Die Verlorenen von Chearth von Ernst Vlcek Pabel Moewig Verlag KG, Rastatt Alle Rechte vorbehalten © 2001 by Pabel-Moew...
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Die Verlorenen von Chearth von Ernst Vlcek Pabel Moewig Verlag KG, Rastatt Alle Rechte vorbehalten © 2001 by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt www.moewig.de Redaktion. Klaus N. Frick/Sabine Bretzinger Titelillustration. Swen Papenbrock Druck und Bindung: GGP Media, Poßneck Printed in Germany 2001 www.perry-rhodan net ISBN 3-8118-4077-0
Gegenwart Mai 1302 NGZ: Tia de Mym
Wir hatten an diesem Tag Streß genug im lunaren Tower. Es war der 7. Mai 1302 NGZ - für mich ein denkwürdiges Datum. Ich gehörte zu denen, die mit der Vorbereitung der routinemäßigen Sicherheitschecks für die Solare Residenz beschäftigt waren. Irgend jemand hatte für das imposante Bauwerk den Namen »Stahlorchidee« geprägt, und da war etwas Wahres dran. Es hatte damals, vor rund zehn Jahren, mehrere Entwürfe gegeben, die alle etwas von exotischen Blüten an sich hatten, und jener, für den man sich schließlich entschieden hatte, ließ an eine unberührbare stählerne Orchidee denken. Darum war der Sitz des Residenten Perry Rhodan seit langem einfach die »Stahlorchidee«. Doch so schön die Solare Residenz auch aussehen mochte, die anstehenden Sicherheitschecks waren ein öder Routinejob. Noviel Residor ließ uns die möglichen Schwachpunkte immer wieder durchgehen und verlangte dauernd Zweit- und Drittkontrollen. Wir wußten oft nicht mehr, wo uns der Kopf stand. Wir, das waren mein Partner Keerk Omlund und ich, Tia de Mym, und zusätzlich ein halbes Dutzend Innendienstler, denen wir zur Aufsicht und Unterstützung zugeteilt worden waren. Ich hatte Keerk vor 15 Jahren eigentlich als umgänglichen, lieben Kerl kennengelernt. Damals hatte er mich geduldig geschult, bei meinen ersten Einsätzen viel Geduld mit mir bewiesen und mich sogar einige Male gelobt. Jetzt hatte uns der Zufall im TLD-Tower wieder zusammengeführt. Keerk hatte den Innendienst schon früher nicht gemocht, und das war immer noch so. Er ließ es jeden merken, wie zuwider ihm die Arbeit im Tower war, und eckte darum dauernd an, so daß man ihn für ein wahres Ekel halten mußte. Wie auch immer, die Stimmung in unserer Abteilung war an diesem Tag jedenfalls am Nullpunkt. Und dann kam die Meldung, die für mich wie eine Bombe einschlug. Außerhalb des Solsystems, jenseits der Alarmzone, war ein unbekanntes Objekt aufgetaucht. Ein fremdes Raumschiff. Das ging uns eigentlich nichts an, wir erfuhren nur nebenbei davon. Aber als dann Details durchsickerten, geriet ich förmlich aus dem Häuschen. Bei dem Objekt handelte es sich nämlich eindeutig um ein Rachenschiff der Wlatschiden aus der Galaxis Chearth! Es war jedoch durch einen riesigen blockförmigen Unterbau erweitert und verfremdet worden. Bei diesem Unterbau schien es sich um einen Metagrav zu handeln, der zur halutischen SHE'HUAN gehörte hatte. Der Block war einfach an die Unterseite des 300 Meter langen Rachenschiffes angeflanscht worden. Eine Sendung aus Chearth! Und das zehn Jahre nach der Heimkehr der GILGAMESCH! Ich wurde von dieser Nachricht förmlich elektrisiert und handelte augenblicklich. Ohne erst Keerk zu fragen, meldete ich uns in seinem Namen für die Erkundung des überraschenden Besuchers an. Und wir wurden auch tatsächlich genommen. Keerk dankte es mir mit einem dicken Kuss. Das kratzte ganz ordentlich, denn er war wie fast immer unrasiert. »Schiebt euch eure Stahlorchidee sonstwohin«, offerierte er unseren Teamgefährten vom Innendienst fröhlich und rauschte mit mir an der Hand ab. Wir musste uns binnen zehn Minuten an Bord der VASCO DA GAMA einfinden. Das war eines der ersten Großraumschiffe der neuen ENTDECKER-Klasse mit einem Durchmesser von 1800 Metern. Die VASCO DA GAMA diente dem Residenten Perry Rhodan vorübergehend als Flaggschiff, so lange zumindest, bis seine LEIF ERIKSSON vom Stapel gelaufen war. Und der Resident war auch selbst an Bord, sagte man uns.
Perry Rhodan fand die Ankunft eines umgebauten wlatschidischen Rachenschiffes immerhin für wichtig genug, um sich persönlich darum zu kümmern. Die VASCO DA GAMA machte im Orbit von Luna nur kurz halt. Wir gingen mit dreißig weiteren Agenten vom Terranischen Liga-Dienst an Bord, dann nahm der ENTDECKER auch schon wieder Fahrt auf und unternahm eine kurze Überlichtetappe. Unser Einsatzleiter war ein Ertruser mit einem rostfarbenen Sichelkamm und hieß Randun Skoart. Keerk raunte mir zu, daß er ihn als »fähigen Burschen und wilden Hund« kenne, während uns Skoart mit wenigen Worten über unsere Aufgaben instruierte. »Das fremde Raumschiff stammt offenbar aus Chearth«, erklärte er uns mit kehliger, bellender Stimme. »Es wurde durchleuchtet, aber man hat im Innern nichts Bedrohliches orten können. Jetzt sind wir mit der Feinarbeit an der Reihe. Wir gehen in voller Kampfausrüstung in den Einsatz, um die Lage an Bord zu erkunden. Aber wir nehmen keine SERUNS, einfache Kampfanzüge tun es auch. Wir bilden drei Gruppen und werden von verschiedenen Seiten einsteigen. Roboter will ich auch keine dabeihaben, Spionsonden müssen genügen. Drei von uns bleiben als Kontakter auf der VASCO DA GAMA zurück. Mag nämlich nicht mit Laien zusammenarbeiten.« Er blickte Keerk finster an, und mir sank das Herz in die Hose, als er häßlich grinsend zu ihm sagte: »Dafür eignest du dich mit deiner Partnerin am besten, Omlund. Tiganov wird euch unterstützen.« Keerk nahm die Strafzuweisung äußerlich gelassen, aber ich wußte, daß er innerlich kochte. »Was hat der Ertruser gegen dich, Keerk?« wollte ich wissen. Aber er bewahrte brütendes Schweigen. Tiganov, ein großer schlaksiger Terraner um die Fünfzig, antwortete an seiner Stelle: »Skoart mag es nicht, wenn man hinter seinem Rücken schwätzt.« Ich wünschte mir, Keerk hätte es unterlassen, mit mir zu flüstern. Aber daran war eben nichts mehr zu ändern. Während die anderen für ihren Entereinsatz Kampfanzüge und Waffen in Empfang nahmen, wurden wir drei von einer Eskorte in die Kommandozentrale geführt. Dort erwartete uns eine zierliche Frau mit hellbraunen Augen und einem schmalen blassen Mund. Sie trug an ihrer Kombination die Rangabzeichen eines Kommandanten. »Ich bin Kay Znamara, die Chefin auf der VASCO DA GAMA«, stellte sie sich mit fester Stimme vor. »Euer Kommen wurde avisiert, ich weiß über eure Aufgaben Bescheid und habe euch einen eigenen Kommandostand zugewiesen. Folgt mir!« Sie führte uns in einen unbesetzten Raum, der an die Zentrale grenzte und der eine Funk- und Ortungsstation war. »Hier seid ihr ungestört und völlig autark, könnt nach Belieben schalten und walten«, erklärte sie uns. »Aber vergeßt nicht, daß ihr nur Gäste auf der VASCO DA GAMA seid.« »Was willst du uns damit sagen, Kommandantin?« erkundigte sich Keerk respektlos. »Damit will ich euch klarmachen, daß ihr euch keine Eigenmächtigkeiten herausnehmen dürft, die den Schiffsbetrieb stören«, antwortete sie scharf und blitzte Keerk aus ihren hellen braunen Augen an. »Und daß ihr auf der VASCO DA GAMA nicht Noviel Residor untersteht, sondern meiner Befehlsgewalt. Und vor allem dem Residenten Perry Rhodan. Falls er euch Gesellschaft leisten wird, bitte ich mir den nötigen Respekt aus.« »Wir sind keineswegs respektlos«, sagte Keerk amüsiert. Kay Znamara warf ihm noch einen strengen und zugleich warnenden Blick zu, dann ging sie. »Los, machen wir uns an die Arbeit«, sagte Keerk. Keerk nahm in der Mitte des Schaltpultes Platz, Tiganov setzte sich links von ihm, ich zu seiner Rechten. Keerk machte uns damit klar, daß er die Leitung übernahm; Tiganov hatte keine Einwände. Keerk baute zuerst vier Bildtonverbindungen auf, die nebeneinander simultan liefen und auch gleichgeschaltet und beliebig miteinander kombiniert werden konnten. Die erste Leitung bediente sich der Beobachtungsgeräte der VASCO DA GAMA, über die man das fremde Objekt aus verschiedenen Perspektiven betrachten konnte. Es handelte sich dabei tatsächlich um ein herkömmliches Rachenschiff der Wlatschiden von 300 Metern Länge. Der Bug erinnerte eindeutig an die Form einer tierischen Schnauze und war zusätzlich mit Augen, Nüstern und gefletschtem Gebiß bemalt, so daß der Eindruck einer Wolfsschnauze noch verstärkt wurde. Die Wlatschiden waren bekanntlich Wolfsähnliche, Lykanthropen, wenn man so wollte, und eines der faszinierendsten Völker von Chearth. Ich hatte mich intensiv mit ihnen beschäftigt, ebenso wie mit dem gesamten Chearth-Komplex, und kannte sie, als wäre ich selbst in NGC 4736 gewesen. Ich wäre bei dieser Hilfsexpedition wirklich gerne dabeigewesen, aber das war damals noch kein Thema für mich. Denn als die Chearth Flotte aus der Milchstraße abflog, hatte ich gerade erst meine Ausbildung als TLD-Agentin abgeschlossen. Außerdem konnte der TLD damals keinen einzigen Agenten entbehren, weil der neue Tower gerade bezogen worden war und große Teile der Infrastruktur neu organisiert werden musste. Das Rachenschiff war tatsächlich durch einen kastenförmigen Unterbau verfremdet worden. Dieser maß 190 Meter in der Länge, war 130 Meter breit und 120 Meter dick. Er war inzwischen eindeutig als Metagravblock der SHE'HUAN identifiziert worden, jenes fast 5000 Meter durchmessenden arkonidischen Tenders, mit dem
die Haluter der GILGAMESCH nach Chearth nachgeflogen waren. Die SHE'HUAN war mit acht solchen Metagravblöcken bestückt gewesen. Anscheinend hatten die Haluter einen davon als Anschauungsobjekt in Chearth zurückgelassen, als sie nach erfolgreichem Feldzug schließlich mit ihrem Riesenschiff in die Milchstraße zurückkehrten. Und die Wlatschiden hatten diesen Block - möglicherweise mit Hilfe der Gharrer -an eines ihrer Rachenschiffe geflanscht, um auf diese Weise die Distanz zur 15 Millionen Lichtjahre entfernten Milchstraße überbrücken zu können. Die brennende Frage war jedoch: Warum hatten die Wlatschiden diesen Flug unternommen? Die Antwort darauf hoffte man an Bord des Rachenschiffes zu bekommen. Aber es schien, daß dort niemand mehr am Leben war, denn bisher hatte man auf keinen der unzähligen Anrufe Antwort bekommen. Und darum war der TLD eingeschaltet worden. Die drei anderen Leitungen, die Keerk aktiviert hatte, bildeten Verbindungen zu den drei Einsatzgruppen, in die Randun Skoart das Enterkommando unterteilt hatte. »Warum hat das so lange gedauert?« schnauzte der Ertruser Keerk an, als dieser Kontakt zu ihm aufnahm. »Wir sind längst startbereit.« »Ich kann auch nicht zaubern«, sagte Keerk nur und stellte die Verbindungen zu den Helmkameras und Spionsonden aller drei Enterkommandos her. Auf diese Weise konnten wir an Bord der VASCO DA GAMA die Manöver aller drei Gruppen live und aus allen möglichen Perspektiven mitverfolgen und sie im Bedarfsfall miteinander koordinieren. Das war eigentlich weitaus informativer, als selbst dabeizusein, versuchte ich mich zu trösten. Aber es war nur ein schwacher Trost. Denn tatsächlich konnte eine noch so umfassende Informationsvielfalt den Kick nicht ersetzen, den man im direkten Einsatz bekam. Randun Skoart hatte die Führung der Gruppe Alpha selbst übernommen. Leiter der Beta-Gruppe war ein Agent namens Mortimer Silesias, und die dritte Gruppe mit der Bezeichnung Gamma wurde von Armin Pongartz angeführt. Keerk hatte inzwischen ein Holo-Fenster aufgebaut, das er beliebig oft in lokale Sektionen unterteilen konnte, so daß wir die Geschehnisse an den verschiedenen Schauplätzen gleichzeitig beobachten konnten. »Los!« gab Randun Skoart das Kommando. In der Totalen war zu sehen, wie die drei Gruppen von jeweils neun Mann ausschwärmten und in ihren Kampfanzügen von verschiedenen Seiten auf das Rachenschiff zuschwebten. Spionsonden waren ihnen vorausgeeilt und hatten die Raumschiffshülle nach Zugängen abgesucht. Sie hatten drei Mannschleusen fixiert, denen die Enterkommandos nun zustrebten. Armin Pongartz Gamma-Gruppe erreichte die ihr zugewiesene Mannschleuse als erste und baute ein Schirmfeld um sie auf, in das alle neun Mann eingeschlossen waren. Erst dann machte sich ein Spezialist daran, die Schleuse von außen zu öffnen. Diese Vorsichtsmaßnahme diente dazu, die Atemluft aus dem Schiff nicht ins Vakuum entweichen zu lassen. Armin Pongartz ließ auch das Innenschott öffnen, dann wartete er auf das Zeichen für die Einsatzbereitschaft der anderen beiden Gruppen. Natürlich standen auch die Enterkommandos untereinander in Verbindung. Wieder war es Randun Skoart, der als Einsatzleiter das Zeichen für das Vordringen ins Schiffsinnere gab. Ich hielt unwillkürlich den Atem an, als die Spionsonde der Gruppe Beta in einen dämmrigen Korridor vordrang, in dem nur die Notbeleuchtung brannte. Die Daten der Sonden wiesen aus, daß normaler Luftdruck und eine künstliche Schwerkraft von einem Gravo herrschten; die Atmosphäre war atembar und enthielt keine Schadstoffe. Allerdings wurde eine Reihe von Verunreinigungen registriert... »Keine besonderen Vorkommnisse«, meldeten die Einsatzleiter aller drei Gruppen. Mortimer Silesias fügte hinzu: »Hier muß es gottserbärmlich stinken.« »Die ausgewiesenen Daten lassen auf Moder und Verwesungsgeruch schließen«, kommentierte Keerk. Die Bilder und Daten der Spionsonden aller drei Gruppen liefen simultan nebeneinander. Ich ließ meine Augen zwischen den verschiedenen Szenen dauernd hin und her springen. Plötzlich machte die Spionsonde der Alpha-Gruppe einen scharfen Schwenk und fing das Bild einer grauenvoll zugerichteten Gestalt ein. In diesem Moment sagte eine Stimme hinter uns: »Laßt euch durch mich bitte nicht stören. Ich möchte mir nur einen Überblick verschaffen. Gibt es irgendwelche Besonderheiten?« Es war der Resident Perry Rhodan in seinem blauen Galornenanzug, der uns besuchte. »In einem der Korridore wurde gerade eine schreckliche Entdeckung gemacht«, meldete Keerk und machte eine Vergrößerung der betreffenden Aufnahme. Aus allen Leitungen brandete uns aufgeregtes Stimmengewirr entgegen, so daß kein Wort zu verstehen war und ich mich bemüßigt sah, einen Filter einzusetzen, bis man nur noch Randun Skoart hören konnte. »Das ist ja entsetzlich«, ließ sich Perry Rhodan beim Anblick der verrenkt daliegenden, blau verfärbten, aufgedunsenen und völlig haarlosen Gestalt erschüttert vernehmen. »Was ist das für ein Geschöpf?« Perry Rhodan war damals nicht selbst in Chearth gewesen, sondern hatte in der Milchstraße gegen MATERIA, die Kosmische Fabrik des Dieners der Materie Torr Samaho, gekämpft und so den Fortbestand der Menschheit gesichert. »Das ist ein Wlatschide, der sein Fell verloren hat«, klärte ich den Residenten auf. »Er dürfte schon längere
Zeit nicht mehr am Leben sein.« »Was ist ihm widerfahren?« »Das wissen wir noch nicht, Resident«, antwortete Keerk, der sich wieder seiner Führerrolle entsann. »Aber ich hoffe, das Enterkommando wird es bald herausfinden.« In diesem Moment wurde die nächste Leiche eines Wlatschiden entdeckt. »Vorsicht, Leute!« erklang Randun Skoarts warnende Stimme. »Das, was den Wlatschiden den Garaus gemacht hat, könnte auch uns gefährlich werden!
2. Die beiden Wlatschidenleichen wiesen keinerlei Verletzungen durch äußere Gewalteinwirkung auf. Was sie getötet hatte, hatte von innen gewirkt, wie bei einer schleichenden Krankheit, einem tödlichen Virus. Sie hatten alle Haare ihres Felles verloren. Die derart freigelegte großporige Haut war aufgedunsen, schorfig und von eiternden Beulen übersät. Die Schädel wirkten dagegen knochig, Fleisch und Muskeln schienen degeneriert, geschrumpft, die Kopfhaut war wie mumifiziert. Die Schädel waren ebenfalls völlig haarlos, muteten an wie mit pergamentener Haut überzogene Totenköpfe. Beide Wlatschiden waren in Korridoren der Außenzonen des Schiffes gefunden worden. Es schien fast so, als hätten sie versucht, vor einer Bedrohung davonzulaufen. »Diese armen Teufel«, sagte Perry Rhodan betroffen. »Was mag ihnen Schreckliches widerfahren sein?« Während der Resident das noch sagte, stießen die TLD-Agenten in den Korridoren nacheinander auf sechs weitere tote Wlatschiden. Sie wiesen alle die gleichen Symptome auf: völlig haarlose Körper, ausgemergelte Totenschädel, aufgedunsene Körper mit eiternden Beulen. Die Leichen der neun Opfer erweckten den Eindruck, als seien sie seit mindestens einer Woche oder länger tot. »Ich möchte, daß ein Medo-Team auf das Rachenschiff geht, um die genaue Todesursache - und den Zeitpunkt des Todes - zu untersuchen«, ordnete Perry Rhodan an. Er sprach nicht uns an, sondern gab diesen Befehl über das Bordsystem Kay Znamara. Die drei Enterkommandos drangen tiefer in das Rachenschiff ein. Während sich das Alpha-Team unter seiner Führung zur Kommandozentrale im Bug vorarbeitete, befahl Randun Skoart den beiden anderen Gruppen, sich den anderen Schiffssektionen zu widmen - vor allem den Mannschaftsräumen. Denn sagte der Ertruser: »Dieses Raumschiff muß eine viel größere Mannschaft besessen haben. Uns dürften noch ein paar grausige Entdeckungen bevorstehen.« Die nächsten Minuten verliefen ereignislos. Bis Randun Skoarts Gruppe die Kommandozentrale erreichte. Dort fanden sie vier weitere Wlatschiden in Kontursesseln vor. Alle tot. Alle wiesen die bekannten Symptome auf. Aber ... »Sieht aus, als seien diese vier Wlatschiden erst vor kurzem verstorben«, stellte Randun Skoart fest. »Sie wirken noch ziemlich frisch und zeigen keinerlei Verwesungserscheinungen.« Er griff nach dem Arm eines Wlatschiden und konnte ihn mühelos bewegen. »Es ist noch nicht einmal Leichenstarre eingetreten.« »Das ist nicht weiter verwunderlich«, sagte Keerk. »Irgendwer muß schließlich das Schiff gesteuert und nahe dem Solsystem den Überlichtflug beendet haben. Vermutlich wurden diese vier mit dem Eintritt in den Normalraum gekillt.« Randun Skoart, der Keerks Worte gehört hatte, zuckte zusammen, blickte sich forschend um und brachte instinktiv die Waffe in Anschlag. »Du wirst schon recht haben, Keerk«, sagte der Ertruser. »Da versteckt sich irgendwo ein Killer und könnte jederzeit wieder aktiv werden. Silesias! Pongartz! Habt ihr das gehört? Bleibt also wachsam!« Ich vergrößerte die beiden Holo-Fenster mit der Beta- und der Gamma-Gruppe. Während sich Silesias mit seinen Leuten durch die Gemeinschaftsräume, die Medo-Station und die Labors vorarbeitete, erreichte Pongartz Gruppe den Sektor mit den Unterkünften. »Warum haben diese Leute keine Roboter zur Unterstützung?« fragte Perry Rhodan. »Weil der Einsatzleiter etwas gegen Robs hat«, antwortete Keerk. »Er verläßt sich in solchen Fällen lieber auf die Improvisationsgabe von Lebewesen.« »Das ist geradezu unverantwortlich«, sagte der Resident empört. »Ich hätte gute Lust...« Weiter kam er nicht. Denn in diesem Moment entdeckten Pongartz Leute die erste Leiche in einer Mannschaftskabine. Sie hatten das Schott geöffnet und die Spionsonde vorgeschickt, während sie selbst in Deckung geblieben waren. Sie stürmten die Kabine erst, als ihnen das Bild des aufgebahrten Wlatschiden übermittelt wurde. Der Wlatschide lag in seiner Koje nackt auf dem Rücken, die Arme über der Brust gefaltet. Er war schon stark verwest und mochte schon seit Wochen so hier liegen. Auch in der nächsten Kabine fand sich die aufgebahrte Leiche eines Wlatschiden, bei dem die Verwesung weit fortgeschritten war. Pongartz und seine Leute machten anschließend noch zwei Dutzend solcher entsetzlichen Funde, obwohl sie erst die Hälfte aller Unterkünfte durchsucht hatten. Zwischendurch meldete sich Randun Skoart aus der Kommandozentrale.
»Wir haben ein Terminal aktiviert«, sagte er. »Aber wir bekommen nur unverständliche Hieroglyphen zu sehen. Kennt sich jemand mit der Schrift der Wlatschiden aus?« Ich reagierte sofort: »Laß mal sehen, Skoart. Vielleicht kann ich etwas damit anfangen.« Der Ertruser richtete seine Helmkamera auf den Monitor, und ich zoomte mir den Bildausschnitt heran. Es war nicht so, daß ich alle Chearth-Sprachen in Wort und Schrift beherrschte, aber in Sinjuil, der Lingua franca von Chearth, war ich ganz gut beschlagen. Und glücklicherweise war der Text in Sinjuil abgefaßt. »Logbuch der AKKAZZON«, las ich und wandte mich an Skoart: »AKKAZZON ist offenbar der Name des Rachenschiffes. Und das Logbuch könnte uns darüber Auskunft geben, was an Bord vorgefallen ist.« »Na, wenn du in Sachen Chearth so versiert bist«, meinte Skoart, »dann wäre es wohl doch angebracht, daß du rüberkommst.« »Klar, mache ich doch sofort!« sagte ich, ohne zu zögern. Doch da mischte sich Perry Rhodan ein. »Einen Moment, bitte«, sagte der Resident. »Ich übernehme ab sofort die Leitung dieses Unternehmens. Nach den bisherigen Ergebnissen scheint diese Angelegenheit viel brisanter zu sein als vermutet.« »Ich bin nur dem TLD Chef verantwortlich«, erwiderte Randun Skoart giftig. »Und der hat mir die alleinige Verantwortung und Entscheidungsvollmacht erteilt.« »Und ich hebe diese Verfügung kraft meines Amtes auf«, sagte Perry Rhodan scharf. »Ich regle das schon mit Noviel. Hast du verstanden, Randun Skoart?« »Jawohl, Resident«, sagte der Ertruser mit nur mühsam unterdrückter Wut. Ich war in diesem Moment auf den Residenten auch ziemlich wütend, denn durch sein Eingreifen sah ich mich um einen interessanten Einsatz geprellt. In meinem Kopf war ein dumpfes Pochen und Rauschen. »Warst du in Chearth?« Ich begriff nicht sofort, daß die Frage des Residenten mir galt. »Nein, ich war damals noch zu jung«, sagte ich, neue Hoffnung schöpfend. »Aber ich habe mich intensiv über die dortigen Geschehnisse informiert. Alles, was mit Chearth zusammenhängt, geradezu studiert.« »Hm«, machte Perry Rhodan nachdenklich, dann fügte er hinzu: »Ich habe einen Chearth-Spezialisten, den ich einsetzen möchte. Er war mit der GILGAMESCH in NGC 4736. Möchtest du ihn begleiten?« Ob ich wollte? Und ob ich wollte!
3. Er hieß Conrad Festik und war ein Bär von einem Mann. Obwohl ich mit knapp 170 Zentimetern auch nicht gerade klein bin, wirkte ich neben ihm wie eine Spielzeugpuppe. Festik war fast zwei Meter groß und sehr breit. Nicht ausgesprochen dick, aber auch nicht wirklich athletisch, sondern bloß grobschlächtig. Er wirkte wie ein unbeholfener Klotz. Mit Händen wie Bärentatzen und einem stiernackigen Kopf wie aus Stein gemeißelt. Dazu kamen eine dicke Knollennase und eine vorgezogene Oberlippe, die ihm den Anstrich von Gutmütigkeit verlieh, aber auch den von Einfalt. Doch diese Äußerlichkeiten täuschten. Während wir in unseren Raumanzügen zur AKKAZZON hinüberflogen, sagte er angriffslustig: »Soso, du kennst Chearth durch das Studium von Berichten. Du weißt gar nichts, Tia de Mym!« »Tia genügt mir«, erwiderte ich. »Im übrigen wurde ich vom Residenten nur wegen meiner Kenntnisse der Umgangssprache von Chearth für diesen Einsatz bestimmt.« Als er nichts erwiderte, fragte ich: »Was hast du eigentlich gegen mich, Conrad Festik?« Er ließ sich mit der Antwort Zeit. »Ist nichts Persönliches«, sagte er schließlich. »Hab' nur was gegen hochnäsige Eierköpfe.« »Bin ich gar nicht«, gab ich zurück. »Ich bin Außendienst-Agentin des Terranischen Liga-Dienstes. Chearth ist bloß mein Hobby.« »Dein Hobby!« Er spuckte das Wort förmlich heraus. Versöhnlicher fügte er hinzu: »Und warum warst du nicht unter denen, die mit dem TLD-Tower und ganz Alashan vom Heliotischen Bollwerk nach DaGlausch versetzt wurden?« »Ich hatte Glück. Befand mich damals gerade in einem Ausbildungs-Außeneinsatz.« Darauf sagte er nichts. Wir näherten uns bereits dem Bug des Rachenschiffes. Inzwischen wimmelte es rund um die AKKAZZON nur so von Raumfahrzeugen aller Klassen, von Space-Jets bis VESTA-Kreuzern, und Scharen von Raumfahrern und Robotern umschwirrten den Wlatschidenraumer wie die Mücken oder waren auf seiner Hülle postiert und mit irgendwelchen Arbeiten beschäftigt. Auch am angeflanschten halutischen Metagravblock tummelten sich jede Menge winzig anmutende Gestalten. Es fiel auf, daß keine SERUNS zum Einsatz kamen. Wegen des immer häufigeren Auftretens von KorraVir, das Syntroniken angriff, war man auf Terra bereits seit längerem dabei, sich auf eine syntronlose Zeit umzustellen, und bediente sich wieder vermehrt der als veraltet geltenden Positroniken. In was für einer Zeit lebten wir! Wollte man den Pessimisten glauben, so war dies der endgültige Rückfall ins positronische Zeitalter. Und die sektiererischen Schwarzseher prophezeiten überhaupt das unwiderrufliche Ende des Fortschritts. Die Strafe Gottes für die Hybris des Menschen, nannten sie es.
KorraVir war zu einer permanenten Bedrohung geworden. Allerdings war bei einem Wlatschidenschiff aus Chearth eigentlich kaum damit zu rechnen. Wir erreichten die Mannschleuse am Bug. Dort waren mittlerweile TARA-V-UH-Kampfroboter postiert. Sie kontrollierten unsere ID-Cards und ließen uns passieren. In den ehemals verlassenen Korridoren der AKKAZZON hielten sich jetzt alle möglichen Einsatzkräfte auf. Techniker, Wissenschaftler und Mediziner und ihre Spezialroboter. Längst war Entwarnung gegeben worden, denn es konnte keinerlei Hinweis auf eine bedrohliche Gefahr gefunden werden. Die Existenz jener Macht, die die Wlatschiden getötet hatte - es waren inzwischen insgesamt 56 Leichen gefunden worden -, wurde einfach verdrängt. Aber es mußte irgend etwas auf der AKKAZZON geben oder zumindest gegeben haben, was die Wlatschiden auf dem Gewissen hatte. »Und du, Conrad Festik?« fragte ich auf dem Weg zur Kommandozentrale. »Kannst Conrad sagen, Tia«, bot er mir an, aber es klang immer noch ablehnend. »Was, ich?« »Hat Chearth das aus dir gemacht, was du bist?« Er lachte humorlos. »Was bin ich?« »Ein verbitterter Menschenverächter. Hat Chearth das aus dir gemacht?« Er lachte wieder, aber diesmal klang es amüsiert. »Nur weil ich dich zuerst abgelehnt habe, bin ich noch lange kein Menschenfeind«, sagte er. »Ich habe nicht wirklich etwas gegen dich, Tia. Und ich habe eingesehen, daß ich mit dir leben muß. Friede?« »Friede«, stimmte ich dem Angebot zu. Irgendwie begann ich diesen Conrad Festik zu mögen. Er war gar nicht so unzugänglich, wie er sich zuerst gegeben hatte. Er war bloß unbeholfen, ein schüchterner oder verschreckter Tolpatsch, der sich in gewissen Dingen nicht artikulieren konnte. Aber er war auch sehr emotionell und gerade in dieser Beziehung unbeholfen. Ich wurde noch nicht recht schlau aus ihm, kam aber zu dem Schluß, daß seine rauhe Schale nur ein Schutzmantel für seine Verletzlichkeit war. Gerade als wir die Kommandozentrale erreichten, kam eine aufsehenerregende Meldung durch. Demnach war man im Schiffszentrum auf eine Isolationszelle mit geringen Abmessungen gestoßen. Und dies, obwohl die AKKAZZON bereits als völlig erforscht galt. Aber aus irgendwelchen Gründen hatte man diesen Sektor übersehen - wohl weil er so geringe Abmessungen besaß und nicht größer als ein Würfel mit drei Metern Kantenlänge war. Erst als man psionische Meßgeräte eingesetzt und eine schwache Psi-Quelle angemessen hatte, war man auf diese Zelle gestoßen. Das weckte die Erinnerung an die unbekannte Macht, die die Wlatschiden auf dem Flug zur Milchstraße dahingerafft hatte. Conrad Festik war nach dieser Meldung irgendwie verändert, wirkte gedankenverloren und nervös. Als ich mich jedoch erkundigte, was mit ihm nicht in Ordnung sei, sagte er: »Nichts, alles bestens. Was sollte mit mir nicht in Ordnung sein?« Aber es klang für mich nicht überzeugend. Mir war klar, dieser Mann schleppte irgend etwas mit sich herum. Und das hing mit Chearth zusammen. Er mochte das längst schon verdrängt haben, aber als das Rachenschiff vor dem Solsystem auftauchte, da war es wieder geweckt worden. Was war Conrad Festiks Geheimnis? Wir nahmen uns das Logbuch der AKKAZZON vor. Aber das brachte uns keine neuen Erkenntnisse. Seit die AKKAZZON zur Milchstraße aufgebrochen war, gab es keine Aufzeichnungen mehr. Kein einziger Eintrag beschäftigte sich mit dem Flug in die Milchstraße. Die letzte Meldung mochte etwa zweieinhalb Monate zurückliegen - wenn man eine Flugdauer von rund 70 Tagen veranschlagte. Sie lautete: Testraumschiff AKKAZZON, Logbucheintrag Kommandant Rizzotta: Nehmen heute unbekannten Passagier an Bord. Erwarte weitere Instruktionen. Es scheint, daß wir für einen Fernflug auserwählt wurden. »Demnach wurde die AKKAZZON nicht eigens für den Flug in die Milchstraße umgerüstet«, meinte ich. »Die Wlatschiden haben offenbar unabhängig davon mit dem Metagravblock der SHE'HUAN experimentiert.« »Ja, und?« meinte Conrad Festik; er war mit den Gedanken offenbar woanders. »Nichts und. Wollte nur eine Tatsache festhalten.« »Entschuldige, Tia«, sagte er und massierte sich die Stirn. »Ich kann mich einfach nicht konzentrieren.« »Was beschäftigt dich?« fragte ich, ohne eine Antwort zu erwarten. Aber zu meiner größten Überraschung ging er darauf ein. »Es ist der unbekannte Passagier, den Rizzotta an Bord genommen hat«, murmelte er gedankenverloren und wie zu sich selbst; und mir wurde klar, daß er meine Frage wohl nicht einmal gehört hatte. »Und dann diese Isolierzelle ... Hat man sie geöffnet und etwas darin gefunden?« »Das läßt sich leicht in Erfahrung bringen«, sagte ich, ohne diesen Bären von einem Mann, der auf einmal ein desorientiertes Nervenbündel war, aus den Augen zu lassen. Ich gab den Kode für meine Zugriffsberechtigung als TLD-Agentin ein und verlangte eine Bildtonleitung zu
dem Einsatzkommando, das die Isolierzelle knackte. Zu meiner Überraschung bekam ich Verbindung mit Randun Skoart. »Du schon wieder, de Mym!« polterte er zornig. »Habe ich dich nicht auf der VASCO DA GAMA kaltgestellt?« »Ich bin eben unentbehrlich«, erwiderte ich kühl. »Wie weit seid ihr? Ich möchte eine Mehrkanalübertragung von eurer Aktion.« »Wir dringen gleich ein«, sagte Skoart. »Und werden uns gleich in einen Paratron hüllen, um das übrige Schiff gegen alle Eventualitäten zu schützen.« »Dann verschaffe mir eine Strukturlücke!« sagte ich im Befehlston. »Ich muß dabeisein.« Im nächsten Augenblick baute sich vor uns, Conrad Festik und mir, ein Holo auf. Es zeigte das Innere einer Paratronblase, in der zusätzlich durch Individualschutzschirme geschützte Gestalten in Kampfanzügen an einem Schott hantierten. Plötzlich sprang das Schott auf und gab eine Hohlkugel mit nur zweieinhalb Metern Durchmesser frei. Darin stand eine Art ovaler Sarg mit einem transparenten Deckel. Und darunter lag ein von Wucherungen entstelltes und haarloses Geschöpf, das ich im ersten Moment für einen Wlatschiden hielt. Bei dem ovalen »Sarg« handelte es sich wohl um einen Tiefschlaftank. Einer der Einsatzleute, die sich um den Tiefschlaftank scharten, rief überrascht aus: »Das ist ein Mensch ... Offenbar eine Frau!« Das war wirklich eine Überraschung! Eine Terranerin, die zehn Jahre nach dem Abzug aus Chearth mit einem Wlatschidenschiff in die Milchstraße zurückkehrte. »Und die Frau lebt ..., wenn sie auch nur schwache Körperfunktionen zeigt... Aber das ist bei Tiefschläfern so üblich ...« Die zweite Überraschung lieferte Conrad Festik. Er schob mich ungestüm zur Seite und drang in das Holo ein, als könne er sich auf diese Weise einen besseren Überblick verschaffen. Aber das ging natürlich nicht, und Festik trat wieder zurück. Er atmete schwer, sein Blick irrte nervös zwischen mir und dem Holo hin und her. »Ich möchte den Tiefschläfer sehen!« verlangte er. Einer von Skoarts Leuten, die den Tiefschlaftank umstanden, sagte: »Dieses Ding... dieses Wesen ... hat eindeutig ein Psi-Potential. Wir sollten es ... sie ... nach Mimas schaffen.« Eine Frau, die nicht zu Skoarts Leuten gehörte, drängte sich nach vorne und erklärte: »Ich möchte zuerst eine Gen-Analyse machen. Vielleicht können wir auf diese Weise die Identität dieser Person feststellen. Wenn es wirklich ein Mensch ist.« »Skoart, hier Tia de Mym«, machte ich mich bemerkbar. »Schick mir ein Bild des Tiefschläfers. Am besten eine Totale in der Draufsicht, dann zoome auf das Gesicht.« Randun Skoart gab einen unterdrückten Fluch von sich, aber er kam meiner Aufforderung nach. Ich beobachtete Festik, als das Holo die Gestalt der Schlafenden zeigte. In seinem Gesicht zuckte es, sein Blick war flatternd, die Kinnmuskeln traten als dicke Stränge hervor. Was ging in dem Mann in diesen Augenblicken vor sich? Irgendwie erweckte er mein Mitleid. Aber was konnte er mit dieser Sache zu tun haben? Als das Gesicht des Tiefschläfers groß ins Bild kam, gab Festik einen gurgelnden Laut von sich und brach zusammen. Er kauerte auf dem Boden, barg das Gesicht in Händen und schluchzte herzzerreißend auf. Ich versuchte, mich um ihn zu kümmern und herauszufinden, was mit ihm los war. Aber er war unansprechbar. Er wirkte wie ein gebrochener Mann. Und wieder drängte sich mir die Frage auf, welches Geheimnis dieser Conrad Festik mit sich trug. Das mußte ich zuallererst klären.
4. Ich setzte mich mit Armin Pongartz in Verbindung, und der stellte mir zwei seiner Leute als Bewacher für Conrad Festik zur Verfügung. Dieser saß immer noch kauernd da, die Hände wie schützend um den Kopf gelegt, der auf den Knien ruhte. Er war jetzt völlig ruhig, apathisch geradezu, sein Körper wurde nicht einmal mehr von Weinkrämpfen geschüttelt. »Was ist mit dem?« wollte der eine Bewacher wissen. »Er ist ganz harmlos und wird keine Schwierigkeiten machen«, antwortete ich. »Er ist nur etwas verstört, und ich möchte nicht, daß er umherirrt.« Dann zog ich mich aus der Kommandozentrale an einen Ort zurück, an dem ich ungestört war. Ich setzte mich mit der VASCO DA GAMA in Verbindung und bekam die Kommandantin Kay Znamara zu sprechen. »Hier spricht Tia de Mym,«, meldete ich mich. »Ich benötige die Personalakte von Conrad Festik, dem Sinjuil-Dolmetscher, mit dem ich in den Einsatz gegangen bin.«
Bevor Kay Znamara mir antworten konnte, schaltete sich Perry Rhodan ein. »Was ist mit Conrad Festik?« fragte er besorgt. »Hat es mit ihm Schwierigkeiten gegeben?« »Das kann man so nicht sagen, Resident«, antwortete ich. »Aber irgend etwas stimmt mit ihm nicht. Und das mußt du gewußt haben. Du hast es mir verschwiegen, Resident.« »Oh«, machte Perry Rhodan; es klang überrascht und betroffen zugleich. »Es gab eigentlich nichts zu verschweigen. Conrad Festik ist kein Geheimnisträger. Was ist mit ihm los?« »Es scheint, als hätte er eine Art Dejä-vu gehabt«, sagte ich wahrheitsgetreu. »Und jetzt macht er einen ziemlich geknickten Eindruck. Ich möchte alles über ihn erfahren.« »Du bekommst ausnahmsweise Einblick in seine Personalakte. Aber da gibt es kein Geheimnis ...« »Ich möchte mich bloß informieren, Resident. Danke.« Conrad Festiks Personalakte wies auf den ersten Blick tatsächlich keine Besonderheiten aus. Er war am 12. Juni 1255 NGZ auf Camelot geboren worden, in dem Jahr, als der Exodus der letzten 327 Siganesen dorthin stattgefunden hatte. Er machte eine Ausbildung als Funk- und Ortungsspezialist, erwarb sich im Dienste der Organisation Taxit Raumerfahrung und heuerte im Jahre 1287 NGZ auf der GILGAMESCH an, und zwar auf Julian Tifflors Modul ROSTOCK. Dort gehörte er zur Besatzung des VESTA-Kreuzers GALATHEIA. Er machte den Flug nach Chearth mit, wo er unter dem Kommando von Lancia Thurman unzählige erfolgreiche Einsätze flog und Seite an Seite mit Wlatschiden, Gharrern und anderen Chearth-Völkern - und später dann auch mit Halutern - großartige Siege gegen die Algiotischen Wanderer errang. So stand es in der Personalakte. Mit dem Abzug des Tazolen Vil an Desch und des größten Teils der Algiotenflotte war die Chearth-Krise im Mai 1291 NGZ fast bereinigt, und schließlich konnten auch die Streitkräfte des tazolischen Rebellenführers Dro ga Dremm entscheidend geschlagen werden. Ende 1291 NGZ herrschte Aufbruchstimmung in der GILGAMESCH, die schließlich am 11. Januar des nächsten Jahres wieder die Milchstraße erreichen sollte. Jedoch ohne die GALATHEIA und ihre Mannschaft! Diese gehörten zu den vielen Vermißten, die man schließlich auf die Verlustliste setzte. Die Haluter waren noch eine ganze Weile in Chearth geblieben. Die ersten von ihnen kehrten erst ein halbes Jahr nach der GILGAMESCH in die Milchstraße zurück. Und an Bord eines der letzten Haiuterschiffe traf Conrad Festik als Nachzügler in der Milchstraße ein. Er hatte als einziger Überlebender der GALATHEIA gegolten, aber er hatte nie darüber berichtet, was damals wirklich passiert war. Das abschließende Urteil der Psychologen, die ihn betreut hatten, war, daß Conrad Festik psychisch zwar völlig wiederhergestellt sei und kein Trauma habe, daß es jedoch besser sei, wenn er seine Erinnerung an die Geschehnisse von damals für sich behielte. Conrad Festik schien tatsächlich völlig wiederhergestellt zu sein, denn er hatte die Tests für die Aufnahme in die Mannschaft der VASCO DA GAMA mit Auszeichnung bestanden. Jetzt, zehn Jahre nach diesen Erlebnissen, war er mit der Vergangenheit konfrontiert worden. Und mit einem Schlag wurde er ein gebrochener Mann. Ich konnte mir das vorerst nicht erklären. War Conrad Festik über die Jahre hinweg immer schon so labil gewesen, daß der geringste Anlaß genügte, um ihn aus der Bahn zu werfen? Hatte es den Ausschlag gegeben, daß ein Rachenschiff der Wlatschiden aufgetaucht war, das den Tod an Bord trug? Da mußte mehr dahinterstecken. Es mußte eine persönliche Beziehung geben, etwas, das Conrad Festik so naheging, daß die Erinnerung ihn übermannte und diese Begegnung für ihn zu einem traumatischen Erlebnis wurde. Ich mußte Conrad Festik zum Reden bringen. Aber bevor ich mich seiner annahm, erkundigte ich mich nach dem Ergebnis der Gen-Analyse, die man an dem bemitleidenswerten Wesen im Tiefschlaftank vorgenommen hatte. Das Ergebnis lag vor, man hatte die Identität der Frau eruiert. Als ich ihren Namen hörte, da war mir auf einmal alles klar. Ich konnte Conrad Festik verstehen, und ich hatte Mitleid mit ihm. Ich kehrte in die Kommandozentrale der AKKAZZON zurück. Festik hatte sich noch mehr zusammengekrümmt und nahm jetzt beinahe eine Embryohaltung ein. »Er hat keinen Mucks von sich gegeben«, sagte einer der beiden TLD-Agenten, die ich zu seiner Bewachung abgestellt hatte. »Was ist mit ihm los?« erkundigte sich der andere. »Kann der überhaupt noch wahrnehmen, was um ihn herum geschieht?« »Er wird schon wieder«, sagte ich zuversichtlich, in der Hoffnung, daß Festik mich hören konnte. »Laßt mich jetzt mit ihm allein. Bitte!« Nachdem die beiden TLD-Agenten gegangen waren, beugte ich mich zu Conrad Festik hinunter und sagte: »Kannst du mich hören, Conrad? Willst du nicht mit mir über alles reden? Es würde dich sicherlich erleichtern.« Er rührte sich nicht, zeigte keinerlei Reaktion, so als hätte er mich gar nicht gehört.
Ich setzte mich im Schneidersitz neben ihn, legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte diese sanft. »Ich weiß jetzt Bescheid, Conrad«, redete ich weiter auf ihn ein. »Ich kann dich nur allzu gut verstehen. Kann mir vorstellen, wie du dich fühlst.« Er zeigte noch immer keine Reaktion. Ich überlegte einen Moment lang, ob ich ihn nicht in Frieden lassen sollte und ob es nicht besser wäre, seine Erinnerung ruhenzulassen. Das wäre vielleicht gnädiger gewesen, menschlicher. Aber dann obsiegte die TLD-Agentin in mir. Ich mußte die Wahrheit aufdecken, Conrad Festik zwingen, zu seiner Erinnerung zu stehen, wie grausam das auch erscheinen mochte. Aber es ging hier nicht nur um diesen Mann allein. Eine ganze wlatschidische Schiffsbesatzung von 56 Mann war hingemordet worden. Und eine entsetzlich zugerichtete Frau, zu der Festik ein besonders enges Verhältnis hatte, lag im Sterben ... würde vermutlich nicht mehr zu retten sein. Ich mußte herausfinden, wer dafür verantwortlich war, um verhindern zu können, daß dieses Sterben am Ende gar noch weiterging. »Ich weiß jetzt, wer die Frau im Tiefschlaftank ist«, fuhr ich so einfühlsam, wie ich nur konnte, fort. »Was für ein Schock muß ihr Anblick für dich gewesen sein. Du hast sie sofort erkannt, nicht wahr, Conrad? Trotz ihrer ...« Ich biß mir auf die Lippen, sprach nicht weiter. Ich gönnte ihm eine kurze Pause, damit er sich sammeln konnte, bevor ich fortfuhr: »Wir haben die Frau als Lancia Thurman identifiziert, die Kommandantin der GALATHEIA war. Kommandantin des VESTA-Kreuzers, auf dem du gedient hast. Es muß schrecklich für dich gewesen sein, als du sahst, was aus ihr geworden ist... Du hattest annehmen müssen, daß sie tot sei... Damit hättest du dich abfinden können. Aber daß ihr dieses widerfuhr ...« Er zuckte zusammen, die erste Reaktion seit langer Zeit. Meine Hand lag noch auf seiner Schulter, und ich drückte sie zum Zeichen meines Mitgefühls und meiner Zugehörigkeit. Er neigte den Kopf zur Seite und rieb ihn an meinem Handrücken. Dann hob er den Blick und sah mich an. Seine Augen waren feucht. »Nicht tot ...«, murmelte er mit erstickter Stimme. »Ich habe geglaubt... gehofft, daß sie und die anderen das Paradies gefunden haben ... Osyr ...« »Osyr?« »Das gelobte Land Osyr ... in das dich der Lotse Phylaso geleitet...« »Warst du auch in Osyr? Hast du diesen paradiesischen Ort gesehen?« Er deutete ein verneinendes Kopfschütteln an. »Willst du mir nicht doch erzählen, was du damals erlebt hast, als die GALATHEIA verlorenging?« Er wich meinem Blick wieder aus, starrte ins Leere. »Ich hätte nie geglaubt, daß ich noch einmal mit meiner Erinnerung konfrontiert werden würde«, murmelte er. »Für mich war es abgehakt. Ich habe mir fest vorgenommen, das alles für mich zu behalten.« »Das kannst du jetzt nicht mehr«, sagte ich fordernder, als ich merkte, daß er zum Sprechen bereit war. Er konnte jetzt gar nicht mehr anders, er war an dem Punkt angelangt, da er alles loswerden mußte. Er wäre sonst wohl daran erstickt. Ich wagte einen Vorstoß: »War ... ist Lancia Thurman ... deine Geliebte?« Er verneinte mit einem Kopfschütteln, sagte: »Nur eine gute Kameradin. Wir waren überhaupt eine gut eingespielte Mannschaft. Ein homogenes Team.« Ich sagte nichts darauf, schwieg in der Hoffnung, daß er von sich aus weiterredete. Und das tat er. »Wir waren alle schon in Heimkehrstimmung. Hatten nur noch eine ausgelassene Spritztour machen wollen ... und dann passierte das!« »Was ist passiert, Conrad?« Und Conrad Festik erzählte.
Vergangenheit 1291NGZ: Conrad Festik
5. Kaum daß wir im X-System auftauchten, wurden wir auch schon abgeschossen. Wir waren mitten in einem Pulk von tazolischen Knotenschiffen herausgekommen. Es ging alles so schnell, daß wir nicht einmal die Zeit hatten zu fragen, ob es sich bei den Tazolen um Dremmer oder Descher handelte. Aber diese Frage erübrigte sich sowieso, da uns die Knotenschiffe ungefragt unter Beschuß nahmen. Natürlich waren es Dremmer - Anhänger des rebellischen Scoctoren Dro ga Dremm. Ich war gerade bei Van - Vanessa Gorland - in der Kabine, als Alarm gegeben wurde. Augenblicklich machte ich mich auf den Weg in die Kommandozentrale. Erst als ich dort eintraf, wurde mir bewußt, daß ich völlig
nackt war. Und da erwischte uns auch schon die erste Salve und erschütterte die GALATHEIA. Von da an standen wir unter Dauerfeuer. Außer mir waren nur der Stellvertretende Kommandant Andre Russo, die beiden Techniker Bertram Hidden und Armin Bester, die Ortungsspezialistin Anja Montana, unser Medikus Jan Kieling, den wir nur »Doc Kieli« nannten, und der Beibootkommandant Mortimer Aderklaa anwesend. Ich nahm den Platz neben Anja ein und fragte in die Runde: »Wo ist eigentlich Lancia?« »Wo schon? Vermutlich auf 'nem Trip«, antwortete Andre. »Wer kann es ihr verübeln«, fügte Armin hinzu. »Dies hätte ja schließlich eine Vergnügungsfahrt werden sollen. Verdammte Scheiße!« Ja, eine Vergnügungsfahrt, wie Armin es ausdrückte, hatten wir uns vorgestellt. Van hatte die Idee gehabt. Sie hatte gemeint: »Wir werden in ein paar Tagen in die Milchstraße zurückfliegen, holen wir uns vorher doch noch ein paar Impressionen von Chearth. Was meinst du, Lancia?« Und mir hatte Van einen Blick zugeworfen, der mir versprochen hatte, daß wir beide uns unsere ganz besonderen Impressionen verschaffen würden. Ich liebte Van und wollte sie zu meiner Lebensgefährtin machen. Lancia war sofort Feuer und Flamme gewesen. »Also, worauf warten wir?« hatte sie gesagt. Es war eigentlich eine Schnapsidee, natürlich, und es war klar, daß wir uns damit ein Disziplinarverfahren einhandeln würden. Aber was sollte es? Es ging heim, und wer sollte es uns schon verübeln, daß wir Abschied feiern wollten? Mal ehrlich, das hier war nicht unser Krieg. Wir waren da in etwas hineingezogen worden und hatten einen Sieg eingefahren - na ja, einen Fastsieg. Immerhin waren die Chearther auf der Siegerstraße, und was wir zu ihrer Unterstützung hatten tun können, hatten wir getan, mehr war nicht mehr drin. Die meisten Algiotischen Wanderer waren ohnehin längst mit dem Scoctoren Vil an Desch auf dem Heimweg nach Algion. Die übrigen zerfleischten sich untereinander, denn immer wieder kam es zu Scharmützeln zwischen den letzten noch in Chearth verbliebenen Anhängern Vil an Deschs und den Schiffen des unbelehrbaren Dro ga Dremm, der nicht einse-hen wollte, daß Gaintanu nicht im Sonnentresor gefangen war, und seinen Glaubenskrieg weiterführte. Descher gegen Dremmer, sagten wir dazu. Aber eigentlich war der Kampf um Chearth vorbei. Das übrige konnten die Chearther selbst erledigen. Die Haluter wollten noch eine Weile bleiben und den Chearth-Völkern technische Unterstützung geben; die Technik in Chearth hinkte ja derjenigen der Milchstraße hinterher. Aber für uns Cameloter war die Sache gelaufen, und die GILGAMESCH sollte sich in diesen Tagen aus dieser Galaxis verabschieden. Was lag da näher, als einen Abschied der besonderen Art zu zelebrieren? Eine ausgelassene Rundreise durch diese Galaxis! Es war vorhersehbar, daß wir nicht die gesamte Mannschaft dafür gewinnen konnten. Die Mindestbesatzung für einen VESTA-Kreuzer sind hundert »Mann«, aber wir flogen mit einer 52köpfigen Mannschaft los. Warum auch nicht? Das war ja kein Einsatz, es war eine Kreuzfahrt ins Blaue. An Bord herrschte Festtagsstimmung. Irgendwer begann ein Trinklied anzustimmen. Es war die monotone, aber melodisch variierte Wiederholung eines einzigen Wortes. Vi-et-nam ... Vi-et-nam ... Vi-et-nam ... - und so weiter und so fort. Das hatte einen Bezug zur Vergangenheit jener Großmacht des 20. Jahrhunderts, die Terra und das Solare Imperium mitgeprägt hatte. Aber war Chearth wirklich Vietnam? Mitnichten! Im 20. Jahrhundert hatte es auf unserer guten alten Erde ganz andere Konstellationen und Machtverhältnisse gegeben. Ich war nicht so gut in Geschichte, um da mitreden zu können, aber Chearth war etwas ganz anderes. Der Gharrer Mhogena war als Fünfter Bote von Thoregon in die Milchstraße gekommen und hatte Perry Rhodan, den Sechsten Boten, um Hilfe gebeten. Für Rhodan war es eine Entscheidung von kosmischer Tragweite gewesen. Eine Pflichtübung gewissermaßen ... »Ich weiß, ich werde ausschweifend«, sagte Conrad Festik entschuldigend. »Aber ich versuche, dir die Stimmung zu vermitteln, die damals auf der GALATHEIA herrschte. Meine Sprache ist eigentlich auch eine andere, aber... Soll ich sachlicher werden? Mich auf die Fakten beschränken?« »Nein, nein«, wehrte Tia de Mym beschwichtigend ab. »Ich mag es, wenn du emotionell bist. Ich liebe Stimmungen. Bitte, mach weiter so.« »Ich bin kein Revoluzzer oder so«, sagte Conrad Festik. »Aber nachdem wir das Ganze hinter uns hatten ..., glaubten, daß es vorbei war, stellten wir alles in Frage und wollten es uns einfach gutgehen lassen.« Festik machte eine Pause, dann gab er noch eine Erklärung ab. »Ich möchte Lancia Thurman nicht in einem falschen Licht erscheinen lassen«, sagte er. »Sie war eine vorbildliche Kommandantin. Sie hatte nur eine Schwäche: Sie führte ein Doppelleben, sie pflegte eine virtuelle Persönlichkeit. Kennst du Simusense? Okay, du kennst es. Dann kann ich mir langwierige Erklärungen sparen. Lancia baute sich über den Bordcomputer ihr eigenes Simusense auf, und darin tauchte sie in den Kampfpausen ein. Und auf diesem Touristenflug sowieso. Das ist es, was Andre Russo gemeint hat, als er sagte, sie sei auf einem Trip...« »Du kannst das Thema abkürzen«, sagte Tia de Mym leicht ungehalten. »Ich möchte einfach deine Geschichte hören, in welcher Sprachfärbung auch immer. Okay?« »Schon gut.«
Es war ein furchtbares Trommelfeuer, das die Tazolen auf uns niederließen. Auf einmal war Lancia wieder da, und sie hatte die Situation sofort im Griff. Mit ihr traf auch der Navigator Fitzgerald Ginn ein. »Wir fliegen Ausweichmanöver, nur weg aus dieser Hölle!« ordnete Lancia an. »Kanoniere: Schießt uns den Weg frei! Wir wollen keinen Kampf. Wir wollen bloß weg.« Anja hatte meine Blöße mit ihrer Jacke bedeckt. Ich mußte grinsen, sie lächelte lasziv. Anja war keine attraktive Frau, aber was für ein Mensch! Neue Salven schüttelten die GALATHEIA wieder ordentlich durch. »Unsere Schutzschirme werden richtiggehend perforiert«, meldete Bertram Hidden, der Techniker, der die Defensivabteilung übernommen hatte, gehetzt. »Die Tazolen wollen nicht mit uns spielen, die wollen uns killen!« »Aktivitäten im Space-Jet-Hangar«, meldete Anja in diesem Moment und lieferte augenblicklich ein Bild des Hangars. Es zeigte fünf Männer, die gerade die Space-Jet bestiegen. Anja fuhr fort: »Da wollen sich einige Kameraden absetzen. Einer von ihnen ist Serge Ramiroff.« Lancia war sofort zur Stelle und rief die Jet an: »Was soll das, Serge? Wollt ihr euch etwa aus dem Staub machen?« »Wir wollen bloß Verstärkung holen«, erwiderte der Angesprochene. »Kommt nicht in Frage, Serge. Die Jet bleibt im Hangar. Wir können es uns auch gar nicht leisten, für euren Ausflug den Schutzschirm zu öffnen.« Die fünf Männer waren bereits in der Space-Jet. »Uns hält hier nichts mehr, Lancia«, sagte Serge fest. »Wir fliegen auf jeden Fall und holen Hilfe. Wenn du uns nicht raus läßt, hast du uns und die Jet auf dem Gewissen.« Es war zu sehen, wie sich das Schott des Hangars öffnete und die Space-Jet ins Freie schwebte, wo jenseits des Paratronschirms ein Energiegewitter sondergleichen tobte. »Laß diese Schweinehunde raus, Bert!« befahl Lancia in ohnmächtiger Wut. »Hoffentlich halten diese feigen Bastarde wenigstens Wort und bringen Verstärkung.« Bertram Hidden öffnete eine Flugschneise im Paratron-schirm, so daß die Jet rausfliegen konnte. Sofort konzentrierte sich das Feuer der Tazolen auf diese Strukturlücke. Aber da war die Jet auch schon durch, und der Paratron hatte sich wieder geschlossen. Ich verfolgte den Flug der Jet am Orter. Aber da gab es nicht viel zu sehen. Der kleine Diskus kam nur knapp tausend Meter weit, dann explodierte er im Feuer der Tazolen. »Jetzt wird es nichts mehr mit Entsatz«, kommentierte Anja trocken. »Und Serge hat uns der letzten Möglichkeit beraubt, Kontakt mit der GILGAMESCH aufzunehmen.« Lancia fluchte hemmungslos. Und wiederum wurde die GALATHEIA von schweren Treffern erschüttert. »Staff! Jörg!« schrie Lancia Thurman daraufhin aufgebracht. »Schlaft ihr beide? Ballert diese Elcoxolsüchtigen zusammen!« Ronald Stafford und Jörge Jahunta waren die beiden Kanoniere. Und als hätte Lancias Vorwurf die beiden aufgestachelt und ihr Visier eingerichtet, explodierte eines der Knotenschiffe. Es war bloß eine kleinere Einheit, aber immerhin. »Wir sind die Tazolenkiller!« rief einer der beiden Kanoniere: Ich konnte sie nach der Stimme nicht auseinanderhalten, sie klangen einer wie der andere, gehörten einem eigenen Völkchen an. Und dann traf es die GALATHEIA wirklich hart. Es flackerte und blitzte rundum. Für einen Moment fielen die Andruckabsorber aus, und Lancia und ein paar andere stürzten hart zu Boden. Anja wurde neben mir wuchtig nach vorne geschleudert und stöhnte auf. Ich versuchte, mich mit den Händen abzustützen, und erhielt einen gewaltigen Schlag. Meine Arme waren danach wie abgestorben. Ich sah im Ortungsholo nur noch Energiegewitter. Anja bewegte sich wie betäubt, rollte den Kopf mit offenem Mund, und unser Navigator Gin-Fizz schrie: »Ich bin außer Kontrolle, kann die GALATHEIA nicht mehr lenken ... Der vierte Planet holt uns!« Der Navigator hieß tatsächlich Fitzgerald Ginn, als hätten seine Eltern diesen Spitznamen schon eingeplant: Gin-Fizz! Wo war eigentlich Van? »Rette uns zum vierten Planeten, Gin-Fizz!« verlangte Lancia. »Versuche eine sanfte Landung.« »Aye, aye!« rief Fitzgerald Ginn, lachend wie über einen guten Witz. »Sanfte Landung« konnte unter diesen Umständen wirklich nur als Scherz gemeint sein. Ich sah den Planeten auf mich zurasen ... Sauerstoffwelt ... na, wenigstens was ... Treibhausatmosphäre ... Dampfwolken ... Flammen überall, die GALATHEIA ohne schützende Schirmfelder ... wird das heiß ... es rumpelt, als würde die Kugel über ein Waschbrett rollen ... und Gin-Fizz hat einen schwarzen Fleck auf der Stirn, als hätte ein Blitz eingeschlagen ... und Anja röchelt ... und dann bricht die Wolkenschicht auf... und alles grün ... saftiggrüner Dschungel... und ein harter Aufprall... und ich ... Wo bleibt eigentlich Van? »Moment mal, bitte, Conrad«, warf Tia de Mym ein. »Was war in diesem Moment mit dir?« »Was sollte mit mir gewesen sein?« wunderte sich Conrad Festik. »Ich war bei Bewußtsein.« Tia de Mym wiederholte seine Schilderung vom Abschuß der GALATHEIA wortgetreu und hob die Stelle
»harter Aufprall... und ich...« mit besonderer Betonung hervor. »Was war mit dir, Conrad?« »Ich empfinde Scham ... Hm, aber ich muß es erwähnen ... Ich hatte im Moment des Aufpralls eine Erektion.« Tia de Mym sah ihn daraufhin voll Verblüffung an, aber sie konnte nicht glauben, daß dieser liebenswerte Bär von einem Mann in dieser Situation mit seinen sexuellen Fähigkeiten protzen wollte. Sie war sehr gespannt, wie sich seine unmotivierte Erektion aufklären würde.
6. Nach dem Absturz kehrte unheimliche Stille in die Kommandozentrale ein. Die Notbeleuchtung flackerte und verbreitete gespenstisches Licht; die Zentrale kam mir wie eine mystische Grotte vor. Nur das Knistern von Überschlagsenergien war zu hören, und irgendwer stöhnte. Der Boden war um etwa 25 Grad geneigt, die künstliche Gravitation war ausgefallen, so daß die planetare Schwerkraft wirksam wurde. Ich schätzte sie auf etwas unter einem Gravo, aber nicht viel, es war kaum ein Unterschied zu vorher zu merken. Eine Gestalt tauchte auf. Es war Lancia Thurman, die sich wie betäubt fortbewegte. »Alles mit euch in Ordnung?« fragte sie. Anja Montana saß reglos neben mir, ihr Kopf war unnatürlich verrenkt. Ich fühlte ihren Puls. »Mein Gott!« entfuhr es mir. »Anja hat es erwischt.« »Gin-Fizz auch«, sagte Lancia emotionslos. »Er ist ohne Bewußtsein.« »Und was ist mit dir?« hörte ich ihren Stellvertreter Andre Russo fragen. »Hab' nur einen Kratzer abgekriegt«, sagte Lancia. »Das sehe ich mir an«, sagte Doc Kieli, während er sich über Gin-Fizz beugte und ihm irgendein stabilisierendes Mittel unter die Haut schoß. Dann kam er in meine Richtung gestolpert, wohl um sich Anja anzusehen. Sein linker Arm hing wie leblos an der Seite herab. »Was ist mit deinem Arm, Doc?« erkundigte ich mich. »Völlig taub, aber nicht gebrochen«, antwortete er. »Werd' mich später verarzten lassen. Falls einer der beiden Medos noch funktioniert.« Er konstatierte Anja Montanas Tod, dann fragte er: »Warst du nicht mit Vanessa Gorland zusammen, Conrad? Warum ist sie nicht mit dir gekommen?« »Eine gute Frage«, sagte ich und machte mich sofort auf den Weg zu ihrer Kabine. Warum war Van mir eigentlich nicht gefolgt? Mein Herz begann plötzlich wie wild zu hämmern, in meinem Kopf war ein dumpfes Pochen. Warum bist du mir nicht nachgekommen, Van? Die Frage ließ meinen Atem schneller gehen. Der Antigravlift war ausgefallen, ich kletterte in ihm über die Steigleiter hoch zu den Quartieren. Es war fast wie Bergsteigen, als ich mich über die Schräge des Korridors zu Vans Kabine hinaufschleppte. Ich humpelte und bemerkte jetzt erst das Stechen im linken Bein. Endlich erreichte ich Vans Kabine. Das Schott stand noch offen, wie ich es zurückgelassen hatte. Und da lag Van mit seltsam entrücktem Blick. Aus ihrem Mundwinkel rann Blut, aber sie atmete. Ihre Lippen bewegten sich schwach, als führe sie ein lautloses Selbstgespräch. Ich rief als erstes in der Kommandozentrale an. Ich wußte nicht einmal, wer das Gespräch entgegennahm, sondern sagte einfach voller Hast: »Van liegt in ihrer Kabine. Sie hat vermutlich innere Verletzungen. Sie braucht dringend Hilfe. Doc Kieli soll sofort kommen.« Danach kümmerte ich mich um Van. Ich setzte mich neben sie, hob ihren Körper an und bettete ihren Kopf in meinen Schoß. Sie war auf einmal schwerer als ein Fels, obwohl sie eigentlich ein Leichtgewicht war. Sie war mir schon immer als unglaublich zartes, zerbrechliches und verwundbares Geschöpf vorgekommen, mit dem man überaus behutsam umgehen mußte. Und das tat ich auch jetzt. Sie murmelte irgend etwas, hauchte die Worte bloß, so daß sie nicht zu verstehen war. »Sssscht«, machte ich. »Ganz ruhig, Van. Es wird alles wieder gut, geliebte Van. Ich bin ja bei dir.« Sie flüsterte wieder etwas, und diesmal verstand ich sie. »Wer bist du? Du bist nicht der Lotse Phylaso ... Du vertreibst ihn ... Geh weg! Geh! Geh!« »Was redest du da, Van«, sagte ich bange. »Ich bin es, Conrad, dein Mann. Ich halte dich ganz fest. Hilfe ist unterwegs. Doc Kieli wird gleich hiersein.« »Ah, Conrad, mein Geliebter«, hauchte sie, und ein Lächeln stahl sich auf ihre blassen, zuckenden Lippen. »Ich dachte, du seiest der Lotse Phylaso, der gekommen ist, um mich nach Osyr zu holen ...« Sie fügte traurig und enttäuscht hinzu: »Aber jetzt sehe ich ihn nicht mehr ...« Ihr Körper bäumte sich plötzlich auf, und ein Blutschwall ergoß sich aus ihrem Mund. »Halte durch, Van! Doc Kieli muß jeden Augenblick hiersein.« Und dann schrie ich, so laut ich konnte: »Doc! Doc! Verdammt, wo bleibst du denn?« Sie mußten mich in der Kommandozentrale hören, denn die Verbindung stand noch. Vans Lippen bewegten sich noch immer, das erleichterte mich. Ich wischte ihr das Erbrochene vom Mund,
wiegte ihren Körper wie ein Baby. Ich beugte mich tiefer, um hören zu können, was sie mir zuflüsterte. »... mußt du wissen, Conrad ... ein paradiesischer Ort ... Osyr liegt irgend... irgendwo auf dieser Welt oder ... in einer anderen ... Versprich mir ... versprich ...« »Ja, Van, was? Ich verspreche dir alles, was du willst, werde alles für dich tun, wenn du nur ...« Mir brach die Stimme. »... versprich mir, daß ... du mit mir... nach Osyr gehst... wenn Phylaso ... Phylaso erscheint... und ...« Sie bekam einen Hustenanfall, und ich drehte sie auf die Seite, damit sie nicht an ihrem eigenen Erbrochenen ersticken konnte. Ihr Körper beruhigte sich wieder. Ihre Lippen formten noch ein einziges Wort, dann sackte sie in sich zusammen. Es war kein Leben mehr in ihr, als Doc Kieli mit einem Medo-Roboter in der Kabine auftauchte. Er sagte irgend etwas, aber seine Worte konnten mein Schluchzen nicht durchdringen. In meinen Ohren war nur ein einziges Wort. Es war jenes, das Van zuletzt von sich gegeben hatte, das ich aber nicht mehr hatte hören können. Ich hatte es von ihren Lippen ablesen müssen. Es lautete: Osyr. Osyr, Osyr, Osyr - von was hatte Van da im Angesicht des Todes phantasiert? Eine erste Bilanz zeigte, daß unsere Lage ernst, aber nicht ganz hoffnungslos war. Die GALATHEIA war nicht mehr flugtauglich und konnte mit Bordmitteln nicht mehr flottgemacht werden. Wir waren in jedem Fall auf Hilfe von außen angewiesen. Beim Absturz waren insgesamt fünf Menschen ums Leben gekommen. Es schmerzte, daran erinnert zu werden, daß Van zu den Opfern gehörte. Sieben Personen waren verletzt, darunter die Kommandantin und Doc Kieli, deren Verletzungen aber harmloserer Natur waren. Außerdem gab es noch zwei Schwerverletzte, die nach Doc Kielis Diagnose keine Überlebenschance hatten. Einer von ihnen starb innerhalb der nächsten Stunde, der andere führte einen hartnäckigen Todeskampf. Fünf Leute waren bei der Flucht mit der Space-Jet getötet worden. Das machte insgesamt elf Tote. Die Mannschaft der GALATHEIA bestand demnach noch aus 41 Überlebenden, was nach Lancia Thurmans Urteil »gemessen an der Schwere der Katastrophe keine schlechte Quote« war. Ich hätte sie für diese Bemerkung am liebsten gewürgt, aber sie hatte es nicht böse gemeint; Lancia war halt kein Sensibelchen. Eine erste oberflächliche Untersuchung der Umwelt ergab, daß wir in tiefstem Dschungel notgelandet waren. Es herrschte eine feuchte, von unzähligen Krankheitserregern erfüllte Treibhausatmosphäre. Wir würden uns also im Freien nicht ohne Schutzanzüge, zumindest nicht ohne Atemmasken bewegen können. Der offenstehende Jet-Hangar war jedenfalls verseucht. Das Positive war, daß die GALATHEIA kein Leck aufwies und demnach keine der übrigen Schiffssektionen gefährdet war. Die Lufterneuerungsanlage funktionierte ebenfalls, so daß wir bis in alle Ewigkeit mit Atemluft versorgt waren, weil auch unser Energievorrat ausreichte. Inwieweit wir die vorhandenen Energien auch in befriedigendem Maß würden einsetzen können, hing von besonderen Umständen ab, auf die Lancia Thurman erst später zu sprechen kommen wollte. Es ging nämlich um die Frage, ob das abgeschossene Knotenschiff ebenfalls auf dem vierten Planeten notgelandet war, und wenn ja, ob es überlebende Tazolen gab ... Aber wie gesagt, damit wollte sich unsere Kommandantin vorerst nicht belasten. Als weiteres Positivum war anzumerken, daß auch unsere Lebensmittelvorräte unzerstört waren und wir uns über unsere Ernährung keine Sorgen zu machen brauchten: Wir konnten für Jahre unser Auskommen finden, ohne auf die Ressourcen des Planeten Zugriff nehmen zu müssen. Das wäre ohnehin nicht ratsam gewesen, denn wenn die Atmosphäre derart mit Krankheitserregern verseucht war, dann würden es Flora und Fauna nicht minder sein. Unsere medizinische Versorgung war ebenfalls für längere Zeit garantiert, wie Doc Kieli uns versicherte. Jedenfalls für länger, als wir vorhatten, auf dieser ungastlichen Dschungelwelt zu bleiben. Mit unseren Chancen, Hilfe zu holen, sah es dagegen weniger rosig aus. Da war zum einen die Präsenz der Tazolen im X-System. Solange die mit ihren Knotenschiffen hier operierten, mußten wir uns unsichtbar machen. Das hieß im Klartext, unseren Energieverbrauch so gering wie möglich zu halten, um nicht entdeckt zu werden falls die Tazolen überhaupt aus dem Raum nach uns suchten. Unsere Situation wäre weitaus weniger prekär gewesen, wenn wir noch die überlichtschnelle Space-Jet besessen hätten. Dann hätten wir bloß abwarten müssen, bis die Tazolen abgezogen waren, und wären dann zum nächsten Stützpunkt eines Chearth-Volkes geflogen. Der war nämlich, wie uns die Sternenkarten verrieten, keine zwanzig Lichtjahre entfernt. Eine lächerliche Entfernung für eine Space-Jet, nur ein Katzensprung. Aber wir besaßen die Space-Jet eben nicht mehr. Die beiden Shifts waren dagegen voll einsatzfähig, wie uns unsere beiden Spitzentechniker Bertram Hidden und Armin Bester versicherten. Des weiteren verfügten wir auch noch über drei Ein-Mann-Raumlinsen, mit denen man zumindest den Orbit erreichen konnte. Nun, das war kein Thema, solange wir keine Klarheit über die Großlage hatten und nicht wußten, welche Gefahr uns von den Tazolen drohen konnte. Entweder aus dem Raum oder von Planet 4, falls das
abgeschossene Knotenschiff ebenfalls darauf niedergegangen war. Ich hatte zwar zusammen mit Anja Montana die Ortungsgeräte betrieben, aber ich hatte den Absturz des Knotenschiffes nicht verfolgt. Auch eine Wiedergabe der Ortungsaufzeichnung von unserem Eintreffen im System X bis zu unserer Notlandung auf Planet 4 gab keine eindeutigen Aufschlüsse über diesen Punkt. Wir besaßen nur den Kursvektor des Knotenschiffes. Es gab zwar eine Aufzeichnung über den Abschuß des Tazolenschiffes und dessen anschließende Flugbahn, aber Klarheit über sein Schicksal bekamen wir daraus nicht. Wir konnten aus dem Kursvektor des Knotenschiffes lediglich seine mögliche Landestelle berechnen. Und daraus ergab sich, daß diese höchstwahrscheinlich ebenfalls auf Planet 4 lag. In einem Gebiet von etwa zehn- bis zwanzigtausend Quadratkilometern. Ungefähr dreitausend Kilometer von uns entfernt. Aber das waren sehr unsichere Daten, denn die geringste Kurskorrektur konnte alle unsere Kalkulationen über den Haufen werfen. Also rechneten wir mit dem Schlimmsten und gingen davon aus, daß wir es auf dieser mörderischen Höllenwelt auch noch mit Tazolen zu tun haben würden. Das waren keine erfreulichen Aussichten.
7. Lancia Thurman berief in der Mannschaftsmesse eine Lagebesprechung ein, an der alle 40 Überlebenden teilnahmen. Der 41. Überlebende rang in der Medo-Station weiter mit dem Tod und wollte und wollte nicht aufgeben. Doc Kieli überließ ihn der Obhut des Medo-Roboters und begab sich ebenfalls zur Lagebesprechung. Lancia wiederholte zuerst das erfreuliche Ergebnis der Inventur und brachte anschließend all jene Punkte zur Sprache, die wir intern bereits erörtert hatten. Nach Beendigung des Lageberichts resümierte sie: »Daraus ergeben sich für uns folgende Möglichkeiten. Wir können mit den Raumlinsen in den Orbit fliegen und dort einen Hypersender mit großer Reichweite installieren. Es wäre dabei noch zu überlegen, ob wir unsere Hilferufe gebündelt in Richtung des nächsten besiedelten Chearth-Planeten ausrichten oder ob wir flächendeckend senden in der Hoffnung, daß in der Nähe befindliche Raumfahrer darauf aufmerksam werden. Die zweite Möglichkeit hat den Nachteil, daß auch zufällig vorbeikommende Algiotische Wanderer uns entdecken könnten.« Eine Frau von der Bodentruppe meldete sich zu Wort, deren Name Rana Sindede war. »Warum installieren wir nicht gleich zwei Hypersender?« schlug sie vor. »Die sowohl zielgerichtet als auch mit Breitenwirkung funken?« »Auch das wäre eine Möglichkeit, die technisch sicher kein Problem ist«, antwortete Lancia. »Aber bevor wir an die Verwirklichung dieser Absicht gehen, müssen wir uns zuvor absichern. Wir müssen damit rechnen, daß wir uns Planet 4 mit Tazolen teilen. Und daß diese Schiffbrüchigen von unserer Anwesenheit wissen. Also müssen wir uns zuvor über die Stärke der Tazolen informieren beziehungsweise herauszufinden versuchen, inwieweit sie gegen uns aktiv werden könnten. Erst wenn das geregelt ist, können wir über die Installation eines Hypersenders weiterreden.« »Das heißt, du willst mit einem Shift einen Erkundungsflug auf gut Glück starten, Lancia?« hakte Rana Sindede nach. »Ist dir klar, daß es Wochen und Monate dauern kann, bis du fündig wirst, wenn überhaupt? Und so lange willst du uns auf diesem gottverdammten Planeten schmoren lassen?« »Wir müssen uns keineswegs auf Zufälle verlassen«, erwiderte Lancia. »Wir können aus dem Kursvektor des Knotenschiffes die ungefähre Absturzstelle berechnen und die Suche auf ein Gebiet von einigen tausend Quadratkilometern beschränken. Das gibt uns eine gute Chance auf Erfolg.« »Wenn das so einfach ist, worauf warten wir dann noch!« sagte Rana Sindede vorwurfsvoll. »Je eher wir von hier wegkommen, desto besser. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, daß die GILGAMESCH ewig auf uns warten wird.« »Wir sind hier, um diese Aktion zu beschließen«, sagte Lancia Thurman. »Ich brauche dafür vier Freiwillige. Wer meldet sich?« Meine Hand schoß wie von selbst in die Höhe. Aber ich war nicht der einzige, außer mir meldeten sich noch gut ein Dutzend weitere Freiwillige. Darunter die beiden Kanoniere Ronald Stafford und Jörge Jahunta. Und Rana Sindede. Lancia sah mich prüfend an. »Glaubst du wirklich, daß es eine gute Idee ist, wenn du dieses Unternehmen leitest, Conrad?« fragte sie mich. »Immerhin bist du persönlich betroffen.« »Ich kann sehr gut persönliche Motive ausklammern«, sagte ich, obwohl ich durchaus wußte, daß es gerade diese waren, die mich veranlaßten, mich zu melden. Ich betonte: »Ich bin ganz cool.« »In Ordnung, dann übernimmst du das Kommando über Shift l, Conrad«, entschied Lancia. Für die Bedienung des Shiftgeschützes wählte sie den »Tazolenkiller« Jörge Jahunta aus. Als Steuermann bestimmte sie Antal Noell, der diesen Job sowieso innehatte, und als vierten »Mann« teilte sie uns Rana Sindede zu. Sie hatte nicht nur Kampfausbildung, sondern war auch Doktor der Xenologie; weiß der Henker,
warum sie nicht lieber auf ihrem Wissensgebiet tätig war, anstatt in der kämpfenden Truppe Kopf und Kragen zu riskieren. »Ihr habt eine Stunde Zeit, um euch auf den Einsatz vorzubereiten«, sagte Lancia Thurman abschließend. In diesem Moment ertönte ein eindringliches Piepsen, und der Bordarzt Jan Kieling sprang wie von der Tarantel gebissen hoch. »Mein Notfallpatient braucht mich«, sagte er entschuldigend und eilte davon. Irgend etwas, das mir in diesem Moment nicht bewußt war, veranlaßte mich, ihm zu folgen. »Was willst du denn hier?« herrschte mich Doc Kieli an, als ich hinter ihm die Intensivstation betrat. »Vans Tod ... die Art, wie sie starb ... was sie sagte ...«, stotterte ich. Aber er hörte mir gar nicht mehr zu, sondern widmete sich dem Patienten, dessen Körper von einer Nährlösung umspült wurde; der Kopf wurde durch eine Nackenstütze angehoben, so daß sein Gesicht aus der Flüssigkeit herausschaute. Der Mann war an eine Batterie von lebensrettenden - in diesem Fall sollte man wohl aber sagen: lebensverlängernden - Geräten angeschlossen. Sein Oberkörper war völlig vermummt, förmlich in Bioplast verpackt. Selbst der Kopf mitsamt der Augenpartie war in Bioplast eingehüllt, nur die Nasenöffnungen und der Mund waren frei. Lippen besaß der Mann keine mehr, das Gebiß lag völlig offen. Er mußte schlimme Verbrennungen davongetragen haben. Plötzlich schrie der Mann auf, gab einen schrecklichen gurgelnden Laut von sich. »Geh weg! Verschwinde!« keuchte er und ruckte verzweifelt mit seinem gequälten Körper, so als könne er dadurch den Alptraum verscheuchen, der ihn plagte. »Schafft den Schatten weg. Er hat den Lotsen verscheucht.« »Ich bin es doch nur, Dr. Jan Kieling«, redete Doc Kieli auf den Patienten ein. »Ich bin hier, um dir zu helfen.« »Da ist noch jemand, ich sehe ihn«, beharrte der blinde Patient. »Ein dunkler, böser Schatten. Der hat den Lotsen Phylaso vertrieben ... Der Schatten soll abhauen, damit Phy-laso zurückkommt.« Doc Kieli warf mir einen bezeichnenden Blick zu, der besagte: Er kann damit nur dich meinen, Conrad Aber ich rührte mich nicht. »Was wollte der Lotse Phylaso von dir, Ken?« fragte Doc Kieli den Patienten. »Er ist gekommen, mich ins Paradies Osyr zu holen«, sagte Ken und schluchzte auf. »Aber jetzt ist er weg, weil der dunkle Schatten ihn vertrieben hat. Ich habe keinen Kontakt mehr zu Phylaso. Der Schatten soll verschwinden ... Bitte, Doc, mach, daß der Schatten geht. Bitte!« »Wenn es dich erleichtert«, sagte Doc Kieli und wandte sich mir zu. Er flüsterte so leise, daß Ken ihn nicht hören konnte: »Bitte geh, Conrad. Du bist offensichtlich ein Störfaktor, der Ken aus irgendwelchen Gründen aufregt. Er macht es nicht mehr lange. Und wir wollen doch beide, daß er sich in Frieden von dieser Welt verabschiedet. Also ...« Ich nickte mit zusammengepreßten Lippen und wollte gehen. Aber Doc Kieli hielt mich noch einmal am Ärmel zurück. »Hat dich Van im Augenblick des Todes auch abgelehnt, Conrad?« wollte er wissen. »Van hat mich geliebt«, zischte ich und verließ die Intensivstation. Ich verschwieg ihm, daß auch Van irgend etwas an mir störend empfunden hatte, auch wenn ihre Reaktion lange nicht so drastisch wie bei Ken gewesen war. Aber Van hatte mich eben wirklich geliebt. Ich sammelte meine Shiftmannschaft um mich, und gemeinsam bereiteten wie unser Unternehmen vor. Jörge Ja-hunta und Antal Noell sollten den Shift einem letzten Check unterziehen, damit wir nicht etwa mitten im Dschungel eine böse Überraschung erlebten. Rana Sindede beauftragte ich damit, alle verfügbaren Daten über den Planeten in den Shiftcomputer zu übernehmen und natürlich auch diejenigen über die mutmaßliche Absturzstelle des Knotenschiffes. Ich gab vor, mir von Lancia Thurman noch Instruktionen holen zu müssen, wollte mit ihr aber etwas ganz anderes bereden, was die anderen nichts anging. Der Zufall wollte es, daß auch Doc Kieli bei ihr war, und an ihren Reaktionen merkte ich, daß sie über mich gesprochen hatten. »Wie geht es Ken?« fragte ich den Doc. »Kaum warst du weg, ist er friedlich entschlummert«, antwortete er mit nicht zu überhörendem Vorwurf. »Was ist mit dir los, Conrad?« fragte mich Lancia geradeheraus. »Gibt es da irgendeinen dunklen Punkt, den du uns verheimlicht hast?« »Unsinn«, sagte ich verärgert. »Wenn irgend etwas mit mir nicht stimmen würde, glaubst du, daß man mich dann auf der GILGAMESCH genommen hätte?« »Aber irgend etwas stimmt doch nicht, oder?« meinte Lancia. »Wie erklärst du dir Kens Ablehnung dir gegenüber?« »Es könnte mit psionischer Beeinflussung zu tun haben, anders kann ich es mir nicht erklären«, sagte ich. »Als Van vor ihrem Tod vom Lotsen Phylaso und dem Paradies Osyr phantasierte, hielt ich das noch für blanken Unsinn. Eben für die Phantasien einer Sterbenden. Aber da sich das mit Ken wiederholte, muß man jeglichen Zufall ausschließen.« »Und warum könnte Ken dich als bedrohlichen Schatten bezeichnet haben, Conrad?« fragte Lancia
Thurman mißtrauisch. »Ich habe nur eine mögliche Erklärung«, sagte ich. »Ich mußte mich vor fünfzehn Jahren einer Gehirnoperation unterziehen. Seit damals befinde ich mich in einem Zustand, der einer Mentalstabilisierung gleichkommt. Ich kann parapsychisch nicht beeinflußt werden.« »Aha, dann hast du also doch ein dunkles Geheimnis«, sagte Lancia. »Oder steckt vielleicht mehr dahinter? Vielleicht entwickeln Sterbende eine besondere Übersensibilität und können deine dunkle Seite erfühlen. Ist es so, Conrad?« »Was für ein Geschwätz«, sagte ich heftig. »Möglich, daß ich ein Störfaktor bin. Aber für keinen der Menschen an Bord der GALATHEIA. Dann schon eher für irgend etwas da draußen, was euch zu beeinflussen versucht.« »Ich habe noch nichts von einer Beeinflussung gemerkt«, sagte Lancia lakonisch. »Du etwa, Doc?« Auch Doc Kieli verneinte. »Vielleicht liegt das daran, daß ich euer Schutzengel bin«, sagte ich feixend. »Bitte gebt während meiner Abwesenheit Obacht. Und laßt euch nicht auf irgendwelche obskuren Gedanken bringen.« Jetzt mußte auch Lancia grinsen. »Entschuldige, Conrad, ich hab' mich ganz blöd verhalten«, sagte sie treuherzig. »Paß lieber du auf dich auf und komm mir wieder heil zurück.«
8. Mit Lancia hatte ich vereinbart, daß wir - außer in Notfällen -jeglichen Funkverkehr vermieden, um die Tazolen nicht auf uns aufmerksam zu machen. Das gefiel ihr zwar nicht sonderlich, aber sie sah diese Notwendigkeit schließlich ein und stimmte zu. Als wir mit dem Shift aus dem Hangar ins Freie glitten, stießen wir gegen eine Wand aus allen möglichen Schlingpflanzen, die sich inzwischen um die GALATHEIA gelegt hatten. Mit einem kurzen, breitgefächerten Feuerstoß aus dem Impulsgeschütz räumte uns Jörge Jahunta den Weg frei. Sofort hob ringsum ein wütendes Keifen und Brüllen an. Verkohlte Tierkadaver flogen durch die Luft, und Horden verschiedenster Tierarten nahmen Reißaus. Nur zwei Exemplare einer riesengroßen, reptilienartigen Tiergattung dachten nicht an Flucht, sondern stürzten sich fauchend und mit gewaltigen, weit aufgerissenen Mäulern auf den Shift, als vermeintliche Beute. Selbst als sie sich am Schutzschirm elektrisierten, starteten sie weitere Attacken; der Schmerz stachelte sie vermutlich nur zu noch größerer Raserei an. Aber bereits ihre dritte Attacke ging ins Leere, denn da hatte Antal Noell den Shift bereits hochgezogen, und wir glitten durch die Schneise, die das Bordgeschütz der GALATHEIA gebrannt hatte, zum wolkenverhangenen, violett-stichigen Himmel empor. »Bleib dicht über den Baumkronen, Noell!« ordnete ich an. »Wieso, es besteht doch keinerlei Ortungsgefahr für uns«, meinte der Steuermann. Plötzlich schoß aus dem Dschungeldach ein mächtiger, doppelt mannsdicker Schlingarm mit einer ganzen Menge tentakelartiger Auswüchse und wollte sich den Shift angeln. Es ging alles so schnell, daß es nicht auszumachen war, ob das Ding tierischer oder pflanzlicher Natur war. Jedenfalls wehrte der Schutzschirm den Angriff ab, und das Gebilde fiel zuckend und die Luft durchpeitschend wieder ab. »Du kannst ruhig auch höher gehen, Noell«, änderte ich meine Meinung. Er lachte schadenfroh und zog den Shift nach oben, bis knapp unter die Wolkendecke. »Ganz schön aggressiv, die Natur dieser Welt«, stellte Rana Sindede mit wiegendem Kopf fest. »Das findet man selten, daß ganz unterschiedliche Tiergattungen sich geschlossen gegen eine vermeintliche Beute wenden, ohne sich gegenseitig aufzufressen. Die GALATHEIA wird ja regelrecht von allen möglichen Räubern belagert. Ich frage mich, ob sie so außergewöhnliche Sinne haben, daß sie uns hinter der Schiffshülle wittern können.« »Könnten Psi-Sinne mit im Spiel sein?« fragte ich. »Ich möchte mich nicht festlegen ... Aber möglich wäre es schon, daß sie unsere Gefühlsaura auf psionischer Ebene empfangen können. Sie müssen uns jedenfalls ausgemacht haben und wissen, daß wir eine überaus leckere Beute abgeben würden.« »Woran könnte es liegen, daß die Räuber zueinander so friedlich wie auf der Arche Noah sind?« erkundigte sich Antal Noell. »Vielleicht sind sie voneinander so übersättigt, daß sie nur auf besondere Leckereien aus sind«, meinte Jörge Jahunta lachend. »Auf Menschenfleisch zum Beispiel, haha!« »Könnte es sein, daß die Bestien von einer zentralen Psi-Macht gesteuert werden?« schloß ich an Antal Noells Frage an. Die Xenologin lachte unsicher. »Das geht mir zu weit. Oder wollt ihr mich etwa bloß verulken?« »Okay, lassen wir das«, machte ich den Spekulationen ein Ende. Eine solche Diskussion hätte ohnehin zu nichts geführt, weil von Rana Sindede keinen profunden Aussagen zu erwarten waren, denn sie wußte über Planet 4 sowenig wie wir. Und ihre Ausbildung war ja
nicht von der Art, daß sie Prophezeiungen machen konnte. Ich wechselte das Thema. »Sehen wir uns einmal die Karte an.« Ich aktivierte das Holodisplay über dem Steuerpult und beschränkte es auf die Maße 70 mal 70 Zentimeter. Das war eine handhabbare Größe, nicht zu klein und groß genug, um auch Details in größerem Maßstab herauszufiltern. Während des Absturzes hatte die Automatik eine Infrarotaufnahme von dieser Seite der Planetenkugel gemacht und sie in Echtfarben umgesetzt. Wir waren tausend Kilometer nördlich des Äquators notgelandet, an der Nordspitze eines reichlich von Seen und Wasserläufen zerrissenen Kontinents, der quer über den Äquator verlief und 2000 Kilometer breit war. Die vermutliche Absturzstelle der Tazolen lag in etwa 3000 Kilometer südlich des Äquators. Bei diesem Gebiet handelte es sich um eine Kette aus unzähligen kleineren und größeren Inseln, und einige der Inseln besaßen aktive Vulkane. »Wäre doch schön, wenn die Tazolen in einen der Vulkane gestürzt wären und längst in der Hölle schmorten«, meinte Jörge Jahunta. »Vielleicht sind sie auch abgesoffen«, schlug Antal Noell in dieselbe Kerbe. »Im feuchten Grab können sie wenigstens nicht austrocknen.« Er spielte damit auf die Tatsache an, daß die Tazolen permanent ihre Haut salben mußten, um sie geschmeidig zu halten und sie zu regenerieren. Ihre ganze Kultur war auf Baderitualen aufgebaut, und sie waren auf das lebensverlängernde Elcoxol angewiesen. Sie waren geradezu süchtig danach. Aber in Chearth war dieses lebensnotwendige Elixier inzwischen ziemlich rar geworden, was die hiergebliebenen Tazolen vor schier unlösbare Probleme stellte. Ich markierte das in Frage kommende Gebiet von etwa zehntausend Quadratkilometern. Da es bloß zu zwanzig Prozent aus Land bestand und wir einen ganzen Tag Zeit hatten, weil die Sonne gerade erst aufgegangen war, beschloß ich bei mir, eventuell auch ein noch größeres Gebiet abzufliegen. Aber das behielt ich vorerst für mich. Ich speicherte den Plan und vergrößerte das Display, so daß es über die gesamte vordere Wand reichte. Dann schaltete ich auf Echtsicht um, und das unter uns liegende Gebiet umhüllte uns förmlich. Störend in diesem Szenario wirkten lediglich die Navigationsdaten für Antal Noell. »Von hier oben mutet dieser Planet so friedlich, ja geradezu paradiesisch an«, sagte Rana Sindede verträumt. »Erinnert dich der Anblick an das Land Osyr?« fragte ich. »Was ist Osyr? Noch nie davon gehört.« Ich überlegte mir, ob ich sie aufklären sollte, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Das hätte vermutlich nur für Komplikationen gesorgt. »Ist nicht von Bedeutung«, sagte ich darum nur. Und fügte hinzu: »Wäre das nicht ein passender Name für diesen Planeten? Osyr?« Wir erreichten ohne besondere Vorkommnisse das Zielgebiet. Die Wasserfläche erstreckte sich von Horizont zu Horizont und wurde nur durch eine Vielzahl von Inseln aufgelockert. Wir überflogen alle Arten von Inseln, grüne, buschige Eilande, manche von glitzernden Sandstränden umsäumt; andere mit schroffen Steilküsten und unwegsamen, grün wuchernden Hochebenen; dann gab es Inseln, die nur aus karstigen Vulkankegeln bestanden, aus deren Kratern Rauch qualmte; dazwischen erstreckten sich malerische Atolle und gischtumschäumte Korallenriffe. Das Meer war hier klar und zumeist seicht, kaum tiefer als 40 Meter, so daß man bis zum Grund sehen und mit freiem Auge erkennen konnte, daß es hier keine Fremdkörper tazolischer Technik gab. Aber quer durch dieses Gebiet zog sich auch ein Wassergraben, der Tausende Meter tief war. Diesem mußte unsere besondere Aufmerksamkeit gelten - und natürlich den Inseln mit den undurchdringlichen Dschungeln. Ich befahl Antal Noell, tiefer zu gehen und die Geschwindigkeit so weit zu drosseln, daß wir auch Muße hatten, Sichtbeobachtungen zu machen. Aber wir sahen nichts als endlose, quirlende Fischschwärme und vereinzelt größere Meeresbewohner auf Beutezug, die sich jedoch sofort in tiefere Regionen oder in Verstecke zurückzogen, wie sie die bunten Korallenbänke in reichem Maße boten. Die bewaldeten Inseln dagegen zeigten eine grüne Gleichförmigkeit, die durch keinerlei unnatürliche Einwirkungen unterbrochen wurde, etwa Brandherde oder Schneisen, die durch den Einschlag eines großen Körpers wie eines tazolischen Raumschiffs geschlagen worden waren. Überall nur unberührte Natur. Und auch unsere Masse-, Energie- und Metalltaster schlugen nicht aus. Es gab hier nirgendwo ungewöhnliche Energiequellen, keine Ballung exotischer Metall-Legierungen, keine Massekonzentration, die auf technischen Ursprung schließen ließ - selbst in den tiefsten Tiefen des Wassergrabens nicht. Nur Natur pur. »Bist du enttäuscht oder erleichtert, Festik?« fragte mich Rana Sindede. »Unzufrieden«, antwortete ich mürrisch. Mir wäre die Sichtung eines Wracks als Beweis dafür, daß uns von Tazolen keine Gefahr mehr drohte, natürlich lieber gewesen. Aber wenn wir hier keine Spur von Tazolen fanden, hieß das noch lange nicht, daß keine auf Planet 4 - auf Osyr - gestrandet waren. Da wir unseren Zeitplan unterschritten hatten, ließ ich den Shift abschließend noch eine größere Runde um
das Zielgebiet drehen. Aber auch das brachte nichts ein. »Wir kehren um«, beschloß ich. »Wenn die Tazolen noch tiefer im Süden sind, bedeuten sie kaum mehr Gefahr für uns. Je größer die Entfernung, desto geringer die Gefahr.« »Sie könnten aber auch näher zu uns niedergegangen sein«, meinte Antal Noell. »Der Kursvektor sagt überhaupt nichts Bindendes aus.« »Ich gebe dir recht, Noell«, stimmte ich ihm zu. »Wir fliegen im Zickzackkurs und mit höherem Tempo zurück, damit wir ein möglichst großes Gebiet abstecken können. Oder hat es jemand von euch eilig, zur GALATHEIA zurückzukommen?« Alle lachten, und Jörge Jahunta sagte: »Ich bitte lediglich darum, daß du mir ein paar Tazolen als Zielscheibe lieferst.« Wir hatten das Meer längst hinter uns gelassen und flogen bereits über den südlichen Teil des Kontinents, an dessen Nordspitze die GALATHEIA notgelandet war. Die Wolkendecke war aufgebrochen, und die Sonne schien. Unter uns erstreckte sich ausgedehntes Sumpfland, die Sonnenscheibe, die sich zum Horizont neigte, spiegelte sich in den vielen Wasserstellen. Plötzlich schlugen die Ortungsgeräte aus. Ich war gerade in der Kombüse, um Kaffee zu brühen, als Rana Sindede Alarm auslöste. Augenblicklich war ich bei ihr. »Ich hab' da ein Objekt eingefangen«, berichtete sie aufgeregt, »das in Größe und Masse einem kleineren Knotenschiff entsprechen könnte. Es besteht aus einer Metall-Legierung. Aber ich kann keine Energiequelle anmessen.« »Die haben sie wohl abgeschaltet, als sie uns kommen sahen«, vermutete ich. »Die Tazolen wollen sich totstellen und hoffen, daß wir sie übersehen.« Ich peilte das Objekt an. Es lag in sumpfigem Gelände, das durchsetzt war von hohen, schlanken Baumriesen mit weit ausladenden, fächerartigen Kronen. Ich verschaffte mir eine Vergrößerung des betreffenden Gebiets, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. »Soll ich das Objekt ansteuern?« wollte Antal Noell wissen. »Bleib erst einmal auf Kurs!« verlangte ich. Und gleich darauf war das Objekt aus der Ortung verschwunden. »Was nun?« fragte Rana Sindede. »Wir kehren in einer Schleife um und werden das Objekt in geringer Höhe von Norden anfliegen«, entschied ich. »Wir müssen uns vergewissern, ob es wirklich Tazolen sind. Und ich möchte alles über ihre Situation und Stärke erfahren. Die sind keine zwölfhundert Kilometer von der GALATHEIA entfernt!« Noell flog einen großen Bogen und kehrte dann von Norden in das Gebiet zurück, in dem wir das unbekannte Objekt geortet hatten. Es konnte sich dabei, der Legierung nach, eigentlich nur um ein Tazolenschiff handeln. Aber ich mußte mir Gewißheit verschaffen - und alle erfahrbaren Einzelheiten auskundschaften. Wir befanden uns in einer Höhe von 300 Metern. Die Entfernung betrug noch 3000 Meter. Bei 2500 Metern schlug die Ortung wieder an. Ich ließ Noell die Geschwindigkeit weiter drosseln, so daß wir uns förmlich an das geortete Objekt heranschlichen. Ich bekam ein detailliertes Ortungsbild eines tazolischen Knotenschiffes von 150 Metern Durchmesser. Schiffe solcher Größenordnung hatten in der Regel eine dreihundertköpfige Besatzung, aber vielleicht war dieses unterbesetzt, so wie die GALATHEIA auch. Oder überbelegt ... Ich verwarf solche Spekulationen, sie halfen in keiner Weise weiter. Es war schlimm genug, daß die Tazolen so nahe unserem Landeplatz niedergegangen waren. Wenn sie erst unseren Standort ausgekundschaftet hatten, dann wurden sie wohl nicht lange auf sich warten lassen. Eines war jedenfalls gewiß: Sie mußten den Shift geortet haben und wußten nun, daß Galaktiker mit ihnen auf Planet 4 gestrandet waren. Sie wußten sehr gut zwischen der Technik der Chearther und der unseren zu unterscheiden. Ich hoffte, daß wir ihnen mehr Respekt einflößten als Chearther ... Als wir die 2000-Meter-Marke unterschritten, wurde der Alarm ausgelöst. »Objekt im Anflug!« rief Rana Sindede. Noell versuchte noch ein Ausweichmanöver, aber da erfolgte bereits eine gewaltige Explosion, die den Shift durch die Lüfte schleuderte. Dank des HÜ-Schirmes entstanden jedoch keine Schäden. Gleich darauf gab es eine weitere Explosion direkt vor dem Shift. Noell verlor für einen Moment die Kontrolle über den Flugpanzer, konnte ihn aber knapp über den Baumkronen wieder abfangen. »Soll ich den Elcoxoltauchern Antwort geben?« schrie Ja-hunta über das Ächzen und Kreischen geschundenen Materials und der draußen tobenden Gewalten hinweg. »Antworte mit allem, was du hast, Jahunta!« befahl ich dem Kanonier. »Und du, Noell, fliege mit größtmöglicher Beschleunigung über das Wrack der Tazolen hinweg. Wir brauchen alle erreichbaren Daten über sie.« »Mach' ich!« Der Shift wurde im nächsten Moment nach vorne gerissen und schoß so schnell über das Dschungeldach hinweg, daß es zu einer einförmigen grünen Masse verschwamm. Jahunta war in seinem Element. Er feuerte pausenlos aus dem doppelläufigen Impulsstrahler und durchfurchte den Dschungel mit einer brennenden Straße der Vernichtung. Gleichzeitig feuerte er alle sechs
Schmelzraketen ab, die sich mittels Desintegratorstrahlen selbst durch widerstandsfähigstes Material ihren Weg bahnten und erst danach explodierten - im Innern des gewünschten Zieles. Während die Luft um uns von unzähligen Detonationen erschüttert wurde, die jedoch ausschließlich kleinere Kaliber als Ursache hatten, fegten wir über das Knotenschiff hinweg. Ich konnte feststellen, daß es durch keinerlei Feldschirme geschützt wurde, und wunderte mich darüber sehr. Das konnte nur bedeuten, daß ihre Schutzschirmaggregate ausgefallen waren. Gleichzeitig bekam ich in einer Art Momentaufnahme zu sehen, wie unzählige winzige Gestalten aus ihren Handstrahlern auf uns feuerten. Das diente jedoch lediglich zum Aggressions- und Frustabbau für die Tazolen, unserem Shift konnten sie damit nichts anhaben ... Dann waren wir über das Knotenschiff hinweggeflogen - und hinter uns erfolgte eine Reihe von Explosionen. Ohne Zweifel hatten die Schmelzraketen den Weg ins Innere des Knotenschiffes gefunden und entfalteten nun ihre volle Wirkung. Jahunta stieß einen Triumphschrei aus und rief: »Die habe ich alle gemacht.« »Wir kehren zur GALATHEIA zurück!« befahl ich Noell. Ich konnte keinen Triumph empfinden. Ich hatte keinerlei Rachegelüste befriedigen können, denn ich hatte gar keine gehabt. Der Tod der Tazolen machte Van auch nicht wieder lebendig. Und nicht nur, daß ich fälschlich geglaubt hatte, der Krieg in Chearth sei für uns längst beendet, ich mußte nun auch befürchten, daß durch unseren Konterschlag gegen die Tazolen die Gefahr für uns keineswegs beseitigt war. Jetzt, da sie ihre Überlebensgrundlagen - ihr Raumschiff - eingebüßt und nichts mehr zu verlieren hatten, würden die Tazolen mit allen noch zur Verfügung stehenden Machtmitteln gegen uns vorgehen. Das hieß, wenn sie unseren Standort herausfanden. Was hoffentlich nicht der Fall sein würde. Wir legten die 1200 Kilometer bis zur GALATHEIA mit eingeschaltetem HÜ-Schirm und rumpelnden Triebwerken zurück. Der Shift hatte also auch einiges abbekommen, aber da Antal Noell nicht klagte, konnte der Schaden nicht allzu groß sein. Auf halbem Wege gerieten wir in einen Schwärm von furchterregend anzusehenden urweltlichen Riesenvögeln, die den Shift zu attackieren versuchten, sich jedoch bloß versengte Federn und angeknackste Schnäbel holten. Dennoch gab uns der Vogelschwarm bis zuletzt das Geleit und drehte dann knapp vor dem Landeplatz der GALATHEIA ab. Den HÜ-Schirm schalteten wir erst unmittelbar vor Hinflug in den Shifthangar aus, und darum ortete Rana Sindede erst zu spät den Fremdkörper, der uns im Windschatten gefolgt war. »Wir haben ein Anhängsel mitgeschleppt«, stellte sie entsetzt fest. Es half nichts mehr, daß Jahunta die Spionsonde der Tazolen mit einer Killersonde eliminierte. Die Spionsonde hatte sicherlich schon längst unsere Landekoordinaten an die Tazolen gefunkt. Und nun kannten sie unseren Standort.
9. Lancia hörte unserem Bericht über die Vernichtung des Tazolenschiffes aufmerksam zu, und sie trug es mit Fassung, daß die Tazolen unseren Standort ausgekundschaftet hatten. »Die pfeifen auf dem letzten Loch«, tat sie die Sache als Bagatelle ab. »Ich glaube nicht, daß sie uns noch viel anhaben können.« Dann nahmen wir die Auswertung der Aufnahmen vor, die wir beim Überfliegen des Tazolenschiffes gemacht hatten. Es stellte sich heraus, daß die Tazolen rings um ihr Knotenschiff ein ausgedehntes Lager errichtet hatten, das aus mehreren kleineren Fertigteilgebäuden und einer Energiekuppel bestand. Die Aufnahmen zeigten auch ein Dutzend Schweber mit höchstens vier Mann Fassungsvermögen, dazu zwei Transportgleiter und sieben Geschützstellungen. Ein Energiezaun schützte das Lager gegen die wuchernde Flora und die aggressive Tierwelt. Auffallend war, daß einige Tazolen zu sehen waren, die sich ohne Schutzanzüge im Freien bewegten. Das konnte nur bedeuten, daß sie entweder gegen die Krankheitserreger in der Atmosphäre immun waren oder nicht über genügend Schutzanzüge verfügten. Wir kamen überein, daß die Zahl der überlebenden Tazolen zu diesem Zeitpunkt etwa hundert betragen haben mußte. Durch die Zerstörung ihres Schiffes mochte sich ihre Zahl drastisch verkleinert haben. Aber selbst wenn sie nur noch 30 oder 40 Mann waren, konnten sie noch unangenehm für uns werden. Sie kannten unseren Standort, und sie besaßen die Möglichkeit, mit ihrer gesamten Truppenstärke anzugreifen. Ihre Fluggefährte besaßen das erforderliche Fassungsvermögen, um auch ihre schweren Geschütze zu transportieren - selbst dann noch, wenn einer der Transportgleiter und der eine oder andere Schweber bei unserem Angriff vernichtet worden waren. Allerdings würden ihnen diese Geschütze ohne die Energiemeiler des Schiffs wenig nützen. Aber die Tazolen selbst blieben ein schwer kalkulierbarer Faktor. »Wie auch immer, wir werden uns auf eine tazolische Offensive vorbereiten müssen«, sagte ich eindringlich zu Lancia. Ich wollte sie damit wachrütteln, denn die Kommandantin wirkte wie abwesend, so als sei sie überhaupt nicht bei der Sache, sondern in Gedanken weit, weit fort. »Was schlägst du an
Gegenmaßnahmen vor?« »Ich weiß nicht«, sagte sie entrückt. »Vielleicht gibt es eine Alternative zu Kampf und Blutvergießen ...« Diese Aussage irritierte mich. Lancia Thurman dachte doch nicht wirklich daran, mit den Tazolen über einen Waffenstillstand zu verhandeln. Die Dremmer - und es konnte sich bei den Tazolen, mit denen wir es zu tun hatten, nur um Getreue des Sektierers Dro ga Dremm handeln - waren blindwütige Fanatiker und keinerlei vernünftigen Argumenten zugänglich. Dann fiel mir aber etwas anderes ein, was Lancia mit »Alternative« gemeint haben könnte. »Wenn du an die Installation eines Hypersenders im Orbit denkst, dafür erscheinen mir die Voraussetzungen günstig«, sagte ich. »Es kann als sicher gelten, daß die übrige Flotte der Knotenschiffe das System X bereits verlassen hat. Denn andernfalls hätten die auf Osyr Gestrandeten längst schon per Hyperfunk Hilfe angefordert - und wohl auch bekommen. Also den Hypersender können wir ungefährdet installieren, aber das bewahrt uns nicht vor der Konfrontation mit den Tazolen.« »Osyr«, sagte Lancia, als sei dies ein Name mit magischer Kraft. Und wieder: »Osyr ...« »Ich nenne Planet 4 so, mangels eines besseren Begriffes«, erklärte ich. »Und weil auch Van und Ken diesen Namen in ihren Fieberphantasien verwendet haben.« Lancia sah mir fest in die Augen und sagte: »Mit Osyr kann nicht dieser Planet gemeint sein. Osyr ist ein paradiesisches Land, das ganz woanders liegt, vielleicht sogar in einer anderen Dimension - und das doch nicht fern sein soll. Osyr ist vielleicht die Alternative zu einer blutigen Auseinandersetzung mit den Tazolen.« »Und wie kommst du plötzlich darauf?« fragte ich mißtrauisch. »Ich hatte während deiner Abwesenheit ein Erlebnis, das mich nachdenklich gestimmt hat. Und nicht nur ich hatte ... dieses Gesicht... Auch anderen erging es ähnlich. Jetzt ist auf einmal alles wieder in weite Ferne gerückt, erscheint mir alles plötzlich so unwirklich, traumhaft geradezu.« Sie schüttelte den Kopf, wie um irgend etwas zu verscheuchen. Dabei sah sie mich mit leichtem Vorwurf an, als würde sie mich dafür verantwortlich machen. »Was ist dir widerfahren, Lancia?« fragte ich mit belegter Stimme. »Ich werde es dir erzählen«, sagte Lancia. »Aber wie gesagt, ich bin nicht die einzige Betroffene. Hör dir zuerst an, wie es anderen ergangen ist...« Simon Bredders Geschichte: Er war nur ein unbedeutender Service-Mann, ohne besondere Ausbildung, aber mit einem angeborenen Verständnis für technische Dinge. Das hatte man auch auf Camelot zu schätzen gewußt. Aber der Teufel mußte ihn geritten haben, als er sich für den Chearth-Feldzug gemeldet hatte. Simon hatte gemeint, daß es mit 99 Jahren seine letzte Chance sei, noch einmal in die Weiten des Alls zu reisen. Dabei hätte er sich ausrechnen können, daß er nicht kosmische Wunder zu sehen bekommen würde, sondern nur Leid, Elend und Massenvernichtung. Das hatte er nun davon. Dabei wäre er heil davongekommen, wenn er die letzte Fahrt der GALATHEIA nicht mitgemacht hätte. Gut die Hälfte der Mannschaft hatte den Abschied von Chearth in der GILGAMESCH gefeiert. Aber er hatte ja an dieser Rundreise teilnehmen müssen, weil er wieder einmal die letzte Chance gesehen hatte, kosmische Wunder kennenzulernen. Das Angebot war aber auch zu verlockend gewesen: ohne Einsatzbefehl und ohne Auftrag zu den Sehenswürdigkeiten von Chearth zu fliegen, wie etwa dem Sonnentresor aus 60 Sonnen, der nach dem Kollaps einen besonders eindrucksvollen Anblick bieten mußte ... oder den Gomrabianischen Hyperraumhügeln, die einen großen Teil der Flotte der Algiotischen Wanderer verschlungen hatten ... Ja, diese kosmischen Phänomene und einige andere mehr hätte er gerne mit eigenen Augen gesehen. Aber bevor es überhaupt dazu kommen konnte, waren sie auf dieser mörderischen Welt gestrandet. Und darüber hinaus saßen ihnen auch noch die Tazolen im Nacken. Das hatte er nun davon! Ein Kommando war mit einem Shift ausgeschickt worden, um die Lage zu erkunden. Aber was sollte dabei schon groß herauskommen? Es würde ihnen nur wenig bringen und auf keinen Fall dazu beitragen, einen Weg zu finden, dieser Hölle zu entrinnen. Dabei gab es einen Weg. Man muß nur die Pforte ins Land Osyr finden und die Schwelle überschreiten, dann ist man aller Sorgen und Nöte enthoben. Simon erschrak über sich selbst. Wie kam er auf derartig seltsame Gedanken? Er hatte vorher noch nie etwas über ein »Land Osyr« gehört. Wenn es irgendwo auf dieser Welt lag, dann würde es sich von dem Alptraum, in dem sie gefangen waren, nur wenig unterscheiden. Und wenn es sich nicht auf diesem Planeten befand, dann war es sowieso unerreichbar. Nein, nein, das stimmte gar nicht. Denn das Land Osyr lag gleich nebenan - und es war ein Paradies. Es war leicht, dorthin zu gelangen, der Gang dorthin war mit keinerlei Mühen verbunden. Du brauchst nur den Lotsen Phylaso aufzusuchen, und der wird dich und alle anderen Heilsucher ins gelobte Land Osyr führen. Der Lotse Phylaso ist schnell zur Stelle, wenn du ihn nur intensiv genug rufst. Du mußt dabei nicht laut sein, brauchst nur an ihn zu denken. Denke nur fest genug an ihn, glaube an ihn -du mußt einen starken Glauben
haben -, dann wird er dir erscheinen und dich aus diesem mörderischen Pfuhl in ein schöneres Leben führen. Sei wieder Kind und benutze deine Phantasie. Dann wird alles wahr, was du dir wünscht. Du kannst wieder über blühende Wiesen gehen und den würzigen Duft deiner schönsten Träume einatmen. Du kannst dich faul und träge im saftigen Gras räkeln und dem Spiel der Wolken zusehen..., ja, du kannst die Wolken selbst formen, ihnen jede von dir gewünschte Gestalt geben. Du kannst es regnen lassen, du kannst Winde beleben, damit sie dich erfrischend umfächeln, oder sie zum Schweigen bringen, um nur dem Atem der Welt zu lauschen ...Es ist dein Atem, denn du bist die Welt. Im Lande Osyr wird dies alles wahr, im Lande Osyr ist alles möglich. Du formst die Welt. Denn du bist die Welt. Das Land Osyr ist ewiglich. Und du bist das ewige Leben. Unsterblichkeit ist dir gewiß ...im Land Osyr! Du mußt nur den festen Glauben haben, daß dies alles wahr werden kann. Ich will es glauben, dachte Simon, ich will an diesem Wunder teilhaben. Ich glaube! An den Lotsen Phylaso, an das Paradies Osyr. Ich will ins Land Osyr gelangen. Und ich rufe den Lotsen Phylaso mit der Kraft meiner Gedanken. Phylaso, komm zu mir und führe mich in das wundersame Land Osyrl Es war für Simon ein so intensives und real scheinendes Erlebnis, daß er wahrhaftig meinte, dem Lotsen Phylaso gegenüberzustehen. Er war bereit, den Anweisungen zu lauschen und sie haargenau zu befolgen. Und es war ihm, als spreche Phylaso zu ihm, und er wollte alles begierig in sich aufnehmen. Doch auf einmal sprach Phylaso in einer Sprache, die er nicht verstand. Er vernahm auf einmal nur noch eine Aneinanderreihung unverständlicher Laute. Nichts ergab mehr einen Sinn. Und Phylaso - gerade noch so nah und real, daß Simon meinte, ihn berühren, ihm die Hand reichen zu können -verblaßte auf einmal, wurde immer weniger, bis er völlig entschwand, sich in nichts auflöste. Und Simon Bredder, der mit den Maschinen sprach, fand sich wieder in der tristen Umgebung des Triebwerksraums der GALATHEIA. Was für ein Traum! WAS FÜR EIN TRAUM! Aber irgend etwas in Simon sagte, daß dies nicht bloß ein Wachtraum gewesen war. Da steckte mehr dahinter. Er wußte so sicher, wie er Simon hieß, daß es das Land Osyr gab und daß der Lotse Phylaso zu ihm hatte kommen wollen, um ihn dorthin zu führen. Er hatte diese Chance nur um Haaresbreite verpaßt. Aber in Simon Bredder lebte die Überzeugung, daß er nochmals eine Chance bekommen würde. Und dann würde er sie sich nicht noch einmal entgehen lassen. Er bekam mit, daß der Shift zurückgekommen war und daß Jörge Jahunta die Zerstörung des tazolischen Knotenschiffes meldete. Aber was interessierten ihn solche Banalitäten. Er trug die Sehnsucht nach dem Land Osyr in sich. Lara Duncans Vision: Sie war der festen Überzeugung, daß sie nicht nur vom Land Osyr geträumt hatte. Nein, ihr Erlebnis war mehr als nur ein Traum gewesen. Sie hatte dem Land Osyr in Gedanken einen Besuch abgestattet, hatte Zutritt zu dieser unglaublich wunderbaren Welt gefunden. Aber aus irgendwelchen Gründen war sie wieder hinausgeworfen worden. Sie quälte sich danach mit Selbstvorwürfen, grübelte darüber, was sie falsch gemacht haben könnte, zerfleischte sich förmlich. Vielleicht war sie zuwenig Kind gewesen, das mußte es sein! Sie dachte wohl noch zu sehr in festgefahrenen rationalen Bahnen, konnte sich nicht wirklich loslösen von den Normen, in die man sie ein Leben lang gepreßt hatte. Loslösen, die Fesseln abstreifen und davonschweben, hinweg über die Grenzen der Dimensionen, eintauchen in die Wunderwelt der Phantasie! Sie versuchte, einen neuen Anlauf zu nehmen, aber es ging nicht mehr. Sie konnte die Barriere nicht nochmals überwinden. Sie begann vor Wut und Enttäuschung hemmungslos zu weinen. Etwas in ihr war zerbrochen, als man sie aus dem Land Osyr verstoßen hatte. Etwas war in ihr gestorben. Dabei hatte sie sich bereits als festen Bestandteil von Osyr gefühlt. Sie hatte mit ihrem inneren Auge die unglaublichen Wunder dieses phantastischen Landes geschaut. Hatte sich als Teil dieser Welt empfunden, war eins gewesen mit ihr und allen Wesen, die darin lebten. Und sie war dort nicht allein gewesen. Alle waren sie da, die Kameraden von der GALATHEIA, und leisteten ihr Gesellschaft. Sie sah Lancia lustwandeln, sie begegnete Simon Bredder, der nun nicht mehr mit Maschinen sprach, sondern mit Blumen. Und da waren Doc Kieli und Mortimer Aderklaa, der keinen Gedanken mehr an die Wartung der Beiboote zu verschwenden brauchte. Und auch Bertram Hidden und Armin Bester waren glücklich und zufrieden ohne ihre Technik. Gin-Fizz schwebte auf einer Wolke vorbei, die er mit seinen bloßen Gedanken steuern konnte. Ronald Stafford und Jörge Jahunta saßen da, in tiefe Meditation
versunken, und ließen das ganze Land mit ihren Gedanken wissen, wie sehr sie ihre Geschütze nunmehr verabscheuten. Und die scheue Lara Duncan hatte vor Glück und Erfüllung gejauchzt und die ganze Welt in die Arme geschlossen. Es gefiel ihr nun viel mehr zu reimen, als komplizierte hyperphysikalische Formeln zu berechnen, Lösungen für knifflige Probleme zu finden. Wie einfach das Leben doch sein konnte. Das Leben war auf die schlichteste Formel der Welt zu bringen, die da lautete: Glückseligkeit ohne Ende und ewiges Leben, Müßiggang als Lebensphilosophie und -inhalt. Aber mit einemmal war alles wieder ganz anders. Etwas hatte sie aus dem Land Osyr geworfen und in den grauen, feindlichen Alltag zurückgeschleudert. Und je länger die Tristesse und die Enge der GALATHEIA sie umschlangen, desto mehr verblaßte die Erinnerung an das Land Osyr. Bald war nichts mehr davon übrig. Und da zerbrach sie, starb innerlich. Man brachte sie auf die Medo-Station, und Doc Kieli spritzte ihr irgend etwas »zur Beruhigung«, wie er meinte. Aber sie wußte es besser und sagte es ihm: »Du willst den letzten Rest von Glücksgefühl in mir abtöten, Doc.« »Ich weiß, wie dir zumute sein muß, Lara«, sagte er. »Ich habe ähnlich wie du empfunden - wie alle an Bord. Aber es ist vorbei. Es war bloß Suggestion.« Sie lächelte vage. Der Doc hatte sie zwar ruhiggestellt, aber das Wissen um einen Ort, an dem alles leicht und wunderbar war, konnte er nicht in ihr abtöten. Sie war innerlich bereits tot. Aber vielleicht durfte sie wieder leben - im Land Osyr. Lancia Thurmans Wirklichkeiten: Lancia Thurman ging nicht ins Simusense, um der Wirklichkeit zu entfliehen, sondern um der Realität neue Facetten abzugewinnen. Sie war eine Frau, die mit beiden Beinen im Leben stand und noch nie vor Problemen geflohen war - schon gar nicht in virtuelle Welten. Sie löste die Probleme des Lebens und erledigte ihre Aufgaben nach bestem Können und Gewissen und gönnte sich danach Entspannung im Simusense. So war es und nicht anders. Das mußte man ihr schon glauben. Nachdem sie Conrad Festik mit dem Shift auf Erkundung geschickt hatte, wollte sie sich erst einmal der Organisation des Bordlebens widmen. Dazu gehörte auch, die Mannschaft moralisch aufzurichten und psychologisch zu betreuen. Es gab keinen unter ihnen, sie selbst eingeschlossen, der es so ohne weiteres wegstecken konnte, daß sie auf einer fremden, menschenfeindlichen Welt gestrandet waren - ohne die Aussicht auf Hilfe von außen. Sie konnten sich nur selbst helfen. Es würde der Crew sicherlich guttun, wenn man ihr Hoffnung machen konnte ... .. von dieser Höllenwelt an einen schöneren Ort zu entweichen. An einen Ort wie das Land Osyr, wo es keine fleischfressenden Pflanzen und keine blutrünstigen tierischen Bestien gab, für die Menschenfleisch ein besonderer Leckerbissen war. Es wäre schön, der Mannschaft sagen zu können, daß der Lotse Phylaso zu ihr kommen würde, um sie in ein schöneres Leben zuführen, m ein Land des Friedens und der Glückseligkeit - in das Land Osyr... Lancia schüttelte sich, um diese seltsamen Gedanken zu verscheuchen, die nicht die ihren waren. Sie war schlagartig wieder ernüchtert und fragte sich, ob sie Gefahr lief, den Verstand zu verlieren. Aber diese seltsamen Gedanken kamen nicht aus ihr heraus, es waren Einflüsterungen von außen. Die sterbende Vanessa Gorlan und auch der sterbende Kennon waren ihnen erlegen. Doch warum auf einmal auch sie? Sie war quietschlebendig, kerngesund und geistig gefestigt. Warum entwickelte sie dann auf einmal eine solche Sehnsucht danach, daß der Lotse Phylaso sie in das Paradies Osyr geleitete? Doch das war ja eigentlich nicht ihre Sehnsucht, das wurde ihr nur eingegeben. Von wem? Gab es Osyr wirklich? War es das Reich der körperlosen Seelen? Wenn das so war, dann konnte sie gerne darauf verzichten, dorthin geführt zu werden. Sie wollte leben, auch wenn es noch so ein beschissenes Leben war, selbst wenn es an einem seidenen Faden hing. LEBEN! Jawohl. Doch Osyr war gar nicht das Reich der Toten. Und Phylaso nicht der Fährmann in die Unterwelt. Van und Ken hatten nur deshalb einen Blick nach Osyr tun können, weil sie als Sterbende freier als alle Lebenden waren und empfänglicher für die Nachrichten aus dem Paradies. Aber sie hatten selbst nicht mehr nach Osyr gehen können, weil man dafür einen Körper und Vitalenergie brauchte. Osyr war ein Paradies für Lebende, soviel stand fest. Lancia wußte nicht, woher sie diese Erkenntnis hatte. Aber sie war felsenfest davon überzeugt, daß sie absolut stimmte. Es war gar nicht so schwer, nach Osyr zu gelangen. Sie brauchten sich bloß auf den Weg zu machen und
Phylaso zu treffen, der würde sie dann über die Schwelle nach Osyr geleiten. So einfach war das - war es wirklich so einfach? Lancia bewahrte sich diesbezüglich ein gesundes Maß an Skepsis und Mißtrauen. Sie hatte schon immer alles in Frage gestellt, und sie konnte gar nicht anders, als es auch diesmal zu tun. Damit war sie bis jetzt immer gut gefahren. Und was auch immer man ihr einreden wollte - einzuflüstern versuchte -, diese Vorgehensweise war so tief in ihr verwurzelt, daß sie einfach keine andere Wahl hatte, als sie wieder zu praktizieren. Sie wäre ohne diese Methode der Selbstprüfung nicht handlungsfähig. Es war gewissermaßen eine automatische Reaktion auf Zweifel und Fragen. So groß die Versuchung Osyr auch war, sie wollte sich ihr nicht ergeben, ohne ihr zuvor auf den Grund gegangen zu sein. Und es gab eine einfache Art der Nagelprobe. Die hieß Simusense. Lancia hatte die virtuellen Wirklichkeiten immer wieder auch dazu benutzt, hinter die Kulissen der Realität zu blicken. Oder anders ausgedrückt, den Schein aufzudecken, in den sich die Wahrheit manchmal hüllte. Lancia begab sich an ihr Terminal, setzte die illegal erworbene Sensorbrille auf und stieg in ihre virtuelle Realität ein. Es war ihre ureigenste Welt, in der viele Leute aus dem wirklichen Leben eine Rolle spielten. Ihre Charaktereigenschaften waren aber von Lancia teilweise leicht retuschiert worden. So fand sich in Lancias virtueller Welt auch ein Mann namens Conrad Festik, aber es war ein etwas modifizierter Conrad Festik, kein solches Weichei wie der echte, sondern ein richtig harter Bursche, voller Tatendrang, mit Charisma und Autorität. Und auch sein Aussehen hatte eine kleine Korrektur erfahren, so daß er nun wie ein echter Mann aussah. Es fanden sich auch Personen aus Lancias Jugend in ihrer virtuellen Welt. Es waren manche darunter, die längst nicht mehr lebten, ihre Eltern etwa oder ihr erster Liebhaber, ein sympathischer Lehrer, von dem sie sich gewünscht hätte, daß er ihr auch Lebenshilfe beigebracht hätte ... und noch viele Personen mehr, ganze Schwadronen von Menschen, die mehr oder minder ihr Leben mit geformt oder gar geprägt hatten, aber alle waren sie ein wenig verändert, manchmal nur um Nuancen zurechtgerückt, um ihrem Ideal zu entsprechen. Und es gab natürlich auch die Gegenspieler, die Lancia für Kontroversen benötigte. Ohne diese Schurken wäre ihre Welt nicht komplett gewesen und bloß verlogener Schein. So jedoch war ihre Welt ein Spiegel der Wirklichkeit. Und nun war sie in diese ihre Eigenwelt eingekehrt. Sie trat in ein Land hinaus, das naturbelassen war, in dem es keine technischen Relikte zu sehen gab. Technik war die Krücke des Menschen, die ihn am Gehen hinderte. Der pure Geist dagegen beflügelte. Lancia gelangte in ein hügeliges Tal mit bunten Blumenwiesen. Sie überwand einen Hügel, und dahinter lag ein weiteres Tal, das bewohnt war von einem Vielvölkergemisch. Hier lebten Tazolen und Wlatschiden in friedlicher Eintracht nebeneinander, Terraner, Ertruser und Epsaler waren zu sehen ... und wie die Lemurerabkömmlinge alle hießen. Sie lebten in luftigen Häusern, die aus Wolken und Kristallen geformt oder aus Pflanzen gewachsen waren. Und aus dem Himmel sanken ätherische Geschöpfe herab, die die Immigranten im Lande Osyr umhegten und pflegten und ihnen alle Bürden abnahmen, die sie im früheren Leben zu tragen gehabt hatten. Die Osyrer aber waren regenbogenfarbene Wesen, leicht wie die Luft und semitransparent - und doch so voller Kraft und Vitalenergie, daß sie ihre Gäste mit ewigem Leben versorgen konnten. Lancia war eigentlich in ihre virtuelle Welt eingetaucht, um die Einflüsterungen über ein paradiesisches Land als trügerischen Schein zu entlarven. Aber der Blick hinter das Spiegelbild der Wirklichkeit war viel verführerischer als jenes Osyr, das andere in ihrem Geist erschaffen hatten. Es würde sich lohnen, einen Trip nach Osyr zu wagen, ganz sicher würde es das. Lancia war drauf und dran, sich auf die Suche nach dem Lotsen Phylaso zu begeben, doch da begannen die Eindrücke aus dem Simusense allmählich zu verblassen. Und es kamen keine neuen Impulse mehr, die ihre Sehnsucht nährten und die Erinnerung an das Land Osyr stärken konnten. Dies war der Zeitpunkt, als der etwas ramponierte Shift mit Conrad Festik und seiner dreiköpfigen Crew zurückkehrte ...
10. »Ich bin in deinen Augen also ein Weichei«, hielt ich Lancia vor, als sie ihre Erzählung beendet hatte. »Ein Schwächling und Waschlappen, ha?« »Den beinharten Kriterien meiner Simusense-Welt kannst du eben nicht standhalten, mein Lieber«, sagte sie verschleierten Blicks und mit seltsamem Lächeln. Sie wurde aber sofort wieder ernst. »Machen wir uns lieber Gedanken über die Tazolen. Nachdem ihr deren Schiff zerbombt habt, bleibt ihnen gar keine andere Wahl, als uns anzugreifen. In freier Wildbahn wären sie verloren. Sie brauchen die GALATHEIA zum Überleben.« »Das klingt ja geradezu wie ein Vorwurf«, sagte ich. »Wenn wir sie nicht geschwächt hätten, wären sie eine viel größere Gefahr für uns geworden.« »Entschuldige, Conrad, das war nicht so gemeint«, sagte Lancia und drückte versöhnlich meinen Arm. »Ich
bin nur etwas durcheinander.« »Wegen der Osyr-Visionen?« »Das auch ... hauptsächlich deswegen.« »Und was hältst du davon?« »Ich weiß nicht recht«, sagte Lancia ungewiß. »Einerseits ... andererseits ...« »Was denn nun?« Sie biß sich auf die Lappen, holte tief Luft und stieß sie hörbar wieder aus. Es klang wie ein inbrünstiger Seufzer. »Einerseits war die empfangene Botschaft überaus verlockend«, sagte Lancia. »Sie hat mich selbst im Simusense erreicht, ja, ich war dort sogar noch empfänglicher für sie. Die Verheißung, diese Höllenwelt gegen das Paradies Osyr einzutauschen, ist mir sehr tief gegangen. Andererseits ...« »Ja?« »Nun, es liegt mir nicht, mich Hals über Kopf ins Ungewisse zu stürzen«, sagte sie, immer noch zweifelnd. »Ich versuche, mir einen klaren Kopf zu bewahren. Ich verfüge über ein gesundes Mißtrauen allem Übernatürlichen und Mystischen gegenüber. Ich möchte mir meine Skepsis bewahren.« »Das würde ich dir auch raten«, sagte ich und fuhr eindringlich fort: »Überlege mal logisch und vernünftig. Nehmen wir mal an, dieser Planet sei von hochentwickelten und fortschrittlichen Intelligenzen bewohnt, die uns Gutes tun wollen. Warum finden sich dann nirgendwo Spuren von ihnen, nicht die geringsten Kulturzeugnisse? Ich bin ein ziemlich großes Gebiet abgeflogen, habe aber überall nichts als Wildnis gesehen.« »Du darfst fortschrittlich und hochentwickelt nicht unbedingt mit Technik gleichsetzen, Conrad«, ermahnte mich Lancia. »Ihre Zivilisation mag auf geistige Werte ausgerichtet sein oder überhaupt allein auf der Macht des Geistes beruhen.« »Akzeptiert«, sagte ich. »Aber warum zeigen sie sich uns nicht? Warum beschränken sie sich darauf, uns eigentlich euch, denn ich bin unempfänglich dafür - mysteriöse geistige Botschaften zu schicken ...?« »Du empfängst sie nicht nur nicht«, fiel mir Lancia ins Wort, »du bist darüber hinaus auch noch ein Störfaktor, der uns vor den Osyrern abschirmt. Es ist doch ziemlich eindeutig bewiesen, daß die Osyrer in deiner Anwesenheit keinen Kontakt zu uns aufnehmen können.« »Das klingt schon wieder wie ein einziger Vorwurf!« »Ich sage nur, wie es ist. Es ist eine unumstößliche Tatsache, daß du ein Störfaktor bist, der den Osyrern offenbar Irritationen verursacht. Ich sage das völlig wertfrei.« »Akzeptiert«, sagte ich, obwohl ich mir nicht ganz sicher war, ob Lancia diese Aussage tatsächlich ganz wertfrei meinte. »Also warum beschränken sich die Osyrer darauf, Gedankenbotschaften und Visionen zu schicken und euch mit Versprechungen zu ködern, anstatt direkten Kontakt aufzunehmen und uns von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten?« »Ich könnte natürlich argumentieren, daß du sie abschreckst«, meinte Lancia grinsend. »Aber darauf will ich gar nicht herumreiten. Vielleicht scheuen sie sich, uns gegenüberzutreten, weil sie befürchten, ihr Anblick könnte uns ver-schrecken. Aber es könnte auch sein, daß sie gar nicht körperlich sind, sondern aus reinem Geist bestehen, also unsichtbar für uns sind.« Nun war es an mir, einen gottergebenen Seufzer auszustoßen. »Du bist dir doch klar darüber, Lancia, daß wir über die Osyrer sprechen, als seien sie eine feststehende Größe. Dabei sind sie bloß eine große Unbekannte.« »Nun, unbestritten ist, daß es auf Osyr - wenn wir Planet 4 mal so nennen wollen - eine Geistesmacht gibt. Eine starke psionische Präsenz. Ich weiß nur nicht, wie ich sie mir vorstellen soll. Aber ich tendiere dazu, daß sie uns wohlgesinnt ist. Wäre sie das nämlich nicht, hätte sie längst schon Besitz von uns ergreifen können.« »Daran ist was Wahres«, mußte ich zugeben. »Aber ...« »Sprich's nicht aus, Conrad«, unterbrach sie mich. »Beenden wir diese fruchtlose Debatte. Beschäftigen wir uns lieber mit den Tazolen. Die sind wenigstens eine bekannte Größe.« Eigentlich hätten wir uns auch die Debatte über die Tazolen ersparen können, denn wirklich gefährlich konnten sie uns nicht mehr werden. Egal wie viele von ihnen noch lebten und über welche Transportmittel und Waffen sie verfügten, gegen den HÜ-Schirm der GALATHEIA kamen sie nicht an. Sie hätten schon tatsächlich eines der Bordgeschütze ihres Knotenschiffes ausbauen müssen, um mit dem richtigen Kaliber auffahren zu können. Doch das war eine technische Unmöglichkeit, nicht allein wegen der Energieversorgung. Wir beschlossen, die Ortungssysteme rund um die Uhr besetzt zu halten, was ja ohnehin schon der Fall war. Des weiteren wurde das Verbot ausgesprochen, das Schiff unerlaubt zu verlassen, wozu ohnehin keiner Lust hatte. Als erste neue Maßnahme wurden im Umkreis von zehn Kilometern um die GALATHEIA Überwachungssonden stationiert. Die zweite Neuerung war, vier kleinkalibrige Geschütze auf der Hülle der GALATHEIA zu montieren. Die starken Bordgeschütze wollte Lancia nicht zum Einsatz bringen, weil die mit ihrer Zerstörungskraft gewaltige Schäden am Dschungel angerichtet hätten. Ich fragte mich, ob Lancia damit nicht in erster Linie die Osyrer schonen wollte, die sich möglicherweise in
der Nähe der GALATHEIA aufhalten mochten. An der Besprechung nahm außer mir und Lancia auch noch ihr Stellvertreter Andre Russo teil. Des weiteren unser Medikus Doc Kieli, der die Linke bandagiert hatte, Jörge Jahunta als Chef für die Schiffsverteidigung, Rana Sindede als Vertreterin der Wissenschaftler und der Erste Pilot und Navigator Fitzgerald »Gin-Fizz« Ginn. Es herrschte eine seltsame Atmosphäre, die ich irgendwie als beklemmend und fast schon feindselig empfand. Von allen Anwesenden verhielten sich mir gegenüber lediglich J. J. und Rana Sindede unvoreingenommen. Was wohl daran lag, daß sie mit mir im Shift mitgeflogen waren und die suggestive Botschaft über das Land Osyr nicht hatten empfangen können. Alle anderen gingen zu mir auf Distanz, vermieden es, mit mir zu sprechen, ja wichen selbst meinen Blicken aus. Das Gerücht, daß ich an Bord ein »störendes Element« sei, das die Osyrer abschreckte, hatte sich herumgesprochen. Nach Beendigung der Lagebesprechung ergriff ich das Wort. »Ich möchte etwas klarstellen und bitte um eure Aufmerksamkeit ...«, begann ich. Aber bis auf J. J. und Rana Sindede machten sich alle davon. »Gib es auf, Conrad«, sagte Lancia im Hinausgehen mit süß-saurem Lächeln. »Gegen die Überzeugungskraft der Osyrer kommst du doch nicht an.« »Die behandeln dich ja geradezu wie einen Aussätzigen«, stellte Rana Sindede erbost fest. Sie wußte natürlich inzwischen Bescheid über die Hintergründe. »Und das alles nur, weil du sie vor Beeinflussung schützt!« »Wenn du eine Betroffene wärst, würdest du sicherlich wie die anderen denken«, sagte ich. »Die benehmen sich ja wie Besessene«, meinte J. J. kopfschüttelnd. »Ich kann nicht glauben, daß die Osyrer ihnen eine so harte Droge gegeben haben, daß sie ihnen nun hörig und süchtig nach mehr sind.« Ich hätte dem »Tazolenkiller« nur dasselbe wie der Sindede sagen können. Statt dessen entschuldigte ich mich bei den beiden und eilte Jan Kieling hinterher. »Doc, auf ein Wort.« Er drehte sich nach mir um und sah mich feindselig an. »Stimmt es, daß Lara Duncan auf der Krankenstation liegt?« fragte ich. »Ja, und das wird sie auch noch eine Weile«, sagte er durch die zusammengepreßten Lippen. »Ich glaube, wenn ich mit ihr sprechen dürfte, könnte ihr das vielleicht helfen.« »Du kommst nicht in ihre Nähe, Conrad!« rief er aufgebracht. »Du hast ihr schon geschadet genug, als du so unvermittelt aufgetaucht bist und die Osyrer verjagt hast.« »Können wir denn nicht wie vernünftige Menschen miteinander reden?« versuchte ich ihn zu besänftigen. »Ihr alle verhaltet euch kindisch. Ihr macht mich für etwas verantwortlich, wofür ich nichts kann. War es denn wirklich so unersetzlich und einmalig, was die Mannschaft durch meine Rückkehr verloren hat?« Er biß sich auf die Lippen, kaute daran. Ich merkte, daß er in sich ging und wie es in ihm arbeitete. »Na schön, reden wir vernünftig miteinander, Conrad«, sagte er, aber es klang keinesfalls versöhnlich. »Ich habe auf der Krankenstation eine Patientin mit Nervenzusammenbruch. Das ist aber ein zu harmloser Ausdruck für den Zustand von Lara Duncan. Und du bist dafür verantwortlich. Du hast dich bei deiner Rückkehr auf der GALATHEIA wie ein Elefant im Porzellanladen aufgeführt und vieles zerbrochen, eigentlich alles, was nur zu zerbrechen war.« »Dafür kann ich nichts«, verteidigte ich mich. Aber er hob die Hand, um mich am Weiterreden zu hindern. »Du schreibst deine destruktive Aura deiner Mentalstabilisierung zu, Conrad«, fuhr er im Tonfall eines argumentierenden Wissenschaftlers fort. »Aber da steckt mehr dahinter. Doch wie deine unselige Fähigkeit auch immer geartet ist, du könntest Abhilfe schaffen.« Ich zuckte erschrocken vor ihm zurück. »Was denn! Willst du mich allen Ernstes einer Behandlung unterziehen? Einer Demolition? Oder möchtest du, daß ich mich bloß in Tiefschlaf versetzen lasse?« »Wir wollten doch wie vernünftige Männer miteinander reden, Conrad«, sagte er tadelnd. Er schüttelte den Kopf. »Wie möchtest du also meiner >destruktiven Aura< beikommen, Doc?« fragte ich interessiert. »Ganz einfach«, sagte er und schnippte mit dem Finger. »Irgendwo an Bord müßten einige Anti-PsiReflektor-Netze sein, die wir von den Algiotischen Wanderern erbeutet haben. Lancia hat einmal geäußert, daß sie sie als Souvenirs, meinetwegen als Kriegsbeute, mitnehmen möchte. Die Tazolen und die anderen Algion-Völker haben die APRE-Netze verwendet, um sich gegen die psi-reflektorischen Fähigkeiten der Gharrer zu schützen.« »Das ist allgemein bekannt«, sagte ich ungeduldig. Ich konnte mir schon denken, worauf er hinauswollte. »Und?« »Du könntest ein solches APRE-Netz tragen, um den umgekehrten Effekt zu erzielen«, eröffnete er mir. »Nämlich um die Osyrer vor deiner abschreckenden Aura zu bewahren.« »Das wäre einer Überlegung wert«, sagte ich dumpf. »Aber glaubst du, Doc, daß sich das wirklich für euch lohnt?«
»Laß es uns herausfinden, Conrad«, sagte er lächelnd. »Laß es uns einfach mal herausfinden. Lara Duncan würdest du damit auf jeden Fall helfen.« Und das verstand ein erwachsener, erfahrener und gelehrter Mann unter »vernünftig miteinander reden«. Ich konnte es nicht fassen. Aber es kam noch bunter. Lancia paßte mich am Schott zur Kommandozentrale ab und fragte mich: »Hat Doc Kieli mit dir über die APRE-Netze gesprochen?« »Das hat er.« »Und?« »Es wäre überlegenswert...« Ich hatte einen Kloß im Hals. Die Angelegenheit war viel ernster, als ich angenommen hatte. »Was zögerst du denn noch? Tu es einfach! Für mich. Für uns alle.« Der Generalalarm, der durch die GALATHEIA gellte, enthob mich einer Entscheidung. Die Tazolen rückten an! Ich mußte an die Ortung. »Die Tazolen kommen mit nur zwei Schwebern!« stellte ich verblüfft fest. »Unmöglich!« behauptete Lancia im Brustton der Überzeugung. »Sie müssen über mehr Gefährte verfügen.« »Aber ich kann nur zwei Objekte von Schwebergröße orten«, beharrte ich; es war einfach eine unabänderliche Tatsache. »Sie kommen aus Richtung Süden. Und mehr ist nicht da.« »Was mag da für eine List dahinterstecken?« rätselte Lancia. Darauf konnte ihr niemand Antwort geben. »Bleib wachsam, Conrad! Die können doch nicht mit nur zwei Schwebern angreifen.« »Vielleicht wollen sie auch ganz was anderes«, meinte Andre Russo. Die beiden Gleiter setzten, zweihundert Meter von der GALATHEIA entfernt, auf dem verbrannten Boden auf. Ronald Stafford und Jörge Jahunta hatten schon Stunden zuvor auf Lancias Geheiß alle Pflanzen in weitem Umkreis eingeäschert, so daß rings um die GALATHEIA eine Lichtung mit einem Radius von 400 Metern entstanden war. Jedem Schweber entstiegen zwei Tazolen in Raumanzügen. Sie waren lediglich mit Handstrahlern bewaffnet, wohl, um sich der Angriffe tierischer Räuber zu erwehren. Zumindest demonstrierten sie uns das. Denn kaum waren sie ins Freie geklettert, tauchte am Rande der Lichtung eine Herde von Echsen auf, die auf ihren verlängerten Hinterbeinen auf sie zugerast kamen. Die Tazolen warteten, bis sie nahe genug waren, um ein gutes Ziel zu bieten, dann schössen sie sie der Reihe nach ab. Anschließend trat einer der Tazolen drei Schritte nach vor und rief über einen Verstärker: »Galaktiker! Wir sind in Frieden gekommen.« Er sprach ein hart akzentuiertes, aber gut verständliches Interkosmo. »Wir haben euch eine wichtige Botschaft zu übermitteln.« »Nanu!« entfuhr es mir überrascht. »Seit wann machen Tazolen Friedensangebote?« »Laßt uns an Bord eures Raumschiffes«, fuhr der Tazole fort, »damit wir euch von der Dringlichkeit unserer Botschaft überzeugen können.« »Darauf darfst du dich auf keinen Fall einlassen, Lancia«, rief ihr Stellvertreter Andre Russo. »Die führen irgend etwas im Schilde. Wer weiß, vielleicht sind das lebende Bomben, die sich opfern wollen, um die GALATHEIA zu vernichten.« »Für wie naiv hältst du mich eigentlich, Andre?« wies Lancia ihren Stellvertreter zurecht. Über die Funkverbindung zu den Kanonieren befahl sie: »Staff! Jörge! Behaltet die Tazolen im Visier!« »Wir könnten sie auch sofort abknallen«, sagte einer von ihnen, ich wußte nicht, welcher von beiden es war, und würde es wohl nie lernen, sie nach der Stimme zu unterscheiden. »Auf keinen Fall!« rief Lancia. »Hören wir uns erst einmal an, was sie zu sagen haben.« Sie aktivierte die Außenlautsprecher und verkündete den Tazolen: »Bevor wir euch an Bord lassen, sagt uns zuerst, was ihr von uns wollt.« Die drei Tazolen aus der zweiten Reihe traten zu dem einzelnen und redeten gestikulierend auf ihn ein, doch er schickte sie mit einer herrischen Armbewegung zurück. Dann wandte sich der einzelne Tazole, der eindeutig der Anführer war, wieder der GALATHEIA zu. »Galaktiker!« rief er über seinen Verstärker. »Vernehmt meine Botschaft. Ich bin als Lotse Phylaso auserwählt worden. Ich bin der Lotse Phylaso! Und ich bin dazu ausersehen, alle, ob Brüder meines Volkes oder Angehörige anderer Völker, alle, die willens und ehrlichen Glaubens sind, in das Land Osyr zu geleiten.« »Das ist wohl der Gipfel«, sagte ich. »Ein plumperer Trick ist den Tazolen wohl nicht eingefallen, um ...« »Ach, halt dein Lästermaul!« herrschte mich Lancia grob an. Ich verstummte betroffen. Nahm sie die Worte des Tazolen etwa gar für bare Münze? War sie von den Visionen und Suggestionen bereits so verblendet, daß sie nicht mehr des kritischen Denkens fähig war? »Wie kannst du behaupten, der Lotse Phylaso zu sein?« fragte Lancia über den Außenlautsprecher. »Da könnte jeder Dahergelaufene kommen und sich als Phylaso
ausgeben. Ich habe mir den Wegbereiter ins Land Osyr ganz anders vorgestellt. Ganz sicher nicht als Tazolen.« »Aha«, machte der Anführer der Tazolen und breitete die Arme aus. »Ich merke, du hast die Verkündigung vernommen. Aber laßt euch sagen, Ungläubige: Phylaso kann in jeder Gestalt auftreten, auch als Tier. Ich war Azzome, bevor ich Phylaso wurde. Ich bringe die Glückseligkeit. Kommt zu mir und nehmt meine Aura wahr, dann werdet ihr sofort merken, daß ich der Auserwählte bin.« Lancia lachte abfällig, aber in meinen Ohren klang ihre Ablehnung nicht echt. Sie war nur vorsichtig, aber sie war auch geneigt, dem Tazolen zu glauben. Und das war gefährlich. »Wo haben sich denn deine Artgenossen versteckt?« fragte Lancia herausfordernd. »Am Rande der Lichtung? Und wenn wir ins Freie kommen, werden sie wie die Barbaren über uns herfallen. So ist es doch.« »Nein, nein, ihr Ungläubigen, so ist es ganz und gar nicht«, zeterte der Tazole und schüttelte die erhobenen Arme, um seine Worte zu bekräftigen. »Meine Artgenossen sind längst nicht mehr hier. Phylaso hat sie bereits ins Land Osyr geleitet. Es hat Mühe gekostet, sie dazu zu bringen, Xions Netze abzuwerfen, aber nachdem sie es getan haben, wurden sie zu glücklichen Wesen. Und ich beschwöre euch, macht es den Meinen gleich und fügt euch in euer Glück. Ich bin gekommen, es euch zu bescheren.« Ich beobachtete Lancia. Sie würde dem Tazolen nur zu gerne glauben, aber sie hatte sich noch genügend gesunden Menschenverstand bewahrt, um ihm auch zu mißtrauen. Wäre es ein Mensch gewesen, der als Phylaso auftrat, hätte sie sich ihm wohl, ohne zu zögern, anvertraut. »Wie kannst du mir beweisen, daß du Phylaso bist?« verlangte Lancia zu wissen. Aber allein die Tatsache, daß sie diese Farce so ausdauernd mitmachte, zeigte, wohin sie tendierte. »Beweise! Beweise!« rief der Tazole außer sich; er war offensichtlich nahe daran, die Beherrschung zu verlieren. »Glauben sollt ihr! Glauben!« Ihm brach die Stimme, und seine Glieder begannen auf einmal zu zucken. Und dann fing er an, mit unkoordiniert wirkenden Schritten in Richtung GALATHEIA zu laufen. Er schwenkte den Strahler und feuerte wie wild um sich. Nun ging alles blitzschnell. Auch zwei der kleinkalibrigen Geschütze, die auf die Hülle der GALATHEIA montiert worden waren, spuckten Feuer. Der Tazole Azzome, der angeblich zu Phylaso geworden war, verschwand hinter einer Feuerwand. Und mit ihm zwei seiner Artgenossen. Der dritte Tazole hatte sich zu Boden geworfen. »Feuer einstellen!« schrie Lancia. Sie war überaus wütend. »Was ist denn in euch gefahren? Das ist ja wie mit Kanonen auf Spatzen zu schießen.« Das Geschützfeuer war auf Lancias Befehl sofort verstummt. Nun waren drei bis zur Unkenntlichkeit verkohlte Leichen zu sehen. Der vierte Tazole war rauchgeschwärzt, aber er wirkte unverletzt, rührte sich jedoch nicht. Vielleicht wagte er aus reiner Todesangst nicht, sich zu bewegen. »Ist einer der Tazolen noch am Leben?« fragte Lancia über den Außenlautsprecher. »Wenn es so ist, dann soll er sich ergeben. Er hat nichts zu befürchten. Wir werden ihn an Bord holen.« In den vierten Tazolen kam bei diesen Worten auf einmal Leben. Er reckte den Oberkörper und hob die Arme über den Kopf. »Ich bin Torrem und ergebe mich!« rief er über seinen Verstärker. »Verschont bitte mein Leben!« »Holt ihn an Bord!« befahl Lancia zwei Männern, die zu den Bodeneinsatztruppen gehörten. »Ich möchte ihn verhören.« Sie begegnete meinem Blick und sagte scharf: »Aber du bleibst dem Tazolen fern, Conrad!«
11. Lancia machte tatsächlich Ernst. Sie sperrte mich von der Befragung des Tazolen aus, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Aber sie ließ mich hinterher wenigstens das Protokoll des Verhörs lesen, das unter Zuhilfenahme eines Translators geführt worden war. Protokoll: Lancia Thurman: Du gehörst zur Mannschaft des abgeschossenen Knotenschiffes, Torrem? Wie war sein Name? Torrem: Ja, ich war Zeugwart auf der NOA TI RIXX. Lancia: Mit welchem Auftrag ist die NOA TI RIXX mit der übrigen Flotte in dieses Sonnensystem geflogen? Torrem: Wir sind dem Gerücht nachgegangen, daß Gain-tanu hier gefangengehalten werden soll. Lancia: Aber die Algiotischen Wanderer haben doch immer geglaubt, daß ihr Gott der Unsterblichkeit im Sonnentresor eingesperrt ist. Das war doch der eigentliche Anlaß für die Invasion in Chearth. Torrem: Das stimmt. Aber als Vil an Desch verbreitete, daß nicht Gaintanu im Sonnentresor festsitze, sondern daß dies das Gefängnis der schrecklichen Guan a Var sei, haben wir umdenken müssen. Lancia: Wer brachte das Gerücht auf, daß Gaintanu in diesem Sonnensystem ist? Torrem: Das kann ich nicht sagen. Bin ja nur ein kleiner Zeugwart. Jedenfalls erwies sich auch dieses
Gerücht als unwahr. Lancia: Was brachte euch diese Gewißheit? Torrem: Eines unserer Schiffe - die RAU EK TUNOK -erkundete den vierten Planeten. Es funkte die Meldung, daß Gaintanu mit absoluter Sicherheit nicht auf dieser Welt zu finden sei. Das war kurz bevor ihr auftauchtet, es zum Kampf kam und wir uns gegenseitig abgeschossen haben. Lancia: Und weil Gaintanu hier nicht zu finden war, zog eure Flotte so schnell wieder ab? Torrem: Das ist richtig. Die Flotte wartete nicht einmal mehr auf die Rückkehr der RAU EK TUNOK. Lancia: Wieso kannst du das wissen? Ihr wart ja bereits auf dieser Welt abgestürzt. Torrem: Weil wir die RAU EK TUNOK auf dem Weg hierher fanden. Sie steht keine 500 Kilometer von eurem Schiff entfernt. Lancia: Und? Torrem: Die RAU EK TUNOK scheint von außen völlig unbeschädigt. Aber als wir sie untersuchten, stellten wir fest, daß sie sabotiert worden sein muß. Wichtige positronische Teile wurden fachmännisch ausgebaut. Lancia: Hast du dafür eine Erklärung? Torrem: Ja. Lancia: Welche? Torrem: Die Mannschaft muß ins Land Osyr ausgewandert sein. Etwas anderes ist nicht denkbar. Es hat keine Kampfspuren gegeben. Lancia: Aber die Sabotage weist doch daraufhin, daß es an Bord auch Andersdenkende gegeben haben muß. Torrem: Es gibt immer und überall Querdenker. Lancia: Wem sagst du das! Aber zurück zur NOA TI RIXX. Wie viele von euch haben den Absturz überlebt? Torrem: 123 Mann. Lancia: Und wie viele waren nach dem Überfall unseres Flugpanzers noch am Leben? Torrem: 73 Mann. Lancia: Was waren eure nächsten Pläne? Torrem: Wir wollten Vergeltung für diesen gemeinen Überfall und machten uns in voller Stärke zu eurem Schiff auf den Weg. Euren Standort kannten wir ja. Habt ihr die Spionsonde entdeckt? Lancia: Haben wir - natürlich! Aber die Fragen stelle ich. Wie kam es, daß ihr nur in zwei Schwebern und zu viert bei uns angekommen seid? Was wurde aus den anderen neunundsechzig? Torrem: Wie schon gesagt, wir stießen auf dem Weg hierher auf die RAU EK TUNOK. Die gesamte Mannschaft von rund 1000 Mann war spurlos verschwunden. Und es gab keine Kampfspuren und keine Leichen. Nicht der geringste Hinweis auf ihr Schicksal. Und dann hörte Azzome, der keinen Schild Xions mehr besaß, auf einmal den Ruf. Lancia: Welchen Ruf? Torrem: Den Ruf des Lotsen Phylaso, ihm ins Land Osyr zu folgen. Daraufhin nahmen auch wir anderen unsere Netze ab und konnten den Ruf ebenfalls hören. Wir konnten uns seinem Bann nicht entziehen und sehnten Phylasos Erscheinen herbei. Und endlich kam er. Lancia: Der Lotse Phylaso in der Gestalt eures Anführers Azzome? Torrem: Nein, nein, der Lotse kam zu uns in seiner wahren Gestalt. Lancia: Kannst du den Lotsen Phylaso in seiner wahren Gestalt beschreiben? Torrem: Ich will es versuchen. Er ist ein großes, majestätisches Geschöpf, das nur aus Licht und Luft zu bestehen scheint. Er ist so leicht, daß er daherschwebt, als hätte die Atmosphäre für ihn Balken. Sein Körper ist prall und langgestreckt ... So etwas wie ein Gesicht habe ich nicht an ihm entdeckt. Ich war wie geblendet, denn er erstrahlte in allen Farben des Regenbogens. Lancia: Das ist eine sehr plastische Beschreibung, Torrem. und was passierte dann? Torrem: Wir folgten dem Weg, den der Lotse uns wies. Meine Kameraden sind inzwischen längst in Osyr. Aber als die Reihe an Azzome kam, da sagte der Lotse zu ihm, daß er in dieser Welt noch eine wichtige Mission für ihn habe. Und weil ich und zwei meiner Kameraden noch hinter Azzome kamen, schickte uns der Lotse Phylaso als Azzomes Gehilfen mit. Lancia: Was war der Auftrag des Lotsen an euch? Torrem: Phylaso erklärte uns, daß es eine Bastion von Ungläubigen gebe, die noch überzeugt werden müßten, um den Weg ins Land Osyr zu finden ... Der Lotse meinte damit euch. Und da wir ohnehin unterwegs zu euch waren und den Weg kannten, ließ sich Azzome dazu überreden, diese Mission zu übernehmen. Phylaso kann sehr fordernd und überzeugend sein. Lancia: Kennst du noch die Stelle, an der das Tor steht, das ins Land Osyr führt, Torrem? Torrem: Aber gewiß. Es steht ganz nahe der RAU EK TUNOK. Lancia: Und würdest du uns dorthin führen? Torrem: Jederzeit. Das ist doch unsere von nun an meine Mission.
Lancia: Wir wollen nicht alle auf einmal gehen, sondern zuerst einmal eine Vorhut hinschicken.
Torrem: Was zaudert ihr denn noch? Lancia: So sind wir Menschen nun mal - mißtrauisch bis zum bitteren Ende. Ich habe nur noch eine Frage, Torrem. Was ist denn in Azzome gefahren, daß er sich plötzlich so seltsam gebärdete? Torrem: Ich glaube, das lag am Entzug. Er hat schon seit unendlich langer Zeit kein Elcoxol mehr bekommen, während er früher, in besseren Zeiten, regelmäßig damit versorgt wurde. Durch den Entzug hat sein Körper plötzlich rebelliert, und sein Geist ist zerbrochen. Es tut mir leid, daß er keine Gelegenheit mehr hat, ins Land Osyr einzukehren. Denn Tote haben dort keinen Zugang. Lancia: Es war ein bedauerliches Versehen, daß auf ihn geschossen wurde. Tut mir leid. Torrem: Ihr könnt diesen Fehler gutmachen, wenn ihr euch bekehren laßt. Lancia: Ich muß nur noch Freiwillige als Kundschafter auswählen... Ende des Protokolls
»Was hältst du von dieser Sache, Conrad?« erkundigte sich Lancia nach meiner Lektüre des Verhörprotokolls. »Du gibst ja doch nichts auf meine Meinung«, antwortete ich. »Da tust du mir unrecht, Conrad«, sagte sie eingeschnappt. »Nur weil ich nicht alles so mache, wie du es gerne hättest, bedeutet das noch lange nicht, daß ich dich nicht wertschätze. Aber ich muß die Entscheidungen treffen. Schließlich bin ich hier der Boß und trage die Verantwortung.« »Dann sei einfach Boß und tu, was du für richtig hältst.« »Was hältst du von der Geschichte des Tazolen?« setzte sie nach. »Lancia, wir wissen beide, daß da etwas sein muß, was parapsychische Kräfte besitzt«, sagte ich ergeben, »zumindest aber die Macht der Suggestion - du hast sie ja selbst zu spüren bekommen. Wenn du meinen Rat hören willst: besser nicht daran rühren. Schlafende Riesen sollte man nicht wecken.« »Ich möchte aber zu gerne wissen, womit ich es auf Osyr zu tun habe«, erwiderte sie. »Ich möchte die Situation richtig einschätzen können, herausfinden, ob sich für uns eine Gefahr ergeben könnte oder ob hier Kräfte am Werk sind, die segensreich für uns sein könnten. Ich will es wissen, Conrad!« »Sagte ich doch, daß du nichts auf meinen Rat gibst.« »Es ist aber nicht so, daß mir deine Meinung nichts wert ist. Ich hätte nur eben lieber von dir gehört, daß ich das Erkundungskommando ausschicken soll.« Dazu konnte ich nur spöttisch lachen. »Ich übernehme dieses Kommando aber nicht«, sagte ich fest. »Ich habe auch gar nicht vor, es dir zu übertragen«, erwiderte Lancia. »Andre wird das übernehmen. Mit dir habe ich etwas ganz anderes vor.« »Und was?« »Laß dich überraschen.« Lancia Thurman hatte es nun eilig, das Erkundungskommando auszuschicken. Sie gab tatsächlich ihrem Stellvertreter Andre Russo das Kommando, für die Navigation wählte sie ihren Erster Piloten Fitzgerald Ginn aus, und ans Impulsgeschütz setzte sie Ronald Stafford. Zu Scouts bestimmte sie vier Männer aus den Reihen der Bodentruppe. Und natürlich war auch der Tazole Torrem mit von der Partie. »Diesmal besteht kein Grund für besondere Tarnung«, sagte Lancia abschließend. »Es gibt keine Gegner mehr, vor denen wir uns verstecken müßten. Also bleiben wir in Funkkontakt.« Shift 2 flog los. Wie nicht anders zu erwarten, kam von ihm in Fünf-Minuten-Abständen die Meldung: »Keine besonderen Vorkommnisse!« Ich hoffte bei mir, daß es auch so blieb, wenn das Erkundungskommando das Zielgebiet mit der RAU EK TUNOK erreichte. Aber ich hatte kein gutes Gefühl. Die Meldungen aus dem Shift änderten sich auch nicht, als er die 300-Kilometer-Marke überflog. Doch das besagte noch lange nichts. Plötzlich tauchte Rana Sindede mit einer fadenscheinigen Begründung in der Kommandozentrale auf. Sie flüsterte mir zu: »Ich muß dich sprechen. Ich bin in der Messe.« Dann verschwand sie wieder. Ich drehte mich nach Armin Bester um, der gelangweilt in der Gegend herumstand, und winkte ihn zu mir. »Muß mal für kleine Jungs«, vertraute ich ihm an. »Übernimmst du solange den Funkposten für mich?« »Na klar, bevor du dir die Hosenbeine vollpinkelst.« Lancia sah mißtrauisch zu uns herüber. Ich machte mich eilig auf den Weg zur Messe. Rana Sindede saß vor einem dampfenden Becher Instantkaffee, einen zweiten hatte sie für mich bereitgestellt. »Was gibt es denn so Wichtiges, daß du mich von meinem Posten holst, Rana?« »Eigentlich gar nichts Besonderes«, sagte sie. »Aber das war doch sowieso nur Routine für dich.« »Also, was gibt's?« »Mir ist nur allgemein aufgefallen, daß sich die Stimmung in der Mannschaft geändert hat. Ich meine, was dieses ominöse Land Osyr betrifft. Die anfängliche Euphorie ist verflogen. Und ich bin sicher, daß das Interesse bald ganz erloschen sein wird.« Ich war perplex. Nur um mir das zu sagen, hatte sie sich mit mir verabredet? »Ich will gar nicht, daß das Land Osyr in Vergessenheit gerät«, sagte ich. »Denn auf dieser Welt, irgendwo um uns, ist etwas, das eine starke Suggestivgabe haben muß. Und ich bin der einzige, der dem widerstehen
kann und die Macht davon abhält, voll aus sich herauszugehen.« »Du machst mir regelrecht angst, wenn du so sprichst, Conrad«, sagte sie fröstelnd. »Nun übertreibe nicht gleich, Rana«, sagte ich beruhigend. »Aber ist es angebracht, wachsam zu sein. War das alles?« »Nein, nicht ganz«, sagte sie und schlug die Augen nieder. »Eigentlich wollte ich dir vor allem sagen, daß sich mit Abklingen der Euphorie auch die Stimmung gegen dich gemäßigt hat. Du bist nicht mehr der große Sündenbock für die Mannschaft. Ja, das wollte ich dich wissen lassen.« »Danke, Rana. Aber jetzt ruft wieder der Dienst.« Ich drückte ihre verschränkten Hände, die einander nervös kneteten, und eilte davon. Der Shift mußte das Zielgebiet inzwischen eigentlich schon erreicht haben. Erst als ich in die Kommandozentrale zurückkam, fiel mir ein, daß ich mich nicht einmal für den Kaffee bedankt hatte, den Rana mir bereitgestellt hatte. Und ich hatte nicht einmal daran genippt. Um das Funkgerät hatte sich eine Menschentraube gebildet. Ich hatte keine Chance, mir einen Weg ans Pult zu bahnen. Aber das war auch gar nicht nötig, denn ich hörte auch so den Dialog, der zwischen Andre Russo im Shift und Lancia Thurman ablief. »Es ist phantastisch«, schwärmte Russo mit verklärter Stimme. »Es handelt sich um eine Art Tor. Ein hohes, licht-durchflutetes Tor. Ich könnte mit dem Shift glatt hindurchfliegen!« »Unterstehe dich!« rief Lancia gellend. »Das wirst du unterlassen. Das ist ein Befehl!« »War auch gar nicht ernst gemeint.« »Was siehst du noch?« »Das Holo gibt die Szenerie nur unvollständig wieder. Aber Staff meint, daß er durch den Lichtschein des Tores schwebende Gestalten sehen kann. Eine davon muß Phylaso sein...« »Wieso hat Staff eine bessere Sicht als du? Ist er nicht am Geschütz?« »Er ist den Seouls gefolgt, die dem Tazolen nachgegangen sind.« »Die sind ausgestiegen?« Lancias Stimme kippte. »Ich habe ausdrücklich Anweisung gegeben, den Shift unter keinen Umständen zu verlassen.« »Das verstehst du nicht, Lancia. Du müßtest sehen, was wir sehen ... und vor allem: den Ruf des Lotsen Phylaso hören! Du würdest mir zustimmen, daß es nichts Lieblicheres, nichts Verführerisches gibt als diesen Ruf. Niemand könnte dem widerstehen ...« »Phylaso ist mir scheißegal. Hol die anderen sofort zurück! Ich befehle es!« »Dafür ist es bereits zu spät. Sie haben hinter Torrem das Tor nach Osyr durchschritten. Und ich steige jetzt auch aus.. « »Das wirst du nicht, Andre!« »Du kannst mich nicht zurückhalten, Lancia. Vielleicht treffen wir einander in Osyr, dann wirst du mich verstehen ...« Danach herrschte Funkstille. Lancia versuchte noch einmal, ihren Stellvertreter anzurufen, aber dann mußte sie ein-sehen, daß er sie wohl nicht mehr hören konnte. Er war durch ein lichtdurchflutetes Tor gegangen. Wohin? Ins gelobte Land Osyr? Oder in sein Verderben? In der Kommandozentrale herrschte betretenes Schweigen. Die Menschentraube um das Funkgerät löste sich auf. Lancia Thurman erhob sich von meinem Platz, von dem sie Armin Bester offensichtlich verdrängt hatte. Unsere Blicke begegneten einander. Ihr Blick war ein einziger Vorwurf gegen mich, so als wäre ich die Inkarnation des Lotsen Phylaso. Dabei war ich, wenn man denn schon eine Zugehörigkeit konstruieren wollte, am ehesten noch der Antipode des Lotsen Phylaso und nicht jener, der das Erkundungskommando nach Osyr geführt hatte. Oder wohin auch immer ...
12 Die Lagebesprechung fand in derselben Zusammensetzung statt wie beim letzten Mal, nur daß diesmal Andre Russo fehlte. Es ging zuerst einmal um die Frage, ob man dem verschollenen Erkundungskommando ein weiteres Suchkommando hinterherschicken solle, um das Verschwinden der Shiftbesatzung aufzuklären. Doch Lancia sah ein, daß die Gefahr zu groß war, daß auch dieses Kommando verlorenging, und entschied sich gegen einen solchen Einsatz. Danach ging es um Grundsatzfragen. »Es gibt auf dieser Welt offenbar Intelligenzen mit parapsychischen Fähigkeiten«, resümierte Lancia. »Es muß sich dabei nicht um Einzelwesen handeln, es könnte auch ein Kollektiv sein. Aber das ist letztlich nicht maßgeblich. Die entscheidende Frage für uns ist, wie uns diese Wesen gesinnt sind.« Ich gratulierte ihr im stillen dazu, daß sie offenbar ihr objektives Urteilsvermögen zurückgewonnen hatte.
»Haben sich die Osyrer uns gegenüber denn nicht eindeutig genug offenbart?« fragte Doc Kieli in die Runde. »Wenn sie uns Böses wollten, hätten sie ausreichend Gelegenheit dazu gehabt, uns zu schaden. Statt dessen unternehmen sie alles, um uns von ihrer Friedfertigkeit zu überzeugen.« »Bisher haben sie doch nur versucht, euch durch Suggestion zu beeinflussen«, warf ich ein. »Das sehe ich keineswegs so«, erwiderte Doc Kieli gehässig. »Du verwendest den Begriff Suggestion doch nur. um die Osyrer negativ zu zeichnen. Sie haben jedoch noch keinen Anlaß dafür gegeben, sie so zu sehen. Im Gegenteil, sie waren darum bemüht, friedlichen Kontakt mit uns herzustellen. Das ist bisher allein an dir gescheitert, Conrad.« »Hast du dir überlegt, Conrad, vielleicht doch ein APRE-Netz zu tragen?« fragte mich Fitzgerald »Gin-Fizz« Ginn. »Ich denke nicht daran, das zu tun«, antwortete ich knapp. »Von einem Egoisten wie dir habe ich auch nichts anderes erwartet«, sagte Doc Kieli abfällig. »He, Leute, das ist hier nicht die Inquisition«, versuchte Lancia zu schlichten. »Betrachten wir unsere Lage nüchtern und klammern wir dabei die Osyrer als unbekannten Faktor aus, okay? Was müßten wir denn in unserer Lage als nächstes tun?« »Versuchen, Hilfe herbeizurufen«, sagte Rana Sindede spontan. »Wir müssen im Orbit einen Hypersender installieren. Das ist doch keine Frage.« »Richtig«, stimmte Lancia zu. »Und genau das werden wir als nächsten Schritt tun. Auf diese Maßnahme haben wir bis jetzt nur deshalb verzichtet, weil die Tazolen ein solches Unternehmen gefährden konnten. Aber die Tazolen stellen keine Bedrohung mehr dar, es gibt überhaupt keine mehr auf Osyr. Darum werden wir den Hypersender installieren.« »Am besten zwei«, sagte Rana Sindede ergänzend. »Einen mit Breitenwirkung und einen mit Richtstrahl zur nächsten bewohnten Chearth-Welt.« »Das hast du schon mal angeregt«, sagte Lancia zustimmend. »Und so werden wir es machen. Gibt es diesbezüglich Probleme technischer Natur, Conrad?« »Das macht keinerlei Probleme«, antwortete ich einsilbig. »Dann ist das beschlossene Sache«, sagte Lancia. »Ich möchte, daß du die Installation übernimmst, Conrad. Wir verfügen über drei Raumlinsen, also kann ich dir zwei Begleiter als Gehilfen mitgeben.« Ich hatte so etwas erwartet, wollte mich aber nicht kampflos damit abfinden. »Wieso schickst du mich in den Orbit, Lancia?« fragte ich. »Willst du mich auf diese Weise loswerden?« »Conrad!« Lancia war die personifizierte Empörung. »Wie kommst du auf so krause Ideen? Du bist der Fachmann in Sachen Hyperfunk. Nur aus diesem Grund habe ich dich ausgewählt. Ich möchte auf Nummer Sicher gehen, daß der Hypersender auch richtig installiert wird und störungsfrei funktioniert. Dafür bist du der Garant, Conrad.« »Und tust du es nicht auch mit dem Hintergedanken, mich loszuwerden, damit du ungestört Kontakt mit den Osyrern aufnehmen kannst?« fragte ich, korrigierte mich aber sofort: »Besser gesagt, sie mit euch.« »Unser wichtigstes Bestreben ist, von diesem unseligen Planeten wegzukommen«, erwiderte Lancia treuherzig. »Das mußt du mir schon glauben, Conrad. Wir wollen alle am liebsten so schnell wie möglich von hier fort.« »Aber wenn ich nicht da bin, werdet ihr den Suggestionen der Osyrer ausgeliefert sein«, gab ich zu bedenken. »Dann beeile dich, Conrad«, redete sie mir zu und nahm mich vertraulich am Arm. »Du warst ja schon mal für einen halben Tag weg und kamst noch rechtzeitig zurück, um uns wachzurütteln. Das wirst du auch diesmal schaffen.« Sie wirkte überaus überzeugend, aber ich war mir dennoch nicht sicher, ob sie sich nicht vielleicht nur über mich lustig machte. Ich nahm sie beiseite. »Ich finde, das mit den APRE-Netzen ist gar keine so üble Idee«, sagte ich so leise, daß die anderen mich nicht hören konnten. »Du brauchst doch keines, wenn du im Orbit bist, Conrad«, sagte sie. »Ich meine, du solltest eines tragen, um nicht den Suggestionen der Osyrer ausgesetzt zu sein«, stellte ich richtig. »Und du solltest weitere an ausgesuchte Leute verteilen. Alle APRE-Netzc, über die du verfügst.« »Mache ich, Conrad. Das ist wirklich eine gute Idee.« »Versprichst du es?« »Ich verspreche dir hoch und heilig, alle verfügbaren APRE-Netze an meine engsten Vertrauten zu verteilen«, sagte sie feierlich. »Und Doc Kieli verpasse ich auch eines. Zufrieden?« Ich nickte erleichtert. Denn ich hatte keinen Grund, Lancias Versprechen nicht zu trauen. »Ich möchte euch wohlbehalten und freien Willens antreffen, wenn ich zurückkomme«, sagte ich zum Abschied. »Und vollzählig!« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab mir einen Kuß auf den Mund. Dann flüsterte sie mir zu: »Ich halte dich gar nicht für ein Weichei, Conrad. Du bist schon richtig.« Lancia teilte mir Rana Sindede und Antal Noell als Begleiter zu. Das war kein Grund für mich, unzufrieden zu sein, denn sie hatten schon zu meiner Shiftmannschaft gehört und gut mit mir zusammengearbeitet. Aber ich
war eben von Natur aus mißtrauisch und fragte mich, ob Lancia sie mir nur deshalb zuteilte, um widerspenstige Geister loszuwerden. Das ist ja schon fast paranoid! schalt ich mich. Lancia hatte mir immerhin ein Versprechen gegeben, und auf sie hatte man sich immer verlassen können. Ich hatte mir sogar überlegt, einen Satelliten in den Orbit zu schießen, um auf der GALATHEIA bleiben zu können. Aber die Vorbereitungen dafür wären viel zeitraubender gewesen, als selbst in den Orbit zu fliegen. »Eigentlich brauchte ich euch beide gar nicht«, sagte ich zu meinen Begleitern. »Ich schaffe es auch alleine.« »Lieber nicht«, sagte Rana Sindede. »Ich komme mir unter den anderen fast wie ein Fremdkörper vor. Mir ist es hier irgendwie unheimlich.« »Dieses Abenteuer möchte ich mir nicht nehmen lassen«, sagte Antal Noell. »Das ist wenigstens mal eine Abwechslung.« Die Raumlinsen der GALATHEIA waren relativ flache Ovale von drei Metern Länge. Sie boten gerade genug Platz für einen Mann in gestreckter Haltung. Man lag rücklings in ihnen, mit dem Steuerpult über den Augen. Die Bedienungselemente waren seitlich angeordnet und mußten gewissermaßen blind gehandhabt werden. Für Arbeiten im All mußte man »Handschuhe« überstreifen, um über empfindliche Sensoren die Gelenkarme außerhalb der Kapsel steuern zu können. Der Hyperfunksatellit, den ich auswählte, bestand aus einem kugeligen Grundkörper mit fünfzig Zentimetern Durchmesser und war mit knapp 3,5 Kilo ein ausgesprochenes Leichtgewicht. Mit ausgefahrenen Antennen und den Sonnensegeln, über die der Satellit die benötigten Energien bezog, würde er jedoch eine Spannweite von fünf Metern erreichen. Er besaß einen eigenen Antrieb, mit dem er über eine entsprechend vorprogrammierbare Automatik alle erforderlichen Kurskorrekturen vornehmen konnte. Rana Sindede und Antal Noell sahen mir ungeduldig dabei zu, wie ich die letzten Vorbereitungen traf und den Funksatelliten an einem Robot-Greifer meiner Raumlinse verankerte. »Habt ihr schon mal Raumlinsen geflogen?« fragte ich, um das Schweigen zu überbrücken. »Das gehörte ...«, begannen beide und grinsten einander an. Noell überließ Rana Sindede das Wort, und sie erklärte: »Das gehörte zu unserer Chearth-Schulung, die wir auf dem Flug hierher erhielten. War Teil des Überlebenstrainings.« »Natürlich, wie konnte ich das vergessen«, sagte ich. »Warum dauert denn das so lange?« fragte Lancia über Sprechfunk an. »Wir sind gleich startbereit«, antwortete ich. Zu meinen beiden Partnern sagte ich: »Na, denn los!« Wir kletterten in unsere Raumlinsen. Für mich war das eine ziemliche Tortur, denn der Innenraum der Kapseln war genormt und für einen Zweimetermann war da viel zuwenig Platz. Ich fühlte mich ziemlich beengt, aber zum Glück litt ich nicht an Klaustrophobie. Ich erbat von Lancia Starterlaubnis. Vor uns öffnete sich die breite, aber niedrige Außenschleuse. Gleich darauf wurden wir hinauskatapultiert, und die Impulstriebwerke zündeten. Unsere Raumlinsen waren wahre Luxusexemplare, die sogar Andruckabsorber eingebaut hatten, so daß wir die mehr als zehn Gravos beim Beschleunigungsflug nicht zu spüren bekamen. Die Raumlinsen trugen uns in eine Höhe von 35 Kilometern, dann erstarben die Impulstriebwerke, und die Anziehungskraft des Planeten sorgte für die erforderliche Bremskraft. Es waren noch mehrere korrigierende Schübe nötig, bis wir die erforderliche Höhe von 40 Kilometern erreichten, um den Hy-perfunksatelliten geostationär positionieren zu können. Geostationär bedeutete in unserem Fall, daß der Satellit immer über der GALATHEIA stehen würde und die Drehung des Planeten mitmachte. »Ich beginne jetzt mit der Montage«, teilte ich meinen beiden Begleitern über Sprechfunk mit. »Wie können wir behilflich sein?« fragte Antal Noell. »Gar nicht, das habe ich doch schon gesagt. Genießt einfach die Aussicht.« »Die ist wirklich einmalig«, sagte Rana Sindede. »Ein Raumfahrer kann noch so viele Millionen Lichtjahre zurücklegen, wird aber der Schöpfung nie so nahe sein wie wir in diesem Augenblick.« »Ja, es ist ein wahrlich erhebendes Gefühl ...« Die beiden verfielen in ein banales philosophisches Gespräch. Ich hatte meine Pranken inzwischen in die »Handschuhe« gezwängt und machte ein paar »Fingerübungen«, bevor ich daranging, den Satelliten mittels der Gelenkarme aus seiner Verankerung zu lösen. Damit er nicht unkontrolliert davon-schwebte, hielt ich ihn durch ein Fesselfeld an der langen Leine. Jetzt erst fuhr ich per Funkbefehl die Antennen und die Sonnensegel aus, so daß der Satellit seine volle Spannweite erreichte. Ich drehte ihn in die richtige Position, peilte mit der Richtantenne und dem Sender die ausgesuchte Chearth-Welt in zwanzig Lichtjahren Entfernung an und fuhr erst danach den Sender mit dem Breitbandspektrum aus, der die Hyperfunkwellen in alle Richtungen ausstrahlen würde. Nach einem letzten Check funkte ich über den Satelliten zur Bodenstation: »Festik an GALATHEIA. Der Satellit ist installiert. Gehe jetzt auf Sendung.« »GALATHEIA an Festik«, meldete sich Lancia kurz darauf über Normalfunk. »Habe verstanden. Gib dem Satelliten Power, Conrad!« Lancias Stimme vermittelte mir ein Gefühl der Beruhigung, denn sie war der Beweis dafür, daß auf der
GALATHEIA alles in Ordnung war. Ich schaltete den Hypersender ein, und der Hypertaster der Raumlinse bestätigte, daß der SOS-Ruf ausgestrahlt wurde. Lancia selbst hatte die Endlossendung aufgezeichnet. Sie lautete: VESTA-Kreuzer GALATHEIA in Not. Wurden von Tazolen abgeschossen. Sind auf dem vierten Planeten eines 7-Planeten-Systems mit einer Sonne vom Sol-Typ notgelandet. Können aus eigener Kraft nicht starten. Bitten dringend um Hilfe... Es folgten genaue Koordinaten und astronomische Daten über das System X. Danach wurde die Sendung von Anfang an wiederholt. Und dies endlos. »Verdammt noch mal!« ließ sich Antal Noell hören. »Irgend jemand muß den Hilferuf doch hören und uns heraushauen!« »Das hoffe ich«, sagte ich. Dann meldete ich: »Festik an GALATHEIA. Sind auf Sendung gegangen.« Es erfolgte keine Antwort. »Conrad Festik an GALATHEIA. Bitte um Rückmeldung!« Wieder kam keine Antwort. »Das Schweigen ist wohl kein gutes Zeichen, was?« meinte Rana Sindede. »Wir kehren sofort zurück!« ordnete ich an. Wir umrundeten in dieser Höhe von 40 Kilometern drei Viertel des Planeten, dann gingen wir in einen durch die Automatik genau abgestimmten Landeanflug. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die durch die Reibung entstandenen Flammen um die Schutzschirme erstarben, die Geschwindigkeit der Raumlinsen gedrosselt wurde und alle drei in einen Gleitflug übergingen. Bald darauf glitten wir in die offene Schleuse der GALATHEIA, schlössen sie hinter uns durch Fernsteuerung und warteten, bis die vergiftete Atmosphäre gegen atembare Luft ausgetauscht worden war. Ich stieg, so rasch ich konnte, aus der Raumlinse und verließ im Eilschritt den Hangar. Der Korridor dahinter war leer. Und ich hatte die berechtigte Befürchtung, daß sich uns das gesamte Schiff so darbieten würde. »Verteilt euch«, trug ich meinen Begleitern auf. »Durchsucht das ganze Schiff. Vielleicht ist irgendeiner von der Besatzung zurückgeblieben.« Mein erster Weg führte mich in die Medo-Station. Im Korridor begegnete ich keiner Menschenseele, wie eigentlich nicht anders zu erwarten. Aber auch meine Hoffnung, daß vielleicht wenigstens Lara Duncan zurückgeblieben sein könnte, erfüllte sich nicht. Die Krankenstation war ebenso verwaist wie das gesamte übrige Raumschiff. Als ich später mit Rana Sindede und Antal Noell zusammentraf, wurde das Ungeheuerliche zur Gewißheit: Die Mannschaft war vollständig von Bord verschwunden. Wohin? Natürlich ins Land Osyr, was auch immer man sich darunter vorstellen sollte.
13. »Wünschen wir für unsere Kameraden das Beste«, sagte An-tal Noell. »Mögen sie ihr Paradies gefunden haben. Ich hoffe nur, beim gepriesenen Land Osyr handelt es sich nicht um den Verdauungstrakt eines gefräßigen Monsters.« »Laß diese makabren Scherze, Antal«, wies Rana Sindede ihn zurecht. »Aber vielleicht wird es ihnen in Osyr irgendwann zu langweilig, und sie kommen zurück. Wer kann schon immerwährende Glückseligkeit ertragen? Das Leben ist nun mal eine Berg-und-Tal-Fahrt, und wir Menschen brauchen die Höhen und Tiefen für unser seelisches Gleichgewicht. Was meinst du, Conrad?« »Ich hoffe, du hast recht. Rana, und unsere Kameraden kommen bald reumütig zur GALATHEIA zurück«, sagte ich. Aber ich glaubte nicht daran. Im Innersten war ich fest davon überzeugt, daß wir Lancia Thurman und die anderen nie mehr wiedersehen würden. Vor allem war ich mir sicher, daß sie nicht aus eigenem Antrieb zurückkommen würden. Es mochte ja durchaus sein, daß sie diese Entscheidungsfreiheit gar nicht hatten. Darum entschloß ich mich nach ein paar Tagen des Zuwartens zu einer Suchaktion. Lara und Antal waren begeistert von dieser Idee. Ihnen waren schon die paar Tage des Nichtstuns zuviel, und es entging mir auch nicht, daß sie sich gegenseitig auf die Nerven zu fallen begannen. Die Suche nach den verschollenen Kameraden war in diesem Fall die beste Beschäftigungstherapie. Und die wilden Bestien von Planet Osyr würden uns schon auf Trab halten. »Wonach suchen wir eigentlich?« wollte Antal am Beginn unserer ersten Expedition wissen. »In erster Linie wohl nach einem großen, lichtdurchfluteten Tor, hinter dem regenbogenfarbene, ätherische Geschöpfe herumschweben«, antwortete Rana. »Aber ich fürchte, dieser Idealfall wird nicht eintreten.« »Davon bin ich überzeugt«, sagte ich. »Wir dürfen unsere Suche nicht auf physikalische oder psionische Phänomene beschränken. Darüber werden wir wohl kaum stolpern. Aber vielleicht finden wir eine verlorene Waffe, eine achtlos weggeworfene Verpackung, eine Getränkedose ... etwas in der Art. Etwas, das uns verrät, daß einer von uns diese Stelle passiert hat.« »Ja, menschliche Knochen wären auch kein schlechter Hinweis«, fügte Antal hinzu und lachte schallend über seinen eigenen makabren Scherz.
Das war keine einmalige Entgleisung; es war nicht zu überhören, daß Antal eine geradezu perverse Neigung zur Morbidität entwickelte. Rana regte sich anfangs darüber auf, doch als sie merkte, daß ihn das nur noch mehr aufstachelte, schluckte sie fortan alles kommentarlos hinunter. Das wiederum reizte Antal zu einer weiteren Steigerung seiner makabren Abartigkeiten. Es war ein richtiggehender Teufelskreis, in dem sich die beiden hochschaukelten, und Antal wollte partout nicht daraus aussteigen. Aber nicht nur er schlug über die Stränge. Ich stellte ebenfalls an Rana - und auch an mir selbst zunehmend Symptome von Gereiztheit fest. Es würde noch so weit kommen, daß wir uns gegenseitig überhaupt nicht mehr ausstehen konnten. Ich wartete nur darauf, daß sich Rana und Antal an die Gurgel sprangen. Obwohl auch ich nicht frei von Eigenheiten und Egoismen war, versuchte ich wenigstens, der ruhende Pol in den Turbulenzen unserer zwischenmenschlichen Probleme zu bleiben. Das gelang mir natürlich auch nicht immer. Unsere täglichen Expeditionen wurden bald zur monotonen Routine. Denn obwohl wir mit unseren Raumanzügen in immer entlegenere Gebiete flogen, fanden wir keine Spur von unseren Kameraden. Es war, als hätte sie der Planetenboden verschluckt. An Hinweise auf lichtdurchflutete Tore, Regenbogenwesen, das Land Osyr oder den Lotsen Phylaso war schon überhaupt nicht zu denken. Wenn wir von unseren Expeditionen zurückkehrten und Rana und Antal viel zu erschöpft waren, um sich gegenseitig zu nerven, durchsuchte ich auch das Schiff nach Hinweisen auf den Verbleib unserer Kameraden. Es war immerhin möglich, daß einer aus Sentimentalität einen Abschiedsbrief hinterlassen oder eine letzte Nachricht im Syntronsystem gespeichert hatte. Liebe Freunde, Conrad, Rana und Antal, tut uns sehr leid, daß wir nicht mehr auf eure Rückkehr warten konnten ... Wenn ihr uns folgen wollt, das Tor ins Land Osyr steht dort und dort ... Das Losungswort heißt Sesam, öffne dich ... Aber nichts dergleichen fand sich. Die Crew hatte alles liegen- und stehenlassen und sich geschlossen auf den Weg ins Irgendwo gemacht. Ich dachte daran, daß es bestimmt nicht so weit gekommen wäre, hätte Lancia die APRE-Netze verteilt. Allerdings machte ich eine Entdeckung, die zu belegen schien, daß sie sich doch an das Versprechen gehalten hatte, das sie mir zum Abschied gegeben hatte. Ich fand die Reste von sieben total zerschnipselten APRE-Netzen verstreut herumliegen. Ich stellte es mir so vor, daß Lancia die Netze wohl ausgegeben hatte, jedoch ohne sich zu vergewissern, daß sie auch getragen wurden. Und statt sie zweckdienlich einzusetzen, hatten ihre neuen Besitzer sie kurzerhand zerstört. Lancia mußte mit dem ihren wohl ebenso verfahren sein ... Ich stieg sogar in Lancias Simusense-System ein. Aber abgesehen davon, daß ich in ihrer virtuellen Welt ein paar überraschende Erkenntnisse über ihren Charakter, ihre Wünsche und Abneigungen erhielt, entdeckte ich nichts Interessantes. Nicht den geringsten Hinweis auf das Land Osyr. Immerhin fand ich so heraus, daß sie mich gar nicht als Weichei eingestuft, sondern mich überaus attraktiv gefunden und heimlich verehrt hatte; nur aus Anständigkeit gegenüber Van hatte sie die Finger von mir gelassen. Ich hatte nie etwas von Lancias Zuneigung gemerkt, aber das war nicht überraschend, denn mit Frauen hatte ich mich noch nie besonders ausgekannt. Selbst bei Van war mir oft nicht klar gewesen, wie sie dieses Wort oder jene Geste meinte. Ich entschuldigte mich im Geiste bei Lancia dafür, daß ich in ihre Intimsphäre eingebrochen war, und rührte ihr Terminal danach nie wieder an. Es vergingen zwei Monate, ohne daß wir fündig geworden wären. Und müßig zu sagen, daß auch kein Funkspruch eintraf, in dem unsere Rettung angekündigt wurde. Diese Tatsache, daß für uns keine Hilfe in Aussicht war, zehrte natürlich besonders an unser aller Substanz. Rana und Antal löcherten mich immer wieder damit, ob mit dem Sender und dem Empfänger und mit der gesamten Peripherie auch wirklich alles in Ordnung war. Ob es vielleicht irgendwo im Nachrichtensystem einen Fehler gab? Sie wünschten sich das geradezu, denn das wäre wenigstens eine Erklärung dafür gewesen, daß niemand auf unsere SOS-Rufe reagierte. Wenn dagegen unser Notruf seit zwölf Standardwochen pausenlos gesendet wurde und dennoch von niemandem Antwort kam, dann war das schon deprimierend. Es implizierte die schreckliche Aussicht, daß wir bis zu unserem Tod auf diesem Planeten festsitzen würden. »Ich wünschte, ich könnte bei unseren Kameraden sein«, sagte Antal immer öfter. »Egal wo sie sind.« Ich wußte, daß er es ernst meinte. Vier Monate des hoffnungslosen Wartens hatten uns gezeichnet. Wir sprachen kaum mehr miteinander. Denn manchmal hätte ein einziges falsches Wort genügt, um das Pulverfaß der Emotionen, auf dem wir saßen, zur Explosion zu bringen. Antal hatte es sich sogar abgewöhnt, seine ekligen Scherze zu machen und Obszönitäten und Gemeinheiten von sich zu geben. Ihm war bewußt, daß dies durchaus zu Mord und Totschlag führen konnte. Dafür hatte er sich etwas anderes angewöhnt.
Eines Tages überraschte er mich damit, daß er uns eröffnete: »Ich gehe heute allein auf Expedition!« Weder Rana noch ich konnten ihm das ausreden. Es nützte nichts, ihn auf die vielfältigen Gefahren hinzuweisen, die im Dschungel lauerten. Er lachte uns nur aus und meinte: »Ich kenne jedes Tier und seine Verhaltensweisen, mich kann nichts mehr überraschen. Ich bin der Bestienkiller.« Er war nicht zu halten, und wir konnten ihn zu nichts zwingen. Er mußte selbst wissen, was er tat. Ich hatte ihn sogar im Verdacht, daß er es darauf anlegte, von den Osyrern kontaktiert zu werden. Aber wenn er tatsächlich das im Sinn hatte, so wurde er offenbar enttäuscht. Denn er kam immer wieder zur GALATHEIA zurück. Auch Rana machte einmal den Versuch, den Dschungel allein zu durchstreifen, aber sie empfand das als Mißerfolg. Sie gestand mir nachträglich, daß sie sich nur deshalb auf den Weg gemacht hatte, um Antal zu folgen und ihn zu beobachten. Aber als sie ihn aus den Augen verlor, hatte sie kehrtgemacht. »Der Dschungel ist nichts für mich«, meinte sie abschließend und ging danach nicht mehr allein auf Tour. Und dann passierte es. Antal kehrte von seinem achten Solotrip nicht mehr zurück. Rana und ich machten die ganze Nacht kein Auge zu und warteten auch am nächsten Morgen vergeblich auf seine Rückkehr. Nur um nicht untätig herumzusitzen und uns gegenseitig fertigzumachen, begaben wir uns auf die Suche nach ihm. »Vielleicht finden wir wenigstens sein Skelett«, sagte Rana. »Laß das«, bat ich sie. »Du kannst diesbezüglich Antal sowieso nicht das Wasser reichen.« Wie nicht anders zu erwarten, fanden wir keine Spur von Antal. »Wenn er das Land Osyr gesucht hat, dann hoffe ich für ihn, daß er jetzt bei unseren Kameraden ist«, sagte ich am Ende des Tages. »Das muß gefeiert werden!« rief Rana überdreht und bereitete uns ein Festmahl zu. Sie konnte natürlich nur die Standardzutaten aus den Vorräten verwenden. Aber sie bereitete diese optisch dermaßen gekonnt auf, daß man meinte, eine lukullische Köstlichkeit zu genießen. Während des Essens warf sie einmal zwanglos ein: »Ist dir eigentlich bewußt, Conny, daß wir nun ein Leben wie Adam und Eva im Paradies führen?« Ich haßte es, wenn man mich Conny nannte, und sie hätte es wissen müssen. Darum sagte ich abweisend: »Es ist noch zu früh, sich darüber Gedanken zu machen.« Nach dem Essen war ich so müde, daß ich mich sofort schlafen legte. Ich erwachte irgendwann mit brummendem Schädel. Als ich mein Aussehen im Spiegel prüfen wollte, stellte ich fest, daß mein Gesicht mit Mundabdrücken eines nicht kußechten Lippenstifts übersät war. »Rana, du Biest«, sagte ich zu meinem Spiegelbild, aber ich lächelte dabei. Ich fragte mich, ob sie mir irgend etwas ins Essen getan hatte, um mich wehrlos zu machen und sich meiner sexuell bedienen zu können. Aber ging das bei einem Mann überhaupt? Das Lächeln verging mir rasch, als ich die GALATHEIA vergeblich nach ihr durchsuchte. Sie kehrte auch nach weiteren vier Wochen nicht zurück. Und spätestens da war mir klar, daß sie denselben Weg wie Antal gegangen war. Ich befand mich gerade in den Sümpfen fernab der GALA-THEIA auf Großwildjagd, als ich einen Funkspruch empfing. Es war ein Funksignal, das der Orbitale Hyperempfänger an die GALATHEIA schickte, von wo er an mich weitergeleitet wurde. Er lautete: Remu Romolo von der AKORAR ruft die GALATHEIA. Notruf empfangen. Komme zu Hilfe. Ich schaltete augenblicklich das Flugaggregat ein und flog mit Höchstwerten in Richtung GALATHEIA. War unser Notruf doch tatsächlich noch aufgefangen worden? Oder träumte ich das alles nur? Als ich mich der GALATHEIA näherte, sah ich schon von weitem, wie sich aus dem Himmel ein schwarzer Kugelraumer auf unsere Absturzstelle herabsenkte. Ich wunderte mich nicht darüber, daß es sich um ein Haluterschiff handelte. Ich war nur fassungslos vor Glück. Remu Romolo holte mich an Bord seines Schiffes und startete direkt aus dem X-System zum Rückflug in die Milchstraße. Er war der allerletzte Haluter in Chearth. Was für eine seltsame Fügung, daß Remu Romolo noch eine abschließende Besichtigungstour durch Chearth hatte machen wollen und bei seiner letzten Station unseren Notruf auffing. Diesem Zufall habe ich es zu verdanken, daß ich damals in die Milchstraße zurückkehren konnte.
Gegenwart
Mai 1302 NGZ: Tia de Mym
14. Als Conrad Festik endete, war es still um uns. Wir beide waren allein in der Kommandozentrale der AKKAZZON, diesem wlatschidischen Geisterschiff. Die gesamte Mannschaft war tot, vermutlich von irgendeiner Seuche dahingerafft. Der einzige Passagier, eine Terranerin, hatte in einem Tiefschlaftank überlebt. Sie war übel zugerichtet, und es stand nicht gut um sie. Ihr Name: Lancia Thurman, ihres Zeichens Kommandantin der GALATHEIA, auf der auch Conrad Festik gedient hatte. Ich wußte jetzt, was damals passiert war und warum Conrad Festik vor zehn Jahren allein in die Milchstraße zurückgekehrt war. Das heißt, ich kannte die Geschehnisse nur aus Festiks Warte. Was Lancia Thurman und ihrer Mannschaft widerfahren war, das lag im dunkeln. Aber auch in Festiks Geschichte gab es noch ein paar Unklarheiten und Ungereimtheiten. Die mußten noch ausgeräumt werden. Während Festik seine Geschichte erzählt hatte, hatte ich mit Perry Rhodan auf der VASCO DA GAMA in Verbindung gestanden und ihm Zwischenberichte gegeben. Festiks »Geständnis« war in Bild und Ton festgehalten worden. Insgesamt waren drei Kameras im Einsatz gewesen. Ich hatte keine Panne riskieren wollen, nichts hatte schiefgehen dürfen. Conrad Festiks »Beichte« war ein erschütterndes Zeitdokument. All die Jahre hatte Conrad Festik gehofft, daß Lancia Thurman und die übrige Mannschaft der GALATHEIA das Paradies entdeckt hätten ... Aber das schien ihnen nicht vergönnt gewesen zu sein. Denn wenn er sah, was aus Lancia geworden war, konnte er unmöglich weiterhin glauben, daß sie Glückseligkeit gefunden hatte ... Und die anderen demnach ebensowenig. Er hatte sich eine Pause verdient, bevor ich mich weiter mit ihm beschäftigen würde. Aber einen Punkt wollte ich vorher noch klären. »Du hast mich belogen, als du sagtest, du wärst einer Gehirnoperation unterzogen worden, Conrad«, sagte ich ihm ins Gesicht. »Ich habe mir deinen Lebenslauf durchgesehen. Da ist nichts von einer solchen Operation vermerkt.« »Ich habe nicht dich belogen«, antwortete er gelassen. »Ich habe lediglich wiedergegeben, was ich Lancia erzählt habe. Wenn, dann habe ich höchstens sie angeschwindelt.« »Und was ist die Wahrheit?« »Sag's du mir, Tia. Du hast doch Erkundigungen über mich eingezogen, oder?« Ich seufzte. »Treib keine Spielchen mit mir, Conrad«, sagte ich müde. »Ich bin im Moment dazu nicht aufgelegt. Sag mir einfach, was mit dir los ist. Was stimmt nicht mit dir? Warum warst du auf der GALATHEIA der Außenseiter, der Störfaktor? Ich werde es sowieso herausfinden. Aber es würde mir viel Arbeit ersparen, wenn du deine Karten aufdeckst.« »Vielleicht ist gar nichts mit mir los, und es stimmt alles mit mir«, sagte er. »Hast du auch daran gedacht?« Ich seufzte wieder; Festik war schon ein sturer Bock. Aber ich hatte keine Lust mehr, die Sitzung weiterzuführen. Ich war müde, und außerdem wartete die Servicemannschaft darauf, daß die AKKAZZON freigegeben und zur weiteren Untersuchung auf einen Tender gebracht werden konnte. »Machen wir erst einmal Schluß, Conrad«, sagte ich. »Aber wir werden uns noch eingehend unterhalten müssen. Du bist ein wichtiger Zeitzeuge.« Er machte ein Gesicht, als hätte er in eine faule Frucht gebissen. Das schmeckte ihm nicht, klar, so plötzlich aus der Anonymität gerissen zu werden und im Rampenlicht zu stehen. Aber dafür konnte ich schließlich nichts. Wir schickten uns an, das Rachenschiff zu verlassen und zur VASCO DA GAMA zurückzukehren. Festik ergriff im Gehen meinen Arm und erkundigte sich panisch, so als fiele ihm die Frage erst in diesem Moment ein: »Was ist mit Lancia? Was wird aus ihr?« »Sie konnte am Leben gehalten werden«, antwortete ich. »Man hat sie nach Mimas in die Para-Klinik gebracht.« »Wieso in die Para-Klinik?« »Weil man eine psionische Ausstrahlung an ihr festgestellt hat. Für solche Fälle ist immer die Para-Klinik von Mimas zuständig.« »Aber Lancia hatte doch nie ein Psi-Potential.« »Jetzt anscheinend aber doch. Wie auch immer, sie ist auf Mimas und bekommt dort die denkbar beste Behandlung.« »Werde ich sie besuchen dürfen?« »Mal sehen. Aber das hängt auch ein wenig davon ab, wie kooperativ du bist.« »Bin ich denn nicht kooperativ? Ich habe dir doch alles erzählt, selbst intimste Details.« Das stimmte, er war in manchen Belangen für meinen Geschmack sogar zu intim geworden. Wie etwa ... »Was hat es mit deiner Erektion beim Absturz der GALATHEIA auf sich?« fragte ich unvermittelt. »Wie? Was?« stammelte er erschrocken. »Ist doch eine einfache Frage«, sagte ich. »Du selbst hast mich auf diesen Umstand hingewiesen. Du warst
nackt in der Kommandozentrale und hattest beim Aufprall der GALATHEIA eine Erektion. Das sind deine Worte. Du wolltest mich damit doch nicht bloß anmachen, oder?« Er wurde tatsächlich rot. »Nein, nein«, sagte er. »Hab' gar nicht mehr daran gedacht, daß ich das erwähnt habe.« »Und warum hast du mich darauf hingewiesen?« »Weil es mir danach noch öfter passierte«, antwortete er. »Es gab nie einen plausiblen Grund dafür. Aber ich fand für mich eine mögliche Erklärung. Ich vermutete, daß es mir stets dann passierte, wenn die Osyrer ihre parapsychischen Fühler ausstreckten und ihre Suggestionsimpulse aussandten.« Ich pfiff durch die Zähne. »Bringst du es denn ohne einen solchen Kick nicht mehr, Conrad?« Ich bereute meine Worte, kaum daß ich sie ausgesprochen hatte, und ich entschuldigte mich dafür. Aber ich befürchtete, daß er sich bereits ein völlig falsches Bild von mir gemacht hatte. Dabei mochte ich ihn. Es würde nun nicht leicht für mich sein, sein Vertrauen zurückzugewinnen. Als wir auf der VASCO DA GAMA eingetroffen waren und sich unsere Wege trennten, sagte er noch einmal: »Ich muß mit Lancia Thurman sprechen, bitte! Das würde ihr sicherlich guttun.« »Mal sehen, was sich machen läßt.« Das war vielleicht die Schiene, über die ich ihm wieder näherkommen konnte. Sie nahmen Conrad Festik in Gewahrsam. Aber das hieß nicht, daß er den Status eines Gefangenen bekam, im Gegenteil, er wurde als wichtige Persönlichkeit eingestuft. Schließlich war er unser einziger Zeuge. Aber der Unterschied zu einem Gefangenen war nicht groß, auch Conrad Festik konnte sich ab diesem Moment nicht mehr frei bewegen. Ich wußte, wie so etwas ablief. Mir gönnte man eine sechsstündige Regenerationsphase. Man teilte mir auf der VASCO DA GAMA eine Kabine zu, in der ich ausruhen konnte. Meiner Bitte, bei Keerk und den anderen TLD-Agenten sein zu dürfen, wurde nicht stattgegeben. Die waren angeblich längst wieder in den TLD-Tower zurückgekehrt. Doch das glaubte ich nicht, ich war überzeugt, daß man mich nur von ihnen fernhalten wollte. Warum? Hatte der Fall bereits die Dimensionen einer Staatsaffäre bekommen? Wenn ich es mir recht überlegte, dann war diese Angelegenheit doch ein recht deftiger Brocken. Voller Geheimnisse und mysteriöser Hintergründe - und einer möglichen Bedrohung von unbekannter Größenordnung. Ich legte mich entspannt in die Koje, konnte aber zuerst keinen Schlaf finden. Ich war völlig überdreht, und mir gingen die wüstesten Gedanken durch den Kopf. Und als ich dann endlich vor Erschöpfung einschlief, wurde ich auch schon wieder brutal geweckt. Der Resident wünschte mich zu sprechen. Ich bekam eine Eskorte von vier TLD-Agenten, doch die hatten mit unserem Einsatzkommando überhaupt nichts zu tun. Sie gehörten irgendeiner Spezialtruppe an. Davon gab es so viele, wie gerade Fälle anhängig waren. Nur Noviel Residor selbst wußte, wie viele das waren. Und er sorgte mit der Schaffung immer wieder neuer Einheiten dafür, daß seine Agenten einander menschlich nicht zu nahekamen. Denn Noviel Residor war Menschlichkeit fremd. Er war der kälteste Hund, den man sich vorstellen konnte. Manche schworen, daß er noch viel emotionsloser sei als jeder Roboter. Denn Roboter mußten sich wenigstens nach den drei Grundgesetzen richten. Für Noviel Residor dagegen gab es keinerlei Beschränkungen. »He. Kameraden, ich bin eine von euch«, versuchte ich zu meiner Eskorte einen Kontakt aufzubauen. Aber die Mienen der vier blieben steinern, für die war ich Luft. Sie brachten mich zum Büro des Residenten, das direkt an die Kommandozentrale der VASCO DA GAMA angrenzte. Als ich eintreten durfte, sah ich zuerst nur Perry Rhodan. Aber der Resident war nicht allein. »Sieh an, sieh an«, sagte Noviel Residor mit seiner messerscharfen Stimme zur Begrüßung. »Aus der kleinen, verschreckten Aspirantin ist eine wertvolle TLD-Agentin geworden.« Mich traf fast der Schlag, als ich meines obersten Chefs ansichtig wurde. Er war 189 Zentimeter groß, schlank und wirkte ein wenig schlaksig. Sein Schädel war kahl, das Gesicht kantig, mit dunkelbraunen Augen, gerader Nase und breitem Mund. Er machte keine unnötigen Gesten oder Worte, bediente sich einer präzisen Aussprache und war, selbst wenn er flüsterte, gut zu verstehen, ja, er bediente sich eines intensiven Flüstertons stets dann, wenn er besonders eindringlich werden wollte. Seine anmutigen schmalen Hände, wie man sie eher bei einem Künstler erwartete, blieben beim Sprechen völlig inaktiv. Wie meist trug er schlichtes Zivil ohne jegliche modischen Akzente. Er war 1239 NGZ in Terrania geboren, aber er hätte ebenso 100 wie 50 Jahre alt sein können; er war alterslos. Die Glatze machte ihn jedenfalls nicht älter. Er war, als er selbst noch einfacher TLD-Agent war, ein wilder Draufgänger gewesen. Mit 30 hatte er bei einem Einsatz so schwere Gehirnverletzungen abbekommen, daß ihm anstelle der abgestorbenen Hirnteile eine Biotronik implantiert werden mußte. Sein Gehirn war danach wieder voll funktionsfähig, aber er vermochte nach eigener Aussage keine Gefühle mehr zu empfinden. Wer einmal mit ihm zu tun gehabt hatte, konnte dies nur vorbehaltlos bestätigen. Die Anwesenheit des TLD-Chefs machte mir klar, daß dieser Fall überaus ernst genommen wurde und als
hochgradig brisant eingestuft worden sein mußte. Wo war ich da hineingeraten? Ich bereute es auf einmal, mich freiwillig für diesen Einsatz gemeldet zu haben. »Komm bitte weiter«, forderte mich Perry Rhodan auf, der mir meine Beklemmung offenbar ansah; aber dazu gehörte auch nicht viel. »Und nimm Platz.« Ich setzte mich dem Residenten gegenüber, Noviel Residor blieb stehen; Rhodan akzeptierte das. »Noviel und ich haben uns die Aufnahmen deiner Befragung von Conrad Festik gemeinsam angesehen«, eröffnete der Resident das Gespräch. »Und ich muß gestehen, wir waren von deiner Professionalität beeindruckt.« Ich blickte kurz zum TLD-Chef. Der verzog keine Miene und schwieg. »Danke, Resident.« »Keine Ursache, du warst wirklich gut, Tia. Ich darf dich doch so nennen?« Er wartete mein Nicken ab, dann fuhr er fort: »Aber wir konnten uns beide nicht des Eindrucks erwehren, daß du sehr emotionell an die Sache herangegangen bist. Würdest du mir da zustimmen, Tia?« »Ich kann Gefühle nie ganz ausschalten«, antwortete ich und bedachte Noviel Residor mit einem Seitenblick, den er als Seitenhieb auf sich beziehen sollte. »Ich bin es gewohnt, stets die menschliche Komponente einzubeziehen.« »Es war zu merken, daß du versucht hast, Conrad Festik auch menschlich näherzukommen«, stellte Perry Rhodan fest. »Ich finde das begrüßenswert. Aber du schienst mir mit dem Ergebnis deiner Bemühungen dennoch unzufrieden. Lag es daran, daß dich Conrad Festik in einem Punkt belegen hat beziehungsweise daß er nicht die ganze Wahrheit über sich gesagt hat?« »Er hat behauptet, er sei einer Gehirnoperation unterzogen worden und seitdem mentalstabilisiert«, antwortete ich. »Ich habe aber in seiner Personalakte, die bis zu seiner Geburt zurückreicht, nichts über eine solche Operation gefunden.« »Und warum erscheint dir dieser Punkt so wichtig?« »Das geht aus dem Protokoll hervor«, sagte ich verwundert. »Conrad hat seine Mentalstabilisierung als Grund für seine Unbeeinflußbarkeit auf Planet 4 angeführt. Aber das kann nicht sein. Es muß eine andere Begründung dafür geben, daß die Suggestionen der Osyrer wirkungslos von ihm abprallten. Ja daß seine Gegenwart sogar seine Kameraden vor Beeinflussung schützte. Conrad kennt den wahren Grund dafür. Aber er hat ihn mir nicht verraten. Er möchte, daß ich das selbst herausfinde. Aber in den Unterlagen zu seiner Person finden sich keine Hinweise darauf. Wie ist das möglich, Resident?« Perry Rhodan seufzte. »In einem so aufgeblasenen Apparat, wie es die Solare Verwaltung zwangsläufig ist, weiß oftmals eine Hand nicht, was die andere tut. Es sind zwar alle Daten vorhanden, und man ist auch um Koordination bemüht, aber manchmal muß man eben wissen, wo man nach dem Gewünschten suchen soll.« »Ich verstehe, Resident«, sagte ich, von diesem Geständnis ernüchtert. »Und wo könnte ich noch nach Daten über Conrad Festik suchen, wenn nicht in der Raumflotte und den Unterlagen von Camelot?« »Wie wäre es mit Moharion Mawrey?« meinte Perry Rhodan. Moharion Mawrey war die Residenz-Ministerin für Mutantenfragen. Sie hatte sich zur Aufgabe gemacht, die vielen unerkannten Monochrom-Mutanten ausfindig zu machen, sie in Mutantenschulen unterzubringen und ihre Parafähigkeiten zu fördern. Ihr Bestreben war, ein neues Mutantenkorps zu gründen. »Aber Conrad Festik ist ganz gewiß kein Monochrom-Mutant«, stellte ich fest. »Das hätte ich gemerkt, und das wäre auch in seiner Personalakte vermerkt. Außerdem ist er dafür zu alt. Die Monochrom-Mutanten entstammen alle späteren Generationen.« »Es gibt Ausnahmen - wie etwa Vincent Garron eine ist«, berichtigte mich der Resident. »Garron ist zugegebenermaßen kein positives Beispiel. Seien wir froh, daß er mit der SOL weg ist... Und Conrad Festik ist definitiv kein Monochrom-Mutant. Aber er trägt etwas davon in sich. Das wissen wir von Moharion Mawrey. Sie hat uns ein Dossier über ihn zur Verfügung gestellt.« Ich schnappte erst einmal nach Luft, dann explodierte ich. Mir war es egal, daß sich mein Zorn gegen keine Geringeren als den Residenten und meinen obersten Chef richtete. Ich mußte mir einfach Luft machen. »Ihr habt die ganze Zeit über Bescheid gewußt?« rief ich zornig. »Und trotzdem redet ihr um den heißen Brei herum? Was soll dieses Spielchen? Habe ich keine Berechtigung, informiert zu werden? Soll ich aus dem Fall abgezogen werden?« Perry Rhodan machte mit einer Hand beschwichtigende Bewegungen und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Ganz im Gegenteil, Tia«, ergriff nun Noviel Residor das Wort. »Conrad Festik gehört dir, und zwar dir ganz alleine. Du hast ihn aufgebaut und ein Vertrauensverhältnis zu ihm hergestellt. Das ist die halbe Miete. Du bist die einzige, die ihn weichklopfen kann!« »Halbe Miete? Weichklopfen?« sagte ich verständnislos und sah hilfesuchend zum Residenten. Aber Perry Rhodan wich meinem Blick aus. Er murmelte eine Entschuldigung und etwas davon, daß er noch wichtige, unaufschiebbare Verrichtungen zu erledigen habe, und verließ den Raum. Der Resident wußte - oder ahnte zumindest -, was jetzt kommen würde, und verabschiedete sich lieber, um nicht in die unangenehme Situation zu geraten, sein Veto einlegen zu müssen - oder Noviel Residors
Machenschaften zu sanktio-nieren. Das wirkte wie Feigheit, aber in diesem Fall war es wohl eher Diplomatie zu nennen. Perry Rhodan hätte es nach all seinem Einsatz für die Menschheit nicht verdient, als Feigling bezeichnet zu werden. Aber er lieferte mich Noviel Residor aus, dessen mußte ich ihn schon bezichtigen. »Reden wir offen miteinander, Tia - so von TLD-Agent zu TLD-Agent«, sagte Noviel Residor scharf; jetzt, da der Resident nicht mehr zugegen war, konnte er auf jegliche Schönfärberei verzichten. »Es ist nun mal unsere heilige Pflicht, für die Sicherheit des Solsystems und der Liga Freier Terraner zu sorgen. Koste es, was es wolle. Um jeden Preis. Und dafür müssen wir alle unsere Opfer bringen. Persönliche Gefühle müssen hintangestellt werden. Kurzum, ich möchte, daß du deine Beziehung zu Conrad Festik dazu benutzt, den Fall Lancia Thurman zu lösen.« »Ist das inzwischen ein so großer Brocken?« wollte ich wissen. »Noch nicht, aber ich habe dafür ein untrügliches Gespür, daß da noch einiges auf uns zukommt«, sagte Noviel Residor. »Lancia Thurman macht eine unheimlich Metamorphose durch, deren Höhepunkt noch längst nicht erreicht ist. Sie ist unser eigentliches Zielobjekt. Aber Conrad Festik ist der Schlüssel zu ihr. Und du bist das Verbindungsstück, die Brücke zwischen Conrad Festik und Lancia Thurman. Du mußt sein Vertrauen gewinnen, meinetwegen auch seine Liebe erringen, du kannst das, Tia. Du bist überaus attraktiv, sexy, möchte man sagen, und kannst außerordentlich kokett sein. Setz deine Waffen ein! Du mußt Conrad Festik für dich gewinnen, um an Lancia Thurman heranzukommen.« Welche Frau hörte nicht gerne, daß sie attraktiv und sexy war. Aber aus Residors Mund klang das eher abwertend. Diese Eigenschaften waren für ihn Waffen im Kampf für den TLD. »Kann ich auf dich bauen, Tia?« fragte er so emotionslos wie stets. »Was ist nun mit Conrad Festik eigentlich los?« wollte ich wissen. »Und warum sollte Lancia Thurman auf einmal zu einer Bedrohung werden?« »Du bekommst alle Unterlagen, wenn du den Fall übernimmst«, erklärte Noviel Residor. Und er wiederholte die Frage: »Kann ich auf dich zählen, Tia?« »Was bist du doch für ein gefühlskalter Hund, Noviel!« warf ich ihm impulsiv an den Kopf. »Ich weiß, daß ich das bin. Es zeichnet mich als TLD-Chef aus. Und jetzt kümmere dich um Conrad Festik und mach ihm schöne Augen. Ich weiß, daß er auf dich abfährt.« Ich fühlte mich schon jetzt unsagbar schmutzig, obwohl ich Conrads Vertrauen noch gar nicht mißbraucht hatte. Ich hatte natürlich die Option, mich immer noch von diesem Fall zu distanzieren. Aber ich wußte, daß ich es nicht tun würde. Dafür war ich zu sehr pflichtbewußte TLD-Agentin.
15. »Ich habe gute Nachrichten, Conrad«, sagte ich nach dem Betreten der Luxuskabine, die man ihm auf der VASCO DA GAMA wie einem hohen Staatsgast zugeteilt hatte. »Du darfst Lancia Thurman auf Mimas besuchen.« »Das ist ... grandios!« rief er überwältigt aus. »Ehrlich gesagt habe ich damit nicht mehr gerechnet. Ich könnte dich dafür küssen!« Er hob mich spielerisch hoch, so daß mein Gesicht mit dem seinen auf gleicher Höhe war. Dann küßte er mich tatsächlich auf den Mund, wenn auch nur flüchtig, und drehte sich mit mir im Kreise. Ich legte ihm die Arme um die Schultern, widerwillig zuerst, aber dann durchströmte mich auf einmal ein solches Gefühl der Zuneigung, daß ich ihn umarmte und mich an ihn drückte. Ich kann nicht anders, als so zu handeln, Conrad, sagte ich in Gedanken. Aber ich werde dich nicht verraten. Das schwöre ich. Er setzte mich ab und fragte ungeduldig: »Wann kann ich Lancia sehen?« »Jederzeit. Eine Klein-Jet steht für uns bereit.« »Wärest du bereit, sofort mit mir nach Mimas zu fliegen?« »Einverstanden. Ich habe damit gerechnet, daß du nicht länger zuwarten willst, und die entsprechenden Vorkehrungen bereits getroffen.« »Welche Vorkehrungen hast du denn treffen müssen, Tia?« fragte er erstaunt. »Nun, Mimas ist nicht für jedermann frei zugänglich«, antwortete ich vorsichtig. »Man kann dort nicht so einfach aus und ein spazieren wie in irgendeinem Hospital auf Terra. Mimas ist eine einzige Sicherheitszone. Es gibt dort auch Patienten, die einer strengen Aufsicht bedürfen.« »Ich weiß. Aber wennschon. Hauptsache, du hast eine Besuchserlaubnis bekommen. Aber... sag mir nur noch eines...« »Ja?« »Wird Lancia durchkommen?« »Man hat mir gesagt, daß ihr physischer Zustand stabil ist«, sagte ich, jedes Wort abwägend. Das war eine dieser schwammigen Formulierungen, deren man sich bediente, um nicht die volle Wahrheit sagen zu müssen. Aber zum Glück fragte er nicht, wie es um ihr psychisches Wohl stand. Ich fügte bekräftigend hinzu:
»Für Lancia besteht keinerlei Lebensgefahr.« »Das beruhigt mich«, sagte er erleichtert. »Mit diesem Wissen kann ich ihr ungezwungener gegenübertreten.« »Ja, versuche, ihr gegenüber ganz natürlich zu sein«, pflichtete ich ihm bei. Ich wußte zwar selbst nicht, was uns erwartete, aber nach Noviel Residors Andeutungen über eine Metamorphose konnte Lancia Thurmans Anblick dazu angetan sein, Conrad einen gehörigen Schock zu versetzen. Wir checkten in der Jet ein. Uns stand ein Passagierraum zur Verfügung, der sechs Personen Platz bot. Aber wir waren die einzigen Passagiere. Von der Mannschaft, die aus höchstens zwei Mann bestehen konnte, bekamen wir auch nichts zu sehen. Kommunikation mit dem Piloten und seinem Co war nicht möglich. Durch zwei große, einander gegenüberliegende Bullaugen konnten wir auf der einen Seite das All sehen und auf der anderen, wie wir gerade aus einem Hangar hinausglitten. Von der rasanten Beschleunigung spürten wir nichts. Wir sahen nur, wie die VASCO DA GAMA immer kleiner wurde und schließlich vom Sternenmeer verschluckt wurde. Danach gingen wir in eine kurze Hyperraumetappe, und dann stand auch schon der Saturn mit seinem prächtigen Ringsystem vor uns und wurde rasch größer und größer. Es herrschte Schweigen zwischen uns. Ich hatte die ganze Zeit über das Gefühl, daß Conrad etwas sagen, mir etwas anvertrauen wollte, sich aber aus irgendeinem Grund nicht dazu durchringen konnte. Ich vermutete, daß es sich um sein kleines Geheimnis handelte, und war gespannt, ob er sich doch noch überwinden konnte, es mir von sich zu verraten. »Was für ein grandioser Anblick«, sagte er, als wir die Saturnringe schräg durchstießen. »Warst du schon mal auf Mimas, Conrad?« »Nein, noch nie. Du, Tia?« Das war Small talk pur. »Vor Jahren, während meiner Ausbildungszeit«, antwortete ich. »Wir hielten auf Mimas ein Manöver ab. Es wurde der Fall simuliert, daß im PAKS eine Meuterei von Häftlingen stattfand. Wir schlugen die Meuterei nieder, natürlich, wie das bei Manövern so üblich ist.« »PAKS?« wiederholte Conrad nachdenklich. »Noch nie davon gehört.« »PAKS steht für paraabnorme kritische Straftäter«, erklärte ich ihm. »Die Abkürzung dafür ist der Name dieses aus-bruchssicheren Hochsicherheitsgefängnisses für solche Straftäter. Im Volksmund wird es auch Para-Bunker genannt.« »Diesen Begriff kenne ich«, sagte Conrad. »War dort nicht auch der Supermutant Vincent Garron inhaftiert, der Massenmörder?« Grinsend fügte er hinzu: »Aber von wegen aus-bruchssicher. Garron hat damals gezeigt, wie es geht.« Wir glitten jetzt in langsamer Fahrt unter den Saturnringen der Gruppen A bis D dahin, die schon von alters her bekannt waren. Der Saturn füllte unser gesamtes Blickfeld, der Riesenplanet war eine alles dominierende Erscheinung, das wurde einem besonders bewußt, wenn man auf der Oberfläche von Mimas stand. Denn der kleine, fast winzige Trabant Mimas war der innerste Mond und war mit seinen nur 185.000 Kilometern Entfernung Saturn so nahe, daß man von diesem Giganten förmlich erschlagen wurde. Doch wir bekamen nicht die Chance auf eine besondere Aussicht oder Lichtershow, denn Mimas durchwanderte gerade den Saturnschatten, und darum war der gesamte Mond in stockfinstere Nacht gehüllt. Aber vielleicht war das auch besser so, denn dann war die düstere, deprimierende und bedrohliche Situation im Herschel-Krater nicht so deutlich wahrzunehmen. Mimas tauchte jetzt als dunkler Schemen vor uns und unter den Staubringen auf. Die Anlagen der vielen Kliniken, die große Teile des Mondes bedeckten, waren nur undeutlich zu erkennen. Dann schob sich der Rand des Herschel-Kraters ins Blickfeld, der den gewaltigen Durchmesser von 100 Kilometern hatte. Der Paratronschirm, der den gesamten Krater überspannte, war als düsteres Leuchten zu erkennen. »Was ist das für ein riesiger Krater unter uns?« fragte Conrad. »Der Herschel-Krater«, gab ich Auskunft. »Benannt nach seinem Entdecker William Herschel. Das war im Jahre 1789 alter Zeitrechnung.« »Herschel-Krater?« wiederholte Conrad. »Liegt in seinem Zentrum nicht der Para-Bunker?« »Richtig«, bestätigte ich. »Und dorthin müssen wir.« Conrad sah mich entsetzt an. »Willst du damit sagen, daß man Lancia in dieses Hochsicherheitsgefängnis für paraabnorme Straftäter gebracht hat? Daß man sie als anormalen, gefährlichen Schwerverbrecher einstuft?« »Nein, das tut man keineswegs, Conrad . . .« »Warum hat man sie dann in den Para-Bunker gesteckt?« Die Jet glitt durch eine Strukturschleuse im Paratron auf das PAKS-Gebäude hinunter, das auf der Erhebung in der Mitte des Kraters errichtet worden war. Ein Teil des PAKS bestand aus diesem mächtigen Bunkerbau, der sich stufenförmig über die Flanken des Zentralmassivs erstreckte und eine Fläche von 15 Quadratkilometern bedeckte. Das beeindruckende zentrale Element der Anlage war allerdings der fliegende Klotz, eine fast perfekte Kugel mit einem Durchmesser von einem Kilometer. Man hatte sie aus dem schwarzen Mondgestein herausgeschnitten, Gänge in sie hineingetrieben und Höhlen angelegt, Zellentrakte
für paraabnorme Schwerstkriminelle. Von starken Scheinwerfern angestrahlt, schwebte die Kugel in Antigravfeldern über dem Kraterboden, ringsum eingehüllt von einem undurchdringlichen Paratronschirm. Das war die Abteilung für die allerschwersten Fälle, der sicherste Teil des Para-Bunkers. Und doch hatte es Vincent Garron vor mehr als zehn Jahren geschafft, aus der Steinkugel zu entkommen. Lancia Thurman hatte man zum Glück nicht dort untergebracht, sondern in einem der peripheren Bereiche, die aber ebenso wie Festungen gesichert waren. Die Jet landete, das Schott öffnete sich. Über uns spannte sich ein zusätzlicher, grün leuchtender HÜSchirm. Ich stieg zuerst aus und wartete, daß Conrad mir folgte. Aber es dauerte eine ganze Weile, bis er nachkam. »Ich bin dir ein paar Erklärungen schuldig«, sagte ich und dachte bei mir, daß es vielleicht besser gewesen wäre, ihn vorzuwarnen. Irgendwie hatte ich daraufgewartet, daß er sich zuerst mir anvertraute. »Aber gehen wir zunächst in den Bunker.« Conrad reagierte darauf überhaupt nicht und folgte mir mit den eckigen Bewegungen einer Marionette. Vor uns öffnete sich eine Schleuse, deren Außenschott sich hinter mir sofort wieder schloß, nachdem ich sie betreten hatte. Conrad mußte draußen warten, bis ich durchleuchtet und als unbedenklich eingestuft worden war. Eine Robotstimme forderte mich auf, die Linke in eine dafür vorgesehene Öffnung zu stecken. Über dieser Öffnung blinkte es grün, um mich auf sie hinzuweisen, obwohl es keine andere Öffnung gab, in die eine menschliche Hand gepaßt hätte. Hier war alles idiotensicher. »Du bist jetzt registriert, Tia de Mym«, sagte die Robotstimme. »Dein ID-Muster wurde abgenommen. Du bist nun befugt, alle Sicherheitsschranken bis zur Stufe 3 zu passieren. Stufe 3! Versuche bitte nicht, in eine Sperrzone der Stufe 2 vorzudringen. Das könnte unangenehme Folgen für dich haben. Stufe 3 hat die Farbe Orange.« Nach insgesamt knapp drei Minuten öffnete sich die Innenschleuse vor mir. Ich kam in einen kreisrunden Auffangraum mit transparenten Wänden. Dahinter erstreckten sich weitere Räumlichkeiten und Korridore, deren Wände ebenfalls transparent waren. Sie waren alle verwaist. Nirgendwo war auch nur der Schatten eines Menschen zu sehen. Conrad kam fünf Minuten nach mir durch die Schleuse. »Ich komme mir selbst schon wie ein Schwerverbrecher vor«, sagte er. »Hör mir jetzt einmal gut zu, Conrad«, sagte ich eindringlich zu ihm. »Lancia Thurman wird keineswegs als Verbrecher eingestuft. Lediglich als Sicherheitsrisiko. Das ist ein großer Unterschied.« »Und warum das? Hätte es eine herkömmliche Klinik nicht auch getan?« »Nein, wenn schon, dann eine Para-Klink«, berichtigte ihn. »Denn Lancia hat sich zu einer Quelle psionischer Strahlung gewandelt.« »Wie ist das zu verstehen?« Conrad war ein einziges Fragezeichen. »Lancia besaß nie die Spur irgendwelcher latenter Parakräfte. Das wüßte ich doch.« »Eben, aber jetzt entwickelt sie ein steigendes psionisches Potential«, sagte ich ihm. »Ich kenne selbst keine Einzelheiten, man hat mir nur gesagt, daß sie auch insgesamt eine Metamorphose durchmacht. Lancia ist eine große Unbekannte und stellt nach Meinung der Verantwortlichen ein nicht unbedeutendes Sicherheitsrisiko dar. Darum hat man sie in den Para-Bunker gebracht, den sichersten Ort im Solsystem.« »Mein Gott«, entfuhr es ihm, »das ist ja schrecklich! Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?« »Ich wollte dich schonend darauf vorbereiten, um dir einen Schock zu ersparen«, sagte ich und seufzte. »Aber das dürfte ja gründlich in die Hose gegangen sein.« »Nein, nein, schon gut«, sagte Conrad beschwichtigend. »Ich glaube, ich habe überreagiert und muß mich bei dir entschuldigen.« »Schon vergessen. Schwamm drüber.« »Nein, nicht so«, sagte er und ergriff meinen Arm. »Ich fühle mich dir verpflichtet. Und darum möchte ich dir etwas verraten. Vielleicht hast du es ohnehin schon herausgefunden. Aber ich möchte, daß du es von mir hörst. Ich trage das Horrikos-Gen in mir. Moharion Mawrey hat das herausgefunden.« »Aber du bist kein Monochrom-Mutant?« »Nein, das nicht. Ich habe jedoch latente - und passive -Para-Fähigkeiten. Das muß der Grund gewesen sein, warum ich zum Schreckgespenst der Osyrer wurde.« »Ich habe mir gleich gedacht, daß eine schäbige Mentalstabilisierung keine solche Wirkung erzielen kann.« Eine Robotstimme ertönte und forderte uns auf: »Bitte weitergehen. Es gibt nur einen Weg. Ihr werdet erwartet.« Als Monos die Milchstraße beherrschte, ließ er Gen-Manipulationen in großem Maßstab betreiben. Unter anderem wurde auch versucht, mit der Aufzucht von genetisch manipulierten Humanoiden eine Rasse von Supermutanten zu schaffen. Doch das hochgesteckte Ziel wurde damals in keinem einzigen Fall erreicht. Es gab auf der ganzen Linie nur überaus unbefriedigende Fehlergebnisse. Das Projekt scheiterte. Nach der endlosen Reihe von Rückschlägen wurde das Projekt »Supermutanten« wieder eingestellt. Die Opfer ihrer diversen unseligen Experimente deportierten die Schergen des Monos stets auf isolierte Welten. Das Auffanglager für die Fehlmutationen des erfolglosen Supermutanten-Projekts war der entlegene terranische Siedlerplanet Horrikos.
Schon bald nach Monos' Sturz gerieten seine genetischen Experimente wieder in Vergessenheit. Doch jetzt, in der Gegenwart, Jahrhunderte später, wurde das Problem auf einmal wieder akut. Die GenManipulationen von damals zeitigten ungeahnte Spätfolgen. Auf Terra und vielen anderen Planeten der LFT entwickelte sich urplötzlich ein überaus merkwürdiges Phänomen. Auf einmal traten in unglaublichem Umfang unter der Bevölkerung parapsychische Begabungen auf, und zwar - fast - ausschließlich unter jungen Terranern. Tess Qumisha und Startac Schroeder waren hier als bekannteste frühe Beispiele zu nennen. Diese Mutanten hatten alle eine Gemeinsamkeit: Sie waren farbenblind, konnten nur schwarzweiß sehen. Dies war der Grund dafür, daß sich für sie der Ausdruck Monochrom-Mutant einbürgerte. Es wurde rasch klar, daß hinter dieser unerwarteten Mutantenschwemme ein gemeinsamer Hintergrund stecken mußte. Dieser gemeinsame Hintergrund konnte schließlich durch umfangreiche Recherchen ermittelt werden. Es stellte sich nämlich heraus, daß alle Monochrom-Mutanten ohne Ausnahme über zumindest einen Vorfahren verfügten, der mit dem Siedlerplaneten Horrikos in Verbindung stand. Was der entscheidende Impuls für das plötzliche Auslösen der Para-Fähigkeiten bei Trägern des HorrikosGens war, konnte nie zufriedenstellend ermittelt werden. Es gab viele Vermutungen, aber die wohl plausibelste Variante war, das Auftauchen von Goedda in der Milchstraße sei dieser zündende Funke gewesen, der die schlummernden Erbanlagen geweckt beziehungsweise das manipulierte Erbgut zur Mutation angeregt hatte. Es erwies sich als überaus schwierig, potentielle Mutanteneltern ausfindig zu machen, weil sich die Spuren durch die turbulenten Ereignisse in der Milchstraße verwischt hatten. Dennoch wurden schon bald Tausende von Monochrom-Mutanten gefunden. Und es wurden immer mehr. Eine Hochrechnung besagte, daß bis zu 60.000 Monochrom-Mutanten in der Milchstraße existieren mußten. Es zeigte sich, daß das Horrikos-Gen in seltenen Einzelfällen auch schon bei früheren Generationen aktiv geworden war. Aber das waren fast ausnahmslos unauffällige Personen gewesen, die sich bemüht hatten, ihre besonderen Gaben geheimzuhalten. Bei manchen Monochrom-Mutanten erwiesen sich die PsiFähigkeiten zudem als überaus verkümmert. Andere Träger eines aktivierten Horrikos-Gens wiederum litten nicht einmal an Farbenblindheit. Einer dieser Fälle war Conrad Festik. Moharion Mawrey hatte herausgefunden, daß einer seiner Vorfahren von Horrikos stammte. Als sie Conrad Festik ausfindig machte und ihn den üblichen Tests unterzog, zeigte sich, daß er nur ein außerordentlich schwaches Psi-Potential besaß und wohl nie echte parapsychische Fähigkeiten entwickeln würde. Wie sich Moharion Mawrey doch geirrt hatte! Conrad Festiks Psi-Potential war immerhin stark genug, sich der Suggestionskraft der Osyrer zu entziehen und darüber hinaus auch noch eine ganze Raumschiffsbesatzung vor der Beeinflussung durch die Unbekannten zu bewahren. Das waren die Fakten zu diesem Thema. Mir hatte sich die Frage gestellt, ob Conrads Para-Gaben vielleicht durch den Kontakt mit den Osyrern gestärkt worden waren. Ob diese ihn vielleicht stimuliert hatten, weil er -sei es als Selbstschutz oder in Form einer instinktiven Abwehr - eine gewisse Affinität zu ihnen entwickelt hatte. Moharion Mawrey hatte das aufgrund der früher erzielten Ergebnisse nicht bestätigen können. Aber als sie Conrad Festiks Geschichte erfuhr, neigte sie tatsächlich zu der Ansicht, daß Conrad durch die Beeinflussung der Osyrer einen Entwicklungsschub erhalten hatte. Wenn dem so gewesen war, dann waren seine damals erwachten Fähigkeiten jedoch wieder verkümmert. Denn Moharion Mawrey war erst lange nach den Vorfällen in Chearth auf ihn gestoßen und hatte ihn den Standardtests unterzogen. Und die hatten alle ziemlich erbärmliche Ergebnisse ausgewiesen. So erbärmlich, daß sie ihm jegliche Para-Fähigkeiten absprachen. Nur aus diesem Grund war Conrad Festiks Talent unerkannt geblieben, und nur darum hatte er seine phantastische Geschichte für sich behalten können. Erst durch das Auftauchen des wlatschidischen Rachenschiffes, das seine frühere Kommandantin an Bord hatte, war er in Erscheinung getreten. Und hatte sich durch sein Verhalten selbst verraten. Ich war gespannt, wie es mit Conrad weitergehen würde. Ich wünschte ihm ein Happy-End. Dieser so einfühlsame und gefühlsbetonte Bär von einem Mann hätte es verdient.
16. »James Hewitt«, stellte sich der große, schlanke junge Mann mit den gelben Kontaktlinsen und dem rostroten Struwwel-haar vor. »Und Norman Cage«, fügte der etwas älter wirkende und korpulentere Schwarzhaarige mit den vorspringenden Oberzähnen grinsend hinzu. »Man nennt uns die Cyber-Twins, weil wir positronische Brücken und virtuelle Kontakte zwischen Patienten und Besuchern herstellen.« »Wir arbeiten ausschließlich mit Positroniken«, schloß James Hewitt an seinen »Zwilling« an. »Die haben
eine bessere Performance. Syntroniken dagegen arbeiten zu perfekt, liefern zu aalglatte Ergebnisse.« »Positroniken spiegeln das Leben besser wider«, sagte Norman Cage. »Sie verschaffen den besseren Kick, sind weniger leicht zu durchschauen, weil sie ebenso unperfekt wie das Leben sind ...« »Moment mal«, unterbrach ich den Redefluß der beiden. »Wovon sprecht ihr beiden denn eigentlich? Wir haben die Erlaubnis, die Patientin Lancia Thurman zu besuchen. Und nichts anderes wollen wir.« »Ja, aber nicht wirklich besuchen«, sagten Hewitt und Cage wie aus einem Mund. Hewitt fuhr fort: »Ihr werdet über eine Liveschaltung mit Lancia Thurman verbunden. Und wir versichern euch, das wird sein, als wäret ihr körperlich bei ihr. Die perfekte Illusion. Wir können sogar körperliche Kontakte simulieren, Berührungen jeder Art... auch Cyber-Sex zur Perfektion ... Lancia Thurman wird jedenfalls nicht im Traume darauf kommen, daß ihr gar nicht bei ihr seid.« »Das war so nicht abgemacht«, sagte ich entschieden. »Wir haben eindeutig eine Besuchserlaubnis. Damit meine ich, daß wir Lancia Thurman persönlich aufsuchen dürfen. Wirklich und wahrhaftig. Und nicht nur als Projektionen.« »Das ist eben dein Irrglaube«, sagte Cage herablassend und schob sich eine Strähne schwarzen Haares aus der Stirn. »Ihr habt bloß Kode Orange, das bedeutet Cyber-Kontakt. Ihr brauchtet aber Kode Lila, um die Patientin besuchen zu dürfen. Also Zugangsberechtigung der Stufe 2. Aber was macht das schon für einen Unterschied? Wir verschaffen euch die perfekte Illusion, ihr werdet sehen.« »Nein«, sagte ich mit einem Blick zu Conrad. »Wir müssen Lancia Thurman persönlich kontaktieren. Wie können wir unseren Kode aufbessern lassen?« »Ja, wie schon?« sagten Hewitt und Cage gleichzeitig. Sie sahen einander grinsend an und sagten wieder im Chor: »Die Antwort ist: gar nicht!« »Dann muß ich mit Noviel Residor sprechen«, beschloß ich. Ich konnte mich nicht damit abfinden, daß wir Lancia Thurman nur als Holographie zu sehen bekamen. Das wäre für Conrad äußerst unbefriedigend gewesen. Er brauchte die psychische Nähe der Person, mit der er in parapsychische Wechselwirkung treten sollte. »Oh, die Dame macht es nur mit den ganz großen Tieren«, sagte Cage spöttisch. »Ich fürchte nur, der TLDBoß wird ihr was pfeifen ...« Noch während Cage das sagte, entstand mitten im Raum die Projektion einer großen, schlanken Gestalt mit Glatze. Hewitt und Cage verschlug es die Sprache. Sie starrten die Projektion des Glatzköpfigen mit offenen Mündern wie einen Geist an. »Ich habe alles mit angehört«, erklärte Noviel Residors Holographie zu Conrad und mir. »Eure zu niedrige Einstufung war ein Versehen. Natürlich dürft ihr Lancia Thurman besuchen. Ihr müßt euch nur erneut scannen lassen.« Die holographische Erscheinung löst sich nach diesen Worten wieder auf. Im selben Moment kam ein Roboter in den Raum. Er nahm zuerst vor Conrad Festik Aufstellung und tastete ihn mit unsichtbaren Strahlen ab. »Du trägst jetzt Kode Lila«, sagte er nach Abschluß der Prozedur und wandte sich anschließend mir zu. Eine Minute später war auch ich Trägerin des Kodes Lila, und der Roboter verschwand wieder. »Haben wir jetzt uneingeschränkte Besuchserlaubnis?« fragte ich die Cyber-Twins. »Aber sicher«, sagte Cage perplex. Und Hewitt fügte nicht minder verdattert hinzu: »Hab' gar nicht gewußt, daß eine Umstufung so einfach geht.« »Wie gelangen wir nun zu Lancia Thurman?« wollte ich sachlich wissen; ich hatte keine Lust, mich mit diesen beiden Freaks auf weitere Geplänkel einzulassen. Conrad wirkte ohnehin schon ziemlich zermürbt. Das aufreibende Drumherum mußte ihm ganz schön zugesetzt haben. Jetzt galt es, möglichst rasch zu Lancia Thurman zu kommen, damit er alles andere vergessen konnte. »Moment«, sagte Hewitt eilfertig und nahm eine Reihe von Einstellungen vor. »Ich richte euch die Passage ein. So. Wenn ihr diese Tür nehmt, dann werden sich vor euch stets die richtigen Schranken öffnen. Ihr werdet direkt ans Ziel gelotst...« Ich hatte die Assoziation Lotse Phylaso. Und Conrad vielleicht auch. »... immer der Nase nach.« Ich schritt auf die Tür zu, die Hewitt mir gewiesen hatte. Als ich schon fast gegen sie gerannt war, glitt sie zur Seite und gab den Weg in einen langen Korridor frei. Conrad folgte mir, hinter ihm schloß sich die Tür und sperrte die Cyber-Twins aus. Die machten jetzt vermutlich lange Gesichter, weil sie uns als manipulierbare Probanden verloren hatten. Boten uns doch glatt versteckt Cyber-Sex an. Es war nicht zu fassen! Ich schritt den Korridor gemächlich entlang. Nach etwa zwanzig Schritten glitt links von mir ein Teil der Wand zurück und eröffnete den Zutritt in einen weiteren Korridor. Dasselbe Spiel wiederholte sich noch dreimal. Dann standen wir plötzlich vor einem aktiven Transmitter. »Bitte einzeln benutzen«, sagte eine Robotstimme. Ich trat als erste durch das Transmitterfeld und fand mich in einer großen, leeren Halle wieder. Indirekte Beleuchtung spendete ein dämmeriges, schattenloses Licht. Ich entdeckte eine Reihe von Schotten entlang den Wänden, die aber alle den Eindruck machten, daß sie
unpassierbar waren. »Das ist eine ziemlich ermüdende Vorgehensweise, wenn du mich fragst«, sagte Conrad. »Aber es zeigt, daß Lancia wohlbehütet ist«, erwiderte ich. Zwanzig Meter vor uns aktivierte sich plötzlich ein weiteres Transmitterfeld. Als wir es erreichten, meldete sich wieder eine Robotstimme: »Bitte einzeln benutzen. Der Transmitter führt direkt in die Besucherzone.« Ich durchschritt erneut als erste den Transmitter und kam in einem gläsern wirkenden Areal heraus. Durch einen flimmernden Energieschirm sah ich eine menschliche Gestalt in der Luft schweben, die in eine silberne Folie gewickelt war, aus der Dutzende Nippel ragten. Von der umwickelten Gestalt lag nur der knochige, haarlose Schädel frei. »Lancia!« rief Conrad hinter mir und stürmte durch den Energieschirm. Als er seine ehemalige Kommandantin aus der Nähe sah, prallte er entsetzt zurück, aber der Schirm federte ihn ab. Das zeigte mir, daß der Energievorhang nur von einer Seite passierbar war. Ich folgte Conrad, obwohl mir bewußt war, daß es dann kein Zurück mehr gab. Wir waren mit Lancia Thurman in ihrem Krankenabteil gefangen, auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden. "Ulf" »Lancia, was haben sie mit dir gemacht?« sagte Conrad Festik mit krächzender Stimme. »Was haben sie dir angetan?« In dem Gesicht, das nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien, hoben sich in tief liegenden Augenhöhlen schwere Lider. Große dunkle, fast schwarze Augen irrten suchend und wie blind hin und her. »Conrad?« fragte eine leise brüchige Stimme; der eingefallene, lippenlose Mund bewegte sich dabei kaum. »Bist du es wirklich? Conrad? Ich kann dich nicht sehen ... alles verschwommen.« »Ja, ich bin es - Conrad«, versicherte der große Mann, der auf einmal wieder so linkisch und unbeholfen wirkte. »Ich bin es wirklich, Lancia. Wie schön, dich ... wohlbehalten zu sehen.« Die vermummte Gestalt mit den schwarzen, blicklosen Augen im Totenschädel hob einen Arm, der ebenfalls in die silbrige Folie gehüllt war und Kontaktnippel aufwies. Der Arm wirkte genauso unförmig und aufgebläht wie der übrige vermummte Körper. Die Finger der freiliegenden Hand, die sich zu Conrads Gesicht hob, waren geschwollen und verkrampft; sie zitterten stark. Conrad ergriff Lancias Hand und führte sie an sein Gesicht. »Du bist es tatsächlich, Conrad«, hauchte die Frau, die nicht mehr als solche zu erkennen war. »Schön, daß du mich nicht vergessen hast.« »Wie könnte ich dich vergessen, nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht haben, Lancia«, sagte Conrad und küßte ihre Hand. Der Körper unter der Silberfolie wurde geschüttelt, die Haut um den Mund des Totenschädels verzog sich zu einer Grimasse. »Entschuldige, Conrad, daß ich lachen muß«, sagte Lancia mit abgehackter Stimme. »Aber es ist wirklich zu komisch .. • Was hast du schon durchgemacht!« Los, Conrad, hake hier ein, frag sie, was ihr widerfahren ist, dachte ich. Aber Conrad sagte nur: »Denk jetzt nicht daran. Vergiß das alles am besten. Jetzt wird für dich alles wieder gut.« »Das sagst du doch nur so ..., um mich zu trösten«, hauchte die Frau. »Aber ... es kann nichts gut werden, weil mit mir nichts mehr stimmt.« Der aufgedunsene Körper unter der Silberfolie bäumte sich auf. »Was ist mit mir passiert, Conrad?« »Es ist nichts, was die Mediziner von Mimas nicht wieder in Ordnung bringen könnten«, sagte Conrad, und es sollte wohl zuversichtlich klingen. Aber der Klang seiner Stimme verriet seine Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. »Sie werden dich schon wieder hinkriegen. Du mußt nur fest daran glauben.« Frag sie doch endlich, was auf Planet Osyr passiert ist, Conrad! dachte ich intensiv und wußte, daß es Noviel Residor und den anderen möglichen Beobachtern dieser Szene ebenso ergehen würde wie mir. »Was ist mit mir passiert?« fragte Lancia wieder. »Wie soll ich das wissen?« sagte Conrad. »Kannst du es mir nicht sagen, Lancia?« Na endlich! »Ich weiß von nichts«, flüsterte Lancia. »Nachdem mich die Wlatschiden an Bord der AKKAZZON gebracht hatten, steckten sie mich sofort in den Tiefschlaftank. Aus Sicherheitsgründen, wie mir Kommandant Rizzotta versicherte, zu unser aller Wohl. Er meinte, daß ich besser schlafen solle, bis wir meine Heimat erreicht haben würden, weil meine eigenen Leute mir wirkungsvollere Hilfe geben konnten, falls ich mir auf Osyr irgendeine Seuche eingehandelt hatte. Das waren Rizzottas Worte. Aber ich vermutete schon damals, daß er mehr um das Wohl seiner eigenen Leute besorgt war.« »Weißt du, daß keiner der Wlatschiden überlebt hat?« »Oh, das tut mir aber leid ... Sie waren so fürsorglich um mich bemüht...« Ich stieß Conrad an und bedeutete ihm, daß er Lancia weiter ausfragen solle. Aber er verstand mich offenbar nicht, denn er begegnete meinem Blick mit Verständnislosigkeit. Da riß mir die Geduld, und ich stellte die Frage, die mir schon die ganze Zeit auf der Zunge brannte, selbst. »Wie ist es dir auf Osyr ergangen, Lancia? Du hast über neun Jahre dort zugebracht.«
»Ist da noch jemand?« erkundigte sich Lancia. »Ja, eine Sicherheitsbeamtin des TLD, des Terranischen Liga-Dienstes«, antwortete Conrad. »Tia de Mym ist ihr Name. Sie hat es ermöglicht, daß ich dich besuchen durfte.« »Ist sie eine gute Freundin?« wollte Lancia wissen. »Deine Geliebte?« »Nein, nur gute Freundin.« Lancia kicherte lautlos, das war daran zu merken, daß ihr Körper geschüttelt wurde. »Hast du eigentlich gewußt, daß ich dich gemocht habe, Conrad?« fragte Lancia. »Sogar sehr gemocht habe?« »Nein, das ist mir nie aufgefallen«, log Conrad, obwohl er ihre heimliche Begierde aus ihrer Simusense-Welt kannte. »Schade, daß wir keine Zeit mehr füreinander hatten«, sagte Lancia bedauernd. Ich stieß Conrad wieder an, und diesmal spurte er. »Ja, schade«, sagte er. »Als wir damals aus dem Orbit von Planet 4 zurückkamen, wart ihr plötzlich alle nicht mehr da. Was ist damals passiert? Wohin seid ihr verschwunden?« Lancias Körper wurde wieder von einem Heiterkeitsausbruch geschüttelt. »Na, wohin sind wir wohl verschwunden? Wir sind ins paradiesische Land Osyr abgewandert. Was sonst?« »Hast du die vollen neun Jahre dort zugebracht?« »Muß ich wohl, wenn inzwischen so viel Zeit verstrichen ist. Mir erschien das nicht so lange, ich hatte jeglichen Zeitbegriff verloren.« Es herrschte eine Weile Schweigen. Erst als ich Conrad gegen das Schienbein trat, fragte er: »Und wie ist es dir im Land Osyr ergangen?« »Na ja, was soll ich sagen«, begann Lancia zögernd. »Ich fürchte, mit ein paar Worten ist es nicht getan. Ich müßte die ganze Geschichte erzählen. Willst du sie hören?« »Ich bin überaus interessiert.« Und Lancia erzählte.
Vergangenheit 1292-1302 NGZ: Lancia Thurman
17. Als du mit Rana Sindede und Antal Noell in den Orbit aufstiegst, gab es ein allgemeines Aufatmen an Bord der GALA-THEIA. Ich muß zugeben, daß auch ich erleichtert war, denn ich wollte endlich herauskriegen, was es mit dem Land Osyr auf sich hatte. Solange du da warst, hätte sich diesbezüglich ja wegen deiner verdammten Mentalstabilisierung nichts getan. Aber ich mußte es wissen. Und ich wollte dieses Problem aus der Welt schaffen, falls es eines war. Ich hielt mich jedoch an unsere Abmachung und verteilte die sieben APRE-Netze, über die ich verfügte. Eines behielt ich für mich selbst, und eines überreichte ich an Doc Kieli. Der kommentierte das mit der spöttischen Bemerkung: »APRE-Netze sind was für Algioten, nichts für uns. Weißt du, was ich damit mache, Lancia? Sieh her!« Und er holte eine Vibratorklinge hervor und zerschnitt das APRE-Netz in mehrere Teile. »Das wirst du noch bereuen, Doc«, sagte ich, stülpte mir das APRE-Netz über und achtete sorgsam darauf, daß auch die anderen, denen ich eines überreicht hatte, meinem Beispiel folgten. Sie taten es, wenn auch ohne große Begeisterung. »Wenn jemand etwas zu bereuen hat, dann bist es du, Lancia«, sagte Doc Kieli mit mitleidigem Lächeln. »Diese Situation ist für dich so, als würdest du in ein Konzert gehen, das begnadete Musiker aufführen, und du stöpselst dir die Ohren zu. Du kannst diese wunderbare Sinfonie nicht wahrnehmen, die uns durchströmt. Du bist zu bedauern, Lancia.« »Ach, geh mir gefälligst aus den Augen, Doc!« sagte ich zornig. Er verließ als letzter die Kommandozentrale, und ich blieb allein zurück. Ich ergriff eine Reihe von Maßnahmen, um den Zusammenhalt der Mannschaft abzusichern. Es gab dafür kein todsicheres Rezept. Es fanden sich in jedem Sicherheitssystem Lücken und erst recht auf der havarierten GALA-THEIA. Es war unmöglich, das gesamte Schiff zu kontrollieren, es gab zu viele Sektoren, auf die ich von der Kommandozentrale keinen Zugriff mehr hatte. Aber was ich tun konnte, wollte ich tun. Ich schloß zunächst per Fernsteuerung alle erreichbaren Außenschleusen. Dann aktivierte ich das Überwachungssystem, über das ich Einblick in alle aktiven Sektoren hatte. Die Ausfallquote betrug hier, wie auch bei den Außenschleusen, um die 10 Prozent, aber damit mußte ich leben. Dann versuchte ich, per Fernsteuerung die sieben noch intakten Roboter zu aktivieren. Ich hatte vor, sie an neuralgischen Punkten zu postieren. Sie waren zwar den Robot-Gesetzen unterworfen und konnten sich nicht schädigend gegen Menschen wenden. Aber ich wollte sowieso niemanden verletzten, sondern die
Mannschaft nur am Verlassen der GA-LATHEIA hindern. Und für diesen Zweck waren die Roboter gut einzusetzen. Doch damit erlitt ich eine arge Schlappe. Es war mir nämlich unmöglich, die Robs in Betrieb zu nehmen. Das konnte nur bedeuten, daß jemand, vermutlich Doc Kieli, sehr weitblickend gehandelt und die Roboter sabotiert hatte. Das war ein bitterer Rückschlag für mich. Damit blieb mir nichts anderes mehr zu tun, als einen Aufruf an die Mannschaft zu erlassen. »Hier spricht die Kommandantin! Ab sofort herrscht strengste Ausgangssperre. Es ist bei Strafe verboten, die GA-LATHEIA zu verlassen. Vergehen werden geahndet und kommen vor ein Kriegsgericht. Vergeßt nicht, es herrscht für uns noch immer Kriegszustand. Niemand darf die GALATHEIA verlassen! Dies ist ein Befehl erster Dringlichkeitsordnung!« Mir war schon klar, daß ich keine Möglichkeit hatte, meine Befehlsgewalt konsequent durchzusetzen. Aber ich hoffte wenigstens, daß meine Worte als Appell an die Vernunft verstanden wurden und sich die Leute aus Fairneß daran hielten. »Lancia!« meldete sich Doc Kieli über die Rundrufanlage; was er sagte, klang wie ein seltsamer, fast liturgisch anmutender Singsang. »Lancia! Kannst du die verführerischen Rufe hören? Natürlich hörst du sie nicht, weil du deinen Geist mit einem APRE-Netz verhüllst. Aber wir anderen, wir können die verlockende Botschaft vernehmen. Der Lotse Phylaso ruft uns in das Land Osyr, und wir alle, alle werden ihm folgen.« Ich beobachtete die Korridore, die zu den Außenschleusen führten, aber sie waren alle verlassen. Es herrschte eine unheimliche Ruhe an Bord. Es gab keinerlei Aktivitäten, als wäre absoluter Stillstand eingetreten, wie in einem Stasisfeld. Das machte mich mißtrauisch. Denn zu anderen Zeiten, unter normalen Umständen, kam immer wieder mal jemand in der Kommandozentrale vorbei, um Auskunft über dies oder jenes einzuholen oder einfach um die Zeit totzuschlagen. Aber jetzt... nichts! »Lancia!« meldete sich wieder Doc Kieli. »Die anderen haben sich der verhaßten APRE-Netze bereits entledigt. Nur du trägst noch eines und kannst die Sinfonie ewiger Glückseligkeit nicht hören. Die Überreste der Netze kannst du dir aus der Krankenstation abholen ...« Und da fiel es mir auf einmal wie Schuppen von den Augen. Ich schnappte mir einen Kombistrahler mit Paralysefunktion und wollte mich schon auf den Weg machen. Aber dann zögerte ich und schaltete auf Außenbeobachtung. Es gab hinter der Medo-Station ein Mannschott, das seit unserer Bruchlandung als unbenutzbar galt, weil es von der Kommandozentrale aus nicht mehr bedient werden konnte. Die Fernsteuerung war im Eimer, die Verriegelung blockierte. Aber dieses Schott ließ sich immer noch manuell handhaben. Ich richtete die Außenkameras auf das Schott und sah, wie gerade der Maschinist Simon Bredder ins Freie kletterte. Er trug die einfache Bordmontur, keinen Schutzanzug, ja nicht einmal eine Atemmaske. Jetzt erst rannte ich los. Ich wußte nicht, wie viele von der Crew die GALATHEIA auf diese Weise schon verlassen hatten. Aber ich war entschlossen zu verhindern, daß noch mehr in ihr Verderben liefen. Denn ohne Atemschutz in den Dschungel einzudringen war ein Leichtsinn, der tödlich enden konnte. Ich war völlig außer Atem, als ich das offene Schott erreichte. Ich riß eine Frau zurück, die gerade nach außen klettern wollte, und warf das Schott zu. Die Frau war Lara Duncan, die wegen eines Nervenzusammenbruchs hatte stationär behandelt werden müssen. Ich stieß sie in die Schlange zurück, die sich vor dem Schott gebildet hatte, und hob drohend den Kombistrahler. »Ich werde jeden paralysieren, der mir zu nahe kommt«, drohte ich, und es war mir verdammt ernst mit dieser Drohung. »Dann ist es sowieso vorbei mit dem Traum vom Paradies.« »Warum tust du uns das an, Lancia?« fragte Lara Duncan weinerlich. »Wir tun doch nichts Böses. Alles, was wir wollen, ist, in eine bessere Welt zu gehen.« »Alles, was ihr euch einhandeln werdet, wenn ihr ohne Atemschutz in diese verseuchte Atmosphäre hinausgeht, sind Siechtum und Tod!« herrschte ich die junge Frau an. »Unter Garantie!« »Wir wollen doch bloß ins Land Osyr gehen«, sagte ein Mann hinter Lara. »Hörst du denn nicht, wie uns der Lotse Phylaso ruft?« In diesem Moment erhielt ich einen Stoß in den Rücken. Ich hatte nur einen Moment nicht aufgepaßt und nicht auf das Geräusch hinter mir geachtet. Das wurde mir zum Verhängnis. Hinter mir öffnete jemand von außen ruckartig das Schott und stieß es mir so wuchtig in den Rücken, daß ich nach vorne geschleudert wurde. Und dann waren auf einmal alle über mir, entwanden mir den Kombistrahler und rissen mir das APRE-Netz vom Kopf. Als die Menge wieder zurückwich, sah ich Doc Kieli vor mir stehen. Mit einer Hand richtete er lässig den Kombistrahler auf mich, in der anderen hielt er ein Vibratormesser hoch, auf dem mein APRE-Netz aufgespießt war. Er aktivierte die Klinge, und diese arbeitete sich mit kaum wahrnehmbarem Surren durch das Netzwerk. »Das war das letzte APRE-Netz«, sagte Doc Kieli abschließend und warf das zerstörte Netz achtlos zur Seite. »Jetzt gehörst du bald zu uns, Lancia. Die Zeit arbeitet gegen dich. Kannst du die bezaubernde Sinfonie schon hören, Kommandantin?« Ich versuchte, meinen Geist zu blockieren, mich damit abzulenken, daß ich mir irgendeinen blödsinnigen
monotonen Reim vorsagte: Fischers Fritz fischt frische... Aber die Suggestionen waren stärker, sie durchbrachen meine lächerliche Blockade. »Was nun, Phylaso?« fragte jemand an Doc Kieli gewandt. »Müssen wir warten, bis du mit der Thurman fertig bist?« »Aber nein, meine Schäfchen«, sagte Doc Kieli in feierlichem Ton. »Ihr könnt schon vorausgehen, ihr findet den Weg auch alleine. Ich komme nach, sobald ich das hier geregelt habe.« Dabei deutete er mit dem Lauf der Waffe auf mich. »Du siehst dich also schon als der Lotse Phylaso, Doc?« sagte ich verbittert. »Weißt du, was du wirklich bist? Ein Wahnsinniger. Du hast den Verstand verloren, bist total übergeschnappt.« Ich rief den anderen zu: »Hört nicht auf diesen Irren. Der hetzt euch ins Verderben. Da draußen wartet nicht die Glückseligkeit. Da ist nur der Tod.« »Laßt diese Ungläubige nur reden, sie weiß nicht, was sie sagt«, meinte Doc Kieli salbungsvoll. »Doch auch sie wird schon bald bekehrt sein, schon sehr bald.« In schärferem Ton sagte er zu mir: »Los, steh auf und gehe voran in die Kommandozentrale!« Ich erhob mich und setzte mich in Bewegung. In meinem Kopf war ein fernes Flüstern und Raunen, das allmählich anschwoll. Doc Kieli stieß mir den Lauf des Kombistrahlers in den Rücken und trieb mich vorwärts. »Willst du mich etwa töten, Doc?« versuchte ich ihn in ein Gespräch zu verwickeln. »Meinst du das mit >regeln« »Wo denkst du hin, Lancia«, sagte er fast empört. »Ich würde dich höchstens paralysieren, hoffe aber, daß nicht einmal das nötig sein wird. Es kommt nämlich auf jedes Ound Vitalenergie an. Wir brauchen jedes Ound, um uns zu stärken ... Nichts davon darf verlorengehen.« Ich hatte keinen blassen Schimmer, was Ound für ein Maß war, woher denn auch. Bezeichnete ein Ound die gesamte Vitalenergie, über die ein Mensch verfügte? Oder nur einen Bruchteil davon, etwa soviel, wie auf ein Gramm seines Körpergewichts kam? Es war auch nicht so wichtig. Wir erreichten die Kommandozentrale, Doc Kieli stieß mich mit dem Waffenlauf in einen Kontursessel. Inzwischen verließ meine Mannschaft Ound um Ound die GALATHEIA. Wahrscheinlich waren inzwischen sogar bereits alle von Bord gegangen. Nur noch Doc »Phylaso« Kieli und ich waren da. Er war wirklich Phylaso, das erkannte ich erst jetzt. Die Stimmen, die nun deutlich in meinem Kopf zu hören waren, sagten es mir. Und ich hörte auf einmal auch die einschmeichelnde Sinfonie, die ein so breites Spektrum in sich trug, daß sie meinen Geist förmlich sprengte. »Ich denke, du bist jetzt ebenfalls reif, Lancia«, sagte Doc Kieli, der Phylaso war, schließlich. Er ließ den Kombistrahler einfach fallen und ging aus der Kommandozentrale. Mich hielt auch nichts mehr länger an Bord. Ich desaktivierte die Sicherheitssperren und verließ die GALATHEIA durch die Hauptschleuse. Aber sosehr ich mich auch beeilte, ich konnte den Lotsen Phylaso nicht mehr einholen. Für einen Moment wollte Panik in mir aufkommen. Aber die Stimmen in meinem Kopf beruhigten mich wieder. Der Aufruhr in mir legte sich, und ich ließ mich von den Stimmen leiten. Die Natur rings um mich schlief. All die wilden Bestien, die zu anderen Zeiten stets auf Menschenfleisch aus waren, waren nun besänftigt. Nichts störte meinen Weg, der mich geradewegs zu dem großen lichtdurchfluteten Tor führte. Dahinter waren schwebende Gestalten zu erahnen ... Es war alles genau so, wie es die anderen, die schon an der Schwelle nach Osyr gewesen waren, berichtet hatten. Es hatte einen langwierigen, harten Kampf gegen mein Ich gekostet, bis ich nun selbst soweit war. Ich schritt erwartungsvoll durch das gleißende Tor.
18. Es war, als würde ich in eine andere Dimension gelangen. In eine Welt, die gleich nebenan von Planet 4 lag, in der jedoch alles ins Gegenteil verkehrt war: die Schrecken zu Schönheit, die tödlich verseuchte Atmosphäre zu würziger Luft, reißende Bestien zu zutraulichen Tieren eines Streichelzoos, der Dschungel zu einem Park. Ich hatte schon einmal - damals, als Conrad Festik mit dem Shift unterwegs war - zauberhafte Eindrücke vom Land Osyr bekommen. Aber die waren mit der Wirklichkeit nicht zu vergleichen, waren nur unzulängliche Gedankenreflexionen über ein wahrhaft paradiesisches Landschaftsgefüge gewesen. Und ich stand erst am Anfang, es würde für mich noch viel zu entdecken und zu bestaunen geben. Ich fand mich in einem kleinen Hain wieder, der aus schlanken Bäumen bestand, die mich an junge Birken erinnerten, aber nicht wirklich Birken waren. Eine sanfte Brise strich durch die Baumkronen und brachte die Blätter zum Klingen. Das Geräusch, das dabei erzeugt wurde, war nicht das Rascheln von Laub, sondern es war wie das Klirren eines gläsernen Windspiels. Ich blickte zurück. Von dem Verbindungstor nach Planet 4 war nichts mehr zu sehen. Es mußte nach meinem Durchgang erloschen sein. Für mich gab es also im Moment kein Zurück mehr. Doch diese Erkenntnis belastete mich in keiner Weise.
Auch das Gras unter meinen Füßen schien nicht rein pflanzlicher Natur zu sein. Es war weich und geschmeidig, aber das Gewicht meines Schrittes konnte es nicht knicken. Das Gras richtete sich hinter mir federnd wieder auf und gab seufzende Geräusche von sich, als würde es durch unzählige Membranen die Luft in sich einsaugen. Und doch war dies alles Natur, aber die Natur einer anderen, fremderen Welt. »Willkommen im Lande Osyr«, drang da eine lautlose Stimme zu mir, eine Gedankenbotschaft. Ich hatte mich bis zu diesem Zeitpunkt allein gewähnt. Als ich mich jedoch suchend umblickte, entdeckte ich zwischen den schlanken Stämmen der jungen Birken ein seltsames Wesen. Es war groß, gut vier Meter, und schlank und erinnerte mich an eine Qualle. Es besaß ein Dutzend Tentakel, die dauernd in langsamer, geschmeidiger Bewegungen waren, und einen birnenförmigen, ballonartigen Körper. Dieses Wesen schien leichter als Luft zu sein, denn es schwebte einen halben Meter über dem Boden. Ohne daß es mir jemand sagte, wußte ich sofort, daß dies ein Osyrer war. Als der Osyrer den Schatten des Jungbaumes verließ und ins Licht schwebte, da begann er in den Farben des Regenbogens zu erstrahlen. Und mit jeder Bewegung veränderten sich die Farben seines Körpers und durchliefen das gesamte Spektrum. »Ist es dir recht, Lancia, wenn ich mich deiner annehme und dich bei den ersten Schritten in dein neues Leben geleite?« »Ja, das wäre mir angenehm«, sagte ich. Meine Stimme klang unangemessen plärrend in dieser so friedvollen Landschaft, und die Blätter der jungen Birken stimmten eine klagende, empörte Dissonanz an. »Wieso neues Leben?« fragte ich, diesmal jedoch nur in Gedanken. »War ich tot und wurde wiedergeboren?« »Ach, wo denkst du hin, Lancia«, sagte der Osyrer und war ganz entsetzte Ablehnung. »Hierher gelangt man nicht als Toter. Nur wer mitten im Leben steht und über reichlich Ound an Vitalenergie verfügt, der findet Zugang nach Osyr. Wir sind alles andere als eine Totengemeinschaft... Du darfst mich übrigens Oni-Sonan nennen, Lancia. Bei etwas großzügiger Auslegung könnte man sagen, daß ich wie du weiblichen Geschlechts bin.« Da mir nicht danach war, über die Geschlechtereinteilung bei den Osyrern zu diskutieren, wechselte ich das Thema und fragte: »Wohin sind eigentlich alle meine Kameraden entschwunden, Oni-Sonan?« Ich hatte mir inzwischen angewöhnt, nur meine Gedanken sprechen zu lassen, und das fiel mir eigentlich leicht. Dennoch hätte ich mir ein Lob für meine rasche Auffassungsgabe gewünscht. »Man sollte keine Schmeicheleien für eine Selbstverständlichkeit erwarten«, tadelte Oni-Sonan, die natürlich meine Gedanken gelesen hatte. »Aber ich muß zugeben, du hast rascher umzudenken gelernt als die meisten anderen Neulinge. Zufrieden?« Ich war wegen meiner Eitelkeit ein wenig beschämt. »Meine Kameraden«, erinnerte ich. »Wo sind sie verblieben?« »Sie sind über das Land verteilt, sind auf Entdeckungsreise gegangen, ruhen sich aus oder richten sich ein Zuhause ein. Du wirst ihnen schon wieder begegnen. So groß das Land Osyr auch ist, es ist nicht grenzenlos. Man begegnet einander immer wieder.« »Liegt Osyr auf einer anderen Dimension? In einem anderen Kontinuum?« »Man könnte es vereinfacht so ausdrücken«, antwortete Oni-Sonan in einer Gedankenbotschaft. »Tatsächlich ist die Sache aber ein wenig komplizierter. Doch damit solltest du dich jetzt nicht belasten. Genieße erst einmal, du hast noch viel Zeit, dir Wissen anzueignen. Denn vor dir liegt die Ewigkeit, Lancia.« Ich wagte nicht - noch nicht - zu fragen, ob das Land Osyr seinen Bewohnern - und auch den Eingebürgerten - wirklich ewiges Leben bot. Es war auch nicht relevant für mich. Ich hatte die Unsterblichen der Milchstraße noch nie beneidet und bezweifelte sogar, daß ewiges Leben erstrebenswert war. Vielleicht würde ich einmal im Alter, wenn ich mein Ende nahen sah, anders denken. Aber mit diesem Problem sollte ich, nach menschlichem Ermessen, eigentlich noch lange nicht konfrontiert werden. Und jetzt wollte ich endlich das Land Osyr kennenlernen, das mir vielleicht zur neuen Heimat werden würde. Mal sehen, was mir dieses Land zu bieten hatte. Wir verließen den Hain und gelangten in eine hügelige Wiesenlandschaft. Ich hörte das Gras atmen, vernahm, wie es die Luft säuselnd einsog und seufzend wieder ausstieß. Bunte Farbtupfer lockerten das Grün des samtenen Wiesenteppichs auf. Vor mir senkte sich der Hügel in ein Tal hinab, das von Buschwerk bedeckt war. Aber die Büsche machten auch aus der Ferne keinen verwilderten Eindruck, sondern wirkten gepflegt und wie von begnadeten Gärtnerhänden beschnitten. Ein schmaler Fluß schlängelte sich zwischen den verschieden geformten Büschen und Bäumen dahin. Ich vernahm sein fernes Gurgeln selbst von hier oben. Zwischen den Büschen bewegten sich winzige Gestalten wie Ameisen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Tales erhob sich ebenfalls ein bewaldeter Hügel, und hinter diesem wölbten sich weitere. Sie reihten sich schier endlos bis zum dunstverhangenen Horizont. Links von mir ragte eine Gebirgskette empor, deren höchste Gipfel in ewigem Eis lagen. Rechts von mir bot sich ein ganz anderes Bild, es waren nur ein paar Hügel zu sehen, die in weites Steppenland verflachten.
Ich blickte zurück und sah, wie sich auch hinter dem Birkenhain Berge im Dunst des Horizonts erhoben. Der Himmel war nebelverschleiert, eine Sonne war nicht zu sehen, und das taghelle Streulicht warf keine scharfkantigen Schatten. »Bilden die Berge die Grenze des Landes Osyr?« erkundigte ich mich, während ich den Abstieg ins Tal in Angriff nahm. »O nein«, widersprach Oni-Sonan amüsiert. »Unser Land reicht noch viel, viel weiter. Du kannst ein Leben lang unterwegs sein, ohne daß du ein Ende erreichst. Aber es ist möglich, daß du dich im Kreise bewegst und wieder zu deinem Ausgangspunkt zurückkommst.« Obwohl mich diese Aussage nicht ganz befriedigte, forschte ich nicht weiter. Ich würde noch Gelegenheit genug bekommen, all die Fragen zu stellen, die sich mir aufdrängten. Aber manches erlaubte keinen Aufschub. »Gibt es in Osyr auch eine Hierarchie?« fragte ich. »So etwas wie eine Herrschaftsstruktur? Ich meine, von wem wird Osyr beherrscht, wer hat die oberste Entscheidungsgewalt und die Verantwortung über das Land?« »In Osyr sind alle gleich«, antwortete Oni-Sonan. »Niemand ist privilegiert, und keiner ist dem anderen untergeben. Und jeder Neuling hat die gleichen Rechte wie alle Alteingesessenen. Auch du, Lancia, die du erst wenige Atemzüge hier weilst, bist mir und allen anderen in allen Belangen gleichgestellt. Ich habe nicht mehr Rechte, mir obliegen jedoch verschiedene Pflichten wie die Schulung und Betreuung der Immigranten.« »Ich kann nicht glauben, daß ich irgendwann denselben Status einnehmen werde wie du als Osyrer«, sagte ich ungläubig. »Nein, so war das auch nicht gemeint«, erwiderte Oni-Sonan, während sie majestätisch an meiner Seite den Hang hinunterschwebte. »Ich habe den Status eines Dieners. Ich habe dir und allen anderen Zuwanderern zu Diensten zu sein. Das ist unser Lebensinhalt. Als Lohn für diese Dienste partizipieren wir Osyrer an euren Glücksgefühlen. Eure positiven Emotionen sind gewissermaßen unser Lebenselixier. Je glücklicher ihr seid, desto mehr leben wir auf. Du siehst also, wir handeln keineswegs ganz selbstlos. Wir stehen mit euch in einer wunderbaren Wechselbeziehung.« »Und sonst gibt es keine weiteren hierarchischen Strukturen?« fragte ich. »Du bist mir vielleicht ein lästiger Quälgeist«, stellte Oni-Sonan fest »Aber auch du wirst noch zur Ruhe kommen und zur inneren Einkehr finden, Lancia. Es gibt in der Tat jemanden, der über uns allen steht. Das ist Vodiya, die Schöpferin und oberste Wächterin des Landes Osyr. Vodiya ist keine fiktive Gottheit, kein Götze irgendeiner religiösen Verehrung. Vodiya ist ein Überwesen, das das Land Osyr als Zufluchtsstätte für alle Hilfesuchenden und Notleidenden hervorgebracht hat. Vodiya hat Osyr einst für unser Volk erschaffen, als unsere Heimatwelt unterging, und uns hier Asyl gewährt. Inzwischen steht Osyr aber für alle offen, die nach einem schöneren Leben und nach hohen ethischen und moralischen Werten streben. Und wir Osyrer partizipieren daran, nähren uns von der Glückseligkeit der anderen. Dank der gnadenvollen Vodiya haben wir hier ein homogenes Paradies erschaffen, in dem alle Teile und Elemente zusammenpassen und einander prächtig ergänzen.« Wir erreichten die Talsohle, und jetzt erst erkannte ich, daß die unterschiedlich geformten Büsche und Bäume eigentlich Pflanzenhauser waren, in denen Wesen der verschiedensten Rassen aus und ein gingen, manchmal auch in Begleitung eines majestätisch und würdevoll dahinschwebenden Osyrers. Hier lebten alle in friedlicher Eintracht nebeneinander. Wlatschiden, Gramser, Heiv, Poreiger und Niwar aus Chearth tummelten sich neben Algioten wie Tazolen, Sagarrern, Voranesen, Prokiden und Zytekern, selbst von den vierarmigen oschongischen Riesen fanden sich einige Exemplare. Es war wirklich wie im Paradies, wo die Schlange dem Kaninchen nichts tat und der Löwe die Gazelle in Frieden ließ. Aber es war auch nicht so, daß Tazolen sich mit Wlatschiden zu Geselligkeiten zusammengefunden hätten. Sie bildeten keine gemischte Gemeinschaft. Der Tazole ignorierte den Wlatschiden einfach, und der Sagarrer ging am Gamser vorbei, als existiere er für ihn gar nicht. »Wie gelangen all die verschiedenen Völker aus Chearth und Algion ins Land Osyr?« wollte ich wissen. »Sie sind doch nicht alle durch Schiffbruch auf Planet 4 gestrandet?« »Das ist richtig«, stimmte mir Oni-Sonan zu. »Es kommt auch vor, daß Vodiya die Leidenden zu sich ruft, wenn sie ihren Notstand wahrnimmt, manchmal auch von weit her.« Als ich die nächste Frage stellen wollte, kam mir Oni-Sonan zuvor, die ja meine Absichten vorab aus meinen noch ungeordneten Gedanken lesen konnte. »Jetzt gönne dir erst einmal eine Ruhepause, Lancia«, drang sie in mich. »Wähle ein Pflanzenhaus aus, in dem du wohnen willst. Es gibt genügend wirklich schöne Unterkünfte, die leer stehen.« Da sah ich Doc Kieli. »He, Doc!« rief ich und winkte ihm. Er hatte einen Osyrer an seiner Seite und wollte sich mit diesem gerade in ein blühendes Heckenhaus zurückziehen. Als er mich hörte, hielt er inne und drehte sich suchend im Kreise. Dann sah er, wie ich auf ihn zugelaufen kam.
»Na, so eine Überraschung«, sagte er, als er mich erkannte; er zeigte sich aber nicht wirklich überrascht. »Du hast den Weg nach Osyr also auch alleine gefunden, Lancia. Und, bereust du es?« »Nach allem, was ich bisher von Osyr gesehen habe, gibt es nichts zu bereuen, Doc«, sagte ich. »Aber ich weiß noch zuwenig über dieses Land, um mir ein abschließendes Urteil bilden zu können.« »Sag einfach Jan zu mir«, verlangte er. »In Osyr brauche ich kein Doktor der Medizin zu sein. Es würde mir ohnehin an Patienten mangeln.« »Hast du Kontakt zu den anderen ... Jan?« »Ich habe den einen oder anderen zu Gesicht bekommen. Aber die sind sich jeder selbst genug.« »Und wie beurteilst du Osyr, Jan?« »Es ist alles so, wie es die Osyrer in ihren Gedankenbotschaften angekündigt haben, Lancia. Schlicht und einfach ein Paradies.« »Und gibt es nicht irgend etwas, an dem du Kritik üben könntest?« »Wozu?« wunderte sich Jan Kieling. »Ich nehme alles, wie es ist. Wozu darüber grübeln, warum dies oder jenes so ist und anderes wieder nicht? Ich genieße einfach, Lancia, und das solltest du auch tun. Und jetzt möchte ich mich mit Naja-Kyl zur Meditation zurückziehen, wenn du gestattest.« »Aber wir bleiben in Kontakt, Doc ... Jan.« »Wenn du Wert darauf legst...« Jan Kieling verschwand in seinem Heckenhaus. Der regenbogenfarbene Osyrer in seiner Begleitung schrumpfte auf eine Größe zusammen, die es ihm erlaubte, den blütenumrankten Eingang zu passieren, ohne daß er sich krümmen mußte. Ich stand überlegend vor dem Eingang. »Die Privatsphäre des Individuums ist uns im Lande Osyr heilig«, drangen Oni-Sonans Gedanken in meinen Geist. »Wolltest du dir nicht eine Unterkunft aussuchen?« »Wollte ich das?« wunderte ich mich. Eigentlich war es Oni-Sonan gewesen, die mir diese Idee eingegeben hatte. Aber ich ließ es dabei bewenden. Über das Tal verstreut gab es einige tausend Pflanzenhäuser, die links und rechts des Flusses angeordnet waren. Die beiden Ufer waren durch mehrere Brücken verbunden, die natürlich gewachsen schienen. Ich fragte mich, ob es die Osyrer waren, die die Pflanzen dazu anregten, über den Fluß zu wachsen, oder ob diese Kunst auch von Immigranten wie mir zu erlernen war. »Jeder, auch du, kann mit einiger Übung Brücken wachsen lassen«, klärte mich Oni-Sonan auf. »Wie wäre es mit diesem Haus?« Die Osyrerin wies auf ein Bäumchen mit flacher, breiter Krone, dessen bis zum Boden herabhängende Äste sich so kunstvoll verknotet hatten, daß sie undurchdringliche, aber luftdurchlässige Wände bildeten. Ein betörender Duft ging davon aus, der die Sinne umnebelte. »Ich möchte mir immer einen klaren Kopf bewahren«, sagte ich ablehnend. »Vielleicht finden wir ein Haus mit einer weniger aufdringlichen Duftnote.« Ich ließ mir einige Pflanzenhäuser zeigen, von denen keines wie das andere war, jedes für sich aber ein natürlich gewachsenes Kunstwerk. Nach einer Weile wurde ich des Suchens jedoch müde und entschied mich für ein ungewöhnlich anmutendes Baumhaus. Es bestand aus einem dicken Stamm, aus dem in einem halben Meter Höhe eine Unzahl von Ästen wuchsen, die alle zusammen ein oben geschlossenes eiförmiges Gebilde ergaben. »Das ist so gut wie jedes andere Haus«, erklärte ich. »Ich werde mir ohnehin ein Haus nach eigenem Geschmack wachsen lassen. Das müßte sich doch machen lassen, wenn ich aus Pflanzen auch Brücken über den Fluß erschaffen kann.« »Freilich wird dir eines Tages auch das möglich sein«, versicherte Oni-Sonan. »Aber dazu bedarf es noch einiger Übung und einer eingehenden Schulung deines Geistes.« »Hab vielen Dank, Oni-Sonan, für deine Führung«, sagte ich und wandte mich dem blätterverhangenen Eingang meines neuen Zuhauses zu, zu dem Stufen führten, die aus dem Wurzelstock gewachsen waren. Ich teilte den Blättervorhang und betrat das kühle Innere. Als ich hinter mir ein Geräusch vernahm, wirbelte ich alarmiert herum und sah, wie mir Oni-Sonan, auf ein Drittel ihrer Körpergröße reduziert, folgte. Das gefiel mir nun aber ganz und gar nicht. »Ich möchte ja nicht unhöflich sein, Oni-Sonan«, sagte ich höflich, aber bestimmt. »Doch wäre ich jetzt gerne mal eine Weile für mich allein.« »Das wäre nicht ratsam«, sagten Oni-Sonans Gedanken ebenso bestimmt. »Wie willst du dann je die Kunst erlernen, Brücken und Häuser zu bauen? Es ist nur zu deinem Wohl, wenn wir sofort mit dem Training beginnen.« Und Oni-Sonan drängte sich mit ihrem Körper, der auf einmal vor Erregung pulsierte, an mich und umarmte mich mit allen ihren Tentakeln. Ihre Umschlingung war so fest, daß ich im ersten Moment keine Luft bekam und meinte, ersticken zu müssen. Doch das änderte sich im nächsten Augenblick sofort wieder. Ich verspürte den Druck nur kurz als unangenehm, dann wurde mein Körper auf einmal leicht und luftig und verflüchtigte sich geradezu. Ich war nur noch freier, ungebundener Geist und erhob mich in die Lüfte. Ich dehnte mich aus, sprengte das Baumhaus, wurde so weit und mächtig, daß ich das gesamte Hügelland unter mir begrub, ja, ich wurde noch größer und breitete mich immer weiter aus, bis ich selbst die höchsten
Gletscher im Lande Osyr überragte. Ich ging in den Himmel auf und vereinigte mich mit ihm, und ich sank in den Boden ein und verschlang das ganze Land. Ich war die Welt. Und dann wurde ich plötzlich wieder so klein, daß ich in den Mikrokosmos der Organismen hineinschlüpfen konnte. Ich erforschte die gewaltige Welt des Kleinen, Unsichtbaren und errang in diesen kurzen Augenblicken mehr Wissen, als ich mir durch schulisches Studium in mehreren Leben hätte aneignen könnten. Und es war Oni-Sonan, die mich auf die Reise durch diese Wunderwelten geleitete. Am Ende waren wir beide so erschöpft, daß wir in einem wohlig stillen Nichts versanken. Und als ich irgendwann wieder zu mir kam, hatte ich die Erinnerung an ein unglaublich berauschendes Erlebnis, das mich derart in Besitz nahm und mich ausfüllte und meinen Körper zum Schwingen brachte wie nichts, was mir zuvor in meinem Leben widerfahren war. Simusense war dagegen geradezu erbärmlich. Und dennoch, wenn ich es recht besah, war diese Glückserfahrung dem Simusense doch sehr ähnlich. Nur, wie gesagt, beides ausprobiert, aber kein Vergleich!
19. Oni-Sonan hatte mir schnell beigebracht, wie man mit den Pflanzen sprach und sie zum Wachstum in die gewünschte Richtung veranlaßte. So konnte ich endlich darangehen, mir ein eigenes Haus zu bauen. Ich verwandte viel Zeit mit der Planung, verwarf die Konzepte aber immer wieder, wie weit sie auch gediehen waren. Mein Haus sollte etwas ganz Besonderes werden. Nur wollte mir einfach keiner der erarbeiteten Entwürfe so recht gefallen. Mir schwebte eine Konstruktion aus jungen Birken mit gläsern klirrenden Blättern vor, wie jene, die ich bei meinem Eintritt ins Eand Osyr im Hain gesehen hatte. Als ich zum ersten Mal eine solche Birke pflanzte, gedieh sie auch prächtig, doch ließ sie sich nicht ganz nach meinem Willen formen. Ich erreichte es einfach nicht, daß die Birke zu einem geschlossenen Raum wuchs. Es gab in dieser Zeit Phasen, da war ich nahe am Verzweifeln. Aber wann immer ich einen Tiefpunkt zu erreichen drohte, war Oni-Sonan zur Stelle und baute mich durch gemeinsame Meditation wieder auf. Aus diesen Sitzungen ging ich stets gestärkt und unternehmungslustig hervor. Ich versuchte auf Oni-Sonans Anraten, auch andere Varianten für mein Haus auszuprobieren. Aber diese Ansätze befriedigten mich noch weniger, es waren alles nur Verlegenheitslösungen. Also gab ich mich vorerst mit meinem Baumhaus zufrieden, es war ja so übel nicht. Es war eben nur nicht meiner Phantasie entsprungen. Im Tal gab es nicht viel Abwechslung - eigentlich überhaupt keine, um ehrlich zu sein. Ein Tag war wie der andere. Am Himmel existierte keine Sonne, nur das schattenlose Licht, das des Nachts abrupt erlosch, gerade so, als würde jemand eine Lampe ausknipsen. Und es gab kein Wetter. Keine Wolken, die urplötzlich den Himmel verdunkelten und ihre Schleusen öffneten, um es regnen, hageln oder gar schneien zu lassen. Es gab auch keine Stürme, keine übermäßige Hitze und keine Kälte. Alles war gleichförmig und monoton. Mit den Nachbarn konnte man sich ebenfalls keine Ablenkung verschaffen. Niemand war am anderen interessiert, jeder war sich selbst genug und seines Glückes Schmied. Ich versuchte noch ein paarmal, Kontakt mit Jan Kieling aufzunehmen, der nicht mehr Doc Kieli sein wollte. Aber er hatte kein Interesse an Gesprächen. »Warum belästigst du mich, Lancia?« fragte er mich beim letzten Mal. »Ich möchte nur meine Ruhe haben. Kannst du denn nicht auch einfach nur glücklich sein?« Statt einer Antwort sagte ich: »Du wirst immer jünger, Jan. Ehrlich. Du blühst förmlich auf, seit du hier bist.« Aber er schluckte den Köder nicht. »Ich werde nicht jünger«, antwortete er ernst. »Ich altere nur nicht.« »Du siehst wirklich prächtig aus. Ich könnte mich glatt in dich verlieben.« »Ich bin eben glücklich.« Glückseligkeit war das Zauberwort im Lande Osyr. Alle strebten nur danach und merkten nicht, daß Sorglosigkeit und Müßiggang nicht das Maß aller Dinge sein konnten. Irgendwer hatte einmal sinngemäß gesagt: Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von glücklichen Tagen. Das hatte bestimmt seine Gültigkeit, aber nicht für die Menschen von Osyr. Und auch nicht für die anderen Immigranten. »Und mehr als pures ewiges Glück willst du nicht, Jan?« fragte ich. »Du bestehst nur aus Schalk und Unvernunft, Lancia«, antwortete er. »Wieso kannst du eigentlich nicht zur Ruhe kommen?« Ja, warum eigentlich nicht? Das hatte ich mich selbst auch schon gefragt. Und ich hatte eine mögliche Antwort gefunden. Bei meinem Einstieg ins Simusense hatte ich sorgfältig darauf geachtet, von der virtuellen Wirklichkeit nicht
vereinnahmt zu werden. Ich hatte mir stets vor Augen gehalten, daß es nicht das wirkliche Leben war, das ich hier in meiner Eigenwelt führte, sondern daß alles nur Schein war. Diese streng auferlegte Selbstdisziplin hatte mich vor dem schlimmen Schicksal bewahrt, das so vielen Simusense-Gängern vor mir widerfahren war, weil sie bald nicht mehr zwischen Realität und Illusion unterscheiden konnten. Und das hing mir jetzt nach. Ich konnte mich nicht vollständig der Welt Osyr und ihren Gesetzen einer Zwangsbeglückung ergeben, weil ich mir stets bewußt machte, daß es auch noch ein anderes Leben gab. Osyr war zwar nicht eine solche Illusion wie das Simusense, aber es war eben nur eine Facette von vielen, die das Leben zu bieten hatte. Ich hätte ja gerne meine Fähigkeit, meinen inneren Zwang, alles kritisch unter die Lupe zu nehmen, abgestellt. Doch das ging nicht; diese lästige Kritikfähigkeit war einfach ein fester Bestandteil meiner Persönlichkeit. Es gelang nicht einmal Oni-Sonan, sie auszumerzen, wiewohl sie es ausdauernd versuchte. Aber nach jeder Läuterung, die ich durch die gemeinsame Meditation mit Oni-Sonan erfuhr, kehrte allmählich -langsam und geradezu schleichend - die kleine Teufelin wieder in mich zurück. Eines Tages - ich traute meinen Augen nicht - entdeckte ich in unserer kleinen Kolonie ein neues Gesicht. Es war nicht wirklich ein neues Gesicht, sondern ein sehr vertrautes, aber es war eben neu für Osyr. Es war der Shiftpilot Antal Noell, den ich mit Conrad und Rana Sindede in den Orbit geschickt hatte. »Antal!« rief ich ihm voll freudiger Erregung zu. »Wie ist es möglich, daß du den Weg nach Osyr doch noch gefunden hast?« Und voller Hoffnung schloß ich die Frage an: »Ist Conrad Festik ebenfalls hier?« »Nein, er ist ein phantasieloser, verhärmter Eigenbrötler«, antwortete er. Und dann erzählte er, wie sie zu dritt monatelang vergeblich in der GALATHEIA darauf gewartet hatten, daß eine Reaktion auf ihren Hilferuf erfolgte. Schließlich war ihm, Antal Noell, der Geduldsfaden gerissen, und er hatte Solo-Expeditionen in den Dschungel unternommen in der vagen Hoffnung, zu uns zu stoßen. Und hier war er nun. Es war erfrischend, sich mit Antal zu unterhalten, das sorgte bei mir für neuen Schwung, und ich hoffte, in ihm einen Gesprächspartner gefunden zu haben. Aber schon als ich ihn beim nächsten Mal traf, wollte er von mir nichts mehr wissen. Da redete er bereits so wie Doc Kieli und die anderen. Apropos Doc Kieli alias Jan Kieling. Als ich ihn Tage später in seinem Haus aufsuchen wollte, um ihn ein wenig zu provozieren, fand ich ihn nicht vor. Er kam überhaupt nicht mehr in sein Haus zurück. Als ich mich bei Oni-Sonan nach seinem Verbleib erkundigte, da bescherte sie mir statt einer Antwort einen jener unvergleichlichen Trips ins Reich der Sinne. Danach vergaß ich Jan Kieling für eine ganze Weile. Und dann tauchte schon wieder ein neues Gesicht auf, und ich verschwendete erst recht keinen Gedanken mehr an den Doc. »Rana Sindede!« rief ich begeistert, als ich die Xenologin erblickte, die lieber der kämpfenden Truppe angehört hatte als irgendeinen Team von Wissenschaftlern. »Ist vielleicht auch Conrad Festik mit dir gekommen?« Sie verneinte. Conrad Festik, so sagte sie, würde vermutlich so lange in der GALATHEIA ausharren, bis er vermoderte. Wir klopften einander mit einer Herzlichkeit ab, die wir im anderen Leben nie füreinander hätten empfinden können. Aber in Osyr war eben alles anders. Rana war ein Lichtblick für mich, mein Sonnenschein. Aber nur für dieses eine Mal. Unsere zweite Begegnung fiel da schon ernüchternder aus, denn Rana Sindede zeigte mir die kalte Schulter und verschwand mit ihrem osyrischen Begleiter rasch in ihrem Blütenhaus. Und irgendwann verlor ich auch sie und Antal Noell aus den Augen, ebenso wie die anderen aus meiner Crew. Und dann war ich eines Tages allein unter Chearthern und Algiotischen Wanderern. Unter letzteren gab es schon längst keine Tazolen mehr. Sie alle waren, nach Oni-Sonans Aussage, in den Inneren Kreis Vodiyas geholt worden. Zu dieser Auskunft sah sich Oni-Sonan schließlich gezwungen, weil ich einfach nicht lockerließ und unbedingt wissen wollte, wohin meine Leute einer nach dem anderen verschwunden waren. Die Antwort war ganz simpel. »Vodiya holt immer wieder ausgesuchte Schützlinge zu sich, um ihnen ihre besondere Gnade zu erweisen. Ich bin sicher, daß auch du schon längst diesem Inneren Kreis angehören würdest, wenn du nicht so ein unruhiger Geist wärst, Lancia.« »Ich weiß nicht einmal, ob diese Gnade für mich überhaupt erstrebenswert wäre, Oni-Sonan.« »Versündige dich nicht, Lancia!« ermahnte mich die Osyrerin streng. Da faßte ich urplötzlich einen Entschluß. »Ich möchte zurück nach Planet 4, Oni-Sonan«, sagte ich spontan. »Ich bin hier nicht glücklich und kann es auch nicht werden. Ich schaffe es nicht einmal, mir ein Wunschhaus wachsen zu lassen. Ich möchte sehen, wie es Conrad Festik inzwischen ergangen ist.« »Der hat die Höllenwelt längst schon verlassen«, behauptete Oni-Sonan. »Schon vor vielen Jahren deiner früheren Zeitrechnung.« »Was? Bin ich denn schon so lange in Osyr?« Oni-Sonan nahm mich daraufhin mit auf eine unvergeßliche Sinnesreise, die alle vorangegangenen in den Schatten stellte. Aber als irgendwann die Erinnerung daran wieder verblaßt war, kam ich zu der Überzeugung, daß Oni-Sonan ein hinterhältiges Spiel mit mir trieb.
Vielleicht litt ich an Paranoia, die aus meiner kritischen Betrachtungsweise und meiner immer wieder aufflammenden Unzufriedenheit geboren war, durchaus möglich. Aber Tatsache war auch, daß Oni-Sonan meinen Fragen stets ausgewichen war, mich eingelullt hatte in kurzzeitige Glückseligkeit und mir Antworten nur dann gegeben hatte, wenn ich ihr keinen anderen Ausweg mehr ließ. Und daß inzwischen so viele Jahre vergangen waren, erschütterte mich regelrecht. Ich hatte in Osyr jegliches Zeitempfinden verloren. Mir war, als seien seit meinem Eintritt erst wenige Wochen verstrichen. Das war für jemanden, dem ewiges Leben verliehen worden war, vermutlich eine ganz natürliche Erscheinung. Aber ich beurteilte sogar die Sache mit der angeblichen Unsterblichkeit inzwischen überaus skeptisch. »Bin ich frei oder eine Gefangene, Oni-Sonan?« fragte ich die Osyrerin geradeheraus. Sie reagierte auf ihre Weise und verschaffte mir einen irren Trip. Aber als die Erinnerung daran wieder abklang, war die Ernüchterung für mich nur um so größer. Ich war also keineswegs frei. Ich entschloß mich augenblicklich zur Flucht, ohne lange zu überlegen, ohne Oni-Sonan Gelegenheit zu geben, mich zu überrumpeln und mir höchstes Glücksgefühl zu suggerieren. Es war zwar so, daß auf mich dauernd Suggestivimpulse einströmten - darüber war ich mir schon längst klar -, aber ich konnte diese abwehren, indem ich meine Simusense-Erfahrungen einsetzte. So, wie ich mir stets bewußt gemacht hatte, daß Simusense nur Illusion war, so hämmerte ich mir nun ein: Osyr ist nur Simusense! Osyr ist nur Simusense! Osyr ist nur... Auf diese Weise bewahrte ich mir zumindest teilweise meinen eigenen Willen, sorgte ich zumindest dafür, daß mein Geist wach und widerborstig blieb. Osyr ist nur Simusense! Nur wenn sich Oni-Sonan meiner gezielt annahm, dann verlor ich völlig die Kontrolle über mich. Aber so weit wollte ich es diesmal nicht kommen lassen. Und darum floh ich Hals über Kopf. Ich erreichte den Birkenhain und suchte ihn verzweifelt nach dem Tor ab, durch das ich nach Osyr gekommen war. Doch da war nichts, was nur im entferntesten nach einem Ausgang ausgesehen hätte. Und dann tauchte ein Schwärm Osyrer auf und brachte mich zurück. Oni-Sonan nahm sich meiner wieder an und bescherte mir überschwengliche Glückseligkeit. »Ich habe eine Frohbotschaft für dich, Lancia«, sagte die Osyrerin nach unserem gemeinsamen Trip. »Du wirst nun doch in den Inneren Kreis von Vodiya aufgenommen.« Die mögliche Tragweite dieser »Frohbotschaft« wurde mir nicht sofort klar, sondern sickerte mir erst allmählich ins Bewußtsein. In demselben Maße, wie der Nachhall des Sinnesrauschs abklang und ich meine Kritikfähigkeit zurückgewann, wurde mir auch klar, daß ich nichts von Vodiyas Innerem Kreis wissen wollte. Ich floh erneut. Aber diesmal verlief alles anders. Als ich den Birkenhain erreichte, traf ich auf einen Wlatschiden. »Ich bin Lorezzo«, stellte er sich vor und fügte ohne Umschweife hinzu: »Ich bin wie du ein Rebell gegen Vodiya. Und ich beobachte dich schon seit geraumer Zeit.« Ich und ein Rebell? wunderte ich mich. Und dann fragte ich: »Sollte ich dich kennen, Lorezzo?« »Nein, ich bin nicht Teil von Vodiyas Scheinwelt«, antwortete der Wlatschide. »Ich gehöre zu einem Kommando, das diese Blutsaugerin erledigen soll. Aber dazu brauchen wir die Hilfe eines Integrierten, wie du einer bist.« »Ich begreife überhaupt nichts mehr«, sagte ich verständnislos. »Du bist doch hier im Lande Osyr.« »Alles nur Lug und Trug«, sagte Lorezzo. »Ich hole dich erst einmal hier heraus. Dann wirst du schon verstehen.« Er stellte irgend etwas mit mir an. Und dann wurde ich förmlich aus Osyr hinausgerissen und fand mich plötzlich im Dschungel von Planet 4 wieder. Und um mich waren auf einmal weitere Wlatschiden, die mich wie bei einem Stafettenlauf weiterreichten und mich dann durch eine Luftschleuse in ein Raumschiff beförderten. »Wir haben nicht viel Zeit, wollen wir die sogenannten Osyrer nicht mißtrauisch machen«, sagte Lorezzo. »Darum muß ich dir alles im Schnellverfahren erklären. Bist du bereit und aufnahmefähig, Lancia?« Ich nickte wie in Trance, denn ich hatte an meinem Körper hinuntergesehen und dabei eine entsetzliche Entdeckung gemacht. Ich war zu einem unförmigen Monstrum geworden.
20. Ich war nackt. Meine Hände waren verquollen, die Finger unförmige, wurstartige Stränge. Fingernägel besaß ich keine mehr. Meine Brüste waren ungleich groß, die eine ein aufgeblähter, formloser Klumpen, von Bißwunden zernarbt, die andere eingefallen, ein leerer Hautlappen. Mein Bauch wölbte sich wie bei einer Schwangerschaft, war ebenfalls narbenbedeckt und wies beulenartige Verknotungen auf. Meine Beine waren dicke Säulen mit Wucherungen und schwärenden Wunden, die Füße Klumpen ohne
erkennbare Zehen. Ich betastete meinen Körper und ließ die Hände zu meinem Kopf hinaufwandern. Obwohl die Fingerspitzen ihre Sensibilität verloren hatten und ihr Tastsinn verkümmert war, konnte ich die harten, scharf hervortretenden Knochenkonturen meines Gesichts erfühlen, und die Finger fanden oben auf meinem Kopf ebenfalls nur blanke Knochen, eine spiegelblanke Glatze. Statt Haare ertastete ich nur ein APRE-Netz. Meiner Kehle entrang sich ein gurgelnder Laut, der aus Entsetzen, Scham und Wut geboren war. War dies nur ein böser Traum? Ein böser Streich, den mir meine Sinne spielten? Alles nur Illusion, vergleichbar einem Ausflug ins Simusense? »Das hier ist die schreckliche Wirklichkeit, Osyr ist die Illusion«, sagte Lorezzo und zerstörte damit alle meine Hoffnungen auf ein gnädiges Erwachen. »Das haben die Osyrer und ihr Muttertier, ihre Königin Vodiya, aus dir gemacht. Sie halten dich und die anderen Opfer wie Tiere und nähren sich von eurer Lebensenergie. Alle anderen aus deiner Crew leben längst nicht mehr. Sie sind förmlich zu Tode gesaugt worden. Auch wir haben viele unserer Artgenossen verloren. Nun wollen wir diesem grausamen Treiben ein für allemal ein Ende bereiten. Willst uns dabei helfen, Lancia?« Die anderen Wlatschiden blickten betreten zur Seite, wollten mich nicht direkt ansehen, um nicht mein Schamgefühl zu verletzen. »Wie kann ich das?« fragte ich dumpf. »Wir tragen alle APRE-Netze der Algioten«, erklärte Lorezzo. »Die bieten als einziges Schutz gegen die Suggestionen der Vodiya und ihrer Osyrer. Wir können also ungehindert in ihren Bau eindringen. Wir könnten viele dieser ekligen Würmer zur Strecke bringen. Aber das hilft uns nicht viel. Solange wir ihrer Königin nicht habhaft werden und verhindern können, daß sie immer wieder neue Vampir-Egel produziert, bleibt diese Gefahr bestehen. Und Vodiya wird immer mächtiger, je mehr Lebensenergie sie in sich aufnimmt. Wenn wir sie nicht rechtzeitig zu Strecke bringen, dann könnte sie zu einem übermächtigen PsiFaktor werden, gegen den uns auch die APRE-Netze nicht mehr schützen können.« »Und was kann ich dabei tun?« fragte ich wieder. »Wir möchten, daß du zurückkehrst und dein früheres Leben wiederaufnimmst«, antwortete Lorezzo. »Natürlich ohne schützendes APRE-Netz. Die Osyrer sollen glauben, daß du weiterhin eines ihrer hilflosen Opfer bist. Aber wir werden in der Nähe sein und dich beschützen. Du sollst uns den Weg zu Vodiya weisen.« Ich erinnerte mich daran, was Oni-Sonan zuletzt zu mir gesagt hatte und was der Grund für meine Flucht gewesen war. »Ich wurde darüber informiert, daß ich dem Inneren Kreis der Vodiya zugeführt werden soll«, sagte ich. »Ist das für euch von Bedeutung?« »Und ob!« rief Lorezzo. »Das bedeutet nicht weniger, als daß man dich zu Vodiya selbst bringen will. Das könnte uns zu ihr führen!« »Ich nehme an, daß dies gleichbedeutend mit meinem Ende wäre«, sagte ich unheilschwanger. »Denn aus dem Inneren Kreis ist noch keiner zurückgekehrt. Ich soll für Vodiya ein Festmahl werden.« »Du hast nichts zu befürchten«, versicherte Lorezzo. »Wir werden dich zu beschützen wissen, denn wir werden in deiner Nähe sein. Hier, schluck das, Lancia.« Er reichte mir zwischen zwei Fingern seiner Wolfskralle eine winzige Kapsel und ließ sie in meine hohle Hand fallen. »Was ist das?« »Ein Peilsender. Über diesen können wir dich orten und dir überallhin folgen.« Ich schluckte die winzige Kapsel. »So«, sagte Lorezzo. »Jetzt bringen wir dich zurück, Lancia. Sei tapfer, wir werden dich beschützen.« Die Wlatschiden führten mich aus dem Raumschiff und begleiteten mich zu einem Erdloch. Dahinter erstreckte sich eine lange, krumme Höhle, die schräg in die Tiefe führte. »So sieht das Land Osyr wirklich aus«, erklärte mir Lorezzo. »Es handelt sich um ein weitverzweigtes Höhlensystem, das sich gewissermaßen unter diesem ganzen Kontinent erstreckt und vielleicht sogar noch weiter führt. Aber das spielt keine Rolle. Wir müssen nur das Versteck der Vodiya finden. Dann haben wir gewonnen.« Die Wlatschiden führten mich im Licht ihrer Scheinwerfer rund 100 Meter in die Tiefe. An einer Gabelung, an der sich die Höhle in mehrere Gänge teilte, hielten sie an. »Wir lassen dich jetzt wieder allein«, sagte Lorezzo. »Aber keine Sorge. Wir werden immer in deiner Nähe sein, was auch passiert. Du mußt danach trachten, in den Inneren Kreis zu gelangen. Nur so können wir an die Vodiya herankommen. Du hast dabei nichts zu befürchten, Lancia. Wir werden für dich dasein.« Mit einer ruckartigen Bewegung riß mir Lorezzo das APRE-Netz vom Kopf, dann zog er sich mit seiner Truppe zurück. Es wurde finster um mich. Aber nicht für lange. Auf einmal erstrahlte um mich helles, schattenloses Tageslicht, und ich fand mich wieder in jenem Birkenhain, der für mich so schicksalhaft war. Ich war in die Scheinwelt der Osyrer zurückgekehrt.
Unversehens waren vier Osyrer um mich, unter ihnen auch Oni-Sonan. »Was hast du schon wieder angestellt, Lancia!« tadelte die Osyrerin mit ins Violette verdunkeltem Körper, was ihren Ärger ausdrücken sollte. »Wo warst du denn? Wir konnten dich nirgendwo finden.« Willst wohl sagen, daß ihr die Kontrolle über mich verloren habt! dachte ich und hämmerte mir ein: Simusense! Si-mu-sense! Si-mu-sense! »Was soll das, Lancia!« tadelte Oni-Sonan wieder, die meine Gedanken gelesen hatte. »Natürlich war ich besorgt um dein Heil. Ich fühle mich für dich schließlich verantwortlich. Was ist denn passiert?« Ich beschloß, bei der Wahrheit zu bleiben, mich zumindest an Halbwahrheiten zu halten, weil Oni-Sonan eine glatte Lüge durchschaut hätte und nur mißtrauisch geworden wäre. »Ich hatte einen Alptraum«, erzählte ich. »Ich fand mich plötzlich in der Hölle von Planet 4 wieder. Es war schrecklich. Ich glaubte, ich könne überhaupt nicht mehr daraus aufwachen. Der Traum wollte mich einfach nicht loslassen.« »Und - bist du in deinem Traum jemandem begegnet?« fragte Oni-Sonan. »Nun, es war keine richtige Begegnung«, sagte ich. »Um mich waren schattenhafte Gestalten, die alle an mir zerrten, als wollten sie mich für immer in den Alptraum verbannen. Aber ich habe mit aller Macht dagegen angekämpft ... und schließlich bin ich doch aufgewacht.« Eine ganze Weile schwiegen Oni-Sonan und die anderen Osyrer, und ich hatte den Eindruck, daß sie sich, für mich unhörbar, berieten. Ich beschäftigte derweil meine Gedanken anderweitig. Es ist alles nur Simusense, dachte ich. Si-mu-sense! Si-mu-sense! Si-mu-sense! Oni-Sonan sagte schließlich: »Laß uns zurückkehren, Lancia. Ich möchte versuchen, dich deinen Alptraum vergessen zu lassen.« Mich schauderte bei dem Gedanken, daß diese Qualle, die nach Lorezzos Aussage eigentlich ein Egel war, sich an mir festsaugen würde, um mir die Lebensenergien wegzunehmen. Aber ich durfte nicht daran denken. Es ist alles nur Simusense Als wir ins Tal zurückkehrten, sagte ich reuig: »Ich glaube, ich bin jetzt geläutert. Ich möchte nun endlich mein Haus fertigstellen. Das wäre mein höchstes Glück.« »Ich fürchte, daraus wird nun nichts mehr«, entgegnete Oni-Sonan bedauernd. »Vodiya hat nach dir gerufen. Du sollst in ihren Inneren Kreis aufgenommen werden.« »Was? Wirklich?« rief ich und versuchte, kein Entsetzen in mir aufkommen zu lassen. »Vodiya will mir diese Ehre wirklich erweisen? Trotz meiner Widerstände und meiner aufrührerischen Gedanken?« »Vodiyas Güte ist eben unerschöpflich.« Du meinst wohl, ihr Hunger, ihr Heißhunger, ihre Gier... Nur keine verräterischen Gedanken! Die Osyrer durften nicht merken, daß ich ihren Betrug durchschaute ... Si-mu-sense! Si-mu-sense! Si-mu-sense! Oni-Sonan und vier weitere Osyrer umringten mich, umschlangen mich mit ihren Tentakeln und erhoben sich mit mir in die Lüfte. So begann also die Reise in den Inneren Kreis der Vodiya. Wir stiegen höher und flogen in Richtung der schneebedeckten Berge. »Wieso konnte ich noch nie beobachten, wie jemand den Flug zu Vodiya angetreten hat?« fragte ich. »Das muß doch schon unzählige Male passiert sein. Wieso habe ich das nie mitgekriegt?« »Weil dies ein ganz persönliches Erlebnis ist«, erklärte mir Oni-Sonan. »Nur der Betroffene selbst hat daran Anteil, niemand sonst.« Wir flogen höher und höher und entfernten uns immer weiter vom Tal mit den Busch-, Baum- und Heckenhäusern. Die Bewohner wurden so klein, daß sie bald nicht mehr zu erkennen waren. Die Pflanzenhäuser verschwammen zu einem grünen Teppich. Wir flogen bereits so hoch, wie die höchsten Berggipfel waren, und stiegen noch höher. Wir setzten über die Berge hinweg, und ich sah nun vor mir eine Landschaft, die nur aus Wolkengebilden bestand. Es waren bizarre, windzerzauste Wolken, die wild durcheinandergewirbelt wurden, sich wie Wellenberge auftürmten und über uns zusammenschlugen, uns in sich aufnahmen und mich in einem urgewaltigen Sog mit sich rissen. Ich war plötzlich allein und stürzte scheinbar haltlos in bodenlose Tiefe. Ich verspürte Angst, denn jeden Augenblick konnte ein todbringendes Hindernis vor mir auftauchen, doch da wurde mein Fall ins Bodenlose auf einmal sanft und federnd abgefangen. Ich fühlte mich so geborgen wie in meiner Mutter Schoß. Und dorthin sollte ich jetzt zurückkehren, in die Geborgenheit des Schoßes der Urmutter, der Mutter allen Lebens... in die Umarmung der Vodiya, der osyrischen Königin, der alles Leben im Lande Osyr entsprang. Und ich kehrte zum Ursprung zurück, damit ich den Grundstock für das Werden neuen Lebens bilden konnte. Es war die Genesis ... der Beginn einer wundersamen Wiedergeburt ... Ich würde meine Vitalenergie dem Schoß der Mutter Vodiya spenden, auf daß sie gestärkt war für die Schaffung neuen Lebens. Doch das war nicht alles. Ich sollte Vodiya auch die Kraft für eine Metamorphose geben. Vodiya hatte sich im Laufe vieler Jahre gewandelt, war mehr und anders geworden. Und nun war sie bereit, eine Erhöhung zu erfahren, die nächste Stufe der Evolutionsleiter zu erklimmen ... Es fehlte nicht mehr viel, um diesen Entwicklungssprung zu tun. Es war nur noch ein winziger
Funke nötig, um den Prozeß zu zünden. Und dieser Funke war ich. Ich war der Impulsgeber für die Erschaffung von etwas Neuem, die Geburtshelferin für ein Wesen von ungewöhnlicher Vielfalt und faszinierender Andersartigkeit. Ich sah Vodiya als wunderschönes, ins Riesenhafte gewachsenes Regenbogenwesen, eine Majestät von hohem Rang, eine allgegenwärtige Mächtigkeit. Und dieses wunderbare, faszinierende Geschöpf öffnete seinen Muttermund, um mich einzusaugen und mich zu der vitalen, vor Kraft überbordenden Melange einer neuen Wesenheit zu verarbeiten. »Lorezzo, wo bleibst du?« schrie ich in panischer Todesangst. Und da zerplatzte die faszinierende majestätische Erscheinung und wurde zu einer grotesk anzusehenden, zuckenden und brüllenden Fleischmasse. Der Wolkenhort war auf einmal eine riesige Grotte, in deren Tiefe humanoide Gestalten gegen mannsgroße Egel kämpften, die sie mit den Strahlen ihrer Energiewaffen einäscherten. Schreie gellten durch die Höhle. Im Todeskampf zuckende Leiber wälzten sich über den schleimigen Boden. Blitze zuckten, Wasser verdampfte zischend zu wallenden Nebeln. Neben mir war Lorezzo aufgetaucht; sein Gesichtsfell war blutverkrustet, aber er bleckte grinsend das Wolfsgebiß. »Das ist Vodiya!« schrie er mir durch den Kampflärm zu und deutete nach vorne. »Jetzt geht es dieser Bestie an den Kragen. Die wird keine ahnungslosen Raumfahrer mehr einfangen.« Und er stürmte mit einem durch Mark und Bein gehenden wölfischen Kampfschrei nach vorne. Ich war noch immer ganz benommen. Vodiya hatte mich aus ihrem Bann entlassen, aber ich vernahm immer noch, wenn auch nur wie aus weiter Ferne, ihre zornigen Gedanken ... Wut beherrschte sie - Wut darüber, daß dieses unwürdige Gewürm von Sterblichen es wagte, sie, die große Mutter, zu bedrängen, daß es sie genau in dem Moment angriff und zu töten versuchte, in dem sie zum Sprung auf die Ebene der großen Wesenheiten ansetzte ... Ich bewegte mich durch das Kampfgetümmel wie in Trance nach vorne. Der Wasserdampf lichtete sich. Vor mir türmte sich ein gewaltiger Fleischberg auf, ein gut zehn Meter hoher, fetter Egel, der seinen Körper wild hin und her warf. Strahlenschüsse schlugen in den Körper ein, rissen tiefe Wunden und ließen Blut und Innereien hervorquellen. Zu meinen Füßen kam ein zuckendes, wurmartiges Ding herangekrochen, in seiner linken Flanke klaffte eine große Brandwunde. Das ekelige Geschöpf mußte einer der Osyrer sein, die sich ihren Opfern als majestätische Regenbogen-Quallen dargestellt hatten. Das tödlich verletzte Scheusal kroch mir über die Füße. Irgendwie hatte ich den Eindruck, daß es mir eine letzte Botschaft vermitteln wollte. »Bist du etwa Oni-Sonan?« fragte ich. Aber ich erhielt keine Antwort mehr. Ein Wlatschide tauchte auf und zerstrahlte den Egel zu einer verschmorenden, qualmenden Masse. Ich starrte wieder zu Vodiya hinauf, die einen verbissenen Todeskampf führte. Ihr fetter mächtiger Leib war eingebettet in die angehäuften Gebeine ihrer früheren Opfer. Links und rechts von ihr türmten sich Leichen in allen Stadien der Verwesung... Darunter sicherlich alle meine Kameraden. Haß überkam mich plötzlich. »Ich will dich krepieren sehen, verdammte Blutsaugerin!« schrie ich zu dem zuckenden, allmählich verendenden Koloß hinauf. »Komm schon! Spei endlich dein erbärmliches Leben aus!« Ich weiß nicht, wieso, aber aus irgendwelchen Gründen hatte ich Vodiyas Aufmerksamkeit auf mich gelenkt. Sie sandte mir ihre Gedanken. Schau, schau, erklang es sinngemäß in meinem Kopf. Ich erstarrte vor Schreck. Diese Gedanken drangen tief in mich und verursachten mir Schüttelfrost. Ich stand auf einmal voll in Vodiyas Bann, ohne Chance, mich aus eigener Kraft davon zu befreien. Da haben wir die kleine Lancia, die über die große Mutter obsiegen will. Aber du kannst mich nicht zu Fall bringen. Ich werde weiterleben ... In diesem Moment platzte der mächtige Körper und barst in unzählige Stücke. Ich gewahrte noch, wie ich unter Schleim und Fleischfetzen begraben wurde, dann verlor ich das Bewußtsein. Ich kam erst an Bord der AKKAZZON zu mir. Ich lag im Schlaftank und wußte nicht, wo ich war und was passiert war. Lorezzo, der an meiner Seite erschien, sagte es mir. »Wir bringen dich mit der AKKAZZON in deine Heimatgalaxis, Lancia. Dank deiner Hilfe ist es uns gelungen, Vodiya zur Strecke zu bringen. Dafür haben wir dir ewig zu danken. Du wirst uns unvergessen bleiben. Aus Dank fliegen wir dich heim. Deine Leute können dir besser helfen als wir. Lebe wohl, tapfere Lancia.« »Was ich getan habe, geschah nur als Sühne für das Opfer meiner Crew«, sagte ich. Dann verfiel ich in Tiefschlaf und weiß nicht mehr, was anschließend geschah. Ich bin erst hier, in der Isolierstation von Mimas, wieder aufgewacht. Und wie geht es weiter? Was wird mit mir geschehen?
Gegenwart Mai 1302 NGZ: Tia de Mym
21. Lancia Thurman bekam einen Hustenanfall. Ihr Oberkörper bäumte sich auf und wurde wie von Krämpfen geschüttelt. Die dunklen, leeren Augen schienen ihr aus den Höhlen treten zu wollen. Die Diagnosegeräte gaben stakkatoartige Piepsgeräusche von sich. Das Ende der gequälten Frau schien gekommen. Doch schließlich beruhigte Lancias Körper sich wieder, und ihrer Kehle entrang sich ein langgezogenes Röcheln. »Besucher, bitte die Intensivstation verlassen!« sagte eine Robotstimme aus einem Lautsprecher. »Die Patientin benötigt Ruhe.« »Lancia, was ist mit dir?« erkundigte sich Conrad Festik und griff mit beiden Armen nach ihr. »Wie fühlst du dich? Kann ich irgend etwas für dich tun?« »Laß sie, Conrad«, riet ich ihm. »Die Ärzte werden sich um sie kümmern.« In diesem Moment kamen ein weißbekittelter Mann und ein Medo-Roboter herein. »Raus hier!« herrschte uns der Arzt an. »Conrad?« rief Lancia Thurman. Ihr Oberkörper war immer noch aufgerichtet, und sie streckte die Arme tastend aus. >Conrad, laß mich nicht im Stich! Hilf mir!« Conrad Festik machte den Eindruck eines Zerrissenen. Einerseits wollte er Lancia nicht enttäuschen und ihr Beistand geben, andererseits war ihm klar, daß er der Aufforderung des Arztes Folge leisten mußte. Ich zog an seinem Arm, konnte ihn aber nicht dazu bewegen, sich von Lancia zu entfernen. Erst als der Roboter auf ihn zuglitt und sich zwischen ihn und die Kranke drängte, zog er sich zurück. »Ich lasse dich nicht im Stich, Lancia!« rief er der in Silberfolie verpackten Patientin zu, die vom Arzt gerade mit sanfter Gewalt in eine liegende Position gedrückt wurde. »Ich komme wieder!« Und dann stiegen wir durch die ovale Strukturöffnung, die sich kurzfristig im Schirmfeld bildete, und befanden uns wieder auf dem Korridor. Die Tür zur Intensivstation schloß sich hinter uns, und vor uns ging eine andere auf. Das geschah immer wieder, während wir vorwärts gingen, so daß uns der Weg gewiesen wurde. Wir mußten auch diesmal wieder zwei Transmitterfelder passieren. Schließlich kamen wir in eine Art Wartezimmer mit mehreren Türen. Zwei davon gingen auf, und eine Robotstimme erklärte: »Für die TLD-Agentin Tia de Mym und den Raumsoldaten Conrad Festik wurden zwei Unterkünfte bereitgestellt. Dies, um der Möglichkeit eines längeren Aufenthalts Rechnung zu tragen. Die Besucher haben eine Stunde Zeit, ihre persönlichen Bedürfnisse zu erledigen.« »Ich glaube, eine Atempause wird uns beiden ganz guttun, meinst du nicht auch, Conrad?« sagte ich und hielt auf eine der beiden offenen Türen zu. »Ja, das glaube ich«, gab er mir recht, ohne sich jedoch vom Fleck zu rühren. »Ich weiß nur nicht, wie ich die Stunde nutzen soll.« Ich konnte ihn gut verstehen, und unter normalen Umständen hätte ich ihm auch nur zu gerne Gesellschaft geleistet. Aber ich wußte, daß mir diese eine Stunde nicht zur freien Verfügung stand. Ich war schließlich im Dienst und konnte mir denken, daß Noviel Residor die Zeit für mich bereits verplant hatte. Dafür kannte ich den TLD-Chef viel zu gut. »Es wird auch dir guttun, einfach abzuschalten und dich ein wenig zu entspannen, Conrad«, sagte ich. »Bis dann also.« Er wirkte überaus verloren, wie er so unschlüssig dastand und deutlich machte, daß er ganz und gar nichts mit sich anzufangen wußte. Lancia Thurmans Anblick, ihr besorgniserregender Zustand und ihr letzter Anfall mußten ihm ganz schön zugesetzt haben. Er hätte jetzt eine Aussprache benötigt, um das alles aufarbeiten zu können. Aber ich konnte ihm nicht helfen. Ich trat durch die Tür und schloß sie rasch hinter mir. Die Unterkunft war mit allem Nötigen ausgestattet, aber kalt und unpersönlich. Eben nur für raschen Durchgangsverkehr gedacht. Ich konnte mir vorstellen, daß diese ernüchternde Umgebung Conrad noch mehr zusetzen würde. Und ich nahm mir vor, mich um Conrad zu kümmern, wenn Noviel Residor innerhalb der nächsten fünf Minuten nichts von sich hören lassen würde. Der Mann lag mir sehr am Herzen, ich wollte nicht, daß er ausgenutzt wurde oder gar als Bauernopfer herhalten mußte. Ich hatte ihn liebgewonnen, ich mochte ihn. Es waren keine drei Minuten vergangen, seit ich das Zimmer betreten hatte, da erschien Noviel Residor als Holo vor mir. Ich hatte gerade Zeit genug, die Hygienekabine aufzusuchen. Als ich von dort ins Wohnzimmer kam, erwartete mich der TLD-Boß bereits. »Ich muß unter vier Augen vertraulich mit dir reden, Tia«, sagte er statt einer Begrüßung. »Ich habe das erwartet, darum habe ich Conrad Festik sich selbst überlassen.«
»Bist ein cleveres Mädchen, Tia.« »Ist dieser Fall für dich so unbedeutend, daß du gar nicht persönlich nach Mimas kommst?« fragte ich provokant. »Im Gegenteil, dieser Fall hat sogar höchste Prioritätsstufe für mich«, antwortete Noviel Residor. »Wir nähern uns bereits der Alarmstufe Rot. Aber gerade deswegen bin ich bei euch nur als Holo vertreten. Es ist mir nämlich zu heiß auf Mimas.« »Aber du hast keinerlei Skrupel, deine Agenten ins Feuer zu schicken, was?« »Es ist der Job meiner Agenten, ihr Leben zu riskieren«, sagte er emotionslos; er war schon ein kalter Hund. »Aber ich gebe dir die Chance, jederzeit auszusteigen, Tia. Diese Sache könnte unglaubliche Dimensionen annehmen, so daß wir ihr vielleicht gar nicht gewachsen sind.« »Du weißt ganz genau, daß ich persönlich engagiert bin und Conrad Festik nicht im Stich lassen werde«, sagte ich angewidert. »Aber wieso glaubst du, daß uns die Sache mit Lancia Thurman über den Kopf wachsen könnte?« »Es gibt da ein paar besorgniserregende Alarmzeichen. Und eines scheint völlig klar zu sein: Es kann nur sie sein, die die wlatschidische Mannschaft der AKKAZZON auf dem Gewissen hat.« »Weißt du auch wirklich, was du da sagst?« brachte ich auf diese Eröffnung ungläubig hervor. »Du stempelst damit Lancia Thurman als Monstrum ab, das anderen die Vitalenergie aussaugt wie ein Vampir!« »Nach allem, was wir herausgefunden haben, scheint das die einzige logische Schlußfolgerung zu sein«, sagte Noviel Residor kühl. »Wir haben das Rachenschiff total umgekrempelt und nichts, aber auch wirklich nichts Ungewöhnliches gefunden, was für den Tod der Wlatschiden verantwortlich sein könnte. Da war nur Lancia Thurman.« »Sie hat den Flug in die Milchstraße, die vollen zweieinhalb Monate, im Tiefschlaf verbracht«, erklärte ich im Brustton der Überzeugung. »Das sagt sie!« hielt Noviel Residor dagegen. »Aber wer sagt, daß das auch wirklich stimmt. Ich stelle mir da ein ganz anderes Szenario vor, das mir viel realistischer erscheint.« Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr: »Ich stelle mir vor, daß Lancia Thurman - oder das, was aus ihr geworden ist - den Tiefschlaftank in regelmäßigen Abständen verlassen und die Mannschaft im Schlaf heimgesucht hat. Und zwar immer dann, wenn sie Hunger hatte, wenn sie ihre unersättliche Gier nach Vitalenergie stillen mußte. Das hat sie so lange durchgezogen, bis alle Vitalenergie aufgebraucht war. Bis kein Wlatschide mehr am Leben war, also bis knapp vor dem Ende der Reise. Lancia Thurman muß ihre Gier immerhin so weit bezähmt haben, daß die Wlatschiden noch imstande waren, die AKKAZZON aus dem Hyperraum ins Standarduniversum zurückkehren zu lassen. Oder sie hat den Überlichtflug selbst gestoppt. Sie hatte Raumerfahrung genug, um dies im Alleingang zu schaffen. Und dann ist sie in den Tiefschlaftank zurückgekehrt und hat sich wie unschuldig schlafen gelegt.« »Was für eine Horrorvision«, sagte ich erschüttert. »Nur gut, daß du das nicht in Gegenwart von Conrad Festik erzählst. Der würde total durchdrehen. Oder hast du ihm von deinem Verdacht etwa schon erzählt?« Noviel Residor sagte darauf nichts. Als ich ihm einen prüfenden Blick zuwarf, fuhr er rasch fort: »Es ist mehr als ein bloßer Verdacht. Ich habe dir gegenüber bereits angedeutet, daß Lancia Thurman eine Metamorphose durchmacht. Noch ist nicht ganz klar, in welche Richtung das geht. Aber eins steht fest: Lancia Thurman ist längst nicht mehr sie selbst. Sie wird gleichzeitig auch zu einer immer stärkeren PsiQuelle. Auch darüber läßt sich noch nichts Genaues sagen. Wir haben keine Ahnung, wohin das führen wird.« Ich überlegte eine Weile, dann sagte ich: »Wenn das alles zutrifft, was du über Lancia Thurman sagst, dann willst du doch nur darauf hinaus, daß sie von Vodiya besessen ist. Du willst schlicht und einfach behaupten, daß Vodiya ihre Saat in Lancia Thurman hinterlassen hat.« »Richtig kombiniert, schlaue Tia«, bestätigte er. »Ist dir nicht aufgefallen, daß Lancia bei der Schilderung von Vodiyas Vernichtung sehr sparsam mit Beschreibungen war? Vodiya sei explodiert und im selben Moment habe sie selbst das Bewußtsein verloren, hat Lancia Thurman gesagt. Aber es muß noch mehr passiert sein, und Lancia Thurman muß dies bewußt miterlebt haben. Es wäre schön, wenn du sie bei deinem nächsten Besuch aus der Reserve locken und sie zum Reden bringen könntest. Ich würde gerne von ihr selbst hören, was damals wirklich geschah.« »Und wie stellst du dir das vor?« »Dir wird schon etwas einfallen, Tia«, sagte er leichthin. »Ich schätze dich als überaus phantasiebegabt ein. Und ich zähle dich zu meinen besten Agentinnen.« »Danke für die Blumen«, sagte ich abweisend. »Du schmeichelst mir doch nur, um mich bei der Stange zu halten. Wer sagt dir denn überhaupt, daß ich Lancia Thurman noch einmal besuchen werde? Jetzt, nachdem ich erfahren habe, wie du sie tatsächlich einschätzt?« »Ich kann und will dich dazu nicht zwingen«, sagte er. »Aber Conrad Festik würde es überaus zu schätzen wissen, wenn er seine frühere Kommandantin noch einmal besuchen dürfte.« Damit hatte er mich natürlich festgenagelt. Noviel Residor wußte sehr genau, daß ich auf Conrads Wünsche eingehen würde. Aber wie, verdammt noch mal, sollte ich Lancia Thurman aus der Reserve locken? Und ich fragte mich bange, welche Konsequenzen sich daraus ergeben mochten. Wenn wirklich etwas von Vodiya in Lancia Thurman steckte, dann konnte es unabsehbar schlimme Folgen haben, wenn man sie reizte. Und wie groß war dabei das Risiko für Conrad und mich?
Noviel Residor jedenfalls schien keine Bedenken zu haben, mich für diesen Einsatz zu verwenden. Er riskierte jeden Tag das Leben vieler seiner Agenten, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Warum sollte er dann ausgerechnet auf mich besondere Rücksicht nehmen? Denn Noviel Residor war ein gefühlskalter Bastard. Aber er war genau der richtige Mann für diese Position, in der Sentimentalitäten und Rührseligkeiten ein Luxus waren, den er sich nicht leisten konnte. »Lassen wir es dabei bewenden«, sagte er abschließend. »Du weißt, was ich von dir erwarte. Wir sehen uns dann beim offiziellen Informationsgespräch.« Das Holo des TLD-Chefs erlosch, und ich war wieder allein. Ich überlegte mir, ob ich die verbleibende Zeit dazu verwenden sollte, mich um Conrad Festik zu kümmern, entschied mich aber dagegen. Ich wollte ihm jetzt nicht unter die Augen treten. Es dauerte auch nicht mehr lange, bis eine Lautsprecherstimme mich aufforderte, ins Konferenzzimmer zu kommen. Der Weg dorthin wurde mir wie immer leichtgemacht, indem sich vor mir automatisch die richtigen Türen öffneten. Diesmal waren es nur drei Türen, die sich auftaten, bis ich den Konferenzraum erreichte. Conrad Festik war schon da. »Alles in Ordnung, Conrad?« fragte ich ihn. Er wirkte überaus ablehnend und reagierte auf meine Frage bloß mit einem kurzen Nicken. Dabei waren seine Lippen zusammengepreßt, und die Backenmuskeln traten deutlich hervor. Was war los mit ihm? War er eingeschnappt, weil ich mich in der letzten Stunde nicht um ihn gekümmert hatte? Trug er es mir so sehr nach, daß ich nicht mit ihm über Lancias Zustand diskutiert hatte? Das war doch noch lange kein Grund, mich derart zu schneiden! Außer ihm waren noch zwei Personen anwesend. Die eine war eine mächtige Ertruserin mit blond und rot gesprenkeltem Sichelkamm und überraschend fein geschnittenem Gesicht. Man hätte sie fast als schön oder zumindest attraktiv bezeichnen könnten, wären da nicht die vielen Narben gewesen, die diesen Eindruck gleich wieder aufhoben. In krassem Gegensatz zu ihrem schmalen Gesicht stand der tonnenförmige, muskelbepackte Körper. »Ich bin Lorca Eimonta, die Sicherheitschefin von PAKS«, stellte sie sich mit unerwartet femininer Stimme vor und deutete auf den dunkelhaarigen Mann an ihrer Seite, der neben ihr wie ein Zwerg aussah. »Und das ist Dr. Frank Rebainne, Xenobiologe und gleichzeitig auch Humanmediziner. Dr. Rebainne ist für die ärztliche Versorgung von Lancia Thurman verantwortlich.« Conrad und ich hatten Dr. Rebainne bereits kennengelernt. Er war jener Arzt, der mit einem Medo-Robot bei Lancia Thurman aufgetaucht war, als sie ihren Anfall bekommen hatte. Er war mit 1,75 Metern relativ klein, schlank und hatte sorgsam gekämmtes und links gescheiteltes brünettes Haar. Eine Geiernase war sein charakteristischstes Merkmal. Darüber lagen eng beisammenliegende Augen mit buschigen Brauen. Ich schätzte ihn auf etwa 75 Jahre. Lorca Eimonta sah sich suchend um und blickte dann auf ihre Uhr. »Wo bleibt denn Noviel Residor?« sagte sie ungeduldig. »Er wollte bei dieser Besprechung unbedingt dabeisein. Aber wenn er nicht...« In diesem Moment entstand neben Dr. Rebainne eine Holographie, und die Gestalt des TLD-Chefs baute sich auf, als würde er im Raum materialisieren. »Entschuldigt die Verspätung«, sagte er geschäftsmäßig. »Ich hatte noch eine wichtige Kleinigkeit zu erledigen. Der Resident wollte über den neuesten Stand der Dinge informiert werden. Aber ich mußte ihn auf später vertrösten, weil ich mich selbst erst informieren muß. Wie ist es um die Sicherheit des Para-Bunkers bestellt, Eimonta?« »Damit habe ich keinerlei Probleme«, erklärte die Ertruserin mit schiefem Grinsen. »Aber ich möchte zuerst Dr. Rebainne bitten, die biologischen Fakten über unsere Patientin wiederzugeben. Bist du bereit, Frank?« »Ja, das bin ich«, sagte Dr. Rebainne mit etwas krächzender Stimme und rieb sich nervös die Hände. Er räusperte sich. Dabei vermied er es, die Umstehenden direkt anzusehen. Wenn jemand dennoch seinen Blick kreuzte, ließ er seine Augen sofort wieder weiterwandern. »Ahäm, ich werde mich kurz fassen und mich möglichst allgemein verständlich ausdrücken.« Er räusperte sich erneut und fuhr dann fort: »Die Patientin Lancia Thurman leidet an einer bisher unbekannten Form von Zellenwucherungen - einfach ausgedrückt. Aber das ist nicht das eigentliche Problem. Viel ernster ist eine andere Sache. Sie ist auch Trägerin eines organischen Fremdkörpers, der sich in ihren Organen eingenistet hat. Man könnte auch sagen, eines Parasiten.« Immer wieder unterbrach er seinen Vortrag und räusperte sich. »Dieser parasitäre Fremdkörper nimmt dominierenden Zugriff auf die kleinsten und kompliziertesten Strukturen ihres Gewebes, nämlich ihre Gene. Der Parasit verändert Lancia Thurmans Gene nicht nur, sondern er löscht sie nacheinander aus und ersetzt sie durch seine eigenen Erbinformationen. Durch diesen Vorgang macht Lancia Thurman eine Metamorphose durch. Sie verändert sich und wird zu etwas ganz anderem. Man könnte sagen, daß sie immer weniger Mensch wird ...« »Und zu was verändert sie sich?« warf Noviel Residor ein.
»Das läßt sich leider nicht sagen«, antwortete Dr. Rebainne mit brüchiger Stimme, nervösem Augenzwinkern und erneutem Räuspern, »denn die neu entstehenden Zellkulturen reagieren auf Eingriffe überaus aggressiv. Sie lassen sich nicht lokalisieren. Die Proben, die wir zu nehmen versucht haben, starben augenblicklich ab. Man könnte fast meinen, daß es sich um eine gezielte Schutzfunktion handelt.« Er machte wieder eine längere Pause, so daß Noviel Residor ungehalten fragte: »Bist du nun mit deinen Ausführungen am Ende?« »Noch nicht ganz«, sagte Dr. Rebainne. »Wir haben an Lancia Thurman auch eine zunehmende psionische Ausstrahlung festgestellt. Diese geht eindeutig von dem Organismus aus, den sie in sich trägt. Im Augenblick ist diese psionische Quelle noch vergleichsweise schwach. Aber wir wissen eines ganz genau: Lancia Thurman ist ein Brüter. Wir wissen nicht, was sie ausbrütet, aber wenn ein entsprechender Auslöser kommt... wenn ein Ereignis von hoher Signalwirkung eintritt, gewissermaßen, dann kann die Metamorphose explosionsartig kulminieren ... Das heißt, wenn der fremde Organismus die Zeit für gekommen sieht, dann kann sich Lancia Thurman innerhalb kürzester Zeit in irgend etwas anderes verwandeln, von dem wir nicht wissen, was es sein wird.« »Und wie steht es mit ihrem psionischen Potential?« wollte Noviel Residor wissen. »Kann sich das auch noch steigern ... sich verstärken?« »O ja«, bestätigte Dr. Rebainne mit heftigem Nicken. »Das wird es ganz gewiß. Allerdings kann ich keine Prognosen über das Ausmaß einer solchen Steigerung stellen.« »Das heißt, wir haben uns mit Lancia Thurman ein Kuckucksei eingehandelt«, stellte Noviel Residor mit brutaler Nüchternheit fest. Ich blickte zu Conrad Festik, doch der zeigte keine besondere Reaktion. Er hatte schon die ganze Zeit wie apathisch gewirkt, so daß ich mich fragte, was passiert sein mochte, was ihn so abgestumpft hatte. Hatte er Lancia Thurman innerlich längst aufgegeben? »Diesem Umstand muß ich Rechnung tragen«, erklärte die Ertruserin Lorca Eimonta. »Das heißt, die gesamte Sektion mit Lancia Thurman wird zur roten Sicherheitszone erklärt. Diese darf niemand anders als Frank, Dr. Rebainne, mit seinem Team betreten. Alle anderen sind ausgesperrt. Ist das klar, Herr TLDChef?« »Nein, nein, so geht das nicht, Lorca«, sagte Noviel Residor. »Du kannst Lancia Thurman nicht isolieren. Sie ist Trägerin wichtiger Informationen. Ich muß darauf bestehen, daß zumindest zwei Personen Kontakt zu ihr haben dürfen. Das sind die Agentin Tia de Mym und der Funker der GALA-THEIA, Conrad Festik.« »Meinetwegen dürfen sie rein«, sagte Lorca Eimonta. »Aber ich kann nicht garantieren, daß sie die rote Sperrzone auch wieder verlassen können. Wenn es hart auf hart kommt, müssen wir dichtmachen. Das heißt: Paratronschirm über den gesamten Sektor. Bist du dir darüber klar, Noviel?« »Ich kenne das Risiko, und meine Agentin kennt es auch«, sagte Noviel Residor. Er blickte Conrad Festik durchdringend an. »Über Conrad Festik kann ich jedoch nicht verfügen.« Das klang gerade so, als könne Noviel Residor als TLD-Chef über mein Leben frei verfügen. Aber nicht einmal dagegen begehrte ich auf, weil ich mich sowieso entschieden hatte. Wenn Conrad Festik das Risiko eingehen wollte, dann würde ich ihn selbstverständlich begleiten. »Ich habe versprochen, Lancia nicht im Stich zu lassen«, sagte Conrad einsilbig. Und damit war alles gesagt. »Dann kann ich euch nur Hals- und Beinbruch wünschen«, sagte Lorca Eimonta spöttisch. »Es ist euer Begräbnis, das ihr zu inszenieren gedenkt. Von mir könnt ihr dabei keine Unterstützung erwarten.«
22. Wir stürzten uns nicht Hals über Kopf in die Gefahr. Das heißt, wenn es nach Conrad Festik gegangen wäre, wären wir wohl schnurstracks zu Lancia Thurman gegangen. Er zeigte es zwar nicht, denn er war nach wie vor unnahbar und distanziert, aber ich wußte, daß es so war. Ich wollte vorher jedoch noch ein paar Erkundigungen über unsere Chancen einholen. Ich rief die Diagnosewerte über Lancia Thurman ab. Nichts an ihrem Zustand wies darauf hin, daß es kurzfristig zu einem solchen Horrorszenario kommen sollte, wie die Ertruserin Lorca Eimonta es ausgemalt hatte. Auch eine Hochrechnung unter Einbeziehung aller Parameter wies kein erschreckendes Ergebnis aus. Man mußte schon den schlimmsten aller möglichen Fälle annehmen, um zu Ergebnissen zu kommen, die denen der Ertruserin ähnlich waren. Über den Fremdkörper, den Parasiten, den Lancia Thurman in sich trug, war nichts bekannt. Wie schon Dr. Rebainne ausgeführt hatte, war es nicht möglich gewesen, Proben davon zu nehmen, ohne daß diese sofort abstarben. Die Scans hatten lediglich ergeben, daß es sich bei dem Parasiten um einen lebenden wurmartigen Körper von zwanzig Zentimetern Länge und fünf Zentimetern Dicke handelte. Dieser hatte sich mit Lancia Thurmans wichtigsten Organen untrennbar »vernetzt«, so daß ein gewaltsames Entfernen unweigerlich zu ihrem Tod geführt hätte. »Was ist deine Meinung, Conrad?« wollte ich wissen. »Die zählt doch nicht«, sagte er abweisend. Ich entschloß mich in diesem Augenblick, ihn direkt auf sein Problem anzusprechen. Das durfte nicht zwischen uns stehen, wenn wir im Team arbeiten sollten.
»Was ist los mit dir, Conrad?« fragte ich ihn geradeheraus. »Was ist dein Problem?« »Kein Problem«, sagte er einsilbig. »Alles okay.« »Komm schon, irgend etwas stimmt mit dir doch nicht«, redete ich auf ihn ein. »Und du bemühst dich nicht einmal, es zu verbergen. Also, was ist es?« Und dann brach es aus ihm hervor. »Ich habe das vertrauliche Gespräch zwischen dir und Noviel Residor mitgehört«, platzte er heraus. »Ihr habt vereinbart, Lancia eine Falle zu stellen. Ihr wollt sie reinlegen. Ihr wollt sie aus der Reserve locken, sie zu irgendeiner Reaktion treiben, die euch legitimiert, sie zu töten. So habe ich es verstanden.« Er sah mich wütend und voller Haß an. »Das ist los, Tia. Ich bin sehr enttäuscht von dir, daß du dich auf eine so schmutzige Tour einläßt.« Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Mit allem hatte ich gerechnet, nur damit nicht. Wenn Conrad unser vertrauliches Gespräch hatte mithören können, dann mußte das mit Noviel Residors Wissen geschehen sein, ja sogar auf seine Anordnung. Er hatte Conrad in voller Absicht mithören lassen. Ich verstand nur nicht, aus welchem Grund er das getan hatte. Die einzige mögliche Erklärung für mich war, daß er Conrad dazu bringen wollte, mir das Vertrauen zu entziehen. Das war ihm auf ganzer Linie gelungen. Aber was bezweckte Noviel Residor damit? »Du hast da was falsch verstanden, Conrad«, versuchte ich zu erklären. »Niemand will Lancia reinlegen. Es geht nur darum, von ihr zu erfahren, was auf dem Flug der AKKAZ-ZON tatsächlich passiert ist. Aber ich versichere dir - ich schwöre es -, daß es nicht meine Absicht ist, ihr Schaden zufügen zu wollen. Lancia soll ihre Chance bekommen.« Unsere Blicke trafen sich, und ich glaube, er erkannte, daß ich es ehrlich meinte. »Was sollte dann die geheime Absprache?« fragte er mißtrauisch. »So was ist beim Terranischen Liga-Dienst nicht unüblich«, erklärte ich. »Noviel Residor hat lediglich versucht, mich auf Linie zu bringen. Und ich werde versuchen, von Lancia die Wahrheit zu erfahren, wenn es da etwas gibt, was sie uns verschweigt. Aber nochmals: Ich werde nichts tun, um ihr vorsätzlich Schaden zuzufügen. Das mußt du mir glauben, Conrad.« Er sah mich wieder an und nickte. Zuerst schwach, dann bekräftigend. »Ich vertraue dir«, sagte er. »Aber es wäre schlimm, wenn ich mich in dir täuschen würde, Tia.« Ich ergriff seine Hand und drückte sie in der Hoffnung, daß er die Wärme spürte, die ich für ihn empfand, und sie richtig interpretierte. Ich wollte diesen Mann auch privat näher kennenlernen. Dafür würde sich schon eine Gelegenheit ergeben, wenn das alles hier erst einmal vorbei war. »Wir sind doch ein Team, Conrad«, sagte ich und wollte seine Hand gar nicht mehr loslassen. Geschäftsmäßiger fügte ich hinzu: »Aber ich bin auch TLD-Agentin und muß meine Pflicht tun. Das verstehst du doch?« »Aber klar doch.« »Dann wollen wir ...« Bevor wir die Sektion aufsuchen konnten, in der Lancia Thurman interniert war, mußten wir wieder neu gescannt werden. Denn das Sicherheitsniveau der ganzen Station war inzwischen auf Level Rot erhöht worden. Das bedeutete höchste Sicherheitsstufe. Allerdings hatte Lorca Eimonta darauf bestanden, daß wir keine SERUNS trugen, weil sie befürchtete, Lancia Thurman - oder ihr Parasit - könnte mit ihrem unkalkulierbaren Psi-Potential Einfluß auf die Pikosyns oder die Paratron-schirmsteuerung nehmen. Da wir auf die Kooperationsbereitschaft der Ertruserin angewiesen waren, hatte ich widerwillig zugestimmt. Es war ein fragwürdiger Kompromiß, über den ich keinesfalls glücklich war. Ein Blinklicht zeigte das Ende des Scans an. Wir erhielten die Zutrittsberechtigung. Lancia Thurman wirkte unverändert. Sie schwebte nach wie vor auf ihrem Antigravkissen einen Meter über dem Boden und war in Silberfolie verpackt, aus der die Stöpsel der Sensoren ragten, über die sie drahtlos mit den verschiedenen Diagnose- und Behandlungsgeräten verbunden war. Sie lag ganz ruhig da, wie schlafend, an ihrem aufgedunsenen Körper regte sich kein Muskel. Ihr knöchernes Gesicht zeigte einen entspannten Ausdruck. Die Lider waren über den tief in den Höhlen liegenden Augen geschlossen. Wir traten, wie wir meinten, lautlos ein. Lancia mußte aber etwas gehört haben. Denn ihre Hände zuckten, sie hob leicht den Kopf an und öffnete die Augen. Conrad erschrak sichtlich, als er ihre Augen sah. Waren sie zuletzt dunkel, fast schwarz gewesen, war jetzt nur noch das Weiße zu sehen. Sie leuchteten hell, schienen geradezu zu glühen in dem herrschenden schattenlosen Dämmerlicht. »Ist da jemand?« fragte Lancia mit leiser, zittriger Stimme. »Ich bin es nur - Conrad«, meldete er sich. »Ich habe wieder Besuchserlaubnis bekommen.« »Conrad, wie schön, daß du wieder gekommen bist«, sagte sie erfreut. »Ich kann dich zwar nicht sehen, aber ich spüre deine Nähe. Ja, du bist es, ganz eindeutig.« »Wie meinst du das?« fragte Conrad. »Auf welche Weise kannst du mich spüren?« Sie überging die Frage.
»Komm näher, Conrad, ich möchte dich berühren«, bat sie und winkte mit einer Hand. »Es ist so ... so trist und einsam hier - deprimierend. Da ist es sehr erfreulich, die Nähe von jemand Vertrautem zu spüren.« Conrad war nun ganz nahe an sie herangetreten. Noch bevor er in Tuchfühlung mit ihr kam, schnellte ihre Hand hoch und griff nach der seinen. Ich war auf ihre andere Seite gegangen und konnte den Vorgang ganz genau beobachten. Es sah fast so aus, als würde ihre Hand wie eine Schlange nach ihrem Opfer schnappen. Lancia hielt Conrad ganz fest, als wolle sie ihn nie mehr wieder loslassen. »Du vermittelst mir ein schönes Gefühl«, murmelte Lancia verträumt und mit wieder geschlossenen Augen. »Deine Schwingungen sind ein wahres Labsal für mich. Du bist mir so vertraut, als wären wir in all den Jahren immer beisammen gewesen. Und ich möchte, daß du für immer bei mir bleibst, Conrad.« »Was spürst du von mir, Lancia?« fragte Conrad. »Wie kannst du mich fühlen?« »Meine Augen sind tot«, flüsterte sie. »Aber ich habe eine neue Art des Sehens gelernt. Ich nehme zwar nichts von dem wahr, was um mich ist. Dafür kann ich die inneren Strukturen der Dinge bis in weite Ferne erkennen. Diese neue Art des Sehens ist faszinierend ... Und dich sehe ich als Ruhepol, der inmitten chaotischer Strukturen voller Leben pulsiert... Da ist noch jemand!« Ihr letzter Ausruf klang alarmiert, erschrocken geradezu. »Tia de Mym befindet sich wieder in meiner Begleitung«, sagte Conrad beruhigend. »Du weißt schon, das ist die Frau, die mich auch beim letzten Mal begleitet hat.« »Was will sie?« Ich beschloß, die Gelegenheit wahrzunehmen, um mich einzuschalten. »Ich möchte dir nur ein paar Fragen stellen, Lancia«, sagte ich. »Es gibt da noch einige Unklarheiten, um nicht zu sagen Ungereimtheiten.« »Was für Unklarheiten?« rief Lancia mit schriller werdender Stimme. »Was sollen das für Ungereimtheiten sein? Conrad, was will diese Frau von mir?« »Kein Grund zur Aufregung, Lancia«, sagte Conrad wieder beruhigend und warf mir einen rügenden Blick zu. »Ich glaube, es geht um den Flug der AKKAZZON. Sie möchte diesbezüglich einiges hinterfragen.« »Aber ich habe alles gesagt, was es dazu zu sagen gibt«, rief Lancia aufgebracht. »Ich habe den gesamten Flug über im Tiefschlaf gelegen.« »Genau um diese Aussage geht es«, sagte ich. »Sie kann so nicht stimmen. Es ist belegt, daß du mehrfach aufgewacht bist und dich durch das Schiff bewegt hast.« »Aber das ist nicht wahr!« schrie Lancia erregt. »Ich habe die ganze Zeit im Tiefschlafgelegen. Ich weiß von nichts. Conrad, diese Frau versucht, mich der Lüge zu bezichtigen, will mir irgend etwas einreden, was nicht der Wahrheit entspricht.« »So beruhige dich doch wieder, Lancia«, redete Conrad ihr zu; es war offensichtlich, daß er sich nicht wohl in seiner Haut fühlte. Aber immerhin ging er auf mich ein und stand nicht mehr so ganz bedingungslos zur Kommandantin der GALATHEIA, er war ihr gegenüber kritischer geworden. »Wenn du die Wahrheit sagst, wird sich das herausstellen.« »Du glaubst mir also auch nicht?« schrie Lancia. Sie hielt immer noch Conrads Hand, krallte sich darin förmlich fest. Ich staunte darüber, welche Kräfte sie plötzlich entwickelte. »Steckst du mit dieser Frau unter einer Decke? Wollt ihr mir etwas unterschieben, was ich gar nicht getan habe?« »Es gibt Beweise!« sagte ich scharf. »Es gibt eindeutige Beweise dafür, daß du die Kammer mit dem Tiefschlaftank verlassen hast und durch das Schiff gewandelt bist.« »Welche Beweise?« kreischte Lancia hysterisch. »Wie kann es Beweise für etwas geben, was nicht passiert ist.« »Wir haben Aufnahmen eines bordeigenen Überwachungssystems gefunden«, sagte ich; die Lüge ging mir glatt und überzeugend von den Lippen. »Wir haben die Aufnahmen erst jetzt entdeckt. Wir wußten selbst nicht, daß die Wlatschiden ihr Schiff auf diese Weise überwacht haben. Aber die Aufnahmen zeigen ganz eindeutig dich, wie du dich durch das Schiff bewegst.« »Das ist eine schändliche Verleumdung!« kreischte Lancia, wild um sich schlagend, jedoch ohne dabei Conrads Hand loszulassen. »Es ist nicht wahr. Es kann nicht sein!« »Wir haben die Aufnahmen«, fuhr ich unbeirrbar fort. »Und diese zeigen, wie du Kommandant Rizzotta und die anderen immer wieder heimsuchst, ihnen ihre Lebensenergie aussaugst, bis sie dahinsiechen und ihnen das Fell bis auf das letzte Haar ausfallt. Und wie sie am Ende aufgedunsen und entstellt sterben. So ist es gewesen, Lancia!« »Lüge! Lüge!« Es war natürlich alles nur Bluff. Es gab die Aufzeichnungen nicht, von denen ich redete. Aber es mußte alles so gewesen sein. Und weil ich keine Zweifel hatte, daß es so passiert war, zog ich meinen Bluff unbeirrbar durch. »Du hast geglaubt, Lancia«, fuhr ich anklagend fort, »daß du mit der Löschung der Logbucheinträge alle Beweise beseitigt hättest. Aber es gibt eben noch diese Aufnahmen. Und die beweisen eindeutig, daß du die Mannschaft der AKKAZ-ZON auf dem Gewissen hast.« »Das ist doch alles ein Irrsinn!« rief Lancia verzweifelt, und ich glaubte sogar, daß das nicht nur gespielt war. »Ein schrecklicher Alptraum. Das alles kann nicht wahr sein. Ich besitze nur die Erinnerung an einen langen, tiefen, traumlosen Schlaf. Ich müßte es doch wissen, wenn ich das alles getan hätte.«
»Vielleicht auch nicht, Lancia«, sagte Conrad, der mir zu meiner größten Überraschung nicht entgegenarbeitete, sondern in dieselbe Kerbe schlug. »Vielleicht wurde dir die Erinnerung daran auch geraubt. Oder du hast dieses Geschehen nicht einmal mitbekommen.« »Was redest du da für wirres Zeug, Conrad?« rief Lancia entsetzt, aber sie ließ seine Hand nicht los. »Uns allen ist klar, daß du es nicht bist, die die Mannschaft der AKKAZZON auf dem Gewissen hat«, redete Conrad auf die Kommandantin der GALATHEIA ein. »Es war die fremde Macht, die in dir steckt, die diese Dinge getan hat. Diese Macht, von der du besessen bist, hat sich die Lebensenergie der Wlatschiden geholt, um wachsen und stärker werden zu können. Du bist selbst nur ein Opfer, Lancia. Du bist so unschuldig wie jeder von uns. Denn du bist nur das Werkzeug der osyrischen Vodiya, die deinen gequälten Körper benutzt hat, um sich auch in die menschliche Gesellschaft einzuschleichen.« Lancias Körper bäumte sich auf. Aus ihrem tiefsten Inneren löste sich ein entsetzlicher, langgezogener Schrei des Schmerzes und des Entsetzens. Ich war völlig überrascht, daß Conrad den Mut fand, der Wahrheit ins Auge zu sehen und die Dinge beim Namen zu nennen. Doch ich stellte mir die bange Frage, was er damit ausgelöst haben mochte. Der Schrei aus Lancias Kehle erstarb. Sie wurde auf einmal ganz ruhig. Aber noch hielt sie Conrads Hand, obwohl sie sich dessen vermutlich gar nicht mehr bewußt war. Denn ich glaubte, daß die Kontrolle über Lancias Körper bereits jemand anders übernommen hatte. »Soso«, murmelte Lancia oder wer gerade ihren Körper lenkte. »So ist das also.« »Lancia, bist du das?« fragte Conrad mit belegter Stimme und schüttelte ihre Hand. »Kannst du mich hören, Lancia?« Lancia zog so heftig an ihm, daß er fast über sie fiel. »Ich bin es - Lancia, jawohl«, kam es krächzend aus ihrer Kehle. »Wer sonst? Was hast du denn gedacht?« »Ich weiß nicht... Vodiya?« Lancia lachte rauh. Sie gab Conrad einen so heftigen Stoß, daß er ein paar Schritte zurücktaumelte. Auf einmal brach das Antigravfeld unter ihr zusammen, und sie fiel zu Boden. Aber sie war sofort auf den Beinen. Ich konnte nicht glauben, daß es sich dabei um ein technisches Versagen handelte, sondern vermutete eher, daß Lancia-Vodiya für den Ausfall des Aggregats gesorgt hatte. »Ich bin Lancia, wer sonst!« kreischte die aufgedunsene Gestalt mit dem Totenschädel wieder und begann, sich die Silberfolie mit den Kontakten vom Körper zu reißen, bis sie völlig nackt dastand. Die Diagnosegeräte schlugen Alarm. Lancia warf aus ihren weißen Augen einen leeren und dennoch durchdringenden Blick in ihre Richtung, und das Alarmgeräusch erstarb. Die Stille danach war unheimlich. Mit gegrätschten Beinen und leicht vom Körper abgehobenen Armen stand Lancia Conrad und mir gegenüber. Ihre Haltung hatte etwas Lauerndes. Das Weiß ihrer Augen strahlte heller und hob sich noch deutlicher von ihrem schmutzigen Teint ab, als sie uns von unten herauf anstarrte. Ich wäre am liebsten davongelaufen, so unheimlich war mir zumute, und ich erwartete von ihr jeden Moment den Ausbruch ihrer unterschwelligen, aber deutlich spürbaren Bereitschaft zur Gewalt. Aber Lancia blieb - noch - völlig ruhig. »Ihr seid ja alle so klug«, sagte sie mit entstellter Stimme, die nun noch kehliger und bedrohlicher klang als zuvor. »Ihr glaubt, alles durchschaut zu haben und die Wahrheit zu kennen. Aber das ist bloß ein Zipfel eines gigantischen Ganzen ...« Lancia atmete schwer und mit rasselndem Geräusch; untrügliches Anzeichen dafür, daß ihre geschundenen Organe allmählich den Dienst aufgaben. Ich faßte mich und sagte: »Du bist Vodiya. Und du hast die Mannschaft der AKKAZZON auf dem Gewissen!« »Ja, ich habe sie mir alle geholt«, sagte Lancia und sog hörbar den Speichel ein, der ihr aus dem Mund troff. »Alle habe ich sie mir der Reihe nach geholt, denn ich brauchte ihre Kraft für meine Wiedergeburt. Jedes Ound davon! Ja, ich werde bald wiedergeboren ... aus diesem erbärmlichen Körper.« »Das schaffst du nie, Vodiya«, sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel, um dieses Geschöpf hinzuhalten, um Zeit zu gewinnen. Ich hoffte, daß man außerhalb dieser Sektion alle verfügbaren Kräfte sammelte, um gegen Vodiya vorzugehen, bevor sie ihre Wiedergeburt einleiten konnte und erstarkte. »Du wirst aus dem Para-Bunker nicht entkommen.« »Lancia trägt ein wunderschönes Bild in sich«, fuhr Lancia-Vodiya fort. »Es ist das Bild eines Vogels namens Phönix, der aus der Asche neu ersteht. Dieses Bild ist wie geschaffen, um meine Situation zu illustrieren. Ich werde wie Phönix aus der Asche neu geboren ...« »Du kommst hier nicht lebend raus!« behauptete ich. »Ihr wollt doch auch leben«, sagte das monströse Geschöpf, das einmal Lancia Thurman gewesen war. Die gerade noch annähernd menschliche Gestalt verformte sich nun immer mehr. Sie entartete derart schnell, daß man die Veränderungen, das Wachsen und Wuchern mit freiem Auge verfolgen konnte.
»Ihr wollt nicht sterben«, fuhr das Monstrum fort, »und darum werdet ihr mein Weiterleben garantieren. Es ist noch lange nicht alles getan, was zu tun ist. Dies ist erst der Beginn ... Aber nein, das Eigentliche hat noch längst nicht angefangen. Es ist erst das Vorspiel, die Ouvertüre zu einer beispiellosen Sinfonie der Erneuerung.« »Gib auf, Vodiya!« versuchte ich sie zu überreden, obwohl mir längst klar war, daß es da nichts mehr zu vermitteln gab. »Wenn du dich verhandlungsbereit zeigst, dann können wir sicher eine für beide Seiten akzeptable Lösung finden.« Lorca Eimonta und Noviel Residor würden sich nie darauf einlassen, mit diesem gefährlichen Ungeheuer einen Kompromiß auszuhandeln. Sie konnten Vodiya nicht am Leben lassen und ihr schon gar nicht die Freiheit geben, denn sie würde eine beständige Gefahr für die Milchstraße bedeuten. Nein, Vodiya disqualifizierte sich als Verhandlungspartner allein schon durch die Tatsache, daß sie sich von der Vitalenergie anderer Intelligenzwesen ernährte. Aber es ging mir sowieso nicht darum, eine Lösung für eine friedliche Beilegung dieses Konflikts zu finden. Mir ging es ausschließlich darum, Conrads und mein Leben zu retten. In direkter Konfrontation mit Vodiya waren unsere Chancen, diese Situation zu überleben, gleich Null. Verdammt, warum unternahm Noviel Residor keinen Versuch, uns hier herauszuholen, solange die Lage noch nicht völlig eskaliert war? »So trifft man sich wieder«, sagte das Scheusal, das aus Lancia Thurman geworden war, plötzlich zu Conrad Festik. »Ich erinnere mich noch sehr gut an dich, Schätzchen. Du warst damals ein überaus widerborstiger Geist, nicht zu beugen. Unsere letzte Begegnung ist für dich recht glimpflich ausgegangen. Aber diesmal findet unser Aufeinandertreffen unter ganz anderen Voraussetzungen statt. Dies ist eine unmittelbare Begegnung.« Ich beobachtete Conrad. Aber er blieb immer noch ganz ruhig. Auch die offene Drohung Vodiyas gegen ihn konnte ihm keinerlei Reaktion entlocken. War sich dieser Mann so sicher, sich mit dieser unfaßlichen Geistesmacht messen zu können? Oder hatte er bereits aufgegeben, alle Hoffnung fahrenlassen? Ich hoffte, daß dem nicht so war. »Conrad«, rief ich ihn an. »Hast du keine Idee, wie wir uns retten könnten?« Conrad Festik rührte sich immer noch nicht von der Stelle. Dieser große Mann, der etwas Tolpatschiges an sich hatte und immer ein wenig unbeholfen und verlegen wirkte, was ihn gleichzeitig liebenswert machte und hilfsbedürftig erscheinen ließ - dieser Conrad Festik stand da wie ein unerschütterlicher Fels. Und mir wurde auf einmal klar: Mit dieser unbeirrbaren Haltung wollte er Vodiya reizen. Er warf ihr damit gewissermaßen den Fehdehandschuh hin und forderte sie zum Duell. Und Vodiya nahm die Herausforderung an. Ich merkte, wie sich an Conrad plötzlich etwas regte. Und ich stellte fest, daß er eine Erektion hatte. Das war ihm auch schon auf Planet 4 jedesmal passiert, wenn die dort herrschende Psi-Macht ihn angegriffen hatte. Dieser Umstand machte mir klar, daß Vodiya die Attacke einleitete.
23. Ich rechnete mit dem Schlimmsten. Erwartete einen geistigen Ansturm, der mich in die Knie zwingen und willenlos machen würde. Aber nichts dergleichen passierte. Mir war sofort klar, daß ich das nur Conrad zu verdanken hatte. Er stand wie ein lebender Schild vor mir und wehrte den parapsychischen Sturm ab, der von Lancia ausging. Oder besser gesagt, er wehrte jene parapsychischen Gewalten ab, die von dem Wesen ausgingen, das einst Lancia Thurman gewesen war. Die gerade noch aufgeblähte Gestalt fiel langsam in sich zusammen. Es war, als ob man aus einem Ballon die Luft herauslassen würde. Die Haut bekam Falten und trocknete aus. Sie wurde spröde und rissig und flog in Fetzen davon, während Lancia-Vodiya tobte. Immer wieder schlugen ihre dünn gewordenen Arme in Conrads Richtung. Sie machte einen Satz nach vorne, wich aber gleich darauf wieder zurück, so als sei sie gegen eine unsichtbare Wand gestoßen. Dabei gab sie schreckliche, unartikulierte Laute von sich, und der Geifer spritzte ihr aus dem lippenlosen Mund. »Diesmal krieg' ich dich, Conrad Festik!« kreischte sie mit unmenschlich entstellter Stimme. »Ich bin stärker als damals. Diesmal hast du mir nichts entgegenzusetzen. Ich werde dich verschlingen.« Da wurde mir klar, daß es hier auch darum ging, eine alte Rechnung zu begleichen. Auf Planet 4 war es Vodiya wegen der starken Abwehrkräfte Conrads unmöglich gewesen, an ihn heranzukommen. Nun glaubte sie, bessere Chancen zu haben, stärker als damals zu sein. Conrad blieb ungerührt, Lancia-Vodiyas Drohgebärden schienen ihn nicht im mindesten zu beeindrucken. Er war die Ruhe selbst. Ich hatte mich unwillkürlich von hinten an seinen Arm geklammert. »Bleib dicht bei mir, Tia«, raunte er mir mit halbgeschlossenem Mund zu. »Ich werde mich zurückziehen und uns in Sicherheit bringen.« Das gefiel mir, ich wollte nur weg von hier. Raus aus diesem abgeriegelten und durch einen Paratron
gesicherten Sektor. Conrad drängte mich rückwärts gehend vor sich her. Auf einmal spürte ich einen Widerstand im Rücken und drehte mich halb um. Ich war gegen die Ausgangstür gedrängt worden, öffnete sie und trat in den Korridor hinaus. Conrad folgte mir, ohne Lancia-Vodiya aus den Augen zu lassen. Es schien für ihn von Wichtigkeit zu sein, daß er sie nicht aus den Augen ließ und sie mit seinen Blicken bannte. Plötzlich schrie Lancia-Vodiya gellend auf. Im selben Moment wurde die transparente Tür, durch die wir gerade gegangen waren, aus den Angeln gerissen und segelte wie ein Geschoß durch die Luft. Sie zersplitterte an der gegenüberliegenden Wand. Gleichzeitig barsten die transparenten Wände der Intensivstation wie brüchiges Glas. Und Lancia-Vodiya schrie dabei, als wolle sie auf diese Weise ihrer Wut Luft machen. »Nur ruhig bleiben«, redete mir Conrad zu. »Vodiya kann uns nichts anhaben, solange ich mich auf sie konzentriere. Und das weiß sie sehr gut. Darum tobt sie sich an toter Materie aus.« Ich fragte mich, wie groß Conrads Psi-Potential wirklich war. Er mußte diesbezüglich überaus potent sein, wenn er es mit einem Wesen aufnehmen konnte, das Hunderte von Geschöpfen in seine Gewalt bringen und für sie eine Scheinwelt entstehen lassen konnte. Wieso hatte niemand das wahre Ausmaß von Conrads Talent erkannt? Das konnte ich ihn jetzt natürlich nicht fragen, weil ich ihn nicht ablenken durfte. Er mußte sich voll und ganz auf die Abwehr von Vodiyas Attacken konzentrieren. Ich zog mich tiefer in den Korridor zurück, Conrad, der mir weiterhin den Rücken zukehrte, am Arm mit mir führend, ihm den Weg weisend. Lancia-Vodiya erschien in der Tür. Ihr Körper bot einen schrecklichen, aber auch bemitleidenswerten Anblick. Ich hatte den Eindruck, daß nur noch Vodiyas Geisteskraft Lancias geschundenen Leib zusammenhalten konnte. War Lancias Geist überhaupt noch in diesem Körper vorhanden, wenigstens in Spuren? Die durchscheinenden Wände des Korridors begannen sich plötzlich unter lautem Krachen auszubeulen. Es war, als würde jemand von der anderen Seite mit einem riesigen Hammer dagegen schlagen. Wumm! Wumm! Wumm! Wir erreichten eine Sicherheitssperre, die den Korridor verschloß. Die Tür hätte mich als befugt erkennen und sich vor mir auftun müssen. Aber nichts passierte. Entweder klemmte die Tür, oder das gesamte System war zusammengebrochen und blockiert. »Es geht nicht weiter«, rief ich Conrad zu. »Der verdammte Öffnungsmechanismus der Tür klemmt.« »Laß mich mal ran«, sagte Conrad und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür, während er weiterhin mit den Augen die groteske Gestalt in den Trümmern der Intensivstation fixierte. Wumm! Wumm! Wumm! hallte es durch den Korridor, während sich die Wände unter unsichtbaren Hammerschlägen weiter verformten. Die Tür, gegen die sich Conrad gelehnt hatte, glitt auf einmal zur Seite, der Weg war wieder frei. »Es funktioniert wieder recht gut«, kommentierte Conrad das Geschehen mit amüsiertem Unterton. »Meine Para-Gaben sind wieder erwacht. Sie waren latent immer vorhanden. Sie waren nur in die Tiefen meines Unterbewußtseins verdrängt. Ich hatte sie abgeschaltet.« Das war die Antwort auf meine Frage, warum denn niemand auf Conrads Psi-Potential aufmerksam geworden war. Er hatte offenbar auch die Gabe, seine Kräfte zu dimmen und im Bedarfsfall wieder zu mobilisieren. Wenn er sie nicht benötigte, dann war es, als seien sie nicht vorhanden. Auf Planet 4 hatte er seine Kräfte unbewußt mobilisiert, als Vodiya die GALATHEIA mit ihren Suggestionsimpulsen bestürmt hatte. Seine Erektion war offenbar ein äußeres Anzeichen für das Erwachen seiner Kräfte gewesen. Nach Conrads Rückkehr in die Milchstraße waren seine Para-Kräfte wieder verkümmert. Er hatte sie all die Jahre nicht mehr gebraucht. Erst jetzt, im Angesicht der Vodiya, waren sie wieder zu ihrer vollen Entfaltung gekommen. »Ich muß versuchen, Verbindung nach draußen zu bekommen«, rief ich Conrad über das Hämmern und Bersten hinweg zu, das überall um uns war. »Tu das«, sagte er wie abwesend. Ich war überzeugt, daß in dem uns umgebenden Paratron winzige Strukturlücken geschaffen worden waren, um die Geschehnisse in dieser Sektion überwachen beziehungsweise beobachten zu können. Über diese Datenbahnen mußte auch eine Sprechverbindung zu bekommen sein. Ich schaltete mein Armbandgerät ein und aktivierte die Mimas-Frequenz. »TLD-Agentin Tia de Mym ruft Lorca Eimonta«, sprach ich in das Gerät. »Lorca Eimonta bitte kommen.« Ich wartete kurz zu, aber es kam keine Antwort. Ich wiederholte die Meldung noch einige Male, mit demselben deprimierenden Ergebnis. »Das darf doch nicht wahr sein«, machte ich meiner Verzweiflung Luft. »Die müssen mich doch hören. Aber die tun so, als gingen wir sie nichts an.« Wir hatten die Außenzone erreicht. Es gab nur noch eine Zwischentür, dahinter lag der Ausgang aus diesem abgeschirmten Sektor. Ich unternahm einen weiteren Versuch, mit der ertrusischen Chefin des Para-Bunkers Kontakt
aufzunehmen. »Lorca Eimonta, hier ist TLD-Agentin Tia de Mym«, rief ich verzweifelt. »Wenn du mich hören kannst, dann melde dich. Conrad Festik und ich wollen hier raus. Ihr könnt uns hier nicht mit diesem Ungeheuer einschließen. Laßt uns hier raus!« Aber die Leitung blieb tot. Das konnte nur bedeuten, daß uns die Ertruserin opfern wollte, um nicht die Freisetzung der Vodiya zu riskieren. Conrad öffnete die letzte Tür einfach, indem er sie berührte. Es war, als könne er in das Schaltschema des Türmechanismus blicken und die benötigten Vorgänge kraft seines Geistes auslösen. Und welche Fähigkeiten vermochte dieser erstaunliche Mann wohl noch zu aktivieren, wenn er sie benötigte? Abgesehen davon, daß er uns Vodiya vom Leibe halten konnte. Zumindest bis jetzt noch. Aber Vodiya wurde stärker. Sie war gewissermaßen gerade erst geschlüpft, aus dem Kokon, der Lancia Thurmans Körper für sie gewesen war. Sie war ja die Reinkarnation der Vodiya von Planet 4 und daher bloß als Jungwesen zu betrachten, das seine Möglichkeiten erst kennenlernen mußte. Wie lange würde Conrad ihr noch standhalten können? Der Korridor hinter der letzten Schleuse war nur fünf Meter lang. Er endete vor dem massiven Schott, das diese Sektion abriegelte. »Es hat keinen Zweck, wenn du dich an diesem Schott versuchst, Conrad«, sagte ich entmutigt. »Selbst wenn du die Sicherheitssperre knacken könntest, würde uns das nicht helfen. Dahinter liegt nämlich der Paratronschirm.« »Und wie willst du dich jetzt in Sicherheit bringen?« fragte Conrad besorgt. »Hast du keine Möglichkeit mehr zur Kontaktaufnahme?« Ich schüttelte den Kopf. Aber dann fiel mir doch noch ein Ausweg ein. Es war nur ein Strohhalm, an den ich mich klammerte. Aber in unserer verzweifelten Lage durfte ich keine Gelegenheit außer acht lassen, mußte die kleinste Chance ergreifen. Ich wählte am Armbandgerät die Frequenz des TLD und schickte einen automatischen Hilferuf. Zu meiner größten Überraschung bekam ich sofort eine Rückmeldung. »Hier ist Noviel Residor«, sagte die bekannt emotionslose Stimme. »Ich habe deinen Anruf längst erwartet, Tia. Eure Lage sieht nicht sehr gut aus.« »Unsere Lage ist beschissen«, sagte ich, nachdem ich mich von der ersten Überraschung erholt hatte. »Ich rufe auf der Mimas-Welle schon die ganze Zeit um Hilfe. Wieso bekomme ich keine Antwort?« »Weil Lorca Eimonta euch abgeschrieben hat«, antwortete Noviel Residor. »Sie hat die ganze Sektion für unwiderruflich versiegelt erklärt. Nichts darf rein, nichts hinaus.« »Das kann sie nicht machen!« begehrte ich auf. »Wenn man uns nicht rausläßt, werden wir umkommen.« Jetzt mischte sich auf einmal die Chefin des Para-Bunkers ein. »Ich darf wegen zweier Personen nicht die Sicherheit des gesamten Para-Bunkers aufs Spiel setzen«, sagte Lorca Eimonta. »Wenn ich eine Schleuse für euch öffne, dann könnte auch dieses Para-Monster ausbrechen.« »Das ist doch Blödsinn«, sagte ich. »Conrad Festik kann Vodiya sehr gut im Zaum halten und abwehren.« »Darauf möchte ich mich lieber nicht verlassen«, sagte Lorca Eimonta unerbittlich. »Aber Conrad Festik hat die Situation unter Kontrolle«, sagte ich eindringlich. »Ich weiß nur nicht, wie lange noch. Es wäre glatter Mord, wenn man uns nicht hinausläßt.« »Ich habe meine Vorschriften«, sagte Lorca Eimonta; es klang abschließend. »Du hast doch Tia de Myms Aussage gehört«, meldete sich wieder Noviel Residor. »Ich weiß, daß ich mich auf ihr Wort verlassen kann. Wenn sie sagt, daß das kurze Öffnen der Schleuse gefahrlos ist, dann stimmt das. Ist es so, Tia?« »Ja, aber beeilt euch«, sagte ich hastig. »Wir müssen schnellstens hier raus.« Es entstand eine kurze Pause, dann meldete sich wieder die Ertruserin. »Tut mir leid, aber ich kann dieses Risiko nicht eingehen!« »Du hast es gehört, Tia«, meldete sich Noviel Residor, und aus seiner Stimme klang sogar so etwas wie leises Bedauern. »Ich habe leider nicht die Vollmacht, Lorca Eimontas Befehle zu überstimmen.« Conrad Festik stieß eine Reihe obszöner Schimpfworte aus, von denen ich nie geglaubt hätte, daß er sie überhaupt in seinem Sprachschatz hatte. Dann riß er meinen Arm an sich und sagte ins Armbandgerät: »Hier ist Conrad Festik. Kannst du mich verstehen, Lorca Eimonta?« »Die Verbindung ist gut - trotz der aktivierten Sicherheitsschranke«, antwortete die Ertruserin. »Dann höre genau auf das, was ich dir zu sagen habe.« Conrad sprach mit ruhiger, fester Stimme. »Ich bin tatsächlich in der Lage, Vodiya im Zaum zu halten. Es besteht nicht die geringste Gefahr, daß sie entkommt.« »Kannst du mir das garantieren?« »Ich bin der Garant dafür!« sagte Conrad. »Solange ich hier bin, kann Vodiya nichts anstellen. Darum habe ich mich zum Hierbleiben entschlossen. Du brauchst nur Tia freizulassen.«
»Ist das ein Versprechen?« »Ich schwöre es bei allem, was mir lieb und teuer ist.« »In Ordnung. Du hast mich überzeugt. Tia darf raus. Aber nur sie allein. Du bleibst zurück, um das Monster zu bändigen!« Ich war fassungslos. In mir krampfte sich alles zusammen. Ich fühlte einen furchtbaren, namenlosen Schmerz in mir. »Das darfst du nicht tun, Conrad«, redete ich auf ihn ein. »Du darfst dich nicht opfern. Du mußt mit mir kommen... Bitte!« »Nein, Tia, das geht nicht«, sagte er bestimmt. »Ich muß das hier zu Ende bringen. Vodiya darf nie mehr anderes Leben gefährden. Das bin ich Van schuldig. Und Lancia. Und auch dir, kleine Tia.« Ich spürte meine Augen feucht werden, meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich hatte mich nicht mehr in der Gewalt. Ich nahm seine große derbe Hand und küßte sie wie von Sinnen. Ich wollte sie nicht mehr loslassen. Ich wollte nicht aufhören, sie zu küssen. Conrad mußte sehen, wieviel er mir bedeutete. »Nein! Nein! Nein!« rief ich immer wieder. »Bist du soweit, Tia?« erklang Lorca Eimontas grollende Stimme. »Dann mach schnell!« »Nein! Nein! Nein!« Conrad entriß mir seine Hand brutal. Als das Schott aufging, gab er mir einen Stoß, daß ich hindurchtaumelte. Hinter mir schloß sich das Schott sofort wieder. Gleich dahinter lag der Paratron. Eine mannsgroße Strukturschleuse hatte sich darin gebildet. Dahinter sah ich zwei Medo-Roboter und eine Schar TARA-V-UH. Ich stolperte durch die Strukturschleuse, die sich hinter mir sofort wieder schloß. Gleich darauf entstand eine neue kleine Paratronkuppel, die mich und die Roboter einschloß, die nun mit speziellen Tentakeln über meinen Körper strichen. Es war nichts zu spüren, aber mir war klar, daß dies ein Sicherheitsscan war - und daß von seinem Ausgang mein Leben abhing. Als die PAKS-TARAS zu der Einsicht gelangt waren, daß ich »sauber« war, wollten die Medo-Roboter sich meiner annehmen, aber ich schüttelte sie ab. »Ich bin völlig in Ordnung«, sagte ich und wischte mir über die Augen. »Ich möchte sofort zu Lorca Eimonta gebracht werden.«
24. Ich mußte insgesamt vier Sicherheitsschleusen und einen Transmitter passieren, bevor ich die Kommandozentrale des Para-Bunkers betreten konnte. Dabei handelte es sich um einen relativ kleinen, kreisrunden Raum, in dem sich an die 20 Personen drängten, die anscheinend alle mit jenem Sektor beschäftigt waren, in dem Conrad Festik und die Psi-Macht Vodiya isoliert waren. Sie nannten diesen Komplex schlicht »Sektor Rot«, vermutlich weil es im Moment der einzige war, in dem die höchste Alarmstufe herrschte. In unzähligen Holos entlang den Schaltwänden waren verschiedene Bereiche von Sektor Rot aus allen möglichen Perspektiven zu sehen. Die meisten davon zeigten entweder Conrad Festik oder die Gestalt der Lancia Thurman, die nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen schien. Mein Eindruck, daß dieser Körper nur noch von der Kraft der Vodiya zusammen- und am Leben gehalten wurde, war stärker denn je. Vodiya ließ Lancias Körper ständig vor und zurück taumeln, so als werde sie von einem schier unstillbaren Bewegungsdrang getrieben. Conrad Festik wirkte dagegen wieder ruhig und gelassen, als ginge ihn die ganze Sache nichts an. Ich sah Lorca Eimonta und Noviel Residor an einem Projektionspult mit zwei Technikern stehen und steuerte auf sie zu. Die Ertruserin sah mich als erste und rief mir entgegen: »Dein Freund Festik hat uns ganz schön genarrt. Er wirkte die ganze Zeit über so harmlos. Und auf einmal ist er zu einer übermächtigen Psi-Quelle geworden.« »Das war bei ihm keine bewußte Tarnung«, erklärte ich im Näherkommen. »Sein enormes Psi-Potential schlummert so lange in ihm, bis es durch äußere Umstände einen Auslöser wie Vodiya - geweckt wird.« »Das Horrikos-Gen ist wirklich überaus erstaunlich«, sagte Noviel Residor. »Wenn Moharion Mawrey erfährt, was sie an Conrad Festik für einen potenten Mutanten verloren hat, wird sie sich grün und blau ärgern.« Ich tippte Noviel Residor respektlos an, um herauszufinden, ob er tatsächlich körperlich anwesend war. Er war es, sein Körper bestand nicht bloß aus kohärentem Licht. »Ich dachte, du meidest Mimas, weil es ein zu gefährlicher Ort ist«, hielt ich ihm vor. »Ich muß mich doch um das Wohl meiner besten Agentin kümmern«, erwiderte er. Es war ihm nicht anzumerken, ob das ironisch gemeint war. Aber anders konnte er es eigentlich gar nicht meinen, wie ich ihn kannte. »Um ein Haar hättest du deine beste Agentin nicht wiedergesehen«, sagte ich und blickte dabei Lorca Eimonta scharf an. »Wenn man mich nicht rausgelassen hätte, wäre ich mit Sicherheit zwischen den beiden
Para-Giganten zermalmt worden.« »Es ist ja nichts passiert, alles gutgegangen«, meinte Lorca Eimonta begütigend. »Also lassen wir die Sache auf sich beruhen.« »Man kann wirklich von zwei Para-Giganten sprechen«, sagte einer der beiden Techniker am Bedienungspult. »Beide laden sich aus irgendwelchen unerschöpflichen Quellen beständig mit psionischer Energie auf. Es ist, als würden sie diese direkt aus dem Para-Raum saugen.« Das Holo über dem Pult war geteilt. Es zeigte Vodiya-Lancia und Conrad Festik gleichzeitig, obwohl zwischen beiden eine Respektdistanz lag. »Hat sich seit meinem Ausstieg schon etwas getan?« wollte ich wissen. »Keinerlei Aktion«, antwortete Noviel Residor. »Die beiden umlauern einander bloß. Als wolle keiner zuerst angreifen. Es ist, als sei jeder darauf aus, zunächst einmal noch mehr Kraft zu tanken.« »Das darf nicht endlos so weitergehen«, sagte Lorca Eimonta besorgt. »Denn wenn dieses Psi-Monster zu mächtig wird, könnte es selbst einen Paratronschirm sprengen. Dieser Conrad Festik muß dem Einhalt gebieten.« »Befiehl es ihm doch einfach«, sagte ich sarkastisch. Die Ertruserin schluckte und erwiderte: »Ich bin wohl nicht kompetent. Aber auf dich würde Festik hören. Ich habe eure rührselige Abschiedsszene beobachtet. Der frißt dir doch aus der Hand.« In diesem Moment wünschte ich mir, der Ertruserin körperlich ebenbürtig zu sein. Ich hätte sie zu gerne verprügelt. Wäre diese Bemerkung von Noviel Residor gekommen, hätte mich das weniger berührt; von meinem Chef wußte ich, daß er gefühlsarm war. Aber die Ertruserin wollte nur gemein sein und zielte bewußt darauf ab, mich zu verletzen. »Da tut sich was«, sagte der zweite Techniker, »beziehungsweise ist beim Vodiya-Monster Stillstand eingetreten. Es lädt sich im Moment nicht weiter auf.« Es war zu sehen, daß Vodiya-Lancia ihren Bewegungsdrang stoppte. Sie stand von einem Moment zum anderen ganz ruhig da. Lancias bis zu grotesker Unkenntlichkeit verzerrter, abgemagerter Körper erstarrte in unnatürlicher Haltung. Ich hatte den Eindruck, als würde Vodiya beständig die Luft einziehen und dann anhalten. Aber nur für einen Moment. Dann stieß sie sie kräftig aus. Und in diesem Moment explodierte Lancias Körper, wurde in tausend Stücke gerissen, die wie rasende Geschosse die Luft durchschnitten, bevor sie irgendwo aufklatschten. Ich konnte mir gut vorstellen, wie Conrad in diesem Moment zumute war, als er Zeuge von Lancias endgültigem Vergehen wurde. Aber ich hoffte, daß ihn das nicht so sehr mitnahm, daß er nicht kopflos wurde und nicht blindwütig in sein Verderben rannte. Vodiya war nun nur noch reiner Geist. Sie präsentierte sich als meterhohe, flimmernde Gestalt, die fast an die Decke stieß. Ein fetter, sich krümmender Egel, der aus purer psionischer Energie bestand und eine unbekannte Fülle paranormaler Phänomene in sich barg. Vodiya bot eine imposante Erscheinung - ihr Anblick ließ selbst den hartgesottenen Noviel Residor den Atem anhalten. Ich konnte kaum fassen, was aus dem kleinen Wurm geworden war, der sich in Lancias Körper eingenistet und im Verlauf von zweieinhalb Monaten die Vitalenergie von 56 Wlatschiden in sich gespeichert hatte. Ein Wurm, so klein, daß man ihn hätte zertreten können ... Und das war aus ihm geworden: ein mächtiger psionischer Wirbelwind, der wie der Blitz durch die verwüsteten Räume der Sektion Rot raste und die Konfrontation mit einem einzelnen Mann suchte. Es war der Auftakt zu einem Kampf, wie man ihn sich phantastischer nicht hätte vorstellen können. Vodiya fegte heran, und unter ihr verbrannte der Boden, schmolzen zertrümmerte Wände und Gerätschaften. Metall zerfloß durch die Reibung mit dem psionischen Blitz, Kunststoff verdampfte. Conrad Festik wirkte völlig unverändert, aber auch voll konzentriert. Er erwartete gelassen den Angriff Vodiyas. Doch die psionische Macht in Gestalt eines Riesenegels erreichte ihn nicht. Wenige Meter vor Conrad prallte Vodiya auf ein vorerst unsichtbares Hindernis und wurde wie von einem Sprungbrett zurückgeschleudert. Ein unwirklicher Schrei gellte durch den Raum, und als Vodiya wieder zum Stillstand kam, mußte sie ihre angenommene Gestalt erst neu ordnen, sich sammeln und wieder ihre ursprüngliche Konsistenz erlangen. Inzwischen war das Hindernis, von dem sie zurückgeschleudert worden war, sichtbar geworden. Es handelte sich um eine seltsam groteske, aber annähernd humanoide Gestalt. Sie war semitransparent, und das Licht brach sich in ihr wie in Kristallen. Sie war an die vier Meter groß, hatte dünne Arme und Beine, die jeweils mehrere Gelenke besaßen. Als diese Erscheinung, diese Projektion aus geballter psionischer Energie, sich in Bewegung setzte, da verliehen ihr die mehrfach geknickten Beine einen staksigen, schlenkernden Gang. Dennoch entwickelte dieser eigenwillige psionische Krieger eine unglaubliche Geschwindigkeit. Und so fremdartig diese Erscheinung auch anmutete, so erinnerte sie mich doch an eine Person aus Conrads Leben. Der psionische Krieger, den er Vodiya entgegenschickte, sah irgendwie so aus wie Lancia in ihrer letzten Lebensphase, bevor Vodiya ihren Körper endgültig vernichtet hatte. Ja, ich war mir ganz sicher, daß Conrad das Aussehen seines psionischen Kämpfers mit Bedacht gewählt
und Lancia nachempfunden hatte. Das besaß für ihn hohen symbolischen Wert. Er wollte damit demonstrieren, daß Lancia über den Tod hinaus Vodiya bekämpfte. Es war dabei gar nicht wichtig, ob auch Vodiya diese Symbolik erkannte. Es genügte Conrad, daß er auf diese Weise einer starken Frau gedachte, die ihn insgeheim verehrt hatte. Die beiden psionischen Elemente, so ungleich und einander durch die ihnen innewohnende zerstörerische Kraft doch so ähnlich, prallten in der Mitte des verwüsteten Raumes aufeinander. Zuerst schien es so, daß sie auf herkömmliche Weise miteinander rangen. Doch das Kräftemessen wanderte rasch auf eine höhere Ebene ab. Die beiden Elemente verschmolzen förmlich miteinander, wurden konturenlos - ein einziger wirbelnder Energieball, der wie rasend zu rotieren begann. Es war gerade so, als würde Antimaterie mit Materie zusammentreffen. Positiv geladene psionische Teilchen und solche der entgegengesetzten Art brachten sich gegenseitig zur Auflösung, und das würde so lange weitergehen, bis eine der beiden Parteien die andere völlig ausgelöscht hatte. Doch im Moment herrschte noch ein Unentschieden, und es war nicht abzusehen, wer aus dem ausgeglichenen Kampf als Sieger hervorgehen würde. Doch mehr noch als die Auseinandersetzung an sich waren es die dabei entstehenden Nebenwirkungen, die die Aufmerksamkeit auf sich lenkten. Die beiden Techniker meldeten, daß die entfesselten psionischen Energien den Paratronschirm an die Grenze seiner Belastbarkeit getrieben hatten. Die Meßgeräte schlugen wie verrückt aus, die Diagramme auf den Displays vollführten unglaubliche Sprünge. Der gesamte Raum, in dem das Ringen stattfand, begann sich nach oben zu wölben. Und gleichzeitig zog er sich zusammen, krümmte sich um das wirbelnde Feld aus psionischer Energie, zu dem die beiden Kontrahenten verschmolzen waren. »Ich registriere eine Veränderung der Strangeness!« rief da einer der Techniker ungläubig aus. »Die Strangeness ist hochgradig von null verschieden!« »Es ist nicht zu fassen«, meldete sich der andere Techniker. »Aber... innerhalb des Paratrons bildet sich ein fremdes Kontinuum.« Sowohl Noviel Residor als auch Lorca Eimonta blieben von diesen Aussagen, die die beiden Techniker aus der Fassung brachten, völlig unbeeindruckt. Für sie waren Strangeness und Kontinua uninteressante abstrakte Begriffe. Für sie zählte nur, was sich ihren Augen darbot, sie waren nur daran interessiert, wie der hin und her wogende Kampf ausging. Nicht die Art und Weise, auf die er ausgefochten wurde. Und als Ergebnis erwarteten sie sich, daß Vodiya unterlag. Mir ging es nicht viel anders. Es zählte für mich nicht, was da ablief, ich wollte Conrad Festik siegen sehen. Wollte, daß er das Schlachtfeld heil verließ und wieder ins normale Leben zurückkehrte. Daß seine ParaFähigkeiten wieder einschliefen und er wieder zu der Erscheinung eines gutmütigen Brummbären wurde, den man trösten und verwöhnen konnte. Aber danach sah es keineswegs aus. Denn als sich der Raum um das wirbelnde psionische Feld krümmte, alle darin befindliche Materie sich verflüchtigte und verdampfte und einem gemeinsamen Mittelpunkt zustrebte -, da wurde mir allmählich klar, daß es für Conrad Festik kein Happy-End geben konnte. Wir sahen noch, wie sich die dampfenden Materiewolken um die psionische Kugel schlössen, dann fielen die Übertragungsgeräte aus. Wir bekamen keine Bilder mehr. Die Techniker keine Ortung. In der Kommandozentrale herrschte lähmendes Schweigen. Lorca Eimonta brach die unheimliche Stille schließlich: »Wie lange müssen wir zuwarten, bis wir sicher sein können, daß alles vorbei ist und wir den Paratron desaktivieren können?« Das konnte keiner der Anwesenden mit Sicherheit bestimmen. Aber nach etwa einer Viertelstunde sagte einer der Techniker: »Ich denke, wir können es jetzt riskieren. Oder wir warten bis in alle Ewigkeit.« Der Paratron wurde ausgeschaltet. Innerhalb des Schirms lag ein kugelförmiger Hohlraum ohne jegliche Materie. Alles, was sich innerhalb des Paratrons befunden hatte, hatte sich in nichts aufgelöst. Es gab auch nicht einmal mehr Spuren psionischer Restenergie. Auch von Conrad Festik und Vodiya war nichts übriggeblieben. Doch auch wenn keines der eilig herbeigeschafften Meßgeräte Aufschluß über die Geschehnisse nach dem Zusammenbruch der Bildübertragung geben konnte, blieb letzten Endes wohl nur eine Erklärung: Die psionische Zusammenballung, um die sämtliche Materie in den verschiedensten Aggregatzuständen zu einer weiteren Kugelschale formiert worden war, hatte sich immer mehr verdichtet. Zuletzt war sie rasend schnell geschrumpft und schließlich implodiert. Niemand vermochte zu sagen, wohin sie abgewandert war. Aber es herrschte die allgemeine Ansicht, daß Conrad Festik diese Implosion herbeigeführt hatte, um Vodiya mit sich in ein anderes Kontinuum zu reißen. Dieser Vorstellung schloß ich mich an. Mir blieb keine Zeit zum Trauern. Gleich nach den Geschehnissen von Mimas schickte mich Noviel Residor wieder in den Einsatz, weit entfernt vom Solsystem. Und das war gut so, denn da konnte ich nicht über Wenn und Aber und über verpaßte Gelegenheiten grübeln.
Und als ich meine Gedanken nach diesem Einsatz wieder Conrad Festik widmete, schmerzte das nicht mehr so, als wäre meine Erinnerung an ihn noch so frisch gewesen wie anfangs. Aber er bleibt mir dennoch als faszinierender Mann in Erinnerung. Für immer. Als ich im Spätherbst dieses Jahres endlich wieder nach Terra kam, stattete ich auch dem Para-Bunker von Mimas einen Besuch ab. Lorca Eimonta erteilte mir unbürokratisch die Besuchserlaubnis und veranstaltete höchstpersönlich eine Führung für mich. Die vernichtete Sektion Rot war inzwischen wieder eingerichtet worden. Von den tragischen Geschehnissen fanden sich keine Spuren mehr - wie auch, da sich doch alles in nichts aufgelöst hatte. Aber bei einer der Hauptschleusen des ehemaligen Sektors Rot fand sich eine schlichte Gedenktafel, die an die Ereignisse vom 22. Mai 1302 NGZ erinnerte. Darauf stand: LANCIA THURMAN UND CONRAD FESTIK ZUM GEDENKEN, DIE IHR LEBEN FÜR DAS WOHL DER MENSCHHEIT GABEN. Ich verließ Mimas und das Solsystem und ging in meinen nächsten Einsatz. ENDE