewünscht hatte. Der Erdenmensch verkannte offensichtlich seine Nöte und sein Bedürfnis, so rasch wie möglich zurück nach Saskana zu gelangen. Cloud verstand ihn nicht, und er war kein Mann von Ehre. Boreguir musste nachdenken. Vielleicht gab es andere an Bord, die ihm bereitwilliger helfen würden...
ENDE