OTTO ZIERER
BILD D E R JAHRHUNDERTE EINE WELTGESCHICHTE IN 18 EINZEL- UND 12 DOPPELBÄNDEN
ENTFESSELTE GEWALTEN Unter ...
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OTTO ZIERER
BILD D E R JAHRHUNDERTE EINE WELTGESCHICHTE IN 18 EINZEL- UND 12 DOPPELBÄNDEN
ENTFESSELTE GEWALTEN Unter diesem Titel ist der Doppelband 29/30 der neuen Weltgeschichte erschienen. Der Doppelband behandelt das 17. Jahrhundert n. Chr. In Stücke gebrochen liegt die alte Einheit des Abendlandes. Die aufgespaltenen Nationen kämpfen um Vormacht und Handelsplätze. Sternförmig führen die Wege der neuen Wissenschaften vom Altar der Gottheit fort in die Grenzenlosigkeit desAlls. Entfesselte Gewalten erschüttern Glaube, Sitte und überkommene Ordnung. Die Beunruhigung der Völker ist tief und fortdauernd.Der kontinentweite Dreißigjährige Krieg pflügt alle bisherigen Verhältnisse um — an seinem Ende ist das Reich als Herz Mitteleuropas zerschlagen. Ein französisches Jahrhundert hebt an.
Auch dieser Doppelband ist in sich vollkommen abgeschlossen und enthält wieder ausgezeichnete Kunstdrucktaf ein und zuverlässige historische Karten. Er kostet in der herrlichen Ganzleinenausgabe mit Rot- und Goldprägung und farbigem Schutzumschlag DM6.60. Mit dem Bezug des Gesamtwerkes kann in bequemen Monatslieferungen jederzeit begonnen werden. Auf Wunsch werden auch die bereits erschienenen Bücher geschlossen oder in einzelnen Bänden nachgeliefert. (Einzelbände 1—18 je DM 3.60.) Prospekt kostenlos vom VERLAG SEBASTIAN LUX • MURNAU • MÜNCHEN • INNSBRUCK
KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
PESTALOZZI E r z i e h e r der Menschheit
VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU • MÜNCHEN • INNSBRUCK
D i e Höhlenkinder von Stans
M
it dem Jahre 1789, dem Jahre des Ausbruches der Französischen Revolution, hat die Unruhe begonnen. Seither steht es wie roter Brandschein über dem Westen. Frankreich, der große Nachbar der Schweiz, gleicht einem gewaltigen Vulkan, der Europa in Atem hält. Seit fast zehn Jahren geht das Grollen von Eruptionen und Erdbeben durch die Menschheit des Abendlandes. Die neuen Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit drängen wie Feuer, das unter der Erde im Moor brennt, zur Oberfläche. Drei Jahre ist es her, daß die Welt wie gebannt auf den rasch emporsteigenden Stern eines Mannes starrt, den der flammende Abgrund der Revolution ausgeschleudert hat: Napoleon Bonaparte . .. Der junge General ist zuerst als Bändiger des Pariser Aufstandes vom 13. Oktober 1795 hervorgetreten. Als Österreich sich wider ihn erhebt, um den Brandherd der Revolution auszutreten, wird Napoleon zum Helden der in Italien kämpfenden Armee, zum weitgerühmten Sieger von Lodi und zum Triumphator über die alten österreichischen Feldmarschälle. In diesem Jahre 1798 aber scheint es, als sei das siegreiche Frankreich der Revolution nun aufgebrochen, um seinen Nachbarn die Ideen der neuen Zeit mit Gewalt aufzuzwingen. Die Welt wälzt sich in ihrem Bette um, allegi schickt sich an, anders und unabsehbar zu werden. Im Januar ist dieser schreckliche Kriegsheld Napoleon Bonaparte mit einem Heere zu einem Feldzug ins Land der Sage — nach Ägypten und dem Orient — aufgebrochen; von der blutigen Gloriole der Schlachten umhüllt, betritt er die Pfade Alexanders des Großen, folgt den Spuren des Cäsar und Pompejus. Seine Gehilfen durchziehen indessen in seinem Auftrag das alte Abendland und formen es neu. Schon sind die Batavische, Ligurische und Cisalpinische Republik aus dem Fell Hollands, Genuas und Mailands geschnitten, im Februar haben Franzosen den Kirchenstaat in eine Römische Republik von der Gnade Frankreichs verwandelt, und fast gleichzeitig sind die Revolutionstruppen aus dem Westen in die Schweiz eingefallen. 3
Lange schon haben die Ideen der Aufklärung, die Forderung nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auch in den Schweizer Kantonen hier und dort Wurzel geschlagen. Aber die Gedankenwelt des Bürgertums, das Übergewicht der aristokratischen Hauptstadt Bern über andere, mehr ländliche Bezirke, hat noch den Durchbruch des Neuen verzögert. Da geben die unterdrückten Bauern des W aadtlandes das Signal, erheben sich gegen den Übermut der Berner Bürger und rufen die Franzosen zu Hilfe. General Brune besetzt im April 1798 die Hauptstadt. Die „Helvetische Bepublik" mit einem revolutionären Direktorium an der Spitze löst die alte Kantonsverfassung und die herkömmliche Regierung ab. Doch die Ur-Kantone der Schweiz machen nicht mit. Die tiefgetroffenen katholischen Gebiete widersetzen sich den Eroberern und ihren revolutionären Ideen. Als die französischen Truppen weiter vordringen und sich den ältesten Kantonen nähern, greifen die braven Bauern am Vierwaldtstätter See zu den Waffen und versuchen den Sansculotten das gleiche Schicksal zu bereiten, das ihre Vorväter einmal den Rittern Habsburgs bereitet haben. Kriegsgetümmel durclidröhnt die vordem so friedlichen und schönen Gebirgstäler im Herzland der Schweiz.
* Der Herbst des Jahres 1798 ist regnerisch. Tief hängt blaues Gewölk über den Bergen Unterwaldens, der Rigi am Nordufer des Sees ist verhüllt, graue Regenstriche peitschen auf die in buntem Laub stehenden Wälder längs den Höhen der Aa. In das Ziehen und Treiben der Nebel mischen sich braunschwarze Schwaden Rauches, die von den Bauernhöfen zwischen der Aamündung und der Stanser Höhe herkommen. Rollender Donner wie von einem sich entfernenden Gewitter, dumpfe Schläge von feuernden Batterien rumoren durch das Tal und brechen sich in vielfältigem Echo an den Felswänden des Vierwaldtstätter Sees. Wenn der Regenwind auffrischt, dringt manchmal das Brummen der Trommel, das aufreizende Schmettern von Clairons nachAlpnach und Samen herunter. Für diese Orte an der Aa ist das Schlimmste schon vorübergezogen. Da und dort stehen verängstigte Menschen unter den Haustüren oder auf den Altanen und blicken schweigend zur Stanser Höhe hinauf, über die noch immer die langen Striche blauer Infanterie und die Kolonnen rotbebuschter Reiterei in grauen Mänteln dahinziehen. Die armen Leute von Stans! Dort muß der Brennpunkt der Kämpfe gewesen sein, über dem Wald liegt eine dicke, immer höher steigende schwarze Brandwolke. 4
Die Flüchtlinge berichten, die Sansculotten hätten das Ursulinenkloster angesteckt, auch die ärmlichen Hütten und Höfe seien ein Raub der Flammen geworden. Die Wirklichkeit ist beinahe noch schrecklicher als das, was die Menschen erzählen. In Stans ist kaum ein Stein auf dem anderen geblieben, in Häuser- und Nahkämpfen haben sich die erbitterten Bauern zur Wehr gesetzt. Jetzt, da die französische Armee über die Höhe nach Wolfenschießen weitermarschiert, breitet sich der Regen wie ein nasses Leichentuch über die qualmende Ruinenstätte. Die Mehrzahl der erwachsenen Bewohner von Stans liegt erschlagen unter den Trümmern, die Klosterfrauen sind schon beim Herannahen der Revolutionstruppen in die Wälder geflüchtet. Es wird endlich Abend über Stans, glühende Sparren glosen rot in die sinkende Nacht, unaufhörlich fällt Regen und löscht langsam die Brände. Die letzten Kolonnen der Franzosen, zerlumpte, wilde Gestalten mit langen Hosen, Jakobinerhauben und Trikolorekokarden, sind hinter ihren Troßwagen drein nach Südosten verschwunden. Da und dort heult ein Hofhund an der Leiche seines Bauern. Eine Kuh irrt durch die Dorf Straße, und ein paar Ziegen kommen von den Berghöhen vorsichtig in die Senke zurück. Aber nicht nur Tiere suchen die Stätte auf, an der sie gelebt haben und wo sie versorgt wurden. Aus Kellerlöchern und Erdhöhlen, vom nahen Buschwald her und aus den Klüften von Buochs wagen sich die Überlebenden hervor. Meist sind es Kinder. Die Väter haben gekämpft und sind gefallen, und die Mütter haben die Väter nicht verlassen und sind mit ihnen in den Tod gegangen. Ein paar Erwachsene, arme alte Leute, gehen suchend durch das zerstörte Dorf. Es gibt kaum etwas Eßbares, das die durchziehende Armee übriggelassen hätte. Alle Bande sind zerrissen, Familie, Nachbarschaft und Menschlichkeit sind ausgelöscht — niemand kümmert sich um das Leid des andern, jedermann hat selber genug an Erschütterung zu tragen. Knaben raufen um ein Stück aufgeweichten Brotes, Mädchen sitzen frierend und heulend an den herabbrennenden Resten des Gebälks. Und der Regen strömt wie Tränen . . , * D i r e k t o r L e g r a n d sucht e i n e n H e l f e r Die Kunde von den furchtbaren Ereignissen im Kanton Unterwaiden und von der Katastrophe, die das Dörfchen Stans betroffen, dringt rasch nach Bern, zum Sitz der Regierung. Inmitten der zahl5
losen Probleme, die der Einmarsch der Franzosen aufgeworfen hat, ist es schwer, etwas für die Unglücklichen zu tun. Legrand ist einer der Regierungsdirektoren, ein Mann, der sich von jeher den Ideen der Toleranz und Aufklärung verschrieben hat, ganz erfüllt von dem Gedanken der Menschenliebe und dem Willen, dem armen, in Dumpfheit lebenden Volke zu helfen. Vor längerer Zeit hat er die Bekanntschaft eines berühmten Schriftstellers gemacht, der ganz ähnlichen Idealen dient. Dieser Johann Heinrich Pestalozzi ist Züricher, am 12. Januar 1746 als Sohn eines frühverstorbenen Augenarztes geboren. Pestalozzi ist erstmals 1780 mit dem gedankenreichen Büchlein „Abendstunde eines Einsiedlers" hervorgetreten, wurde dann weithin bekannt durch den Auf sehen erregenden Erziehungsroman „Lienhard und Gertrud", der in den Jahren 1781 bis 1787 erschienen ist. 1782 ist sein Buch von „Christoph und Else" herausgekommen. Im Frühjahr dieses Schreckensjahres 1798 hat er geistreiche „Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechtes" veröffentlicht. Als die Regierung den Erziehungsdirektor mit der Einleitung geeigneter Hilfsmaßnahmen für Stans beauftragt, gleichzeitig aber jeden finanziellen Zuschuß als unmöglich ablehnt, fällt Herrn Legrand sogleich der Name Pestalozzi ein. Wenn dieser Mann — dessen selbstlose Menschenfreundlichkeit außer jedem Zweifel steht — nicht hilft, dann wird niemand die Sache der verlassenen Kinder von Stans führen. Erst vor wenigen Wochen hat Pestalozzi Herrn Legrand einen Erziehungs- und Volksbildungsplan für den Aargau eingereicht; er sagte, er sei entschlossen, sich der Kindererziehung zu widmen, er wolle „Schulmeister" werden. Solche Idealisten sind selten in dieser Zeit. Am Nachmittag dieses Tages wird Pestalozzi ins Amtszimmer des Erziehungsdirektors gerufen. \
* Johann Heinrich Pestalozzi nimmt bescheiden Platz, er sitzt auf der Kante des angebotenen Stuhls. Sein Rock ist nach der Mode der Zeit mit gewaltigen Aufschlägen und Armstulpen versehen, aber ein wenig abgeschabt, das Halstuch zeigt Flecken — der große Menschenfreund gibt nicht viel auf Äußerlichkeiten. Pestalozzis Gesicht ist alles andere als schön: der schmallippige und etwas große Mund, die klobige Nase und die von Runzeln und Falten durchzogenen, schon fahlen Wangen würden sein Antlitz sogar häßlich machen, wäre nicht die hohe, geistvolle Stirne und das frei und ungepudert herabwallende, lange Haar. Vor 6
allem aber sind es die übergroßen, strahlenden, ungemein gütigen Augen, die in hellem, warmem Braun so viel Freundlichkeit, Aufgeschlossenheit und Liebe ausdrücken, daß man alle anderen Mängel dieses Gesichts sofort vergißt. „Bitte, sprechen Sie, Legrand", sagt Pestalozzi mit seiner weichen, beinah singenden Stimme, der man ein wenig den Akzent der italienischen Vorfahren anmerkt, „was soll ich tun? Ich bin erschüttert von dem, was Sie mir über die Katastrophe von Stans berichten, und stehe Ihnen mit meiner ganzen Person zur Verfügung". „Dann ist alles gut, Bürger, ich danke Ihnen! Wollen Sie tun, was Sie können, so gehen Sie nach Stans, sammeln Sie die Waisen um sich, versuchen Sie für sie zu sorgen, sie zu unterrichten und zu e r z i e h e n . . . aber wir — die Regierung — können Sie mit nichts unterstützen." Pestalozzi blickt erstaunt auf — aber nur für einen Augenblick. „Dann werde ich ohne staatliche Hilfe ans Werk gehen", sagt er. Schon hat ihn die Aufgabe gepackt. Er weiß, daß „ihn sein Eifer, einmal an den großen Traum seines Lebens Hand anlegen zu können, dahin gebracht hätte, selbst in den höchsten Alpen . . . ohne Feuer und Wasser anzufangen, wenn man ihn nur einmal anfangen ließe .. .' Und doch: Wird er dem allen gewachsen sein? Wie Blitze in dunkler Nacht ziehen Erinnerungen vorüber, und sie erhellen mit ihrem Lichte vergangene Bilder.
* Pestalozzi ist als Muttersöhnchen aufgewachsen, ohne männlichen Einfluß. Die gute Mutter und „Babeli", die Magd, haben ihn gebildet. Scherzhaft nennt er sich in seiner Erinnerung selber den „Heiri Wunderli", der lange Jahre die „Welt nur in der Beschränkung der mütterlichen Wohnstube und in der ebenso großen Beschränkung seines Schulstubenlebens sah. Das wirkliche Menschenleben war ihm so fremd, als wenn er nicht in der Welt wohnte . . , Erst vom neunten Lebensjahre an hat man ihn alljährlich in den Ferien zum Großvater, einem Pfarrer in der Nähe von Zürich, gebracht, und hier hat er das Landvolk kennen und lieben gelernt. In Zürich besucht er die Lateinschule, später das „Collegium", wo die berühmten Dichter Bodmer und Breitinger seine Lehrer sind; er geht zur Universität, studiert Theologie und Juristerei, bis er eines schicksalhaften Tages auf das Buch des großen Franzosen Rousseau stößt: auf den Erziehungsroman „Emile". Über dem Lesen dieses Buches ist in ihm das Ideal seines Lebens aufgewacht: Ein neues Menschenbild zu formen, wie Rousseau es ge7
sehen hat — in Natürlichkeit, Freiheit und Vernunft. Sagt doch der Franzose zu Beginn seines „Emile": „Alles ist gut, wie es hervorgeht aus den Händen des Urhehers ] aller Dinge; alles entartet unter den Händen des Menschen . . ." Gleich Rousseau kehrt auch Pestalozzi heim zur großen Lehr meisterin Natur. Er ist Landwirt geworden, lernt bei dem berühm ten Gutsherrn Tschiffeli und kauft sich mit Unterstützung einiger Geldgeber unweit von dem Dorfe Birr im Kanton Aargau hundert Morgen Heideland und errichtet darauf den „Neuhof*'. „Ich will einfältig leben, ohne große Bedürfnisse, still und einge schränkt; aber um mich her will ich nicht aus Liebe zur Einfalt und zu einer stillen, ruhigen Lebensart das Volk verhungern sehen. Nein, ich will durch meine Arbeit den Armen jeden möglichen Erwerbszweig zeigen und halte das für meine Christenpflicht. Das ist mein System." Pestalozzi möchte den darbenden und hoffnungslos Hungernden zeigen, wie man durch Zupacken sich selber helfen kann. Zur Zeit ist der Krapp sehr begehrt, aus dessen rötlich gefärbter Wurzel wertvolle Farben für die Stoffdruckereien gewonnen werden. Pestalozzi versucht es mit dem Anbau der Färbewurzel im Großen, um aus dem Ertrag ein Leben im Sinne Rousseaus zu leben. Aber das Unternehmen schlägt fehl. Der arme, verträumte „Heiri Wunderli" erweist sich als unpraktisch und weltfremd; der schöne „Neuhof" gerät in Schulden, und die bedauernswerte, junge Frau, die sich Pestalozzi gefreit hat — Anna Sehultheß, eine Kauf' mannstochter aus Zürich —, erfährt, daß der Anfang ihres gemeinsamen Lebens von schwerem Kummer überschattet ist. Pestalozzis Gedanken kreisen um jenes Ereignis: In der wenig beneidenswerten Situation des Zusammenbruchs, am Rande des Bankrotts, hat er erkannt, warum er versagen mußte. Er hat trotz aller guten Vorsätze nur an sich selber gedacht, das große Ideal, die Neuformung des Menschenbildes, nur für sich selbst angestrebt. E r war zur Erde zurückgekehrt, nur e r hatte sich menschlich höhergebildet, Pestalozzi hatte vergessen, an die a n d e r e n zu denken. Wohin er schaut, liegt die Erziehung des armen Volkes im argen. Was bedeuten all diese schönen Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die hohen Loblieder auf das anbrechende Zeitalter der Vernunft und der Wissenschaft, wenn die Masse der Menschen so primitiv heranwächst, daß sie kaum Kenntnisse und noch weniger sittliche Bildung besitzt? Darf man sich wundern, wenn aus Freiheit Zügellosigkeit, aus Gleichheit Raub und aus Brüderlichkeit K
Zwang wird, wenn die Fackel der Vernunft nur wenigen Auserwählten leuchtet und die Wissenschaft hoch über den Köpfen der Armen ein fernes Geisterreich erbaut? Was geschieht denn für die Volksmasse, um sie besser, klüger und empfänglicher für das Gute zu machen? Erst das Unglück auf dem „Neuhof" öffnet Pestalozzi die Augen für das Unglück der Mitmenschen. Und so gründet er unter Aufopferung des Restes seines ererbten und angeheirateten Vermögens die „Armenerziehungsanstalt Neuhof". Er sammelt elternlose oder verwahrloste Kinder, die sonst an die Bauern als billige und willige Arbeitskräfte verschachert wurden, in seinem Hause, um sie Lesen, Schreiben und Rechnen, die einfache Landwirtschaft und das Baumwollspinnen zu lehren. Was die kleinen Hände zustandebringen, soll verkauft werden, damit aus dem Ertrag Nahrung und Kleidung beschafft werden kann. Pestalozzi ist einunddreißig Jahre alt, als er die Erziehungsarbeit beginnt. Aber hat er auf diesem Felde mehr Erfolg gehabt, als auf den Ackern mit Krapp, der nicht gedieh?
* Legrand ist unruhig geworden, müßte der Mann nicht sprechen. Pläne entwickeln, Fragen stellen? Sollte er sich in Pestalozzi so sehr getäuscht haben? „Sie schweigen, lieber Freund?" sagt er, „Sind Ihnen Bedenken gekommen?" Johann Heinrich Pestalozzi fährt aus seinen Gedanken auf,, langsam kehrt sein Blick zur Gegenwart zurück. „Ja, Legrand", erwidert er, „Ich habe Bedenken. Es sind Bedenken gegen mich selber: ich könnte auch an dieser Aufgabe versagen. Sie wissen ja, daß ich schon einmal gescheitert bin — in .Neuhof'." Und ehe Legrand zu antworten vermag, fährt er hastig, wie in dem Bestreben, sich zu verteidigen, fort: „ ,Unter den Kindern meiner Armenerziehungsanstalt waren sehr viele in höchstem Grade verwilderte, und was noch schlimmer war. viele selbst im Bettelstand in hohem Grade verwöhnte und durch frühere Unterstützung verzärtelte Kinder, denen kraftvolle Bildung von vorneherein verhaßt war . . . Diese sahen den Zustand, in dem sie bei mir waren als eine Art Erniedrigung gegen den vorausgegangenen an. Mein Haus war alle Sonntage von Müttern und Verwandten solcher Kinder, die mit der Behandlung unzufrieden waren, voll. Alle Anmaßungen wurden von ihnen gebraucht, um die Kinder 9
in ihrer Unzufriedenheit zu bestärken. Andere, ganz verwilderte Kinder wurden mir bei Nacht und Nebel, sobald sie ein wenig ausgebildet waren, samt ihren Sonntagskleidern entführt . . . Dazu kam meine eigene, ganz unglaubliche Gedankenlosigkeit. Ich wollte beim Anlernen der Kinder zur Webarbeit gleich feines Gespinst erzwingen, ehe meine Kinder im groben sicher waren Legrand wehrt eifrig ab. „Aber, lieber Freund! Was klagen Sie «ich an! Mag der junge, begeisterte Pestalozzi mit seinen Absichten gescheitert sein, der älter gewordene, erfahrene unterliegt diesen Mängeln nicht mehr. Nein, nein, bester Bürger: In „Lienhard und Gertrud" haben Sie die Größe Ihres Herzens offenbart. Ihr Name hat Klang und Ansehen. Einen Geeigneteren als Sie wird die Behörde zur Lösung der Aufgabe von Stans nicht finden, und sie wird mit ihrer Autorität hinter Ihnen stehen. Die Französische Republik hat Sie dank Ihrer schriftstellerischen Leistungen zum Ehrenbürger ernannt, das Pariser Direktorium hat Sie eingeladen, der Republik Ihren Rat in Erziehungs- und Unterrichtsfragen zur Verfügung zu stellen. Sie sind der einzige Mann, der mit den Franzosen verhandeln kann; bedenken Sie, Stans ist noch immer umkämpfte» Gebiet." „Und doch, Legrand", entgegnet Pestalozzi, „lastet das zerbrochene Erbe von Neuhof noch immer auf mir und nimmt mir allen Mut. 1780 habe ich auch die Armenanstalt auflösen müssen. ,Mein Versuch war in herzzerreißender Weise gescheitert. Meine Frau hatte im Übermaß ihres Edelmutes fast ihr gesamtes Vermögen für mich verpfändet. Personen, deren Namen ich mit Schweigen übergehen will, mißbrauchten mit Härte und Rücksichtslosigkeit ihren Edelmut. Es ergreift mich unwiderstehliche Wehmut, ich muß das Niedrigste und Drückendste der Umstände für mich behalten.' Es war ein rechter Schiffbruch, ein Versagen in der Praxis! Was bedeutet es dagegen, daß ich als pädagogischer Schriftsteller einigen Erfolg buchen kann?" Legrand erhebt sich, freundschaftlich legt er dem Zweifelnden die Hand auf die Schulter. Kein Mensch vermöge mehr zu tun, als guten Willens zu sein; sagt er, jeder, der Helfer der Nebenmenschen sein wolle, müsse immer von neuem beginnen. Da steht auch Pestalozzi auf, reckt die schmächtige Gestalt. „Ja, Sie haben recht, Legrand! Ich will nach Stans gehen und Vater der Waisen sein. ,Ich hoffe in der Unschuld des Landes einen Ersatz für seine Mängel und in seinem Elend ein Fundament seiner Dankbarkeit zu finden'."
* 10
D e r V a t e r der W e i s e n Wenige Tage später beginnt Pestalozzi seine Arbeit in den Ruinen von Stans. Er sammelt achtzig Waisenkinder aus den kriegsverwüsteten Strichen um Stans und versucht zunächst für das Lebenswichtigste, für Nahrung und Unterkunft, zu sorgen. In den rauchgeschwärzten Mauern des Ursulihen-Klosters sind noch ein paar Räume, die notdürftig hergerichtet werden können; eine alte Bäuerin erklärt sich bereit, für die Kinder zu kochen. „Außer dem nötigen Gelde mangelt es übrigens an allem. Die Kinder drängen sich herzu, ehe weder Küche noch Zimmer, noch Betten für sie in Ordnung sein können . .. Pestalozzi ist während der ersten Wochen in einem einzigen Zimmer eingeschlossen, das keine 24 Schuh im Geviert hat. Der Dunstkreis ist ungesund, schlechtes Wetter tritt noch hinzu, und der Mauerstaub, der alle Gänge füllt, vollendet die Unbehaglichkeit dieses Anfangs . . ." In den allerersten Tagen hat Pestalozzi die armen, halbverwilderten Kinder aus Mangel an Unterbringungsmöglichkeiten nach Hause geschickt —• was diese Verwahrlosten so ihr Daheim nennen. Sie bergen sich seit der Katastrophe in den Kellern, Ruinen und Winkeln ihrer ehemaligen Behausungen, andere wohnen wie Tiere in Erdhöhlen oder Klüften. Der gute Mann, der im halbzerstörten Kloster lebt und sich ihrer annimmt, hat sie zu überreden versucht, sich zu waschen, die Kleider in Ordnung zu halten und die Haare zu schneiden. Jetzt kehren sie an jedem Morgen mit all ihren widerlichen Unsauberkeiten zurück, die ihnen die bitterste Not und Vereinsamung auferlegt hat. Fast alle sind mit Ungeziefer behaftet, viele leiden unter Krätze, haben wunde, eiternde Köpfe. Die Kleineren und Schwächeren sind zu Gerippen abgemagert. Wenn Pestalozzi in diese gelblichen, ausgemergelten Gesichter der Acht- und Zehnjährigen blickt, aus denen instinkthaftes Mißtrauen, Urangst und nie endende Sorge starren, meint er nicht mehr in Antlitze von Kindern, sondern in die von hinfälligen Greisen zu schauen. Alle dumpfen, aus ferner Urzeit stammenden Eigenschaften des Menschengeschlechts scheinen in diesen so hart geschlagenen Wesen wiedererwacht. Sie leben wie ein Rudel von Wölfen untereinander: Gewalt, List und Lüge entscheiden, alles dreht sich um Hunger und Essen, alles ist Kampf um den warmen, satten Platz am Feuer. Das Elend hat den göttlichen Funken fast ausgelöscht, die Seele kümmert halberstickt unter der Asche unsäglicher Not. Da fühlt Johann Heinrich Pestalozzi zum ersten Male deutlich, 11
daß die reine Natur — wie sie sein großes Vorbild Rousseau als Ursprung alles Guten verehrt — ein hartes, fühlloses und grausames Etwas sein kann, das den Menschen nicht mit Gewißheit zum naiven, reinen und edlen Geschöpf macht, sondern das ihn auch oft herabdrückt, zu Boden tritt und verkümmern läßt. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein" — an dieses Wort der Heiligen Schrift wird Pestalozzi erinnert: So wichtig es sein mag, die Kinder ausreichend zu nähren und zu kleiden, so darf sich die Menschenbildung nicht damit genug sein lassen. Den Menschen formt erst die Liebe des Menschen, die Seele wächst erst am Ideal, der Geist bildet sich am Geiste. Hat er es nicht selbst erfahren, als er unter der gemeinsamen Obhut einer liebenden Mutter und einer guten Magd Babeli noch der kleine „Heiri Wunderli" war? Liebe allein ist die Atemluft, in der ein junges Menschenwesen seine schöneren, edleren und größeren Eigenschaften zu entfalten vermag. Am besten ist die Sicherheit des Elternhauses und die leitende Hand einer guten Mutter und eines trefflichen Vaters. „Jede gute Menschenerziehung fordert, daß das Mutterauge in der Wohnstube täglich und stündlich jede Veränderung des Seelenzustandes ihres Kindes mit Sicherheit von seiner Stirn, in seinem Auge und von seinem Munde lese. Sie fordert wesentlich, daß die Kraft des Erziehers reine und durch das Dasein des ganzen Umfangs der häuslichen Verhältnisse allgemein belebte Vaterkraft s e i . . . " Mutter, Vater, Elternhaus! „Wer von dieser Ordnung der Natur abgeht und sie durch Standes-, Berufs-, Herrschafts- oder Dienstbarkeitsbildung unnatürlich verdrängt, der lenkt die Menschheit ab." Pestalozzi hat weder Geld noch staatliche Hilfe, er vermag den Waisen die verlorene Familie, die Mutter, nicht wiederzugeben. Aber er hat die lebendige Kraft seines liebenden Vaterherzens, den Kindern Heim, Eltern und Sicherheit zu ersetzen, soweit sie überhaupt zu ersetzen sind. Er weiß, daß er Freund und Kamerad seiner Schützlinge sein muß, daß er sie langsam, mit ganz einfachen Mitteln, in schlichter Sprache und durch ständiges Vorleben emporheben und zu den höheren Dingen des Daseins führen kann. Abends kritzelt er todmüde in sein Tagebuch .. . „Jede Hilfe, jede Händbietung in der Not, jede Lehre, die sie erhalten, geht unmittelbar von mir aus. Meine Hand ruht in ihrer Hand, mein Auge ruht in ihrem Auge. Meine Tränen fließen mit 12
*
den ihren und mein Lächeln begleitet das ihre. Sie sind außer der Welt, außer Stans; sie sind bei mir und ich bin bei ihnen. Ihre Suppe ist die meine, ihr Trank ist der meine. Ich habe nichts, keine Haushaltung, keine Dienstboten, keine Freunde — ich habe nur sie. Sind sie gesund, so stehe ich in ihrer Mitte, sind sie krank, so bin ich an ihrer Seite. Ich schlafe in ihrer Mitte, ich bin am Abend der letzte, der zu Bett geht, am Morgen der erste, der sich erhebt. Ich bete und lehre sie noch im Bett, bis wir einschlafen: sie selber wollen es so . . ." Der Tag ist Arbeit und Gemeinsamkeit. Da die Kinder in ihren verschiedenen Altersstufen fast alle Analphabeten sind, nimmt der Unterricht große Teile der Tageseinteilung ein, doch ist es nicht möglich, sie alle zu eiiier Gruppe zusammenzufassen. So zieht Pestalozzi einige der begabteren, älteren und anstelligeren Mädchen und Knaben heraus und läßt sie seine Hilfskräfte sein. Kinder lehren Kinder. Er leitet sie an zu basteln, sich zu betätigen und spielend zu lernen; größere Kinder hören kleinere ab, wiederholen Erklärungen, die sie eben selber aus dem Munde ihres großen Freundes vernommen haben. Das Gesumme eifriger Schüler füllt die halbwegs wiederhergestellte Halle des Klosters. Um die Kohlenpfanncn — denn es wird empfindlich kalt und letzthin ist schon Schnee gefallen — kauern Gruppen emsig kritzelnder, murmelnder und sich betätigender Kinder. Die Köpfe glühen, die Freude strahlt aus den Augen. Überall lenkt Pestalozzi mit heiligem Eifer den Gang des Tages. Seine Absicht ist die gleiche wie in Neuhof, „Arbeiten und Lernen zu verbinden". Darum hat er sich bei den Bauern Material für Webstühle, Wolle und allerhand Werkzeug erbettelt, um das Praktische mit der theoretischen Lehre zu vereinen. Nicht nur die Kinder von Stans lernen. Auch ihr Lehrer lernt, er lernt an ihnen. Es ist ihm klar geworden, daß der künftige Unterricht auf der Erkenntnis aufgebaut werden muß, daß die Anschauung, die Erfahrung der Dinge, der Bildung von Begriffen und Lehrsätzen vorausgehen muß, daß jeder Unterricht ohne Bildhaftigkeit und Anschauung nichts ist als leeres Wortgeklingel.
* Es ist ein Winterabend in Stans. Die Kinder schlafen, Pestalozzi hat heute das Bedürfnis, sich das Herz an der frischen Winterluft zu weiten. Deshalb wandert er durch den Schnee auf die Höhe zu der kahlen, beschneiten Buchengruppe. 18
Schon steigt die Nacht über dem Vierwaldstätter See herauf. Der Bogen der funkelnden Sterne spannt sich über die schwarzen Wasser, vom Ufer beiVitznau und Hersau drüben blinken rote Lichter. Stille liegt auf dem verschneiten Land, nur der Schnee knirscht unter den Schritten des einsamen Wanderers. In solch stillen Stunden, die so selten sind, erschließen sich Pestalozzi die Formulierungen für Erkenntnisse, die er lange schon dunkel gefühlt hat. Was ist das Ziel aller Volksbildung? fragt er sich. Und die Antwort fällt ihm nun spielend zu. „Allgemeine Emporbildung der inneren Kräfte der Menschennatur zu reiner Menschenweisheit ist allgemeiner Zweck der Bildung auch der niedrigsten Menschen. Übung und Anwendung und Gebrauch seiner Kraft und seiner Weisheit ist Berufs- und Standesbildung. Diese muß immer dem allgemeinen Zweck der Menschenbildung untergeordnet sein." Seine Gedanken beschäftigen sich mit dem, was sein Erziehungsroman „Lienhard und Gertrud" zu lehren versucht hat: wie aus dem harmonischen Zusammenwirken von Familie, Kirche, Schule und Staat eine veredelte Volksbildung hervorgeht. Dieses Buch war wirklich „ein erstes Wort an die Herzen der Armen und Verlassenen im Lande und an das Herz derer, die für die Armen und Verlassenen verantwortlich sind vor Gott". 1792, als Pestalozzi eine Deutschlandreise unternahm, hat er die großen Männer da draußen kennengelernt, die als Dichter und Menschenbildner im Lande wirken: Klopstock, Wieland, Herder und Jacobi, im folgenden Jahre ist er dem Philosophen Fichte begegnet. Auch von diesen Geistern hat er hinzugelernt. Eben jetzt, da er sich mit seiner Lebensaufgabe in der praktischen Arbeit auseinandersetzt, sie überprüft und mißt, kommt ihm ein Wort Goethes in den Sinn: „Wir könnten erwachsene Kinder gebären, Wenn nur die Eltern selber erzogen wären." Aber Kinder werden ja selber wieder die Eltern der kommenden Generation. Was also wäre wichtiger, als eine Wissenschaft der Pädagogik, eine Lehre der Seelenkunde, eine Methodik des Unterrichtens, eine große, volkstümliche Auseinandersetzung über Bildungsfragen, um endlich erzogene Mütter und damit eine bessere Menschheit für die Zukunft zu erziehen! Pestalozzis schwärmerisches Auge fliegt über die dunklen Bergschatten, dort wo der Uri-Rotstock sich unter den Gestirnen aufrichtet: nach Südosten. Weit im Lande Ägypten zieht ein Eroberer 14
Burgdorf zur Zeit Pestalozzis seine Bahn: Napoleon Bonaparte. Er erschüttert den Erdkreis durch seine Taten. Aber — so denkt der einsame Pestalozzi — sind es denn wirklich Schlachten, Kriege und Revolutionen, die die Welt verändern? Gewiß, unter dem Anprall der Heere mögen sich die Grenzen und Machtverhältnisse verschieben, aber der Mensch bleibt sich im Grunde gleich, weil die Großen sich nicht die Mühe geben, an der Wurzel zu beginnen, bei der allgemeinen E r z i e h u n g der Menschen? Nein, nicht Krieg, Umsturz, Machtentfaltung führen die Zukunft herauf, sondern die stille Arbeit am Einzelnen, die langsame Veredlung der Völker durch die Bildung. Diese Aufgabe will im Schatten Napoleons der kleine, arme Schulmeister Johann Heinrich Pestalozzi in Angriff nehmen.
* Bis zum Juni des Jahres 1799 ist Pestalozzi der Vater der Waisen von Stans. Seine Aufopferung ist so weit gegangen, daß er gesundheitlich am Ende steht und mehrmals vor Erschöpfung zusammenbricht. 15
Dann kehren die Franzosen zurück. Ein Oberst mit seinem Stab reitet im zerstörten Stans ein- Das Ursulinenkloster mit seinen noch brauchbaren Hallen und Zellen erscheint ihm geeignet für ein Militärlazarett. Irgendein,Sergeant klebt das Beschlagnahmeprotokoll an die Tür des Waisenhauses. Vergeblich verhandelt Pestalozzi, um sein eben begonnenes Werk zu retten, mit dem Offizier. Der Oberst zuckt bedauernd mit den Schultern, C'est la guerre!, die Notwendigkeiten des Krieges gehen vor. Die Zivilisten werden gewiß schon Unterkunft finden. Pestalozzi verweist auf den Ehrenbürgerbrief der Republik, auf die Anweisungen der Schweizer Regierung. Umsonst, die Truppe braucht ein Lazarett! So wird das Waisenhaus aufgelöst. Die Kinder suchen bei Bauern eine Zuflucht, manche wandern auf die Landstraße. Ins Tiefste getroffen, verläßt der Waisenvater von Stans seine kleinen Freunde und die liebgewordene Stätte.
G r ü n d e r der neuen V o l k s s c h u l e Johann Heinrich Pestalozzi sucht einen neuen Platz, an dem er wirken könnte; „er konnte nicht leben ohne sein Werk". Er will nichts anderes mehr sein als Menschenbildner; die Frage der rechten Erziehung läßt ihn trotz aller Enttäuschungen und Schwierigkeiten nicht mehr los. Stans war für ihn eine schmerzliche, doch wertvolle Erfahrung. Er hat viel nachgedacht über die rechte Methode des Unterrichts, über die beste Art, Kenntnisse an Kinder zu vermitteln, denen zunächst alles fremd ist, was an sie herangetragen wird. So braucht er eine Gelegenheit, mit seinen Erfahrungen ins reine zu kommen und in der Praxis seine pädagogischen Ideen weiter zu klären. Diese Möglichkeit findet er in der Schule eines Schusters zu Burgdorf. Er tritt diesem „Institut" als Unterlehrer bei. Das Schulwesen der Zeit ist ohne jede Ordnung. Vornehme und reiche Leute lassen ihre Sprößlinge durch Hauslehrer unterweisen und setzen sie nicht der Gefahr aus, mit dem „gewöhnlichen Volke" allzu nahe in Berührung zu kommen. Es ist schon viel, wenn eine wohlhabende Familie darin einwilligt, daß ihre Kinder mit ein paar Nachbarskindern in den elementaren Kenntnissen unterwiesen werden. Aber immer bleibt diese Unterweisung dürftig und unzulänglich. Selbst Goethe hat es nicht anders erfahren: „Privatstunden, 16
welche sich nach und nach vermehrten, teilte ich mit den Nachbarskindern; dieser gemeinsame Unterricht förderte mich nicht, die Lehrer gingen ihren Schlendrian, und die Unarten, ja manchmal die Bösartigkeiten meiner Gesellen brachten Unruh, Verdruß und Störung in die kärglichen Lehrstunden . . ." Wenn schon der Sohn des kaiserlichen Rates Goethe über schlechten Elementarunterricht zu klagen hat, was soll das einfache Volk, was sollen die Bauern, Handwerker, Scharwerker und Taglöhner von einer „Schule" halten, in der sich oft mehr als hundert Kinder in einem muffigen Zimmer um einen ungebildeten „Lehrer" drängen müssen? Auf dem Lande wird meist in den Wohnstuben der Schullehrer unterrichtet. Da sich aber zu solch undankbarer und schlecht bezahlter Arbeit oft nur gescheiterte Existenzen, Austrägler, versumpfte Studenten, Meßmer oder wenig gefragte Handwerker hergeben, so sehen diese Wohnstuben entsprechend aus. In dieser Zeit klagt ein Schulinspektor dem Oberschulkommissariat: „Zu Kirchdorf sah ich in einem sehr engen Wohnzimmer des Schullehrers, das kaum 20 Kinder faßt, eine Kindswiege, einen Sudkessel und elf Schulkinder beisammen, kein normales Schulbuch, keine Schreibtafel, keine Schultabelle, sondern allerlei alte Scharteken und Legenden waren vorhanden . . ." Ln Burgdorf ist es der trunksüchtige Schuster, der das Amt des Schullehrers verwaltet. In seinem feuchten und dumpfigen Hause findet die Unterweisung der Kinder statt. Es sind etwa 60 Knaben und Mädchen von 8—15 Jahren, und der Unterricht dauert von 8—11 und von 2—4 Uhr. Aber die Unterrichtszeiten stellen auf dem Papier: Manche Kinder kommen erst gegen 10 Uhr, andere bleiben nachmittags fort, weil sie den Eltern auf den Feldern oder beim Holzsammeln helfen müssen. Auch der schusternde Lehrer oder lehrende Schuster nimmt es mit seinem Stundenplan nicht allzu genau. Gleich um die Ecke ist der Adlerwirt, und das viele Reden und Brüllen in der Stube macht Durst. Da heißt es dann: „Ramsauer! Tritt vor und führe die Aufsicht! Hier hast du die Rute, schlage sie über die Grindköpfe, so sie nicht still und fleißig sind. Ich komm' gleich wieder." Und während der Schuljunge Ramsauer, ein Musterknabe von 14 Jahren, vor der Kinderschar steht, um recht und schlecht die Aufsicht zu führen, hat sich der durstige Schuster zum Nachbarn Wirt begeben, um an diesem Tage nicht wieder sichtbar zu werden. Aber jetzt braucht man keinen Ramsauer mehr: Seit September ist ein Hilfslehrer in der Schule: Johann Heinrich Pestalozzi. 17
Wie bestürzt ist Pestalozzi, als er diese Armut erblickt! Das Zimmer mit dem angefaulten Bretterboden, dem bröckelnden Verputz der Decke und der durchlöcherten und in Streifen herabhängenden Tapete hätte zwanzig bis dreißig Kinder zu fassen vermocht. Sechzig aber kauerten auf groben Bretterbänken und auf Strohbündeln. Gekreische und Gepolter erfüllte den Raum; die Luft schien zum Zerschneiden dick, und kein Mensch konnte ahnen, was die sinnlosen Tätigkeiten, mit denen man die Kinder beschäftigte, für einen Zweck haben sollten. Der Schuster spielte sich von Anfang an vor seinem neuen Hilfslehrer auf. Er fuhr mit dem Stock über die Köpfe, nötigte diesen und jenen, sich über den Bock zu legen und verabreichte ihm eine Tracht Prügel, und die Kinderschar quittierte die Prügelszene mit Gelächter oder mitleidigem Wehgeschrei. Einen Fünfzehnjährigen, der beim Lesen versagt hatte, zwang er, auf einem dreikantigen Holz rittlings Platz zu nehmen und eine Eselsmütze mit langen Schlappohren aufzusetzen. Dröhnend war der Jubelsturm der Mitschüler. Stolz auf seine Gewalt, thronte der Schuster dann auf dem kleinen Podest an der Stirnwand des Zimmers. „Wir haben Schiefertafeln", sagte er stolz zu Pestalozzi. „Auch Rötelstücke gibt es genug .. ." „Das weiß ich", antwortete der Hilfslehrer grimmig. „Wieso wissen Sie das?" „Man sieht es an Händen, Gesichtern und Kleidern — nein an der ganzen Stube. Schauen Sie sich nur die Wände an!" Der Schuster tat diesen Scherz mit einer großartigen Handbewegung ab. „Ihr werdet jetzt etwas Schönes zeichnen!" sagte er zu den Buben, und einem der größeren Mädchen gab er den Auftrag: „Und du, Marie, liest aus der Bibel vor!" Damit zog er Pestalozzi aus der Stube und meinte, der Neue könne zur Feier seines Einstandes eigentlich ein paar Schnäpse beim „Adler" ausgeben. Als Pestalozzi mit allem Feuer seines nach Lehre und Arbeit verlangenden Herzens den Gang zum Wirtshaus ablehnte und bat, sich gleich in die Unterrichtsarbeit stürzen zu dürfen, war seine Stellung gegenüber dem „Direktor" dieses Bildungsinstituts endgültig bezogen. Der Schuster murmelte etwas von „eingebildeter Narr" und „hochnäsiger Studierter", trollte sich zur Schenke und tat künftig alles, um Pestalozzi zu demütigen und ihm das Leben sauer zu machen. * 18
Pestalozzi aber beginnt. Er beginnt mit Liebe . . . „Sein heiliger Eifer, seine hingebende, sich selbst ganz vergessende Liebe, seine sogar in die Augen der Kinder fallende, ernste, gedrückte Lage machen einen tiefen Eindruck. . . und knüpfen manches kindliche Herz für ewig an das seine .. ." Es wird weder gelesen noch geschrieben, die Schüler besitzen weder Lesebücher, noch Griffel, noch anderes Schreibzeug, mit denen man Buchstaben zeichnen könnte. Pestalozzi erzählt aus der Naturgeschichte, spricht Sätze vor und fordert die Kinder auf, gleichzeitig zu zeichnen. Da er aber nicht sagt, w a s gezeichnet werden soll, auch keinerlei Anweisungen und Vorbilder gibt, kritzeln die einen Männlein und Häuser auf den Schiefer, die anderen machen Schnörkel und Phantasiegebilde. Ein Stück des Menscheninnern kommt da hervor, unverbildete Naturanlagen äußern sich und geben vielfache Möglichkeit, erzieherisch anzuknüpfen. Zum Rechnen fertigt Pestalozzi für je zwei Kinder kleine Papptäfelchen an, die durch Quadrate geteilt und mit einer verschiedenen Zahl von Punkten in diesen Vierecken ausgestattet sind. Diese Punkte der einzelnen Felder läßt er entweder senkrecht oder waagrecht zusammenzählen, abziehen, malnehmen oder teilen. Am klarsten entwickelt Pestalozzi seinen Anschauungsunterricht, den er mit Sprachübungen verbindet. Seine Erkenntnis, die er theoretisch bei dem Engländer John Locke gewonnen: „Nihil est in intellectu, quod non antea fuerit in sensu" (Nichts geht in den Verstand über, was man nicht vorher durch die Sinne erfaßt hat), diese Erfahrung, die ihm seine Arbeit in Stans vertieft hat: alles a n s c h a u e n zu lassen und, vom Sichtbaren, Fühlbaren und Greifbaren ausgehend, Worte und Begriffe zu lernen, führt ihn zu einer neuen Unterrichtsmethode. Es gibt nicht viel Anschauungsmaterial für die armen Kinder von Burgdorf. So müssen die Tapeten des feuchten Zimmers herhalten. Alt und zerrissen bilden sie mit dem Untergrund zusammen wirre Formen, und die Phantasie kann allerhand hineinträumen. Vor diese Tapeten stellt sich Pestalozzi mit seiner Kinderschar. „Jetzt sagt mir mal, was ihr an diesem Tapetenloch hinsichtlich seiner Form, der Zahl der Flecken, der Lage zueinander und der Farbe seht!" Zuerst staunen die Kinder. Ihr Wortschatz ist dürftig, ihre Beobachtungsgabe ungeübt. Was sollen sie antworten? Weil aber der Lehrer fragt, betrachten sie die Tapete, die sie hundertmal ge19
sehen und nicht gesehen haben, zum erstenmal b e w u ß t . Sie machen sich Gedanken, sie suchen nach Ausdruck. „Buben, was seht ihr?" fragt Pestalozzi. Der eine meint: „Ein Loch an der Wand." Der Zweite: „Einen Biß in der Tapete." Und so beginnen die Kinder zu sprechen. „Gut", ruft der Lehrer in Feuereifer, „Sprecht mir nach: ich sehe ein Loch in der Tapete. leb sehe ein langes schmales Loch in der Tapete. Hinter dem Loch sehe ich die Mauer. Hinter dem langen, schmalen Loch in der Tapete sehe ich die Mauer. Die Mauer ist schmutzig. Die Mauer ist rissig." Langsam gewöhnen sich die Schüler an die Formulierung gut gebauter Sätze, sie nehmen neue Begriffe, neue Erkenntnisse auf und mehren ihren bescheidenen Wortschatz. Pestalozzis Sprachlehre schreitet dann zu den Dingen der Schulumgebung fort, zur Natur, Erde, zu den Geschöpfen der Umwelt. Alles, was die Kinder an ihnen zu erkennen vermögen, sollen sie bestimmt ausdrücken können. Das Sichtbare und sinnliche Erfaßbare soll mit dem Seelischen wieder zum vollen Einklang kommen. Weg mit dem (sinnlosen Auswendiglernen, mit der Prügel- und Einpaukpädagogik! Aber solcher Unterricht dauert den unruhigen, an Ungebundenheit und Zuehtlosigkeit gewöhnten Kindern zu lange. Es ist nicht selten, daß Pestalozzi um 8 Uhr mit seinem Anschauungsunterricht beginnt und drei Stunden ohne Unterbrechung dabei bleibt. Der Schweiß steht ihm auf der fahlen Stirn, er ist heiser geworden, er kann sich inmitten der Unruhe und des Lärms oft kaum noch durchsetzen. Wenn es elf Uhr schlägt, bricht die Kinderschar wie ein Vulkan auf. Ohne Bücksicht auf den armen Pestalozzi rennen Buben und Mädchen auseinander, stürmen zur Schulzimmertüre hinaus und zerstreuen sich tobend auf der Straße. Hie und da geschieht es auch, daß inmitten des heißesten Schulbetriebes, wenn die einen mit schmierendem Botel nach der Phantasie Bilder zeichnen, die anderen die Punkte der Tabellen addieren und eine dritte Gruppe Sprachübungen durch Anschauung betreibt, daß dann die Tür aufgeht und der Schuster mit vom Trünke gerötetem Gesicht erscheint. „Alles Blödsinn!" knurrt er. „Alles Firlefanz! Wollt ihr wohl mit dem Unsinn aufhören, Marie lies aus der Bibel!" Und zu Pestalozzi gewandt, rühmt er die alte Methode, deren letzte Weisheit der Stock und die Strafecke sind. Beschimpft, lächerlich gemacht, steht der künftige Begründer der neuen Volksschule vor dem primitiven Manne, der ihm seine Gewalt zeigt. 20
Einige Schüler erkennen wohl den Unterschied zwischen den beiden Männern. Und sie fühlen auch, daß sie in Pestalozzi einen wahren und liebevollen Vater besitzen. Da ist zum Beispiel der vierzehnjährige Ramsauer, der echtes Mitleid empfindet und sich immer besonders still und ordentlich verhält, wenn die Horde den Ärmsten fast zur Verzweiflung bringt. Mit Ramsauer spaziert Pestalozzi oft nach dem Unterricht zur nahen Emme. Sie suchen mitsammen bunte Steine, die anderntags im Unterricht als Anschauungsmaterial verwendet werden. Pestalozzi — der in Burgdorf ganz einsam ist — spricht zu dem jugendlichen Begleiter wie zu einem Erwachsenen. Er muß einfach einer lebenden Seele die Gedanken mitteilen, die ihn in diesen Tagen bewegen. In seinem Innern ist bereits der Text eines Buches vorbereitet, in dem er seine methodischen Erfahrungen niederlegen will. Er wird es in Anklang an sein berühmtes Hauptwerk benennen und ihm den Titel „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" geben. „Du mußt wissen, Ramsauer", sagt er, „aller Unterricht des Menschen ist nichts anderes als die Kunst, dem Haschen der Natur nach ihrer eigenen Entwicklung Handbietung zu leisten . . .*' Der Junge blickt unverständig. Aber Pestalozzi ist schon ganz woanders. Er formuliert Gedanken, die zu einer Reform des Volksschulwesens führen sollen. „Ich kann mir nicht verbergen", fährt er fort, „der Schulunterricht, wie ich ihn überall ausgeübt sehe, taugt für die Allgemeinheit und für die unterste Volksklasse so viel wie gar nichts. So weit ich ihn nun kenne, kommt er mir wie ein großes Haus vor. dessen oberstes Stockwerk zwar in hoher, vollendeter Kunst strahlt, aber nur von wenigen Menschen bewohnt wird . . ." „Was ist das für ein Haus?" fragt der Knabe schüchtern. „Ich meine die - Hochschulbildung, mein Junge. Nur wenigen ist sie zugänglich." Dann setzt er seine Rede fort. „In dem mittleren Stockwerk wohnen dann schon mehrere, aber es fehlt ihnen an Treppen, auf denen sie auf eine menschliche Weise in das obere hinaufsteigen könnten, und wenn etwa einige in ihrem Notstand ein Gelüste zeigten, etwa tierisch in dieses obere Stockwerk hinaufzuklettern, so schlägt man ihnen, so man es sieht, ziemlich allgemein auf die Finger . . . " „Wieso, Herr Pestalozzi?" „Nun, mein Dummerjan, versuch es nur mal als Lateinschüler oder Bauernjunge, der keine Hochschule besucht hat, in einen höheren Beruf einzudringen! Und wärest du noch so begabt und 21
noch so tüchtig, die Herren verteidigen ihre Rechte und lassen keine Außenseiter hochkommen." Dann fährt er mit seinem Bilde fort. „Im dritten Stockwerk unten aber wohnt eine zahllose Menschenherde, die für Sonnenschein und frische Luft mit den oberen zwar gleiches Recht haben, aber sie wird nicht nur im ekelhaften Dunkel fensterloser Löcher sich selbst überlassen, sondern man macht ihnen durch Binden und Blendwerke die Augen sogar zum Hinaufgucken in dieses obere Stockwerk untauglich . . . " „Was sind das für Binden, die man dem Volk vor die Augen hängt?" „Liebe Unschuld, du hast nie etwas von Politik und dem Hokuspokus des Wunder- und Aberglaubens vernommen, in dem die oberen Stände gar wohlweislich die Masse belassen, auf daß man sie umso leichter regieren könne! Und darum sage ich, mein lieber Bub, um den Völkern wahrhaft zu helfen, muß man ihren geistigen Zustand verbessern. Das geht, aber nur durch eine erneuerte Volksschule. ,Die mechanische Form des Unterrichts muß den ewigen Gesetzen unterworfen werden, nach welchen der menschliche Geist von Anschauungen zu Begriffen vordringt.' "
* Der Ruf Pestalozzis als Menschenfreund, Schriftsteller und Lehrer ist um diese Zeit schon so groß, daß er in Burgdorf von anderen Pädagogen aufgesucht wird. Man will von ihm lernen, wie es besser zu machen sei. Das Verhältnis zu dem Schuster hat sich so sehr verschlechtert, daß es nicht länger zu tragen ist. Durch wohlhabende Gönner wird es Pestalozzi ermöglicht, in dem leerstehenden Schloß von Burgdorf selber eine Schule einzurichten. Zwar mangelt es zunächst auch hier am Nötigsten, aber es gibt auch Auftrieb. Fast alle Kinder aus der Schusterschule treten in die neue Anstalt über, aus der weiten Umgebung schicken die Eltern ihre Buben und Mädel in die Schule Pestalozzis nach Burgdorf. Die Lehrer Krüsi, Büß und Tobler treten als Hilfskräfte in den Kreis der neuen Schule. Unter den Schülern von Burgdorf ist ein gewisser Schmid, ein Knabe aus den Tirolerbergen, der von der Verkünstelung der Zeitkultur auch nicht eine Spur an sich trägt. „Er überflügelt in den Übungen der elementarsten Bildungsmittel der Geistes- und Kunstkraft bald alle seine Lehrer und wird in diesen Übungen bald selbst Lehrer derer, die ihn vor weniger Zeit als das ungebildetste Kind, das in die Anstalt je eingetreten, gekannt haben." Schmid wird ebenfalls Hilfslehrer zu Burgdorf. Sein Einfluß, be22
sonders gestärkt durch die offenbare Vorliebe, die Pestalozzi für ihn von Anfang an faßt, übertrifft den jedes anderen Lehrers. Dem Kollegium gehört auch der junge Johannes Niederer an, ein Mensch von schwärmerischen Ideen, die sich meist in einer weltfernen Leere bewegen. Ihn haben die neuen Gedanken Frankreichs - das, was der Ehrenbürger der Revolution, Pestalozzi, den „Freiheitsschwindel" nennt — ergriffen und er wünscht diese Ideen in den Unterricht und in die Erziehungsarbeit hereinzutragen. Niederer fordert politischen Unterricht, er will die Herzen der Kinder mit Parteigedanken füllen und ihnen die Zwangsform seines eigenen Bildes aufpressen. Pestalozzi und auch der junge Schmid, der sich mehr und mehr aus der Enge des ungebildeten Tiroler Bauernkindes zur selbständigen Persönlichkeit entwickelt hat, denken jedoch an die allgemeine Emporbildung der Kinder, ehe sie nach dem Schema bestimmter Tagesmeinungen geformt werden sollen. Darüber entstehen Zank und Streit. Niederer ist oft sehr herrisch, es mangeln ihm Zartgefühl und Takt gegenüber den älteren Mitgliedern des Kollegiums. Mit Schmid ist er verfeindet; denn er kann sich nicht entschließen, die sichtbare Veränderung anzuerkennen, die der Schüler von einst unter der Hand Pestalozzis zum Lehrer von heute durchgemacht hat. Inzwischen ist das neue Buch Pestalozzis erschienen: „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt". Er hat darin seine Ideen über die neue Volksund Schulbildung mit ergreifender Begeisterung niedergelegt. Die gebildete Welt liest das Werk mit Aufmerksamkeit, der Ruhm, des Verfassers zieht immer weitere Kreise. Pestalozzi wird von zwei Distrikten zum Mitglied der Abordnung gewählt, die nach Paris befohlen ist, um dem Ersten Konsul Napoleon Bonaparte darüber zu berichten, was der „Helvetischen Republik" nottue. Napoleon residiert zusammen mit den übrigen Regierungsmitgliedern im Palais Luxembourg. Frankreich ist arm geworden und wird von der herben Einfachheit der Republik beherrscht. Wenn der Erste Konsul ausfährt, so nimmt er wie jeder gewöhnlich Sterbliche eine Mietkutsche, sein Anzug ist so ärmlich, daß ein Antragsteller ihn für einen Diener hält. Dieser Mann des Schicksals ist aus dem ägyptischen Abenteuer wiedergekehrt wie ein feuriger Komet. Hat er nicht einst in sein Tagebuch geschrieben: „Genies sind Meteore, die sich selber verbrennen müssen, um ihr Jahrhundert zu erleuchten"! Der heimgekehrte General hat den Staatsstreich des 18. Brumaire unternommen, ist Diktator geworden, hat in den kurzen Jahren, in denen Pestalozzi in Burgdorf die neue Methode 23
des ABC entwickelte, Österreich geschlagen und England zum Frieden gezwungen. Das Konkordat mit Rom ist geschlossen, und endlich herrscht wieder Friede mit der Kirche. Die vernichtenden Lavafluten der Revolution sind gebändigt worden, die großen Gedanken der Freiheit und Gleichheit haben ihren Niederschlag in der Großtat des. „Codex" —• einem ersten „Bürgerlichen Gesetzbuch" — gefunden. Jetzt strebt der Erste Konsul auf die Kaiserwürde zu, ein neuer — angeblich letzter — Krieg mit England steht vor der Tür. Napoleon empfängt die Schweizer Abordnung zwischen zwei weltbewegenden Konferenzen, in denen um das künftige Schicksal von Millionen gehandelt wird. Während der Mameluck Roustam ein Hühnchen zerlegt, das der schmale, blasse Konsul in großen Bissen herunterschlingt, hört er mit halbem Ohr die Beschwerden und Pläne der Vertreter eines winzigen, im großen Schachspiel Europas ziemlich gleichgültigen Ländchens an. „Und Sie, Bürger?" fährt er plötzlich auf den bescheiden dastehenden Pestalozzi los, „was haben S i e mir zu sagen?" Da beginnt der Vater der Waisen, der Lehrer des armen Volkes, von seinen Ideen zu sprechen, wie die Erneuerung und Besserung der Menschheit bei den Kindern begonnen, wie die Hebung der Bildung und der Sitten in der Volksschule versucht und vor allem eine neue Schule geschaffen werden müsse, die unter Berücksichtigung der psychologischen Erkenntnisse vom Leichten zum Schweren, von der Anschauung zum Denken, vom Lernen zum Tun führen solle. Der „Bürger Erster Konsul" — von dem eben damals ein Bewunderer zu Recht geschrieben hat, ,er beginne alles zu gleicher Zeit und entwickele mit gleicher Schnelligkeit Gesetzgebung, Verwaltung, Finanzen, Handel, Verkehr, Armee, Flotte, Landwirtschaft, Industrie, Wissenschaft und Kunst, alles wie durch Zauberei. . . ' — dieser sehr selbstherrliche, in seine Pläne erhgesponnene Mann schießt nur einen einzigen seiner Zeusblicke auf den Schulmeister, diesen bleichen, verlegenen und ärmlich aussehenden, alten Mann. „Bürger", sagt er, „ich bin dabei, Europa zu ordnen. Es ist nicht meine Absicht, mich ins ABC zu mengen. Die Geschichte erwartet anderes von mir." Auch große Männer bleiben Menschen, die dem Irrtum unterworfen sind. Der Weiterschütterer mit dem Flammenschwert geht ohne Verständnis an dem brennenden Herzen eines Zeitgenossen vorüber, der in der Folge und durch seine Gedanken die Zukunft kaum weniger beeinflussen wird als er selber. 24
Pestalozzi inmitten der Kinder
Ohne Erfolg kehrt Pestalozzi nach Burgdorf zurück. Aber es ist immer so: Pestalozzi erringt Erfolge auf dem Gebiet der Theorie und erleidet gleichzeitig Niederlagen in der Praxis. Das stürmische, flammende Herz bewältigt die Kleinigkeiten des Lebens nicht, es scheitert immer neu an den Widrigkeiten, die mit der Führung geordneter Geschäftsbücher, mit Kassenführung und Organisation verbunden sind. Wie zu Neuhof so erweist sich Pestalozzi nun auch in Burgdorf und dann in Münchenbuchsee, wohin die Anstalt seit 1804 verlegt ist, als ungeeignet zur Leitung eines großen Unternehmens. Die Spannungen im Kollegium nehmen zu, und eines Tages zwingt man Pestalozzi, die Führung der Schule an Emanuel von Fellenberg auf Hofwyl abzugeben. Freilich soll dieser angesehene und fest auf den Beinen stehende Mann nur die wirtschaftliche Leitung haben, Pestalozzis Stellung als pädagogischer Direktor wird nicht angetastet. Doch ist der Gründer der Anstalt, der geistige Urheber der neuen Schule, zu tief gekränkt, als daß er einen Tag länger bliebe.
Er verläßt die Stätte seines Wirkens und siedelt nach Ifferten am Neuenburger See um.
* Erzieher der M.ensJirieit Ein neues Institut entsteht, dem bald die alten Lehrer aus Münchenbuchsee — aber auch die Spannungen und Probleme des Kollegiums folgen. Jetzt fließen auch öffentliche und private Zuschüsse, so daß eine größere und besser ausgestattete Schule aufgebaut werden kann. An die eigentliche Volksschule wird eine Anstalt zur Ausbildung von Lehrern angeschlossen. Mit altem Feuereifer wirft sich der ewig jugendliche Geist Pestalozzis auf die neue Aufgabe. Aber — so gut und klug manche seiner Gedanken, wie jener der allgemeinen Volksbildung, der Entwicklung des Denkens aus der Anschauung, ja die psychologische Grundlegung der Unterrichts- und Erziehungsarbeit überhaupt, sind — so versteht er in seinem Enthusiasmus doch nie Maß zu halten. Vieles bleibt in Schwarmgeisterei stecken. Hervorragend sind die Leistungen des Instituts vor allem in den von Joseph Schmid, dem ehemaligen Tirolerjungen, geleiteten Fächern: Rechnen und Sprachunterricht. Hier wird zum erstenmal eine anschauliche, vom Leichten zum Schweren fortschreitende Methode entwickelt, die jede Lehre über drei Stufen einprägt: Anschauen, Denken und Anwenden. Der Ruhm der Schule von Ifferten strahlt immer heller, die Anstalt muß erweitert werden. Lehrer aus dem Pestalozzi-Institut gehen nach Neapel, Madrid, Paris und Petersburg. Aus ganz Europa, ja selbst aus Amerika strömen Schüler nach Ifferten. König Friedrich Wilhelm III. von Preußen, Kaiser Alexander I. von Rußland, Freiherr vom Ste|n und Alexander von Humboldt zeichnen Pestalozzi durch Handschreiben und Gnadenerweise aus; der Philosoph Fichte erklärt, in den Bestrebungen Pestalozzis liege der wahre Anfang einer möglichen Erneuerung der Menschheit. Die Aufmerksamkeit großer Männer der Zeit: Goethes, Herbarts, Karl von Raumers und Karl Ritters, der Pädagogen Fröbel, Harnisch und Zeller wendet sich dem Unternehmen Pestalozzis zu. Regierungen deutscher und anderer Staaten entsenden Studienkommissionen nach Ifferten, um für die Einrichtung ihres Volksschulwesens Erfahrungen zu gewinnen. Karl Ritter, der große deutsche Geograph, schreibt im Oktober 1810, als er von einem Besuche Pestalozzis zurückgekehrt ist: 26
„Mein heißer Wunsch, den Dulder und Kämpfer für die Wahrheit und Liebe zu sehen, mich an der lebendigen Quelle seines Lebens zu erquicken, ist mir gewährt und noch mehr: denn ich habe seine Liebe gewonnen und kehre nun reicher im Herzen in das kalte Leben zurück. Ich muß dir, edler Menschenfreund, für diese Gabe danken; aussprechen kann ich es nicht, da ich gerührt bis an das Innerste meiner Seele neben Dir ging und erfüllt war von dem hohen Sinne, der zu zart war, um in ein zerbrechliches Tongefäß zum Betasten durch die Menge gefaßt zu werden . . ." Ja — zu zart, zu geistig und zu gedankenreich ist die Welt Pestalozzis. Er glaubt an den Menschen, er liebt, ohne zu fragen, und er scheitert immer neu an der Wirklichkeit. Ehe er es sich versieht, verändert sich sein Werk unter den Händen der Mitarbeiter. Der Ruhm hat eine Schattenseite: nun drängen sich mehr und mehr die Söhne vornehmer Familien nach Ifferten, sie bezahlen hohe Pensionen, sie besuchen das Institut, um des Rufes willen, bei Pestalozzi in die Elementarschule gegangen zu sein. Die zum Wohle der Armen gegründete Anstalt, das Vorbild aller kommenden Volksschulen, verwandelt sich langsam in eine Erziehungsanstalt der höheren Stände, und die eigentliche Absicht, den Niederen zu helfen, bleibt wenigstens zu Ifferten unerfüllt. Dazu kommen die alten Mängel: Pestalozzis Unfähigkeit, eine große Schule wirtschaftlich korrekt zu führen, seine Gleichgültigkeit gegenüber Organisation und Ordnung im Hause, die schwebenden und sich mehrenden Spannungen im Lehrerkollegium. Allmählich dringen die weniger erfreulichen Erscheinungen an die Öffentlichkeit, in Schweizerischen Zeitungen werden Vorwürfe erhoben. Pestalozzi sieht sich 1809 genötigt, an die schweizerische „Tagsatzung" den Antrag auf öffentliche Überprüfung seiner Schule zu stellen. Der Landamann setzt eine Kommission unter Leitung des Freiburger Ordensgeistlichen Girard ein, der selber viel für die Volksschulen gearbeitet und geleistet hat. Die Ideen Pestalozzis über die allgemeine Volksbildung begeistern ihn, auch seine Lehrmethoden anerkennt er — über die äußeren Mängel seiner Persönlichkeit und seiner Anstalt geht er mit versöhnlichen Worten hinweg. In seinem Bericht an die „Helvetische Regierung" steht zu lesen: „Schade, daß die Gewalt der Umstände Herrn Pestalozzi immer über die bescheidene Laufbahn hinaustrieb, die ihm sein reiner Eifer und seine innige Liebe vorgezeichnet hatten. Zollen wir der edlen Absicht, der großen Anstrengung, der unerschütterlichen Beharrlichkeit gerechte Anerkennung; nutzen wir diese heilsamen Ideen, folgen wir dem guten Beispiel, das man uns gegeben, und 27
beklagen wir das Verhängnis eines Mannes, der durch die Gewalt der Umstände immer daran verhindert wird, gerade das zu tun, was er eigentlich will." Die Schule bleibt bestehen, und noch genießt Pestalozzi für ein paar geschenkte Jahrje den europäischen Ruhm eines Vaters der neuen Volksschule. Seine treue, opferwillige und stille Gattin darf diese Zeit noch miterleben. Als sie 1815 dem Neunundsechzigjährigen in die Ewigkeit vorausgeht, weiß Pestalozzi, daß ihn sein guter Engel verlassen hat. Und er fühlt, daß der bittere Bodensatz im Kelch des Daseins nun getrunken werden muß.
* Die Streitigkeiten innerhalb der Lehrerschaft mehren sich, werden erbitterter, und der alte Mann vermag sie nicht mehr zu zügeln. Die beiden Rivalen Schmid und Niederer bekämpfen sich aufs äußerste. Schließlich scheidet Niederer aus und gründet eine Konkurrenzanstalt, die den Wettlauf mit der Schule Pestalozzis aufnimmt. Vorwürfe gehen hin und her, man greift den alten Lehrmeister in Zeitungen und Flugblättern an, Niederer ist rücksichtslos in seinem unbegreiflichen Haß. Langsam schwindet die Kraft Pestalozzis. Er, der immer und alle geliebt, der sein eigenes Leben für andere aufgeopfert hat, der sich der Ärmsten erbarmte und die Augen der Welt auf die geistige und seelische Betreuung des niederen Volkes gelenkt hat,will nicht um Vorrang, um Rechthaben und Ruhmkämpfen. Am 1. Februar 1823 schreibt er an Niederer: „In Gefolg meiner gestrigen Unterredung wiederhole ich hiemit schriftlich, daß ich Herrn und Frau Niederer um Gottes und seines heiligen Erbarmens willen bitte, mich endlich von der Marter zu erlösen, die ich nun bald sechs Jahre auf der Folter des im höchsten Grade sündhaften und — ich sage es geradeheraus — seelenmörderisch, mit unchristlicher Verstocktheit geführten Verfolgungskrieges leide, der nun so lange zwischen unseren beiden, sich christlich nennenden Häusern stattfindet . . . Lieber Herr Niederer! Liebe Frau Niederer! Ich bin dem Grabe nahe. Laßt mich in Ruhe und im Frieden in dasselbe hinabsinken, ach, ich hätte noch einiges auf dieser Erde zu tun: helfet mir dazu, daß ich es ungestört und ungekränkt tun könne und nicht ferner auf der Folter eines unwürdigen Prozesses liegen muß. Ich verspreche euch die Handbietung, deren ich für meine Lebenszwecke bedarf, bis an mein Grab mit Dank und Liebe zu erwidern . . ," 28
Pestalozzi-Schule in Birr und erste Grabstätte Aber Niederer gibt nicht nach. Er will den Triumph, nicht die Versöhnung. Pestalozzis Institut geht langsam nieder. Als achtzigjähriger, lebensüberdrüssiger Greis, löst der Meister seine geliebte Musterschule Ifferten auf und zieht sich zu einem Enkel auf den ihm verbliebenen Rest des „Neuhofs" zurück. „Wahrlich", schreibt er in seinen „Lebensschicksalen", „es war mir, als mache ich mit diesem Rücktritt meinem Leben ein Ende; so wehe tat mir das! Mein Leben war unter diesen Umständen kein Leben mehr." * H e i m k e h r in eine bessere
Welt
Auf Neuhof sind dem alten Menschenfreunde noch zwei Jahre beschieden. Er schreibt seine „Lebensschicksale", seine Erfahrungen als Leiter der Schulen von Burgdorf und Ifferten nieder und faßt seine pädagogischen Ideen jn einer Broschüre, die er „Schwanengesang" nennt, zusammen. Da ihm sein Freund Schmid einen günstigen Vertrag mit dem bekannten Goethe-Verleger Cotta vermittelt, der Pestalozzis „Gesammelte Werke" herausgeben will, erwacht noch einmal sein jugendliches Feuer. Die Vorausbestellungen lassen auf eine Einnahme von 50 000 Livres hoffen. Der alte Lehrer vermacht sie einer pädagogischen Stiftung. Aus dem Betrag soll eine Armenanstalt zu Clindy, nahe bei Ifferten, gegründet werden. Doch der Haß Niederers ruht nicht. 29
Auf Veranlassung des Ehepaars Niederer schreibt ein gewisser Biber eine gemeine Schmähschrift gegen Pestalozzi. Sie wird ihm anonym ins Haus geschickt. Die Aufregung wirft Pestalozzi aufs Krankenlager. Dort schreibt er mit zittriger Hand seine letzten Zeilen .. . „ 0 , ich leide unaussprechlich! Kein Mensch vermöchte zu fassen den Schmerz meiner Seele. Man verschmäht und beschimpft den alten, schwachen, gebrechlichen Mann und sieht ihn jetzt nur noch als ein unbrauchbares Werkzeug an. Dies tut mir nicht um meinetwillen weh; daß man auch meine Id'eale schmäht, verachtet und unter die Füße tritt, was mir heilig ist und worum ich während eines langen kummervollen Lebens gerungen habe. Sterben ist nichts, ich sterbe gern, denn ich bin müde und möchte endlich Ruhe haben. Aber gelebt zu haben, alles geopfert zu haben und n i c h t s erreicht zu haben und alles zertrümmert zu sehen und so mit seinem Werk ins Grab sinken — o, das ist schrecklich und ich kann es nicht aussprechen und ich wollte gerne noch weinen, aber es kommen keine Tränen mehr. Doch ich vergebe meinen Feinden. Mögen sie den Frieden finden, da ich zum ewigen Frieden eingehe . . ." Am 17. Februar 1827 erlischt die Flamme, die niemals anders als mit dem reinsten Lichte der Menschenliebe geleuchtet hatte. Verehrer und Freunde bestatten den großen Lehrmeister neben dem Schulhause zu Birr. Sein Grabstein trägt folgende Inschrift: Hier ruht HEINRICH PESTALOZZI geboren in Zürich am 12. Jänner 1746 gestorben in Brugg am 17. Hornung 1827 Retter der Armen auf Neuhof Prediger des Volkes in „Lienhard und Gertrud" Zu Stans Vater der Waisen, Zu Burgdorf und Münchenbuchsee Gründer der neuen Volksschule, Zu Ifferten Erzieher der Menschheit. MENSCH • CHRIST • BÜRGER ALLES FÜR ANDERE, FÜR SICH NICHTS. SEGEN SEINEM NAMEN!
* Pestalozzi hatte sich getäuscht, als er in seinen letzten, bitteren Tagen meinte, sein Werk werde mit ihm ins Grab sinken. Vielmehr erfüllte sich sein Wort, das er in kraftvolleren Tagen, auf der Höhe 30
seines europäischen Ruhmes, zu Ifferten einmal geschrieben hatte: „Ich habe den europäischen Schulwagen umgekehrt und in ein anderes Gleis gebracht." Das Werk wuchs; sein in Liebe und Opfersinn verströmtes Leben war nicht umsonst gewesen. Alle Staaten —i protestantische wie katholische — wurden von der neuen, pädagogischen Bewegung erfaßt. Wie der feurige Stern Napoleons von allen Schlachten und Siegen zuletzt nur die Ideen, die neue Menschenfreiheit, leuchten ließ, und wie von allen blutigen und rauchgeschwärzten Spuren des Korsen zuletzt doch nur das friedliche, gleichsam nebenbei geschaffene Werk seines „Bürgerlichen Gesetzbuches" — der Code Napoleon — übriggeblieben war, so erwies sich auch an Pestalozzi, daß Ideen zäher weiterleben als alle äußeren Erfolge oder Mißerfolge eines Menschenlebens. Der milde, stille Stern des Mannes von Stans, Burgdorf und Ifferten gewann von Jahr zu Jahr an Fülle des Lichtes, bis sein Geleucht endlich den letzten Winkel des Abendlandes erfüllte. „Mit und durch Pestalozzi beginnt eine neue Epoche der Pädagogik. Er hat durch seine heiße und unter allen Umständen sich gleichbleibende Menschenliebe, seinen Feuereifer und sein rastloses Wirken für Menschenveredelung und Volksbildung dem Schul- und Erziehungswesen neues Leben eingehaucht; mit seiner Begeisterung tausend und tausend Herzen entzündet, gewonnen in allen Schichten der Gesellschaft vom Königsthrone bis zur Hütte und Werkstätte herab . . . " — so schreibt sein Biograph Heinrich Morf. Ein anderer Schriftsteller, der sich mit der Wirkung Pestalozzis auseinandersetzt, durfte zu Recht sagen: „Pestalozzis Größe liegt in der Erkenntnis des engen Zusammenhangs der sozialen Frage mit der Frage der wahren Menschenbildung, — in der Idee, die gesunkene Menschheit vom Verderben zu erretten, durch Weckung und Stärkung ihrer besten menschlichen Kräfte, ihr zu helfen durch Erziehung zur Selbsthilfe."
* Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky L u x - L e s e b o g e n 15*8 ( G e s c h i c h t e ) - H e f t p r e i s 2 5 Pfg Natur- und kulturkundliche Hefte — Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, Murnau, München, Innsbruck — Druck: Buchdruckerei Mühlberger, Augsburg 31