Wenn ein Jockey seine Lizenz verliert, ist er erledigt. Um so mehr, wenn ihm Betrug im Rennen vorgeworfen wird. Kelly H...
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Wenn ein Jockey seine Lizenz verliert, ist er erledigt. Um so mehr, wenn ihm Betrug im Rennen vorgeworfen wird. Kelly Hughes läßt sich nicht einfach vom Turf verjagen. Er weiß, daß er reingelegt worden ist, und versucht auf eigene Faust herauszufinden, warum. Seine Untersuchung fördert eine Intrige zutage, die die konservative britische Rennwelt in ihren Grundfesten erschüttern würde. Nur wenige einflußreiche Männer sind in das schmutzige Geheimnis eingeweiht, und die schrecken vor nichts zurück, um es zu bewahren. »Dick Francis versteht es fabelhaft, in seinen Plot den Pferdesport zu verweben und eine grundsolide, sehr spannende Geschichte zu erzählen mit einem Haufen verblüffender Informationen.« Wolfram Knorr/Die Weltwoche, Zürich
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Dick Francis
Peitsche Roman
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Diogenes 3
Titel der 1969 bei Michael Joseph Ltd., London, erschienenen Originalausgabe: ›Enquiry‹ Copyright © 1969 by Dick Francis Die deutsche Erstausgabe erschien 1970 unter dem Titel ›Milord liebt die Peitsche‹ im Ullstein Verlag, Frankfurt/M., Berlin Umschlagzeichnung von Tomi Ungerer
Neuübersetzung
Alle deutschen Rechte vorbehalten Copyright © 1995 Diogenes Verlag AG Zürich 60/99/8/4 ISBN 3 257 22755 8
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TEIL I
Februar 1 Gestern habe ich meine Lizenz verloren. Seine Lizenz zu verlieren und von Newmarket Heath verwiesen zu werden ist für einen professionellen Steeplechase-Jockey genauso wie für einen Arzt der Rausschmiß aus der Ärztekammer, nur schlimmer. Rennverbot und Rennbahnverbot. Außerdem Rennstallverbot, was mich vor ein ziemliches Problem stellt, da ich in einem Rennstall wohne. Kein Einkommen und vielleicht auch keine Wohnung mehr. Die vergangene Nacht war richtig mies, und ich würde die gräßlichen schlaflosen Stunden am liebsten vergessen. Entsetzen und Verwirrung, das Gefühl, daß es einfach nicht wahr sein konnte, daß alles ein Irrtum war – das hielt bis nach Mitternacht an. Aber das Stadium der Ungläubigkeit bot wenigstens einen gewissen Trost. Der Schock der vollen Erkenntnis bot überhaupt keinen mehr. Mein Leben glich den verstreuten Scherben einer kaputten Teetasse, und ich war total aus dem Leim. Heute morgen nach dem Aufstehen habe ich mir Kaffee aufgebrüht und vom Fenster aus den Stallburschen zugesehen, wie sie sich im Hof zu schaffen machten, dann aufsaßen und auf der Straße zu den Downs davontrabten, und dabei spürte ich zum erstenmal so richtig, was es heißt, ein Ausgestoßener zu sein. Fred bellte nicht wie sonst zu meinem Fenster hoch: »Willst du den ganzen Tag in deiner Bude rumhängen?« Diesmal ja. 5
Keiner von den Stallburschen blickte auf – sie hielten mehr oder weniger angelegentlich den Blick gesenkt. Und sie waren still. Totenstill. Ich sah zu, wie Bouncing Bertie seine knapp vierundsechzig Kilo auf den Wallach hievte, den ich in letzter Zeit ritt, und die Art, wie er seinen dicken Hintern in den Sattel pflanzte, hatte fast etwas Abbittendes. Und auch er hielt den Blick gesenkt. Bis morgen würden sie sich wohl wieder einkriegen. Morgen würden sie neugierig sein und Fragen stellen. Mir war klar, daß sie mich nicht verachteten. Sie empfanden Mitleid. Wahrscheinlich zuviel Mitleid, um sich wohl zu fühlen. Und sie waren verlegen: das auch. Und vermieden es aus instinktivem Feingefühl, der totalen Katastrophe allzu rasch ins Gesicht zu sehen. Als sie fort waren, trank ich langsam meinen Kaffee und überlegte, was ich als nächstes tun sollte. Ein scheußliches, absolut scheußliches Gefühl von Leere und Verlust. Die Zeitungen waren wie üblich durch meinen Briefschlitz gesteckt worden. Was wohl der Zeitungsjunge, der ja schließlich wußte, was er da ablieferte, gedacht hatte? Ich zuckte die Achseln. Konnte genausogut lesen, was sie geschrieben hatten, die verdammten Pressehengste, zum Teufel mit ihnen. Von Sporting Life bekamen wir aus Nachrichtenknappheit die Schlagzeilen und die volle Behandlung. »Cranfield und Hughes disqualifiziert.« Oben auf der Seite war ein Bild von Cranfield, und in der Mitte eins von mir, breit lächelnd, eine Aufnahme von dem Tag, an dem ich den Hennessey Gold Cup gewonnen hatte. Irgendein kleiner Redakteur hatte seiner Ironie freien Lauf gelassen, dachte ich vergrätzt, und das fröhlichste Bild gedruckt, das er im Archiv hatte ausbuddeln können. Die dicht bedruckten Zentimeter nördlich und südlich von meinem glücklichen Gesicht waren ungeminderte Düsterkeit. 6
›Die Stewards haben gesagt, daß meine Erklärung sie nicht zufriedenstellt‹, meinte Cranfield. ›Sie haben mir meine Lizenz entzogen. Ich habe keinen weiteren Kommentar abzugeben.‹ Hughes, so der Artikel, habe fast genau das gleiche gesagt. In Wirklichkeit hatte Hughes, wenn ich mich recht erinnerte, gar nichts gesagt. Hughes war viel zu fassungslos gewesen, um ein Wort geordnet hinter das andere setzen zu können, und wenn er überhaupt etwas gesagt hätte, wäre es nicht druckreif gewesen. Ich las nicht den ganzen Artikel. Ich hatte das alles schon über die anderen gelesen. Anstelle von ›Cranfield und Hughes‹ konnte man jeden anderen Jockey und Trainer einsetzen, der schon einmal gesperrt worden war. Die Zeitungsberichte darüber waren jedesmal gleich: von keinerlei Faktenkenntnis getrübt. Da es sich bei der Überprüfung eines Rennens um ein Privatverfahren handelte, war die Entscheidungsinstanz nicht verpflichtet, die Öffentlichkeit oder die Presse zum Verfahren zuzulassen, und da sie nicht dazu verpflichtet war, tat sie es auch niemals. Wie so mancher andere zur Nabelschau neigende Betrieb schien sie vielmehr ständig darum bemüht zu verhindern, daß allzu viele Leute dahinterkamen, was wirklich vor sich ging. Der Daily Witness stocherte genauso im Nebel herum, außer daß Daddy Leeman an seinen üblichen Wallungen von hochtrabender Prosa litt. Er schrieb: Kelly Hughes, bislang aussichtsreicher Mitbewerber um die diesjährige Krone der Hindernisjockeys und im vergangenen Jahr Fünfter der Rangliste, wurde gestern zu Lizenzentzug auf unbegrenzte Zeit verurteilt. Der dreißigjährige Hughes verließ die Verhandlung zehn Minuten nach Cranfield. Mit blassem, grimmigem Gesicht bestätigte er den Verlust seiner Lizenz und fügte hinzu: ›Ich habe keinen weiteren Kommentar abzugeben.‹ 7
Sie hatten ganz schön scharfe Ohren, diese Pressefritzen. Ich legte seufzend die Zeitung hin und ging ins Schlafzimmer, um meinen Bademantel gegen eine Hose und einen Pullover zu vertauschen. Danach machte ich mein Bett, und danach setzte ich mich drauf und starrte ins Leere. Ich hatte sonst nichts zu tun. Ich hatte nichts zu tun, soweit das Auge reichte. Leider konnte ich auch an nichts anderes als die Untersuchung denken. Grob gesagt hatte ich meine Lizenz verloren, weil ich ein Rennen verloren hatte. Ich hatte in der letzten Januarwoche im Lemonfizz Crystal Cup in Oxford einen heißen Favoriten auf den zweiten Platz geritten, und gewonnen hatte ein Außenseiter, den niemand auf der Rechnung hatte. Reines Pech, nur war es leider so, daß beide Pferde von Dexter Cranfield trainiert wurden. Der Zieleinlauf war von der Tribüne mit empörtem Geschrei bedacht worden, und man hatte mich den ganzen Weg bis zum Absattelring ausgebuht. Dexter Cranfield hatte angesichts der Tatsache, daß er in einem der größten gesponserten Jagdrennen der Saison den ersten und zweiten Platz belegte, eher besorgt als erfreut dreingeschaut, und die Rennleitung hatte uns beide aufgefordert, eine Erklärung abzugeben. Man sei, hatten sie dann verkündet, mit unseren Erklärungen nicht zufrieden. Man werde die Sache an den Disziplinarausschuß des Jockey Club weiterleiten. Der Disziplinarausschuß hatte vierzehn Tage später ebenso starke Zweifel daran, daß der kuriose Ausgang des Rennens Zufall gewesen war. Absichtlicher Betrug am Wettpublikum, hieß es. Skandalös, unehrlich, empörend, hieß es. Der Pferderennsport müsse auf seinen guten Ruf bedacht sein. Wir beide seien nicht zum erstenmal unter Verdacht geraten. Um andere abzuschrecken, müßten strenge Strafen verhängt werden. 8
Weg, hieß es. Gesperrt. Auf euch können wir verzichten. In Amerika wäre das nicht passiert, dachte ich deprimiert. Dort deckte eine Wette auf einen Starter zugleich sämtliche Starter desselben Stalles oder auch desselben Besitzers ab. Wenn also der Stall-Außenseiter statt des Stall-Favoriten gewann, kamen die Wetter trotzdem an ihr Geld. Höchste Zeit, daß diese Regelung auch auf dieser Seite des Atlantiks eingeführt wurde. Nein, falsch: nicht höchste Zeit, sondern längst überfällig. In Wahrheit war Squelch, mein heißer Favorit, auf der Zielgeraden regelrecht unter mir verhungert, und daß ich noch den zweiten und nicht den fünften oder sechsten Platz belegt hatte, war das reinste Wunder. Und wenn nicht so viele Leute auf ihn gesetzt hätten, hätte ich ihn niemals so rangenommen, wie ich es getan hatte. Daß mich dann ausgerechnet Cranfields anderer Starter Cherry Pie drei Meter vor dem Ziel überholte, war einfach wahnsinniges Pech. Bewaffnet mit Unschuld und in der begründeten Annahme, daß zwar die Stewards in Oxford sich von der feindseligen Reaktion des Publikums hatten beeinflussen lassen, der Disziplinarausschuß dagegen die Angelegenheit in einer Atmosphäre kühler Vernunft behandeln würde, war ich ohne die geringsten Befürchtungen zu der Verhandlung gegangen. Die Atmosphäre war denn auch kühl. Geradezu eisig. Daß sie selbst mit Vernunft gesegnet waren, betrachteten die Stewards als ausgemacht. Mir und Cranfield dagegen schienen sie überhaupt keine zuzubilligen. Der erste leise Hinweis darauf, daß uns der Himmel auf den Kopf fallen würde, ergab sich, als sie eine Liste von neun früheren Rennen verlasen, in denen ich für Cranfield einen geschlagenen Favoriten geritten hatte. In sechs dieser Rennen hatte ein anderer von Cranfields Startern gewonnen. In den anderen drei hatte Cranfield ebenfalls noch andere Starter gehabt. 9
»Das heißt«, sagte Lord Gowery, »es handelt sich keineswegs um den ersten derartigen Fall. Es ist immer wieder vorgekommen. Früher sind diese Ergebnisse anscheinend nicht aufgefallen, aber diesmal haben Sie den Bogen eindeutig überspannt.« Ich muß ziemlich dumm ausgesehen haben, als mir vor Verblüffung der Mund aufklappte, und das Problem war, daß sie offenbar glaubten, ich wäre verblüfft darüber, wieviel sie zum Beweis meiner Schuld ausgegraben hatten. »Aber das ist teils schon Jahre her«, protestierte ich. »Sechs bis sieben, in einigen Fällen.« »Was ändert das?« fragte Lord Gowery. »Es ist nun mal passiert.« »So etwas passiert jedem Trainer von Zeit zu Zeit«, sagte Cranfield hitzig. »Das müssen Sie doch wissen.« Lord Gowery bedachte ihn mit einem emotionslosen Blick. Dieser Blick rief irgendeine atavistische Reaktion in meinen Drüsen hervor, und ich spürte, wie es mir kalt den Rücken hinunterlief. Er glaubt es allen Ernstes, dachte ich aufgeregt, er glaubt allen Ernstes, daß wir schuldig sind. Erst in diesem Moment ging mir auf, daß wir uns zur Wehr setzen mußten, und da war es schon viel zu spät. »Wir hätten uns doch einen Anwalt nehmen sollen«, sagte ich zu Cranfield, und sein zustimmender Blick hatte etwas beinahe Verschrecktes. Kurz vor dem Lemonfizz hatte der Jockey Club endlich dem zwanzigsten Jahrhundert Rechnung getragen und sich entgegen einer uralten autokratischen Tradition damit einverstanden erklärt, daß Leute, die Gefahr liefen, ihren Lebensunterhalt zu verlieren, sich im Verfahren juristisch vertreten lassen konnten. Diese Konzession war so neu, daß es noch keine bewährte Praxis gab, nach der man sich hätte richten können. Ein, zwei Leute waren mit Hilfe eines Anwalts freigesprochen worden, aber sie hätten es vermutlich auch so geschafft; und wenn ein 10
Beschuldigter einen Anwalt zu seiner Verteidigung engagierte, mußte er das Honorar in jedem Fall selbst bezahlen. Der Jockey Club erstattete keinem Beschuldigten die Kosten, ob der Betreffende nun seine Unschuld beweisen konnte oder nicht. Zunächst war Cranfield mit mir einig gewesen, daß wir uns einen Anwalt suchen sollten, obwohl uns beide die Ausgabe ärgerte. Dann hatte Cranfield auf einer Party zufällig den neugewählten Steward für Disziplinarangelegenheiten, einen Freund von ihm, getroffen und mir hinterher berichtet: »Wir brauchen uns nicht für einen Anwalt in Unkosten zu stürzen. Monty Midgeley hat mir im Vertrauen gesagt, daß der Disziplinarausschuß findet, die Stewards in Oxford seien nicht ganz bei Trost gewesen, uns zu melden; er wüßte, daß so etwas wie das Ergebnis des Lemonfizz nun mal vorkommt, und wir sollten uns keine Sorgen machen, die Verhandlung ist eine reine Formalität. Zehn Minuten oder so, und wir haben es überstanden.« Diese Versicherung hatte uns beiden ausgereicht. Wir hatten auch dann noch keinen Grund zur Beunruhigung gesehen, als sich Colonel Sir Montague Midgeley drei, vier Tage später mit Gelbsucht ins Bett gelegt hatte und bekanntgegeben worden war, daß Lord Gowery, ein Mitglied des Ausschusses, ihn in den nächsten Wochen in etwaigen Verfahren vertreten würde. Monty Midgeleys Leber war für einiges verantwortlich. Was immer er beabsichtigt hatte, mittlerweile war erschreckend deutlich geworden, daß Gowery nicht damit einverstanden war. Die Verhandlung fand in einem großen, üppig möblierten Raum in der Zentrale des Jockey Club am Portman Square statt. Vier Stewards, jeder mit einem Stapel Papieren vor sich, saßen in bequemen Lehnstühlen hinter einem Tisch mit polierter Platte, und an einem kleineren Tisch rechts von ihnen war ein Stenograph postiert. Als Cranfield und ich den Raum 11
betraten, hantierte der Stenograph gerade mit einem Tonbandgerät herum, das auf seinem Tisch stand, wickelte ein Kabel davon ab und führte es über den Boden zu den Stewards. Er stellte vor Lord Gowery ein Mikrophon samt Ständer auf, schaltete es ein, blies ein paarmal dagegen, ging zu seinem Gerät zurück, betätigte ein paar Schalter und verkündete, daß alles ordnungsgemäß funktionierte. Hinter den Stewards, und durch ein paar Meter plüschigen, dunkelroten Teppich von ihnen getrennt, waren noch einige Lehnstühle aufgestellt. Hier saßen die drei Stewards, die wir in Oxford nicht hatten überzeugen können, der Geschäftsführer der dortigen Rennbahn, der Handicapper, der im Lemonfizz die Aufgewichte zugemessen hatte, und zwei Stipendiary Stewards, hauptamtliche Angestellte des Jockey Clubs, die bei Rennveranstaltungen als eine eigenartige Mischung aus Botenjungen für die Stewards und Privatpolizei des Gewerbes fungierten. Falls sie glaubten, daß ein Regelverstoß vorlag, war es ihre Aufgabe, ihn den Stewards der jeweiligen Veranstaltung zu melden und eine Untersuchung zu empfehlen. Wie in jedem anderen Beruf auch gab es bei den Stipendiaries vernünftige und unvernünftige Leute. Der Stipendiary, der am Lemonfizz-Tag in Oxford amtiert hatte, war bekanntermaßen der allerschwierigste. Für Cranfield und mich waren Plätze vor dem Tisch der Stewards, aber ein Stück weit davon entfernt, vorgesehen. Auch wir bekamen die gleichen luxuriösen Lehnstühle. Alles sehr zivilisiert. Nirgendwo war ein Kriegsbeil zu sehen. Wir setzten uns, und Cranfield schlug mit zuversichtlichem, entspanntem Gesicht lässig die Beine übereinander. Wir waren alles andere als Busenfreunde, Cranfield und ich. Sein Vater, ein ehemaliger Seifenfabrikant, dem der heißersehnte Adelstitel irgendwie versagt geblieben war, obwohl er wie ein Wilder für schlichtweg alles gespendet hatte, was gerade im Schwange war, hatte ihm ein Vermögen vererbt, 12
und die Verbindung von Reichtum und enttäuschten gesellschaftlichen Ambitionen hatte Cranfield den Jüngeren zu einem fürchterlichen Snob gemacht. Für ihn gehörte ich, weil er mich bezahlte, zum Personal; und mit Personal umgehen konnte er nicht. Er war allerdings ein ziemlich guter Trainer. Noch besser war, daß er reiche Freunde hatte, die sich gute Pferde leisten konnten. Ich ritt schon fast acht Jahre praktisch regelmäßig für ihn, und obwohl mich seine snobistischen Unarten zunächst geärgert hatten, war ich mittlerweile erwachsen genug, mich darüber zu amüsieren. Wir verkehrten auch nach so langer Zeit ausschließlich beruflich miteinander. Von Freundschaft keine Spur. Ihn hätte die bloße Vorstellung empört, und ich mochte ihn nicht genug, um es schade zu finden. Er war zwanzig Jahre älter als ich, ein ziemlich hochgewachsener, magerer angelsächsischer Typ mit schütterem, dünnem, mausgrauem Haar, graublauen Augen mit hellen Wimpern, einer gutentwickelten, geraden Nase und aufdringlich perfekten Zähnen. Sein Knochenbau war für die gesellschaftlichen Kreise, in die er aufzusteigen versuchte, durchaus akzeptabel, aber die Furchen, die ihm seine Lebensperspektive in die Haut gegraben hatte, waren eine Warnung für jeden, der nach Toleranz oder Großzügigkeit Ausschau hielt. Cranfield war aus Gewohnheit kleinlich, und freigebig nur gegenüber denen, die ihm nach oben helfen konnten. Sein Umgang mit Menschen, die in seinen Augen einer niedrigeren Schicht angehörten, rief regelmäßig heftige Abneigung und Groll hervor. Er war charmant zu seinen Freunden und in der Öffentlichkeit höflich zu seiner Frau, und seine drei halbwüchsigen Kinder spiegelten seinen Superioritätskomplex auf beinahe mitleiderregende Weise wider. Einige Tage vor der Verhandlung hatte Cranfield beiläufig zu mir gesagt, die Oxford Stewards seien allesamt prima Kerle 13
und zwei hätten sich sogar persönlich bei ihm dafür entschuldigt, daß sie den Fall an den Disziplinarausschuß hatten weiterleiten müssen. Ich nickte nur schweigend. Cranfield mußte genausogut wie ich gewußt haben, daß alle drei Oxford Stewards ausschließlich aus gesellschaftlichen Gründen gewählt worden waren; daß einer von ihnen keine Ergebnistafel lesen konnte, und wenn er fünf Schritte davor stand; daß der zweite das Lot Rennpferde seines verstorbenen Onkels, nicht aber dessen Sachverstand geerbt hatte; und daß man den dritten einmal während eines Rennens seinen Trainer hatte fragen hören, welches denn sein Pferd sei. Kein einziger von ihnen konnte ein Rennen auch nur annähernd auf dem Niveau eines Rennbahnkommentators beurteilen. Prima Kerle mochten sie durchaus sein, aber als Richter eine Horrorvorstellung. »Wir werden jetzt den Film von dem Rennen vorführen«, sagte Lord Gowery. Sie projizierten ihn von der Rückwand des Raums aus auf eine Leinwand hinter Cranfield und mir. Wir drehten unsere Stühle um, um ihn uns anzusehen. Der Stipendiary Stewart aus Oxford, ein aufgeblasenes Großmaul, stand neben der Leinwand und zeigte mit einem langen Stock auf Squelch. »Das ist das fragliche Pferd«, sagte er, während die Pferde sich zum Start aufstellten. Ich überlegte nachsichtig, daß sich die Stewards, wenn sie ihr Geschäft verstanden, den Film wohl schon mehrmals angesehen hatten und wußten, welches Pferd Squelch war, ohne daß man sie darauf hinweisen mußte. Der Stipendiary zeigte praktisch den ganzen Film über auf Squelch. Das Rennen war nicht weiter bemerkenswert und wurde nach wohlerprobtem Muster gelaufen: sich beim Start zurückhalten, jemand anders die Pace machen lassen; sich auf den vierten Platz vorschieben und für zwei Meilen oder länger dort bleiben; sich kurz vor dem vorletzten Hindernis zügig an
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die Spitze setzen und dann volles Tempo gehen. Wenn dem Pferd ein solches Rennen lag und es gut genug war, gewann es. Squelch haßte es, anders geritten zu werden. An einem guten Tag war Squelch auch gut genug. Es war nur leider nicht sein Tag gewesen. Der Film zeigte, wie Squelch kurz vor dem vorletzten Hindernis die Führung übernahm. Er schlingerte bei der Landung ein bißchen, ein sicheres Zeichen von Ermüdung. Ich hatte ihn aufnehmen und auf das letzte Hindernis zutreiben müssen, und das war in dem Film deutlich zu sehen. Zwischen dem letzten Hindernis und dem Zielpfosten hatte er sich unter mir abgequält und wäre in Trab verfallen, wenn ich nicht so rücksichtslos gewesen wäre. Cherry Pie kam im Finish überraschend schnell heran und zog an ihm vorbei, als hätte er stillgestanden. Die Leinwand verdunkelte sich abrupt, und irgendwer machte das Licht wieder an. Ich dachte, daß der Film schlüssig und die Sache damit ausgestanden war. »Sie haben die Peitsche nicht benutzt«, sagte Lord Gowery vorwurfsvoll. »Ganz recht, Sir«, bestätigte ich. »Squelch scheut vor der Peitsche. Er muß mit den Händen geritten werden.« »Sie haben sich nicht bemüht, ihn voll auszureiten.« »Doch, das habe ich, Sir. Er war zu Tode erschöpft, das ist im Film deutlich zu sehen.« »Ich kann in dem Film lediglich sehen, daß Sie sich überhaupt nicht bemüht haben zu gewinnen. Sie haben einfach nur dagesessen, ohne die Arme zu bewegen, und sich überhaupt nicht bemüht.« Ich starrte ihn an. »Squelch ist nicht leicht zu reiten, Sir. Er gibt immer sein Bestes, aber nur, wenn er sich nicht aufregt. Er muß ruhig geritten werden. Er bleibt stehen, wenn er geschlagen wird. Er reagiert nur auf Schenkeldruck, auf kleine Zügelhilfen und auf die Stimme seines Jockeys.« 15
»Genauso ist es«, sagte Cranfield zahm. »Ich gebe Hughes stets Anweisung, das Pferd nicht hart anzufassen.« Als hätte er kein Wort gehört, sagte Lord Gowery: »Hughes hat nicht zur Peitsche gegriffen.« Er sah die beiden Stewards, die ihn flankierten, fragend an, wie um ihre Meinung einzuholen. Der zu seiner Linken, ein jüngerer Mann, der als Amateur geritten war, nickte unverbindlich. Der andere schlief. Ich hatte den Verdacht, daß Gowery ihn unterm Tisch anstieß. Er erwachte mit einem Ruck, sagte: »Wie? Ja, ganz eindeutig« und beäugte mich argwöhnisch. Es ist eine Farce, dachte ich ungläubig. Das Ganze ist eine verdammte Farce. Gowery nickte zufrieden. »Hughes hat nicht zur Peitsche gegriffen.« Der dicke, großmäulige Stipendiary troff förmlich vor Selbstgefälligkeit. »Ich bin sicher, Sie werden den nächsten Film aufschlußreich finden, Sir.« »Gewiß«, pflichtete Gowery bei. »Zeigen Sie ihn jetzt bitte.« »Was ist das für ein Film?« erkundigte sich Cranfield. »Der Film zeigt, wie Squelch am 3. Januar in Reading gewinnt«, sagte Gowery. Cranfield überlegte. »An dem Tag war ich nicht in Reading.« »Richtig«, bestätigte Gowery. »Nach unseren Informationen sind Sie statt dessen zum Meeting nach Worcester gefahren.« So wie er es sagte, hörte es sich verdächtig anstatt völlig normal an. Cranfield hatte in Worcester einen heißen jungen Hurdler am Start gehabt und sehen wollen, wie er sich machte. Squelch, der anerkannte Star, brauchte keine Beaufsichtigung. Wieder ging das Licht aus. Der Stipendiary zeigte mit seinem Stock auf Kelly Hughes, wie er in Squelchs auffälligen Farben – schwarze und weiße Winkel und eine schwarze Mütze – ein Rennen ritt. Ein ganz anderes Rennen als der Lemonfizz Crystal Cup. Ich hatte mich frühzeitig an die Spitze gesetzt, um 16
die Hindernisse deutlich zu sehen, mich auf halber Strecke zum Verschnaufen so etwa auf den dritten Platz zurückfallen lassen und erst nach dem letzten Hindernis wieder die Führung übernommen, wobei ich die Peitsche energisch an der Schulter des Pferdes vorbeischwang und ihn kräftig mit den Armen antrieb. Der Film war zu Ende, das Licht ging wieder an, und es herrschte ein lastendes, anklagendes Schweigen. Stirnrunzelnd wandte sich Cranfield mir zu. »Sie werden ja wohl zugeben«, sagte Gowery sarkastisch, »daß Sie hier Ihre Peitsche benutzt haben, Hughes.« »Jawohl, Sir. Welches Rennen, sagten Sie, war das?« »Das letzte Rennen in Reading«, antwortete er gereizt. »Tun Sie doch nicht so, als wüßten Sie das nicht.« »Ich bin mit Ihnen darin einig, daß der Film, den wir gerade gesehen haben, das letzte Rennen in Reading zeigt, Sir. Aber Squelch ist nicht im letzten Rennen in Reading gestartet. Das Pferd in dem Film war Wanderlust. Es gehört Mr. Kessel, genau wie Squelch, deshalb sind die Farben die gleichen; außerdem stammen beide Tiere von demselben Hengst ab, was ihre Ähnlichkeit erklärt, aber das Pferd, das Sie gerade gezeigt haben, ist Wanderlust. Der, wie Sie selbst sehen konnten, gut reagiert, wenn man ihm die Peitsche zeigt.« Totenstille trat ein. Cranfield unterbrach sie schließlich mit einem Räuspern. »Hughes hat völlig recht. Das ist Wanderlust.« Es war ihm überhaupt nicht klar, dachte ich belustigt, bis ich ihn darauf hingewiesen habe. Die Leute glauben nur allzu gern, was man ihnen sagt. Es folgte ein längeres, hastiges Geflüster. Ich half ihnen nicht. Das sollten sie ruhig selber auseinanderklamüsern. Endlich fragte Lord Gowery: »Hat jemand die Rennberichte da?«, und ein Offizieller in der Nähe der Tür ging hinaus, um
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ein Exemplar zu holen. Gowery schlug es auf und besah sich ausgiebig die Ergebnisse von Reading. »Offenbar«, meinte er dann gezwungen, »haben wir den falschen Film. Squelch ist in Reading im sechsten Rennen gestartet, und das ist normalerweise das letzte. Anscheinend aber hat es in Reading an diesem Tag sieben Rennen gegeben, weil man das Nachwuchs-Jagdrennen geteilt und in zwei Läufen am Anfang und am Ende der Veranstaltung gestartet hat. Wanderlust hat also das siebte Rennen gewonnen. Eine durchaus verständliche Verwechslung, wie ich finde.« Ich glaubte nicht, daß es meiner Sache nützen würde, wenn ich sagte, daß ich es für eine skandalöse, ja kriminelle Verwechslung hielt. »Könnten wir jetzt bitte den richtigen Film sehen, Sir?« fragte ich höflich. »Den von Squelchs Sieg?« Lord Gowery räusperte sich. »Ich, äh, glaube nicht, daß wir den hierhaben. Allerdings« – er erholte sich rasch – »brauchen wir ihn auch nicht. Er ist unerheblich. Wir befassen uns schließlich nicht mit dem Ergebnis von Reading, sondern mit dem von Oxford.« Mir blieb die Spucke weg. Ich war vollkommen baff. »Aber Sir, wenn Sie sich Squelchs Rennen ansehen, werden Sie feststellen, daß ich ihn in Reading genauso geritten habe wie in Oxford, nämlich ohne die Peitsche zu benutzen.« »Das gehört nicht zur Sache, Hughes, weil Squelch die Peitsche in Reading vielleicht gar nicht gebraucht hat, in Oxford aber schon.« »Das gehört sehr wohl zur Sache, Sir«, protestierte ich. »Ich habe Squelch in Oxford auf genau die gleiche Weise geritten wie bei seinem Sieg in Reading, nur daß er in Oxford müde wurde.« Lord Gowery ignorierte das völlig. Statt dessen blickte er nach links und rechts auf die neben ihm sitzenden Stewards und meinte: »Wir dürfen keine Zeit mehr vergeuden. 18
Schließlich haben wir vor dem Lunch noch drei oder vier Zeugen aufzurufen.« Der verschlafene älteste Steward nickte und sah auf seine Uhr. Der jüngere nickte ebenfalls und wich meinem Blick aus. Ich kannte ihn noch recht gut aus seiner Zeit als AmateurJockey und war oft gegen ihn geritten. Wir hatten uns alle gefreut, als man ihn zum Steward wählte, weil er aus erster Hand wußte, welche eigenartigen, auch für den Intelligentesten irreführenden Situationen beim Pferderennsport immer wieder entstehen, und wir hatten geglaubt, er würde stets unseren Standpunkt vertreten oder wenigstens darlegen. Seinem verlegenen, fast entschuldigenden Gesicht konnte ich nun entnehmen, daß wir uns zuviel erhofft hatten. Er hatte bislang noch kein einziges Wort zu dem Verfahren beigetragen und machte, so seltsam das auch war, einen eingeschüchterten Eindruck. Als schlichter Andrew Tring war er unbekümmert, amüsant und an Hindernissen nachgerade verwegen gewesen. Die in jüngster Vergangenheit geerbte Baronetswürde und die in noch jüngerer Vergangenheit erfolgte Wahl zum Steward hatten ihn, wie es im Moment aussah, anscheinend regelrecht zu Boden geschmettert. Von Lord Plimborne, der älteren Schlafmütze, wußte ich außer dem Namen so gut wie gar nichts. Er wirkte wie Mitte siebzig, und viele seiner Bewegungen hatten etwas leicht Zittriges, als ob das Alter an seinen Fundamenten wackelte und ihn bald umgeworfen haben würde. Von dem, was bisher gesagt worden war, hatte er nach meinem Dafürhalten nicht mehr als ein Viertel richtig gehört oder verstanden. Eine Untersuchung wurde normalerweise von drei Stewards durchgeführt, doch an diesem Tag waren sie zu viert. Der vierte, der links von Andrew Tring saß, gehörte, soviel ich wußte, nicht einmal dem Disziplinarausschuß an, geschweige denn daß er Disciplinary Steward war. Aber er hatte einen 19
genauso großen, wenn nicht größeren, Stapel von Aufzeichnungen vor sich liegen wie die anderen und folgte jedem Wort mit scharfem, hitzigem Blick. Ich kam nicht dahinter, was genau er eigentlich mit der Sache zu tun hatte, aber es bestand kein Zweifel daran, daß Wykeham, dem zweiten Baron Ferth, das Ergebnis nicht gleichgültig war. Er war der einzige von den vieren, den es wirklich zu stören schien, daß sie den falschen Film gezeigt hatten, und er sagte leise, aber so nachdrücklich, daß es bis zu mir und Cranfield trug: »Ich habe mich dagegen ausgesprochen, das Rennen von Reading zu zeigen, wenn Sie sich erinnern.« Gowery durchbohrte ihn mit einem Eisspeer von einem Blick, der einen Dünnhäutigeren gefällt haben würde, an Ferths innerem Hochofen jedoch wirkungslos zerschmolz. »Sie haben sich damit einverstanden erklärt zu schweigen«, sagte Gowery mit dem gleichen schneidenden Unterton. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sich auch daran hielten.« Neben mir war Cranfield vor Erstaunen leicht hochgezuckt, und als ich nun, einen Tag später, darüber nachdachte, kam mir der giftige Wortwechsel noch eigenartiger vor. Wieso, fragte ich mich nun, war Ferth überhaupt dagewesen, wo er dort im Grunde doch gar nichts zu suchen hatte und man seine Anwesenheit eindeutig nicht zu schätzen wußte? Das Klingeln des Telefons riß mich aus meinen Gedanken. Ich ging ins Wohnzimmer, um abzunehmen, und stellte fest, daß es ein Kollege war, der mir sein Mitgefühl aussprechen wollte. Ihm selbst, so erinnerte er mich, sei vor drei, vier Jahren auch einmal eine Zeitlang die Lizenz entzogen worden und er wisse genau, wie es mir gehe. »Nett von dir, Jim, daß du extra anrufst.« »Aber ich bitte dich, Mann. Wir müssen doch zusammenhalten und so. Wie ist es denn gelaufen?« »Beschissen. Cranfield und ich konnten sagen, was wir wollten, die haben überhaupt nicht zugehört. Daß wir schuldig 20
sind, hatten die schon entschieden, ehe wir überhaupt dort waren.« Jim Enders lachte. »Das wundert mich gar nicht. Weißt du, was mir damals passiert ist?« »Nein, was denn?« »Na ja, als sie mir meine Lizenz zurückgegeben haben, haben sie das Verfahren für Dienstag angesetzt, verstehst du, und dann haben sie’s aus irgendeinem Grund auf Donnerstag nachmittag verschieben müssen. Ich also am Donnerstag nachmittag hin, und sie haben eine Weile rumgedruckst, mich vor künftigem Fehlverhalten gewarnt und ein bißchen zappeln lassen, ehe sie gesagt haben, ich könnte meine Lizenz wiederhaben. Tja, hab ich gedacht, hol ich mir am besten gleich einen Rennkalender und nehm ihn mit nach Hause, man muß ja schließlich auf dem laufenden bleiben und so, jedenfalls, ich meinen Rennkalender geholt, der donnerstags um zwölf erscheint – um zwölf, wohlgemerkt! –, und wie ich ihn aufschlage, was sehe ich da als erstes? Die Meldung, daß ich meine Lizenz zurückbekommen habe. Was sagt man dazu? Die hatten schon zwei Stunden bevor die Verhandlung überhaupt angefangen hat, das Ergebnis veröffentlicht.« »Das glaube ich einfach nicht.« »Es stimmt aber. Und dabei haben sie mir damals meine Lizenz zurückgegeben, nicht weggenommen. Jedenfalls sieht man daran, daß alles schon vorher ausgemauschelt war. Ich hab mich immer gefragt, wieso die sich überhaupt die Mühe gemacht haben, die zweite Verhandlung abzuhalten. Reine Zeitverschwendung, Mann.« »Unglaublich«, sagte ich. Aber ich glaubte ihm, was ich vor meiner eigenen Verhandlung nicht getan hätte. »Wann geben sie dir deine Lizenz zurück?« fragte Jim. »Das haben sie nicht gesagt.« »Haben sie dir etwa nicht gesagt, wann du sie wieder beantragen kannst?« 21
»Nein.« Jim schickte ein sehr unflätiges Wort durch die Leitung. »Darauf mußt du übrigens auch achten, daß du den richtigen Moment erwischst, wenn du sie beantragst.« »Wieso?« »Als ich meine beantragt habe – und zwar genau zu dem Zeitpunkt, den die mir genannt hatten –, hieß es, der zuständige Steward wäre auf einer Kreuzfahrt nach Madeira und ich müßte mich gedulden, bis er wieder da ist.«
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2 Als die Pferde gegen Mittag von der zweiten Morgenarbeit zurückkamen, stampfte mein Cousin Tony die Treppe hoch und trat Matsch und Stroh in meinen Teppich. Es war sein Stall, nicht Cranfields, in dem ich wohnte. Er hatte dreißig Boxen, zweiunddreißig Pferde, ein Haus, eine Frau, vier Kinder und ein ständig überzogenes Konto. Im Augenblick wurden gerade zehn weitere Boxen gebaut, das fünfte Kind war in vier Monaten fällig, und das Konto driftete ins Dunkelrote ab. Ich lebte allein in der Wohnung über dem Hof und ritt alles, was mir unterkam. Alles ganz normal. Und in den drei Jahren, seit wir eingezogen waren, zunehmend erfolgreich. Meine Sperre bedeutete, daß Tony und die Besitzer sich nach einem anderen Jockey umsehen mußten. Er ließ sich trübsinnig in einen mit grünem Samt bezogenen Sessel plumpsen. »Bist du in Ordnung?« »Ja«, sagte ich. »Gib mir was zu trinken, Herrgott noch mal.« Ich goß ihm eine halbe Tasse J and B in ein klobiges Glas. »Eis?« »Nein.« Ich reichte ihm das Glas, und er machte damit kurze Fünfzehn. Entspannung setzte ein. Unsere Mütter waren zwei Schwestern aus Wales. Meine hatte einen Einheimischen geheiratet, so daß ich ganz und gar keltisch geraten war: ziemlich klein, dunkel, kompakt. Meine Tante war mit einem einsneunzig großen, lässigen blonden Hünen aus Wyoming durchgebrannt, der Tony fast alles von seiner Physis, aber doppelt soviel Verstand mitgegeben hatte. Nach seiner Entlassung aus der U.S. Air Force war Tonys 23
Vater wieder Rancharbeiter geworden – nicht Ranchbesitzer, wie er seiner angeheirateten Verwandtschaft hatte weismachen wollen –, und er hatte es für wichtiger gehalten, daß sein einziges Kind gut reiten lernte, als daß es sich mit überspannter Bücherweisheit vollstopfte. Tony schwänzte daher jahrelang mit Begeisterung die Schule und hatte es nie bedauert. Als ich ihn kennenlernte, war er fünfundzwanzig, das Herz seines Vaters hatte gerade schlappgemacht, und er begleitete seine aufrichtig trauernde Mum nach Wales zurück. In den sieben Jahren seither hatte er sich mit beachtlicher Geschwindigkeit eine englische Frau, einen nicht ganz englischen Akzent, objektive Kenntnisse des englischen Pferderennsports, einen Job als Trainerassistent und einen eigenen Stall zugelegt. Und irgendwo unterwegs auch einen nicht zu stillenden englischen Durst. Nach Scotch. »Was willst du jetzt machen?« fragte er mit einem Blick auf seinen dezimierten Drink. »Das weiß ich noch nicht genau.« »Willst du nach Hause fahren?« »Nicht, um dort zu leben. Dafür bin ich schon zu weit weg.« Er hob leicht den Kopf und blickte sich lächelnd im Zimmer um. Schlichte weiße Wände, ein dicker brauner Teppich, samtbezogene Sessel in zwei oder drei Grüntönen, antike Möbel, pink und orange gestreifte Vorhänge, schwer und prächtig. »Das kann man laut sagen«, stimmte er zu. »Ganz schön weit weg von der Coedlant Farm, mein Lieber.« »Auch nicht weiter als deine Prärie.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe dort immer noch Wurzeln. Du hast deine ausgerissen.« Scharfsinniger Bursche, dieser Tony. Eine eigenartige Mischung aus reiner Intelligenz und Stroh in den Haaren. Er hatte recht: ich hatte mir die Strohhalme aus den Haaren geschüttelt. Wir kamen prima miteinander aus.
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»Ich will mit jemandem reden, der in letzter Zeit mal bei einer Verhandlung war«, sagte ich unvermittelt. »Es wäre besser, du würdest die Sache einfach abhaken und vergessen«, riet er. »Totaloperationen zu vergleichen bringt gar nichts.« Ich lachte, was in Anbetracht der Umstände eine echte Leistung war. »Es geht nicht darum, sich gegenseitig was vorzujammern«, erklärte ich. »Ich will einfach nur wissen, ob das, was gestern abgelaufen ist... na ja, ungewöhnlich war. Das Verfahren, meine ich. Die Form der ganzen Geschichte. Mal ganz abgesehen davon, daß die meisten Beweise getürkt waren.« »War’s das, was du auf dem Heimweg vor dich hingemurmelt hast? Die paar Worte, die du in einer Wüste von Schweigen von dir gegeben hast?« »Nein, die lauteten im wesentlichen: ›Sie haben uns kein Wort geglaubt.‹« »Und wer hat was getürkt?« »Das ist die Frage.« Er hielt mir sein leeres Glas hin, und ich goß ihm noch etwas ein. »Meinst du das ernst?« »Ja. Ausgehend von Punkt A – daß ich Squelch auf Sieg geritten habe –, gelangen wir zu Punkt B – daß die Stewards überzeugt sind, ich hätte es nicht getan. Irgendwo dazwischen haben sich drei, vier kleine Vögelchen die Seele aus dem Leib gezwitschert und wie gedruckt gelogen.« »Wie ich sehe, rührt sich in den Ruinen von gestern wieder was.« »Was für Ruinen?« »Du.« »Ach so.« »Du solltest mehr trinken«, sagte er. »Bemüh dich. Fang am besten gleich an.« 25
»Ich denke darüber nach.« »Tu das.« Er rappelte sich hoch. »Zeit zum Lunch. Zeit, zu den kleinen Nestlingen mit ihren nach Würmern aufgesperrten Schnäbeln zurückzukehren.« »Gibt’s heute Würmer?« »Weiß der Himmel. Poppy sagt, du bist eingeladen, wenn du willst.« Ich schüttelte den Kopf. »Du mußt aber was essen«, protestierte er. »Ja.« Er sah mich nachdenklich an. »Ich denke, du kommst schon klar«, meinte er. Er stellte sein leeres Glas ab. »Wir sind hier, falls du was brauchst, weißt du. Gesellschaft. Was zu essen. Revuegirls. Solche Kleinigkeiten eben.« Ich nickte dankend, und er stapfte die Treppe hinunter. Er hatte nichts von seinen Pferden, deren Rennen und den Jockeys gesagt, die er würde engagieren müssen. Er hatte nicht gesagt, daß mein Verbleib in der Wohnung ihn in Verlegenheit bringen würde. Ich wußte nicht, wie ich mich da verhalten sollte. Die Wohnung war mein Zuhause. Mein einziges Zuhause. Von mir entworfen, umgebaut und eingerichtet. Ich mochte sie und hatte keine Lust auszuziehen. Ich ging ins Schlafzimmer. Ein Doppelbett, aber Kissen für einen. Auf der Frisierkommode, im silbernen Rahmen, ein Foto von Rosalind. Wir waren zwei Jahre verheiratet, als sie einen ihrer routinemäßigen Wochenendbesuche bei ihren Eltern machte. Ich hatte an dem Samstag in Market Rasen fünf Rennen zu reiten, und am Ende des Nachmittags war ein Polizist in die Waage gekommen und hatte mir emotionslos mitgeteilt, mein Schwiegervater sei mit seiner und meiner Frau losgefahren, um Freunde zu besuchen, habe sich bei heftigem Regen beim
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Überholen verschätzt und sei frontal mit einem Lastwagen zusammengeprallt; alle drei seien auf der Stelle tot gewesen. Das war jetzt vier Jahre her. Recht häufig erinnerte ich mich nicht einmal mehr an ihre Stimme. Dann wieder war mir, als säße sie im Zimmer nebenan. Ich hatte sie leidenschaftlich geliebt, aber es tat nicht mehr weh. Vier Jahre sind eine lange Zeit. Jetzt wünschte ich, sie wäre da, mit ihrem aufbrausenden Temperament und ihrer glühenden Loyalität, damit ich ihr von der Verhandlung hätte erzählen, das Elend mit ihr teilen und mich trösten lassen können. Diese Verhandlung... Gowerys erster Zeuge war der Jockey, der im Lemonfizz zwei, drei Längen hinter Squelch dritter geworden war. Zirka zwanzig Jahre alt, rundgesichtig und unreif, war Master Charlie West ein Junge mit viel angeborenem Talent und wenig Selbstdisziplin. Er hatte eine hohe Meinung von sich selbst und lief dank seiner augenfälligen Überzeugung, daß Regeln nur für die anderen galten, Gefahr, sich seine Zukunft zu verbauen. Die Pracht von Portman Square und das Drum und Dran der Verhandlung hatten ihn offenbar zahm gemacht. Nervös betrat er den Raum und stellte sich, wie geheißen, an einem Ende des Tisches der Stewards auf: links von ihnen und rechts von uns. Er hielt den Blick auf den Tisch gesenkt und hob während seiner gesamten Aussage nur ein-, zweimal die Augen. Zu mir und Cranfield sah er überhaupt nicht hin. Gowery fragte ihn, ob er sich an das Rennen erinnere. »Ja, Sir.« Ein leises, kaum hörbares Genuschel. »Sprechen Sie lauter«, sagte Gowery gereizt. Der Stenograph kam von seinem Tisch herüber und rückte das Mikrophon näher an Charlie West heran. Der räusperte sich. »Was ist während des Rennens passiert?« »Tja, Sir... Soll ich ganz von vorn anfangen, Sir?« 27
»Sie brauchen nicht unnötig ins Detail zu gehen, West«, sagte Gowery ungeduldig. »Erzählen Sie uns einfach, was in der zweiten Runde auf der Gegengeraden passiert ist.« »Verstehe, Sir. Tja... Kelly, das heißt, ich meine Hughes, Sir... Hughes... also... das war so...« »Kommen Sie zur Sache, West.« Gowerys Stimme hätte einen Toten aufgeweckt. Eine tiefe, unregelmäßige Röte stieg Charlie West in den Nacken. Er schluckte. »Auf der Gegengeraden, Sir, da wo man ein paar Sekunden lang die Tribüne nicht sieht, tja, also da, Sir... da zieht Hughes auf einmal kräftig die Zügel an, Sir...« »Und was hat er gesagt, West?« »Sir, er hat gesagt: ›Okay, Jungs, Bremsen anziehen‹, Sir.« Obwohl jeder es schon beim ersten Mal verstanden hatte und man eine Stecknadel hätte fallen hören können, sagte Gowery angelegentlich: »Wiederholen Sie das bitte, West.« »Hughes, Sir, hat gesagt: ›Okay, Jungs, Bremsen anziehen.‹« »Und was hat er Ihrer Ansicht nach damit gemeint, West?« »Tja, Sir, daß er’s gar nicht richtig probiert. Das sagt er immer, wenn er einen zurückhält und es nicht richtig probiert.« »Immer?« »Na ja, so was Ähnliches jedenfalls, Sir.« Es herrschte tiefes Schweigen. Dann sagte Gowery förmlich: »Mr. Cranfield... Hughes... Sie können den Zeugen befragen, wenn Sie es wünschen.« Ich stand langsam auf. »Wollen Sie ernsthaft behaupten«, fragte ich erregt, »daß ich Squelch zu irgendeinem Zeitpunkt während des Lemonfizz Cup zurückgehalten und gesagt habe: ›Okay, Jungs, Bremsen anziehen?‹« Er nickte. Er hatte zu schwitzen angefangen. »Bitte antworten Sie laut«, sagte ich. »Ja. Das haben Sie gesagt.« »Das habe ich nicht.« 28
»Ich habe es gehört.« »Das können Sie nicht gehört haben.« »Habe ich aber.« Ich schwieg. Ich hatte schlicht und einfach keine Ahnung, was ich als nächstes sagen sollte. Das Ganze ähnelte zu sehr einem Wortwechsel auf dem Kinderspielplatz: Hast du doch, hab ich nicht, hast du doch, hab ich nicht... Ich setzte mich. Sämtliche Stewards und sämtliche hinter ihnen aufgereihten Offiziellen sahen mich an. Ich konnte erkennen, daß sie allesamt West glaubten. »Benutzen Sie diese Formulierung häufiger, Hughes?« Gowerys Stimme war wie trockene Säure. »Nein, Sir.« »Haben Sie sie je benutzt?« »Nicht im Lemonfizz Cup, Sir.« »Ich sagte, haben Sie sie je benutzt, Hughes?« Lügen oder nicht lügen... »Ja, Sir, ich habe sie ein-, zweimal benutzt. Aber nicht auf Squelch im Lemonfizz Cup.« »Daß Sie es überhaupt gesagt haben, reicht schon, Hughes. Was die Frage angeht, wann Sie es gesagt haben, werden wir unsere eigenen Schlüsse ziehen.« Er schob ein Blatt Papier unter den vor ihm liegenden Stapel und nahm ein neues zur Hand. Während er es mit dem leeren Pro-forma-Blick dessen betrachtete, der sein Thema auswendig kennt, fuhr er fort: »Und nun erzählen Sie uns bitte, West, was Hughes getan hat, nachdem er diese Worte gesagt hatte.« »Sir, er hat sein Pferd zurückgehalten, Sir.« »Woher wissen Sie das?« Die Frage war eine reine Formalität. Er stellte sie im Ton eines, der die Antwort bereits kennt. »Ich war genau neben Hughes, Sir, als er das mit den Bremsen gesagt hat. Dann hat er irgendwie die Schultern krumm gemacht, Sir, hat die Zügel angezogen, tja, und dann war er auf einmal hinter mir, regelrecht ausgestiegen.« 29
Cranfield sagte wütend: »Aber er hat im Ziel vor Ihnen gelegen.« »Ja, Sir.« Charlie West ließ den Blick zu Lord Gowery hinaufhuschen und sprach nur mit ihm. »Mein altes Pferd hatte nichts mehr zuzusetzen, Sir, und kurz vor dem vorletzten hat Hughes mich dann wieder überholt.« »Und wie hat Squelch dieses Hindernis übersprungen?« »Mühelos, Sir. Hat’s genau richtig getroffen. Genau den richtigen Abstand gehabt, Sir.« »Hughes behauptet, Squelch wäre zu diesem Zeitpunkt völlig erschöpft gewesen.« Charlie West zögerte kurz. Schließlich sagte er: »Also das weiß ich nicht, Sir. Ich hab jedenfalls gedacht, daß Squelch gewinnen würde. Ich denke immer noch, daß er eigentlich hätte gewinnen müssen, bei seiner Klasse, Sir.« Gowery warf einen Blick nach links und rechts, um sich zu vergewissern, daß seine Kollegen es auch begriffen hatten. »West, konnten Sie von Ihrer Position in der Schlußphase des Rennens aus erkennen, ob Hughes jede nur mögliche Anstrengung gemacht hat zu gewinnen?« »Also, ausgesehen hat’s nicht danach, Sir, und das ist schon erstaunlich.« »Erstaunlich?« »Ja, Sir. Wo Hughes das doch so gut kann, Sir.« »Was gut kann?« »Na, so zu reiten, daß es von der Tribüne aus wie ein mordsmäßiges Finish aussieht, und dabei die ganze Zeit wie verrückt Tempo rauszunehmen.« »Hughes reitet häufiger nicht auf Sieg?« Charlie West brachte es tatsächlich fertig. »Ja, Sir.« »Danke, West«, sagte Gowery mit falscher Höflichkeit. »Sie können jetzt hinten im Saal Platz nehmen.« Charlie West wuselte wie ein Kaninchen auf die Stuhlreihe zu, die für die Zeugen reserviert war, die bereits ausgesagt 30
hatten. Cranfield drehte sich heftig zu mir und sagte: »Warum haben Sie es nicht entschiedener bestritten, um Himmels willen? Warum zum Teufel haben Sie nicht darauf bestanden, daß er die ganze Sache erfunden hat?« »Meinen Sie etwa, die hätten mir geglaubt?« Er betrachtete unbehaglich die Phalanx der Ankläger uns gegenüber und fand die Antwort in ihren unversöhnlichen Blicken. Trotzdem stand er auf und tat sein Bestes. »Lord Gowery, der Film vom Lemonfizz Cup bestätigt Wests Anschuldigungen nicht. Zu keinem Zeitpunkt hält Hughes sein Pferd zurück.« Ich hob zu spät die Hand, um ihn zu bremsen. Gowerys und Lord Ferths aufmerksame Gesichter verrieten Befriedigung. Sie wußten ebenso wie ich, daß der Film bestätigte, was West gesagt hatte. Weil ich gespürt hatte, daß Squelch der Dampf ausging, hatte ich ihm eine Meile vor dem Ziel eine kurze Atempause gegönnt, und dieses völlig normale, alltägliche kleine Vorkommnis konnte nur allzu leicht falsch interpretiert werden. Von meiner Reaktion überrascht, blickte Cranfield zu mir herab. »Ich habe ihm eine Atempause gegönnt«, sagte ich entschuldigend. »Und das sieht man.« Mit besorgtem Stirnrunzeln ließ er sich schwer auf den Stuhl sinken. Als hätte Cranfield nichts gesagt, meinte Lord Gowery zu einem Offiziellen: »Führen Sie Mr. Newtonnards herein.« Es gab eine kleine Pause, bevor Mr. Newtonnards – wer immer das war – erschien. Lord Gowery hatte den Kopf leicht nach links, zur Tür hin, gedreht, so daß ich in den Genuß seines Patrizierprofils kam. Mir wurde beinahe mit einem Gefühl des Entsetzens klar, daß ich ihn als Menschen überhaupt nicht kannte und daß er von mir wahrscheinlich genausowenig wußte. Für mich war er immer eine Autoritätsperson mit 31
großem A gewesen. Ich hatte sein Recht, über mich zu urteilen, nicht in Frage gestellt. Ich hatte naiverweise angenommen, daß er es mit Integrität, Klugheit und Gerechtigkeit tun würde. Soviel zum Thema Illusionen. Er führte seine Zeugen auf eine Weise, daß Old Bailey davon schwindlig werden würde. Er hörte Wahrheit in Charlie Wests Lügen und Lügen in meiner Wahrheit. Er war zugleich Ankläger und Richter und ließ Beweismaterial nur zu, wenn es in seine Argumentation paßte. Die Ehrfurcht, die ich ihm unbesehen entgegengebracht hatte, löste sich auf wie Zuckerwatte in einem Gewitter, und ich spürte, wie sich an ihrer Stelle ein unversöhnlicher Zynismus breit machte. Außerdem schämte ich mich meines früheren Vertrauens. Bei meiner Erziehung hätte ich es besser wissen müssen. Mr. Newtonnards, eine rote Rose im Aufschlag und ein großes blaues Hauptbuch in der Hand, kam aus dem Warteraum und schritt zu der den Zeugen vorbehaltenen Seite des Tisches der Stewards hinüber. Im Gegensatz zu Charlie West war er selbstbewußt, nicht nervös. Als er sah, daß alle anderen saßen, blickte er sich nach einem Stuhl für sich selbst um, und als er keinen fand, fragte er. Nach einer winzigen Pause nickte Gowery, und der als Mädchen für alles fungierende Offizielle neben der Tür rückte einen heran. Mr. Newtonnards deponierte seine wohlgepflegte, in einem perlgrauen Anzug steckende Erscheinung darauf. »Wer ist das?« fragte ich Cranfield. Cranfield schüttelte den Kopf und gab keine Antwort, aber er wußte es, denn seine besorgte Miene wurde womöglich noch besorgter. Andrew Tring durchblätterte seinen Stapel Papiere, fand das Blatt, das er suchte, und zog es heraus. Lord Plimborne hatte die Augen wieder geschlossen. Ich rechnete schon fast damit: und im übrigen spielte es, soviel ich sehen konnte, ohnehin keine Rolle, denn die Macht lag irgendwo zwischen Gowery 32
und Ferth, und Andy Tring und Plimborne waren bloß Staffage. Auch Lord Gowery nahm ein Blatt Papier zur Hand, und wieder hatte ich den Eindruck, daß er den Inhalt auswendig kannte. »Mr. Newtonnards?« »Ja, Mylord.« Er hatte einen von jahrelangem Zigarren- und Champagnerkonsum überlagerten leichten Cockney-Akzent. Mitte Fünfzig, schätzte ich; nicht dumm, kannte sich aus in der Welt und hatte Freunde im Showbusineß. Ich lag gar nicht so weit daneben: Mr. Newtonnards, so stellte sich heraus, war Buchmacher. »Mr. Newtonnards«, sagte Gowery, »wären Sie bitte so freundlich, uns von einer ganz bestimmten Wette zu berichten, die Sie am Nachmittag des Lemonfizz Cup abgeschlossen haben?« »Ja, Mylord. Ich stehe an meinem Stand bei Tattersall’s, da kommt dieser Kunde und will fünf Zehner auf Cherry Pie loswerden.« Hier verstummte er, als wäre damit für ihn schon alles gesagt. Gowery half ihm auf die Sprünge. »Bitte beschreiben Sie den Mann, und sagen Sie uns außerdem, wie Sie auf seine Bitte reagiert haben?« »Beschreiben? Tja, mal sehen. Er war nicht weiter auffällig. Ein ziemlich großer Mann in beigefarbenem Mantel und braunem Filzhut, hatte ein Rennglas umgehängt. Mittelalt, würde ich sagen. Vielleicht hatte er einen Schnurrbart, aber das weiß ich wirklich nicht mehr.« Die Beschreibung paßte auf die Hälfte aller Männer auf der Rennbahn. »Er hat mich gefragt, was für eine Quote ich ihm für Cherry Pie geben würde«, fuhr Newtonnards fort. »Ich hatte keine angeschrieben, weil Cherry Pie doch so ein Außenseiter war. Ich habe ihm zehn angeboten, aber er hat gesagt, das ist zu 33
wenig, und ich hatte den Eindruck, er geht gleich woanders hin. Tja...« Newtonnards machte eine ausdrucksvolle Bewegung mit seiner kräftigen Hand »...das Geschäft lief nicht gerade berauschend, also habe ich ihm hundert für sechs angeboten. Mehr konnte ich ihm beim besten Willen nicht geben, immerhin waren nur acht Starter gemeldet, oder? So übel hab ich mich schon lange nicht mehr vertan.« Mit Stoizismus vermischte Düsterkeit machte sich auf seinem beherrschten Gesicht breit. »Und als Cherry Pie gewonnen hatte, haben Sie ausbezahlt?« »Richtig. Er hat fünfzig Scheine hingelegt, ich habe ihm neunhundert bezahlt.« »Neunhundert Pfund?« »So ist es, Mylord«, bestätigte Newtonnards leichthin, »neunhundert Pfund.« »Können wir den Vermerk über diese Wette sehen?« »Aber sicher.« Er schlug das große blaue Hauptbuch an einer markierten Stelle auf. »Links, Mylord, kurz nach der Mitte. Ist rot angekreuzt. Neunhundertfünfzig, Wettschein Nummer neun sieben zwo.« Das Hauptbuch wurde am Tisch der Stewards weitergereicht. Plimborne wachte aus diesem Anlaß auf, und sie beäugten alle vier die fragliche Seite. Das Hauptbuch kam zu Newtonnards zurück, der es zuklappte und vor sich hinlegte. »War das nicht eine sehr hohe Wette auf einen Außenseiter?« fragte Gowery. »O ja, Mylord. Andererseits gibt’s natürlich massenhaft Ahnungslose. Nur daß eben ab und zu auch mal einer gewinnt.« »Sie hatten also keine Bedenken, so einen hohen Betrag zu riskieren?« »Eigentlich nicht, Mylord. Immerhin war ja Squelch im Rennen. Und außerdem bin ich ein bißchen was davon losgeworden. Genauer gesagt, ein Viertel, und zwar zu 34
dreiunddreißig. Mein eigentlicher Verlust lag also mehr in der Gegend von vierhundertsiebenundachtzig Pfund zehn. Dann habe ich auf Squelch und die anderen noch dreihundertzwo Pfund zehn eingenommen, und das macht für dieses Rennen einen Nettoverlust von hundertfünfundachtzig.« Cranfield und ich wurden mit einem Blick bedacht, dem man den Groll über jedes einzelne Pfund dieses Betrages ansah. »Wir befassen uns hier nicht mit der Höhe Ihrer Verluste, Mr. Newtonnards«, sagte Gowery, »sondern mit der Identität des Kunden, der auf Cherry Pie neunhundert Pfund gewonnen hat.« Ich schauderte. Wenn West lügen konnte, konnten andere es auch. »Wie ich schon in meiner schriftlichen Aussage angeführt habe, Mylord, weiß ich seinen Namen nicht. Als er zu mir gekommen ist, war mir so, als kenne ich ihn von irgendwoher, aber in meiner Branche kriegt man eine Menge Leute zu Gesicht, deshalb hab ich mir weiter keine Gedanken gemacht. Geklingelt hat’s bei mir erst, als ich ihn ausbezahlt hatte. Genauer gesagt, nach dem letzten Rennen. Erst auf der Nachhausefahrt. Da ist es mir plötzlich gekommen, und da bin ich wild geworden, das kann ich Ihnen sagen.« »Erklären Sie das bitte genauer«, sagte Gowery geduldig. Die Geduld einer Katze vor dem Mauseloch. Vorfreude, die die Warterei versüßt. »Es war nicht so sehr er, sondern mit wem ich ihn habe reden sehen. Am Führring, vor dem ersten Rennen. Weiß auch nicht, warum mir das wieder eingefallen ist, aber so war’s jedenfalls.« »Und mit wem haben Sie diesen Kunden reden sehen?« »Mit ihm.« Sein Kopf ruckte in unsere Richtung. »Mr. Cranfield.« Cranfield war blitzschnell aufgesprungen.
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»Wollen Sie etwa unterstellen, ich hätte Ihrem Kunden geraten, auf Cherry Pie zu setzen?« Seine Stimme bebte vor Empörung. »Nein, Mr. Cranfield«, sagte Gowery eisig wie der Nordwind, »die Unterstellung ist, daß der Kunde in Ihrem Auftrag gehandelt hat und daß Sie selbst auf Cherry Pie gesetzt haben.« »Das ist erstunken und erlogen.« Sein hitziges Leugnen stieß auf lauter taube Ohren. »Wo ist denn dieser geheimnisvolle Mensch?« fragte er. »Dieser nicht identifizierte, nicht identifizierbare Niemand? Wie kann man sich so eine Geschichte aus den Fingern saugen und sie ernsthaft als Beweis anführen? Das ist ja lächerlich. Vollkommen lächerlich.« »Die Wette wurde abgeschlossen«, sagte Gowery lapidar und deutete auf das Hauptbuch. »Und ich habe Sie mit dem Kunden reden sehen«, bestätigte Newtonnards. Cranfield verschlug es vor Wut die Sprache, und am Ende setzte auch er sich wieder, weil ihm wie mir nichts einfiel, was er sagen könnte, um die vorgefaßten Meinungen gegen uns ins Wanken zu bringen. »Mr. Newtonnards«, sagte ich, »würden Sie diesen Kunden wiedererkennen?« Er zögerte nur ganz kurz. »Ja.« »Haben Sie ihn seit dem Lemonfizz noch einmal auf der Rennbahn gesehen?« »Nein.« »Wenn Sie ihn wiedersehen, würden Sie ihn dann Lord Gowery zeigen?« »Wenn Lord Gowery dann auch auf der Rennbahn ist.« Darüber mußten mehrere Offizielle auf den hinteren Rängen lächeln, Newtonnards aber, das mußte man ihm lassen, blieb ernst. 36
Mir fiel nichts mehr ein, was ich ihn noch fragen konnte, und ich wußte, daß wir keinerlei Boden gutgemacht hatten. Es war zum Aus-der-Haut-Fahren. Wir hatten uns freiwillig in die schlechten alten Zeiten zurückbegeben, in denen Leuten, die in Rennsportgerichtsverfahren angeklagt wurden, kein juristischer Beistand zugebilligt wurde. Wenn sie nicht wußten, wie sie sich verteidigen sollten und wenn sie nicht wußten, was für Fragen sie stellen und in welcher Form sie sie stellen sollten, dann hatten sie eben einfach Pech gehabt. Aber das hier war kein Pech. Es war unser eigener dummer Fehler. Ein Anwalt wäre in der Lage gewesen, Newtonnards Aussage in Fetzen zu reißen, aber weder Cranfield noch ich wußten, wie man das machte. Cranfield versuchte es. Er stand erneut auf. »Nicht nur, daß ich nicht auf Cherry Pie gesetzt habe, ich habe sogar auf Squelch gesetzt. Das können Sie bei meinem Buchmacher nachprüfen.« Gowery gab schlicht keine Antwort. Cranfield wiederholte sich. »Ja, ja«, sagte Gowery. »Ganz zweifellos. Nur ist das völlig irrelevant.« Mit offenem Mund setzte sich Cranfield wieder. Ich wußte genau, wie er sich fühlte. Nicht so sehr, als wäre er mit dem Kopf gegen eine Ziegelsteinmauer geknallt, sondern als würde er regelrecht von einer Klippe attackiert. Sie entließen Newtonnards, und er schlenderte lässig zu Charlie West hinüber, neben dem er Platz nahm. Was er gesagt hatte, wirkte nach und blieb im Gedächtnis der Offiziellen haften. Nicht einer hatte nach unterstützendem Beweismaterial gefragt. Nicht einer hatte vorgebracht, daß der Identitätsbeweis möglicherweise lückenhaft war. Deutlich stand ihnen die Überzeugung ins Gesicht geschrieben: Wenn einer auf Cherry Pie gesetzt und neunhundert Pfund gewonnen hatte, dann mußte es Cranfield gewesen sein. 37
Gowery war noch nicht fertig. Mit ruhiger Genugtuung nahm er ein weiteres Blatt zur Hand und sagte: »Mr. Cranfield, ich habe hier die eidesstattliche Erklärung einer Mrs. Joan Jones, die beim Lemonfizz Cup am Fünf-Pfund-Schalter des Totalisators beim Sattelplatz gearbeitet hat. Laut dieser Aussage hat sie zehn Siegwettscheine für Pferd Nummer acht an einen Mann mittleren Alters in beigefarbenem Mantel und Filzhut verkauft. Ich habe hier außerdem die ganz ähnliche Aussage eines Mr. Leonhard Roberts, der beim selben Meeting im selben Gebäude am Fünf-Pfund-Schalter ausgezahlt hat. Diese beiden Toto-Angestellten erinnern sich gut an den betreffenden Kunden, da es sich praktisch um die einzigen Fünf-Pfund-Scheine handelte, die für Cherry Pie verkauft wurden, jedenfalls um den einzigen größeren Block. Der Totalisator hat an diesen Mann über elfhundert Pfund in bar ausgezahlt. Mr. Roberts hat ihm geraten, nicht so viel bei sich zu tragen, aber der Mann hat diesen Rat ignoriert.« Wieder trat anklagendes Schweigen ein. Cranfield wirkte vollkommen verblüfft und wußte nichts zu sagen. Diesmal versuchte ich es für ihn. »Sir, hat dieser Mann am Totalisator noch auf andere Pferde dieses Rennens gesetzt? Hat er auf alle gesetzt, oder auf zwei oder drei oder vier, und nur zufällig einen Treffer gelandet?« »Mit Zufall hatte das nichts zu tun, Hughes.« »Hat er denn nun noch auf andere Pferde gesetzt?« Totenstille. »Sie haben sich doch erkundigt?« fragte ich besonnen. Ob sich nun jemand erkundigt hatte oder nicht, Gowery wußte es nicht. Er wußte nur, was in den eidesstattlichen Erklärungen stand. Er starrte mich steinern an und sagte: »Niemand setzt fünfzig Pfund auf einen Außenseiter, wenn er nicht guten Grund zu der Annahme hat, daß er gewinnen wird.« »Aber Sir...« 38
»Wir werden das jedoch feststellen«, sagte er. Er machte sich auf einer der beiden eidesstattlichen Erklärungen eine Notiz. »Es erscheint mir zwar äußerst unwahrscheinlich. Aber wir werden das ermitteln lassen.« Es gab keinen Hinweis darauf, daß er das Ergebnis abwarten würde, ehe er sein Urteil fällte. Und das tat er ja dann auch nicht.
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3 Verloren und unruhig strich ich ziellos durch die Wohnung. Machte mir den Kaffee warm. Trank ihn. Versuchte, an meine Eltern zu schreiben, und gab es nach einer halben Seite auf. Versuchte, so etwas wie eine Entscheidung über meine Zukunft zu treffen, und schaffte es nicht. Fühlte mich zu ramponiert. Zu kaputt. Zu fertig. Dabei hatte ich nichts getan. Nichts. Spätnachmittag. Die Stallburschen waren im Hof unter dem üblichen Gepfeife und Geflachse damit beschäftigt, die Pferde für die Nacht zu versorgen. Ich hielt mich von den Fenstern fern, ging irgendwann wieder ins Schlafzimmer zurück und legte mich aufs Bett. Der Tag begann zu verblassen. Dämmerung setzte ein. Nach Newtonnards hatten sie Tommy Timpson aufgerufen, der Cherry Pie geritten hatte. Tommy Timpson war dabei, für Cranfield »seine zwei abzureißen«, und ritt, was Cranfield ihm aus der zweiten Garnitur des Stalls zu reiten gab. Cranfield konnte zwischen drei Jockeys wechseln: mir, Chris Smith (der sich im Augenblick gerade von einer Schädelfraktur erholte) und Tommy. Tommy bekam die Brosamen und hätte Besseres verdient. Wie so viele Trainer erkannte Cranfield Talent auch dann nicht, wenn er es direkt vor der Nase hatte, und erst als mehrere kleine lokale Trainer Tommys Dienste anforderten, ging Cranfield auf, daß er im eigenen Stall einen brauchbaren, aufstrebenden Reiter hatte. Unfertig, neunzehn Jahre alt und ein Stotterer, war Tommy bei der Verhandlung in denkbar schlechter Verfassung. Er schaute so verschreckt drein wie ein zweijähriger Hengst vor seiner ersten Startmaschine, und obwohl er nichts für sein 40
Hosenflattern konnte, nützte das Cranfield und mir weniger als gar nichts. Lord Gowery gab sich keinerlei Mühe, ihm die Befangenheit zu nehmen, sondern stellte einfach Fragen und überließ es ihm, so gut es ging mit den Antworten zu Rande zu kommen. »Welche Anweisungen hat Ihnen Mr. Cranfield vor dem Rennen gegeben? Wie sollten Sie Cherry Pie reiten? Hat er Sie angewiesen, auf Sieg zu reiten?« Tommy stotterte und stammelte und sagte, Mr. Cranfield habe ihm gesagt, er solle sich während des ganzen Rennens knapp hinter Squelch halten und versuchen, ihn nach dem letzten Hindernis zu überholen. »Das ist das, was er gemacht hat«, sagte Cranfield ungehalten. »Nicht das, was ich ihm gesagt habe.« Gowery hörte sich das an, wandte sich an Tommy und sagte noch einmal: »Würden Sie uns bitte sagen, welche Anweisungen Ihnen Mr. Cranfield vor dem Rennen gegeben hat? Denken Sie genau nach.« Tommy schluckte, warf Cranfield einen gequälten Blick zu und versuchte es noch einmal: »M... M... M... Mr. Cranfield h... h... hat gesagt, ich s... s... soll mich an S... S... Squelch d... dranhängen und s... s... so lange dranbleiben, w... w... wie ich kann.« »Hat er Ihnen auch gesagt, Sie sollen gewinnen?« »N... n... natürlich hat er g... g... gesagt, s... s... sieh zu, daß du g... g... gewinnst, wenn du k... k... kannst.« Das waren einwandfreie Anweisungen. Nur das argwöhnischste und voreingenommenste Gemüt hätte eine Gaunerei hineindeuten können. Wenn diese Stewards nicht argwöhnisch und voreingenommen waren, würde in der Sahara Schnee fallen. »Haben Sie gehört, ob Mr. Cranfield Hughes Anweisungen gegeben hat, wie er Squelch reiten soll?«
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»N... nein, Sir. M... Mr. Cranfield h... hat Hughes überhaupt k... k... keine Anweisungen g... g... gegeben, Sir.« »Wieso nicht?« Tommy wich der Frage aus und sagte, das wisse er nicht. Cranfield warf wütend ein, daß Hughes das Pferd schon zwanzigmal geritten habe und wisse, was zu tun sei. »Oder hatten Sie es vorher unter vier Augen mit ihm besprochen?« Darauf hatte Cranfield keine aufbrausende Antwort, denn natürlich hatten wir es vorher besprochen. Ganz allgemein. Eine Einschätzung der Konkurrenz. Als Frage der allgemeinen Taktik. »Ich habe das Rennen mit ihm besprochen, jawohl. Aber ich habe ihm keine speziellen Anweisungen gegeben.« »Ihnen zufolge«, sagte Lord Gowery, »sollten Ihre Jockeys also beide versuchen zu gewinnen?« »Jawohl. Meine Pferde geben immer ihr Bestes.« Gowery schüttelte den Kopf. »Ihre Einlassung wird von den Fakten nicht bestätigt.« »Wollen Sie behaupten, daß ich lüge?« fragte Cranfield. Gowery gab keine Antwort. Aber darauf lief es hinaus. Sie scheuchten einen hochgradig erleichterten Tommy Timpson weg, und Cranfield neben mir kochte weiter am Siedepunkt vor sich hin. Mir dagegen wurde es immer kälter, und dagegen kam keine noch so stark aufgedrehte Zentralheizung an. Ich dachte, daß wir nun wohl alles gehört hatten, aber ich irrte mich. Das Schlimmste hatten sie sich bis zuletzt aufgehoben, hatten die Pyramide belastender Aussagen immer höher gebaut, bis sie schließlich den Schlußstein darauf setzen, zurücktreten und ihr unerschütterliches Bauwerk, ihr solides, unwiderlegbares Schuldkonstrukt bewundern konnten. Das Schlimmste hatte zunächst ganz harmlos ausgesehen. Ein ruhiger, schlanker Mann Anfang Dreißig, mit einem Gesicht, das man sofort wieder vergaß. Nach vierundzwanzig 42
Stunden konnte ich mich weder an sein Gesicht noch an seine Stimme erinnern, dabei zitterte ich immer noch vor ohnmächtiger, Übelkeit erregender Wut, wenn ich bloß an ihn dachte. Sein Name war David Oakley. Sein Beruf Ermittler. Sein Wohnort Birmingham. In der Hand einen Spiralblock, den er immer wieder zu Rate zog, stand er ohne zu zappeln an einer Seite des Tisches der Stewards, und von Anfang bis Ende trübte nicht der Schatten einer Gefühlsregung sein Gesicht, sein Verhalten oder gar seinen Blick. »Weisungsgemäß stattete ich zwei Tage nach dem Lemonfizz Crystal Cup der Wohnung von Kelly Hughes, Jockey, im Trainingsstall Corrie House, Corrie, Berkshire, einen Besuch ab.« Ich fuhr mit einem Ruck hoch und machte den Mund auf, um es abzustreiten, aber ehe ich noch ein Wort sagen konnte, fuhr er zügig fort: »Mr. Hughes war nicht anwesend, aber die Tür stand offen, deshalb betrat ich die Wohnung, um auf ihn zu warten. Dabei machte ich gewisse Beobachtungen.« Er hielt inne. »Was soll das alles?« wollte Cranfield von mir wissen. »Keine Ahnung. Ich habe ihn noch nie gesehen.« Gowery blieb bei der Holzhammermethode. »Sie haben bestimmte Gegenstände gefunden.« »Ja, Mylord.« Gowery sortierte drei große Umschläge aus seinen Papieren aus und reichte je einen an Tring und Plimborne weiter. Ferth war ihnen zuvorgekommen. Er hatte aus einem ganz ähnlichen Umschlag den Inhalt entnommen, sobald Oakley erschienen war, und betrachtete mich nun, wie ich sah, mit erkennbarer Verachtung. In jedem Umschlag steckte ein Foto.
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»Das Foto«, sagte Oakley, »zeigt Gegenstände, die ich auf einer Kommode in Hughes Schlafzimmer gefunden habe.« Andy Tring sah es an, sah genauer hin und hob dann entsetzt das Gesicht, wobei sich zufällig und zum ersten und einzigen Mal unsere Blicke trafen. Verlegen und angewidert wandte er rasch die Augen ab. »Ich will dieses Foto sehen«, sagte ich heiser. »Aber gewiß doch.« Lord Gowery drehte seinen Abzug um und schob es über den Tisch. Ich stand auf, ging die drei Schritte, die uns trennten, und blickte darauf hinab. Mehrere Sekunden lang begriff ich es gar nicht, und als ich es dann begriff, verschlug es mir vor Ungläubigkeit den Atem. Das Foto war von oberhalb der Kommode aufgenommen und gestochen scharf. Man sah eine Ecke des silbernen Rahmens und die Hälfte von Rosalinds Gesicht, und unter dem Rahmen, als wäre er als Briefbeschwerer verwendet worden, schaute ein Blatt Papier hervor, das das Datum des Tages nach dem Lemonfizz trug. Auf dem Blatt standen drei Worte und zwei Initialen. Wie vereinbart. Danke. D. C. Quer über dem unteren Teil des Blattes lagen, wie ein Kartenspiel aufgefächert, eine ziemliche Menge Zehnpfundnoten. Ich schaute auf, mein Blick traf auf den Lord Gowerys, und ich zuckte beinahe zurück vor der absoluten Gewißheit, die ich darin erkannte. »Das ist eine Fälschung«, sagte ich. Meine Stimme klang eigenartig. »Das ist eine infame Fälschung.« »Was ist das?« sagte Cranfield hinter mir, und auch aus seiner Stimme konnte jeder die Ahnung der Katastrophe heraushören.
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Ich nahm das Foto in die Hand und brachte es zu ihm, und dabei spürte ich meine Füße auf dem Teppich nicht. Als Cranfield erfaßt hatte, was das Foto bedeutete, stand er langsam auf und sagte mit leiser, schneidender Stimme sehr förmlich: »Mylords, wenn Sie das glauben, dann glauben Sie alles.« Es hatte nicht den geringsten Effekt. Gowery sagte lediglich: »Das ist ja wohl Ihre Handschrift.« Cranfield schüttelte den Kopf. »Ich habe das nicht geschrieben.« »Bitte seien Sie so freundlich und schreiben Sie genau diese Worte auf dieses Blatt Papier.« Gowery schob ein leeres Blatt Papier über den Tisch, und nach kurzem Zögern ging Cranfield hin und schrieb darauf. Jeder wußte, daß die beiden Proben sich gleichen würden, und so war es auch. Gowery reichte das Blatt mit vielsagendem Blick an die anderen Stewards weiter, sie verglichen alle und nickten. »Das ist eine Fälschung«, wiederholte ich. »Ich habe so einen Brief nie bekommen.« Gowery ignorierte mich. Er sagte zu Oakley: »Bitte schildern Sie uns, wo Sie das Geld gefunden haben.« Oakley zog unnötigerweise seinen Spiralblock zu Rate. »Das Geld wurde von einem Gummiband zusammengehalten und war in den Brief eingelegt, und beides steckte hinter dem Foto von Hughes’ Freundin, das Sie auf dem Bild sehen.« »Das ist nicht wahr«, sagte ich. Ich hätte es genausogut bleiben lassen können. Niemand hörte zu. »Sie haben das Geld vermutlich gezählt?« »Ja, Mylord. Es waren fünfhundert Pfund.« »Da war kein Geld«, protestierte ich. Sinnlos. »Und überhaupt«, fügte ich verzweifelt hinzu, »wieso sollte ich fünfhundert dafür nehmen, daß ich das Rennen verliere, wenn ich für einen Sieg ungefähr genausoviel bekäme?«
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Einen Moment lang dachte ich, ich hätte einen Treffer gelandet. Hätte sie zum Nachdenken gebracht. Ein Hirngespinst. Sie hatten auch darauf eine Antwort. »Wie wir von Mr. Kessel, dem Besitzer von Squelch, erfahren haben«, sagte Gowery ungerührt, »zahlt er Ihnen ganz offiziell per Scheck zehn Prozent des Preisgeldes. Das heißt, sämtliche Zuwendungen, die Sie von Mr. Kessel erhalten, unterliegen der Steuer. Und da Sie nach unseren Informationen in einer hohen Steuerklasse sind, wären Ihre zehn Prozent von Mr. Kessel unterm Strich auf die Hälfte oder weniger als die Hälfte von fünfhundert Pfund hinausgelaufen.« Offenbar hatten sie meine wirtschaftliche Lage bis auf den letzten Penny untersucht. Hatten nach allen Richtungen herumgestochert. Ich hatte zwar nie versucht, etwas zu verbergen, aber vor dieser Schnüffelei hinter meinem Rücken kam ich mir nackt vor. Fühlte mich außerdem abgestoßen. Und hatte schließlich keine Hoffnung mehr. Erst da wurde mir klar, daß ich mich unbewußt an den Kinderglauben geklammert hatte, daß sich alles aufklären würde, daß man mir, weil ich die Wahrheit sagte, am Ende glauben mußte. Ich starrte zu Lord Gowery hinüber, der meinen Blick kurz erwiderte. Sein Gesicht war ausdruckslos, sein Gebaren völlig gelassen. Er hatte seine Schlüsse gezogen, und nichts konnte sie über den Haufen werfen. Lord Ferth, neben ihm, war weniger unbeirrt, aber ein Großteil seiner früheren Hitze schien sich verflüchtigt zu haben. Die Energie, die er entwickelt hatte, bekümmerte Gowery offenbar überhaupt nicht mehr, und aus seinem Gesichtsausdruck konnte ich nur noch eine Art resigniertes Sich-Abfinden herauslesen. Es blieb nur noch wenig zu sagen. Lord Gowery faßte kurz das Belastungsmaterial gegen uns zusammen. Die Liste der früheren Rennen. Das Nicht-Benutzen der Peitsche. Die Aussage von Charlie West. Die auf Cherry Pie 46
abgeschlossenen Wetten. Die unter vier Augen erteilten Anweisungen. Der fotografische Beweis einer Zahlung von Cranfield an Hughes. »Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß es sich hier um einen eklatanten Betrug am Rennpublikum handelt... Keine andere Wahl, als Ihnen die Lizenz zu entziehen... Und Sie, Dexter Cranfield, und Sie, Kelly Hughes, werden bis auf weiteres von Newmarket Heath verwesen.« Bleich und zitternd sagte Cranfield: »Ich protestiere. Das war keine faire Verhandlung. Weder Hughes noch ich sind schuldig. Das Urteil ist hanebüchen.« Keinerlei Reaktion von Lord Gowery. Lord Ferth dagegen ergriff zum zweitenmal während des Verfahrens das Wort. »Hughes?« »Ich habe Squelch auf Sieg geritten«, sagte ich. »Die Zeugen haben gelogen.« Gowery schüttelte ungeduldig den Kopf. »Die Verhandlung ist geschlossen. Sie können gehen.« Cranfield und ich zögerten beide, immer noch unfähig, uns damit abzufinden, daß das alles gewesen sein sollte. Aber der Offizielle neben der Tür öffnete sie, auf den Plätzen gegenüber begann man sich leise miteinander zu unterhalten, ohne uns zu beachten, und schließlich gingen wir hinaus. Ich steifbeinig. Mit einem Gefühl, als wäre mein Kopf ein schwimmender Fußball und mein Körper ein Eisblock. Unwirklich. Draußen im Warteraum hielten sich mehrere Leute auf, aber ich nahm sie gar nicht richtig wahr. Die Lippen fest zusammengepreßt, entfernte sich Cranfield von mir und schritt, ein, zwei Hände abschüttelnd, die ihn am Ärmel zupften, quer durch den Raum zur Tür hinaus. Wie betäubt schickte ich mich an, ihm zu folgen, war aber weniger energisch und wurde von einem korpulenten Mann gestoppt, der sich mir kurzerhand in den Weg stellte.
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Ich sah ihn geistesabwesend an. Mr. Kessel. Der Besitzer von Squelch. »Und?« sagte er herausfordernd. »Sie haben uns nicht geglaubt. Wir sind beide gesperrt worden.« Er stieß zischend den Atem aus. »Nach dem, was ich gehört habe, wundert mich das nicht. Und eins sage ich Ihnen, Hughes, auch wenn Sie Ihre Lizenz zurückbekommen, für mich reiten Sie nicht mehr.« Ich sah ihn ausdruckslos an. Nach allem, was passiert war, kam es darauf auch nicht mehr an. Er hatte im Warteraum mit den Zeugen geredet. Anscheinend überzeugten sie jeden. Manche Besitzer waren auch unter normalen Umständen unberechenbar. Einen Tag hatten sie alles Vertrauen der Welt zu ihrem Jockey und am nächsten überhaupt keins mehr. Ein Vertrauen auf schwachen Beinen. Wegen der einen Niederlage hatte Mr. Kessel sämtliche Rennen vergessen, die ich für ihn gewonnen hatte. Ich wandte mich blindlings von ihm und seiner Feindseligkeit ab und wurde gleich darauf von jemand Willkommenerem am Arm gefaßt. Tony, der mit mir hergefahren war, anstatt seinen Pferden bei der Arbeit zuzusehen. »Na los«, sagte er. »Verschwinden wir von hier.« Ich nickte, und wir fuhren im Fahrstuhl hinunter und gingen durch die Eingangshalle auf die Tür zu. Davor konnten wir eine Schar Zeitungsreporter sehen, die mit gezückten Notizblöcken Cranfield überfielen. Bei diesem Anblick blieben Tony und ich wie angewurzelt stehen. »Warten wir, bis sie weg sind«, sagte ich. »Die gehen nicht. Nicht, bevor sie dich auch noch fertiggemacht haben.« Wir blieben unschlüssig stehen, und hinter mir rief eine Stimme: »Hughes.« 48
Ich drehte mich nicht um. Ich fand, daß ich niemandem die geringste Höflichkeit schuldete. Die Schritte hinter mir kamen näher, und schließlich blieb er vor mir stehen. Lord Ferth. Erschöpfung im Gesicht. »Hughes. Sagen Sie mir eins: Warum haben Sie das bloß getan?« Ich sah ihn steinern an. »Ich habe es nicht getan.« Er schüttelte den Kopf. »Aber all die Beweise...« »Sagen Sie mir doch mal«, gab ich grob zurück, »warum anständige Leute wie die Stewards so ohne weiteres einen Haufen Lügen glauben.« Ich wandte mich von ihm ab. Machte eine kurze Kopfbewegung zu Tony hin und eilte Richtung Ausgang. Zum Teufel mit der Presse. Zum Teufel mit den Stewards und Mr. Kessel. Und mit allem, was mit dem Rennsport zu tun hatte. Die aufwallende Wut brachte mich aus dem Gebäude hinaus und über fünfzig Meter Bürgersteig am Portman Square, und sie schlug erst dann in quälendes Elend um, als wir in das Taxi gestiegen waren, das Tony heranpfiff. Tony trampelte die Treppe zu der dunklen Wohnung hinauf. »Bist du da, Kelly?« hörte ich ihn rufen. Ich rappelte mich vom Bett hoch, stand auf, streckte mich, ging ins Wohnzimmer hinaus und machte Licht. Er stand, ein Tablett in den Händen, blinzelnd in der anderen Tür. »Poppy hat darauf bestanden«, erklärte er. Er stellte das Tablett auf den Tisch und nahm das darübergelegte Tuch ab. Poppy hatte eine heiße Hühnerpastete, eine Tomate und etwa ein halbes Pfund Brie geschickt. »Sie sagt, du hättest seit zwei Tagen nichts gegessen.« »Wird schon stimmen.« »Dann hau rein.« Er ging instinktiv auf die Whiskyflasche los und goß großzügig in zwei Gläser ein. 49
»Hier. Trink das ausnahmsweise mal.« Ich griff nach dem Glas, nahm einen Schluck und spürte das Feuer in meiner Brust nach unten rinnen. Der erste Schluck war immer der beste. Tony kippte seinen hinunter und verordnete sich einen zweiten. Ich aß die Pastete, die Tomate und den Käse. Der Hunger, den ich gar nicht bewußt wahrgenommen hatte, drehte sich zufriedengestellt auf die Seite und schlief ein. »Hast du einen Moment Zeit?« fragte ich. »Klar doch.« »Ich würde dir gern von der Verhandlung erzählen.« »Nur zu«, sagte er erfreut. »Darauf warte ich schon die ganze Zeit.« Ich erzählte ihm fast Wort für Wort alles, was passiert war. Wie nur bei Katastrophen, hatte sich jedes Detail rasiermesserscharf in mein Gedächtnis eingeätzt. Tonys Erstaunen war offensichtlich. »Man hat dich reingelegt!« »Stimmt.« »Aber mit so was kann man doch unmöglich durchkommen.« »Irgendwem scheint das aber sehr gut zu gelingen.« »Aber hast du denn gar nichts sagen können, um zu beweisen...« »Gestern ist mir nichts eingefallen, und nur darauf kommt es an. Hinterher, wenn es zu spät ist, ist es immer leicht, sich lauter schlaue, kluge Sachen einfallen zu lassen, die man hätte sagen können.« »Was denn zum Beispiel?« »Als erstes hätte ich wahrscheinlich gefragt, wer diesem sogenannten Ermittler Weisung gegeben hat, meine Wohnung zu durchsuchen. Weisungsgemäß, hat er gesagt. Wessen Weisung eigentlich? Gestern habe ich nicht daran gedacht zu
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fragen. Mittlerweile ist mir klar, daß das alles schon erklären könnte.« »Du bist davon ausgegangen, daß er im Auftrag der Stewards handelt?« »Wahrscheinlich schon. Ich habe gar nicht richtig nachgedacht. Die meiste Zeit war ich so durcheinander, daß ich überhaupt nicht klar denken konnte.« »Vielleicht waren es ja die Stewards.« »Glaub ich nicht. Es ist vielleicht gerade noch denkbar, daß sie einen Ermittler schicken, obwohl es im Grunde unwahrscheinlich ist, wenn man sich’s nüchtern überlegt. Aber daß sie ihm fünfhundert Pfund und einen gefälschten Brief in die Hand drücken und ihm sagen, er soll das Zeug an einer unverwechselbaren Stelle in meiner Wohnung fotografieren, das ist einfach nicht drin. Trotzdem hat er’s gemacht. Auf wessen Anweisung?« »Er hätte es dir nicht gesagt, auch wenn du gefragt hättest.« »Wahrscheinlich nicht. Aber immerhin hätte es vielleicht auch die Stewards ein bißchen zum Nachdenken gebracht.« Tony schüttelte den Kopf. »Er hätte trotzdem behauptet, daß er das Geld hinter Rosalinds Bild gefunden hat. Sein Wort hätte gegen deins gestanden. Alles wie gehabt.« Er blickte düster in sein Glas. Ich blickte düster in meins. »Charlie West, dieser kleine Mistkerl«, sagte ich. »Den hat auch jemand geschmiert.« »Du hast ja wohl nicht wirklich gesagt: ›Okay, Jungs, Bremsen anziehen.‹« »Doch, ich hab es gesagt. Natürlich nicht im Lemonfizz, sondern ein paar Wochen davor, in diesem fürchterlichen Nachwuchs-Jagdrennen in Oxford, an dem Tag, an dem die letzten beiden Rennen abgesagt wurden, weil es geschneit hat. Ich habe mit diesem grauenhaft schlechten Sprinter, den der alte Almond nicht richtig geschult hat, jedes Hindernis getroffen, und von den anderen Startern war die Hälfte genauso 51
grün; ein ganzer Haufen von uns lag ungefähr zwanzig Längen hinter den vier zurück, die halbwegs was taugten, es fiel Schneeregen, und ich hatte keine Lust, mir bei null Grad noch was zu brechen, also habe ich, als wir an der bewußten Stelle von der Tribüne aus nicht mehr zu sehen waren, gerufen: ›Okay, Jungs, Bremsen anziehen‹, und die meisten von uns haben schwer erleichtert das Tempo rausgenommen und das Rennen erheblich langsamer beendet, als wir gekonnt hätten. Auf das Ergebnis hatte das natürlich überhaupt keinen Einfluß. Aber es war nun mal so. Ich habe es gesagt. Und Charlie West hat es außerdem noch gehört. Er hat es bloß in ein anderes Rennen verlegt.« »Scheißkerl.« »Da bin ich deiner Meinung.« »Vielleicht hat ihn auch gar niemand geschmiert. Vielleicht hat er bloß geglaubt, er kriegt ein paar Ritte mehr, wenn er dich aus dem Weg schafft.« Ich dachte darüber nach und schüttelte den Kopf. »Daß er so ein Scheißkerl ist, glaube ich nun auch wieder nicht.« »Das weiß man nie.« Tony leerte sein Glas und füllte es geistesabwesend nach. »Was ist mit dem Buchmacher?« »Newtonnards? Keine Ahnung. Vermutlich das gleiche. Irgendwer hat auch Cranfield auf dem Kieker. Uns beide, wie es aussieht. Die Stewards konnten schlecht nur einen von uns sperren, so hübsch wie wir miteinander verbandelt waren.« »Es macht mich fuchsteufelswild. Eine Schweinerei.« Ich nickte. »Noch was war an der Verhandlung auffällig. Irgendeine sehr starke Unterströmung. Jedenfalls war sie am Anfang stark. Irgendwas zwischen Lord Gowery und Lord Ferth. Und dazu Andy Tring, der hockte da wie ein verwelkter Salat.« Ich schüttelte verwirrt den Kopf. »Es war, wie wenn zwei riesige Tiere im Unterholz lauern, die gleich aufeinander losgehen. Man konnte sie nicht sehen, aber es lag eine Art
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Vibrieren in der Luft. Jedenfalls habe ich es irgendwann so empfunden...« »Stewards sind Männer«, sagte Tony mit prosaischer Sachlichkeit. »Zeig mir eine Organisation, bei der hinter der kultivierten Fassade nicht irgendwelche Machtkämpfe ausgetragen werden. Was du da mitgekriegt hast, war nichts als der sattsam bekannte Hauch Schwefel. Hatte nichts damit zu tun, ob ihr beide schuldig seid oder nicht.« Ich war halb überzeugt. Er putzte den restlichen Whisky weg und meinte, ich solle nicht vergessen, neuen zu kaufen. Geld. Das war auch so etwas. Seit gestern hatte ich kein Einkommen mehr. Freiberuflern zahlte der Wohlfahrtsstaat keine Arbeitslosenunterstützung, eine Tatsache, an die sich jeder Jockey in jedem schneereichen Winter erinnerte. »Ich krieg’s raus«, sagte ich abrupt. »Was kriegst du raus?« »Wer uns reingelegt hat.« »Zum Angriff«, sagte Tony mit schwankender Stimme. »Sprung auf marsch, marsch! Auf sie mit Gebrüll!« Er griff nach der leeren Flasche und beäugte sie bedauernd. »Zeit zum Schlafengehen, denke ich. Falls du bei deinem Feldzug Hilfe brauchst, kannst du bis zum letzten Tröpfchen auf mein walisisches Blut zählen.« Er ging in schnurgerader Linie zur Tür, drehte sich um und schenkte mir ein Grinsen echter Freundschaft. »Fall nicht die Treppe runter«, sagte ich.
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TEIL II
März 4 Roberta Cranfield sah in meinem Wohnzimmer hinreißend aus. Ich hatte im Dorf Whisky gekauft und fand sie bei meiner Rückkehr anmutig auf meinen restaurierten Chippendale hingegossen. Der grüne Samt hatte viel Bein und ein dunkelviolettes Wollkleid Größe 36 zu tragen, und ihr dichtes langes Haar von der Farbe abgestorbener Buchenzweige biß sich auf dramatische Weise mit den Vorhängen. Unterhalb der Haare hatte sie eine weiße Haut, unglaubliche Augenbrauen, bernsteinfarbene Augen, fotogene Wangenknochen und einen pikierten Mund. Sie war neunzehn, und ich mochte sie nicht. »Guten Morgen«, sagte ich. »Die Tür war offen.« »Eine Angewohnheit, die ich unbedingt ablegen muß.« Ich schälte das Einwickelpapier von der Flasche und stellte sie zu den beiden klobigen Gläsern auf das kleine Silbertablett, Siegestrophäe eines Rennens, das irgendein Süßwarenhersteller gesponsert hatte. Troygewicht vierundzwanzig Unzen, nur leider verhunzt durch die Gravur: K. HUGHES, 1. PLATZ, STARCHOCS SILVER STEEPLECHASE. Starchocs, weiß Gott. Dabei aß ich überhaupt keine Schokolade. Das konnte ich mir aus Gewichtsgründen nicht leisten. Roberta machte eine anmutig schlaffe Handbewegung, die den ganzen Raum einschloß. »Ist ja ziemlich luxuriös hier.« Ich fragte mich, weshalb sie gekommen war. »Möchten Sie einen Kaffee?« 54
»Kaffee und Hasch.« »Dann müssen Sie woanders hingehen.« »Sie sind aber stachelig.« »Der reinste Kaktus«, pflichtete ich bei. Eine halbe Minute lang sah sie mich mit ihren glänzenden Augen unverwandt an. Dann meinte sie: »Das mit dem Hasch habe ich nur gesagt, um Sie zu schocken.« »Ich bin nicht geschockt.« »Ja, das sehe ich auch. Verschwendete Mühe.« »Also Kaffee?« »Ja.« Ich ging in die Küche und setzte die Kaffeemaschine in Gang. Die Küche war in weiß, braun, kupferrot und gelb gehalten. Die Farben gefielen mir. Farben waren für mich eine Art seelischer Nahrung, wie sie andere, so stellte ich mir vor, aus der Musik bezogen. Zuviel Musik war mir zuwider, ich haßte das unvermeidliche Gedudel in Restaurants und Flugzeugen, besaß keinen Plattenspieler und hatte sehr viel für Stille übrig. Sie kam mir aus dem Wohnzimmer nach und sah sich milde erstaunt um. »Wohnen alle Jockeys so?« »Natürlich.« »Das glaub ich nicht.« Sie lugte in den Schrank mit der Kiefernholzfront, aus dem ich den Kaffee geholt hatte. »Bekochen Sie sich selber?« »Meistens.« »Exotische Sachen wie Schaschlik?« Ein spöttischer Unterton. »Steaks.« Ich goß den blubbernden Kaffee in zwei Becher und bot ihr Milch und Zucker an. Sie nahm reichlich Milch, aber keinen
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Zucker, und setzte sich auf einen Hocker mit gelber Sitzfläche. Ihr Kupferhaar paßte auch in die Küche. »Allzu tragisch scheinen Sie’s ja nicht zu nehmen«, sagte sie. »Was?« »Die Sperre.« Ich gab keine Antwort. »Ein Kaktus«, sagte sie, »kann von Ihnen noch was lernen.« Langsam, in kleinen, voneinander abgesetzten Schlucken trank sie den Kaffee und betrachtete mich dabei gedankenvoll über den Becherrand hinweg. Ich erwiderte ihren Blick. Fast so groß wie ich, total beherrscht und so kühl wie die Stratosphäre. Ich hatte sie von einem anstrengenden Kind zu einer egoistischen Vierzehnjährigen, einer schwer zufriedenzustellenden Debütantin und schließlich zu einem Hochglanz-Abziehbild von einem Mädchen mit schweren Einschlägen von Langeweile aufwachsen sehen. In den acht Jahren, die ich für ihren Vater ritt, waren wir uns – gewöhnlich in Führringen oder vor der Waage – immer nur kurz begegnet und hatten kaum miteinander gesprochen, und wenn sie einmal das Wort an mich richtete, schien sie immer knapp über meinen Kopf hinwegzureden. »Sie machen es mir nicht leicht«, sagte sie. »Damit herauszurücken, weshalb Sie gekommen sind?« Sie nickte. »Ich dachte, ich kenne Sie. Aber das stimmt offenbar nicht.« »Was haben Sie denn erwartet?« »Na ja... Vater hat gesagt, Sie kämen aus einem Bauernhaus, wo die Schweine zur Tür rein- und rausgelaufen sind.« »Vater übertreibt.« Sie hob das Kinn, um die Vertraulichkeit zurückzuweisen, eine Geste, die ich bei ihr und ihren Brüdern hundertmal gesehen hatte. Eine von ihren Eltern abgeschaute Geste. »Hühner«, sagte ich. »Nicht Schweine.«
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Sie bedachte mich mit einem blasierten Blick. Ich schenkte ihr ein schwaches Lächeln und ließ mich nicht degradieren. Ich sah förmlich, wie die Rädchen sich drehten, während sie sich überlegte, wie man an einen Kaktus herankommt, und allmählich senkte sich das Kinn. »Richtige Hühner?« Gar nicht schlecht. Ich spürte, wie mein Lächeln aufrichtig wurde. »Ab und zu.« »Sie wirken nicht wie jemand, der... ich meine...« »Ich weiß genau, was Sie meinen. Und es wird höchste Zeit, daß Sie die Ketten loswerden.« »Ketten? Wovon reden Sie eigentlich?« »Die Fesseln in Ihrem Kopf. Die Gitterstäbe in Ihrer Seele.« »Meinem Kopf fehlt nichts.« »Sie machen wohl Witze. Er ist gerammelt voll mit Vorstellungen, die schon seit fünfzig Jahren überholt sind.« »Ich bin nicht hergekommen, um...« begann sie aufbrausend und hielt dann inne. »Sie sind nicht hergekommen, um sich beleidigen zu lassen«, sagte ich ironisch. »Nein, das bin ich nicht, um bei Ihrer abgedroschenen Formulierung zu bleiben. Aber das habe ich auch gar nicht sagen wollen.« »Weshalb sind Sie gekommen?« Sie zögerte. »Ich möchte, daß Sie mir helfen.« »Wobei?« »Dabei... Vater wiederaufzurichten.« Ich war überrascht – erstens darüber, daß man Vater wiederaufrichten mußte, und zweitens darüber, daß sie dabei Hilfe brauchte. »Wie soll diese Hilfe aussehen?« »Er... er ist völlig am Boden zerstört.« Unerwarteterweise traten ihr Tränen in die Augen. Sie waren ihr peinlich und 57
ärgerten sie, und sie blinzelte heftig, damit ich nichts merkte. Ich bewunderte die Tränen, nicht aber den Grund, warum sie sie zu verbergen suchte. »An Ihnen läuft alles ab«, brach es aus ihr hervor, »Sie kaufen Whisky und kochen Kaffee, als wäre keine riesige Lawine auf Sie niedergegangen und hätte Ihr Leben plattgewalzt und jeden Gedanken zur Qual gemacht, und vielleicht verstehen Sie nicht, daß jemand in diesem Zustand Hilfe braucht, und warum Sie keine Hilfe brauchen, kapiere ich sowieso nicht, aber Vater braucht jedenfalls welche.« »Nicht von mir«, sagte ich sanft. »Er hält nicht genug von mir, um sie annehmen zu können.« Sie machte wütend den Mund auf, schloß ihn wieder und atmete zweimal tief durch, um ihre Fassung wiederzugewinnen. »Es sieht so aus, als hätte er damit recht.« »Autsch«, sagte ich reumütig. »Also, wie soll diese Hilfe aussehen?« »Ich möchte, daß Sie mitkommen und mit ihm reden.« Ein Gespräch zwischen mir und Cranfield kam mir ungefähr so sinnvoll vor, wie wenn man ein Baby mit Juckpulver bestreut. Sie hatte mir allerdings nicht mehr viel Raum gelassen, mir vorzumachen, daß Sinnlosigkeit ein ausreichender Grund war, es nicht wenigstens zu versuchen. »Wann?« »Jetzt gleich... falls Sie nichts anderes zu tun haben.« »Nein«, sagte ich bedächtig, »hab ich nicht.« Sie zog ein Gesicht und machte mit den Händen eine seltsame kleine Geste. »Würden Sie dann gleich mitkommen... bitte?« Sie schien von dem echten Flehen, das in diesem »bitte« lag, selbst überrascht zu sein. Ich stellte mir vor, daß sie eher damit gerechnet hatte, Anweisungen geben zu können, als bitten zu müssen. 58
»Na gut.« »Großartig.« Mit einem Schlag war sie wieder ganz kühl, ganz Tochter des Brötchengebers. Sie stellte ihren Kaffeebecher in die Spüle und ging Richtung Tür. »Sie fahren mir am besten in Ihrem Wagen nach. Es hat keinen Sinn, daß ich Sie mitnehme, Sie brauchen Ihren Wagen dann ja, um zurückzukommen.« »So ist es«, pflichtete ich bei. Sie sah mich argwöhnisch an, entschloß sich dann aber, nicht weiter darauf einzugehen. »Mein Mantel liegt in Ihrem Schlafzimmer.« »Ich hole ihn.« »Danke.« Ich ging durchs Wohnzimmer ins Schlafzimmer. Ihr Mantel lag achtlos hingeworfen auf meinem Bett. Schwarzer und weißer Pelz in umlaufenden Streifen. Ich hob ihn auf, drehte mich um und stellte fest, daß sie mir gefolgt war. »Vielen Dank.« Sie kehrte mir den Rücken zu und nahm die Arme leicht nach hinten. Ich half ihr in den Mantel. Während sie ihn mit schwarzen, glänzenden, handtellergroßen Knöpfen schloß, drehte sie sich langsam im Kreis. »Die Wohnung ist wirklich phantastisch. Wer ist Ihr Innenarchitekt?« »Ein Knabe namens Kelly Hughes.« Sie hob die Augenbrauen. »Ich weiß, was professionelle Arbeit ist.« »Danke schön.« Sie hob das Kinn. »Na gut, wenn Sie’s nicht sagen wollen...« »Ich will es ja sagen. Ich hab’s gesagt. Ich kalke schon seit meinem sechsten Lebensjahr Schweineställe.« Sie wußte nicht recht, ob sie belustigt oder beleidigt sein sollte, und wich der Frage aus, indem sie das Thema wechselte. »Das Bild da... das ist Ihre Frau, nicht wahr?« Ich nickte.
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»Ich kann mich noch an sie erinnern«, sagte sie. »Sie war immer unheimlich nett zu mir. Irgendwie hat sie gewußt, wie’s mir ging. Es tat mir wirklich schrecklich leid, daß sie gestorben ist.« Ich sah sie überrascht an. Am nettesten war Rosalind immer zu unglücklichen Menschen gewesen. Sie hatte die Gabe gehabt, das zu spüren und ungefragt Beistand zu leisten. Daß Roberta Cranfield unglücklich war, hätte ich nicht geglaubt, obwohl sie zwischen zwölf und fünfzehn, als sie Rosalind gekannt hatte, durchaus ihre Probleme gehabt haben mochte. »Für eine Ehefrau war sie gar nicht übel«, sagte ich schnodderig, und Miss Cranfield mißbilligte auch das. Wir verließen die Wohnung, und diesmal schloß ich die Tür ab, obwohl das Pferd gewissermaßen schon gestohlen war. Roberta hatte ihren Sunbeam Alpine hinter den Stallungen geparkt, gegenüber dem Tor der Garage, in der ich meinen Lotus abstellte. Sie wendete ihren Wagen mit aggressiver Selbstsicherheit, und ich ließ, ehe ich ihr durch die Einfahrt folgte, einen geruhsamen Abstand, um ein Wettrennen über die knapp dreißig Kilometer bis zu ihr nach Hause zu vermeiden. Cranfield bewohnte ein Haus aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert in einem kleinen Ort sechs Kilometer außerhalb von Lambourn. In der Sprache der Immobilienmakler ein Landsitz für gehobene Ansprüche: erbaut, ehe die industrielle Revolution nach Berkshire vorgedrungen war, und gleichermaßen unberührt von der sozialen Revolution hundert Jahre später. Elegant, wunderschön und zeitlos, war es ein Haus, das ich sehr mochte. Nur viel zu schade für die Bewohner. Ich nahm wie üblich die hintere Einfahrt und parkte auf dem Hof vor dem Stall. Dort stand ein Pferdetransporter mit heruntergelassener Rampe, und einer der Stallburschen führte gerade ein Pferd hinein. Archie, der erste Stallbursche, der
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dabei half, kam zu mir herüber, sobald ich aus dem Wagen stieg. »Eine ganz verfluchte Geschichte ist das«, sagte er. »Eine Gemeinheit, und was für eine. Eine Riesengemeinheit.« »Kommen die Pferde weg?« »Manche Besitzer haben ihre Transporter schon geschickt. Bis übermorgen sind sie alle weg.« Sein wettergegerbtes Gesicht zeigte eine Mischung aus Wut, Enttäuschung und Sorge. »Sämtliche Stallburschen sind geflogen. Ich auch. Dabei haben die Frau und ich grad eine Hypothek für eins von den neuen Häusern weiter oben an der Straße aufgenommen. Ein Bungalow im Landhausstil, genau das, was sie immer gewollt hat. Jahrelang hat sie dafür gearbeitet und gespart. Jetzt heult sie nur noch. Vor einem Monat sind wir erst eingezogen, stell dir das mal vor! Was meinst du wohl, wie wir die Raten aufbringen sollen? Unser letztes Geld ist dafür draufgegangen, für die Anzahlung, den Notar, Vorhänge und Pipapo. Richtig schön ist es geworden, richtig schön hat sie’s hingekriegt. Und dabei hat der Chef das blöde Rennen noch nicht mal verschoben. Daß Cherry Pie mal gut wird, das hat doch ein Blinder mit Krückstock sehen können. Also, wenn der Chef wirklich getrickst hätte, dann wär das alles nicht so schlimm. Wenn er’s verdient hätte, geschäh’s ihm recht, und ich würd versuchen, mir ’ne Entschädigung von ihm zu holen, weil, das Haus wieder verkaufen, das wird ganz schön schwierig, das sag ich dir, zwei davon stehen nämlich immer noch leer, die Dinger haben sich von Anfang an nicht so gut verkauft, bei der Entfernung von Lambourn... ich sag dir ganz offen, wär’n wir bloß nie aus dem Cottage vom Chef ausgezogen, und wenn’s noch so duster und feucht war... George«, brüllte er plötzlich einen Stallburschen an, der fluchend an einem scheuenden Tier zerrte, »laß es gefälligst nicht an ihm aus, der kann nichts dafür...« Er eilte quer über den Hof und kümmerte sich selbst
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um das Pferd, das sich sofort beruhigte und problemlos in den Transporter führen ließ. Er war ein ausgezeichneter erster Stallbursche, besser als die meisten, und ein Großteil von Cranfields Erfolg war ihm zu verdanken. Falls er sein Haus verkaufte und woanders unterkam, würde Cranfield ihn nicht wiederbekommen. Die Trainingslizenz war vielleicht nicht für immer weg, die Hauptstütze des Stalls wäre es dann allerdings schon. Ich sah zu, wie ein anderer Stallbursche ein Pferd zu dem wartenden Transporter führte. Auch er sah besorgt aus. Ich wußte, daß seine Frau kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes stand. Einigen von den Stallburschen war es sicherlich egal. Es gab reichlich freie Jobs in Rennställen, und die eine Bude war weder besser noch schlechter als die andere. Aber auch sie würden nicht zurückkommen. Ebensowenig wie die meisten Pferde und die meisten Besitzer. Der Stall wurde nicht für ein paar Monate gesperrt. Er wurde vernichtet. Krank und kochend vor Wut – nicht nur meinet-, sondern auch anderer Leute wegen – ging ich das kurze Stück Einfahrt bis zum Haus. Robertas Alpine parkte am Vordereingang, und sie stand mit vergrätztem Gesicht daneben. »Da sind Sie ja. Ich dachte schon, Sie hätten gekniffen.« »Ich habe drüben beim Stall geparkt.« »Ich ertrage es einfach nicht, hinzugehen. Genau wie Vater. Er rührt sich nicht mal mehr aus seinem Ankleidezimmer. Um mit ihm zu reden, müssen Sie mit nach oben kommen.« Sie ging mir voran durch die Eingangstür und über dreißig Quadratmeter Perserteppich. Als wir am Fuß der Treppe angelangt waren, wurde die Tür zur Bibliothek aufgerissen, und Mrs. Cranfield kam heraus. Mrs. Cranfield riß stets die Türen auf, als argwöhnte sie, dahinter könnte Verwerfliches vor sich gehen, und wollte die Missetäter in flagranti ertappen. Sie war eine unansehnliche Frau, die kein Make-up trug und in 62
schlabberigen Wollsachen herumlief. Mit mir hatte sie sich nie über etwas anderes als Pferde unterhalten, und ich wußte nicht, ob sie es überhaupt konnte. Ihr Vater war ein irischer Baron, was der Grund für die Ehe gewesen sein mochte. »Mein Schwiegervater Lord Coolihan...«, sagte Cranfield gern: und das viel zu oft. Ich fragte mich, ob seine Erfahrung mit Gowery seiner Adelsverehrung den geringsten Abbruch getan hatte. »Ah, da sind Sie ja, Hughes«, sagte Mrs. Cranfield. »Roberta hat mir gesagt, sie wolle Sie holen. Obwohl ich beim besten Willen nicht weiß, wozu das gut sein soll. Schließlich haben Sie uns ja diesen Ärger eingebrockt.« »Was habe ich?« »Wenn Sie auf Squelch ein besseres Rennen geritten hätten, wäre das alles nicht passiert.« Ich verkniff mir eine derbe Antwort und blieb stumm. Wenn man verletzt genug ist, keilt man nach allem aus, was sich gerade anbietet. Mrs. Cranfield keilte munter weiter. »Dexter war zutiefst schockiert, als er hörte, daß Sie häufiger absichtlich Rennen verlieren.« »Das war ich auch«, sagte ich trocken. Roberta machte eine gereizte Bewegung. »Nun hör schon auf, Mutter. Kommen Sie, Hughes. Hier entlang.« Ich rührte mich nicht. Sie ging drei Stufen hoch, blieb stehen und drehte sich nach mir um. »Was ist, worauf warten Sie denn?« Ich zuckte die Achseln. Worauf ich auch wartete, in diesem Haus würde ich es nicht bekommen. Ich folgte ihr die Treppe hoch und über einen breiten Flur ins Ankleidezimmer ihres Vaters. Es enthielt zu viele schwere Mahagonimöbel aus einer späteren Epoche als das Haus, einen verblichenen pflaumenblauen Teppich, verblichene pflaumenblaue Plüschvorhänge und ein Bett mit einem indischen Überwurf. 63
Auf der Bettkante saß Dexter Cranfield, den Rücken zu einem Bogen gekrümmt und die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen. Seine Hände lagen mit gebogenen Fingern locker auf den Knien, und er starrte unverwandt auf den Boden. »So sitzt er stundenlang da«, hauchte Roberta neben mir. Ein Blick auf ihn, und ich verstand, warum sie Hilfe brauchte. »Vater«, sagte sie, ging zu ihm hin und berührte ihn an der Schulter. »Kelly Hughes ist da.« »Sag ihm, er soll verschwinden und sich erschießen«, sagte Cranfield. Sie sah das Zucken in meinem Gesicht, und nach ihrer Miene zu urteilen, meinte sie wahrscheinlich, daß ich das übelnahm und daß ich glaubte, Cranfield hielte mich für die Ursache aller seiner Probleme. Ich beschloß, ihre Ängste nicht noch durch die Bemerkung zu verstärken, daß Cranfield meiner Meinung nach vom Erschießen gesprochen hatte, weil er mit den Gedanken beim Erschießen war. »Ziehen Sie Leine«, sagte ich und ruckte den Kopf Richtung Tür. Reflexartig kam das Kinn hoch. Dann sah sie die Jammergestalt ihres Vaters an, sah wieder mich an, den herzuschaffen sie einige Mühe gekostet hatte, und die Steifheit verflüchtigte sich größtenteils. »Na gut. Ich bin unten in der Bibliothek. Gehen Sie nicht, ohne... mir Bescheid zu sagen.« Ich schüttelte den Kopf, und sie verließ gefaßt das Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Ich trat ans Fenster und betrachtete die Aussicht. Kleine Felder, die sich bis ins Tal hinunterzogen. Die Bäume vom Wind von den Downs alle nach einer Seite gebogen. Eine Reihe Masten, eine Gruppe von Mietshausdächern. Kein Pferd in Sicht. Das Ankleidezimmer lag auf der stallabgewandten Seite des Hauses. »Haben Sie eine Waffe?« fragte ich. 64
Vom Bett her keine Antwort. Ich ging zu ihm hin und setzte mich neben ihn. »Wo ist sie?« Sein Blick glitt ein winziges Stück in meine Richtung und wandte sich gleich wieder ab. Er hatte an mir vorbeigeschaut. Ich stand auf und ging zu dem Tisch neben seinem Bett, aber darauf lag nichts Tödliches, ebensowenig wie in der Schublade. Ich fand sie hinter dem hohen Mahagonikopfteil des Bettes. Eine schön gearbeitete Purdey, die sich eher für die Fasanenjagd eignete. Beide Läufe waren geladen. Ich entlud sie. »Sehr unschön«, bemerkte ich. »Sehr rücksichtslos. Und außerdem haben Sie es sowieso nicht ernsthaft vorgehabt.« Da war ich mir zwar überhaupt nicht sicher, aber ein bißchen Überzeugungsarbeit konnte nichts schaden. »Was wollen Sie hier?« fragte er gleichgültig. »Ihnen sagen, Sie sollen sich am Riemen reißen. Es gibt einiges zu tun.« »Reden Sie gefälligst nicht so mit mir.« »Wie denn dann?« Sein Kopf kam ein klein wenig hoch, genau wie bei Roberta. Wenn ich ihn in Wut brachte, war er schon halbwegs wieder der alte. Und ich konnte nach Hause gehen. »Es bringt nichts, hier rumzuhocken und zu schmollen. Damit erreicht man überhaupt nichts.« »Schmollen?« Er ärgerte sich, aber nicht genug. »Jemand hat uns unsere Spielsachen weggenommen. Sehr unfair. Aber mit Herumgejammere ist überhaupt nichts gewonnen.« »Spielsachen... Sie reden Unsinn.« »Spielsachen, Lizenzen, das ist doch egal. Das, was uns am meisten bedeutet. Jemand hat uns die Dinger weggeschnappt. Hat sie uns abgeluchst. Und niemand außer uns kann sie zurückholen. Niemand sonst wird’s versuchen.« 65
»Wir können einen Antrag stellen«, sagte er ohne Überzeugung. »O ja, wir können einen Antrag stellen. In einem halben Jahr, nehme ich an. Aber es gibt keine Garantie, daß wir sie zurückkriegen. Das einzig Vernünftige ist, daß wir uns endlich wehren und rauskriegen, wer uns gelinkt hat. Wer und warum. Und dann drehe ich dem Kerl den Hals um.« Er starrte immer noch vornübergebeugt auf den Boden. Er konnte noch nicht einmal mir, geschweige denn aller Welt ins Gesicht sehen. Wenn er nicht so ein heilloser Snob wäre, dachte ich unchristlich, hätten seine momentanen Schwierigkeiten nicht zu einem so totalen Zusammenbruch geführt. Er stand kurz davor, an der öffentlichen Schande einer Sperre buchstäblich zugrunde zu gehen. Mich ließ das Ganze im übrigen auch nicht völlig kalt. Es war schön und gut zu wissen, daß man unschuldig war, und auch seine engsten Freunde hinter sich zu haben, aber man konnte schlecht überall mit einem Schild um den Hals herumlaufen, auf dem stand: »Ich bin unschuldig. Ich war’s nicht. Es war alles ein mieses Komplott.« »Für Sie ist das nicht so schlimm«, sagte er. »Das ist völlig richtig.« Ich hielt kurz inne. »Ich bin durch den Stall hergekommen.« Er gab einen leisen Protestlaut von sich. »Archie kümmert sich anscheinend um alles. Und er macht sich Sorgen wegen seines Hauses.« Cranfield machte eine wegwerfende Handbewegung, als wollte er fragen, wie man ihn bei seinen Problemen mit Archies Sorgen belemmern könne. »Es würde Ihnen nicht weh tun, eine Zeitlang Archies Hypothekenzinsen zu zahlen.« »Was?« Das endlich drang zu ihm durch. Sein Kopf kam mindestens fünfzehn Zentimeter hoch.
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»Es sind nur ein paar Pfund die Woche. Für Sie ein Fliegenschiß. Für ihn eine Frage von Leben und Tod. Und wenn Sie ihn verlieren, werden Sie nie wieder so viele Sieger haben.« »Sie... Sie...« Er stotterte. Aber er blickte immer noch nicht auf. »Ein Trainer ist nur so gut wie seine Stallburschen.« »Blödsinn.« »Im Moment haben Sie gute Stallburschen. Sie haben die Blindgänger, die Grobiane und die Faulenzer rausgeschmissen. Es braucht seine Zeit, die schlechten auszusortieren und ein gutes Team aufzubauen, aber ohne ein gutes Team kommen Sie nicht auf einen hohen Prozentsatz von Siegern. Ihre Lizenz kriegen Sie vielleicht zurück, aber diese Burschen nicht, und es wird Jahre dauern, bis der Stall sich erholt hat. Wenn überhaupt. Und ich habe gehört, Sie haben schon allen gekündigt.« »Was hätte ich denn sonst machen sollen?« »Sie könnten versuchen, sie noch einen Monat weiterzubeschäftigen.« Sein Kopf kam noch ein kleines Stückchen hoch. »Sie haben nicht die leiseste Ahnung, was mich das kosten würde. Die Löhne belaufen sich auf über vierhundert Pfund die Woche.« »Es kommt doch bestimmt noch eine ganze Menge an Trainingsgebühren herein. Besitzer zahlen selten im voraus. Sie werden nicht besonders tief in die eigene Tasche greifen müssen. Jedenfalls nicht, wenn es sich nur um einen Monat handelt, und so lange dauert es vielleicht gar nicht.« »Was dauert nicht so lange?« »Unsere Lizenzen zurückzubekommen.« »Machen Sie sich doch nicht lächerlich.« »Ich meine es ernst. Was ist es Ihnen wert? Vier Wochenlöhne für Ihre Stallburschen? Würden Sie soviel bezahlen, wenn die Chance bestünde, daß Sie in einem Monat 67
wieder auf der Rennbahn sind? Wenn es so schnell ginge, würden die Besitzer ihre Pferde zurückschicken. Besonders wenn Sie ihnen sagen, daß Sie fest damit rechnen, umgehend wieder im Geschäft zu sein.« »Sie würden es nicht glauben.« »Sie würden unsicher werden. Und das müßte schon reichen.« »Es gibt keine Chance, wieder ins Geschäft zu kommen.« »Und ob es die gibt, verdammt noch mal«, sagte ich grimmig. »Aber nur, wenn Sie sie auch ergreifen wollen. Sagen Sie den Stallburschen, daß Sie sie vorläufig weiterbeschäftigen. Besonders Archie. Gehen Sie jetzt gleich in den Hof runter, und sagen Sie’s ihnen.« »Jetzt gleich?« »Klar doch«, sagte ich ungeduldig. »Die Hälfte hat wahrscheinlich schon die Stellenanzeigen gelesen und an andere Trainer geschrieben.« »Das hat doch keinen Sinn.« Er schien erneut in Trübsinn zu versinken. »Es ist alles hoffnungslos. Und es hätte gar nicht zu einem schlimmeren Zeitpunkt passieren können. Edwin Byler wollte mir seine Pferde schicken. Es war alles vereinbart. Jetzt hat er natürlich angerufen und alles wieder abgeblasen; seine Pferde bleiben, wo sie sind, nämlich bei Jack Roxford.« Edwin Bylers Pferde zu trainieren hieß, einen Goldtopf geschenkt zu bekommen. Er war ein Geschäftsmann aus dem Norden, der im Versandhandel ein, zwei Millionen gemacht und sich mit einem Teil davon den lange gehegten Ehrgeiz erfüllt hatte, das beste Lot Jagdrennpferde in England zu besitzen. Vier der Pferde, die er momentan besaß, hatten jeweils mehr gekostet, als je zuvor bezahlt worden war. Wenn er eins wollte, bot er hoch. Er wollte nur die besten, und er hatte so viele davon gekauft, daß er in den beiden vergangenen Jahren die Liste der siegreichen Besitzer angeführt hatte. Aussicht darauf zu haben, Edwin Bylers Pferde zu trainieren, 68
und sie dann doch nicht trainieren zu dürfen war eine besonders raffinierte Grausamkeit, die der ganzen Sache die Krone aufsetzte. Aussicht darauf zu haben, Edwin Bylers Pferde zu reiten... wie ich es zweifellos getan haben würde... das war ein weiterer Stich, der weh tat. »Dann gibt es um so mehr Grund«, sagte ich. »Wieviel Anreiz brauchen Sie denn noch? Sie werfen kampflos nicht nur das weg, was sie schon erreicht haben, sondern auch das, was Sie noch erreichen könnten... Warum zum Teufel stehen Sie nicht endlich vom Bett auf, benehmen sich wie ein Gentleman und zeigen ein bißchen Mumm?« »Hughes!« Er war empört. Aber er blieb sitzen. Er sah mich immer noch nicht an. Ich hielt inne und betrachtete ihn nachdenklich. Dann sagte ich langsam: »Na schön. Ich werde Ihnen sagen, warum. Deshalb, weil Sie... bis zu einem gewissen Grad... tatsächlich schuldig sind. Sie haben dafür gesorgt, daß Squelch nicht gewinnt. Und Sie haben auf Cherry Pie gesetzt.« Das traf ihn. Diesmal kam nicht nur der Kopf hoch, sondern der ganze Mann sprang bebend auf.
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5 »Was fällt Ihnen ein!« »Im Moment offen gesagt praktisch alles.« »Sie haben gesagt, man hat uns hereingelegt.« »Das stimmt auch.« Seine Aufregung legte sich ein wenig. Ich fachte sie wieder an. »Aber Sie haben uns ins offene Messer laufen lassen.« Er schluckte, seine Augen huschten hin und her und blickten überallhin, außer zu mir. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« »Stellen Sie sich nicht so an«, sagte ich. »Ich habe Squelch geritten, wissen Sie noch? War er vielleicht wie sonst? Nein.« »Falls Sie andeuten wollen«, begann er aufbrausend, »daß ich ihm ein Betäubungsmittel...« »Ach was, natürlich nicht. Außerdem ist er ja getestet worden, oder? Mit negativem Ergebnis. Wie auch anders? Kein Trainer muß zu Betäubungsmitteln greifen, wenn er will, daß ein bestimmtes Pferd nicht gewinnt. Das wäre genauso, als würde man eine Fliege mit der Planierraupe plattmachen. Da gibt es viel subtilere Methoden. Die nicht nachweisbar sind. Oder sogar unabsichtlich angewandt werden. Vielleicht sollten Sie nicht so hart zu sich sein und zugeben, daß Sie Squelch ganz unabsichtlich gebremst haben. Vielleicht sogar unbewußt, weil Sie wollten, daß Cherry Pie gewinnt.« »Quatsch!« »Der Verstand spielt einem Streiche. Oft glaubt man, man tut etwas aus einem ganz bestimmten Grund, obwohl man unbewußt einen ganz anderen dafür hat.« »Dummes Zeug!« »Problematisch kann es dann werden, wenn der wahre Grund sein häßliches Haupt reckt und einem in die Fresse haut.« 70
»Halten Sie den Mund.« Er biß die Zähne zusammen, und seine Kiefer mahlten. Ich holte tief Luft. Zum Teil hatte ich geraten. Aber ich hatte richtig geraten. »Sie haben Squelch zu knapp vor dem Rennen zuviel Arbeit aufgehalst«, sagte ich. »Er hat das Lemonfizz auf der Zielgeraden verloren.« Endlich sah er mich an. Seine Augen waren dunkel, als hätten sich die Pupillen erweitert und die ganze Iris verschluckt. In seinem Gesicht lag ein Ausdruck verzweifelter Hoffnungslosigkeit. »Es wäre nicht so schlimm gewesen«, sagte ich, »wenn Sie es sich selbst eingestanden hätten. Dann hätten Sie es nämlich nie und nimmer riskiert, keinen Anwalt zu unserer Verteidigung zu engagieren.« »Ich wollte Squelch nicht übertrainieren«, sagte er kläglich. »Es ist mir erst hinterher aufgegangen. Außerdem habe ich wirklich auf ihn gesetzt, genau wie ich in der Verhandlung gesagt habe.« Ich nickte. »Das habe ich mir auch so gedacht. Aber Sie haben auch auf Cherry Pie gesetzt.« Ohne seine übliche Hochnäsigkeit erklärte er ganz einfach: »Sie wissen ja, daß es für einen Trainer oft ganz unerwartet kommt, wenn ein Pferd zu seiner wahren Form findet. Ich dachte eben, daß Cherry Pie auch so einer sein könnte. Und auf diesen Verdacht hin habe ich auf ihn gesetzt.« Schöner Verdacht. Fünfzig Pfund bei Newtonnards und fünfzig Pfund am Totalisator. Bruttogewinn: zweitausend. »Wieviel hatten Sie denn auf Squelch stehen?« »Zweihundertfünfzig.« »Mein lieber Mann! Setzen Sie immer so hoch?« »Er stand zehn zu zehn... meistens setze ich so um die hundert.«
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Damit war ich bei der entscheidenden Frage, und ich wußte nicht recht, ob ich sie stellen sollte – von der Beurteilung, ob die Antwort der Wahrheit entsprach, ganz zu schweigen. »Warum«, fragte ich ganz sachlich, »haben Sie nicht bei Ihrem üblichen Buchmacher auf Cherry Pie gewettet?« Er antwortete ganz selbstverständlich: »Weil ich nicht wollte, daß Kessel davon erfährt, falls Cherry Pie statt Squelch gewinnt. Kessel ist ein komischer Kauz, er nimmt alles persönlich, er hätte Squelch höchstwahrscheinlich sofort weggeholt...« Seine Stimme verklang, als ihm erneut einfiel, daß Squelch nun in der Tat weggeholt wurde. »Warum hätte Kessel denn davon erfahren sollen?« »Wie? Na, weil er auch bei meinem Buchmacher wettet und die beiden dicke Freunde sind.« Durchaus plausibel. »Und wer war der Mann mittleren Alters, der die Wetten für Sie plaziert hat?« »Ein Bekannter. Sein Name tut nichts zur Sache. Ich will ihn da nicht hineinziehen.« »Ist es möglich, daß Newtonnards Sie vor dem ersten Rennen am Führring mit ihm hat reden sehen?« »Ja«, sagte er niedergedrückt. »Ich habe mit ihm geredet. Ich habe ihm das Geld gegeben, das er setzen sollte.« Und er hatte trotzdem keine Alarmklingeln schrillen hören. Hatte Monty Midgeleys Versicherungen für bare Münze genommen. Hatte mir die Gefahr verschwiegen. Ich hätte ihn erwürgen können. »Was haben Sie mit den Gewinnen gemacht?« »Die liegen unten im Safe.« »Und daß Sie gewonnen haben, haben Sie gegenüber niemandem zugeben können?« »Nein.« Ich dachte zurück. »In der Verhandlung haben Sie in diesem Punkt gelogen.« 72
»Was hätte ich denn sonst tun sollen?« Gute Frage. Mir hatte es auch nicht viel eingebracht, die Wahrheit zu sagen. »Dann wollen mir mal zusammenfassen.« Ich ging wieder zum Fenster hinüber und versuchte dabei, meine Gedanken zu ordnen. »Cherry Pie hat aufgrund seiner eigenen Stärken gewonnen. Sie haben auf ihn gesetzt, weil Sie den Eindruck hatten, daß er ganz plötzlich in Form kommt. Squelch war in den zwei Monaten davor vier harte Rennen und einen möglicherweise übereifrigen Trainingsgalopp gelaufen. Das sind die nüchternen Fakten.« »Ja... das stimmt.« »Kein Trainer dürfte seine Lizenz verlieren, weil er nicht ausposaunt, daß er möglicherweise einen Renner hat. Ich habe noch nie kapiert, wieso die Leute, die die ganze Arbeit reingesteckt haben, nicht als erste davon profitieren sollen.« Auch die Besitzer hatten ihre Rechte. Cherry Pies Besitzer war allerdings drei Wochen vor dem Lemonfizz gestorben, so daß Cherry Pie für die Testamentsvollstrecker gelaufen war. Irgendwer würde sich damit vergnügen dürfen auszuknobeln, wieviel das Pferd beim Tode seines Besitzers präzise wert gewesen war. »Jedenfalls bedeutet das, daß Sie eine Kriegskasse haben«, merkte ich an. »Es hat keinen Sinn zu kämpfen.« »Sie sind so weich«, sagte ich ärgerlich, »daß ein Marshmallow gegen Sie der reinste Granit ist.« Langsam klappte sein Mund auf. Bis zu diesem Vormittag war ich immer höflich zu ihm gewesen. Er sah mich an, als ob er mich zum erstenmal richtig wahrnähme; falls wir tatsächlich unsere Lizenzen zurückbekämen, würde er sich daran erinnern, daß ich ihn fix und fertig erlebt hatte, und auf meine Gesellschaft vielleicht keinen gesteigerten Wert mehr legen. Er zahlte mir ein Pauschalhonorar, aber mein Vertrag lief immer 73
nur ein Jahr. Kein Problem, mich an die Luft zu setzen und jemand anders zu engagieren. Aus Eigennutz – und eben deshalb nicht sonderlich erbaut von mir – entschärfte ich meinen Ton ein wenig. »Ich darf doch annehmen, daß Sie Ihre Lizenz zurückwollen?« »Es gibt keine Chance.« »Wenn Sie die Stallburschen einen Monat weiterbeschäftigen, besorge ich Ihnen Ihre Lizenz wieder.« Nach wie vor sah man jedem schlaffen Muskel seinen Defätismus an, und er gab keine Antwort. Ich zuckte die Achseln. »Ich werd’s jedenfalls versuchen. Und wenn ich Ihnen Ihre Lizenz auf dem Silbertablett zurückgebe und Archie und die Stallburschen sind nicht mehr da, ist das ganz schön blöd.« Ich ging zur Tür und legte die Hand auf den Knauf. »Ich halte Sie auf dem laufenden.« Drehte den Knauf. Öffnete die Tür. »Warten Sie«, sagte er. Ich drehte mich um. Ein Anflug der alten Steifheit war zurückgekehrt, und zwar hauptsächlich in Form des Wiedererscheinens der verkniffenen Linien um seinen Mund. Weniger gut. »Ich glaube nicht, daß Sie es schaffen. Aber da Sie so sicher sind, mache ich Ihnen ein Angebot. Ich bezahle die Stallburschen zwei Wochen lang. Wenn Sie wollen, daß ich sie danach noch zwei Wochen behalte, können Sie sie selbst bezahlen.« Entzückend. Er hatte an Cherry Pie zweitausend Pfund verdient, hatte Squelch übertrainiert und war die direkte Ursache meiner Sperre. Ich drängte meine heftige innere Empörung zurück und gab ihm ganz kalt Antwort. »Na schön. Ich bin einverstanden. Aber ich will auch eine Zusage von Ihnen. Die Zusage, daß Sie Ihre Schuldgefühle für sich behalten. Ich habe keine Lust, auf die Nase zu fallen, weil 74
Sie in Sack und Asche herumlaufen und im ungünstigsten Moment Ihre theoretischen Sünden beichten.« »Das ist wohl nicht sehr wahrscheinlich«, sagte er steif. Da war ich mir nicht so sicher. »Ich will Ihr Wort darauf«, sagte ich. Er straffte sich gekränkt. Das verhalf ihm immerhin wieder zu einem geraden Rückgrat. »Das haben Sie.« »Schön.« Ich hielt ihm die Tür auf. »Dann wollen wir in den Stall gehen.« Er zögerte noch, gab sich endlich einen Ruck und ging vor mir zur Tür hinaus und die Treppe hinunter. Roberta und ihre Mutter standen in der Halle und machten Gesichter wie wartende Angehörige bei einem Grubenunglück. Sie betrachteten das Wiederauftauchen des Familienoberhauptes mit einer Mischung aus Erleichterung und Beklommenheit, und Mrs. Cranfield sagte zaghaft: »Dexter?« Gereizt, als gäbe die Tatsache, daß er sich sechsunddreißig Stunden lang mit einer Schrotflinte in seinem Zimmer verkrochen hatte, keinen Anlaß zur Besorgnis, antwortete er: »Wir gehen in den Stall.« »Prima«, sagte Roberta und erstickte damit praktisch jede aufkeimende Gefühlsäußerung von seiten ihrer Mutter, »ich komme mit.« Archie eilte uns entgegen und setzte zu einem detaillierten Bericht darüber an, welche Pferde schon geholt worden seien und welche demnächst abgeholt würden. Cranfield hörte kaum zu und nahm mit Sicherheit gar nichts auf. Er wartete auf eine Lücke im Redefluß, und als er lange genug gewartet hatte, unterbrach er Archie ungeduldig. »Ja, ja, Archie, ich bin sicher, Sie haben alles im Griff. Aber deswegen bin ich nicht gekommen. Ich möchte, daß Sie den Stallburschen umgehend sagen, daß ihre Kündigung für einen Monat ausgesetzt ist.« 75
Archie sah mich an, ohne recht zu begreifen. »Vorläufig wird niemand entlassen«, sagte ich. »Und es wird der Versuch gemacht, die Sache richtigzustellen.« »Gilt das auch für mich?« »Aber sicher«, bestätigte ich. »Für dich ganz besonders.« »Hughes ist der Ansicht, daß die Möglichkeit besteht, unsere Unschuld zu beweisen und unsere Lizenz zurückzubekommen«, sagte Cranfield förmlich, und seine Skepsis war mit Händen zu greifen. »Um mir zu helfen, den Stall zusammenzuhalten, während er Nachforschungen anstellt, hat er sich bereit erklärt, einen Monat lang für die Hälfte Ihrer Löhne aufzukommen.« Ich sah ihn scharf an. Dazu hatte ich mich keineswegs bereit erklärt. Er gab durch nichts zu erkennen, daß er das von mir akzeptierte Angebot kurzerhand uminterpretiert hatte (um es milde auszudrücken), und fuhr in bestimmtem Ton fort: »Da die bereits ausgesprochene Kündigung erst in fünf Tagen wirksam wird, muß keiner von Ihnen vor Ablauf von fünf Wochen gehen. Ich wäre Ihnen sogar sehr dankbar«, fügte er unwirsch hinzu, »wenn Sie alle blieben.« »Ist das dein Ernst?« fragte mich Archie, und als ich die jähe Hoffnung in seinem Gesicht sah, dachte ich, daß vielleicht nicht nur meine eigene Chance auf eine Zukunft achthundert Pfund wert war. »Ja«, bestätigte ich, »solange ihr euch nicht den ganzen Monat damit beschäftigt, für danach was anderes zu besorgen.« »Wofür hältst du uns eigentlich?« protestierte er. »Für Zyniker«, antwortete ich, und er lachte tatsächlich. Ich überließ Cranfield und Archie ihrem Gespräch, in dem sich ein Großteil ihrer Verzweiflung verflüchtigte, und ging zu meinem schnittigen, in gebranntem Orange lackierten Wagen zurück. Daß Roberta mir folgte, bekam ich erst mit, als ich die Tür aufmachte und sie mich von der Seite ansprach. »Schaffen Sie das wirklich?« fragte sie. 76
»Was?« »Die Lizenzen wiederzukriegen.« »Sie nicht wiederzukriegen wird einfach zu teuer für mich. Also werd ich’s wohl müssen oder...« »Oder was?« Ich lächelte. »Oder beim Versuch draufgehen.« Ich brauchte eine Stunde für die Fahrt nach Gloucestershire und noch einmal fast halb so lang, um hinter die Geographie des Dorfes Downfield zu kommen, das hauptsächlich aus Sackgassen zu bestehen schien. Das Cottage, das ich schließlich nach sechs falschen Wegbeschreibungen fand, war alt, aber nicht schön, ordentlich, aber in trüben Farben gestrichen und erheblich vertrauenswürdiger als sein Besitzer. Als Mrs. Charlie West sah, wer da zu Besuch kam, versuchte sie, mir die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Mit einer Hand, die den Umgang mit starken Pferden gewohnt war, griff ich rasch nach ihrem Handgelenk und zog daran, so daß sie sich den eigenen Arm zerquetschen würde, wenn sie die Tür zuschlüge. Sie kreischte laut. Eine Zimmertür hinten im Flur ging ganze fünfzehn Zentimeter weit auf, und in dem Spalt erschien Charlie Wests rundes Gesicht. Ihm war ein deutlicher Mangel an Selbstvertrauen anzusehen. »Er tut mir weh«, rief Mrs. West. »Ich will mit dir reden«, sagte ich über ihre Schulter hinweg. Charlie West war dazu alles andere als bereit. Er ließ seine Kindfrau samt langem, glattem Haar, Dusty-SpringfieldWimpern und beigefarbenem Lippenstift schmählich im Stich, zog sich einen Schritt zurück und schloß sehr resolut die Tür. Mrs. West setzte meinem Versuch, weiteren Kontakt zu Charlie herzustellen, lauten und energischen Widerstand entgegen, und ich mußte mich ihrer Fußspitzen und Fäuste erwehren, während ich durch den Flur ging. 77
Charlie hatte einen Stuhl unter die Türklinke geklemmt. »Ich bin nicht gekommen, um dich zu verprügeln, so sehr du’s auch verdienst«, rief ich durch das Holz hindurch. »Komm raus und red mit mir.« Keinerlei Reaktion. Ich rüttelte an der Tür. Wiederholte meine Aufforderung. Ohne Ergebnis. Mrs. West hinter mir herziehend, die sich nach wie vor wie eine aufgeregte Hornisse gebärdete, ging ich zur Vordertür hinaus und ums Haus herum, um durchs offene Fenster mit ihm zu reden. Das Fenster stand offen, und das Wohnzimmer dahinter war leer. Im Umdrehen sah ich gerade noch Charlies ferne Rückenansicht über ein Feld in die Gemeinde nebenan verschwinden. Auch Mrs. West sah ihn und lächelte boshaft. »Ätsch!« sagte sie triumphierend. »Ja«, meinte ich. »Ich bin sicher, Sie müssen sehr stolz auf ihn sein.« Das Lächeln verrutschte. Ich ging ihren Gartenweg zurück, stieg in den Wagen und fuhr weg. Runde eins unter leicht farcenhaften Begleiterscheinungen an die Opposition. Drei Kilometer von dem Dorf entfernt hielt ich in der Einfahrt eines Bauernhofes an und überdachte das Ganze. Charlie West hatte sehr viel mehr Angst vor mir gehabt, als ich erwartet hatte, und nicht nur weil ich ein paar Nummern größer und um einiges kräftiger war. Vielleicht fürchtete Charlie meinen Zorn ebensosehr wie meine Fäuste. Es schien fast so, als hätte er mit einem Vergeltungsversuch von meiner Seite gerechnet, und nach dem, was er getan hatte, besaß er auch allen Grund dazu. Aber trotzdem stellte er für mich immer noch den raschesten und leichtesten Weg zur Antwort auf das Wer, wenn nicht das Warum, dar. Nach einer Weile ließ ich den Wagen wieder an und fuhr in die nächstgelegene Kleinstadt. Mir fiel ein, daß ich den ganzen 78
Tag nichts gegessen hatte, und ich verputzte um halb vier in einem gediegenen Café, das mehr auf Kuchen und Gebäck eingerichtet war, einen Teller recht gutes kaltes Rindfleisch, döste danach im Wagen, wartete, bis es dunkel wurde, und fuhr schließlich wieder zu Charlies Dorf. In mehreren Zimmern seines Cottages brannte Licht. Die Wests waren also zu Hause. Ich wendete, fuhr etwa hundert Meter zurück und parkte den Wagen mit zwei Rädern auf dem grasigen Seitenstreifen. Stieg aus. Blieb stehen. Angriffsplan: vage. Ich hatte mir vorgestellt, an der Haustür zu klingeln, mich dann zu verstecken und darauf zu warten, daß entweder Charlie oder seine Puppenfrau unvorsichtigerweise herauskäme, um nachzusehen. Statt dessen erschienen unerwartete Verbündete in Gestalt eines kleinen Jungen und eines großen Hundes. Der Junge hatte eine Taschenlampe bei sich und redete mit dem Hund, der fünf Meter vor mir stehenblieb, um auf die Straße zu machen. »Was haste dir dabei bloß wieder gedacht, du blödes Vieh, unserer Mum das Suppenfleisch wegzufuttern? Mein lieber Mann, du lernst wohl nie was dazu! Das Essen von morgen haste in dei’m fetten, verfressenen Bauch, und diesmal gibt’s garantiert für uns beide Dresche, nicht bloß für dich, du Idiot, du dämlicher. Wird langsam Zeit, daßde den Unterschied zwischen dem Suppenfleisch von meiner Mum und Hundefutter lernst, das ist nämlich ungewürzt, obwohl, wenn ich’s mir überleg, so groß ist der Unterschied auch wieder nicht, außerdem siehsde das mit deinen Augen ja vielleicht ganz anders, oder? Wennde doch bloß reden könntest, Mensch!« Ich ließ die Wagentür zuklicken, und er erschrak und fuhr, wild mit der Taschenlampe fuchtelnd, herum. Der Strahl erfaßte mich und blieb auf meinem Gesicht liegen.
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»Einen Schritt«, sagte der Junge, »und ich hetz meinen Hund auf Sie.« Der Hund allerdings hockte immer noch da und zeigte keinerlei Enthusiasmus. »Dann bleib ich lieber hier stehen«, sagte ich freundlich und lehnte mich mit dem Rücken an den Wagen. »Ich will nur wissen, wer in dem Cottage da drüben wohnt, wo das Licht brennt.« »Keine Ahnung. Wir sind erst gestern hergezogen.« »Prima... ich meine, das muß prima für dich sein, das Umziehen.« »Klar. Sicher. Bleiben Sie mal da stehen. Ich geh jetzt.« Er machte dem Hund ein Zeichen. Der Hund war noch beschäftigt. »Wie wär’s, wenn du deiner Mum das Geld für das Suppenfleisch geben könntest? Vielleicht würde sie’s dann nicht deinem Dad erzählen, und weder du noch der Hund bekämen Prügel.« »Unsere Mum sagt, wir dürfen nicht mit fremden Männern reden.« »Ach so. Das ist natürlich was anderes. Dann geh mal schön nach Hause.« »Ich geh dann, wenn ich soweit bin«, sagte er streitlustig. Der geborene Rebell. Etwa neun Jahre alt, schätzte ich. »Was müßt ich denn dafür machen?« fragte er nach kurzem Schweigen. »Nicht viel. Bloß an der Tür von dem Cottage da klingeln und dem, der aufmacht, sagen, daß dein Hund die Krokusse frißt, die sie da vorne angepflanzt haben, und daß du nichts dagegen machen kannst. Und wenn er dann rauskommt, um nachzusehen, flitzt du nach Hause, so schnell dein Hund rennen kann.« Das gefiel ihm. »Suppenfleisch kostet wahrscheinlich ’ne ganze Stange«, sagte er.
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»Wahrscheinlich.« Ich wühlte in meiner Tasche und förderte eine kleine Handvoll Pennies und Silbermünzen zutage. »Da müßte eigentlich noch ein bißchen was übrigbleiben.« »Er muß doch die Krokusse nicht wirklich fressen, oder?« »Nein.« »Also gut.« Als er sich einmal entschieden hatte, erledigte er seine Aufgabe flott und wirkungsvoll. Er verstaute mein Kleingeld in seiner Hosentasche, marschierte zu Charlies Haustür und erzählte Mrs. West, die vorsichtig aufmachte, daß sie gerade ihre Krokusse los wurde. Sie schimpfte ihn den ganzen Weg durch den Garten aus, und während sie sich bückte, um den Schaden zu untersuchen, machte sich mein Komplize in aller Stille davon. Ehe Mrs. West richtig begriff, daß man sie hereingelegt hatte, war ich rasch durch die Haustür geschlüpft und sperrte sie aus ihrem eigenen Haus aus. Als ich die Wohnzimmertür öffnete, sagte Charlie, ohne den Blick von einer Rennzeitung zu heben: »Dann war’s also doch nicht noch mal dieser Kerl.« »Doch«, sagte ich, »er war’s.« Charlies unreifes Gesicht verzog sich zu einer abstoßenden Maske der Angst, und Mrs. West fing an, den Klingelknopf zu bearbeiten. Ich machte die Wohnzimmertür hinter mir zu, um das Gebimmel etwas abzudämpfen. »Wovor hast du solchen Schiß?« fragte ich laut. »Na ja... vor dir...« »Du hast auch allen Grund dazu«, bestätigte ich. Ich machte einen Schritt auf ihn zu, und er drückte sich tiefer in seinen Sessel. Weil er auf einem Pferd durchaus mutig war, kam dieses erbärmliche Kuschen um so unerwarteter und war um so widerwärtiger. Ich machte noch einen Schritt. Er kroch förmlich in das Polster hinein. Mrs. West gönnte der Klingel eine Pause. »Warum hast du’s gemacht?« fragte ich.
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Er schüttelte stumm den Kopf und zog die Füße zur klassischen Fötushaltung auf die Sitzfläche des Sessels. Eine auf Wunschdenken beruhende Regression auf den ersten und einzigen Ort, wo die Welt einem nichts anhaben kann. »Charlie, ich bin hergekommen, weil ich ein paar Antworten will, und du wirst sie mir geben.« Am Fenster erschien Mrs. Wests wütendes Gesicht, und sie fing an, so kräftig dagegenzuklopfen, daß man um das Glas fürchten mußte. Ein Auge auf ihrem Mann, damit er mir nicht noch einmal ausbüxte, ging ich zu ihr hinüber und öffnete die Verriegelung. »Raus mit Ihnen«, schrie sie. »Los, raus.« »Kommen Sie lieber rein. Hier durch, die Tür mach ich nicht auf.« »Ich hole die Polizei.« »Machen Sie, was Sie wollen. Ich will nur mit Ihrem Wurm von einem Ehemann reden. Kommen Sie rein oder bleiben Sie draußen, aber halten Sie die Klappe.« Sie tat alles andere. Sobald sie im Zimmer war, brauchte es noch einmal zwanzig Minuten fruchtloses Geschimpfe, ehe ich Charlie eine einzige Frage stellen konnte, ohne daß ihre laute Stimme jede Chance auf eine Antwort zunichte machte. Charlie selbst bekam es als erster satt und sagte ihr, sie solle aufhören, aber immerhin hatte ihm ihre Streitlust eine Atempause verschafft. Er setzte die Füße wieder auf den Boden und meinte, die ganze Fragerei sei sinnlos, er kenne die Antworten nicht. »Du mußt sie kennen. Außer du hast diese Lügen aus reiner Bosheit erzählt.« »Nein.« »Warum dann?« »Das sag ich dir nicht.« »Dann sag ich dir was, du kleiner Mistkerl. Ich werde rauskriegen, wer dich dazu angestiftet hat. Ich lasse nicht 82
locker, bis ich es weiß, und dann mache ich so einen Stunk von wegen abgekartetes Spiel, daß Schwefel dagegen wie Vanille riecht, und dann wirst du deine Lizenz los, Master Charlie West, nicht ich, und selbst wenn du sie irgendwann wiederkriegst, bist du dermaßen untendurch, daß dich kein Aas je wieder anguckt.« »Reden Sie gefälligst nicht so mit meinem Charlie!« »Ihr Charlie ist ein mieser kleiner Lügner, der auch Sie für fünfzig Pfund verkaufen würde.« »Es waren keine fünfzig«, blaffte sie triumphierend, »es waren fünfhundert.« Charlie schrie sie an, und ich stand so knapp davor, ihn zu schlagen, wie meine zusammengebissenen Zähne voneinander entfernt waren. Fünfhundert Pfund. Für ein Trinkgeld, das jeden Trainingsspion beleidigen würde, hatte er meine Lizenz weggelogen. »Na also«, sagte ich. »Und jetzt sagst du mir, wer dich bezahlt hat.« Die Kindfrau schaute allmählich so verschüchtert drein wie Charlie, und mir war in diesem Moment nicht bewußt, daß meine Wut wie eine Flutwelle durch das kleine Zimmer gerollt war. Charlie stotterte: »D... d... das...w... weiß ich nicht.« Ich machte einen Schritt auf ihn zu, und er krabbelte vom Sessel und suchte dahinter Zuflucht. »F... f... faß mich nicht an. Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.« »Da mußt du dir schon was Besseres einfallen lassen.« »Er weiß es wirklich nicht«, wimmerte das Mädchen. »Wirklich!« »O doch«, beharrte ich wütend. Das Mädchen fing an zu weinen. Charlie stand allem Anschein nach kurz davor, es ihr gleichzutun. »Ich... ich hab den Kerl nie gesehen. Er hat angerufen.« 83
»Und wie hat er dich bezahlt?« »In zwei... zwei Päckchen. In Ein-Pfund-Scheinen. Hundert sind am Tag der Verhandlung gekommen, und die restlichen vierhundert sollte ich...« Seine Stimme verklang. »Die restlichen vierhundert solltest du kriegen, falls ich gesperrt werde?« Er nickte, eine winzige Bewegung. Er hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen, wie um sich vor einem Schlag zu ducken. »Und? Hast du?« »Was?« »Hast du sie schon gekriegt? Die restlichen vierhundert?« Er machte große Augen, und die Worte kamen stoßweise. »Nein... aber... die... kommen... garantiert.« »Die kommen garantiert nicht«, sagte ich brutal. »Du verlogener kleiner Blödmann.« Meine Stimme klang belegt, und jedes Wort kam einzeln und zorngeladen heraus. Beide Wests zitterten, und dem Mädchen begann das AugenMake-up über die Backen zu laufen. »Wie hat er sich angehört, dieser Mann am Telefon?« »Wie... wie ein Mann eben«, sagte Charlie. »Und hast du zufällig daran gedacht zu fragen, warum er will, daß ich gesperrt werde?« »Ich hab gesagt... du hättest mir nie was getan... und er hat gesagt... man weiß nie... angenommen, er tut dir doch mal was...« Unter meinem fassungslosen Blick wurde Charlie noch kleiner. »Außerdem... fünfhundert Pfund... ich verdiene nämlich nicht soviel wie du.« Zum erstenmal lag ein Anflug von Gehässigkeit in seiner Stimme, und mir wurde klar, daß Neid sehr wohl eine Rolle gespielt und daß er es im Grunde nicht nur wegen des Geldes getan hatte. Es hatte ihm auch Vergnügen gemacht. 84
»Du bist erst zwanzig«, sagte ich. »Was erwartest du eigentlich?« Aber natürlich erwartete Charlie, daß alles jederzeit so lief, wie es für Charlie West am besten war. Ich sagte: »Und überleg dir ganz genau, wie du das Geld ausgibst, denn glaub mir, das sind die teuersten hundert Pfund, die du je verdient hast.« »Kelly...« Das klang fast schon bittend. Neidisch, geldgierig, unehrlich und voller Angst. Ich verspürte nicht das geringste Mitgefühl für ihn, nur einen wachsenden Zorn darüber, daß die Motive hinter seinen Lügen so erbärmlich waren. »Und wenn du deswegen deine Lizenz verlierst – und ich werde dafür sorgen, daß du sie verlierst –, dann hast du massenhaft Zeit zu kapieren, daß es dir recht geschieht.« Die nackte Rachsucht in meiner Stimme verwandelte ihr kleines Zuhause in eine Wüste. Benommen standen sie beide da, mit großen, verschreckten Augen, zu aufgelöst, um noch ein einziges Wort herauszubringen. Der beigefarbene Mund des Mädchens klaffte schlaff auf, Mascara war ihr bis fast zum Kinn gelaufen, ihr langes Haar hing ihr in wirren Strähnen ins Gesicht und um die Schultern. Sie sah aus wie sechzehn. Ein Kind. Genau wie Charlie. Die schlimmsten Vandalen sind immer Kinder. Ich wandte mich von ihnen ab und verließ ihr Cottage, und auf der Heimfahrt verwandelte sich meine Wut in eine ungeheure Depression.
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6 Um in zwei Uhr morgens kam mir die Wut, der ich bei den Wests freien Lauf gelassen hatte, immer unsinniger vor. Zunächst einmal hatte sie mir überhaupt nichts eingebracht. Daß Charlie für seine Lügen über mich in der Verhandlung einen Grund gehabt haben mußte, hatte ich schon vor meinem Besuch bei ihm gewußt. Nun wußte ich, daß der Grund fünfhundert Pfund waren. Wunderbar. Ein nutzloser Informationsschnipsel aus einem emotionalen Wirbelsturm. Auskeilen, wenn man verletzt ist... das hatte ich weiß Gott getan. Die ganze schreiende Bitterkeit über sie ausgegossen, die ich seit Montag hinter einer zivilisierten Fassade verborgen hatte. Und ich hatte Charlie keinerlei Grund geliefert, mir künftig anders gegenüberzutreten. Ganz im Gegenteil. Er würde nicht reumütig und auf Wiedergutmachung bedacht sein. Wenn er sich wieder berappelt hatte, würde er schmollen und auf Rache sinnen. Ich hatte das Muster immer wieder erlebt. Land A wendet ein einziges Mal einen miesen Trick an. Land B ist empört und übt Rache. Land A wird gezwungen, sich zu entschuldigen und klein beizugeben, nimmt das aber sehr übel. Land A grollt nun auf Dauer und schadet Land B bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Eine der klassischen Varianten in der Geschichte von Politik und Aggression. Und ohne weiteres auf einzelne Menschen übertragbar. Daß ich über die Fallen Bescheid gewußt hatte und trotzdem hineingetappt war, ärgerte mich maßlos. Daran sah man mal wieder, wie leicht die Vernunft gegen den Zorn den kürzeren zog. Mir zeigte es außerdem, daß ich auf diese Weise nicht zu Ergebnissen kommen würde. Ein Schnellkurs in Detektivarbeit wäre sehr praktisch gewesen. Mangels dessen würde ich 86
anfangen müssen, ganz kühl Bestandsaufnahme zu machen, anstatt noch einmal geradewegs auf das am leichtesten erscheinende Ziel loszuschießen und die Sache wieder zu verbocken. Kühle Bestandsaufnahme... Charlie West hatte mich nicht sehen wollen, weil er ein schlechtes Gewissen hatte. Daraus folgte, daß auch alle anderen, die ein schlechtes Gewissen hatten, mich nicht würden sehen wollen. Selbst wenn sie nicht buchstäblich über die Felder flüchteten, würden sie mit allen Mitteln vermeiden wollen, daß ich an sie herankam. Ich würde – und zwar rasch – ein Experte darin werden müssen, in ihr Leben einzudringen, wenn sie einen Moment nicht auf der Hut waren. Falls Charlie West tatsächlich nicht wußte, wer ihn bezahlt hatte – und das nahm ich ihm ab –, dann wußten vielleicht auch die anderen, die gelogen hatten, nicht, wer sie dazu angestiftet hatte. Vielleicht war alles per Telefon gelaufen. Beeinflussung per Ferngespräch. Unpersönlich und nicht nachzuweisen. Vielleicht hatte ich mir eine unmögliche Aufgabe gestellt und sollte das Ganze besser aufgeben und nach Australien auswandern. Nur daß es dort auch Pferderennen gab und ich nicht hingehen konnte. Die Sperre galt weltweit. Gesperrt. Gesperrt. Mein Gott. Also gut, vielleicht ließ ich mich ja tatsächlich eine Zeitlang von Selbstmitleid überwältigen. Aber dabei lag ich allein im Dunkeln in meinem Bett, und bis zum anderen Morgen hatte ich mich wieder gefangen. Ich sah ungefähr so zerfranst aus, wie ich mich fühlte, als ich um sechs Uhr aufstand und die sanftgeschwungene Nase des Lotus Richtung London, NW 7, Mill Hill, lenkte. Da ich niemanden auf der Rennbahn sprechen konnte, mußte ich die Leute zu Hause erwischen, und im Falle von George 87
Newtonnards, Buchmacher, erwies sich »zu Hause« als ausladender, pinkfarben getünchter Bungalow im Ranchhausstil in einem wohlhabenden Vorort. Um halb neun hoffte ich, ihn beim Frühstück anzutreffen, tatsächlich aber öffnete er bei meiner Ankunft gerade sein Garagentor. Ich parkte den Wagen quer vor seiner Einfahrt, womit ich mich kaum beliebt machen würde, und er kam auf mich zu, um mich zum Weiterfahren aufzufordern. Ich stieg aus. Als er sah, wer es war, blieb er wie angewurzelt stehen. Ich ging ihm entgegen, schauderte dabei leicht in dem rauhen Ostwind und bedauerte, daß ich nicht wie er in eine Jacke mit Pelzkragen eingemummelt war. »Was wollen Sie hier?« fragte er scharf. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir ein, zwei Fragen beantworten würden...« »Ich habe keine Zeit.« Er wirkte gelassen, selbstsicher, wie jemand, der sich mit einem kleinen Ärgernis auseinandersetzt. »Und was ich sagen kann, hilft Ihnen sowieso nicht. Fahren Sie bitte Ihren Wagen weg.« »Aber gewiß doch... Können Sie mir sagen, wie es dazu kam, daß man Sie gebeten hat, gegen Mr. Cranfield auszusagen?« »Wie es dazu kam?« Er schaute leicht überrascht drein. »Ich habe einen offiziellen Brief gekriegt, in dem man mich aufgefordert hat, zur Verhandlung zu erscheinen.« »Aber warum? Ich meine, woher haben die Stewards von Mr. Cranfields Wette auf Cherry Pie gewußt? Haben Sie’s ihnen geschrieben?« Er bedachte mich mit einem kühlen Blick. »Wie ich höre«, sagte er, »behaupten Sie, man hätte Sie reingelegt.« »Wie sich so was doch rumspricht.« Ein schwaches Lächeln. »Es spricht sich alles rum – jedenfalls bis zu mir. Ein zuverlässiger Informationsdienst ist die Grundlage eines guten Buchmachergeschäfts.«
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»Wie haben die Stewards von Mr. Cranfields Wette erfahren?« »Mm. Tja, das weiß ich nicht.« »Wer hat außer Ihnen noch gewußt, daß Sie glaubten, Cranfield hätte auf Cherry Pie gesetzt?« »Er hat auf ihn gesetzt.« »Und wer hat das außer Ihnen noch gewußt?« »Ich hab dafür keine Zeit.« »Ich fahre gern meinen Wagen weg... in ein, zwei Minuten.« Sein verärgerter Blick milderte sich allmählich zu einem halb amüsierten Ausdruck des Sich-Abfindens. Ein sehr gewandter, höflicher Mann, dieser George Newtonnards. »Also gut. Ich hab’s ein paar von den Jungs erzählt... anderen Buchmachern, meine ich. Ich war sauer deswegen, verstehen Sie? Daß ich mich so hab übers Ohr hauen lassen. In meinem Alter müßte ich es eigentlich besser wissen. Vielleicht hat’s einer von denen den Stewards gesteckt, als er mitgekriegt hat, daß es eine Untersuchung gibt. Aber ich selber war’s nicht.« »Haben Sie eine Vermutung, wer das gewesen sein könnte? Ich meine, wissen Sie, ob irgendwer was gegen Cranfield hat?« »Nicht daß ich wüßte.« Er zuckte die Achseln. »Jedenfalls nicht mehr als gegen jeden anderen Trainer, der krumme Dinger probiert.« »Krumme Dinger?« wiederholte ich überrascht. »Aber er doch nicht!« »Ach ja?« »Ich reite für ihn«, protestierte ich. »Ich müßte es wissen.« »Ja«, sagte er sarkastisch. »Allerdings. Spielen Sie hier bloß nicht den Naiven, mein Lieber. Ihr Freund Chris Smith, der mit dem angeknacksten Schädel, das ist der reinste Künstler im Abwürgen, oder vielleicht nicht? Genau wie Sie. Ein sauberes Paar seid ihr beide.« »Sie glauben also, ich hätte Squelch zurückgehalten?« »Ist doch logisch.« 89
»Trotzdem stimmt es nicht.« »Das können Sie Ihrer Großmutter erzählen.« Plötzlich fiel ihm etwas ein. »Ich kenne zwar keinen Buchmacher, der was gegen Cranfield hat, aber ich kenne jedenfalls einen, der was gegen Sie hat. Der hat Sie richtig gefressen. Der war mal fast so weit, daß er Sie mit dem Hackbeil besuchen wollte. Den haben Sie sauber drangekriegt, mein Lieber, alles was recht ist.« »Wie denn? Und wen?« »Sie und Chris Smith, Sie haben zwei Pferde für Cranfield geritten... vor ungefähr sechs Monaten war das... jedenfalls gleich zu Beginn der Saison... in einem Nachwuchs-Jagdrennen in Fontwell. Wissen Sie noch? Es sind massenhaft Touristen von der Südküste gekommen, weil’s an dem Tag ein bißchen zu kühl war, um am Strand zu liegen... jedenfalls ein Riesenpublikum, die Taschen voller Urlaubsgeld... und am Start auch Sie und Chris Smith auf diesen beiden Pferden, und dem Publikum hatten’s beide angetan, und Pelican Jobberson hat Sie gefragt, welches nicht in Form ist, und Sie haben gesagt, Ihrs hätte nicht die geringste Chance, also nimmt er Wetten auf Sie rein, was das Zeug hält, und achtet nicht auf ein ausgeglichenes Buch, und dann gehen Sie hin, reiten ein mordsmäßiges Finish und gewinnen mit einer Halslänge, dabei hätten Sie ohne die geringsten Probleme verlieren können. Pelican ist im Dreieck gesprungen und hat geschworen, daß er’s Ihnen bei der ersten Gelegenheit heimzahlt.« »Ich habe geglaubt, was ich ihm gesagt habe. Das Pferd ist damals zum erstenmal über Hindernisse gegangen. Kein Mensch hätte voraussagen können, daß es gut genug ist, um zu gewinnen.« »Warum haben Sie dann gewonnen?« »Der Besitzer wollte, wenn möglich.« »Hat er darauf gewettet?«
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»Der Besitzer? Nein. Es ist eine Frau. Sie wettet nie viel. Sie sieht ihre Pferde einfach gern gewinnen.« »Pelican hat geschworen, Sie hätten selber drauf gesetzt und ihm was vorgemacht, um eine bessere Quote zu kriegen.« »Ihr Buchmacher seid viel zu mißtrauisch.« »Die Erfahrung zeigt, daß wir recht haben.« »Diesmal hat er jedenfalls unrecht, Ihr redseliger Freund«, beharrte ich. »Wenn er mich tatsächlich gefragt hat... und ich kann mich nicht daran erinnern... dann habe ich ihm die Wahrheit gesagt. Und einem Buchmacher, der Jockeys solche Fragen stellt, ist sowieso nicht zu helfen. Jockeys sind die schlechtesten Tipgeber der Welt.« »Manche nicht«, sagte er lapidar. »Manche sind da richtig gut drin.« Ich überging das. »Ist er nach so langer Zeit immer noch sauer? Und wenn ja, wäre er dann sauer genug, um nicht nur den Stewards zu stecken, daß Cranfield auf Cherry Pie gesetzt hat, sondern auch andere Leute zu bestechen, sich Lügen über uns aus den Fingern zu saugen?« Er bekam schmale Augen, während er darüber nachdachte. Dann schürzte er unschlüssig die Lippen. »Das fragen Sie ihn am besten selber.« »Danke.« Nicht gerade eine leichte Frage. »Fahren Sie jetzt Ihren Wagen weg?« meinte er. »Ja.« Ich ging zwei Schritte darauf zu, blieb dann stehen und drehte mich noch einmal um. »Mr. Newtonnards, wenn Sie den Mann sehen, der das Geld für Mr. Cranfield gesetzt hat, würden Sie sich dann erkundigen, wer er ist... und mir Bescheid geben?« »Warum fragen Sie nicht Cranfield?« »Der sagt, er will ihn da nicht mit hineinziehen.« »Aber Sie wollen?« »Ich greife eben nach jedem Strohhalm. Ja, ich denke, ich will.« 91
»Warum beruhigen Sie sich nicht einfach und finden sich damit ab?« fragte er besonnen. »Was für ein Aufstand... Sie sind aufs Kreuz gelegt worden. Schön, sind Sie halt aufs Kreuz gelegt worden. Was soll’s? Sitzen Sie’s aus. Irgendwann kriegen Sie Ihre Lizenz wieder.« »Danke für Ihren Rat«, sagte ich höflich, ging zu meinem Wagen und fuhr ihn aus seiner Einfahrt weg. Es war Donnerstag. Eigentlich hätte ich nach Warwick fahren und vier Rennen reiten sollen. Statt dessen fuhr ich ziellos über die North Circular Road zurück und überlegte, ob ich David Oakley, Ermittler und phantasievoller Fotograf, einen Besuch abstatten sollte. Wenn auch Charlie West nicht wußte, wer mich hereingelegt hatte, bestand doch immerhin die Möglichkeit, daß Oakley als einziger im Bilde war. Aber selbst wenn, war es höchst unwahrscheinlich, daß er es mir verriet. Es kam mir sinnlos vor, ihn zur Rede zu stellen, aber es war auch nichts gewonnen, wenn ich es gar nicht versuchte. Schließlich hielt ich an einer Telefonzelle und stellte über die Auskunft seine Nummer fest. Ein Mädchen meldete sich. »Mr. Oakley ist noch nicht da.« »Kann ich einen Termin machen?« Sie fragte mich, worum es ging. »Um eine Scheidung.« Sie meinte, Mr. Oakley könne mich um 11 Uhr 30 empfangen, und fragte mich nach meinem Namen. »Charles Crisp.« »Schön, Mr. Crisp. Mr. Oakley erwartet Sie dann.« Das bezweifelte ich. Andererseits rechnete er vielleicht, wie Charlie West, ganz allgemein mit irgendeiner Art von Protest. Von der North Circular Road fuhr ich auf der M 1 hundertfünfzig Kilometer bis Birmingham und fand Oakleys Büro über einem Fahrrad- und Radioladen einen knappen Kilometer vom Zentrum entfernt. 92
Die schäbige schwarze Haustür zierte ein ordentliches kleines Namensschild mit der schlichten Aufschrift »Oakley«. Es gab zwei Schlüssellöcher, eins von einem Chubb-, das andere von einem Sicherheitsschloß, dazu ein diskret angebrachtes Guckloch. Ich betätigte die Klinke dieser vermeintlichen Festung, und die Tür öffnete sich ohne weiteres meinem Druck. Dahinter befand sich ein schmaler Gang mit blaßblauen Wänden, der auf eine nach oben führende Treppe ohne Teppich stieß. Ich stieg sie hinauf, und meine Schritte ließen die Stufen laut knarren. Die Treppe endete in einem schmalen Absatz mit einer zweiten schäbigen schwarzen Tür, die auf ganz ähnliche Weise gesichert war. An dieser Tür befand sich ein weiteres ordentliches Schild mit der Aufforderung »Bitte klingeln«. Ich hielt den Knopf drei Sekunden gedrückt. Die Tür wurde von einem hochgewachsenen, kräftig wirkenden Mädchen in einem dunkeln Hosenanzug aus Leder geöffnet. Unter der Jacke trug sie einen schwarzen Pullover und unter den Hosenbeinen schwarze Lederstiefel. Schwarze Augen erwiderten meinen forschenden Blick, und schwarze, von einer Schildpattspange zurückgehaltene Haare fielen glatt auf ihre Schultern, wo sie sich nach innen bogen. Auf den ersten Blick wirkte sie wie vierundzwanzig, aber man sah bereits kleine Fältchen um ihre Augen, deren stumpfer Ausdruck auf eine zu innige Bekanntschaft mit schmutziger Wäsche schließen ließ. »Ich habe einen Termin«, sagte ich. »Crisp.« »Kommen Sie herein.« Sie öffnete die Tür weiter und überließ es mir, sie zu schließen. Ich folgte ihr in das Zimmer, ein kleines, quadratisches Büro, das mit Schreibtisch, Schreibmaschine, Telefon und vier hohen Aktenschränken ausgestattet war. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums befand sich eine weitere Tür. Nicht schwarz;
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moderne, stumpfe Hartfaserplatte, grau gestrichen. Weitere Schlüssellöcher. Ich beäugte sie gedankenvoll. Das Mädchen öffnete die Tür, sagte: »Mr. Crisp ist da« und trat zurück, um mich vorbeizulassen. »Danke«, sagte ich, machte drei Schritte vorwärts und war mit David Oakley allein. Sein Büro war nicht sehr viel größer als das Vorzimmer, und bei der Ausstattung war an allem gespart worden. Trübes, braunes Linoleum, ein Garderobenständer aus Formholz, ein kleiner, billiger Sessel vor einem grauen Metallschreibtisch, und vor dem verschmutzten Fenster, anstelle von Gardinen, ein robust wirkender, an die Wand geschraubter Rahmen mit Maschendraht. Draußen waren die schweren Streben und Träger einer Feuertreppe zu sehen. Die Sonne von Birmingham kämpfte sich gegen alle Wahrscheinlichkeit unter größter Mühe durch und fiel in zerknitterten Wabenmustern auf einen alten Tresor. An der Wand zu meiner Rechten eine weitere Tür, fest geschlossen. Mit noch mehr Schlüssellöchern. Hinter dem Schreibtisch saß auf einem Drehstuhl der Besitzer der ganzen Pracht, der absolut unerinnerbare Mr. Oakley. Ziemlich jung. Schlank. Mausfarbenes Haar. Und diesmal eine Sonnenbrille. »Setzen Sie sich, Mr. Crisp.« Stimme ohne jeden Akzent und völlig emotionslos, wie gehabt. »Scheidung, nicht wahr? Sagen Sie mir genau, was Sie wünschen, dann können wir uns auf ein Honorar einigen.« Er sah auf seine Uhr. »Leider kann ich Ihnen nur zehn Minuten widmen. Also, wollen wir?« Er hatte mich nicht erkannt. Ich fand, daß ich mir das genausogut zunutze machen konnte. »Wie ich höre, wären Sie bereit, Beweise für mich zu fälschen... zum Beispiel Fotos.« Er begann zu nicken und verfiel dann in völlige Reglosigkeit. Die undurchsichtige dunkle Brille bewegte sich nicht. Der
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fahle, gerade geschnittene Mund zuckte nicht. Die auf dem Schreibtisch liegende Hand blieb locker und entspannt. Schließlich sagte er, ohne daß sich sein Tonfall im mindesten änderte: »Raus.« »Wieviel berechnen Sie für das Fälschen von Beweisen?« »Raus.« Ich lächelte. »Ich wüßte gern, wieviel ich wert war?« »Zieh Leine.« Sein Fuß unterm Schreibtisch bewegte sich. »Ich lasse was springen, wenn Sie mir sagen, wer Ihnen den Auftrag gegeben hat.« Er überlegte es sich. Dann sagte er: »Nein.« Hinter mir ging leise die Tür zum Vorzimmer auf. Oakley sagte ruhig: »Das ist kein Mr. Crisp, Didi. Das ist ein Mr. Kelly Hughes. Mr. Hughes wollte gerade gehen.« »Mr. Hughes ist noch nicht soweit«, sagte ich. »Ich denke, Mr. Hughes wird feststellen, daß er’s doch ist«, sagte sie. Ich sah sie über die Schulter hinweg an. Sie hatte eine große, schwarz aussehende Pistole mit einem sehr großen, schwarz aussehenden Schalldämpfer in der Hand. Der ganze Kram zeigte ohne zu wackeln in meine Richtung. »Wie dramatisch«, sagte ich. »Können Sie im Zentrum von Birmingham so ohne weiteres eine Leiche loswerden?« »Ja«, sagte Oakley. »Normalerweise natürlich nur gegen Honorar«, fügte Didi hinzu. Ich gab mir alle Mühe, ihnen nicht zu glauben, aber ich schaffte es nicht. Trotzdem... »Falls Sie sich doch dazu entschließen, die Informationen, die ich brauche, zu verkaufen, wissen Sie ja, wo Sie mich finden können.« Ich lehnte mich entspannt im Stuhl zurück. »Ich habe vielleicht nichts gegen Geld«, sagte er ruhig. »Aber ich bin nicht blöd.«
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»Da gehen die Meinungen auseinander«, meinte ich leichthin. Keine Reaktion. »Es liegt nicht in meinem Interesse, daß Sie beweisen, daß man Ihnen... wie soll ich sagen... etwas angehängt hat.« »Das verstehe ich. Irgendwann werden Sie sich allerdings wünschen, Sie hätten nicht dabei mitgeholfen.« Er sagte sanft: »So etwas Ähnliches haben schon eine ganze Reihe von Leuten gesagt, allerdings – das muß ich zugeben – nur wenige so ruhig wie Sie.« Mir kam plötzlich der Gedanke, daß er wütende Attacken von der Sorte, wie ich sie bei den Wests geritten hatte, ziemlich gewohnt sein mußte und daß sein Büro vielleicht deshalb... Didi fing meinen schweifenden Blick auf und nickte zynisch. »Genau. Es haben schon zu viele Leute versucht, den Laden in Stücke zu zerlegen. Deshalb beschränken wir den Schaden auf ein Minimum.« »Sehr klug.« »Leider habe ich jetzt wirklich einen anderen Termin«, sagte Oakley. »Wenn Sie mich also entschuldigen wollen...« Ich stand auf. Es gab keinen Grund, noch zu bleiben. »Mich wundert«, sagte ich, »daß Sie nicht im Gefängnis sitzen.« »Ich bin clever«, antwortete er ganz sachlich. »Meine Kunden sind zufrieden, und Leute wie Sie... machtlos.« »Eines Tages wird Sie jemand umbringen.« »Sie vielleicht?« Ich schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht wert.« »Genau«, meinte er ruhig. »Die Aufträge, die ich annehme, sind nicht so, daß die Opfer mich tatsächlich dafür umbringen würden. Ich bin wirklich nicht blöd.« »Nein«, sagte ich. Ich ging zur Tür hinüber, und Didi machte Platz, damit ich an ihr vorbeikam. Im Vorzimmer legte sie die Pistole auf ihren 96
Schreibtisch und knipste ein helles rotes Lämpchen aus, das auf einem kleinen Schaltbrett leuchtete. »Ein Notsignal?« fragte ich. »Unter dem Schreibtisch?« »So könnte man sagen.« »Ist die Pistole geladen?« Ihre Augenbrauen hoben sich. »Natürlich.« »Aha.« Ich öffnete die Eingangstür. Sie kam herüber, um sie hinter mir zu schließen, während ich auf die Treppe zuging. »War nett, Sie kennenzulernen, Mr. Hughes«, sagte sie kühl. »Kommen Sie nicht wieder.« Ich ging einigermaßen deprimiert zu meinem Wagen. Aus keinem der drei Belastungszeugen in der Verhandlung hatte ich auch nur das geringste herausgekriegt, und was David Oakley über meine Ohnmacht gesagt hatte, stimmte offenbar nur allzu genau. Daß er das in meiner Wohnung fotografierte Geld einfach mitgebracht hatte, war anscheinend nicht zu beweisen. In Corrie hatte ihn keiner kommen oder gehen sehen: Tony hatte sämtliche Stallburschen befragt, und keiner hatte ihn bemerkt. Und es war Oakley ja auch leichtgefallen, unbeobachtet zu bleiben. Er hatte nur früh kommen müssen, während alles draußen bei der Morgenarbeit auf den Downs war. Von halb acht bis halb neun war der Stall verlassen. Durch die unverschlossene Tür in meine Wohnung gelangen, seine Requisiten aufbauen, ein, zwei Blitzlichtaufnahmen schießen und sich in Ruhe wieder verdrücken... Das Ganze hatte vermutlich nicht länger als zehn Minuten gedauert. Möglich, daß er über seine zwielichtigen Geschäfte Buch führte. Möglich, aber noch lange nicht wahrscheinlich. Vielleicht mußte er irgend etwas gegen seine Kunden in der Hand behalten, damit sie ihn später, in einem Anfall von wiedererwachendem bürgerlichen Gewissen, nicht ans Messer lieferten. Falls er solche Aufzeichnungen führte, erklärte das 97
vielleicht die Vielzahl der Schlösser. Vielleicht sollten die Schlösser aber auch nur Leute davon abschrecken, einzubrechen und nach Aufzeichnungen zu suchen – mich jedenfalls schreckten sie ab. Ob Oakley seine Falschaussage für eine Stimme am Telefon produziert hätte, so wie es Charlie West getan hatte? Wohl eher nicht. Oakley hatte Grips, wo Charlie bloß eitel war, und Oakley würde sich nicht engagieren, ohne daß auch seine Kunden mit drinhingen. Oakley mußte wissen, wer die Sache eingefädelt hatte. Aber diese Informationen zu stehlen... oder aus ihm herauszuprügeln... oder sie ihm mit einem Trick abzuluchsen... oder sie ihm abzukaufen... eins kam mir so aussichtslos vor wie das andere. Ich konnte nur reiten. Schlösser knacken, prügeln oder klauen konnte ich nicht. Jedenfalls nicht bei Oakley. Oakley und Didi. Das waren alte Hasen in dem Spielchen. Sie hatten die Regeln erfunden. Oakley und Didi waren Profiliga. Wie kam man in Kontakt mit Oakley, wenn man seine Art von Dienstleistungen benötigte? Er konnte schlecht annoncieren. Irgendwer mußte über ihn Bescheid wissen. Auf dem Parkplatz in meinem Wagen sitzend, dachte ich eine Weile darüber nach und fragte mich, was ich als nächstes tun sollte. Ich kannte nur einen einzigen Menschen, der den Finger an den Puls von Birmingham legen konnte, wenn er wollte, und angesichts meiner derzeitigen Lage wollte er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Trotzdem... Ich ließ den Wagen an, fädelte mich durch die Einbahnstraßen und fand eine Lücke auf dem überfüllten Parkplatz hinter dem ›Great Stag Hotel‹. Drinnen kam langsam Schwung in das Ritual der Mittagspause, und die Atmosphäre 98
reicherte sich kräftig mit Alkoholdunst, dem Dröhnen sonorer Stimmen und Zigarrenqualm an. Das ›Great Stag Hotel‹ sprach fast ausschließlich eine ganz bestimmte Sorte gewiefter, erfolgreicher, nüchterner Geschäftsleute an, die eine angenehme Umgebung für unangenehme Entscheidungen brauchten, und es sprach sie an, weil Teddy Dewar, der Hausherr, selbst zu dieser Sorte gehörte. Ich fand ihn in der Bar, im Gespräch mit zwei Leuten, die mit ihren dunkelgrauen Anzügen, weißen Hemden, gepflegten kastanienbraunen Krawatten, dreiundvierzig Zentimeter Halsund sechsundneunzig Zentimeter Hüftumfang fast nicht von ihm zu unterscheiden waren. Sein berufsbedingt unverbindlicher Gesichtsausdruck verschleierte sich leicht, als er mich über ihre Schultern hinweg sah. Ein gesperrter Jockey rangierte nicht allzu hoch in seiner Achtung. Schadete zweifellos dem Ruf des Hauses. Ich drängte mich neben ihn an die Bar und bestellte Whisky. »Ich hätte Sie gern mal kurz gesprochen«, sagte ich. Er wandte den Kopf ein winziges Stück in meine Richtung und antwortete, ohne mich direkt anzusehen: »Na gut. In ein paar Minuten.« Keinerlei Wärme in den Worten. Aber auch kein Ausweichen vor der unwillkommenen Situation. Er fuhr fort, sich mit den beiden Männern über die Schwäche von Ölaktien zu unterhalten, eiste sich irgendwann geschickt los und wandte sich mir zu. »Na, Kelly...« Sein Blick war kühl und distanziert, er wartete ab, was ich wollte, ehe er echte Gefühle zeigte. »Essen Sie mit mir?« Ich machte es ganz beiläufig. Er beherrschte sein Erstaunen. »Ich dachte...« »Ich bin vielleicht gesperrt«, sagte ich, »aber essen tue ich trotzdem noch.« Er musterte mein Gesicht. »Es geht Ihnen an die Nieren.«
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»Was haben Sie denn erwartet? Tut mir leid, daß man’s so sieht.« Er sagte mit neutraler Stimme: »Da ist ein Muskel an Ihrem Kinn... Also gut: wenn’s Ihnen nichts ausmacht, daß wir gleich reingehen.« Wir setzten uns an einen unauffälligen Tisch an der Wand und nahmen Rindfleisch von einem Rostbraten auf einem Servierwagen. Beim Essen prüfte sein Blick den Betrieb des Speisesaals, ohne daß ihm etwas entging. Ich wartete, bis er sich überzeugt hatte, daß alles zufriedenstellend lief, und kam dann unmittelbar zur Sache. »Wissen Sie etwas über einen Mann namens David Oakley? Das ist ein Ermittler. Hat knapp einen Kilometer von hier ein Büro.« »David Oakley? Nie gehört.« »Er hat ein paar Beweise fabriziert, durch die das Verfahren am Montag zu meinen Ungunsten ausgegangen ist.« »Fabriziert?« In seiner Stimme klang ein leiser Zweifel durch. »Ja, schon gut«, seufzte ich. »Wahrscheinlich klingt es kitschig, aber ich war wirklich nicht schuldig im Sinne der Anklage. Aber irgendwer hat dafür gesorgt, daß es so aussah.« Ich erzählte ihm von dem in meinem Schlafzimmer fotografierten Geld. »Und dieses Geld haben Sie nie gekriegt?« »Nein. Und der angebliche Brief von Cranfield war gefälscht. Aber wie sollten wir das beweisen?« Er dachte darüber nach. »Gar nicht.« »Eben«, pflichtete ich bei. »Dieser David Oakley, der das Foto gemacht hat... bei dem haben Sie wohl auch keinen Erfolg gehabt?« »Kein Erfolg trifft es genau.«
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»Ich verstehe nicht recht, wieso Sie zu mir gekommen sind.« Er aß sein Rindfleisch auf und legte Messer und Gabel ordentlich nebeneinander. Wie aus dem Nichts erschienen Kellner, um abzuräumen und Kaffee zu servieren. Immer noch unverbindlich, wartete er, während ich die Rechnung bezahlte. »Es ist wahrscheinlich zuviel verlangt«, sagte ich endlich. »Schließlich habe ich nur drei-, viermal hier übernachtet und Ihnen gegenüber keinen Anspruch auf Freundschaft oder Hilfe... und trotzdem, ich kenne sonst niemanden, der auch nur ansatzweise tun könnte, wozu Sie in der Lage wären... wenn Sie wollen.« »Nämlich?« fragte er knapp. »Ich will wissen, wie man zu David Oakley hingelotst wird, wenn man Beweise gefälscht haben will. Er hat mir praktisch gesagt, daß er das öfter macht. Also... woher kriegt er seine Kunden? Wer empfiehlt ihn? Ich dachte, daß Ihnen bei den vielen Leuten, die Sie kennen, vielleicht jemand einfällt, der so tun könnte, als wollte er einen Auftrag erledigt haben... oder als hätte der einen Freund, der einen Auftrag erledigt haben will... und er seine Fühler ausstreckt und feststellt, ob irgendwer irgendwann Oakley empfiehlt. Und wenn ja, wer.« Er dachte darüber nach. »Weil Sie, wenn Sie einen Kontaktmann aufgetrieben haben, vielleicht von da aus zum nächsten kommen könnten... und vielleicht irgendwann auf einen Namen stoßen, der Ihnen was sagt?« »Es klingt wohl ziemlich dünn«, sagte ich resigniert. »Die Chance ist sehr gering«, pflichtete er bei. Er verfiel in ein längeres Schweigen. Dann fügte er hinzu: »Trotzdem kenne ich einen, der vielleicht bereit wäre, es zu versuchen.« Zum erstenmal lächelte er kurz. »Das...« Ich schluckte. »Das ist toll.« »Ich kann nicht versprechen, daß was dabei rauskommt.«
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7 Am Freitag morgen nach der ersten Arbeit kam Tony meine Treppe hochgeklumpt und goß sich zwei Zentimeter Whisky in den Kaffee, den ich ihm gab. Er trank das siedend heiße Gemisch und schauderte, als der Alkohol zubiß. »Gott, ist das kalt auf den Downs«, sagte er. »Lieber du als ich.« »Lügner«, sagte er freundlich. »Muß ein eigenartiges Gefühl für dich sein, nicht zu reiten.« »Ja.« Er fläzte sich in den grünen Sessel. »Poppy hat schon wieder die Morgenkötzelei. Was bin ich froh, wenn diese elende Schwangerschaft vorbei ist. Die halbe Zeit ist ihr schlecht.« »Arme Poppy.« »Ja... Jedenfalls bedeutet das, daß wir heute abend nicht zu dem Ball gehen. Sie sagt, das wird ihr einfach zuviel.« »Was für ein Ball?« »Vom Jockeys’ Fund. Du weißt doch. Du hast die Karten da drüben auf dem Kaminsims stehen.« »Ach so... ja. Das hatte ich völlig vergessen. Wir wollten zusammen gehen.« »Stimmt. Aber jetzt wirst du, wie gesagt, ohne uns gehen müssen.« »Ich gehe überhaupt nicht.« »Das dachte ich mir schon.« Er seufzte und nahm einen tiefen Schluck. »Was hast du gestern gemacht?« »Leute besucht, die mich nicht sehen wollten.« »Irgendwas dabei rausgekommen?« »Nicht viel.« Ich erzählte ihm kurz von Newtonnards und David Oakley und von der Stunde, die ich bei Andrew Tring verbracht hatte.
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Ich hatte überhaupt nur an Andrew Tring gedacht, weil ich auf dem Rückweg von Birmingham in die Nähe seines Dorfes kam, und meiner ersten Regung hätte es eher entsprochen, selbst vor dem Gedanken an ihn zurückzuschrecken. Daß ein gesperrter Jockey einen der Stewards besuchte, die ihm die Lizenz weggenommen hatten, war jedenfalls nicht üblich. Wenn ich mich nicht ziemlich stark über ihn geärgert hätte, wäre ich einfach weitergefahren. Mein Besuch behagte ihm überhaupt nicht. Er machte selbst die Tür seines gediegenen, ausgedehnten alten Herrenhauses auf und konnte sich nicht damit herausreden, er sei nicht da. »Kelly! Was wollen Sie denn hier?« »Sie um ein paar Erklärungen bitten.« »Ich habe Ihnen nichts zu sagen.« »Von wegen.« Er runzelte die Stirn. Seine gute Kinderstube hielt ihn eben noch davon ab, sich zurückzuziehen und mir die Tür vor der Nase zuzuschlagen. »Dann kommen Sie rein. Aber nur kurz.« »Danke«, sagte ich ohne Ironie und folgte ihm in einen nahegelegenen kleinen Raum, dessen Wände mit Büchern bedeckt waren und der einen riesigen Schreibtisch, drei tiefe Lehnsessel und ein Farbfernsehgerät enthielt. »Also«, sagte er und schloß die Tür, ohne mir einen der Lehnsessel anzubieten, »weshalb sind Sie gekommen?« Er war vier Jahre älter als ich und ungefähr genauso groß. Immer noch so gepflegt wie zu seiner Zeit als Jockey, äußerlich immer noch der gleiche. Nur die lockere, seit langem bestehende Freundlichkeit unter Berufskollegen schien irgendwann während des Aufstiegs vom Amateurstatus zur Autorität verkümmert zu sein. »Andy«, sagte ich, »glauben Sie wirklich allen Ernstes, daß das Rennen mit Squelch manipuliert war?« »Sie sind gesperrt worden«, sagte er kalt. »Das heißt noch lange nicht, daß ich schuldig bin.« 103
»Da bin ich anderer Meinung.« »Dann sind Sie dumm«, sagte ich unverblümt. »Und haben vor lauter Angst Ihr kleines bißchen Verstand verloren.« »Das reicht, Kelly. Das muß ich mir nicht anhören.« Er öffnete die Tür wieder und wartete darauf, daß ich ging. Ich tat es nicht. Wenn er mich nicht mit körperlicher Gewalt hinauswarf, würde er mich noch ein Weilchen ertragen müssen. Er bedachte mich mit einem wütenden Blick und schloß die Tür wieder. Ich sagte etwas besonnener: »Es tut mir leid. Wirklich, es tut mir leid. Es ist nur so, daß wir mindestens fünf Jahre lang gegeneinander geritten sind... Ich hätte eigentlich gedacht, Sie würden nicht so ohne weiteres glauben, daß ich absichtlich ein Rennen verloren habe. Ich habe noch nie ein Rennen verloren, das ich gewinnen konnte.« Er schwieg. Er wußte, daß ich keine Rennen schmiß. Jeder, der regelmäßig ritt, wußte, wer das tat und wer nicht, und ich war, ganz gleich was Charlie West in der Verhandlung gesagt hatte, kein Bremskünstler, weil mir darin einfach die Übung fehlte. »Da war immerhin noch das Geld«, sagte er endlich. Er hörte sich desillusioniert und entmutigt an. »Das habe ich nie bekommen. Oakley hat es in meine Wohnung mitgebracht und dort fotografiert. Diese ganzen sogenannten Beweise, was sage ich, die ganze verdammte Verhandlung war so echt wie ein Sixpence-Stück aus Blei.« Er bedachte mich mit einem langen, skeptischen Blick. Dann sagte er: »Ich kann da leider nichts machen.« »Wovor haben Sie Angst?« »Hören Sie doch auf damit, daß ich Angst hätte«, sagte er gereizt. »Ich habe keine Angst. Ich kann nur einfach nichts machen, selbst wenn das, was Sie sagen, stimmt.« »Es stimmt... und vielleicht glauben Sie ja, daß Sie keine Angst haben, aber Sie machen jedenfalls eindeutig den 104
Eindruck. Oder vielleicht... sind Sie einfach nur völlig verschüchtert? Der kleine Sextaner unter den alten, mächtigen Aufsichtsschülern? Der Angst hat, es sich mit Ihnen zu verderben?« »Kelly!« protestierte er; aber ich merkte, daß ich einen Nerv berührt hatte. Ich sagte unfreundlich: »Sie sind eine feige Memme« und tat einen Schritt auf die Tür zu. Er machte keine Anstalten, sie mir zu öffnen. Statt dessen hob er eine Hand, um mich zu bremsen, und sein Gesicht war zu Recht wütend. »Das ist nicht fair. Bloß weil ich Ihnen nicht helfen kann...« »Sie hätten aber können. Bei der Verhandlung.« »Sie verstehen nicht.« »Ich verstehe sehr gut. Es ist Ihnen leichter gefallen, mich für schuldig zu halten, als Lord Gowery zu sagen, daß Sie Zweifel haben.« »Das war nicht so leicht, wie Sie sich das vorstellen.« »Danke«, sagte ich ironisch. »So meine ich das doch nicht...« Er schüttelte ungeduldig den Kopf. »Ich will damit sagen, es war alles nicht so einfach, wie Sie unterstellen. Als Gowery mich gebeten hat, Beisitzer zu werden, war ich überzeugt, das Ganze sei nur eine Formalität, Cranfield und Sie hätten das Lemonfizz ehrlich gelaufen und seien vom Ergebnis selbst überrascht. Colonel Midgeley hat mir gesagt, es sei im Grunde lächerlich, daß die Verhandlung überhaupt stattfinden muß. Ich habe nie damit gerechnet, Sie plötzlich sperren zu müssen.« »Haben Sie gesagt, Lord Gowery hat Sie gebeten, Beisitzer zu werden?« »Aber ja. Das ist die normale Vorgehensweise. Die Beisitzer einer Verhandlung werden nicht aus dem Hut gezogen...« »Gibt es denn keinen Geschäftsverteilungsplan oder so etwas?«
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»Nein. Der Disciplinary Steward bittet zwei Kollegen, mit ihm zusammen zu amtieren... und genau das hat mich in die Klemme gebracht, wenn Sie’s unbedingt wissen müssen, weil ich zu Lord Gowery nicht nein sagen wollte...« Er hielt inne. »Weiter«, drängte ich. »Wieso nicht?« »Na ja, weil...« Er zögerte und sagte dann langsam: »In gewisser Weise bin ich Ihnen das wohl schuldig... Es tut mir leid, Kelly, fürchterlich leid, ich weiß, daß Sie normalerweise keine Rennen manipulieren... Ich bin Gowery gegenüber in einer prekären Lage, und es ist immens wichtig, daß ich mich gut mit ihm stelle.« Ich unterdrückte meine Empörung. Andrew Trings Blick war nach innen gekehrt, und nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, gefiel ihm das, was er dort sah, nicht sonderlich. »Er besitzt das Eigentumsrecht an dem Land unmittelbar nördlich von Manchester, auf dem unsere größte Töpferei steht.« Das Vermögen von Andrew Trings Familie beruhte nicht auf schönem Porzellan, sondern auf leicht zerbrechlichen Teetassen für Anstalten. Seine Produkte wurden von Tellerwäschern in Schulen und Krankenhäusern von Waterloo bis Hongkong zerdeppert, und die Scherben in den Abfalleimern der Welt waren für ihn wie eine immerwährende Erlaubnis zum Gelddrucken. Er sagte: »Es hat dort einiges an Neuerschließung gegeben, und jetzt ist dieses Land plötzlich eine Viertelmillion wert. Und unsere Pacht läuft in drei Jahren aus... Wir verhandeln seit einiger Zeit über einen neuen Vertrag, aber der alte lief auf neunundneunzig Jahre, und kein Mensch ist wild darauf, für so lange abzuschließen... Die Grundrente wird ohnehin beträchtlich ansteigen, aber wenn Gowery es sich anders überlegt und dieses Land als Bauland verkaufen will, können wir nichts dagegen machen. Uns gehören nur die Gebäude... Wir würden die gesamte Fabrik verlieren, falls er den Pachtvertrag nicht erneuert... Und wir können Tassen und 106
Teller nur deshalb so billig herstellen, weil unsere Betriebsunkosten so gering sind... Wenn wir eine neue Fabrik bauen oder mieten müssen, sind unsere Preise weniger konkurrenzfähig, und unser Absatz geht weltweit zurück. Gowery selbst hat das letzte Wort darüber, ob und zu welchen Bedingungen unser Pachtvertrag erneuert wird... Sie sehen also, Kelly, es geht nicht darum, daß ich Angst vor ihm habe... es steht viel mehr auf dem Spiel... und er vergißt es einem nie, wenn man sich gegen ihn stellt.« Er verstummte und sah mich düster an. Ich erwiderte seinen Blick ebenso düster. Die rauhe Wirklichkeit starrte uns steinern ins Gesicht. »So ist das also«, meinte ich. »Sie haben völlig recht. Sie können mir nicht helfen. Sie haben es von vornherein nicht gekonnt. Ich bin froh, daß Sie es erklärt haben...« Ich lächelte ihn schief an: wieder eine Sackgasse, die letzte an einem unergiebigen Tag. »Es tut mir leid, Kelly...« »Klar«, sagte ich. Tony beendete sein angereichertes Frühstück und sagte: »Dann hatte Andy Trings Hasenfüßigkeit am Montag also gar nichts Abgründiges.« »Kommt darauf an, was du abgründig nennst. Aber wahrscheinlich nicht.« »Und was bleibt dann?« »Ein Dreck«, sagte ich deprimiert. »Du darfst nicht aufgeben«, protestierte er. »Ach was. Aber eins ist mir bei aller Unklarheit klargeworden, nämlich daß ich nicht weiterkomme, weil ich ich bin. Am Montag morgen heure ich mir als erstes meinen eigenen David Oakley an.« »Recht so.« Er stand auf. »Zeit fürs zweite Lot, wie ich höre.« Unten im Hof führten die Stallburschen die Pferde 107
heraus, deren Hufe dumpf auf dem festgetretenen Kies knirschten. »Wie machen sie sich denn?« fragte ich. »Och... so la la. Es stinkt mir gewaltig, daß ich andere Jockeys draufsetzen muß. Hat mir das Spielchen gründlich verleidet, die ganze Geschichte.« Als er hinuntergegangen war, um zu reiten, räumte ich meine bereits aufgeräumte Wohnung auf und machte mir noch Kaffee. Leer dehnte sich der Tag vor mir aus. Genau wie der nächste und der übernächste und auf unbestimmte Zeit jeder weitere. Zehn Minuten von dieser Aussicht reichten mir. Ich stöberte herum und fand einen weiteren Strohhalm, an den ich mich klammern konnte: rief bei der BBC einen Mann an, den ich flüchtig kannte. Eine kühle Sekretärin sagte mir, er sei nicht da und ich solle es um elf noch einmal probieren. Ich probierte es um elf noch einmal. Immer noch nicht da. Ich probierte es um zwölf. Jetzt war er da, hörte sich aber so an, als wünschte er, er wäre es nicht. »Doch nicht Kelly Hughes, der...« Seine Stimme verklang, während er vergeblich nach einer taktvollen Formulierung suchte. »Genau der.« »Tja... äh... ich glaube nicht...« »Ich will gar nichts Besonderes«, versicherte ich ihm resigniert. »Ich will nur wissen, wie der Laden heißt, der die Rennen filmt. Die Leute von der Kameraüberwachung.« »Ach so.« Er klang erleichtert. »Das ist die Racecourse Technical Services. Wird vom Levy Board betrieben. Die haben praktisch ein Monopol, obwohl es noch eine kleine Firma gibt, die manchmal in Lizenz arbeitet. Und dann natürlich die Fernsehgesellschaften. Wollen Sie ein ganz bestimmtes Rennen? Ach so, ja... vermutlich den Lemonfizz Crystal Cup.« 108
»Nein. Das Meeting in Reading zwei Wochen davor.« »Reading... Reading... Mal überlegen. Wer könnte das gewesen sein?« Er summte ein paar mißtönende Takte, während er überlegte. »Ich würde sagen... doch, ja, diese kleine Firma, die Leute von Cannot Lie. Cannot Lie, Ltd. Sitzt in Woking, Surrey. Wollen Sie die Nummer?« »Ja, bitte.« Er las sie mir vor. »Vielen Dank«, sagte ich. »Jederzeit... äh... also... ich meine...« »Ich weiß, was Sie meinen«, bestätigte ich. »Trotzdem danke.« Ich legte mit einer Grimasse den Hörer auf. Es machte immer noch keinen Spaß, nach allgemeiner Meinung ein Schurke zu sein. Angesichts der Reaktion des BBC-Mannes kam ich zu dem Schluß, daß ich bei der Cannot-Lie-Brigade am Telefon möglicherweise gar nichts erreichte. Mag sein, daß sie nicht lügen konnten, aber ausweichen würden sie ganz sicher. Außerdem hatte ich den ganzen Tag zu vergeuden. Das Büro von Cannot Lie rangierte auf der Luxusleiter ein, zwei Sprossen höher als das von David Oakley, was allerdings nicht viel besagte. Ein großer kahler Raum im zweiten Stock eines Hauses aus der Jahrhundertwende in einer Seitenstraße. Ein wackeliger Lift, groß genug für einen schlanken Mann oder zwei verhungerte Kinder. Ein abgenutzter Schreibtisch mit einer abgenutzten Blondine, die, auf der Platte sitzend, ihre Zehennägel lackierte. »Ja?« sagte sie, als ich hereinkam. Sie hatte einen lila Slip mit Spitze an und unternahm nichts, um zu verhindern, daß ich eine Menge davon sah. »Niemand da?« fragte ich.
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»Nur wir Küken«, bestätigte sie. Sie hatte den Akzent von Süd-London und die entsprechende rotznasige Schlagfertigkeit. »Zu wem wollen Sie, zu dem Alten oder zu unserem Alfie?« »Sie genügen mir vollauf«, sagte ich. »Na, na.« Sie nahm das, mit einem geübten Bis-hierher-undnicht-weiter-Lächeln, als ein ihr von Rechts wegen zustehendes Kompliment auf. Ein Fuß war fertig. Sie streckte das Bein und schlenkerte es auf und ab, um die Trocknung zu beschleunigen. »Ich gehe heute abend tanzen«, erklärte sie. »In meinen Zehenfreien.« Ich glaube nicht, daß sich irgendwer auf die Zehen konzentrieren würde. Abgesehen von den Beinen hatte sie einen tollen, spitzen kleinen Busen unter einem weißen Baumwollpullover und einen knallrosa Ledergürtel, der eine Wespentaille umspannte. Ihr Körper sah wie circa zwanzig aus. Ihr Gesicht, als hätte sie die letzten sechs nichts anbrennen lassen. »Lackieren Sie den anderen auch noch«, schlug ich vor. »Haben Sie’s nicht eilig?« »Ich genieße die Aussicht.« Sie kicherte anzüglich und machte sich an den anderen Fuß. Der Anblick war noch haarsträubender als vorher. Sie sah mir beim Zusehen zu und genoß es. »Wie heißen Sie?« fragte ich. »Carol. Und Sie?« »Kelly.« »Von der Isle of Man?« »Nein. Aus dem Land unserer Väter.« Sie bedachte mich mit einem kessen Blick. »Sie sind ganz schön fix, was?« Ich wünschte, es wäre so. »Wie lange bewahren Sie normale, routinemäßige Rennfilme auf?« fragte ich bedauernd. »Hä? Bis in alle Ewigkeit, denk ich.« Sie schaltete mühelos auf das neue Thema um, ohne sich in ihrer hemmungslosen 110
Lackierarbeit unterbrechen zu lassen. »Das heißt, bis jetzt haben wir noch keine vernichtet. Wir sind allerdings erst seit achtzehn Monaten im Renngeschäft. Keine Ahnung, was die machen wollen, wenn der große Lagerraum voll ist. In allen anderen stehen wir schon bis zu den Ohren in Filmen von Autorennen, Golfspielen, Military und lauter so’n Kram.« »Wo ist der große Lagerraum?« »Da durch.« Sie wedelte mit dem kleinen, rosafarbenen Nagellackpinsel in die ungefähre Richtung einer zerkratzten, einstmals cremeweißen Tür. »Wollen Sie mal gucken?« »Wenn es Ihnen nichts ausmacht.« »Gehen Sie ruhig rein.« Sie war mit dem zweiten Fuß fertig. Die Show war vorbei. Mit einem Seufzer wandte ich den Blick ab und ging zu der betreffenden Tür hinüber. Wo die meisten Türen eine Klinke haben, gab es hier nur ein rundes Loch. Ich drückte gegen das Holz, und die Tür schwang nach innen auf, in einen weiteren großen, hohen Raum, der wie eine Leihbücherei mit Reihen freistehender Regale ausgestattet war. Es handelte sich jedoch um funktionelle, unbehandelte Holzregale, und der Dielenboden hatte keinen Belag. Weit mehr als die Hälfte der Regale waren leer. Auf den anderen standen Reihen kurzer, breiter Karteikästen, die Vorderseiten mit sauber getippten Schildchen beschriftet, denen zu entnehmen war, was sie enthielten. In jedem Kasten, so stellte sich heraus, befanden sich die Filme eines Renntages, und sie waren alle übersichtlich in chronologischer Reihenfolge geordnet. Ich zog den Kasten für den Tag heraus, an dem ich in Reading Squelch und Wanderlust geritten hatte, und warf einen Blick hinein. Er enthielt sechs Dosen 16-mmFilm, von eins bis sechs durchnumeriert, und Platz genug für eine weitere, Nummer sieben.
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Ich trug den Kasten zu Carol hinaus. Sie saß immer noch auf der Schreibtischplatte, wackelte mit den trocknenden Zehen und blätterte dabei in einer Frauenzeitschrift. »Na, was haben Sie gefunden?« »Überlassen Sie diese Filme jedem, der sie haben will?« »Ausleihen, nicht überlassen. Klar.« »Zum Beispiel?« »Na, jedem, der danach fragt. Meistens sind das die Pferdebesitzer. Oft wollen sie Kopien für sich haben, die stellen wir dann her.« »Wollen die Stewards oft welche haben?« »Die Stewards? Na ja, sehen Sie, wenn’s bei einem Rennen irgendwelche Zweifel gibt, sehen sich die Stewards den Film gleich auf der Rennbahn an. In dem Kleinbus, den der Alte und unser Alfie fahren, kann man an Ort und Stelle entwickeln, sowie man’s aus den Kameras rausgenommen hat.« »Aber manchmal fordern sie die Filme auch hinterher an?« »Manchmal, ja. Wenn sie vergleichen wollen, wie das eine oder andere Pferd gelaufen ist.« Plötzlich hörten ihre Beine zu schlenkern auf. Sie ließ die Zeitschrift sinken und starrte mich unverwandt an. »Kelly... Kelly Hughes?« Ich gab keine Antwort. »Hey, ich hätt’ Sie mir ganz anders vorgestellt.« Sie legte taxierend den Kopf schräg. »Keiner von den Sportjournalisten hat ein Wort davon gesagt, daß Sie wahnsinnig süß und sexy aussehen.« Ich lachte. Ich hatte eine schiefe Nase und auf einer Backe eine Narbe, wo mir ein Pferdehuf das Gesicht aufgeschlagen hatte; als Herzensbrecher rangierte ich bei den Jockeys unter ferner liefen. »Es sind Ihre Augen«, meinte sie. »Dunkel und irgendwie lieb und traurig und ein bißchen verschlossen. Da wird’s mir gleich ganz anders, von Ihren Augen.« 112
»Das haben Sie alles in einer Zeitschrift gelesen«, sagte ich. »Nein, ehrlich nicht!« Aber sie lachte. »Wer hat den Film angefordert, der in dem Kasten fehlt?« fragte ich. »Und was genau hat er angefordert?« Sie seufzte übertrieben und schob sich von der Schreibtischplatte in ein Paar grellrosa Sandalen. »Welcher Film ist das noch mal?« Sie warf einen Blick auf den Kasten und das Aktenzeichen und ging dann mit MarilynMonroe-würdigem Hüftschwenken zu einem Aktenschrank an der Wand hinüber. »Da haben wir’s. Ein offizieller Brief vom Sekretariat der Stewards, wir möchten bitte den Film vom letzten Rennen in Reading schicken...« Ich nahm ihr den Brief aus der Hand und las ihn selbst. Der Text war unmißverständlich: »...vom letzten Rennen in Reading.« Nicht das sechste Rennen, sondern das letzte. Und es hatten sieben Rennen stattgefunden. Also hatten nicht Carol oder Cannot Lie sich geirrt. »Und Sie haben ihn hingeschickt?« »Klar doch. An die Oberen, wie angewiesen. Hat Sie erledigt, was?« »Nicht der Film, nein.« »Alfie und der Alte sagen, Sie müssen am Lemonfizz ein Schweinegeld verdient haben, wenn Sie deswegen Ihre Lizenz verloren haben.« »Glauben Sie das auch?« »Liegt ja wohl nahe. Alle glauben das.« »Der Mann auf der Straße?« »Der auch.« »Keinen Cent hab ich dran verdient.« »Dann sind Sie schön blöd«, sagte sie rundheraus. »Warum haben Sie’s dann gemacht?« »Ich hab’s nicht gemacht.« »Ach nee.« Sie blinzelte mir vertraulich zu. »Wahrscheinlich müssen Sie das sagen, was?« 113
»Tja«, meinte ich und reichte ihr den Kasten mit den Rennen von Reading, damit sie ihn ins Lager zurückbrachte, »trotzdem vielen Dank.« Ich schenkte ihr ein halbes Lächeln und ging über die ausgedehnte Fläche gesprenkelten Linoleums zum Ausgang. Ich fuhr gemächlich nach Hause und versuchte dabei nachzudenken. Kein sehr ergiebiges Unterfangen. Mein Verstand schien zu breiiger Leere verkommen zu sein. In dem Briefkasten an meiner Wohnungstür waren mehrere Briefe für mich, darunter auch einer von meinen Eltern. Ich entfaltete ihn, während ich die Treppe hinaufstieg, und fühlte mich dabei wie üblich in jeder Beziehung eine Million Kilometer von ihnen entfernt. Die erste Hälfte hatte meine Mutter in ihrer runden, gleichmäßigen Handschrift auf ein großes Blatt liniertes Papier geschrieben. Wie üblich war kein einziger Punkt zu sehen. Sie interpunktierte ausschließlich mit Kommata. Lieber Kelly, Danke für Deinen Brief, wir haben ihn gestern bekommen, es gefällt uns gar nicht, was wir in der Zeitung über Dich lesen, ich weiß, Du hast gesagt, du hast es nicht getan, aber kein Rauch ohne Feuer, sagt Mrs. Jones, die Frau von der Post, und es ist gar nicht schön für uns, was die Leute hier über Dich sagen, immer kehrt er den Vornehmen heraus, sagen sie, und Hochmut kommt vor dem Fall und lauter solche Sachen, na ja, die Hühnchen haben endlich angefangen zu legen, und wir streichen Dein altes Zimmer für Tante Myfanwy, sie zieht zu uns, ihre Arthritis ist zu schlimm für die Treppen in ihrem Haus, tja Kelly, wenn ich nur sagen könnte, Du sollst nach Hause kommen, aber Dein Dad ist so wütend, und jetzt braucht ja auch Tante Myfanwy das Zimmer, ja mein Sohn, wir wollten nie, daß Du Jockey wirst, du hättest so eine schöne Stelle bei der Gemeinde in Tenby haben können, ich sag’s nicht gern, 114
aber Du hast uns Schande gemacht, schrecklich ist das jetzt, ins Dorf zu geben, so wie alle tuscheln, Liebe Grüße Deine Mutter. Ich holte tief Luft und drehte das Blatt um, damit ich auch den Zorn meines Vaters abbekam. Seine Handschrift war der meiner Mutter ganz ähnlich, weil sie bei derselben Lehrerin gelernt hatten, aber er hatte den Kugelschreiber so fest aufgedrückt, daß er beinahe das Papier durchstoßen hatte. Kelly, Eine verdammte Schande ist das, Junge. Es ist feige zu sagen, du hast es nicht getan. Sie hätten Dich nicht gesperrt, wenn Du’s nicht getan hättest. Nicht Lords und solche Leute. Die wissen, was recht ist. Du hast Glück, daß Du nicht hier bist, sonst gäb’s ordentlich Prügel. Und das, nachdem Deine Ma an allem gespart hat, damit Du auf die Universität kannst. Recht haben sie gehabt, die Leute, wie sie gesagt haben, Du wärst Dir bald zu fein, mit uns zu reden. Trotzdem, ein Betrüger, das ist noch schlimmer. Wag Dich ja nicht hierher, Deine Ma regt sich furchtbar auf, wo sich dieses Luder Mrs. Jones auch noch das Maul zerreißt. Es wär am besten, Du schickst uns kein Geld mehr auf die Bank, ich hab’s dem Manager schon gesagt, aber er sagt, die Bankanweisung kannst nur Du selber rückgängig machen, also mach es gefälligst. Deine Ma sagt, es ist genauso schlimm, wie wenn Du im Gefängnis wärst, die Schande und das alles. Er hatte nicht unterschrieben. Er käme gar nicht auf die Idee, so wenig Zuneigung empfanden wir füreinander. Er hatte mich von Kind auf verachtet, weil ich gern zur Schule ging, und er hatte mich bis zum College gnadenlos verspottet. Seine fröhliche Seite zeigte er nur bei meinen älteren beiden Brüdern, die jeder Form von Bildung eine in seinen Augen gesunde 115
Geringschätzung entgegenbrachten: einer von ihnen war zur Handelsmarine gegangen, der andere wohnte neben meinen Eltern und arbeitete mit meinem Vater zusammen für den Großfarmer, dem die Cottages gehörten. Als ich am Ende all den Jahren des Lernens den Rücken gekehrt und mich dem Rennsport zugewandt hatte, hatte das meiner Familie auch wieder nicht gepaßt, obwohl sie sich wohl alle durchaus gefreut hätten, wenn ich mich von vornherein dafür entschieden hätte. Ich hätte die staatlichen Gelder verschwendet, sagte mein Vater; ich hätte all die Stipendien gar nicht bekommen, wenn man gewußt hätte, daß ich mich gleich nach meinem Abschluß auf den Rennsport verlegen würde. Das stimmte wahrscheinlich. Es stimmte aber auch, daß ich, seit ich Jockey war, soviel Steuern bezahlt hatte, daß man davon das Studium mehrerer Bauernsöhne fördern konnte. Ich steckte den Brief meiner Eltern unter das Foto von Rosalind. Nicht einmal ihr war es gelungen, ihre Billigung zu finden, weil sie fanden, ich hätte ein nettes Mädchen aus ähnlichen Verhältnissen heiraten sollen, nicht die studierte Tochter eines Colonels. Sie waren starrsinnig. Mittlerweile zweifelte ich daran, daß sie je mit mir zufrieden sein würden, ganz gleich was ich tat. Und falls ich meine Lizenz zurückbekam, würden sie höchstwahrscheinlich glauben, ich hätte wieder irgendwie betrogen. Gegen diese Art von Schmerz gab es kein Aspirin. Er verging nicht und stach wie mit Messern. Um ihm zu entfliehen, ging ich in die Küche und sah nach, ob es etwas zu essen gab. Eine Dose Sardinen, ein Ei, ein vertrockneter Rest Trappistenkäse. Mit einem Nasenrümpfen ob dieser Auswahl verfügte ich mich ins Wohnzimmer und warf einen Blick in das Fernsehprogramm. Nichts, was mich interessierte. 116
Ich fläzte mich in den grünsamtenen Lehnsessel und sah zu, wie die Farben des Abends langsam zu subtilen Grautönen verblaßten. Eine gewisse Unruhe mogelte sich an der öden Gedrücktheit der vergangenen vier Tage vorbei. Ich fragte mich fast akademisch, ob ich meine Lizenz zurückbekäme, bevor oder nachdem ich aufhörte, angesichts der Art, wie die Leute mich ansahen, mit mir sprachen oder über mich schrieben, zusammenzuzucken. Das einfachste wäre wahrscheinlich, mich nicht blicken zu lassen, mich zu verkriechen. So wie ich mich im Augenblick verkroch, indem ich dem Ball des Jockeys’ Fund fernblieb. Die Karten lagen auf dem Kaminsims. Karten für Tony, Poppy, mich und die Partnerin, die einzuladen ich nicht die Zeit gefunden hatte. Karten, die jetzt verfallen würden und für die ich zwölf wohltätigen Zwecken zugute kommende Guineen bezahlt hatte. Ich saß eine halbe Stunde im Dunkeln und dachte darüber nach, wer wohl alles auf dem Ball des Jockeys’ Fund war. Dann band ich mir meinen schwarzen Schlips um und ging auch hin.
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8 Ich war darauf gefaßt, angestarrt zu werden. Man starrte mich an. Machte sich gegenseitig auf mich aufmerksam und tuschelte über mich. Allerdings meistens diskret. Und nur zwei Leute wandten mir angelegentlich den Rücken zu. Wie üblich funkelte der Ball des Jockeys’ Fund vor Titeln, Diamanten, Champagner und schönen Frauen. Mag sein, daß der Glanz sich später – in Gestalt verschütteter Drinks, glasiger Augen, verschmierten Make-ups und verwaschener Stimmen – ein wenig trüben würde, aber ganz verschwinden würde er nicht. Das tat er nie. Der Ball des Jockeys’ Fund war eines der großen gesellschaftlichen Ereignisse der Jagdrennsaison. Ich gab meine Eintrittskarte ab und ging durch den breiten Gang dorthin, wo das Licht schummrig, die Musik heiß und die Luft rauch- und parfümgeschwängert war. Der opulente Ballsaal des ›Royal Country Hotel‹, nur ein Stück weit von der Rennbahn von Ascot entfernt. Die Tanzfläche umstand eine Vielzahl großer, runder Tische, die jeweils zehn bis zwölf Personen Platz boten und meist schon besetzt waren. Dem Sitzplan im Vestibül zufolge würde ich an Tisch 32 die für Tony und mich reservierten Plätze finden, wenn sie denn noch reserviert waren. Ich war noch kaum bis in die Mitte des Saals vorgedrungen, als ich es schon aufgab, nach Tisch 32 zu suchen, denn bei jedem Schritt schwenkte eine neue Batterie neugieriger Blicke in meine Richtung. Eine Menge Leute grüßten mich kurz, aber keiner konnte sein leicht schockiertes Erstaunen verbergen. Es war in jeder Hinsicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. »Hughes!« sagte eine Stimme hinter mir ungläubig. Ich kannte die Stimme. Mit dem gleichen Gefühl ungläubiger Überraschung drehte ich mich um. Roberta Cranfield. In einem 118
honigfarbenen Seidenkleid, dessen Oberteil üppig mit Perlen und Goldstickerei verziert war, und das kupferrote Haar, von dem ein Rinnsaal kleiner Löckchen in den Nacken fiel, hochgesteckt. »Sie sehen wunderschön aus«, sagte ich. Ihr Mund klappte auf. »Hughes!« »Ist Ihr Vater auch hier?« »Nein«, sagte sie verstimmt. »Er wollte sich dem nicht aussetzen. Genausowenig wie Mutter. Ich bin mit Nachbarn gekommen, aber ich kann nicht gerade behaupten, daß ich es sehr genossen habe, bis Sie aufgetaucht sind.« »Wieso nicht?« »Sie machen wohl Witze. Schauen Sie sich doch mal um. Grob geschätzt fünfzig Leute verdrehen sich den Hals nach Ihnen. Graust es Ihnen nicht dabei? Ich selber hab das heute abend jedenfalls zur Genüge erlebt, dabei habe ich das verdammte Rennen nicht mal gesehen, vom Gesperrtwerden ganz zu schweigen.« Sie hielt inne. »Kommen Sie, und tanzen Sie mit mir. Wenn wir schon Flagge zeigen, können wir’s genausogut richtig tun.« »Unter einer Bedingung«, sagte ich. »Und die wäre?« »Sie hören auf, mich Hughes zu nennen.« »Was?« »Cranfield, ich hab’s satt, daß man Hughes zu mir sagt.« »Ach!« Dieser Gedanke war ihr offensichtlich noch nie gekommen. »Na dann... Kelly... wollen wir tanzen?« »Mit dem größten Vergnügen, Roberta.« Sie warf mir einen unsicheren Blick zu. »Ich habe immer noch das Gefühl, ich kenne Sie überhaupt nicht.« »Sie haben sich ja auch nie bemüht.« »Sie aber auch nicht.«
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Das gab mir einen Ruck. Es stimmte. Ich hatte ein bestimmtes Bild von ihr nicht gemocht. Dabei kannte ich sie im Grunde gar nicht. »Darf ich bitten?« sagte ich höflich. »Gehen wir tanzen.« Wir schoben uns in einer dieser Geschichten übers Parkett, die wie formalisierte Urwaldrituale aussehen und bei denen man sich rhythmisch hin und her wiegt, ohne sich zu berühren. Robertas Gesicht war völlig gelassen und zeigte die Andeutung eines Lächelns. Bei ihrer Beherrschtheit hätte man annehmen können, sie fühle sich pudelwohl und sei nicht das Ziel gedrehter Köpfe, taxierender Blicke und kaum verhehlter Tuscheleien. »Ich weiß nicht, wie Sie das machen«, sagte sie. »Was denn?« »Daß Sie so... so unberührt wirken.« »Gerade habe ich dasselbe von Ihnen gedacht.« Sie lächelte mit blitzenden Zähnen und kleinen Fältchen um die Augen und wirkte trotz der Umstände unglaublicherweise glücklich. Wir blieben gut zehn Minuten dabei. Dann meinte sie, wir sollten zu ihrem Tisch zurückgehen, und hielt geradewegs darauf zu, ohne meine Zustimmung abzuwarten. Ich glaubte nicht, daß ihre Tischgesellschaft über meine Anwesenheit erfreut wäre, und für die Hälfte davon traf das auch zu. »Setzen Sie sich und trinken Sie was, mein Lieber«, nölte ihr Gastgeber und griff mit schlaffer Hand nach einer Champagnerflasche. »Und erzählen Sie mir alles über die Kampagne zur Rehabilitierung von Cranfield. Roberta hat mir gesagt, Sie wollen ihm wieder zu Amt und Würden verhelfen.« »Bisher habe ich es noch nicht geschafft«, sagte ich abwehrend. »Aber, mein Lieber...« Er faßte mich mit einem prüfenden Blick von oben herab ins Auge. Er war bei den Guards, dachte ich. Viele ehemalige Offiziere der Guards betrachteten die 120
Welt von oben herab: das kam vom Tragen dieser ständig die Sicht behindernden Mützen. Er war blond, Mitte Vierzig, nicht unfreundlich. Roberta nannte ihn Bobbie. Die Frau auf seiner Seite beugte sich vor, so daß sich ihr üppiger, in pinkfarbenen Satin gehüllter Busen gefährlich dicht auf ihr randvolles Glas herabsenkte. »Sagen Sie«, meinte sie mit einem eingehenden Blick aus kräftig geschminkten Augen, »wieso sind Sie eigentlich gekommen?« »Angeborene Sturheit«, sagte ich verbindlich. »Oh.« Sie wirkte perplex. »Wie eigenartig.« »Plus die Tatsache, daß es keinen Grund gibt, warum ich nicht kommen sollte.« »Und genießen Sie’s?« fragte Bobbie. »Ich will damit sagen, Verehrtester, daß Sie so ein bißchen in der Lage eines Arztes sind, der unter ziemlich unschönen Umständen seine Approbation verloren hat und vier Tage später bei der vornehmsten Veranstaltung des Ärzteverbandes auftaucht.« Ich lächelte. »Was für ein Vergleich.« »Hör auf, ihn zu triezen, Bobbie«, protestierte Roberta. Bobbie wandte den Blick von mir ab und richtete ihn statt dessen auf sie. »Meine liebe Roberta, dieser Bursche braucht keine kleinen Mädchen, die zu seiner Verteidigung herbeieilen. Der ist zäh wie Leder.« Ein älterer, miesepetriger Mann auf der anderen Seite des pinkfarbenen Busens sagte leise: »Sie meinen wohl dickfellig.« Bobbie hörte es und schüttelte den Kopf. »Rückgrat«, sagte er. »Das ist ganz was anderes.« Er stand auf. »Roberta, meine Liebe, möchtest du tanzen?« Ich stand mit ihm auf. »Kein Grund zu gehen, mein Lieber. Bleiben Sie. Trinken Sie in Ruhe aus.« »Sehr freundlich von Ihnen«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Aber ich bin heute abend eigentlich hergekommen, um mit 121
ein, zwei Leuten zu reden... Wenn Sie mich entschuldigen wollen, werde ich sie jetzt mal suchen gehen.« Er bedachte mich mit einem merkwürdig förmlichen Neigen des Kopfes, fast schon einer Verbeugung. »Kommen Sie später wieder, wenn Sie möchten.« »Vielen Dank.« Er entführte Roberta auf die Tanzfläche, und ich ging die Treppe zur Galerie hinauf, die rings um den Saal verlief. Auch hier standen überall Tische, doch an manchen Stellen hatte man einen guten Blick auf die Leute unten. Ich verbrachte einige Zeit damit, sie anhand ihrer Scheitelpartien zu identifizieren. Es waren wohl an die sechshundert da, von denen ich etwa ein Viertel persönlich kannte. Besitzer, Trainer, Jockeys, Stewards, Presseleute, zwei oder drei von den größeren Buchmachern, Starter, Kampfrichter, Geschäftsführer von Rennbahnen und viele andere, allesamt mit Ehefrauen, Freunden und plaudernden Gästen. Kessel war da, als Gastgeber einer zwölfköpfigen Gesellschaft fast direkt unter mir. Ich fragte mich, ob seine Wut sich seit Montag gelegt hatte, und beschloß, lieber nicht die Probe zu machen. Angeblich hatte er Squelch zu Pat Nikita geschickt, der als Trainer ein erbitterter Konkurrent von Cranfield war, und das hieß zusätzlich Öl ins Feuer zu gießen. Das Gerücht stimmte wahrscheinlich, denn Pat Nikita gehörte zu der Gesellschaft unten. Bei Verkaufsrennen erhoben Cranfield und Nikita regelmäßig Anspruch auf die Pferde des anderen, und bei Auktionen neigten sie dazu, sich gegenseitig aus reiner Bosheit hochzutreiben. In der Öffentlichkeit machte man sich schon lustig darüber. Mit seiner Entscheidung für Nikita als Trainer verkündete Kessel somit aller Welt unmißverständlich, daß er überzeugt war, Cranfield und ich hätten sein Pferd gebremst. Kaum wahrscheinlich, daß er sich vom Gegenteil überzeugen ließ. 122
An einem der exponiertesten Tische an der Tanzfläche saß Lord Ferth und unterhielt sich ernsthaft mit einer korpulenten Dame in einer blaßblauen Federboa. Alle anderen Stühle um diesen Tisch waren verrückt und unbesetzt, aber während ich noch hinsah, ging die Musik in einen lateinamerikanischen Rhythmus über, und der größte Teil der Gesellschaft trudelte langsam wieder ein. Einen oder zwei davon kannte ich flüchtig. Der Mann, nach dem ich hauptsächlich Ausschau hielt, war nicht dabei. Zwei Tische von Lord Ferth entfernt saß Edwin Byler, der gerade gewichtig einem Kellner winkte, die Gläser seiner Gäste nachzufüllen: zu stolz auf seinen selbsterworbenen Reichtum, um selbst die Flasche zu heben. Seine knuddelige kleine Frau am anderen Ende des Tisches war mit dem halben Inventar von Hatton Garden behängt und freute sich geradezu rührend daran. Edwin Bylers Lot von Superpferden nicht zu reiten... der schmerzliche Stich des Bedauerns darüber ging tiefer, als mir lieb war. Ich hörte ein Rascheln hinter mir, und Robertas frischer Blumenduft stieg mir in die Nase. Ich drehte mich zu ihr um. »Kelly...?« Sie sah wirklich ungewöhnlich schön aus. »Kelly... Bobbie hat vorgeschlagen, daß Sie mich zum Essen in den Saal führen.« »Das ist großzügig von ihm.« »Er mag Sie anscheinend. Er hat gesagt...« Sie hielt abrupt inne. »Egal, was er gesagt hat.« Wir gingen die Treppe hinunter und durch einen Torbogen in den Speisesaal. Das Licht dort hatte mehr Watt. Roberta schadete es nicht. An einer Wand war ein Buffet mit von Aspik glänzenden Platten und üppigen Cremetörtchen aufgebaut. Roberta sagte, sie habe vor dem Ball schon bei Bobbie gegessen und sei nicht 123
hungrig, aber wir nahmen uns beide etwas Lachs und setzten uns an einen der etwa zwanzig kleinen Tische, die eine Hälfte des Saals einnahmen. Zwei Meter weiter saßen drei Jockey-Kollegen, die in einem Schlachtfeld leerer Teller und Kaffeetassen die Ellbogen aufstützten. »Kelly!« rief einer mit breitem nördlichen Akzent. »Mein Gott, Kelly. Komm rüber, du alter Na-du-weißt-schon. Und bring die Braut mit.« Das Kinn der Braut setzte zu seiner vertrauten Aufwärtsbewegung an. »Konzentrieren Sie sich auf den Charakter, nicht auf den Akzent«, sagte ich. Sie sah mich ehrlich verblüfft an, folgte mir aber, als ich aufstand und nach ihrem Teller griff. Sie machten uns Platz, bewunderten Robertas Erscheinung und gingen mit keinem Wort auf das Thema Sperre ein. Ihre Mädchen, erklärten sie, seien sich die Nase pudern gegangen, und als die Nasen – makellos – wieder auftauchten, verabschiedeten sie sich alle lächelnd und gingen zurück in den Ballsaal. »Die waren ja richtig nett.« Sie klang überrascht. »Stimmt.« Sie spielte mit ihrer Gabel, ohne mich anzusehen. »Neulich haben Sie gesagt, ich hätte Fesseln im Kopf. Haben Sie das damit gemeint? Daß ich dazu neige, Leute nach ihrem Akzent zu beurteilen... und daß das falsch ist?« »Eton hat auch seine Schurken hervorgebracht«, sagte ich. »Kaktus. Sie bestehen nur aus Stacheln.« »Es gibt die Erbsünde. Genau wie die Erbtugend. Beide treten völlig willkürlich auf. Ohne Ansehen der Herkunft.« »Wo sind Sie zur Schule gegangen?« »In Wales.« »Sie haben keinen walisischen Akzent. Sie haben überhaupt keinen Akzent. Und das ist wirklich komisch, wenn man 124
bedenkt, daß Sie nur...« Sie verstummte entsetzt, als ihr dämmerte, wie sie sich damit verriet. »Mein Gott... es tut mir leid.« »Nicht weiter verwunderlich«, beruhigte ich sie. »Wenn man bedenkt, wer Ihr Vater ist. Außerdem bin ich auf meine Art genauso schlimm. Ich habe meinen walisischen Akzent ganz bewußt unterdrückt. Als ich noch studiert habe, habe ich heimlich geübt, die BBC-Nachrichtensprecher zu imitieren. Ich wollte in den Staatsdienst, und ich war ehrgeizig und wußte, daß ich nicht weit kommen würde, wenn ich mich wie der Sohn eines walisischen Farmarbeiters anhörte. Irgendwann wurde das dann meine natürliche Sprechweise. Und meine Eltern verachten mich deswegen.« »Eltern!« sagte sie verzweifelt. »Warum kommen wir bloß nie von ihnen los? Ganz gleich, was wir sind, es liegt immer an ihnen. Ich will ich sein.« Sie war erkennbar über sich selbst erstaunt. »So hab ich das noch nie empfunden. Ich verstehe nicht...« »Ich schon«, sagte ich lächelnd. »Nur daß es den meisten Leuten mit fünfzehn oder sechzehn so geht. Man nennt das Rebellion.« »Sie machen sich über mich lustig.« Aber das Kinn blieb unten. »Nein.« Wir aßen den Lachs auf und tranken Kaffee. Eine größere, laut plappernde Gruppe bediente sich am Buffet und schob dann die zwei Tische neben uns zusammen, damit sie gemeinsam essen konnten. Getragen von einer Welle von Alkohol und Jovialität, waren sie gelöst und mitteilsam. Ich sah müßig zu ihnen hinüber. Vier davon kannte ich: zwei Trainer, eine Ehefrau, einen Besitzer. Einer der Trainer erblickte mich und ließ buchstäblich sein Messer fallen.
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»Das ist ja Kelly Hughes«, sagte er ungläubig. Die ganze Gruppe drehte sich um und glotzte. Roberta holte tief Luft. Ich blieb reglos sitzen. »Was machen Sie denn hier?« »Ich trinke Kaffee«, sagte ich höflich. Seine Augen wurden schmal. Trevor Norse fand das gar nicht lustig. Ich seufzte innerlich. Trainer gegen sich aufzubringen war nie gut: es bedeutete schlicht eine mögliche Einkommensquelle weniger. Allerdings war ich schon mehrmals für Trevor geritten und wußte, daß es ohnehin praktisch unmöglich war, ihn zufriedenzustellen. Ein schwerer Klotz, über einsachtzig, der sich der Illusion hingab, daß Größe Können ersetzen konnte. Auf Besitzer verstand er sich wesentlich besser als auf Pferde: unermüdlich in der Pflege der einen und faul bei den anderen. Seine hirnlose Frau sagte fröhlich: »Ich habe gehört, Sie zahlen die Löhne von Dexters Burschen, weil Sie überzeugt sind, daß Sie in ein, zwei Tagen Ihre Lizenz wiederhaben.« »Was war das?« fragte Norse scharf. »Wo hast du diesen ganzen Unsinn gehört?« »Alle reden darüber, Liebling«, sagte sie protestierend. »Wer sind alle?« Sie kicherte verhalten. »Ich hab’s in der Damentoilette gehört, wenn du es unbedingt wissen willst. Aber es stimmt, es stimmt wirklich. Dexters Burschen haben es in der Dorfkneipe Daphnes Burschen erzählt, und Daphne hat’s Miriam erzählt, und Miriam hat’s uns in der Damentoilette...« »Stimmt das?« fragte Norse. »Mehr oder weniger«, bestätigte ich. »Du lieber Himmel.« »Miriam sagt, daß Kelly behauptet, er und Dexter wären hereingelegt worden und er würde herauskriegen, von wem.« Mrs. Norse giggelte mich an. »Mein Gott, ist das alles spannend.« 126
»Ungemein«, sagte ich trocken. Ich stand auf, und Roberta folgte meinem Beispiel. »Kennen Sie Roberta Cranfield?« sagte ich förmlich: ein Chor von Ausrufen, für den sie allen ein strahlendes, künstliches Lächeln schenkte, dann gingen wir zurück und versuchten uns noch einmal auf der Tanzfläche. Das war keine sonderlich gute Idee, denn wir wurden mittendrin von Daddy Leeman vom Daily Witness unterbrochen, der mich mit gierigen Augen musterte und über die Musik hinweg brüllte, ob es wirklich stimme, daß ich behauptete, ich wäre reingelegt worden. Er hatte eine durchdringende Stimme. Sämtliche Paare in unserer Nähe drehten sich zu uns um und starrten. Einige sahen sich mit skeptischen hochgezogenen Augenbrauen an. »Viel länger kann ich das Ganze nicht mehr ertragen«, sagte mir Roberta ins Ohr. »Wie schaffen Sie das nur? Warum gehen Sie denn nicht nach Hause?« »Tut mir leid«, sagte ich zerknirscht. »Sie waren toll. Ich bringe Sie jetzt zu Bobbie zurück.« »Und Sie?« »Ich habe noch nicht erledigt, weshalb ich hergekommen bin. Ich bleibe noch ein bißchen.« Sie preßte die Lippen zusammen und fing wieder zu tanzen an. »Also gut. Dann bleibe ich auch.« Wir tanzten ohne zu lächeln weiter. »Möchten Sie ein Tombolalos?« fragte ich. »Nein.« Sie war erstaunt. »Sollten Sie aber. Ich würde gern mal da rüber gehen.« »Wozu denn?« »Ich suche jemanden, und da drüben bin ich noch nicht gewesen.« »Ach so. Also gut.« Sie trat von dem blankpolierten Parkett auf den dicken dunklen Teppich und schlängelte sich zu dem zwischen den 127
Tischen frei gelassenen Gang durch, der zu dem bunt geschmückten Tombolastand am anderen Ende des Ballsaals führte. Ich hielt nach dem Mann Ausschau, den ich suchte, sah ihn aber nicht. Ich traf auf zu viele andere Blicke, von denen die meisten sich hastig abwandten. »Ich hasse sie«, sagte Roberta heftig. »Ich hasse die Leute.« Ich kaufte ihr vier Lose. Drei waren Nieten. Das vierte hatte eine Nummer, die zu einer Flasche Wodka gehörte. »Ich mag Wodka nicht besonders«, sagte sie, während sie die Flasche zweifelnd in der Hand wog. »Ich auch nicht.« »Dann schenke ich sie dem ersten, der heute abend nett zu Ihnen ist.« »Gut möglich, daß Sie sie selber trinken müssen.« Wir gingen langsam durch den Mittelgang zurück. Eine magere Frau sprang von ihrem Stuhl auf, als wir uns ihrem Tisch näherten, und schaffte es, ungeachtet der verlegenen Bemühungen ihrer Tischnachbarn, sie zurückzuhalten, sich uns in den Weg zu stellen. Wir kamen nicht an ihr vorbei, ohne sie zur Seite zu drängen. Wir blieben stehen. »Sie sind doch Roberta Cranfield, oder?« fragte sie. Sie hatte ein knochiges Gesicht, ungeschminkte Lippen, zornige Augen und straff gebändigtes, ergrauendes Haar. Sie machte den Eindruck, als hätte sie viel zuviel getrunken. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich sanft und versuchte vorbeizukommen. »Nichts da, Sie bleiben hier«, blaffte sie, »bis ich Ihnen die Meinung gesagt habe.« »Grace!« jammerte ein Mann auf der anderen Seite des Tisches. Ich sah ihn mir genauer an. Edwin Bylers Trainer Jack Roxford. »Grace, Liebes, laß es. Setz dich wieder hin, Liebes«, sagte er. 128
Grace Liebes dachte nicht daran. Grace Liebes war viel zu sehr in Fahrt. »Ihr Vater hat genau das gekriegt, was er verdient, Kindchen, und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mich das freut. Richtig freut.« Mit irre funkelndem Blick schob sie ihr Gesicht dem von Roberta entgegen. Roberta musterte sie von oben herab, was mich genauso auf die Palme gebracht hätte wie Grace. »Ich würde noch auf seinem Grab tanzen«, bellte sie wütend. »Jawohl!« »Wieso?« fragte ich rundheraus. Sie beachtete mich nicht. Sie sagte zu Roberta: »Ein verfluchter Snob ist er, Ihr Vater. Ein verfluchter Snob. Und er hat gekriegt, was er verdient, damit Sie’s wissen. Das können Sie ihm von mir ausrichten.« »Entschuldigen Sie bitte«, sagte Roberta kalt und versuchte weiterzugehen. »Nichts da, Sie bleiben hier.« Grace packte sie am Arm. Roberta schüttelte wütend ihre Hand ab. »Ihr Vater, der verfluchte Snob, hat versucht, Edwin Bylers Pferde von uns wegzuholen. Haben Sie das gewußt? Ob Sie das gewußt haben? Der mit seinem vornehmen Getue. Glaubt, daß Edwin mit einem größeren Stall besser bedient wäre, stimmt’s? O ja, ich hab gehört, was er gesagt hat. Hat Edwin einzureden versucht, er brauchte jetzt einen Spitzentrainer, der was hermacht, nicht so arme kleine Leute wie uns, wo wir doch bloß reihenweise Rennen für ihn gewonnen haben. Totlachen hätt ich mich können, wie ich gehört hab, daß man ihn drangekriegt hat, das kann ich Ihnen sagen. Geschieht ihm recht, hab ich gesagt. Zum Totlachen.« »Grace«, sagte Jack Roxford verzweifelt. »Entschuldigen Sie bitte, Miss Cranfield, Sie meint es im Grunde nicht so.« Er wirkte zu Tode verlegen. Wahrscheinlich führte sich Grace Roxford nur allzu häufig so auf. Er hatte das gequälte Gesicht des sich ewig entschuldigenden Ehemanns. 129
»Freuen Sie sich doch, Mrs. Roxford«, sagte ich laut. »Sie haben, was Sie wollen. Sie lachen. Warum also die Wut?« »Wie?« Sie drehte den Kopf zu mir hin und schwankte dabei leicht. »Und Sie, Kelly Hughes, Sie haben es ja nicht anders gewollt, und erzählen Sie mir bloß nicht diesen Mist, den wir schon den ganzen Abend hören, von wegen Sie wären reingelegt worden, Sie wissen nämlich verdammt gut, daß das nicht stimmt. Leute wie Sie und Cranfield, Sie denken, Sie können sich alles erlauben, Leute wie Sie. Aber manchmal gibt’s irgendwo auf dieser Welt noch Gerechtigkeit, und das werden Sie nicht so schnell vergessen, Sie Schlauberger, Sie.« Eine der Frauen aus ihrer Gesellschaft stand auf und versuchte sie zu beruhigen, da im Umkreis von sechs Tischen sämtliche Ohren gespitzt waren. Grace nahm das gar nicht wahr. Ich schon. Roberta sagte leise: »O Gott.« »Also gehen Sie nach Hause«, sagte Grace zu ihr, »und bestellen Sie Ihrem Vater, diesem verfluchten Snob, es wär zum Totlachen, daß man ihm endlich draufgekommen ist. Genau das ist es nämlich, zum Totlachen.« Ihre tödlich verlegene Freundin zog sie am Arm, und Grace fuhr wütend zu ihr herum. Wir nutzten diese kurze Gelegenheit, schoben uns in ihrem Rücken an ihr vorbei und hörten sie noch im Weggehen hinter uns herkeifen, aber bis auf »Totlachen« und »verfluchter Snob« waren ihre Worte über der Musik nicht zu verstehen. »Die ist ja schrecklich«, sagte Roberta. »Keine große Hilfe für den armen Jack«, pflichtete ich bei. »Ich hasse Szenen. Sie sind so unschön.« »Finden Sie alle starken Gefühle unschön?« »Das ist nicht das gleiche. Man kann starke Gefühle haben, ohne Szenen zu machen. Szenen sind scheußlich.« Ich seufzte. »Die eben war’s jedenfalls.« »Ja.« 130
Sie ging, wie mir auffiel, mit hoch erhobenem Kopf, für jeden Beobachter das klassische Signal, daß sie weder daran schuld, noch davon niedergedrückt, noch darüber amüsiert war, daß man sie zur Zielscheibe von Gezeter und Gehässigkeit gemacht hatte. Rosalind, überlegte ich wehmütig, hätte der armen, verstörten Grace wahrscheinlich mitfühlend zugestimmt, sie in ein stilles Eckchen geführt und sie besänftigt, und bei ihrem Wiederauftauchen hätte Grace ihr aus der Hand gefressen. Rosalind war selbst aufbrausend gewesen und hatte Verständnis für unbeherrschte Gefühle. Leider stießen wir am Ende des Ganges fast buchstäblich mit Kessel zusammen, der den mörderischen Blick Robertas abbekam, den sich eigentlich die liebe Grace verdient hatte. Kessel bezog ihren Gesichtsausdruck natürlich auf sich und fauchte als erster los. »Sie können Ihrem Vater bestellen, ich habe schon seit einiger Zeit daran gedacht, meine Pferde zu Pat Nikita zu schicken, und ich bedaure es wegen dieser Geschichte, daß ich es nicht schon längst getan habe. Pat wollte schon immer für mich trainieren. Ich bin aus falsch verstandener Loyalität bei Ihrem Vater geblieben, und man sieht ja, wie er es mir vergolten hat.« »Vater hat sehr viele Rennen für Sie gewonnen«, sagte Roberta kalt. »Und wenn Squelch gut genug gewesen wäre, den Lemonfizz Cup zu gewinnen, dann hätte er ihn auch gewonnen.« Kessel verzog den Mund zu einem höhnischen Grinsen. Es stand ihm nicht. »Und was Sie angeht, Hughes, es ist eine Schande, daß Sie heute abend hier sind, und mir ist schleierhaft, wieso man sie überhaupt eingelassen hat. Und glauben Sie ja nicht, Sie können mich für dumm verkaufen, indem Sie Gerüchte verbreiten, Sie seien unschuldig und stünden kurz davor, es zu beweisen. Das ist alles Quatsch, und das wissen Sie auch, und 131
falls Sie sich einbilden, Sie könnten sich auf diese Weise wieder bei mir lieb Kind machen, dann irren Sie sich gewaltig.« Er drehte sich auf dem Absatz um und schnaubte von dannen, blieb triumphierend bei Nikita stehen, klopfte ihm auf die Schulter und vergewisserte sich durch einen Blick zurück, daß wir es auch mitbekommen hatten. Ein Kleingeist. »Da geht Squelch«, sagte ich resigniert. »Er wird sich bald entschuldigen und ihn wieder zurückschicken«, sagte sie voller Überzeugung. »Keine Chance. Kessel ist nicht der Typ, der zu Kreuze kriecht. Und Pat Nikita gibt dieses Pferd nicht wieder her. Schon gar nicht, wenn es dann wieder zu ihrem Vater käme. Eher würde er es kaputtmachen.« »Warum sind die Leute nur so neidisch aufeinander?« rief sie. »Das ist angeboren. Praktisch ein universelles Phänomen.« »Sie haben eine sehr schlechte Meinung von der menschlichen Natur«, hielt sie mir vor. »Eine objektive Meinung. Es gibt genausoviel Gutes wie Schlechtes.« »Bei Ihrer Sperre können Sie unmöglich objektiv sein«, protestierte sie. »Äh... stimmt«, räumte ich ein. »Wie wär’s mit was zu trinken?« Sie sah unwillkürlich zu Bobbies Tisch hinüber, und ich schüttelte den Kopf. »An der Bar.« »Ach so... Suchen Sie immer noch jemanden?« »Genau. Und in der Bar haben wir noch nicht nachgesehen.« »Gibt es dann noch eine Szene?« »Das glaube ich nicht.« »Also gut.« Wir schoben uns langsam durch die Menge. Daß wir hier waren, wußten mittlerweile wohl fast alle Anwesenden. 132
Jedenfalls verdrehten sich die Köpfe nicht mehr in unverhohlener Überraschung, wohl aber die Augen, die uns – neugierig und verletzend – verstohlen musternde Blicke nachschickten. Roberta hielt sich fast trotzig gerade. Die Bar war stark frequentiert. Über den wohlfrisierten Köpfen lag ein Schleier von Zigarrenrauch, und der Geräuschpegel hätte einer Diskothek zur Ehre gereicht. Durch eine schmale Lücke im Gewühl sah ich ihn praktisch sofort an der gegenüberliegenden Wand stehen und heftig auf jemand einreden. Plötzlich wandte er den Kopf und sah direkt zu mir hin, und unsere Blicke trafen sich kurz, ehe die Grüppchen zwischen uns sich bewegten und die Sicht wieder versperrten. In diesen zwei Sekunden hatte ich allerdings bemerkt, wie sein Mund schmal wurde und sein Gesicht einen verärgerten Ausdruck annahm; und er hatte gewußt, daß ich auf dem Ball war, denn er hatte keine Überraschung gezeigt. »Sie haben ihn gesehen«, sagte Roberta. »Ja.« »Wer ist es denn?« »Lord Gowery.« Sie holte erschrocken Luft. »O nein, Kelly.« »Ich will mit ihm reden.« »Das hilft doch nichts.« »Das weiß man nie.« »Lord Gowery zu verärgern ist der absolut ungeeignetste Weg, Ihre Lizenz zurückzubekommen. Das sehen Sie doch ein?« »Ja... daß er besonders nett sein wird, glaube ich auch nicht. Würde es Ihnen sehr viel ausmachen, wenn ich Sie vorher zu Bobbie zurückbringe?« Sie wirkte beunruhigt. »Sie sagen doch bestimmt nichts Unüberlegtes? Es geht auch um Vater Lizenz, denken Sie daran.«
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»Ich werd’s im Auge behalten«, gab ich schnodderig zurück. Sie bedachte mich mit einem scharfen, argwöhnischen Blick, machte aber durchaus bereitwillig kehrt, um zu Bobbie zurückzukehren. Vor der Bar wurden wir praktisch sofort von Jack Roxford aufgehalten, der durch das Gedränge auf uns zueilte. »Kelly«, sagte er, vor Anstrengung leicht keuchend. »Ich wollte Sie unbedingt noch erwischen... und Ihnen sagen, wie leid es mir tut, daß Grace dermaßen hochgegangen ist. Sie ist völlig außer sich, die Ärmste... Miss Cranfield, bitte entschuldigen Sie vielmals.« Roberta taute ein wenig auf. »Schon gut, Mr. Roxford.« »Ich möchte nicht, daß Sie glauben, das, was Grace gesagt hat... die ganzen Sachen über Ihren Vater... daß ich das auch denke.« Er sah von ihr zu mir und wieder zu ihr, die Stirn von unschlüssiger Sorge gefurcht. Ein schmächtiger, unaggressiver Mann von circa fünfundvierzig; Halbglatze, nervöser Blick, ständig besorgter Gesichtsausdruck. Er war ein recht guter Trainer, aber nicht genügend Mann von Welt, um viel persönliches Format zu entwickeln. Obwohl ich nie für ihn geritten war, hatte er mich stets freundlich behandelt, aber sein Dauerzustand nervöser Unruhe machte ihn zu einer anstrengenden Gesellschaft. »Kelly«, sagte er, »wenn es wirklich stimmt, daß Sie beide hereingelegt worden sind, dann hoffe ich aufrichtig, daß Sie Ihre Lizenz zurückbekommen. Ich weiß natürlich, daß das Risiko besteht, daß Edwin seine Pferde zu Ihrem Vater bringt, Miss Cranfield, aber er hat mir erst heute abend gesagt, daß er das im Moment nicht vorhat, selbst wenn er könnte... Aber bitte glauben Sie mir, daß ich absolut nichts gegen Sie beide habe, so wie die arme Grace... ich hoffe wirklich, Sie verzeihen mir.« »Natürlich, Mr. Roxford«, sagte Roberta, vollkommen besänftigt. »Bitte machen Sie sich keine Gedanken. Ach, 134
übrigens«, fügte sie impulsiv hinzu, »ich finde, die haben Sie sich verdient.« Und drückte dem verblüfften Jack Roxford die Wodkaflasche in die Hand.
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9 Zur Bar zurückgekehrt, stellte ich fest, daß Lord Gowery herausgekommen war. Er stand Schulter an Schulter mit Lord Ferth, und beide sahen mir mit unheilverkündenden Mienen entgegen. Ich blieb anderthalb Schritte vor ihnen stehen und wartete. »Hughes«, sagte Lord Gowery zur Eröffnung. »Sie haben hier nichts verloren.« »Mylord«, antwortete ich höflich, »das hier ist nicht Newmarket Heath.« Das kam schlecht an. Sie waren beide beleidigt und schlossen die Reihen. »Mit Unverschämtheit erreichen Sie gar nichts«, sagte Lord Ferth, und Lord Gowery fügte hinzu: »Wenn Sie sich so verhalten, bekommen Sie Ihre Lizenz nie zurück.« »Seit wann hängt Gerechtigkeit von guten Manieren ab?« fragte ich ohne Schärfe. Sie machten Gesichter, als trauten sie ihren Ohren nicht. Von ihrem Standpunkt aus grub ich mir selbst das Wasser ab, obwohl ich immer bezweifelt hatte, daß übertriebene Duldsamkeit rascher zur Rückgabe von Lizenzen führte, als sie ohnehin zurückgegeben worden wären. Duldsamkeit beim Angeklagten weckt bei manchen Richtern Nachsicht, bei anderen dagegen Strenge. Um ein möglichst mildes Urteil zu erreichen, sollte der Schuldige stets den Charakter seines Richters studieren, eine vernünftige Maxime, die – wie mir bisher leider nicht klar gewesen war – in noch stärkerem Maße für den Unschuldigen galt. »Ich hätte gedacht, daß ein gewisses Schamgefühl Sie von hier fernhält«, sagte Lord Ferth. »Es hat ein bißchen Überwindung gekostet zu kommen«, pflichtete ich ihm bei. 136
Seine Augen wurden schmal und gingen rasch wieder auf. »Was die Verbreitung dieser Gerüchte angeht«, meinte Gowery, »sage ich mit aller Entschiedenheit, daß Sie nicht nur nicht kurz davor stehen, Ihre Lizenz zurückzubekommen, sondern daß Ihre Sperre infolge Ihres derzeitigen Verhaltens um so länger dauern wird.« Ich bedachte ihn mit einem gelassenen Blick, und Lord Ferth machte den Mund auf und schloß ihn wieder. »Es ist kein Gerücht, daß Mr. Cranfield und ich nicht schuldig sind«, sagte ich schließlich. »Es ist kein Gerücht, daß mindestens zwei der Zeugen gelogen haben. Das sind Fakten.« »Unsinn«, sagte Gowery heftig. »Was Sie glauben, Sir, ändert nichts an der Wahrheit.« »Sie tun sich keinen Gefallen, Hughes.« Hinter seinem gewichtigen, respekteinflößenden Äußeren war er überaus zornig. Alles, was ich brauchte, war ein Bohrloch, und ich hatte eine Springquelle. Ich sagte: »Wären Sie so freundlich, mir zu sagen, wer Ihnen oder den anderen Stewards vorgeschlagen hat, Mr. Newtonnards ausfindig zu machen und zu befragen?« Sein Blick veränderte sich um eine Winzigkeit. Genug für mich, um mir sicher zu sein. »Ganz gewiß nicht.« »Würden Sie mir dann bitte sagen, auf wessen Anweisung der Ermittler David Oakley meine Wohnung aufgesucht hat?« »Nein.« Seine Stimme war laut und klang zum erstenmal beunruhigt. Ferth blickte mit zunehmend bedenklichem Gesicht zwischen uns hin und her. »Was soll das alles?« fragte er. »Mr. Cranfield und ich sind tatsächlich zu Unrecht gesperrt worden«, sagte ich. »Jemand hat David Oakley in meine Wohnung geschickt, um dieses Foto zu fabrizieren. Und ich glaube, Lord Gowery weiß, wer das war.« 137
»Was fällt Ihnen ein!« sagte er wütend. »Wollen Sie wegen Verleumdung angeklagt werden?« »Ich habe Sie nicht verleumdet, Sir.« »Sie haben gesagt...« »Ich habe gesagt, Sie wissen, wer David Oakley geschickt hat. Ich habe nicht gesagt, daß Sie wissen, daß das Foto gestellt war.« »Das war es auch nicht«, beharrte er wild. »Doch, das war es.« Es trat ein geladenes, zorniges Schweigen ein. Dann sagte Lord Gowery mühsam beherrscht: »Ich höre mir das nicht länger an«, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand in der Bar. Lord Ferth, der unangenehm berührt wirkte, machte Anstalten, ihm zu folgen. »Kann ich Sie kurz sprechen, Mylord?« fragte ich. Er blieb stehen, wandte sich zu mir um und sagte: »Ja, das ist wohl besser.« Er deutete auf den Speisesaal nebenan, und wir traten durch den Torbogen in das hellere Licht. Die meisten Gäste hatten gegessen und waren wieder fort. Das Buffet war nur noch ein Chaos von Resten, und bis auf zwei waren sämtliche kleinen Tische unbesetzt. Ferth setzte sich an einen und wies auf den Stuhl gegenüber. Ich nahm darauf Platz und sah ihn an. »Also«, meinte er. »Schießen Sie los.« Ich sprach mit unbewegter, ruhiger Stimme, weil Emotionen ihn nur abstoßen würden, während Vernunft vielleicht zu ihm durchdrang. »Mylord, wenn Sie die Verhandlung einmal einen Moment lang von meinem Standpunkt aus betrachten, ist es ganz einfach. Ich weiß, daß ich niemals fünfhundert Pfund oder einen Brief von Mr. Cranfield bekommen habe, deshalb ist mir logischerweise klar, daß David Oakley gelogen hat. Daß die Stewards ihn geschickt haben, kommt nicht in Betracht, da die von ihm vorgelegten Beweise gefälscht waren. Also hat ihn 138
jemand anders geschickt. Ich dachte, daß Lord Gowery vielleicht weiß, wer das war. Also habe ich ihn gefragt.« »Er hat gesagt, er weiß es nicht.« »Ich glaube ihm kein Wort.« »Hughes, das ist grotesk.« »Wollen Sie etwa behaupten, Sir, daß Leute in Machtpositionen unfehlbar ehrlich sind?« Er sah mich in immer länger werdendem Schweigen ausdruckslos an. Schließlich fragte er wie Roberta: »Wo sind Sie zur Schule gegangen?« Normalerweise verriet ich mit keinem Wort, welchen Bildungsgang ich durchlaufen hatte, da mich das wahrscheinlich weder bei Besitzern noch bei Trainern beliebt machen würde. Aber es gibt für alles ein erstes Mal, also sagte ich es ihm. »Coedlant Primary, Tenby Grammar und LSE.« »LSE... Sie meinen doch nicht etwa... die London School of Economics?« »Doch.« »Mein Gott...« Ich sah ihm zu, wie er darüber nachdachte. »Und was haben Sie dort studiert?« »Politik, Philosophie und Volkswirtschaft.« »Warum um alles in der Welt sind Sie dann Jockey geworden?« »Das war mehr oder weniger Zufall. Ich habe es nicht geplant. Nach meinem Abschlußexamen war ich geistig ziemlich ausgelaugt, also habe ich mir überlegt, ich mache eine Art bezahlten Urlaub als Landarbeiter... damit kannte ich mich aus, mein Vater ist Farmarbeiter. Ich habe einem Farmer in Devon bei der Ernte geholfen und jeden Morgen seine Jagdrennpferde bei der Arbeit geritten, weil ich nämlich schon seit frühester Kindheit reite. Er hatte eine Genehmigung und war mit Begeisterung bei der Sache. Und dann hat sich sein 139
Bruder, der sie in den Rennen geritten hat, bei einem der frühen Meetings in Devon das Schlüsselbein gebrochen, ich bin als Ersatz für ihn eingesprungen und habe praktisch gleich angefangen zu gewinnen... und dann hat es mich gepackt... und ich bin nie dazu gekommen, in den Staatsdienst einzutreten, wie ich es immer vage vorgehabt hatte, und... tja... ich habe es nie bereut.« »Nicht einmal jetzt?« fragte er ironisch. Ich schüttelte den Kopf. »Nicht einmal jetzt.« »Hughes...« Sein Gesicht legte sich in skeptische Falten. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Zuerst war ich überzeugt, daß Sie nicht der Typ sind, der Squelch absichtlich gebremst hätte... und dann dieses ganze Belastungsmaterial. Charlie Wests Aussage, daß Sie das Pferd eindeutig zurückgehalten hätten...« Ich senkte den Blick auf den Tisch. Wenn es drauf ankam, wollte ich lieber doch nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. »Charlie hat sich geirrt«, sagte ich. »Er hat zwei Rennen durcheinandergebracht. Ich habe etwa um diese Zeit in einem anderen Rennen ein Pferd zurückgehalten... ein Nachwuchstier ohne Chance, das ganz hinten im Feld lag. Ich wollte ihm einfach nur Wettkampfpraxis vermitteln. Daran hat sich Charlie erinnert.« »Das klang aber anders«, meinte er zweifelnd. »Ja«, pflichtete ich ihm bei. »Aber ich habe inzwischen mit Charlie geredet. Heute wäre er vielleicht bereit zuzugeben, daß er sich im Rennen geirrt hat. Wenn Sie die Stewards von Oxford befragen, werden Sie feststellen, daß Charlie unmittelbar nach dem Lemonfizz, als eine erste Untersuchung stattfand, nichts davon gesagt hat, daß ich mich absichtlich zurückgehalten hätte. Das hat er erst später, in der Verhandlung am Portman Square, gesagt.« Weil ihm dazwischen ein unwiderstehlicher Verführer fünfhundert Pfund dafür geboten hatte. 140
»Aha.« Er runzelte die Stirn. »Und was war das, was Sie Lord Gowery wegen Newtonnards gefragt haben?« »Newtonnards hat die Stewards nicht von sich aus darüber informiert, daß Mr. Cranfield auf Cherry Pie gesetzt hätte, sondern er hat es mehreren Buchmacherkollegen erzählt. Irgendwer hat es an die Stewards weitergegeben. Ich wollte wissen, wer.« »Unterstellen Sie, daß es dieselbe Person war, die Oakley in Ihre Wohnung geschickt hat?« »Es könnte, muß aber nicht so sein.« Ich zögerte und sah ihn zweifelnd an. »Was ist?« fragte er. »Sir, ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu sagen, warum Sie an der Verhandlung teilgenommen haben? Warum waren Sie zu viert, anstatt zu dritt, wo doch Lord Gowery, wenn Sie mir die Äußerung verzeihen, über diese Regelung offensichtlich nicht allzu erfreut war?« Sein Mund wurde schmal. »Sie sind ja mit einemmal ausnehmend taktvoll.« »Ja, Sir.« Er sah mich unverwandt an. Ein langaufgeschossener, magerer Mann mit hohen Wangenknochen, kräftigem schwarzem Haar und hitzigen, feurigen Augen. Ein Mann, dessen starke Persönlichkeit einen in ihren Bann zog, so daß man eine Begegnung mit ihm nie mehr vergaß. Der beste Verbündete bei der ganzen Schnitzeljagd, wenn ich ihn nur überzeugen konnte. »Ich kann Ihnen die Gründe für meine Teilnahme nicht nennen«, sagte er mit leichtem Tadel. »Dann hatten Sie also gewisse... Vorbehalte... hinsichtlich der Art, wie die Verhandlung geführt werden würde?« »Das habe ich nicht gesagt«, protestierte er. Aber gemeint hatte er es. 141
»Lord Gowery hat Andrew Tring zum Beisitzer bestimmt, und Andrew Tring möchte im Moment gerade ein sehr bedeutendes Zugeständnis von ihm. Und als dritten Steward hat er sich Lord Plimborne ausgesucht, und Lord Plimborne ist ständig eingeschlafen.« »Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie da sagen?« Er war ehrlich entsetzt. »Ich möchte wissen, wie Lord Gowery an das ganze Belastungsmaterial gegen uns gekommen ist. Ich möchte wissen, wieso das Sekretariat der Stewards den falschen Film angefordert hat. Ich möchte wissen, warum Lord Gowery so voreingenommen war, so taub gegen unsere Richtigstellungen, so wild entschlossen, uns zu sperren.« »Das ist verleumderisch...« »Ich möchte, daß Sie ihn fragen«, schloß ich rundheraus. Er starrte mich bloß an. »Ihnen sagt er es vielleicht. Wenn überhaupt, dann sagt er es Ihnen. Aber mir würde er’s in einer Million Jahren nicht sagen.« »Hughes... Sie erwarten doch nicht etwa...« »Das war kein sauberes Verfahren, und das weiß er. Ich bitte Sie lediglich, ihm das vorzuhalten und festzustellen, ob er es erklärt.« »Sie sprechen von einem hochgeachteten Mann«, sagte er kalt. »Ja, Sir. Er ist Baron, reich und langjähriger Steward. Das weiß ich alles.« »Und Sie halten Ihre Behauptungen trotzdem aufrecht?« »Ja.« Seine hitzigen Augen wurden grüblerisch. »Dafür wird er Sie vor Gericht bringen.« »Nur, wenn ich mich irre.« »Ich kann das unmöglich tun«, sagte er entschieden.
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»Und bitte benutzen Sie ein Tonbandgerät, falls Sie eins besitzen.« »Ich habe Ihnen doch gesagt...« »Ja, Sir, ich weiß.« Er stand vom Tisch auf, hielt kurz inne, als wollte er noch etwas sagen, überlegte es sich anders, wandte sich, als ich ebenfalls aufstand, abrupt ab und ging rasch weg. Als er fort war, stellte ich fest, daß meine Hände zitterten, und ich folgte ihm langsam aus dem Speisesaal und kam mir dabei wie ein völliges Wrack vor. Ich hatte entweder unsere Lizenzen gerettet oder ihnen den Rest gegeben – was von beiden, würde nur die Zeit zeigen. »Trinken Sie was, mein Lieber«, sagte Bobbie. »Sie sehen aus, als wären Sie von einer Dampfwalze überrollt worden.« Ich nahm einen Schluck Champagner, bedankte mich und sah zu, wie Roberta sich mit einem anderen in einem zwingenden Rhythmus wiegte. Die Löckchen federten gegen ihren Hals. Ich fragte mich ohne jede Geringschätzung, wie lange sie wohl gebraucht hatte, um sie festzustecken. »Nicht gerade der beste Abend für Sie, alter Freund«, meinte Bobbie. »Das weiß man nie.« Er hob die Augenbrauen und näselte von oben herab: »Auftrag ausgeführt?« »Eher eine Lunte angezündet.« Er hob sein Glas. »Auf eine erfolgreiche Detonation.« »Sie sind sehr freundlich«, sagte ich förmlich. Die Musik wechselte, und Roberta wurde von ihrem Partner zum Tisch zurückgebracht. Ich stand auf. »Ich wollte mich verabschieden«, sagte ich. »Ich gehe jetzt.« »Ach, bleiben Sie doch noch«, rief sie. »Das Schlimmste ist vorbei. Niemand starrt uns mehr an. Amüsieren Sie sich.« 143
»Tanzen Sie mit der Guten«, sagte Bobbie, und Roberta machte den Arm lang und zog mich auf die Tanzfläche. »Lord Gowery hat Sie also nicht gefressen?« »Im Moment knackt er gerade die Knochen.« »Kelly! Falls Sie irgendwelche Dummheiten...« »Wo gehobelt wird, fallen Späne, meine Liebe.« Das Kinn kam wieder hoch. Ich grinste. Sie senkte es wieder. Wurde ja richtig menschlich, die gute Miss Cranfield. Nach einer Weile ging der heiße Rhythmus in einen langsamen Stehblues über, und die Paare um uns herum gingen in den Clinch. Körper an Körper, Wange an Wange, wiegten sie sich im schummrig werdenden Licht mit geschlossenen Augen hin und her. Roberta beäugte sie kühl und versteifte sich, als ich die Arme hob, um sie an mich zu ziehen. Sie tanzte sehr korrekt, mit zehn Zentimeter Luft zwischen uns. Noch nicht menschlich genug. Auf diese unterkühlte Weise schlurrten wir durch drei verschiedene Wolken klebriger Musik. Roberta kam nicht näher, und ich machte keinen Versuch, sie umzustimmen, aber sie hatte es offenbar auch nicht eilig, damit aufzuhören. Gefaßt, kühl und von einschüchternder Eleganz, wirkte sie zu so später Stunde ebenso makellos wie bei meiner Ankunft. »Ich bin froh, daß Sie hier waren«, sagte ich. Ihr Kopf hob sich überrascht. »Es war nicht direkt der schönste Jockeys’-Fund-Ball meines Lebens... aber ich bin auch froh, daß ich gekommen bin.« »Nächstes Jahr ist alles vorbei, und alle haben es vergessen.« »Nächstes Jahr tanze ich wieder mit Ihnen«, sagte sie. »Abgemacht.« Sie lächelte, und eine Sekunde lang fing sich ein verirrter Lichtstrahl in einem Ausdruck ihrer Augen, den ich nicht recht deuten konnte. Es war ihr bewußt. Sie wandte den Kopf, löste sich gleich darauf ganz von mir und gab zu erkennen, daß sie zum Tisch 144
zurückwollte. Ich lieferte sie bei Bobbie ab, und sie setzte sich sofort und begann sich ihre nicht glänzende Nase zu pudern. »Gute Nacht«, sagte ich zu Bobbie. »Und vielen Dank.« »Aber, mein Lieber. Jederzeit.« »Gute Nacht, Roberta.« Sie blickte auf. Nichts in den Augen. Ihre Stimme war beherrscht. »Gute Nacht, Kelly.« Auf dem Parkplatz faltete ich mich in den flachen, in gebranntem Orange lackierten Wagen, fuhr los und dachte dabei an sie. Roberta Cranfield. Nicht gerade meine Vorstellung von einer knuddeligen Bettgefährtin. Zu kalt, zu beherrscht, zu stolz. Dabei paßte das gar nicht zu ihrem kupferroten Haar, diese ganze Steifheit. Oder vielleicht war sie nur mir gegenüber steif, weil ich der Sohn eines Farmarbeiters war. Und außerdem nur ein Jockey... und Jockeys, das hatte ihr Vater ihr beigebracht, gehören zu den unteren Klassen, Liebes, und mach dir nicht die Finger schmutzig... Kelly, sagte ich mir, du hast ganz schön Komplexe, mein Alter. Vielleicht denkt sie ja wirklich so, aber was kratzt dich das? Und selbst wenn, sie hat den größten Teil des Abends mit dir verbracht... allerdings hat sie wirklich schwer darauf geachtet, nicht allzu oft mit dir in Berührung zu kommen. Aber das lag ja vielleicht daran, daß so viele Leute zugesehen haben... und ihr war vielleicht einfach der Gedanke unangenehm. Ich befand mich auf der Abkürzung nach Hause, die südlich um Reading herumführte, und flitzte über verlassene Nebenstraßen; daß ich so schnell fuhr, hatte keinen anderen Grund, als daß mir die Geschwindigkeit zur Gewohnheit geworden war. Der Wagen war mit Abstand der beste, den ich je gehabt hatte, der einzige, auf den ich stolz war. Ein technisches Meisterwerk mit einem dazu passenden Äußeren. Selbst fünfundvierzigtausend Kilometer im vergangenen Jahr 145
hatten die Freude, die mir das Fahren damit machte, nicht gedämpft. Der einzige Mangel war, daß er wie so viele andere Sportwagen eine völlig unzulängliche Heizung hatte, die sich trotz allen guten Zuredens und mehrerer Werkstattaufenthalte beharrlich weigerte, mehr zu leisten, als die Windschutzscheibe freizublasen und meine Zehen auf ein Grad über Frostbeulentemperatur zu erwärmen. Wenn man nicht nett zu ihr war, rächte sie sich mit Abgasgestank. Ich war ohne Mantel zu dem Ball gefahren, und die Nacht war eisig. Ich bibberte und drehte die Heizung voll auf. Wie üblich für die Katz. Im Wagen befand sich ein Radio, das ich selten anmachte, ein zweiter Sturzhelm und mein fünf Pfund schwerer Rennsattel, mit dem ich zum Rennen nach Wetherby hatte fahren wollen. Die Niedergeschlagenheit kehrte zurück. So aufreibend der Abend gewesen war, hatte ich doch in vieler Hinsicht für eine Weile die Öde des Gesperrtseins vergessen. Nach dem, was ich zu Lord Gowery und Lord Ferth gesagt hatte, konnte sich das Ganze leicht zu einem endlosen Gewürge auswachsen. Einem buchstäblich endlosen Gewürge. Cranfield würde mein gewagtes Spielchen gar nicht gefallen. Ich war mir nicht allzu sicher, daß ich den Mut hatte, es ihm zu erzählen, falls es nicht klappte. Lord Ferth... machte er mit, oder machte er nicht mit? Er war hin- und hergerissen zwischen Loyalität gegenüber einem Gleichrangigen und einer bestimmten Vorstellung von Gerechtigkeit. Ich kannte ihn nicht gut genug, um zu wissen, was sich durchsetzen würde. Und vielleicht würde er ohnehin alles, was ich gesagt hatte, völlig aus seinen Gedanken verbannen, als zu weit hergeholt und grotesk, um sich ernsthaft damit zu befassen. Bobbie hatte sich prima verhalten. Wer er wohl war? Vielleicht würde ich eines Tages Roberta fragen. 146
Mrs. Roxford... die liebe Grace, die Ärmste. Was für ein Leben Jack führen mußte... Hoffentlich trank er gern Wodka... Ich nahm eine unerwartet scharfe Kurve viel zu schnell. Die Reifen quietschten, als ich das Steuer herumriß, und der Wagen schlingerte und schlidderte hundert Meter, ehe ich ihn wieder unter Kontrolle bekam. Ich setzte den Fuß behutsam wieder aufs Gaspedal, vor meinem geistigen Auge immer noch die kräftigen Stämme der Baumreihe, an der ich nur um Zentimeter vorbeigeschrammt war. Gott, dachte ich, wie konnte ich nur so unvorsichtig sein. Es erschreckte mich. Ich war zwar ein schneller, aber auch ein vorsichtiger Fahrer, und ich hatte noch nie einen Unfall gebaut. Ich spürte, wie mir der Schweiß ausbrach. Zum Schwitzen hatte ich auch allen Grund. Wie dumm von mir, an den Ball zu denken, mich nicht aufs Fahren zu konzentrieren und auf diesen schmalen Straßen so zu rasen. Ich rieb mir die Stirn, die sich schwer und wie zusammengeschnürt anfühlte, und beschränkte meine Geschwindigkeit auf sechzig. Roberta hatte wunderschön ausgesehen... achte um Himmels willen auf die Straße, Kelly... Normalerweise fuhr ich fast automatisch, ohne mich unentwegt konzentrieren zu müssen. Ich ertappte mich dabei, daß ich immer langsamer fuhr, weil sowohl meine Reaktionen als auch meine Gedanken immer schwerfälliger wurden. Ich hatte den ganzen Abend insgesamt etwa ein halbes Glas Champagner getrunken, das konnte es also nicht sein. Ich war schlicht und einfach dabei, einzuschlafen. Ich hielt an, stieg aus und stampfte ein bißchen herum, um wieder wach zu werden. Leute, die auf der Heimfahrt von Tanzveranstaltungen am Steuer von Sportwagen einschliefen, konnten einiges anrichten. Zu viele schlaflose Nächte, in denen ich über meine traurige Lage nachgebrütet hatte. Daß ich den Löwen auf den Schwanz 147
getreten war, schien die schlimmste Spannung gelöst zu haben. Ich hatte das Gefühl, ich könnte für einen Monat wegdämmern. Ich erwog, an Ort und Stelle im Wagen zu schlafen. Aber der Wagen war kalt und ließ sich nicht heizen. Ich entschloß mich, erst einmal weiterzufahren und endgültig anzuhalten, falls ich mich noch einmal so richtig dösig fühlte. Die frische Luft hatte ihren Zweck erfüllt; ich war hellwach und über mich selbst irritiert. Der Strahl meiner Scheinwerfer auf den Katzenaugen entlang der leeren Straße wirkte bald wie hypnotisierend. Ich machte das Radio an – vielleicht daß mich das fesseln würde –, aber es kam nur sanfte, seichte Nachtmusik. Schlaflieder. Ich machte es wieder aus. Schade, daß ich nicht rauchte. Das hätte geholfen. Es war eine sternklare Nacht mit einem hellen Vollmond. Wie Diamantenstaub glitzerten Eiskristalle auf den grasigen Seitenstreifen, nun da ich das bewaldete Gelände hinter mir gelassen hatte. Schön aber unwillkommen, denn harter Frost hieß, daß morgen in Sandown keine Rennen stattfinden würden... Mit einem Ruck ging mir auf, daß das für mich ja keine Rolle mehr spielte. Ich warf einen Blick auf den Tacho. Sechzig. Mir kam es sehr schnell vor. Ich verlangsamte auf fünfzig und nickte eulenhaft vor mich hin. Bei fünfzig konnte nun wirklich nichts passieren. Das Spannungsgefühl in meiner Stirn entwickelte sich langsam zu einem Kopfschmerz weiter. Egal, noch eine Stunde bis nach Hause, und dann gleich ab ins Bett und schlafen... schlafen... schlafen... Es hat keinen Sinn, dachte ich verschwommen. Ich muß anhalten und ein bißchen dösen, auch wenn mir beim Aufwachen eiskalt ist, sonst döse ich noch ein, ohne zuerst anzuhalten, und dann ist Sense. Der nächste Rastplatz oder so was Ähnliches... 148
Ich begann, Ausschau zu halten, vergaß, wonach ich Ausschau hielt, nahm den Fuß noch weiter vom Gas und überlegte, daß vierzig Stundenkilometer völlig risikolos waren. Vielleicht waren dreißig... noch besser. Ein Stückchen weiter waren plötzlich ein paar Hubbel in der Straße, und mein Fuß glitt vollends vom Gaspedal. Der Motor starb ab. Der Wagen blieb stehen. Na gut, dachte ich. Damit wäre das geklärt. Muß nur noch auf den Randstreifen fahren. Konnte keinen Randstreifen sehen. Sehr eigenartig. Die Kopfschmerzen drückten mir gegen die Schläfen, und ich konnte nun, da der Motor aus war, ein leises Klingen in meinen Ohren hören. Egal. Egal. Am besten gleich schlafen. Das Licht anlassen... die Straße war nicht sehr befahren... schon gar nicht um zwei Uhr morgens... trotzdem für alle Fälle das Licht anlassen. Müßte links ranfahren. Müßte... Zuviel Aufwand. Konnte ohnehin die Arme nicht richtig bewegen, ging also gar nicht. Tief, tief in meinem Kopf schaltete ein winziger Instinkt auf Notfall. Irgendwas stimmte nicht. Irgendwas stimmte, wenn auch undeutlich, ganz und gar nicht. Schlafen. Muß schlafen. Raus, sagte der flackernde Instinkt. Raus aus dem Wagen. Lachhaft. Raus aus dem Wagen. Widerwillig, weil es so mühsam war, fummelte ich schwächlich am Türgriff. Die Tür schwang auf. Ich setzte einen Fuß nach draußen, versuchte mich hochzuziehen und wurde von einem Schwindelgefühl überschwemmt. Mein Kopf pochte. Das war... unmöglich... ganz normale Schläfrigkeit. Raus aus dem Wagen... 149
Meine Arme und Beine gehörten jemand anders. Sie zerrten mich hoch... ich stand... wußte nicht mehr, wie ich es geschafft hatte. Aber ich war draußen. Draußen. Und nun? Ich machte drei schwankende Schritte zum Heck des Wagens und lehnte mich an den hinteren Kotflügel. Komisch, dachte ich, das Mondlicht ist nicht mehr so hell. Die Erde bebte. Quatsch. Totaler Quatsch. Die Erde bebte nicht. Sie bebte. Und die Luft heulte. Und der Mond stürzte auf mich. Kam vom Himmel herunter und sauste auf mich zu. Nicht der Mond. Ein großes, dröhnendes, heulendes Ungeheuer mit einem blendenden Mondauge. Ein Ungeheuer, von dem die Erde bebte. Ein Ungeheuer, das heranraste, um mich zu verschlingen, riesig, dunkel, schneller als der Wind und unvorstellbar gräßlich. Ich rührte mich nicht. Konnte nicht. Der 1-Uhr-30-Postexpreß von Paddington nach Plymouth pflügte sich in meinen robusten kleinen Wagen und riß seine zerknautschten Überreste fast einen Kilometer mit sich übers Gleis.
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10 Ich wußte nicht, was passiert war. Begriff es nicht. Hörte das ungeheure Knirschen von berstendem Metall, spürte zwei Zentimeter von mir entfernt den Wirbelwind einer auf hundertsechzig Stundenkilometer beschleunigten 90-TonnenLokomotive, dann ein dumpfes, schleuderndes Kreischen, das mich wie eine Stoffpuppe hochhob und in einem kaleidoskopischen schwarzen Bogen kopfüber durch die Luft warf. Mein Kopf knallte gegen einen Betonpfeiler. Der Rest meines Körpers fühlte sich völlig zermalmt an. In meinem Gehirn flirrten Regenbogen, blau, lila, flammendes Pink mit diamantenhellen Sternchen. Interessant, solange es anhielt. Hielt nicht sehr lange an. Löste sich in ein allumfassendes Inferno auf, in dem Farben sich in Schmerz verloren. Weiter vorn war der Zug kreischend zum Stehen gekommen. Von dort kamen Lichter und Stimmen auf mich zu. Die Erde war kalt, hart und feucht. Eine warme Flüssigkeit lief mir übers Gesicht. Ich wußte, das war Blut. War mir ziemlich egal. Konnte auch nicht richtig denken. Und wollte eigentlich auch nicht. Mehr Lichter. Viele Lichter. Viele Leute. Stimmen. Eine Stimme, die ich kannte. »Roberta, Liebe, sieh nicht hin.« »Es ist Kelly!« sagte sie. Entsetzen. Schreckliches, nicht zu vergessendes Entsetzen. »Es ist Kelly!« Diesmal Verzweiflung. »Komm weg da, meine Liebe.« Sie ging nicht weg. Sie kniete neben mir. Ich konnte ihren Duft riechen und spürte ihre Hand auf meinem Haar. Ich lag auf der Seite, mit dem Gesicht nach unten. Nach einer Weile konnte ich ein Stück honigfarbenes Seidenkleid sehen. Es war Blut darauf. 151
Ich sagte: »Sie ruinieren sich... Ihr Kleid.« »Das macht nichts.« Irgendwie half es, sie hierzuhaben. Ich war dankbar, daß sie geblieben war. Das wollte ich ihr sagen. Ich versuchte es... und wollte »Roberta« sagen. Heraus kam »Rosalind«. »Ach, Kelly...« In ihrer Stimme lag eine Mischung aus Mitleid und Kummer. Ich dachte benommen, daß sie jetzt, da ich einen so dummen Fehler gemacht hatte, bestimmt gehen würde, aber sie blieb, sagte Sachen wie »Sie werden bestimmt bald wieder gesund«, schwieg manchmal auch, war aber die ganze Zeit da. Ich wußte nicht, warum ich wollte, daß sie blieb. Ich erinnerte mich, daß ich das Mädchen noch nicht mal mochte. Wie es sich gehört, fand sich alles ein, was sich nach einem Unfall einfindet. Polizei mit Blaulicht. Ein Krankenwagen, der mit seiner Sirene die ganze Gegend weckte. Bobbie brachte Roberta weg, nachdem er ihr versichert hatte, sie könne hier nichts mehr tun. Die Krankenwagenfahrer luden mich ohne viel Federlesens auf eine Trage, und wenn ich sie grob fand, lag das nur daran, daß mir bei jeder Bewegung ein Schrei bis an die Zähne stieg. Ob einer davon weiter kam, weiß nur der Himmel. Bis ich im Krankenhaus eintraf, hatten die Nebel sich gelichtet. Ich wußte, was mit dem Auto passiert war. Ich wußte, daß ich nicht im Sterben lag. Ich wußte, daß Bobbie und Roberta wie ich den Weg über die Nebenstraßen genommen hatten und kurz nach mir an dem Bahnübergang angekommen waren. Was ich nicht verstand, war, wie ich auf die Gleise hatte geraten können. Der Übergang hatte Schranken, und die waren nicht geschlossen gewesen. Ein junger, dunkelhaariger Arzt mit dunklen Ringen unter den müden Augen kam mich untersuchen und sprach auch mit den Krankenwagenfahrern. 152
»Er war auf dem Heimweg von einem Ball«, sagten sie. »Die Polizei will einen Bluttest.« »Betrunken?« fragte der Arzt. Die Krankenwagenfahrer zuckten die Achseln. Sie hielten es für möglich. »Nein«, sagte ich. »Das war kein Alkohol. Jedenfalls...« Sie hörten gar nicht zu. Der junge Arzt beugte sich über meine untere Hälfte und untersuchte mit schlanken, sanften Fingern den Schaden. »Tut das weh? Ja.« Er teilte mein Haar und betrachtete meinen Kopf. »Da oben haben Sie nicht viel abgekriegt. Sieht schlimmer aus, als es ist.« Er trat zurück. »Wir lassen Ihre Hüfte röntgen. Und das Bein. Erst dann läßt sich Genaueres sagen.« Eine Schwester machte Anstalten, mir die Schuhe auszuziehen. Ich sagte sehr laut: »Nicht.« Sie zuckte zusammen. Der Arzt bedeutete ihr aufzuhören. »Wir machen das unter Betäubung. Lassen Sie ihn jetzt einfach so.« Sie wischte mir statt dessen die Stirn. »Tut mir leid«, sagte sie. Der Arzt fühlte mir den Puls. »Warum haben Sie bloß auf einem Bahnübergang angehalten?« fragte er im Plauderton. »Ziemlich dumm, so was.« »Ich war... müde. Hatte Kopfweh.« Das hörte sich nicht sehr vernünftig an. »Haben Sie was getrunken?« »Fast nichts.« »Auf einem Ball?« Seine Stimme klang skeptisch. »Wirklich«, sagte ich schwächlich. »Ich habe nichts getrunken.« Er ließ meine Hand los. Zwar hatte mir jemand den Schlips abgenommen, aber ich trug immer noch meine Smokingjacke. Auf meinem weißen Hemd waren kirschrote Flecken, und
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meine schwarze Hose hatte im rechten Bein einen nicht mehr zu reparierenden Riß. Ich machte die Augen zu. Half nicht viel. Der schreiende Schmerz machte keinerlei Anstalten nachzulassen. Er hatte sich, von der Achselhöhle bis zu den Zehen, in meiner rechten Seite eingerichtet und strahlte auf die Wirbelsäule ab. Ich hatte mir bei Rennen schon so einiges gebrochen, aber das hier war schlimmer. Viel schlimmer. Nicht auszuhalten. »Jetzt dauert es nicht mehr lange«, sagte der Arzt tröstend. »Dann betäuben wir Sie.« »Der Zug hat mich nicht getroffen«, sagte ich, »ich bin aus dem Wagen gestiegen... Ich habe am Heck gelehnt... Der Zug hat den Wagen getroffen... nicht mich.« Mir war übel. Wie lange dauerte das denn noch? »Wenn er Sie getroffen hätte, wären Sie jetzt nicht hier.« »Wahrscheinlich nicht... Ich hatte so rasendes Kopfweh... brauchte Luft...« Wieso werde ich nicht ohnmächtig, dachte ich. Die Leute werden immer ohnmächtig, wenn es unerträglich wird. Jedenfalls hatte ich das immer geglaubt. »Haben Sie immer noch Kopfschmerzen?« fragte er sachlich. »Ein bißchen hat’s nachgelassen. Bloß noch ein Brummschädel.« Mein Mund war trocken. Immer so, nach Verletzungen. Das geringste meiner Probleme. Zwei Pfleger kamen, um mich auf meiner Trage wegzurollen, und ich blieb bei den Unebenheiten alles andere als stoisch. Ich kam mir grau vor. Betrachtete meine Hände. Erstaunlicherweise waren sie rot. Röntgenabteilung. Sehr ruhig, sehr rasch. Versuchten, mich nicht zu bewegen, außer um den Reißverschluß aus meiner Hose herauszuschneiden. Reichte völlig. »Entschuldigung«, sagten sie. »Arbeiten Sie die ganze Nacht?« fragte ich. Sie lächelten. Rufbereitschaft. »Danke«, sagte ich. 154
Noch eine Fahrt. Leute in grünen Anzügen und weißen Masken, die beruhigende Laute von sich gaben. Ob ich die Jacke ausziehen könne. Nicht? Na, egal. Nadel in Vene auf dem Handrücken. Wunderbar. Vergessen durchströmte mich in grau und schwarz, und ich hieß es mit einem Schluchzen willkommen. Die Wirklichkeit meldete sich wie üblich in unangenehmen kleinen Schüben zurück, während eine Schwester mir die Hand tätschelte und sagte, ich solle aufwachen, es sei alles vorbei. Ich mußte zugeben, daß meine schlimmsten Befürchtungen sich nicht bestätigten. Ich hatte immer noch zwei Beine. Eines konnte ich bewegen. Das andere steckte in Gips. Unter dem Gips schmerzte es leicht. Der Schrei war zu einem Flüstern erstorben. Ich seufzte vor Erleichterung. Wie spät es sei? Fünf Uhr. Wo ich sei? Auf der Aufwachstation. Und nun schlafen Sie wieder, und wenn Sie aufwachen, geht’s Ihnen schon viel besser, Sie werden sehen. Ich tat wie geheißen, und sie hatte völlig recht. Am späten Vormittag kam ein Arzt. Nicht derselbe wie in der vorigen Nacht. Er war älter und dicker, sah aber genauso müde aus. »Sie haben großes Glück gehabt«, sagte er. »Ja.« »Mehr, als Sie sich vorstellen können. Wir haben eine Blutuntersuchung gemacht, das heißt eigentlich zwei. Die erste auf Alkohol. Mit praktisch negativen Ergebnissen. Und das hat uns interessiert, denn wer außer einem Betrunkenen würde auf einem Bahnübergang anhalten, aussteigen und sich an den Wagen lehnen? Der Bereitschaftsarzt hat uns gesagt, Sie hätten geschworen, daß Sie nichts getrunken haben, und Sie hätten auf ihn auch einen durchaus nüchternen Eindruck gemacht... Sie hätten allerdings über schwere Kopfschmerzen geklagt, die 155
im Abklingen seien... Wir haben ein bißchen über Sie nachgedacht, haben uns die kirschroten Flecken auf Ihrem Hemd angesehen... haben noch einmal einen Bluttest gemacht... und schon hatten wir’s!« Er hielt triumphierend inne. »Was denn?« »Kohlenoxydhämoglobin.« »Was?« »Kohlenmonoxyd, mein Lieber. Eine KohlenmonoxydVergiftung. Erklärt alles, verstehen Sie das denn nicht?« »Ach so... aber ich dachte, bei Kohlenmonoxyd wird man schlicht bewußtlos.« »Das kommt drauf an. Es würde nur passieren, wenn Sie auf einen Schlag eine große Dosis abbekämen, wie zum Beispiel bei Leuten, die in Schneeverwehungen steckenbleiben und den Motor laufen lassen. Aber bei geringer Zufuhr träte die Wirkung langsamer ein. Am Ende liefe es natürlich auf das gleiche hinaus. Das Hämoglobin in den roten Blutkörperchen hat eine größere Affinität zu Kohlenmonoxyd als zu Sauerstoff, deshalb bindet es alles Kohlenmonoxyd, das Sie einatmen, und fällt für den Sauerstofftransport aus. Wenn der Kohlenmonoxydspiegel in Ihrem Blut langsam ansteigt, machen sich auch die Symptome nur langsam bemerkbar. Und sie sind äußerst heimtückisch. Das Problem ist, daß sich die Leute, wenn sie sich müde fühlen, häufig eine Zigarette anzünden, um sich wach zu halten, und Tabakrauch selbst führt dem Körper erhebliche Mengen Kohlenmonoxyd zu, so daß die Zigarette ihnen leicht den Rest geben kann. Äh... rauchen Sie?« »Nein.« Und ich hatte das auch noch bedauert. »Um so besser. Offensichtlich hatten Sie auch so eine gefährliche Konzentration von Kohlenmonoxid im Blut.« »Ich muß eine halbe Stunde gefahren sein... vielleicht sogar vierzig Minuten. Ich weiß es wirklich nicht mehr.«
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»Es ist ein Wunder, daß Sie überhaupt sicher zum Stehen gekommen sind. Die Wahrscheinlichkeit, irgendwo dagegenzuknallen, ist viel größer.« »Wäre mir auch fast passiert... in einer Kurve.« Er nickte. »Haben Sie Auspuffgase gerochen?« »Mir ist nichts aufgefallen. Ich war zu sehr in Gedanken. Und die Heizung gibt manchmal Abgasgerüche von sich. Ich würde also gar nicht darauf achten, wenn es nicht stark riecht.« Ich blickte an mir selbst hinunter. »Was habe ich eigentlich?« »Jetzt nicht mehr viel«, meinte er fröhlich. »Auch da haben Sie Glück gehabt. Sie hatten mehrere Luxationen... Hüft-, Knie- und Fußgelenk. Hab noch nie alle drei auf einmal gesehen. Sehr interessant. Wir haben alle drei wieder eingerenkt. Keine Quetschungen, keine Frakturen, keine Sehnenrisse. Wir glauben nicht einmal, daß eine Neigung zu Luxationen zurückbleibt. Ein-, zwei angerissene Bänder am Knie, das ist alles.« »Ein Wunder.« »Interessante Sache, ja. Ziemlich einmaliger Unfall, natürlich. Keine direkte Gewalteinwirkung. Wir glauben, daß es der Luftdruck gewesen sein könnte... daß er Sie auseinandergedrückt oder gestreckt hat. Wie auf der Folterbank, verstehen Sie?« Er kicherte. »Wir haben Knie- und Fußgelenk eingegipst, damit es sich etwas beruhigen kann, aber der Gips kann in drei bis vier Wochen wieder runter. Und Sie dürfen vorläufig die Hüfte nicht belasten. Sie können Physiotherapie bekommen. Aber lassen Sie es eine Weile ruhig angehen, wenn Sie hier entlassen werden. Ihre Muskeln waren großer Spannung ausgesetzt, und Ihre Bänder und so weiter sind übel gedehnt worden. Lassen Sie alles richtig abklingen, ehe Sie wieder eine Meile rennen.« Er lächelte, und das Lächeln ging mittendrin in ein Gähnen über. Er unterdrückte es schuldbewußt. »Es war eine lange Nacht...« 157
»Ja«, sagte ich. Ich kam am Dienstag nachmittag in einem Krankenwagen, mit zwei Krücken und der Anweisung, soviel Zeit wie möglich in der Horizontalen zu verbringen, nach Hause zurück. Poppy fühlte sich immer noch unwohl. Während Tony meinem langsamen Aufstieg zu meiner Wohnung folgte, entschuldigte er sich dafür, daß sie mich nicht bei sich aufnehmen könne: die Kinder strengten sie wahnsinnig an. »Ich komme prima allein zurecht.« Er begleitete mich ins Schlafzimmer, wo ich mich weisungsgemäß in den Kleidern auf die Tagesdecke legte. Dann steuerte er auf den Whisky zu und erfrischte sich nach meinen Mühen. »Brauchst du noch irgendwas? Später hole ich dir was zu essen.« »Danke«, sagte ich. »Könntest du das Telefon hier reinbringen?« Er holte den Apparat und stöpselte ihn in die Steckdose neben meinem Bett ein. »Okay?« »Prima«, sagte ich. »Das wär’s dann wohl.« Er kippte rasch seinen Drink hinunter und strebte der Tür zu, wobei er es sehr viel eiliger als sonst hatte und sich geradezu von mir wegstahl, als sei ihm irgend etwas peinlich. »Stimmt irgendwas nicht?« Er fuhr zusammen. »Nein. Alles bestens. Muß den Kindern vor der Stallarbeit noch ihren Tee machen. Ich komm dann später noch mal. Mit bißchen trocken Brot.« Er lächelte flüchtig und verschwand. Ich zuckte die Achseln. Was auch immer nicht stimmte, er würde es mir irgendwann sagen, wenn er wollte.
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Ich nahm den Telefonhörer ab und wählte die Nummer der örtlichen Autowerkstatt. Es meldete sich deren bester Mechaniker. »Mr. Hughes... ich hab’s gehört... Ihr schönes Auto.« Er nahm eine halbe Minute lang aufrichtig Anteil. »Ja«, sagte ich. »Hören Sie, Derek, besteht irgendeine Möglichkeit, daß durch die Heizung Auspuffgase ins Wageninnere gelangen konnten?« Er war beleidigt. »So wie ich mich um den Wagen gekümmert hab, nicht. Ganz sicher nicht.« »Offenbar habe ich große Mengen Kohlenmonoxyd eingeatmet.« »Nicht durch die Heizung... Ich versteh das nicht.« Er hielt nachdenklich inne. »Die achten da besonders drauf, daß so was nicht passieren kann, verstehen Sie? Schon im Stadium der Konstruktion. Auspuffgase können nur dann durch die Heizung kommen, wenn am Auspuffkrümmer eine Dichtung lose oder schadhaft ist und wenn gleichzeitig der Heizungsschlauch einen Riß oder ein Loch hat und wenn beides durch ein Rohr miteinander verbunden ist, und eins können Sie mir glauben, Mr. Hughes, an Ihrem Wagen war nichts in der Art. Tipptopp in Schuß war der.« »Manchmal riecht die Heizung nach Auspuffgasen. Ich habe Ihnen das vor einiger Zeit auch mal gesagt, wenn Sie sich erinnern.« »Und ich hab die ganze Auspuffanlage damals gründlich durchgecheckt. Da war alles in Ordnung. Das einzige, was ich mir denken kann, ist, daß es die Auspuffgase beim Verlangsamen irgendwie von hinten nach vorn weht, und daß sie dann durch die Frischluftzuleitung, neben der Heizung, angesaugt werden.« »Könnten Sie sich mein Auto vielleicht mal ansehen? Das, was davon übrig ist, meine ich...« »Hier ist ’ne ganze Menge zu tun«, meinte er zweifelnd. 159
»Die Polizei hat mir den Namen der Werkstatt gesagt, wo es jetzt steht. Anscheinend müssen sämtliche Teile dort bleiben, bis die Versicherungsleute sie sich angesehen haben. Aber Sie kennen den Wagen... für Sie wäre es einfacher, festzustellen, ob irgendwas daran anders ist als bei der letzten Inspektion.« »Sie meinen doch nicht...« Er hielt inne. »Sie meinen doch nicht... es könnte irgendwas... na ja... nicht in Ordnung sein?« »Ich weiß es nicht. Aber ich würde es gern rausfinden.« »Das würde Sie aber was kosten«, sagte er warnend. »Das wäre Arbeitszeit.« »Das macht nichts. Wenn Sie fahren könnten, ist es mir das wert.« »Bleiben Sie mal kurz dran.« Er ging nachfragen. Kam wieder. »Ja, alles klar. Der Chef sagt, ich kann gleich morgen früh fahren.« »Prima. Rufen Sie mich an, wenn Sie wieder da sind.« »Das kann keine Dichtung gewesen sein«, sagte er unvermittelt. »Wieso nicht?« »Das hätten Sie gehört. Macht einen Mordskrach. Außer Sie hatten das Radio an.« »Nein.« »Eine kaputte Dichtung hätten Sie gehört«, sagte er entschieden. »Obwohl, wenn es die Auspuffgase irgendwie direkt in die Heizung geleitet hat, vielleicht auch nicht. Die Heizung würde den Lärm dämpfen, genau wie ein Schalldämpfer... aber ich sehe nicht, wie so was hätte passieren sollen. Na ja... mehr als ansehen kann ich’s mir nicht.« Ich wäre gern mitgefahren. Ich legte den Hörer auf und betrachtete düster mein rechtes Bein. Der saubere Gips reichte von knapp unterhalb meiner Leiste bis zu den Zehenballen, und die Zehen selbst steckten in einem weißen Krankenhausstrumpf. Eine Hose von Tony, wenngleich fünfzehn Zentimeter zu lang, hatte sich mühelos über den Gips 160
streifen lassen und verhüllte ihn dezent: was das Äußere anging, sah alles ganz passabel aus. Ich seufzte. Der Gips war lästig. Irgendwie hatten sie ihn so konstruiert, daß mir das Sitzen schwerfiel. Stehen und Liegen ging besser. Das Ding würde keine Minute länger dranbleiben als nötig. Den Muskeln darunter tat die Bewegungslosigkeit gar nicht gut. Sie würden erschlaffen, steif werden, schwinden. Es wäre geradezu paradox, wenn ich meine Lizenz wiederbekäme und zum Reiten zu schwach wäre. Um halb acht kam Tony mit einem halben Hähnchen. Er wollte nicht bleiben, nicht einmal auf einen Drink. »Kommst du zurecht?« fragte er. »Klar. Kein Problem.« »Dein Bein tut doch nicht weh, oder?« »Kein bißchen. Ich spüre überhaupt nichts.« »Dann ist ja alles bestens.« Er war erleichtert, wollte mich nicht richtig ansehen, ging weg. Am anderen Morgen kam Roberta Cranfield. »Kelly?« rief sie. »Sind Sie da?« »Im Schlafzimmer.« Sie ging durchs Wohnzimmer und blieb an der Tür stehen. Der schwarzweiß gestreifte Pelzmantel war nicht zugeknöpft. Darunter trug sie schwarze Hosen und einen Pullover von der Farbe eines stehenden Teichs. »Hallo«, sagte sie. »Ich habe Ihnen was zum Essen mitgebracht. Soll ich es in die Küche bringen?« »Das ist wirklich nett von Ihnen.« Sie musterte mich. Ich lag angezogen auf der Tagesdecke und las die Morgenzeitung. »Sie scheinen sich ja recht wohl zu fühlen.« »Ja. Bloß langweilig ist mir. Äh... jetzt, wo Sie da sind, natürlich nicht mehr.« »Natürlich. Soll ich Kaffee machen?« »Ja, bitte.« 161
Sie brachte ihn in zwei Bechern aus der Küche, legte ihren Pelz ab und setzte sich lässig in meinen Schlafzimmersessel. »Heute sehen Sie schon ein bißchen besser aus«, meinte sie. »Geht das Blut von Ihrem Kleid ab?« Sie zuckte die Achseln. »Ich hab’s in die Reinigung gegeben. Die wollen’s versuchen.« »Tut mir leid...« »Das macht doch nichts.« Sie nippte an ihrem Kaffee. »Ich habe am Samstag im Krankenhaus angerufen. Dort hieß es, Sie wären okay.« »Danke.« »Warum haben Sie bloß auf den Gleisen angehalten?« »Ich habe zu spät mitgekriegt, daß es die Gleise sind.« »Aber wie sind Sie bei heruntergelassener Schranke überhaupt da hingekommen?« »Die Schranken waren nicht heruntergelassen.« »Als wir gekommen sind, schon«, sagte sie. »Da waren überall Lichter, Leute haben geschrien und gebrüllt, und wir sind ausgestiegen, um festzustellen, was da los war, und irgendwer hat gesagt, der Zug hätte ein Auto gerammt... und dann habe ich Sie ungefähr drei Meter weiter mit blutüberströmtem Gesicht reglos am Gleis liegen sehen. Schlimm. Ganz schlimm war das, wirklich.« »Tut mir leid... ich hatte eine ziemliche Dosis Kohlenmonoxyd eingeatmet. Eingeschränkte Schuldfähigkeit, könnte man sagen.« Sie feixte. »Sie sind schon so ein Schwachkopf.« Die Schranke hatte sich vermutlich geschlossen, nachdem ich auf dem Gleis angehalten hatte. Ich hatte sie weder gehört noch gesehen. Das Gas mußte stärker gewirkt haben, als ich es in Erinnerung hatte. »Ich habe Sie Rosalind genannt«, sagte ich entschuldigend. »Ich weiß.« Sie zog ein Gesicht. »Haben Sie geglaubt, ich wäre sie?« 162
»Nein... es ist mir so herausgerutscht. Ich wollte eigentlich Roberta sagen.« Sie löste sich aus ihrer zusammengerollten Stellung im Sessel, machte ein paar Schritte und blieb vor Rosalinds Bild stehen. »Sie wäre froh... wenn sie wüßte, daß sie nach so langer Zeit bei Ihnen immer noch an erster Stelle steht.« Das Telefon neben mir riß mich mit schrillem Klingeln aus meiner Verblüffung. Ich nahm den Hörer ab. »Ist dort Kelly Hughes?« Die Stimme war kultiviert, respekteinflößend, auf undefinierbare Weise mit Macht geladen. »Hier spricht Wykeham Ferth. Ich habe in der Zeitung von Ihrem Unfall gelesen... heute morgen hieß es in einer Meldung, Sie seien wieder zu Hause. Ich hoffe... es geht Ihnen gut.« »Ja, danke, Mylord.« Es war lachhaft, wie mein Herz klopfte. Dazu schwitzte ich auch noch an den Händen. »Sind Sie in der Lage, nach London zu kommen?« »Ich... ich habe ein Gipsbein... ich kann leider schlecht in einem Auto sitzen.« »Hm.« Kurzes Schweigen. »Na schön. Dann komme ich statt dessen nach Corrie. Das ist doch Harringays ehemaliger Stall, nicht?« »Genau. Ich habe eine Wohnung über dem Stallhof. Wenn Sie von der Einfahrt her in den Hof kommen, sehen Sie in der hinteren Ecke eine grüne Tür mit einem Messingbriefkasten. Sie ist nicht abgeschlossen. Dahinter führt eine Treppe nach oben. Dort wohne ich.« »Schön«, sagte er knapp. »Heute mittag? Gut. Erwarten Sie mich um... äh... vier Uhr. In Ordnung?« »Sir...« begann ich. »Nicht jetzt, Hughes. Heute nachmittag.« Ich legte langsam den Hörer auf. Sechs Stunden Ungewißheit. Der Teufel sollte ihn holen. 163
»Was für ein absolut herzloser Brief«, rief Roberta aus. Ich sah zu ihr hin. Sie hielt den Brief meiner Eltern, der unter dem Foto von Rosalind gelegen hatte, in der Hand. »Eigentlich hätte ich wohl nicht die Nase reinstecken dürfen«, sagte sie ohne jede Reue. »Eigentlich nicht.« »Wie können sie nur so gemein sein?« »Im Grunde sind sie’s gar nicht.« »So etwas passiert immer, wenn es in einer Familie von Dummköpfen einen gescheiten Sohn gibt«, sagte sie empört. »Nicht immer. Manche gescheiten Söhne stellen sich geschickter an als andere.« »Hören Sie auf, sich selbst zu prügeln.« »Ja, Ma’am.« »Wollen Sie ihnen weiter Geld schicken?« »Ja. Sie können wenig dagegen machen, außer es nicht ausgeben... oder es dem dortigen Tierasyl spenden.« »Immerhin haben sie soviel Anstand zu kapieren, daß sie nicht gleichzeitig Ihr Geld nehmen und Sie beschimpfen können.« »Ein streng moralischer Mann, mein Vater. Ehrlich bis zum Gehtnichtmehr. Ehrlich aus Überzeugung. Er hat mir eine Menge beigebracht, wofür ich dankbar bin.« »Und deswegen tut ihm die Geschichte auch so weh?« »Ja.« »Ich habe... ich weiß, Sie werden mich bestimmt verachten, wenn ich das sage... aber ich habe Leute wie Ihren Vater eigentlich nie als... na ja... Leute betrachtet.« »Wenn Sie nicht aufpassen, sind Sie gleich die Ketten los.« Sie steckte den Brief wieder unter Rosalinds Foto. »Auf welcher Universität sind Sie gewesen?« »London. Hab mich als Stipendiat in einer Mansarde durchgehungert. Tolle Sache.«
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»Ich wünschte... eigentlich komisch... ich wünschte, ich hätte auch irgendeine Ausbildung. Einen Beruf.« »Dazu ist es ja wohl noch nicht zu spät«, meinte ich lächelnd. »Ich bin fast zwanzig. In der Schule habe ich nie groß auf Prüfungen gebüffelt... kein Mensch hat uns dazu gezwungen. Dann bin ich für ein Jahr in die Schweiz gegangen, auf ein Mädchenpensionat... und seither hab ich einfach nur zu Hause gewohnt... Was für eine Verschwendung!« »Die Töchter reicher Leute sind immer im Nachteil«, sagte ich ernst. »Sarkastischer Mistkerl.« Sie setzte sich wieder in den Sessel und erzählte mir, ihr Vater habe sich offenbar endlich wieder berappelt und schließlich am Vorabend eine Einladung zum Essen angenommen. Sämtliche Stallburschen seien geblieben. Sie spielten die meiste Zeit Karten und Fußball, denn im Stall stünden nur noch vier halbfertige Zweijährige und drei alte Steeplechaser, die sich von Verletzungen erholten. Die meisten Besitzer hätten versprochen, ihre Pferde sofort wieder zurückzubringen, falls Cranfield in den nächsten paar Wochen seine Lizenz wiederbekäme. »Im Grunde ist es Hoffnung, was Vater jetzt zu schaffen macht. Bis zu dem großen Meeting in Cheltenham sind es nur noch vierzehn Tage, und er fragt sich ständig, ob er Breadwinner so rechtzeitig zurückbekommt, daß das Pferd in seinem Namen im Gold Cup startet.« »Schade, daß Breadwinner nicht für das Grand National gemeldet ist. Dann hätten wir ein bißchen mehr Spielraum.« »Wäre Ihr Bein denn bis zum Gold Cup wieder in Ordnung?« »Wenn ich meine Lizenz hätte, würde ich eigenhändig den Gips aufsägen.« »Sind Sie denn da weitergekommen... bei den Lizenzen?« »Keine Ahnung.« 165
Sie seufzte. »Jedenfalls war es ein schöner Traum. Und jetzt werden Sie ja nicht mehr viel unternehmen können.« Sie stand auf, kam zu mir herüber und nahm die Krücken, die neben meinem Bett lagen. Es waren schwarze Metallrohre mit Unterarmstützen und Griffen. »Die sind viel besser als diese altmodischen Dinger mit Achselstütze«, sagte sie. Sie schmiegte die Unterarme in die Griffteile und stakste probeweise auf einem Bein durchs Zimmer. »Allerdings ziemlich anstrengend für die Hände.« Sie wirkte unbefangen und konzentriert. Ich sah ihr zu und erinnerte mich an die Offenbarung, die es als Kind für mich bedeutet hatte, als ich mich zum erstenmal fragte, wie es wohl wäre, jemand anders zu sein. In dieses Idyll platzte Tony mit unglücklichem Gesicht und einem zusammengefalteten Blatt Papier in der Hand. »Tag«, sagte er beim Anblick von Roberta. Eine sehr trübsinnige Begrüßung. Er setzte sich in einen Sessel und sah Roberta an, die sich mit abgeknicktem Knie auf die Krücken stützte. Seine Gedanken waren nicht dort, wo seine Augen waren. »Also, was ist los?« fragte ich. »Raus damit.« »Der Brief da... ist gestern gekommen«, sagte er schwerfällig. »Ich habe schon gestern abend bemerkt, daß irgendwas los ist.« »Da konnte ich ihn dir einfach nicht zeigen, wo du gerade aus dem Krankenhaus gekommen warst. Und ich weiß nicht, was ich machen soll, Kelly, ich weiß es wirklich nicht.« »Zeig mal her.« Mit besorgtem Blick reichte er mir das Blatt. Ich faltete es auseinander. Ein kurzer Brief von der Rennbehörde. Peng, peng, die volle Ladung. Sehr geehrter Herr... 166
Man hat uns darauf hingewiesen, daß eine von Newmarket Heath verwiesene Person als Mieter in Ihrem Rennstall wohnt. Da dies gegen die Bestimmungen verstößt, sollten Sie umgehend Abhilfe schaffen. Es dürfte wohl nicht erforderlich sein, Sie darauf hinzuweisen, daß Ihre Trainingslizenz einer Überprüfung unterzogen werden müßte, falls Sie es versäumen, die erforderlichen Schritte zu unternehmen. »Schweine«, sagte Tony grimmig. »Verfluchte Schweine.«
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11 Während Roberta das Mittagessen abräumte, das sie uns gekocht hatte, kam Derek von der Autowerkstatt. Auf sein Klingeln ging sie hinunter, um ihn einzulassen. Er stakste wie auf Eiern durchs Wohnzimmer, blickte dabei ständig hinter sich, um festzustellen, ob seine Füße Schmutzspuren hinterließen, und wischte sich aus Gewohnheit die Finger an der Hose ab, ehe er die Hand ergriff, die ich ihm entgegenstreckte. »Setzen Sie sich«, forderte ich ihn auf. Er betrachtete zweifelnd den mit khakifarbenen Samt bezogenen Sessel, ließ sich schließlich aber behutsam darauf nieder. Er machte einen vollkommen sauberen Eindruck. Kein Schmierfett, kein schmutziger Overall. Eine ganz normale Hose mit Sportjackett. Das war er nicht gewöhnt. »Sind Sie in Ordnung?« fragte er. »Völlig.« »Wenn Sie in dem Auto gesessen hätten...« Er schauderte sichtlich angesichts dessen, woran er dachte; daß er ein so zuverlässiger Mechaniker war, verdankte sich unter anderem seiner lebhaften Phantasie. Er wollte keinen Toten auf dem Gewissen haben. Jung, blond und zurückhaltend, hatte er seinen Verstand größtenteils in den Fingerspitzen und ging, von Autos abgesehen, sparsam mit seinem Oberstübchen um. »So was haben Sie noch nicht gesehen«, sagte er. »Auf den ersten Blick würden Sie gar nicht erkennen, daß das mal ’n Auto war. Ist alles in kleine Stücke zerlegt... das heißt so kleine Metallstücke, die gar nicht so aussehen, als wären sie mal Teile von irgendwas gewesen. Ehrlich. Wie so verbogene kleine Fetzen.« Er schluckte. »Die haben sie in Blechwannen gesammelt.« »Den Motor auch?« 168
»Ja. Total zerdeppert. Trotzdem hab ich mir alles angeguckt. Hat ganz schön lange gedauert, ist nämlich alles total durcheinandergeschmissen, und man kann gar nicht sagen, was mal was war. Ich meine, ich hab zuerst auch nicht gedacht, daß das ’n Stück Auspuffkrümmer ist, was ich da in die Finger gekriegt hab, weil die Form, die erinnert einen an gar nichts.« »Haben Sie was rausgekriegt?« »Hier.« Er wühlte in seiner Hosentasche. »So hat alles ausgesehen. Das ist ’n Stück vom Auspuffkrümmer. Der ist aus Gußeisen, verstehen Sie, also ist er natürlich ziemlich spröde, und deswegen ist er in Stücke zersprungen. Ich meine, er war nicht irgendwie zerknautscht, so wie das ganze Aluminium und so. Er war nicht verbogen, verstehen Sie, sondern einfach bloß zersprungen.« »Ja, ich verstehe.« Die besorgten Falten auf seiner Stirn glätteten sich, als er erkannte, daß er mir hatte vermitteln können, was er meinte. Er kam zu mir und legte mir den kleinen, schwarzen, scharf gezackten Brocken in die Hand. Schwer für seine Größe. Ungefähr sieben Zentimeter lang. Asymmetrisch gekrümmt. Teil der Wand eines dicken Rohrs. »Soweit ich das erkennen kann«, sagte Derek und zeigte mit dem Finger drauf, »stammt das ungefähr von der Stelle, wo sich der Auspuffkrümmer verengt, aber eigentlich kann’s von überall sein. Vom Auspuffkrümmer haben ’ne Menge Stücke rumgelegen, als ich gesucht hab, aber das Stück, das hier dranpaßt, hab ich nicht gesehen, deswegen würde ich sagen, es rostet immer noch irgendwo neben dem Gleis vor sich hin. Egal, gucken Sie sich mal das hier an...« Er deutete mit einem stummeligen Finger auf eine halbrunde Kerbe im Rand. »Das ist eine Seite von einem Loch, das jemand in den Krümmer gebohrt hat. Verstehen Sie mich nicht falsch, da könnten ohne weiteres ’n paar Löcher reingebohrt worden sein. Zum Beispiel haben manche Leute Abgastemperatur-Meßfühler im Krümmer
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stecken... und auch andere Meßgeräte. Nur, in Ihrem Krümmer, da waren keine Meßgeräte drin, oder?« »Das wissen Sie am besten«, sagte ich. »Nee, da waren keine. Wozu das Loch gut war, kann man natürlich nicht genau sagen, jedenfalls nicht mit hundertprozentiger Sicherheit. Aber soviel ich weiß, waren in Ihrem Auspuffkrümmer keine Löcher, als ich den Wagen das letzte Mal zur Inspektion hatte.« Ich fuhr mit dem Finger über die kleine, halbkreisförmige Einbuchtung. Ein knapper Zentimeter Durchmesser. »Wie haben Sie so was Kleines nur entdeckt?« »Weiß ich eigentlich auch nicht. Allerdings war ich gut zwei Stunden dort und hab mich durch die Wannen gewühlt. Bin ganz methodisch vorgegangen. Schließlich haben Sie ja dafür bezahlt und so.« »Ist das eine größere Sache, ein Loch von diesem Durchmesser in einen Auspuffkrümmer zu bohren? Würde das lange dauern?« »’ne halbe Minute, würd ich sagen.« »Mit einer elektrischen Bohrmaschine?« »Ja klar. Mit ’nem Handbohrer würd’s fünf Minuten dauern. Oder eher acht bis zehn, damit ich Ihnen nichts Falsches sag.« »Wie viele Leute haben einen Bohrer in ihrem Bordwerkzeug?« »Also, das ist ganz verschieden. Manche Leute haben allen möglichen Kram in ihren Autos. Regelrechte Werkbänke, kann man sagen. Und bei anderen, da bleibt das Werkzeug sauber verpackt, wie’s aus der Fabrik kommt, bis die Karre zusammenbricht.« »Also haben manche Leute Bohrer dabei?« »Ja, klar. Sogar ’ne Menge. Handbohrer, natürlich. Für ’ne Bohrmaschine hat man im Auto wenig Verwendung, außer man macht viele Reparaturen, zum Beispiel an Rennwagen.«
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Er ging zum Sessel zurück und setzte sich wieder. Vorsichtig, wie eben schon. »Wenn jemand ein Loch von dieser Größe in den Auspuffkrümmer bohrt, was passiert dann?« »Tja, ehrlich gesagt, nicht viel. Es treten Auspuffgase aus dem Motor aus, und es macht ’n ziemlichen Krach, und vielleicht riecht man’s auch im Wagen, aber es würde irgendwie weggehen, und es käme nicht über die Heizung rein. Wie gesagt, dazu müßte man ’n Schlauch in das Loch da stecken, und das andere Ende von dem Schlauch käm dann in die Heizung. Das wär allerdings ziemlich einfach, dazu bräuchte man keinen Bohrer. Manche Heizungsschläuche bestehen praktisch nur aus Pappe.« »Ein Gummischlauch von einem Loch zum anderen?« Er schüttelte den Kopf. »Nee. Müßte aus Metall sein. Auspuffgase, die sind ziemlich heiß. Da würde alles außer Metall schmelzen.« »Meinen Sie, jemand könnte das alles ganz spontan machen?« Er legte nachdenklich den Kopf schräg. »Klar doch. Falls er ’n Bohrer hätte. Er brauchte bloß noch ’n Stück Rohr dazu. Und da müßt er sich nur ’n bißchen umgucken. Davon liegt jede Menge rum, wenn man sich richtig umguckt. Neulich erst hab ich ’n Stück Rahmen von ’nem alten Kinderfahrrad verwendet, war genau das richtige. Also, man macht zuerst das Rohr fertig, und dann nimmt man einen Bohrer, der von der Größe her am besten paßt. Und fertig ist der Lack!« »Wie lange dauert das, alles in allem?« »Den Krümmer mit dem Heizungsschlauch verbinden? Also, wenn man ganz von vorn anfangen und vielleicht noch ’n Stück Rohr auftreiben muß, tja, höchstens ’ne halbe Stunde, ’ne Viertelstunde, wenn man schon was zur Hand hat. Wirklich Zeit braucht ja eigentlich nur das Bohren, oder? Der Rest geht mit links.« 171
Roberta erschien in der Tür und schlüpfte dabei in ihren gestreiften Mantel. Derek stand verlegen auf und wußte nicht, wohin mit seinen Händen. Sie lächelte ihn lieb an, ohne ihn wahrzunehmen, und sagte zu mir: »Brauchen Sie noch etwas, Kelly?« »Nein. Und tausend Dank.« »Gern geschehen. Bis mo... Ich komme vielleicht morgen wieder vorbei.« »Schön«, sagte ich. »Also dann.« Sie nickte, lächelte zurückhaltend, und ihr Abgang war wie üblich von gelassener Selbstsicherheit. Dereks Kommentar klang so ähnlich wie »Mensch!«. »Sie haben in den Trümmern wohl nichts gefunden, was als Rohr in Frage käme?« fragte ich. »Hä?« Er riß mit Mühe den Blick von der Tür los, durch die Roberta verschwunden war. »Nee, das war wirklich übel. Jede Menge Stücke, man hat gar nicht gewußt, was das alles war. Ich hab so was noch nie gesehen. Klar, Unfallautos hab ich natürlich schon gesehen, ist ja logisch. Aber das war anders.« Er schauderte. »Hatten Sie irgendwelche Schwierigkeiten, die Erlaubnis zum Suchen zu kriegen?« »Nee, gar nicht. Die hat das anscheinend nicht interessiert, was ich da mache. Die haben bloß gesagt, ich soll mich bedienen. Ich hab ihnen natürlich gesagt, daß es gewissermaßen mein Auto war. Ich meine, daß ich es gewartet habe. Aber die haben das sowieso total locker genommen, weil, wie ich gegangen bin, durfte dieser andere Typ auch alles gründlich angucken.« »Welcher andere Typ?« »So ’n Kerl eben. Hat gesagt, er wär von der Versicherung, aber ’n Notizbuch hat er nicht dabeigehabt.«
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Mir war danach zumute, auch »Hä?« zu sagen. Statt dessen sagte ich: »Notizbuch?« »Ja, klar, bei uns in der Werkstatt kriechen sie auch ständig rum, die Versicherungsfritzen, und gucken sich Unfallautos an, und man sieht nie einen ohne sein Notizbuch. Schreiben jede Kleinigkeit auf, ungelogen. Aber der Typ da, der sich Ihr Auto angeguckt hat, der hatte kein Notizbuch.« »Wie hat er denn ausgesehen?« Er überlegte. »Also, das ist schwierig. Er hat eigentlich nach gar nichts ausgesehen. Irgendwie mittelgroß. Nicht jung, aber auch nicht richtig alt. So ’n richtiger Niemand, eigentlich.« »Hat er eine Sonnenbrille aufgehabt?« »Nee. ’n Hut hat er aufgehabt, aber ob er ’ne Brille aufhatte, weiß ich nicht mehr. Ich kann mich wirklich nicht erinnern. Soviel hab ich gar nicht mitgekriegt.« »Hat er die Trümmer durchsucht, als ob er wüßte, was er will?« »Äh... weiß ich wirklich nicht. Jetzt kommt’s mir so vor, als hätt’s ihn ’n bißchen gewundert, daß es so kleine Stücke sind.« »Ein Mädchen hat er nicht bei sich gehabt?« »Nee.« Sein Gesicht hellte sich auf. »Er ist in ’nem grauen Volkswagen gekommen, ’nein ziemlich alten, grauen.« »Von denen gibt’s Tausende.« »Ja, auch wieder wahr. Äh... war der Typ wichtig?« »Nur, wenn er nach dem gesucht hat, was Sie gefunden haben.« Er klamüserte es auseinander. »Mann!« sagte er. Lord Ferth kam zwanzig Minuten nach der angekündigten Zeit, was bedeutete, daß ich eine halbe Stunde auf meinen Krücken durch die Wohnung hüpfte, weil ich nicht stilliegen konnte.
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Er stand in der Tür zum Wohnzimmer, hatte eine Aktentasche und eine Melone in der einen Hand und knöpfte sich mit der anderen seinen kurzen, beigefarbenen Mantel auf. »Na, Hughes«, sagte er. »Guten Tag.« »Guten Tag, Mylord.« Er kam herein, schloß die Tür hinter sich und legte Hut und Aktentasche auf die Eichenholztruhe neben sich. »Was macht das Bein?« »Rostet ein«, sagte ich. »Kann ich Ihnen etwas anbieten... Tee, Kaffee oder einen Drink?« »Danke, im Moment nicht.« Er legte den Mantel auf die Truhe, nahm die Brieftasche wieder zur Hand und blickte sich mit der erstaunten Miene um, die ich bei Besuchern schon gewohnt war. Ich bot ihm den grünen Sessel mit dem kleinen Beistelltisch an. Er fragte, wo ich sitzen wolle. »Ich stehe«, sagte ich. »Das Sitzen ist etwas schwierig.« »Aber Sie stehen doch nicht den ganzen Tag!« »Nein, meistens liege ich auf dem Bett.« »Dann unterhalten wir uns in Ihrem Schlafzimmer.« Wir gingen durch die Tür am anderen Ende des Wohnzimmers, und diesmal gab er seinem Erstaunen laut Ausdruck. »Wessen Wohnung ist das?« fragte er. »Meine.« Er warf mir einen raschen Blick zu, als er die Trockenheit in meiner Stimme hörte. »Sie ärgern sich über die Verwunderung?« »Ich amüsiere mich darüber.« »Hughes... es ist ein Jammer, daß Sie nicht in den Staatsdienst eingetreten sind. Sie hätten es weit gebracht.« Ich lachte. »Ich habe ja noch Zeit... werden gesperrte Jockeys denn für die gehobene Laufbahn zugelassen?« »Sie können also darüber scherzen?«
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»Es hat zwar neun Tage gedauert, aber mittlerweile ja, jedenfalls einigermaßen.« Er bedachte mich mit einem langen, offenen, abschätzenden Blick, und sowohl seine Grundeinstellung als auch sein Verhalten mir gegenüber änderten sich auf subtile Weise; als ich kurz darauf begriff, was sich da abgespielt hatte, war ich verblüfft, weil er mich von gleich zu gleich behandelte, gleich an Macht, Verständnis und Erfahrung: dabei war ich alles andere. Wenige Männer in seiner Position hätten diesen Weg für gangbar gehalten, geschweige denn eingeschlagen. Ich begriff, was für ein Kompliment er mir damit machte. Er erkannte, daß ich es begriff, und mir wurde später klar, daß er mir ohne diese grundlegende Veränderung in unserer Beziehung, ohne diese Aufhebung des Verhältnisses von Steward zu Jockey, nicht alles gesagt haben würde, was er mir dann sagte. Es wäre nicht dazu gekommen, wenn er nicht in meiner Wohnung gewesen wäre. Er setzte sich in den khakifarbenen Sessel und stellte die Aktentasche sorgsam neben sich auf den Boden. Ich befreite die Krücken von meinem Gewicht und vertraute es den Bettfedern an. »Ich habe Lord Gowery aufgesucht«, sagte er sachlich. »Und ich sehe keinen Grund, warum ich Ihnen nicht gleich sagen sollte, daß Ihre und Dexter Cranfields Sperre in den nächsten Tagen aufgehoben wird.« »Ist das Ihr Ernst?« rief ich. Ich versuchte, mich aufzusetzen. Der Gips hatte etwas dagegen. Lord Ferth lächelte. »Nach meiner Auffassung gibt es keine Alternative. Nächste Woche wird im Rennkalender eine entsprechende Notiz veröffentlicht.« »Und mehr brauchen Sie mir natürlich auch nicht zu sagen.« Er sah mich mit geradem Blick an. »Richtig. Aber Sie wollen mehr wissen.« 175
»Ja.« »Wenn jemand ein Recht darauf hat, dann Sie... Sie müssen sich allerdings sehr genau überlegen, inwieweit Sie Dexter Cranfield in Kenntnis setzen.« »Ja.« Er seufzte, griff nach unten, um die Aktentasche zu öffnen, und entnahm ihr ein kompaktes kleines Tonbandgerät. »Ich habe mich nach Kräften bemüht, Ihren Vorschlag zu ignorieren. Eine Zeitlang ist mir das auch gelungen. Dennoch...« Er hielt inne, seine Hand schwebte über den Bedienungsknöpfen. »Dieses Gespräch hat Montag spätnachmittags im Wohnzimmer von Lord Gowerys Wohnung am Sloane Square stattgefunden. Wir waren allein... Sie werden gleich feststellen, daß wir allein waren. Er wußte allerdings, daß ich das Gespräch aufzeichne.« Er zögerte immer noch. »Mitgefühl. Das ist es, was Sie brauchen. Und ich glaube, das haben Sie.« »Versuchen Sie nicht, mich zu beeinflussen.« Er schnitt eine Grimasse. »Na schön.« Die Aufnahme begann mit den gezwungenen Platitüden, wie sie vor Mikrophonen üblich sind, zumal wenn keiner so recht zur Sache kommen will. Lord Ferth hatte schließlich den Anfang gemacht. »Norman, ich habe ja schon erklärt, weshalb wir uns noch einmal eingehend mit der Verhandlung befassen müssen.« »Hughes verhält sich vollkommen lächerlich. Nicht nur lächerlich, sondern geradezu verleumderisch. Ich begreife nicht, wie Sie ihn ernst nehmen können.« Gowery klang gereizt. »Wir müssen ihn ernst nehmen, und sei es nur, um ihn zum Schweigen zu bringen.« Einen ironischen Schimmer in den hitzigen Augen, blickte Lord Ferth zu mir herüber. Die Aufnahme lief weiter, seine Stimme war wie Honig. »Sie wissen sehr wohl, Norman, daß es in jeder Hinsicht besser 176
wäre, wenn wir beweisen können, daß die Unterstellungen, die er verbreitet, jeglicher Grundlage entbehren. Dann können wir die Sperre nachdrücklich bestätigen und sämtliche Gerüchte vom Tisch fegen.« Sehr geschickt. In der Gewißheit, daß Ferth nach wie vor ein Verbündeter war – was ja vielleicht auch stimmte –, wurde Lord Gowerys Stimme ungezwungener. »Ich versichere Ihnen, Wykeham, wenn ich nicht vollkommen überzeugt gewesen wäre, daß Hughes und Dexter Cranfield schuldig sind, hätte ich sie nicht gesperrt.« Das hörte sich irgendwie seltsam an. Offenbar hatten es auch Ferth und Gowery so empfunden, denn auf dem Band folgten mehrere Sekunden Schweigen. »Sind Sie denn immer noch überzeugt?« fragte Ferth schließlich. »Natürlich.« Mit großem Nachdruck. »Natürlich bin ich das.« Mit viel zuviel Nachdruck. »Dann... äh... wollen wir uns zunächst mit einer von Hughes’ Fragen befassen... Wie kam es, daß Newtonnards zu der Verhandlung vorgeladen wurde?« »Man hat mich darüber informiert, daß Cranfield bei ihm auf Cherry Pie gesetzt hatte.« »Ja... aber wer hat Sie darüber informiert?« Gowery gab keine Antwort. Als nächstes war wieder Ferths Stimme zu hören, in der keinerlei Drängen lag. »Mhm... Haben Sie eine Ahnung, wie es passieren konnte, daß wir den falschen Film von Hughes’ Rennen in Reading gezeigt haben?« Hier befand sich Gowery auf wesentlich festerem Boden. »Das war leider meine Schuld. Ich habe das Sekretariat gebeten, schriftlich den Film des letzten Rennens anzufordern. Mir war nicht klar, daß es sieben Rennen waren. Schlampig
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von mir, zugegeben. Aber da es der falsche Film war, war er für den vorliegenden Fall natürlich irrelevant.« »Äh...« machte Lord Ferth. Aber er war noch nicht so weit zu diskutieren. Er räusperte sich und meinte: »Sie dachten vermutlich, daß es wichtig wäre zu sehen, wie Hughes Squelch im letzen Rennen davor geritten hat.« Nach einem weiteren längeren Schweigen sagte Gowery: »Ja.« »Aber wir haben den Film dann doch nicht gezeigt.« »Nein.« »Hätten wir ihn gezeigt, wenn wir nach Erhalt festgestellt hätten, daß das Rennen in Reading Hughes’ Behauptung, er habe Squelch im Lemonfizz genauso wie immer geritten, voll inhaltlich bestätigt?« Wieder Schweigen. Dann sagte Gowery leise: »Ja«, und seine Stimme klang sehr gequält. »Hughes hat in der Verhandlung darum gebeten, daß wir den richtigen Film zeigen«, sagte Ferth. »Nein, das hat er nicht.« »Ich habe das Protokoll gelesen, Norman. Ich habe das ganze Wochenende über das Protokoll gelesen und immer wieder gelesen, und deswegen bin ich offen gestanden auch hier. Hughes hat sehr wohl verlangt, daß wir den richtigen Film zeigen, vermutlich weil er wußte, daß das seine Behauptung untermauern würde...« »Hughes war schuldig!« unterbrach Lord Gowery heftig. »Hughes war schuldig. Ich hatte keine andere Wahl, als ihn zu sperren.« Lord Ferth drückte die Stopptaste des Tonbandgeräts. »Sagen Sie, was meinen Sie zu der letzten Äußerung?« fragte er. »Ich glaube, er war wirklich davon überzeugt«, sagte ich langsam. »Und zwar nicht aufgrund dieser Äußerung, sondern auch aufgrund dessen, was ich von der Verhandlung in 178
Erinnerung habe. Seine Sicherheit an diesem Tag hat mich völlig verblüfft. Er war so sehr von meiner Schuld überzeugt, daß er gegen alles, was auch nur entfernt so aussah, als könnte es seiner Meinung widersprechen, stocktaub blieb.« »Das war Ihr Eindruck?« »Ja, ganz stark.« Lord Ferth sog die Unterlippe zwischen die Zähne und schüttelte den Kopf – allerdings, wie ich vermutete, nicht über mich, sondern über die Gesamtsituation. Er drückte erneut die Starttaste. Man hörte seine Stimme: präzise, auf Emotionslosigkeit bedacht, sanft wie Vaseline. »Norman, was die Zusammensetzung des Sportgerichts angeht... die Mitglieder des Disziplinarausschusses, die als Beisitzer fungierten... Was hat Sie veranlaßt, sich für Andrew Tring und den alten Plimborne zu entscheiden?« »Was mich veranlaßt hat?« Die Frage erstaunte ihn offenbar. »Ich habe keine Ahnung.« »Bitte versuchen Sie, sich zu erinnern.« »Ich weiß zwar nicht, inwiefern das relevant ist... aber meinetwegen... Tring hatte ich vermutlich ohnehin schon im Kopf, weil ich im Augenblick in geschäftlichen Verhandlungen mit ihm stehe. Und Plimborne... tja, den habe ich im Club vor sich hin dösen sehen. Später habe ich mich in der Lobby mit ihm unterhalten und ihn ganz spontan gebeten, als Beisitzer zu fungieren. Ich verstehe nicht, welchen Sinn diese Frage hat.« »Schon gut. Das tut nichts zur Sache. Jetzt zu Charlie West. Mir leuchtet natürlich ein, daß Sie den Reiter des dritten Pferdes als Zeugen vorgeladen haben. Und aus dem Protokoll geht hervor, daß Sie wußten, was er aussagen würde. Bei der Voruntersuchung in Oxford hat West allerdings kein Sterbenswort davon gesagt, daß Hughes sein Pferd zurückgehalten hätte. Ich habe mich heute morgen bei allen drei Stewards von Oxford erkundigt. Sie bestätigten, daß West seinerzeit nichts in dieser Richtung angedeutet hat. In der 179
Verhandlung hat er es dann aber behauptet, und Sie wußten, was er sagen würde, also... äh... woher wußten Sie es?« Wieder Schweigen. Ferths Stimme fuhr eine Spur besorgt fort: »Norman, wenn Sie einen Stipendiary Steward angewiesen haben, sich unter vier Augen mit West zu unterhalten und ihn weiter zu befragen, dann sagen Sie es um Himmels willen. Diese Jockeys halten zusammen. Es ist völlig logisch anzunehmen, daß West erst einmal nichts gegen Hughes sagt, aber bei näherer Befragung durchaus den Mund aufmacht. Haben Sie einen Stipendiary geschickt?« »Nein«, sagte Gowery leise. »Woher wußten Sie dann, was West sagen würde?« Gowery gab keine Antwort. Er sagte statt dessen: »Ich habe einen Stipendiary angewiesen, sämtliche Rennen nachzuschlagen, in denen Cranfield zwei Starter hatte, und mir eine Liste von denen zusammenzustellen, in denen der schwächer eingeschätzte gewonnen hat. Wie Sie wissen, ist es gängige Praxis, in einer Verhandlung die gesamte sportliche Vergangenheit eines Jockeys zur Sprache zu bringen. Das war eine völlig normale Vorgehensweise.« »Ich habe ja nicht das Gegenteil behauptet«, sagte Ferths Stimme verdutzt. Ferth stoppte das Tonband und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Was halten Sie davon?« »Er klammert sich an einen Strohhalm.« Ferth seufzte, drückte erneut die Starttaste, und man hörte wieder Gowerys Stimme. »Da stand alles schwarz auf weiß. Es stimmte alles. Sie hatten es immer wieder gemacht.« »Was soll das heißen, es stimmte alles? Hat Ihnen jemand gesagt, sie hätten es immer wieder gemacht?«
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Wieder Schweigen. Gowerys Strohhalm löste sich in Wohlgefallen auf. Wieder bedrängte Ferth ihn nicht. Statt dessen sagte er im gleichen, keinerlei Anklage enthaltenden Ton: »Was war mit David Oakley?« »Mit wem?« »David Oakley. Der Ermittler, der das Geld in Hughes’ Wohnung fotografiert hat. Wer hat vorgeschlagen, ihn dorthin zu schicken?« Keine Antwort. Ferth sagte, zum erstenmal mit leicht insistierendem Unterton: »Norman, Sie müssen sich irgendwie dazu äußern. Verstehen Sie denn nicht, daß es mit Schweigen nicht getan ist? Wir müssen ein paar Antworten liefern, wenn wir Hughes’ Gerüchten entgegentreten wollen.« Gowery reagierte mit abwehrender Stimme. »Das Belastungsmaterial gegen Cranfield und Hughes ist gesammelt worden. Was spielt es für eine Rolle, wer es gesammelt hat?« »Es spielt eine Rolle, weil Hughes behauptet, es sei größtenteils gefälscht.« »Nein«, sagte Gowery heftig. »Es war nicht gefälscht.« »Norman, glauben Sie das wirklich, oder wollen Sie das nur glauben?« »Mein Gott...« Gowerys Ausruf verriet eher Qual als Überraschung. Ich sah kurz zu Ferth hinüber. Seine dunklen Augen waren unverwandt auf mein Gesicht gerichtet. Als er fortfuhr, war seine Stimme wieder sanfter. Überredend. »Norman, gibt es irgendeinen Grund, weshalb Sie wollten, daß Cranfield und Hughes gesperrt werden?« »Nein.« Fast ein Aufschrei. Eindeutig eine Lüge. »Irgendeinen Grund, weshalb Sie so weit gehen könnten, Belastungsmaterial zu fabrizieren, falls es keines gäbe?« »Wykeham!« Er war empört. »Wie können Sie so etwas sagen! Sie unterstellen... Sie unterstellen mir... etwas dermaßen Unehrenhaftes...« 181
Ferth drückte die Stopptaste. »Und?« sagte er herausfordernd. »Das war echt«, sagte ich. »Er hat es nicht selbst fabriziert. Aber das habe ich auch nie angenommen. Ich wollte nur wissen, wo er es herhatte.« Ferth nickte. Drückte erneut die Starttaste. Seine Stimme. »Mein lieber Norman, Sie setzen sich zwangsläufig solchen Unterstellungen aus, wenn Sie nicht sagen, wie Sie an das ganze Belastungsmaterial gekommen sind. Verstehen Sie das denn nicht? Wenn Sie nicht erklären, wie Sie an das Material gekommen sind, brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn man annimmt, Sie hätten es selbst beschafft.« »Das Belastungsmaterial war echt!« versicherte er. Ein Rückzugsgefecht. »Das versuchen Sie sich immer noch einzureden.« »Nein! Das war so.« »Aber wo ist es hergekommen?« Gowery stand mit dem Rücken zur Wand. An Lord Ferths Gesicht, in dem sich die dabei durchlebten Gefühle spiegelten, konnte ich ablesen, daß dies ein trauriger und vielleicht peinlicher Moment gewesen war. »Ich habe ein Päckchen bekommen«, sagte Gowery mit Mühe. »Es enthielt... verschiedene Aussagen... und sechs Abzüge des in Hughes’ Wohnung aufgenommenen Fotos.« »Von wem haben Sie das Päckchen bekommen?« Gowerys Stimme war ganz leise. »Das weiß ich nicht.« »Das wissen Sie nicht?« Ferth war fassungslos. »Sie haben aufgrund dieses Materials zwei Männer gesperrt, und Sie wissen nicht, woher es kam?« Klägliches, zustimmendes Schweigen. »Sie haben dieses ganze sogenannte Belastungsmaterial einfach für bare Münze genommen?« »Es hat alles gestimmt.« Daran klammerte er sich. 182
»Haben Sie dieses Päckchen noch?« »Ja.« »Ich möchte es sehen.« Ein Hauch von Stahl in Ferths Stimme. Gowery hatte nicht widersprochen. Man hörte das Geräusch von Schritten, das Öffnen und Schließen einer Schublade, Papiergeraschel. »Aha«, sagte Ferth langsam. »Diese Papiere machen in der Tat einen sehr überzeugenden Eindruck.« »Dann verstehen Sie auch, warum ich entsprechend gehandelt habe«, sagte Gowery eifrig und ein kleines bißchen zu erleichtert. »Ich verstehe, daß man das erwägen kann... nachdem man alles sorgfältig nachgeprüft hat.« »Ich habe es nachgeprüft.« »Inwieweit?« »Nun ja... das Päckchen ist erst vier Tage vor der Verhandlung gekommen. Am Donnerstag davor. Ich habe Newtonnards, Oakley und West unverzüglich durch das Sekretariat vorladen lassen. Sie wurden aufgefordert, telegrafisch zu bestätigen, daß sie erscheinen würden, und das haben sie auch alle getan. Newtonnards wurde aufgefordert, seine Unterlagen für den Lemonfizz Cup mitzubringen. Und außerdem habe ich einen Stipendiary angewiesen, die Leute vom Totalisator zu befragen, ob jemand größere Summen auf Cherry Pie gesetzt hat, und er hat die eidesstattlichen Aussagen aufgenommen, die wir in der Verhandlung vorgelegt haben. Es besteht nicht der geringste Zweifel daran, daß Cranfield auf Cherry Pie gesetzt hat. In diesem Punkt hat er in der Verhandlung gelogen. Damit war alles völlig schlüssig. Er war hundertprozentig schuldig, und es gab keinen Grund, warum ich ihn nicht hätte sperren sollen.« Ferth hielt das Tonband an. »Was sagen Sie dazu?« fragte er.
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Ich zuckte die Achseln. »Cranfield hat tatsächlich auf Cherry Pie gesetzt. Daß er es abgestritten hat, war dumm von ihm, aber mit einem Eingeständnis hätte er sich aus seiner Sicht selbst das Wasser abgegraben. Mir hat er gesagt, daß er – über einen ungenannten Bekannten – bei Newtonnards und am Totalisator und nicht bei seinem normalen Buchmacher auf ihn gesetzt hat, weil er nicht wollte, daß Kessel davon erfährt, da Kessel und der Buchmacher enge Freunde sind. Er hat hundert Pfund auf Cherry Pie gesetzt, weil er meinte, das Pferd sei von seiner Form her vielleicht für eine Überraschung gut. Er hat außerdem zweihundertfünfzig Pfund auf Squelch gesetzt, weil die Vernunft nahelegte, daß er gewinnen würde. Aber was ist daran verwerflich?« Ferth sah mich mit geradem Blick an. »Bei der Verhandlung haben Sie noch nicht gewußt, daß er auf Cherry Pie gesetzt hatte?« »Ich habe ihn hinterher damit konfrontiert. Mittlerweile war mir klargeworden, daß das stimmen mußte, so hartnäckig er es auch bestritten hat. Newtonnards hätte lügen oder seine Bücher frisieren können, aber die Totoscheine ließen sich nicht vom Tisch wischen.« »Das hat mich unter anderem auch überzeugt«, gab er zu. Er setzte das Tonband wieder in Gang. Nun sprach er selbst, und seine Stimme hatte einen deutlichen Beiklang von Kreuzverhör. Plötzlich nahm das ganze Gespräch seinerseits die Form einer Gerichtsverhandlung an. »Dieses Foto... kam Ihnen das denn gar nicht eigenartig vor?« »Nein, wieso?« fragte Gowery scharf. »Haben Sie sich denn nicht gefragt, wie die Aufnahme zustande gekommen ist?« »Nein.« »Hughes sagt, Oakley hätte das Geld und den Brief mitgebracht und beides einfach in seiner Wohnung fotografiert.« 184
»Nein.« »Wie können Sie da so sicher sein?« setzte Ferth nach. »Nein!« wiederholte Gowery. In seiner Stimme lag ein ansteigender Ton, wie von einem Druck kurz vor der Eruption. »Wer hat Oakley in Hughes’ Wohnung geschickt?« »Ich habe Ihnen doch gesagt, ich weiß es nicht.« »Aber Sie sind sicher, daß das Foto authentisch ist?« »Ja. Ja, das ist es.« »Da sind Sie über jeden Zweifel hinaus sicher?« insistierte Ferth. »Ja!« Die Stimme war hoch, die Qual deutlich, die Panik immer stärker. In diesen spannungsvollen Moment ließ Ferth wie eine Bombe ein einziges scharfes Wort fallen. »Wieso?«
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12 Das Band lief fast eine Minute stumm weiter. Als Gowery schließlich Antwort gab, war seine Stimme ganz anders. Leise, brüchig, zutiefst verstört. »Es mußte... stimmen. Zuerst habe ich gesagt... ich könnte sie nicht sperren, wenn sie nicht schuldig sind... und dann ist das Päckchen gekommen... und es war so eine Erleichterung... sie waren wirklich schuldig... ich konnte sie sperren... und es würde nichts passieren.« Mir klappte der Mund auf. Ferth, dessen Augen angesichts der Jämmerlichkeit des Gehörten schmal wurden, beobachtete mich unverwandt. Gowery fuhr wie unter Zwang fort. Einmal begonnen, war die Beichte nicht mehr aufzuhalten. »Wenn ich es Ihnen... von Anfang an erzähle... verstehen Sie es vielleicht. Angefangen hat es einen Tag nachdem man mich zum Vertreter des Disciplinary Steward in der Sache CranfieldHughes ernannt hat. Es ist paradox, mir das jetzt vorzustellen, aber ich habe mich ziemlich darüber gefreut... und dann... und dann...« Er hielt inne und brachte mit Mühe seine Stimme wieder unter Kontrolle. »Dann habe ich einen Anruf bekommen.« Erneutes Innehalten. »Der Mann hat gesagt... hat gesagt, ich müßte Cranfield sperren.« Er räusperte sich. »Ich habe ihm gesagt, ich dächte nicht daran, wenn Cranfield nicht schuldig sei. Daraufhin hat er gesagt... hat er gesagt... er wüßte bestimmte Dinge von mir... die er an die Öffentlichkeit bringen würde... wenn ich Cranfield nicht sperrte. Ich habe ihm gesagt, ich könnte ihn nicht sperren, wenn er nicht schuldig sei... und ich habe ihn ja auch gar nicht für schuldig gehalten. Schließlich sind Rennpferde völlig unberechenbar, und ich habe das Lemonfizz selbst gesehen. Natürlich war nach den Mißfallensbekundungen des Publikums klar, daß die Stewards 186
Cranfield und Hughes befragen würden, aber als sie die Sache an den Disziplinarausschuß weitergegeben haben, war ich doch überrascht... ich dachte, es lägen Umstände vor, von denen ich nichts weiß... und dann hat man mich gebeten, das Verfahren zu übernehmen... und ich war unvoreingenommen... ich habe dem Mann am Telefon gesagt, daß Drohungen mich nicht davon abbrächten, fair gegen Cranfield zu verhandeln.« Etwas weniger Gelee in der Stimme, als er sich seines anfänglichen Widerstandes erinnerte. Es hielt nicht lange vor. »Er hat gesagt... daß ich in diesem Fall... nach der Verhandlung... falls Cranfield davonkäme... damit rechnen könnte... daß mein Leben nicht mehr lebenswert sei... Ich würde den Jockey Club verlassen müssen... alle Welt würde Bescheid wissen... Und ich habe noch einmal gesagt, ich würde Cranfield nur sperren, wenn ich von seiner Schuld überzeugt sei, und ich ließe mich nicht erpressen, und dann habe ich das Gespräch einfach abgebrochen und aufgelegt.« »Und dann«, meinte Ferth, »haben Sie angefangen, sich Sorgen zu machen?« »Ja.« Kaum mehr als ein Flüstern. »Was genau hat er an die Öffentlichkeit zu bringen gedroht?« »Das... das kann ich Ihnen nicht sagen. Nichts Kriminelles... keine Sache für die Polizei... aber...« »Etwas, was Sie gesellschaftlich ruinieren würde?« »Ja... ich fürchte, ja... ja, restlos.« »Aber Sie sind fest geblieben?« »Ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht... Ich konnte doch nicht... Wie konnte ich Cranfields Existenz vernichten, um mich selbst zu retten? Das wäre unehrenhaft gewesen... ich konnte mir nicht vorstellen, damit leben zu können... außerdem konnte ich ihn ohnehin nicht einfach so sperren, wenn es keinen Beweis für seine Schuld gab... Deshalb habe ich mir Sorgen gemacht... nicht mehr schlafen können... nicht mehr essen...« 187
»Warum haben Sie nicht darum gebeten, von Ihrem Amt entbunden zu werden?« »Weil er mir gesagt hat... wenn ich mich drücke... wäre das für ihn dasselbe, wie wenn ich Cranfield laufenlasse... also mußte ich dabeibleiben, bloß für den Fall, daß Beweise auftauchten.« »Was dann ja praktischerweise auch passierte«, sagte Ferth trocken. »Mein Gott...« Wieder die Qual. »Mir war doch nicht klar... wirklich nicht... daß es der Erpresser gewesen sein könnte, der mir das Päckchen geschickt hat. Ich habe mich nicht groß gefragt, von wem es kam. Es war die Erlösung... das war alles, was ich gesehen habe... es war ein Himmelsgeschenk, die Erlösung von der unerträglichsten... Ich habe das nicht in Frage gestellt... ich habe es einfach geglaubt... hundertprozentig geglaubt... und ich war so dankbar... so dankbar...« Vier Tage vor der Verhandlung war das Päckchen gekommen. Er mußte eine ganze Woche lang geschwitzt und einen langen trostlosen Blick in die Wüste getan haben. Wenn man einem Bergsteiger in Todesnot einen Bernhardiner schickt, wird er wohl kaum nach der Hundemarke fragen. »Wann sind Ihnen Zweifel gekommen?« fragte Ferth ruhig. »Erst hinterher. Erst nach Tagen. Es war Hughes... auf dem Ball. Sie haben mir gesagt, er behaupte steif und fest, er sei hereingelegt worden, und wolle herausfinden, von wem... und dann hat er mich direkt gefragt, wer Oakley in seine Wohnung geschickt hat... und das... Wykeham, es war schrecklich. Mir ist aufgegangen... was ich getan hatte. Im Grunde wußte ich es schon längst... aber ich konnte es mir nicht eingestehen... ich habe es verdrängt... sie mußten einfach schuldig sein...« Wieder trat langes Schweigen ein. Dann sagte Gowery: »Sie sorgen doch dafür... daß die beiden ihre Lizenz zurückbekommen?« »Ja«, sagte Ferth. 188
»Ich trete zurück...« Er hörte sich vollkommen verzweifelt an. »Von Ihrem Amt im Disziplinarausschuß, ja«, meinte Ferth. »Was das andere angeht... das werden wir sehen.« »Meinen Sie, der Erpresser... geht auch dann an die Öffentlichkeit, wenn... wenn Cranfield seine Lizenz zurückhat?« »Er hätte nichts davon.« »Nein, aber...« »Es gibt Gesetze, die Sie schützen.« »Dagegen nicht.« »Was hat er denn eigentlich gegen Sie in der Hand?« »Ich... ich... o Gott.« Das Tonband verstummte abrupt und schnitt damit Worte ab, die sich in würgende Laute auflösten. »Ich habe es abgestellt«, sagte Ferth. »Er ist zusammengebrochen. Das kann man nicht aufnehmen.« »Nein.« »Er hat mir gesagt, womit man ihn erpreßt hat. Ich denke, ich bin bereit, es auch Ihnen zu sagen, obwohl ihm das gar nicht recht wäre, wenn er es wüßte. Aber das bleibt unter uns.« »Gut. Von mir erfährt es niemand.« »Er hat mir gesagt...« Er rümpfte angewidert die Nase. »Er hat mir gesagt, er hat... er leidet unter... unakzeptablen sexuellen Bedürfnissen. Keine Homosexualität. Vielleicht wäre das besser... einfacher... heutzutage würde er deswegen nicht groß verunglimpft. Nein. Er sagt, er gehört so etwas wie einem Club an, wo Leute wie er auf ganz harmlose Weise Befriedigung finden, weil alle, die dorthin kommen... in unterschiedlicher Form... das gleiche... genießen.« Er verstummte. Er war verlegen. »Und das wäre?« fragte ich ganz sachlich. Als wollte er gut einen Meter saubere Luft zwischen sich und die Welt bringen, sagte er: »Flagellation.« »Diese alte Geschichte!« 189
»Wie bitte?« »Das englische Laster. Erinnert an Fanny Hill. Sex, vermengt mit Schmerzen, die man sich selbst zufügt, wie zum Beispiel bei Nonnen mit ihren kleinen Bußübungen oder bei soliden Bürgern, die sich für ein Pfund pro Schlag auspeitschen lassen.« »Kelly!« »Sie haben doch bestimmt schon ihre neckischen kleinen Anzeigen gelesen? ›Strenge Erziehung‹. Darum geht es. Verbreiteter, als die meisten Leute sich vorstellen. Fängt an bei Ehemännern, die regelmäßig ihre Frauen versohlen, ehe sie sie beschlafen, und setzt sich fort bis zu den Partys, wo sich alle in Lederklamotten werfen und eine richtige Orgie feiern. Ich verstehe zwar nicht so ganz, wieso man sich ausgerechnet auf Leder, Gummi oder Haare, und auf nichts anderes, fixiert. Warum nicht zum Beispiel auf Kohle... oder Seide? Aber offenbar sind diese Leute so.« »In diesem Fall... Leder.« »Stiefel, Peitschen und nackte Brüste?« Ferth schüttelte ungläubig den Kopf. »Sie sehen das so gelassen.« »Leben und leben lassen. Wenn diese Leute sich dazu gedrängt fühlen... warum soll man sie daran hindern? Wie er gesagt hat, sie schaden niemandem, wenn sie in einem Club unter Gleichgesinnten sind.« »Aber ein Steward«, protestierte er. »Ein Mitglied des Disziplinarausschusses!« »Gibt einem zu denken«, pflichtete ich bei. Er machte ein entsetztes Gesicht. »Aber sein Urteil über Rennsportangelegenheiten wäre doch bestimmt nicht sexuell beeinflußt.« »Natürlich nicht. Es gibt nichts Asexuelleres als den Rennsport.«
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»Aber man kann sich vorstellen, daß er in der Rennsportwelt erledigt wäre, wenn das herauskäme. Sogar ich... ich kann nicht mehr an ihn denken, ohne daß mir sofort diese... diese Perversion einfällt. Und das wäre bei jedem das gleiche. Man kann ihn nicht mehr respektieren. Man kann ihn nicht mehr mögen.« »Es ist zumindest schwierig«, stimmte ich zu. »Es ist... entsetzlich.« In seiner Stimme lag der ganze Abscheu des sogenannten Normalen vor der Abweichung. Im Rennsport waren die meisten wie er. Man würde das Abweichende ächten. Ferth spürte es. Gowery wußte es. Und jemand anders wußte es auch... »Tragen sie in diesem Club keine Masken?« fragte ich. Ferth machte ein überraschtes Gesicht. »Doch, ja. Ich habe ihn gefragt, wer über ihn Bescheid wissen könnte und damit als Erpresser in Frage käme... und er hat gesagt, er wisse es nicht, sie trügen alle Masken. Oder vielmehr Kapuzen, das war das Wort, das er benutzt hat. Kapuzen... und Schurze...« Es ekelte ihn an. »Alles aus Leder?« Er nickte. »Wie kann man nur?« »Sie richten weniger Schaden an als Leute, die losziehen und kleine Kinder vergewaltigen.« »Was bin ich froh, daß ich...«, sagte er inbrünstig. »Ich auch«, sagte ich. »Aber das ist reines Glück.« Gowery hatte in mehr als einer Hinsicht Pech gehabt. »Vielleicht hat ihn jemand kommen oder hinterher gehen sehen.« »Das glaubt er auch. Aber er sagt, er kennt die wirklichen Namen der anderen Mitglieder nicht. Offenbar reden sie sich gegenseitig mit erfundenen Phantasienamen an.« »Es gibt doch bestimmt einen Sekretär... mit einer Mitgliederliste?« Ferth schüttelte den Kopf. »Das habe ich ihn auch gefragt. Er hat gesagt, er hat dort nie jemandem seinen Namen genannt. 191
Das wurde nicht verlangt. Es gibt keinen Jahresbeitrag, sondern er bezahlt bei jedem Besuch einfach zehn Pfund in bar. Er sagt, er geht durchschnittlich etwa einmal im Monat hin.« »Wie viele Mitglieder gibt es außer ihm?« »Er kennt die Gesamtzahl nicht. Er sagt, es seien nie weniger als zehn und manchmal dreißig oder fünfunddreißig. In der Regel mehr Männer als Frauen. Der Klub ist nicht jeden Tag geöffnet; nur montags und donnerstags.« »Wo befindet er sich?« »In London. Wo genau, wollte er mir nicht sagen.« »Er wird weiter hingehen wollen... hingehen müssen«, sagte ich. »Das ist nicht Ihr Ernst!« »Doch. Nach einer Weile schon.« »O nein...« »Wer hat ihn in den Klub eingeführt, wissen Sie das?« »Er hat gesagt, es könne nicht die Person sein, die ihn in den Klub eingeführt hat... Das sei eine Prostituierte gewesen... er hätte ihr nie seinen richtigen Namen gesagt.« »Aber sie hatte Verständnis für seine Bedürfnisse.« Er seufzte. »Offensichtlich.« »Manche von diesen Mädchen verdienen mehr Geld damit, daß sie Männer auspeitschen, als damit, daß sie mit ihnen schlafen.« »Woher um alles in der Welt wissen Sie das?« »Ich habe mal neben einer gewohnt, die hat es mir erzählt.« »Du lieber Himmel.« Er machte ein Gesicht, als hätte er einen Stein umgedreht und irgendwelche Krabbeltiere darunter gefunden. Er hatte sichtlich keinen blassen Schimmer davon, wie es war, ein Krabbeltier zu sein. Eine Bildungslücke. »Jedenfalls«, meinte er langsam, »verstehen Sie jetzt wohl, warum er den Inhalt des Päckchens für bare Münze genommen hat.«
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»Und warum er Lord Plimborne und Andy Tring ausgewählt hat.« Lord Ferth nickte. »Am Ende, als er sich wieder ein wenig erholt hatte, war ihm selbst klar, daß er sie aus den von Ihnen genannten Gründen ausgewählt hat, aber damals war er der Überzeugung, es seien spontane Entscheidungen. Und mittlerweile ist er, wie nicht anders zu erwarten, ein sehr besorgter und beunruhigter Mann.« »Ist er dafür verantwortlich?« fragte ich. Ich hielt ihm den Brief hin, den Tony vom Sekretariat der Stewards bekommen hatte. Er stand auf, nahm ihn mir aus der Hand und las den kurzen Inhalt mit wachsender Verärgerung. »Ich weiß es nicht«, sagte er zornig. »Ich weiß es wirklich nicht. Wann ist das gekommen?« »Am Dienstag. Abgestempelt am Montag mittag.« »Vor meinem Besuch bei ihm... Er hat nichts davon gesagt.« »Könnten Sie feststellen, ob er das veranlaßt hat?« »Wollen Sie damit sagen... es wäre dann noch schwerer, ihm zu verzeihen?« »Nein, keineswegs. Ich frage mich nur, ob da wieder unser kleiner erpresserischer Intrigant am Werk war. Beachten Sie die Formulierung ›man hat uns darauf hingewiesen‹... Ich möchte gern wissen, von wem der Hinweis kam.« »Ich stelle das fest«, versicherte er mit Nachdruck. »Das dürfte nicht schwierig sein. Und den Brief ignorieren Sie natürlich. Es kann überhaupt keine Rede davon sein, daß Sie hier ausziehen müssen.« »Wie wollen Sie das eigentlich handhaben, die Rückgabe unserer Lizenzen? Wie wollen Sie es erklären?« Er hob die Augenbrauen. »Wir müssen unsere Entscheidungen nicht begründen.« Ich unterdrückte ein Lachen. Das System hatte auch seine Vorteile.
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Lord Ferth setzte sich wieder in den Sessel und steckte den Brief in seine Aktentasche. Er baute das Tonbandgerät ab und verstaute es ebenfalls. Dann sagte er mit einer Miene, als wähle er seine Worte sehr sorgfältig: »Ein derartiger Skandal würde dem Pferderennsport erheblichen Schaden zufügen.« »Sie wollen also, daß ich meine Lizenz zurücknehme und den Mund halte?« »Äh... ja.« »Und für den Fall, daß der Erpresser alles ausplaudert, nicht hinter ihm herjage?« »Genau.« Er war erleichtert, daß ich es verstand. »Nein«, sagte ich. »Wieso nicht?« In überredendem Ton. »Weil er versucht hat, mich umzubringen.« »Wie bitte?« Ich zeigte ihm das Stück Auspuffkrümmer und erklärte ihm alles. »Es war ein Besucher des Balls«, sagte ich. »Das heißt, unser Erpresser ist einer von ungefähr sechshundert Leuten und dürfte von daher nicht allzu schwer zu finden sein. Die Frauen kann man mehr oder weniger außer acht lassen, weil wohl kaum eine im Abendkleid ein Loch durch ein Stück Gußeisen bohren würde. Viel zu auffällig, falls jemand sie dabei sähe. Damit bleiben dreihundert Männer.« »Jemand, der Ihren Wagen kannte«, sagte er. »Das müßte die Auswahl doch erheblich verkleinern.« »Nicht unbedingt. Jeder hätte mich auf der Rennbahn daraus aussteigen sehen können. Es war leider ein sehr auffälliger Wagen. Aber zu dem Ball bin ich erst spät gekommen. Der Wagen war gleich hinter dem Hotel geparkt.« »Haben Sie...« Er räusperte sich. »Ist die Polizei damit befaßt?« »Falls Sie damit meinen, ob die Polizei derzeit wegen eines Mordversuchs ermittelt, lautet die Antwort nein. Falls Sie
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wissen wollen, ob ich sie auffordern werde zu ermitteln, lautet die Antwort, ich habe mich noch nicht entschieden.« »Wenn man die Polizei erst einmal einschaltet, kann man sie nicht mehr stoppen.« »Wenn ich sie allerdings nicht einschalte, könnte der Erpresser vielleicht noch einen Versuch bei mir machen und dabei ein kleines bißchen erfolgreicher sein – was völlig reichen würde.« »Mhm.« Er dachte darüber nach. »Aber wenn Sie verlauten ließen, daß Sie nicht weiter versuchen herauszufinden, wer Sie hereingelegt hat... würde er es vielleicht nicht noch einmal versuchen.« »Meinen Sie wirklich«, fragte ich neugierig, »es wäre für den Rennsport am besten, wenn wir diesen Mörder und Erpresser frei herumlaufen lassen?« »Besser als ein ausgewachsener Skandal.« Die Stimme der Diplomatie des Establishments. »Und wenn er Ihrer Logik nicht folgt... und mich trotzdem umbringt... wie wäre das als Skandal?« Er gab keine Antwort. Sah mich nur unverwandt mit seinen hitzigen Augen an. »Also gut«, sagte ich. »Keine Polizei.« »Danke.« »Dafür allerdings uns beide. Wir müssen es selbst tun. Ihn finden und ihn uns vornehmen.« »Wie meinen Sie das?« »Ich finde ihn. Sie nehmen ihn sich vor.« »Und zwar so, daß Sie damit zufrieden sind, vermutlich«, sagte er ironisch. »Genau.« »Und Lord Gowery?« »Den überlasse ich ganz Ihnen. Von mir erfährt Dexter Cranfield kein Wort.«
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»Na schön.« Er stand auf, und ich rappelte mich hoch und stützte mich auf die Krücken. »Eins noch«, sagte ich. »Könnten Sie veranlassen, daß mir Lord Gowerys Päckchen hierher geschickt wird?« »Ich habe es bei mir.« Ohne zu zögern, nahm er einen großen braunen Umschlag aus der Aktentasche und legte ihn aufs Bett. »Sie werden verstehen, wie erleichtert er sich darauf gestürzt hat.« »Unter den gegebenen Umständen, ja«, pflichtete ich bei. Er ging durchs Wohnzimmer bis zur Tür und blieb neben der Truhe stehen, um seinen Mantel anzuziehen. »Kann Cranfield seinen Besitzern sagen, sie sollen ihre Pferde zurückschaffen?« fragte ich. »Je eher desto besser, falls sie noch rechtzeitig für Cheltenham zurückkommen sollen.« »Lassen Sie mir bis morgen vormittag Zeit. Es gibt noch ein paar andere Leute, die es vorher erfahren müssen.« »Gut.« Er hielt mir die Hand hin. Ich transferierte die rechte Krücke nach links und schlug ein. Er sagte: »Vielleicht können wir demnächst einmal... wenn das alles vorbei ist... miteinander essen?« »Sehr gern.« »Gut.« Er nahm Melone und Aktentasche zur Hand, ließ einen letzten, nachdenklichen Blick durch die Wohnung schweifen, nickte mir zu, als hätte er eine abschließende Entscheidung getroffen, und ging in aller Ruhe. Ich rief den Orthopäden an, der mich nach Stürzen immer zusammenflickte. »Ich möchte den Gips runterhaben.« Er hielt mir einen langen Sermon, der sich mit den Worten ›noch zwei bis drei Wochen‹ zusammenfassen ließ. »Am Montag«, sagte ich. »Ich geb’s auf.« »Am Dienstag mache ich ihn mit einem Meißel ab.« 196
Ich schlief stets in einem Schlafanzug mit kurzer Hose, was unter den derzeitigen Umständen praktisch war. An diesem Tag kämpfte ich mich zur Schlafenszeit in ein lindgrün und weiß kariertes Stück, das ich mir im vergangenen Jahr in einem unbesonnenen Moment in Liverpool gekauft hatte, als ich mit meinen Gedanken mehr beim kurz bevorstehenden Grand National war als bei der Überlegung, wie sich das Muster wohl an einem Wintermorgen um sechs Uhr früh gegen meinen hellen Teint ausnehmen würde. Tony hatte mir trübselig etwas Rindfleischkasserolle gebracht und war zum Feiern geblieben, als ich ihm erzählte, daß ich nicht würde ausziehen müssen. Infolgedessen war mir schon wieder der Whisky ausgegangen. Als er fort war, ging ich zu Bett und las die Seiten, die mich in die Vorhölle befördert hatten. Sie waren in der Tat überzeugend. Sauber getippt, klar gegliedert, in einprägsamer Sprache verfaßt. Weder auf den ersten noch auf den zweiten, noch gar auf den dritten Blick ein Produkt von Böswilligkeit. Emotionslos. Kühl. Vernichtend. »Charles Richard West ist bereit zu bezeugen, er habe Hughes im Verlauf des Rennens, und speziell sechs Achtelmeilen vor dem Zielpfosten in der zweiten Runde, sagen hören, er, Hughes, werde sein Pferd so weit zurückhalten, daß es im folgenden nicht mehr in der Lage sein würde zu gewinnen. Der genaue Wortlaut von Hughes’ Äußerung sei gewesen: ›Okay, Jungs, Bremsen anziehen.‹« Die vier anderen Blätter waren ebenso knapp und ebenso sachbezogen. Auf einem hieß es, daß Dexter Cranfield bei Newtonnards über einen Strohmann auf Cherry Pie gesetzt hatte. Das zweite wies darauf hin, daß eine Überprüfung früherer Rennen ergeben würde, daß Cranfields zweites Pferd schon mehrfach seinen jeweiligen Favoriten geschlagen hatte. Das 197
dritte regte an, auf die Diskrepanzen zu achten, die zwischen Hughes’ Reitstil im Lemonfizz und im letzten Rennen in Reading bestünden... da stand es tatsächlich schwarz auf weiß: »...im letzten Rennen in Reading.« Gowery hatte das nicht in Frage gestellt oder nachgeprüft, sondern einfach den Film des letzten Rennens von Reading angefordert. Wenn er ihn nur Plimborne und Tring, und nicht auch mir, gezeigt hätte, wäre möglicherweise nie herausgekommen, daß es das falsche Rennen war. In diesem Punkt war die absichtliche Täuschung denn auch fehlgeschlagen, aber nur ganz knapp. In allen anderen Punkten nicht. Seite vier stellte kategorisch fest, daß Cranfield Hughes bestochen habe, damit er verliere: der fotografische Beweis sei beigefügt. Es gab außerdem noch einen kurzen, erklärenden Begleitbrief. »Die hier dargelegten Fakten sind mir zu Ohren gekommen. Da sie unbedingt den zuständigen Stellen vorgelegt werden sollten, schicke ich sie Ihnen, Sir, als dem Leiter der bevorstehenden Verhandlung.« Die Maschinenschrift war nicht weiter auffällig, das Papier ein Quartformat von mittlerer Qualität. Die Büroklammer, die die Blätter zusammenhielt, wurde millionenfach verkauft, und der gelbbraune Umschlag, in dem sie verschickt worden waren, war für ein bis zwei Penny in jedem Schreibwarengeschäft des Landes zu haben. Von dem Foto lagen nur zwei Abzüge bei. Auf der Rückseite keinerlei Hinweis. Ich ließ alles in den Umschlag zurückgleiten und legte ihn in die Schublade des Nachtschränkchens. Knipste das Licht aus. Lag da und dachte mit einem Gefühl zunehmender Erleichterung und Erregung daran, wieder Rennen reiten zu dürfen. Fragte mich, wie wohl der arme Gowery in dem Fünfzehn-Runden-Kampf mit seinem Gewissen zurechtkam. Dachte an Archie und seine Hypothek... und daß Kessel 198
zugeben mußte, daß er unrecht gehabt hatte... daß Roberta von ihrer Hochnäsigkeit herunterkam... wie der Erpresser nervös auf den Nägeln kaute – allesamt süße Träume, unter denen ich in den ersten geruhsamen Schlaf seit der Verhandlung hinüberglitt. Ich erwachte mit einem Ruck und wußte, daß ich ein Geräusch gehört hatte, das nicht hierhergehörte. Ein bleistiftdünner Taschenlampenstrahl huschte über das Innere einer der oberen Schubladen der Kommode, halb verdeckt von einer dunklen Gestalt, deren einer Arm in die Schublade fuhr und darin herumtastete. Vorsichtig. Und ganz leise jetzt. Die Augen zu schmalen Schlitzen geschlossen, sah ich zu und fragte mich, wie nahe ich der Himmelstür diesmal war. Während die Angst meinen Adrenalinspiegel hochtrieb, begann mein Puls unangenehmerweise gegen meine Trommelfelle zu hämmern, und unter dem Gips strengten sich sämtliche Haare auf meinem Bein an, zu Berge zu stehen. Bemüht, gleichmäßig weiterzuatmen und nicht mit den Laken zu rascheln, ließ ich vorsichtig einen Arm über die Bettkante nach unten gleiten und langte nach einer Krücke. Jede Waffe in Griffweite war besser als keine. Keine Krücken. Ich wußte genau, wo ich sie hingelegt hatte und tastete weiter herum, fühlte jedoch nichts als Teppich unter den Fingern. Der Taschenlampenstrahl hob sich aus der Schublade und beschrieb einen kleinen Bogen, während die zweite obere Schublade aufgezogen wurde und sich mit dem gleichen winzigen Knacken löste, das mich bei der ersten geweckt hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde beschien der Lichtfinger meine beiden Krücken, die an der Wand neben der Tür standen.
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Ich zog den Arm ganz langsam ins Bett zurück und lag still. Wenn er vorgehabt hätte, mich einfach umzubringen, hätte er das mittlerweile schon getan: und ganz gleich, was er vorhatte, ich hatte kaum eine Chance, dem zu entgehen. Der Gips fühlte sich an, als wiege er eine Tonne, und verurteilte mich zur Bewegungslosigkeit. Überall auf der Haut ein klammes Gefühl. Die Kiefer vor Spannung fest zusammengepreßt. Ich lag da und bemühte mich, die körperlichen Erscheinungen in den Griff zu bekommen, sie durch Willenskraft zum Verschwinden zu bringen. Ohne erkennbaren Erfolg. Er war mit den Schubladen fertig. Der Lampenstrahl huschte über den khakifarbenen Sessel und blieb auf der polierten Eichenholztruhe liegen, die an der Wand dahinter stand. Er ging geräuschlos zu ihr hinüber und hob den Deckel. Ich schrie ihm beinahe zu, er solle das lassen, es würde mich wecken. Der Deckel knarrte jedesmal laut. Ich hatte wirklich keine Lust darauf, daß er mich weckte, das war viel zu gefährlich. Es knarrte durchdringend. Den Deckel fünfzehn Zentimeter angehoben, hielt mein Besucher abrupt inne. Ließ ihn langsam wieder hinunter. Es knarrte noch lauter. Er blieb einen Moment lang überlegend stehen. Dann hörte man rasche, leise Schritte auf dem Teppich, eine Hand krallte sich in mein Haar, riß mir den Kopf zurück, und der Lampenstrahl leuchtete mir voll in die Augen. »Gut, Kumpel. Sie sind wach. Dann können Sie mir auch ein paar Fragen beantworten.« Ich kannte die Stimme. Ich kniff vor dem Licht die Augen zusammen und sagte in möglichst gelangweiltem, schleppenden Tonfall: »Mr. Oakley, nehme ich an.« »Der schlaue Mr. Hughes.«
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Er ließ mein Haar los und riß mit einem Ruck die Bettdecke weg. Der Lampenstrahl huschte zur Seite und beleuchtete sie kurz. Ich spürte seinen Griff am Hals und an der Vorderseite der Schlafanzugjacke, und er zerrte mich vom Bett. Ich fiel krachend auf den Boden. »Das war für den Anfang«, sagte er.
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13 Er war schnell, das mußte man ihm lassen. Außerdem stark, rücksichtslos und in solchen Sachen versiert. »Wo ist es?« fragte er. »Was?« »Ein Stück Metall mit einem Loch drin.« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Er holte aus und schlug mich mit etwas Hartem, Knubbeligem. Als es auf den dünnen Lichtstrahl traf, konnte ich sehen, was es war. Eine meiner Krücken. Entzückend. Ich versuchte, meine Beine zu entwirren, mich herumzuwälzen, aufzustehen. Er leuchtete mich an, um mir dabei zuzusehen. Als ich es fast geschafft hatte, stieß er mich wieder um. »Wo ist es?« »Ich habe Ihnen doch gesagt...« »Wir wissen beide, daß Sie dieses Stück Metall haben, Kumpel. Ich will es. Ich hab einen Kunden dafür. Und Sie werden schön brav sein und es mir geben.« »Rutschen Sie mir den Buckel runter.« Ich wälzte mich rasch herum, so daß mich der nächste Schlag beinahe verfehlt hätte. Er landete auf dem Gips. Kleine Splitter sprangen davon ab. Weniger Arbeit für Dienstag. »Machen Sie sich keine Hoffnungen«, sagte er. »Finden Sie sich mit den Tatsachen ab.« Die Tatsachen waren, daß nur die Pferde mich hören würden, wenn ich um Hilfe schrie. Schade. Ich erwog, ihm das Stück Metall mit dem Loch drin zu geben. Oder vielmehr dem halben Loch. Er wußte nicht, daß es nur ein halbes Loch war. Ich überlegte, ob ich es ihm sagen sollte. Vielleicht war er dann nur halb so brutal. 202
»Wer will es denn?« fragte ich. »Fragen Sie nicht so blöd.« Er schwang die Krücke. Treffer. Ich fluchte. »Machen Sie sich’s doch nicht so schwer, Kumpel. Seien Sie nicht dumm.« »Was ist das denn für ein Stück Metall?« »Geben Sie mir’s einfach.« »Ich weiß doch gar nicht, wonach Sie suchen.« »Stück Metall mit ’nem Loch drin.« »Was für ein Stück Metall?« »Ist doch völlig egal, was für ein Stück Metall, oder? Das, das Sie haben.« »Ich habe keins.« »Lassen Sie die Spielchen.« Er schwang die Krücke. Ich stöhnte. »Her damit.« »Ich habe... kein... Stück Metall.« »Hören Sie zu, Kumpel, meine Anweisungen sind glasklar. Sie haben ein Stück Metall, und ich bin hier, um es zu holen. Kapiert? Ist doch ganz einfach. Also machen Sie sich’s nicht so schwer, Sie Blödmann.« »Was zahlt er dafür?« »Bieten Sie immer noch mehr?« »Ist jedenfalls einen Versuch wert.« »Das haben Sie schon einmal gesagt. Aber da läuft nichts.« »Schade.« »Wo ist das Stück?« Ich gab keine Antwort, hörte die Krücke kommen, rollte mich im richtigen Moment zur Seite und hörte sie etwa da, wo meine Nase gewesen war, auf den Teppich knallen. Die kleine Taschenlampe machte mich ausfindig. Beim zweiten Mal schlug er nicht daneben, traf aber nur meinen Arm, nicht mein Gesicht. »Haben Sie nicht gefragt, was es ist?« fragte ich. 203
»Geht Sie einen Dreck an. Sagen Sie mir einfach« – zack– »wo« – zack – »es ist.« Ich hatte so ziemlich genug. Eigentlich schon zuviel. Und mehr würde ich wahrscheinlich sowieso nicht herausfinden, außer vielleicht, wie weit er zu gehen bereit war, und auf diese Information konnte ich gut verzichten. Ich hatte die ganze Zeit versucht, mich in Richtung Tür zu rollen. War schließlich nahe genug. Griff nach hinten über meinen Kopf und spürte, wie meine Finger sich um das untere Ende der anderen Krücke legten, die immer noch an der Wand lehnte. Ich bekam die Gummikappe zu fassen und schwang den Holm mit einer kräftigen, sensenden Bewegung in Kniehöhe durch die Luft. Ich erwischte ihn unerwartet genau in den Kniekehlen, als er gerade mitten in der Ausholbewegung war, und er verlor das Gleichgewicht und krachte halb auf mich drauf. Ich bekam irgend etwas in die Hände – ein Stück seines Mantels – und krallte und zerrte und versuchte, mein Gipsbein über seinen Körper zu schwingen, um ihn unten zu halten. Er wollte nichts davon wissen. Wir balgten uns auf dem Boden herum – er in dem Bemühen, wieder hochzukommen, ich in dem Bemühen, ihn daran zu hindern –, und beide kratzten, schlugen und traten wir uns auf durch und durch unsportliche Weise. Die Taschenlampe war zur anderen Seite des Zimmers gerollt und beschien die Wand. Nicht genug Licht, um mir viel zu nützen. Zuviel, um seinen geübten Fäusten ganz zu entgehen. Das Nachtschränkchen fiel mit lautem Krachen um, und die Lampe ging zu Bruch. Irgendwie bekam Oakley in den Trümmern eine Glasscherbe zu fassen, und ich sah bloß den Lichtschimmer darauf, als er damit nach meinen Augen stach. Ich wich ihr im allerletzten Moment um Haaresbreite aus. »Scheißkerl«, sagte ich erbittert. 204
Wir japsten beide nach Luft. Ich lockerte den Griff an seinem Mantel, weil ich, um die Glasscherbe abzuwehren, beide Hände frei haben wollte, und sowie er spürte, daß ich losließ, rappelte er sich wieder hoch. »Also«, sagte er, schwer keuchend, »wo ist das blöde Ding?« Ich gab keine Antwort. Er hatte wieder die Krücke zu fassen gekriegt. Alles wie gehabt. Nur diesmal auf den Oberschenkel. Ich lag auf der anderen Krücke. Die Unterarmstütze bohrte sich in meinen Rücken. Ich schob den Arm unter mich, zerrte die Krücke hervor und schlug damit nach ihm, als er gerade den zweiten Versuch machte. Die Krücken knallten in der Luft gegeneinander. Ich hielt meine verzweifelt fest und wälzte mich aufs Bett zu. »Geben Sie’s... auf...« keuchte er. »Sie können... mich... mal.« Ich schaffte es bis zum Bett und drückte mich in den Winkel, den es mit dem Boden bildete. Hier konnte er mich nicht richtig treffen. Ich drehte die Krücke um und hielt sie mit beiden Händen an Unterarmstütze und Handgriff. Wenn er mich da, wo ich jetzt lag, schlagen wollte, mußte er näher kommen. Er kam. Sein dunkler Schatten, der im trüben Lampenlicht noch bedrohlicher wirkte, schwebte über mir. Er beugte sich vor, holte aus. Ich stieß den Holm der Krücke mit aller Kraft nach oben. Das Rohr bohrte sich wuchtig in ihn hinein, und er stieß einen spitzen Schrei aus. Die Krücke, mit der er ausgeholt hatte, fiel, ohne Schaden anzurichten, auf mich, während er, die Hände vor den Unterleib gepreßt, zur Seite taumelte. »Dafür... bring ich... dich um...« Seine Stimme war hoch vor Schmerz. Er stöhnte, hielt sich den Leib. »Geschieht... dir... recht«, japste ich atemlos. Den Gips nachziehend, robbte ich über den Boden auf das Telefon zu, das mit dem Nachtschränkchen auf den Boden
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gefallen war. Fand den Hörer. Zog am Kabel. Das Telefon ruckelte über den Teppich in meine Hand. Legte den Finger auf den Knopf. Ein leises Ping. Freizeichen. Fand die Zahlen. Drei... neun... eins... »Ja?« Tonys Stimme, schlaftrunken. Bodenlos leichtsinnig von mir. Hörte nicht das leiseste Geräusch. Die Krücke knallte mir schwer auf den Hinterkopf, und ich begrub das Telefon unter mir und kam nicht mehr dazu, Tony zu sagen, er solle mir im Galopp zu Hilfe kommen. Ich wachte auf, wo Oakley mich hatte liegen lassen: auf dem Boden, das Telefon unter mir, den Hörer halb in der Hand. Es dämmerte gerade. Grau, windig, verregnet. Ich fühlte mich steif an. Mir war kalt. Ich hatte Kopfschmerzen. Erinnerte mich nach und nach, was passiert war. Ging daran, mich vom Teppich zu kratzen. Erster Halt auf dem Bett, begleitet vom Bettzeug. Lag da, fühlte mich schrecklich und besah mir das Durcheinander, das er in meinem Zimmer angerichtet hatte. Nachdem ich k. o. gegangen war, hatte er nicht mehr leise sein müssen. Alles war aus dem Schrank und den Schubladen herausgezerrt und auf den Boden geworfen worden. Was kaputtzuschlagen war, war kaputtgeschlagen. Bei manchen Anzügen waren die Ärmel aufgeschlitzt und in Fetzen. Das Bild von Rosalind war in vier Stücke gerissen, der silberne Rahmen verbogen und zerbrochen. Es war eher Rache als eine Suche gewesen. Ein schlechter Verlierer, dieser David Oakley. Was ich durch die offene Tür vom Wohnzimmer sehen konnte, hatte offenbar die gleiche Behandlung erfahren. Ich lag da, und mir tat fast alles weh, was man sich so vorstellen kann. Sah nicht nach, ob Oakley das Stück Auspuffkrümmer gefunden hatte, weil ich wußte, daß das nicht sein konnte.
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Dachte über seinen Besuch und darüber nach, was er gesagt hatte. Dachte über Cranfield nach. Und über Gowery. Sobald ich den Gips runterhatte und mich wieder bewegen konnte, dürfte es nicht mehr allzu lange dauern, den Feind auszubuddeln. Ein bißchen Laufarbeit. Dazu brauchte ich beide Beine. Oakley würde in Kürze das Scheitern seines nächtlichen Unternehmens melden. Ich fragte mich, ob er zu einem zweiten Versuch losgeschickt werden würde. Die Vorstellung behagte mir nicht sonderlich. Ich rutschte auf dem Bett hin und her und versuchte, eine bequeme Lage zu finden. Ich hatte schon einmal zwei Gehirnerschütterungen innerhalb von fünf Tagen davongetragen und mich wieder berappelt. Ich war von einem großen Feld Hürdenpferde über die Bahn getreten worden, und das war sehr viel schlimmer gewesen als die Krücken. Ich hatte mir genügend Knochen gebrochen, um einen ganzen Friedhof damit auszustatten, und diesmal waren sie alle heil. Trotzdem fühlte ich mich elender als nach Stürzen, und am Ende wurde mir klar, daß mein Unbehagen Abscheu dagegen war, von einem anderen Menschen verletzt worden zu sein. Pferde, harter Boden, sogar Expreßzüge waren unpersönlich. Oakley war eine andere Form von Gewalt gewesen. Wie sehr einem Schmerzen psychisch zusetzen, hängt stets davon ab, welche Ursachen sie haben. Ich fühlte mich schrecklich. Hatte keinerlei Energie, aufzustehen und das Durcheinander aufzuräumen. Machte die Augen zu, um es auszublenden. Blendete auch mich selber aus. Schlief ein. Eine Stimme über meinem Kopf sagte: »Lernen Sie denn nie, Ihre Tür abzuschließen?« Ich lächelte schwach. »Nicht, solange Sie reinkommen.« 207
»Es wird langsam zur Gewohnheit, Sie fix und fertig vorzufinden.« »Versuchen Sie, sich’s abzugewöhnen.« Ich machte die Augen auf. Heller Tag. Immer noch verregnet. In einem blendend gelben Regenmantel, von dem kleine Tröpfchen abperlten, stand Roberta vor dem Bett. Das kupferrote Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und sie sah sich angewidert um. »Ist Ihnen eigentlich klar, daß es schon halb elf ist?« fragte sie. »Nein.« »Verteilen Sie Ihre Kleider immer über die ganze Wohnung, wenn Sie ins Bett gehen?« »Nur mittwochs.« »Kaffee?« fragte sie abrupt und blickte auf mich herab. »Ja, bitte.« Sie suchte sich in dem Chaos einen Weg bis zur Tür und von dort durchs Wohnzimmer, wo sie schließlich aus meinem Blickfeld verschwand. Ich fuhr mir mit der Hand übers Kinn. Stoppelig. Am Hinterkopf hatte ich eine empfindliche Beule und am Kiefer, wo ich nicht rasch genug ausgewichen war, eine schmerzhafte Schwellung. Prellungen an anderen Stellen stimmten ein Morgenkonzert an, das ich ignorierte. Roberta kam ohne den Regenmantel und mit zwei dampfenden Bechern wieder, die sie vorsichtig auf den Boden stellte. Dann richtete sie das Nachtschränkchen auf und transferierte die Becher auf dessen Platte. Die Schublade war aus dem Schränkchen, und der Umschlag war aus der Schublade gerutscht. Aber Oakley hatte offenbar keinen Blick hineingeworfen: hatte nicht gewußt, daß er dort zu finden war. Roberta hob die im Zimmer liegenden Krücken auf und brachte sie mir ans Bett. 208
»Danke«, sagte ich. »Sie nehmen das Ganze ja sehr gefaßt auf.« »Ich hab’s schon mal gesehen.« »Und dann sind Sie einfach eingeschlafen?« »Weggetreten«, bestätigte ich. Sie betrachtete mein Gesicht genauer und drehte meinen Kopf auf dem Kissen zur Seite. Ich zuckte zusammen. Sie zog die Hand weg. »Haben Sie die gleiche Behandlung gekriegt wie die Wohnung?« »Mehr oder weniger.« »Wofür?« »Für Sturheit.« »Heißt das etwa«, fragte sie ungläubig, »Sie hätten das alles vermeiden können... und haben es nicht getan?« »Wenn es einen guten Grund zum Nachgeben gibt, gibt man nach, und wenn nicht, dann nicht.« »Und das Ganze hier... reicht als Grund nicht?« »Nein.« »Sie spinnen.« »Sie haben ja so recht«, seufzte ich, richtete mich ein Stück weit auf und griff nach dem Kaffee. »Haben Sie die Polizei verständigt?« fragte sie. Ich schüttelte den Kopf. »Das geht die nichts an.« »Wer war es denn?« Ich lächelte sie an. »Ihr Vater und ich haben unsere Lizenz wieder.« »Was?« »Es wird irgendwann heute offiziell bekanntgegeben.« »Weiß es Vater schon? Wie ist das möglich? Haben Sie das bewirkt?« »Nein, er weiß es noch nicht. Rufen Sie ihn an. Sagen Sie ihm, er soll sich mit sämtlichen Besitzern in Verbindung setzen. Es wird demnächst in der Zeitung bestätigt, entweder 209
schon in den heutigen Abendausgaben oder in den Tageszeitungen von morgen.« Sie hob das Telefon vom Boden auf, setzte sich auf die Bettkante und rief mit echter Freude und funkelnden Augen ihren Vater an. Der wollte es zuerst nicht glauben. »Kelly sagt, es stimmt aber«, meinte sie. Er ließ sich immer noch nicht überzeugen, und sie reichte mir den Hörer. »Sagen Sie’s ihm.« »Woher haben Sie das?« fragte Cranfield. »Von Lord Ferth.« »Hat er gesagt, warum?« »Nein«, log ich. »Nur daß die Urteile überprüft und aufgehoben worden sind. Wir sind von heute an wieder im Geschäft. Nächste Woche wird es im Rennkalender offiziell bekanntgegeben.« »Überhaupt keine Erklärung?« bohrte er weiter. »Sie sind nicht dazu verpflichtet.« »Trotzdem...« »Ist doch egal, warum«, meinte ich. »Hauptsache, wir sind wieder im Geschäft... alles andere ist unwichtig.« »Haben Sie herausgefunden, wer uns hereingelegt hat?« »Nein.« »Versuchen Sie’s weiter?« »Vielleicht. Mal sehen.« Er hatte das Interesse daran verloren und hielt mir statt dessen eine lange Suade darüber, was er alles mit den Pferden vorhatte, sobald sie wieder da waren. »Und es wird mir großes Vergnügen machen, Henry Kessel Bescheid zu sagen.« »Sein Gesicht würde ich gerne sehen«, stimmte ich zu. Aber Pat Nikita würde sich nie mehr von Squelch oder von Kessel trennen. Falls Cranfield glaubte, Kessel käme unter Entschuldigungen zurückgekrochen, hatte er keine Ahnung von dem Mann. »Konzentrieren Sie sich darauf, Breadwinner 210
zurückzubekommen«, schlug ich vor. »Bis zum Gold Cup bin ich wieder fit.« »Der alte Strepson hat versprochen, daß Breadwinner sofort wieder zurückkommen würde... außerdem sein Pound Postage, und der ist für das National gemeldet, vergessen Sie das nicht.« »Ich hab’s nicht vergessen«, versicherte ich ihm. Irgendwann versiegte der Redestrom, und er legte auf. Ich konnte mir vorstellen, wie er am anderen Ende saß und sich immer noch fragte, ob er mir trauen konnte. Roberta sprang federnd auf, als habe die Nachricht sie mit neuer Energie erfüllt. »Soll ich für Sie aufräumen?« »Ein bißchen Hilfe wäre riesig nett.« Sie bückte sich und hob das zerrissene Foto von Rosalind auf. »Das wäre nicht nötig gewesen«, sagte sie empört. »Ich lasse die Stücke zusammenkleben und neu fotografieren.« »Sie möchten sie auf keinen Fall verlieren...« Ich gab nicht gleich Antwort. Sie sah mich neugierig an, die Augen von einem nicht zu deutenden Ausdruck verschleiert. »Ich habe sie verloren«, sagte ich langsam. »Rosalind... Roberta... ihr seid euch so unähnlich.« Sie wandte sich abrupt ab und legte die Stücke auf die Kommode, wo das Foto immer gestanden hatte. »Wer will schon das genaue Ebenbild von jemand anders sein«, sagte sie, und ihre Stimme war hoch und brüchig. »Ziehen Sie sich an... ich lege schon mal mit dem Wohnzimmer los.« Sie ging rasch hinaus und schloß die Tür hinter sich. Ich lag da und starrte ihr nach. Roberta Cranfield. Ich hatte sie nie gemocht. Roberta. Es war nicht zu fassen... ich fing an, sie zu lieben. Sie blieb fast den ganzen Tag und half mir, das Durcheinander in Ordnung zu bringen. 211
Oakley hatte wenig dem Zufall überlassen: Badezimmer und Küche sahen aus, als wären sie von einem Wirbelsturm heimgesucht worden. Er hatte überall gesucht, wo es einem guten Ermittler nur einfiel, sogar im Spülkasten der Toilette und im Kühlschrank; und überall, wo er gesucht hatte, hatte er seine Spur der Verwüstung hinterlassen. Nach der Mittagszeit, die durch Rühreier unterbrochen wurde, fing das Telefon an zu klingeln. Ob es stimme, wollte der Daily Witness in Gestalt von Daddy Leeman wissen, daß Cranfield und ich...? »Fragen Sie beim Jockey Club nach«, sagte ich. Die anderen Zeitungen hatten vorher nachgefragt. »Dürfen wir um Ihren Kommentar bitten?« fragten sie. »Völlig aus dem Häuschen«, sagte ich ernst. »Sie dürfen mich zitieren.« Eine Menge echter Freunde riefen an, um zu gratulieren, und eine Menge falscher Freunde riefen an, um mir zu sagen, sie hätten mich sowieso nie für schuldig gehalten. Den größten Teil des Nachmittags lag ich, ein Kissen unterm Kopf, auf dem Wohnzimmerboden und telefonierte, während Roberta nonchalant um mich herum und über mich hinweg stieg und alles wieder an seinen Platz stellte. Schließlich staubte sie sich die Hände an ihrem schwarzen Hosenboden ab und meinte, so gehe es wohl. Die Wohnung sah fast so gut aus wie immer. Ich bestätigte dankbar, daß es so ganz ausgezeichnet gehe. »Wären Sie bereit, sich auf mein Niveau herabzulassen?« fragte ich. Sie sagte ruhig: »Meinen Sie das wörtlich, metaphorisch, geistig, finanziell oder gesellschaftlich?« »Ich wollte nur vorschlagen, daß Sie sich auf den Boden setzen.« »Wenn das so ist, ja«, meinte sie beherrscht. Und sank anmutig in den Schneidersitz. 212
Ich mußte unwillkürlich grinsen. Sie grinste freundlich zurück. »Ich habe eine Heidenangst vor Ihnen gehabt, als ich letzte Woche hierher gekommen bin«, sagte sie. »Was haben Sie?« »Sie haben immer so unzugänglich gewirkt. So unnahbar.« »Reden wir jetzt von mir oder von Ihnen?« »Von Ihnen natürlich«, sagte sie überrascht. »Sie haben mich immer nervös gemacht. Und wenn ich nervös bin, werde ich jedesmal irgendwie... angespannt. Ich habe mich wohl ein bißchen produziert, um es zu überspielen.« »Aha«, sagte ich gedehnt. »Sie sind immer noch ein ziemlich guter Kaktus, wenn Sie’s genau wissen wollen, aber... na ja, man sieht die Leute mit anderen Augen, wenn sie einem das beste Kleid vollgeblutet und ziemlich verletzlich gewirkt haben.« Ich fing an, ihr zu sagen, daß ich in diesem Fall bereit sei, sie vollzubluten, wann immer sie wolle, aber das Telefon unterbrach mich mitten im Satz. Und es war der alte Strepson, der sich zu einem langen, gemütlichen Plausch über Breadwinner und Pound Postage anschickte. Roberte rümpfte die Nase und stand auf. »Gehen Sie nicht«, sagte ich, die Hand auf der Sprechmuschel. »Ich muß. Ich bin sowieso schon spät dran.« »Moment noch«, sagte ich. Aber sie schüttelte den Kopf, holte den gelben Regenmantel aus dem Badezimmer, wo sie ihn aufgehängt hatte, und schlüpfte hinein. »Tschüs«, sagte sie. »Moment...« Sie winkte kurz und ging zur Tür hinaus. Ich rappelte mich hoch, sagte ins Telefon: »Sir, könnten Sie bitte einen Moment dranbleiben«, und hüpfte ohne die Krücken zum Fenster hinüber. Sie sah hoch, als ich es aufmachte. Sie stand im Hof 213
und band sich gerade ein Kopftuch um. Der Regen hatte sich zu einem Nieseln abgeschwächt. »Kommen Sie morgen?« rief ich nach unten. »Morgen geht nicht. Da muß ich nach London.« »Samstag?« »Wollen Sie denn, daß ich komme?« »Ja.« »Dann versuch ich’s.« »Bitte kommen Sie.« »Na ja...« Sie lächelte plötzlich auf eine Weise, wie ich es noch nicht gesehen hatte. »Also gut.« Mag sein, daß ich unvorsichtig war, was das Abschließen meiner Wohnungstür anging, aber ich ließ auch wenig Stehlenswertes herumliegen. Niemals hätten auf meiner Kommode fünfhundert Pfund herumgelegen, damit irgendwelche Ermittler sie fotografieren konnten. Als ich die alte Tenne zur Wohnung ausgebaut hatte, hatte ich sie nicht nur mit modernem Komfort ausgestattet. Hinter dem Küchenschrank, der Dinge wie Insektenspray und Seifenpulver beherbergte, befand sich, kunstvoll in ein Stück Mauerwerk eingelassen, ein extrem einbruchsicherer Safe. Er wurde nicht mit Schlüsseln oder Zahlenkombinationen, sondern elektronisch geöffnet. Der Hersteller hatte neben dem Safe auch den winzigen Ultraschallsender angeliefert, mit dem man, über eine ganz bestimmte Serie von Funksignalen, den Schließmechanismus bediente, und ich hatte beides selbst installiert: den Safe in der Wand und den Sender in einem falschen Boden des Schranks. Selbst wenn jemand den Sender fände, müßte er erst noch den Safe finden und wissen, welche Folge von Frequenzen ihn öffnete. Ein richtiges Sesam-öffne-dich. Technische Spielereien hatten es mir schon immer angetan.
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In dem Safe befanden sich, neben Geld und ein paar Renntrophäen, mehrere Stücke antikes Silber, drei Gemälde von Houthuesen, zwei Chelsea-Figurinen, eine Meißener Tasse nebst Untertasse, eine Louis-XIV-Schnupftabakdose und vier ungeschliffene Diamanten von insgesamt achtundzwanzig Karat. Meine Altersversorgung, in Billardtuch eingewickelt und immer schön im Wert steigend. Für einen SteeplechaseJockey konnte die Altersversorgung schon mit dem nächsten Sturz fällig werden: und im reifen Alter von vierzig war, wenn man überhaupt so lange aushielt, sowieso so ziemlich Schluß. Im Safe lag ferner ein wertloses Stück Gußeisen mit einer halbkreisförmigen Einkerbung. Diesen diversen Schätzen fügte ich den Umschlag hinzu, den Ferth mir gegeben hatte, weil es die Sache auch nicht besser machen würde, wenn ich ihn verlöre. Meine Haustür zu verriegeln bedeutete einen halsbrecherischen Gang die Treppe hinunter, und einen zweiten am Morgen, um sie wieder zu öffnen. Ich entschied, daß sie wie üblich unverschlossen bleiben konnte. Klemmte statt dessen einen Stuhl unter die Klinke der Tür zum Wohnzimmer. Im Laufe des Abends rief ich Newtonnards in seinem rosa verputzten Haus in Mill Hill an. »Hallo«, sagte er, »Sie haben also Ihre Lizenz wieder. War heute beim Meeting in Wincanton das Tagesgespräch, sobald die Typen vom Presseverband es mitgekriegt haben.« »Ja, eine tolle Nachricht.« »Wieso haben die hohen Herrschaften denn ihre Meinung geändert?« »Keine Ahnung... Sagen Sie, ich habe mich gefragt, ob Sie diesen Mann mal wieder gesehen haben, den, der bei Ihnen auf Cherry Pie gesetzt hat.« »Komischer Zufall, aber ich hab ihn heute gesehen. Allerdings kurz, nachdem ich gehört habe, daß Sie wieder in
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Gnaden aufgenommen sind, deswegen habe ich gedacht, es interessiert Sie nicht mehr.« »Haben Sie zufällig rausgefunden, wer es ist?« »Ja, hab ich. Eigentlich eher, um meine eigene Neugier zu befriedigen. Es ist der Ehrenwerte Peter Foxcroft. Sagt Ihnen das irgendwas?« »Das ist ein Bruder von Lord Middleburg.« »Ja. Hab ich auch gehört.« Ich mußte innerlich lachen. Daß Cranfield sich geweigert hatte, seinen mysteriösen Bekannten zu nennen, war nicht weiter verwunderlich. Bloß wieder ein kleiner Aufstieg auf der Leiter des gesellschaftlichen Erfolges. Vielleicht hatte er sich um eine Sprosse verbessert, wenn er in der Lage war, den Ehrenwerten P. Foxcroft als Mittelsmann einzuspannen: aber er würde mit Sicherheit fünf Sprossen absteigen, wenn er ihn in ein unerfreuliches Sportgerichtsverfahren hineinzog. »Da ist noch etwas...« Ich zögerte. »Wären Sie... könnten Sie mir einen ziemlich großen Gefallen tun?« »Kommt darauf an, was für einen.« Seine Stimme klang zurückhaltend, aber nicht abweisend. Ein ausgebuffter, erfahrener Bursche. »Ich kann Ihnen nicht viel dafür anbieten.« Er kicherte. »Heißt das, ich kann nicht mit Tips rechnen, wenn Sie auf einer heißen Nummer sitzen?« »So was Ähnliches«, gab ich zu. »Na schön. Sie wollen etwas ohne Gegenleistung. So wissen wir wenigstens, woran wir sind. Also raus damit.« »Erinnern Sie sich noch, von wem Sie erfahren haben, daß Cranfield auf Cherry Pie gesetzt hat?« »Vor der Verhandlung, meinen Sie?« »Ja. Diese Buchmacherkollegen, von denen Sie gesprochen haben.« »Tja...« Er hörte sich skeptisch an.
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»Falls Sie sich erinnern, könnten Sie sie dann fragen, von wem die es erfahren haben?« »Puh.« Halb schnaufte, halb pfiff er durch den Hörer. »Ein ganz schön großer Gefallen.« »Tut mir leid. Vergessen Sie’s einfach.« »Moment, Moment, ich hab ja nicht gesagt, daß ich’s nicht mache. Ist allerdings reichlich optimistisch zu erwarten, daß sie sich erinnern.« »Ich weiß. Ein Schuß ins Blaue. Aber ich möchte immer noch wissen, wer den Stewards von der Wette bei Ihnen erzählt hat.« »Sie haben Ihre Lizenz wieder. Warum geben Sie keine Ruhe?« »Würden Sie das denn?« Er seufzte. »Ich weiß nicht. Also gut, mal sehen, was ich tun kann. Versprechen kann ich allerdings nichts. Ach übrigens, es kann genauso nützlich sein zu wissen, wenn eins von Ihren Pferden nicht fit ist oder für den Sieg in Frage kommt. Wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Ja, ich verstehe«, sagte ich lächelnd. »Abgemacht.« Als ich auflegte, dachte ich, daß nur eine Minderheit von Buchmachern Gauner waren; die meisten waren großzügiger, als man ihnen gemeinhin zubilligte. Wegen ein paar schwarzer Schafe wurde die ganze Zunft verunglimpft. Genau wie bei den Studenten.
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14 Oakley kam nicht. Niemand kam. Ich nahm den Stuhl unter der Klinke weg, um mit dem Morgen die Welt hereinzulassen, aber die Welt ließ die Einladung weitgehend unbeachtet. Machte Kaffee. Während ich ihn im Stehen in der Küche trank, kam Tony und nahm anstelle eines Frühstücks einen Becher davon mit einem Schuß Whisky zu sich. Er war mit einem Lot Pferde draußen bei der Arbeit gewesen und wartete darauf, mit dem nächsten hinauszukönnen; die Pause überbrückte er mit einem Gespräch über ihre Aussichten, als wäre nie etwas gewesen. Für ihn war die Sperre Vergangenheit, abgehakt. Er hatte das Credo eines Zeitungsmannes: Heute ist wichtig, morgen ist noch wichtiger, und gestern ist belanglos. Er trank den Kaffee aus und klopfte mir beim Gehen auf die Schulter, was eine der Oakleyschen Prellungen zu heftigem Protest veranlaßte. Den Rest des Tages lag ich meistens flach auf dem Bett, nahm Anrufe entgegen, starrte an die Decke, ließ die Natur mit der Behebung einiger Schäden vorankommen und dachte nach. Eine weitere ruhige Nacht. Ich hatte zwei Namen im Kopf, mit denen ich herumspielte. Zwei, von denen ich ausgehen konnte. Besser als dreihundert. Aber ich konnte mich bei beiden täuschen. Samstag morgen brachte der Briefträger die Post gleich nach oben, wie er das seit Beginn der Ära des Gipses getan hatte. Ich bedankte mich, sah die Briefe kurz durch, ließ eine Krücke fallen und erlebte das übliche Gewürge, bis ich sie wieder aufgehoben hatte. Als ich einen ganz bestimmten Brief öffnete, fielen mir vor Überraschung beide Krücken auf den Boden. Ließ sie liegen. Lehnte mich gegen die Wand und las.
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Lieber Kelly Hughes, Wie ich der Zeitung entnehme, haben Sie Ihre Lizenz zurückbekommen, so daß Sie für die beigefügten Informationen vielleicht gar keine Verwendung mehr haben. Ich schicke sie Ihnen trotzdem, denn der Bekannte, der sie gesammelt hat, hat sich deswegen in ziemliche Unkosten gestürzt und wäre dankbar, wenn Sie ihm diese erstatten könnten. Ich lege eine Aufstellung seiner Ausgaben bei. Wie Sie sehen, hat er sich große Mühe gegeben; allerdings hat ihm die Sache nach eigenem Bekunden auch großen Spaß gemacht. Ich hoffe, das Ergebnis entspricht Ihren Erwartungen. Mit freundlichen Grüßen Teddy Dewar Great Stag Hotel, Birmingham. Dem Brief waren mehrere Blätter unterschiedlicher Größe beigeheftet. Das oberste zeigte eine schematische Darstellung von Namen, die auf den ersten Blick wie ein auf dem Kopf stehender Stammbaum aussah. Er bestand aus Kreisen von fünf Zentimetern Durchmesser, die jeweils eine Gruppe von drei bis vier Namen enthielten. Die Kreise waren durch senkrechte, vereinzelt auch waagrechte Pfeile miteinander verbunden, aber der Blick wurde kontinuierlich nach unten geführt, bis sich das Bild auf drei Kreise, dann auf zwei und schließlich auf einen verengte. Im unteren Kreis stand nur ein einziger Name: David Oakley. Dem Blatt war eine Erläuterung beigefügt: Ich kannte eine Kontaktperson, nämlich den in der dritten Reihe unterstrichenen J. L. Jones. Von ihm ausgehend habe ich in alle Richtungen weitergeforscht und Leute überprüft, die von David Oakley wußten. Jede der zu einer Gruppe zusammengefaßten Personen hat über eine Person der Nachbargruppe von ihm erfahren. Ich garantiere, daß jede der 219
aufgeführten Personen direkt oder indirekt gehört hat, daß Oakley die richtige Adresse sei, wenn man Schwierigkeiten habe. Ihrem Vorschlag folgend habe ich mich als Mann in Schwierigkeiten ausgegeben, und fast jeder, mit dem ich mich unterhalten habe, hat Oakley von sich aus erwähnt oder zugestimmt, wenn ich ihn als Möglichkeit ins Gespräch brachte. Ich kann nur hoffen, daß Ihnen wenigstens einer dieser Namen etwas sagt, da die Unkosten leider recht hoch waren. Die meisten Gespräche fanden in Pubs oder Hotels statt, und es war mitunter erforderlich, die Kontaktperson betrunken zu machen, um ihr die Zunge zu lösen. Mit freundlichem Gruß B.R.S. Timieson. Die Spesenabrechnung war so gesalzen, daß sie mir einen Pfiff entlockte. Ich nahm mir die umkringelten Namen wieder vor und las sie sorgfältig durch. Suchte nach einem von zweien. Einer stand da. Vielleicht hätte ich mich freuen sollen. Vielleicht hätte ich wütend werden sollen. Statt dessen war mir nur traurig zumute. Ich verdoppelte den Spesenbetrag, schrieb einen Scheck darüber aus und fügte einen kurzen Begleitbrief bei: »Ganz hervorragend! Kann Ihnen gar nicht genug danken. Einer der Namen sagt mir in der Tat etwas, so daß Ihre Beharrlichkeit sich gelohnt hat. Tausend Dank.« Außerdem schrieb ich einen Dankesbrief an Teddy Dewar, dem ich sagte, daß die Information zu keinem günstigeren Zeitpunkt hätte kommen können; den Umschlag für seinen Freund Timieson legte ich bei.
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Als ich gerade die Briefmarke aufklebte, klingelte das Telefon. Ich hüpfte zu dem Apparat hinüber und nahm den Hörer ab. George Newtonnards. »Hab gestern den ganzen Abend an der Strippe gehangen. Astronomische Telefonrechnung werd ich kriegen.« »Schicken Sie sie mir«, sagte ich resigniert. »Warten Sie erst mal ab, was ich rausgekriegt habe«, schlug er vor. »Haben Sie was zum Schreiben da?« »Sekunde.« Ich holte einen Block und einen Kugelschreiber. »Okay. Legen Sie los.« »Schön. Erstens die Leute, denen ich’s erzählt habe.« Er diktierte mir fünf Namen. »Der letzte, Pelican Jobberson, ist der Bursche, der so sauer auf Sie ist, weil Sie ihm damals den faulen Tip gegeben haben, aber er hat’s weder den Stewards noch sonstwem erzählt, weil er nämlich am nächsten Tag nach Casablanca in Urlaub geflogen ist. Tja... und das sind die Leute, denen es Harry Ingram erzählt hat.« Er las drei Namen vor. »Und den Leuten hat’s Herbie Subbing erzählt.« Vier Namen. »Das sind die Leute, die’s von Dimmie Ovens wissen.« Fünf Namen. »Und Clobber Mackintosh, der hat’s so richtig weiterverbreitet.« Acht Namen. »An mehr erinnern sie sich nicht. Sie können nicht beschwören, daß das alle waren. Und natürlich hätte von den Leuten, die sie genannt haben, jeder einzelne die Information wieder an jemand anders weitergeben können... ich meine, solche Sachen verbreiten sich wie ein Lauffeuer.« »Trotzdem vielen Dank«, sagte ich aufrichtig. »Wirklich nett von Ihnen, sich die ganze Mühe zu machen.« »Hat’s denn was genützt?« »O ja, ich denke schon. Ich sage Ihnen irgendwann Bescheid.« »Und vergessen Sie nicht, ein klarer Nicht-Sieger... geben Sie mir einen Wink.« 221
»Mach ich«, versprach ich. »Wenn Sie das nach Pelican Jobbersons Erfahrung noch riskieren wollen.« »Der hat doch keine Ahnung«, meinte er. »Ich schon.« Er legte auf, und ich studierte seine Liste. Einige Namen, die mir vertraut waren, gehörten bekannten Rennsportfiguren: vermutlich Kunden der Buchmacher. Keine der Namen fand sich auf Timiesons Liste von Kontaktpersonen Oakleys wieder, aber irgend etwas war da... Zehn Minuten lang starrte ich auf das Papier und überlegte, was da über die Schwelle meines Bewußtseins treten wollte, und endlich, mit einem Schlag, funkte es. Einer der Männer, denen es Herbie Subbing erzählt hatte, war der Schwager des Mannes, den ich unter den Kontaktpersonen Oakleys gefunden hatte. Ich dachte eine Weile nach, schlug dann die Zeitung auf und studierte das Rennprogramm des Tages, das in Reading stattfand. Dann rief ich Lord Ferth in seinem Londoner Haus an und erreichte ihn über einen Bedienten mit sonorer Stimme. »Was gibt es, Kelly?« Es war noch etwas da von der Beziehung von Mittwoch. Nicht alles, aber etwas. »Sir, fahren Sie zum Rennen nach Reading?« fragte ich. »Ja.« »Ich bin noch nicht offiziell benachrichtigt worden, daß ich meine Lizenz zurückbekomme. Kann ich mich trotzdem dort sehen lassen? Ich müßte Sie dringend sprechen.« »Ich sorge dafür, daß Sie keine Schwierigkeiten haben, wenn es wichtig ist.« In seinen Worten schwang eine leise Frage mit, die ich beantwortete. »Ich weiß, wer die Sache eingefädelt hat.« »Ach so... ja. Dann kommen Sie. Es sei denn, die Fahrt ist zu anstrengend für Sie. Ich könnte nach dem Meeting auch nach Corrie kommen. Ich habe heute abend keine Verpflichtungen.«
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»Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich denke, unser Einfädler wird auch beim Rennen sein... jedenfalls ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß.« »Wie Sie wollen. Ich halte nach Ihnen Ausschau.« Tony hatte für das Meeting zwei Starter gemeldet, so daß ich ihn bitten konnte, mich mitzunehmen. Aber da war auch Roberta... sie fuhr wahrscheinlich auch hin und könnte mich ebenfalls mitnehmen. Ich lächelte wehmütig in mich hinein. Von ihr ließe ich mich überallhin mitnehmen. Roberta Cranfield. Ausgerechnet. Wie aufgrund von Gedankenübertragung klingelte das Telefon, und am Apparat war Roberta. Ihre Stimme klang atemlos und besorgt. »Kelly! Ich kann im Moment nicht kommen. Eigentlich...« Plötzlich brach es aus ihr heraus: »Können Sie hierher kommen?« »Was ist denn los?« »Na ja... ich weiß im Grunde nicht, ob irgendwas los ist... was Ernstes, meine ich. Aber Grace Roxford ist hier aufgetaucht.« »Die liebe Grace?« »Ja... hören Sie, Kelly, sie sitzt einfach draußen vor dem Haus im Wagen und starrt herüber. Ehrlich, sie macht einen leicht verrückten Eindruck. Wir wissen nicht recht, was wir tun sollen. Mutter will die Polizei rufen, aber man kann doch nicht... Angenommen, die Ärmste will sich entschuldigen oder so etwas und versucht nur, sich Mut zu machen?« »Sie sitzt immer noch im Wagen?« »Ja. Ich kann sie von hier aus sehen. Können Sie kommen? Ich meine... Mutter ist keine große Hilfe, und Sie wissen ja, was die liebe Grace von mir hält... Sie wirkt wirklich ziemlich eigenartig, Kelly.« Deutliche Unruhe in ihrer Stimme. »Wo ist denn Ihr Vater?« 223
»Mit Breadwinner draußen auf der Trainingsbahn. Er kommt erst in ungefähr einer Stunde wieder.« »Na gut. Ich lasse mich von Tony oder sonstwem rüberfahren. Sobald ich kann.« »Prima«, sagte sie erleichtert. »Ich versuche sie solange hinzuhalten.« Dorthin zu kommen würde eine halbe Stunde dauern, wahrscheinlich sogar länger. Bis dahin saß die liebe Grace vielleicht nicht mehr in ihrem Wagen... Ich wählte drei – neun – eins. »Tony«, sagte ich drängend. »Kannst du sofort alles stehen und liegen lassen und mich zu Cranfields rüberfahren? Grace Roxford ist dort aufgetaucht, und das gefällt mir gar nicht.« »Ich muß nach Reading«, protestierte er. »Du kannst von Cranfields aus hinfahren, sobald wir uns um Grace gekümmert haben... außerdem will ich auch nach Reading, um mit Lord Ferth zu reden. Also sei so nett, Tony. Bitte.« »Na gut. Wenn dir so viel dran liegt. Gib mir fünf Minuten Zeit.« Er brauchte zehn. Einen Teil davon verwendete ich darauf, mit Jack Roxford zu telefonieren. Er war überrascht, daß ich ihn anrief. »Hören Sie, Jack«, sagte ich, »tut mir leid, daß ich Sie so beunruhige, aber haben Sie eine Ahnung, wo Ihre Frau hingefahren ist?« »Grace?« Erneut Überraschung, aber auch Sorge. »Ins Dorf, hat sie gesagt.« Das betreffende Dorf war rund fünfundsechzig Kilometer von Cranfields Haus entfernt. »Das ist doch bestimmt schon einige Zeit her«, sagte ich. »Ja, schon... was ist eigentlich los?« Die Besorgnis schlug jetzt deutlich durch.
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»Roberta Cranfield hat gerade angerufen und gesagt, Ihre Frau ist bei ihnen vor dem Haus; sie sitzt einfach in ihrem Wagen.« »O nein. Das kann nicht sein.« »Ich fürchte ja.« »O nein«, jammerte er. »Heute morgen ist es ihr doch bessergegangen... sie war ganz die alte... ich hatte den Eindruck, man kann sie unbesorgt zum Einkaufen fahren lassen... sie war so außer sich, verstehen Sie... und dann haben Sie und Dexter Ihre Lizenz zurückbekommen... das hat ihr schwer zu schaffen gemacht... es war alles so schrecklich für sie.« »Ich fahre mal eben rüber und sehe zu, was ich tun kann. Könnten Sie vielleicht kommen und sie holen?« »Ja, sicher. Ich fahre sofort los. Die arme liebe Grace... Geben Sie auf sie acht, bis ich komme.« »Ja«, sagte ich beruhigend und legte auf. Ich schaffte es ohne Zwischenfälle die Treppe hinunter und stellte fest, daß Tony für die Fahrt Poppys Kombi beschlagnahmt hatte. Die Rücksitzlehne war umgeklappt, so daß ich liegen statt sitzen konnte, und es gab sogar Kissen für meine Schultern und meinen Kopf. »Poppys Idee«, sagte Tony kurz, während er mir half, durch die Hecktür einzusteigen. »Tolles Mädchen.« »Keine Frage«, bestätigte ich und zog die Krücken hinter mir in den Wagen. »Und jetzt verlier keine Zeit mehr.« »Du hörst dich ja richtig besorgt an.« Er schloß die Türen, ließ den Motor an und fuhr ohne weiteren Zeitverlust los. »Das bin ich auch. Grace Roxford ist nicht ganz normal.« »Aber doch bestimmt nicht gefährlich?« »Das hoffe ich.« Ich klang wohl recht skeptisch, denn Tonys Fuß drückte kräftig aufs Gaspedal. »Halt dich irgendwo fest«, sagte er. Wir schaukelten durch Kurven. Ich fand keinen richtigen Halt: 225
mußte das gesunde Bein gegen die Hecktür stemmen und mich mit beiden Armen an den schwankenden Wänden abstützen. »Alles klar?« rief er. »Äh... ja«, gab ich atemlos zurück. »Gleich kommt ein gutes Stück Straße.« Wir ließen den übrigen Verkehr förmlich stehen. »Sag’s mir, wenn du Bullen siehst.« Wir sahen keine. Tony legte die dreißig Kilometer durch Berkshire in dreiundzwanzig Minuten zurück. Wir kamen mit einem Ruck vor Cranfields Haus zum Stehen, und mir fiel als erstes auf, daß in dem kleinen grauen Volkswagen, der vor der Haustür stand, niemand saß. Tony riß krachend die Hecktür auf und zerrte mich ohne viel Federlesens aus dem Wagen. »Wahrscheinlich sitzt sie irgendwo gemütlich und trinkt in aller Ruhe eine Tasse Tee«, sagte er. Fehlanzeige. Tony klingelte, und nach einer längeren Pause öffnete Mrs. Cranfield persönlich. Nicht das von ihr gewohnte rasche Türaufreißen. Sie sah uns durch einen fünfzehn Zentimeter breiten Spalt nervös an. »Hughes. Was machen Sie denn hier? Gehen Sie weg.« »Roberta hat mich gebeten zu kommen. Wegen Grace Roxford.« »Mrs. Roxford ist nicht mehr da.« Mrs. Cranfields Stimme war so angespannt wie ihre Haltung. »Ist das nicht ihr Auto?« Ich deutete auf den Volkswagen. »Nein«, sagte sie scharf. »Wem gehört es dann?« »Dem Gärtner. Und jetzt gehen Sie, Hughes, und zwar sofort. Gehen Sie.« »Na schön«, sagte ich achselzuckend. Und sie schlug sofort die Tür zu. »Hilf mir in den Wagen zurück«, sagte ich zu Tony. 226
»Du willst doch nicht einfach wieder abhauen?« »Red nicht lange rum. Schaff mich in den Wagen, fahr zum Tor raus, dann außen rum und zur Stalleinfahrt wieder rein.« »Schon besser.« Er verstaute mich im Wagen, warf die Krücken hinterher, knallte die Tür zu und hastete nach vorn zum Fahrersitz. »Beeil dich nicht so«, sagte ich. »Kratz dich ein bißchen am Kopf. Mach ein saures Gesicht.« »Meinst du, sie beobachtet uns?« Er ließ den Wagen nicht an: blickte über die Schulter zu mir zurück. »Ich glaube, daß Mrs. Cranfield ihrem Gärtner nie im Leben erlauben würde, vor ihrer Haustür zu parken. Mrs. Cranfield hat sich alle Mühe gegeben, um Hilfe zu bitten.« »Und das heißt«, fügte er langsam hinzu, »daß Grace Roxford in der Tat sehr gefährlich ist.« Ich nickte mit trockenem Mund. »Fahr jetzt los.« Er ließ sich Zeit. Schlich außen herum zur hinteren Einfahrt, beschleunigte kurz und hielt bei den Stallungen. Half mir wieder aus dem Wagen. »In dem kleinen Büro neben der Sattelkammer im Hof gibt’s ein Telefon«, sagte ich. »Such aus dem Branchenverzeichnis einen Arzt aus der Gegend raus und sag ihm, er soll umgehend herkommen. Dann warte hier, bis Dexter Cranfield mit den Pferden zurückkommt, und sorg dafür, daß er nicht ins Haus geht.« »Kelly, übertreibst du nicht vielleicht ein bißchen? Das schaffe ich nie, Cranfield aufzuhalten.« »Sag ihm, daß man eine Tragödie immer erst dann für möglich hält, wenn sie passiert ist.« Er sah mich zwei Sekunden an und fuhr dann weiter in den Stallhof. Ich stakste die hintere Einfahrt hinauf und drückte die Klinke der Hintertür. Offen. Das lag nahe. Damit Cranfield ohne weiteres hineinkam. Und weiter? 227
Ich betrat leise den Hauptflur und lauschte. Im Haus war kein Geräusch zu hören. Versuchte es zuerst mit der Bibliothek und mußte, damit ich den Türknauf richtig zu fassen bekam, umständlich mit den Krücken hantieren, schwitzend vor Angst, daß mir mit lautem Krach eine herunterfallen könnte. Drehte den Knauf und stieß leise die Tür auf. Die Bibliothek war menschenleer. Auf dem Kamin tickte laut eine Uhr. Nicht im Takt meines Herzens. Ich ließ die Türen offen. Ging langsam und leise auf das kleine Wohnzimmer neben der Haustür zu. Wieder die peinlich vorsichtige Prozedur mit dem Knauf. Wenn sie mich hatten kommen sehen, waren sie höchstwahrscheinlich in diesem Raum. Die Tür schwang nach innen auf. Gut geölt. Kein Knarren. Ich sah die abgewetzten Chintzbezüge der Lehnstühle, die älteren Teppiche, den Bodensatz des Wohnens: verstreute Zeitungen, eine Brille auf ein paar Briefen, ein Kopftuch und einen Blumenkorb. Keine Menschen. Auf der anderen Seite des Flurs befand sich die Doppeltür zu dem großen, repräsentativen Salon, und weiter hinten, jenseits der Treppe, die Türen zum Speisezimmer und zu Dexter Cranfields Arbeitszimmer, wo er seine Rennbücher aufbewahrte und seinen Papierkram erledigte. Ich hinkte zum Arbeitszimmer hinüber und öffnete die Tür. Es war still dort drin. Staubteilchen senkten sich mählich. Sonst rührte sich nichts. Damit blieben nur die beiden großen Räume im Erdgeschoß und das gesamte obere Stockwerk. Ich musterte unbehaglich die lange, breite Treppe. Wünschte, sie wäre ein Fahrstuhl. Das Speisezimmer war leer. Ich ging durch den Flur zur Doppeltür des Salons zurück. Hatte bei der Übung mit den Krücken etwas mehr Mühe, weil ich beide Flügel öffnen mußte, um hineinzugehen, und um beide Flügel zu öffnen, 228
brauchte ich beide Hände. Ich löste das Problem schließlich dadurch, daß ich mir beide Krücken wie Spazierstöcke an den linken Arm hängte und auf einem Bein stand. Die Türflügel teilten sich, und ich stieß sie weiter auf. Der Viertelmorgen Salon enthielt Stühle mit Goldbrokatpolsterung, einen fahl cremefarbenen chinesischen Teppich und lange, samtig blaue Vorhänge. Ein kostbarer, eleganter, klassenbewußter Raum, bestimmt für Cranfields glänzendste Hoffnungen. Alles darin war reglos. Ein Tableau. Ich stützte mich wieder auf die Krücken und ging vorwärts. Blieb schon nach ganz wenigen Schritten stehen. Blieb stehen, weil ich mußte. Mrs. Cranfield war da. Und Roberta. Und Grace Roxford. Mrs. Cranfield stand am Kamin und klammerte sich an dem schulterhohen Sims fest, als brauchte sie Halt. Roberta saß aufrecht auf einem Holzstuhl ohne Armlehnen, der von seiner gewohnten Stelle weggerückt und auf ein großes, freies Stück Teppich gestellt worden war. Schräg hinter ihr stand Grace Roxford, die mit einer Hand fest Robertas Schulter gepackt hielt. In der anderen hatte sie ein Messer, wie es Fischhändler benutzen. Fast dreißig Zentimeter lang, rasiermesserscharf, mit einer Spitze wie eine Nadel, die sie Roberta an den Hals hielt. »Kelly!« sagte Roberta. Ihre Stimme war hoch und eine Spur wackelig, aber die Erleichterung darin war überwältigend. Ich befürchtete, sie könnte verfrüht sein. Grace Roxford hatte hellrote Flecken über den stark hervortretenden Jochbeinen und ein durchdringendes Glitzern in den Augen. Ihr Körper war starr vor Spannung. Die Hand, die das Messer hielt, zitterte in ungleichmäßigen Spasmen. Sie war so instabil wie feuchtes Gelignit; aber sie wußte immer noch, was sie tat.
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»Sie sind doch weggegangen, Kelly Hughes«, sagte sie. »Sie sind weggegangen.« »Ja, Grace«, stimmte ich zu. »Aber ich bin wiedergekommen, um mit Roberta zu reden.« »Noch einen Schritt«, sagte sie, »und ich schneide ihr den Hals durch.« Mrs. Cranfield holte schluchzend Atem, aber Robertas Gesichtsausdruck blieb unverändert. Grace hatte diese Drohung schon einmal geäußert. Wahrscheinlich schon mehrmals. Zumal als Tony und ich an der Haustür aufgetaucht waren. Sie war zum Äußersten entschlossen. Weder ich noch die Cranfields konnten den geringsten Zweifel daran haben, daß sie ihre Drohung wahr machen würde. Und ich war sieben Meter von ihr entfernt und außerdem behindert. »Was wollen Sie, Grace?« fragte ich so ruhig wie möglich. »Was ich will? Was ich will?« Ihr Blick flackerte. Anscheinend versuchte sie sich zu erinnern, was sie wollte. Dann schossen ihre Augen zornige Pfeile auf mich, und ihr fiel mit einem Schlag wieder ein, was sie vorhatte. »Dexter Cranfield... verfluchter Snob... ich sorg dafür, daß er die Pferde nicht kriegt... Ich bring ihn um, damit Sie’s wissen, ich bring ihn um... dann kann er sie nicht kriegen, oder? Nein... das kann er dann nicht.« Wieder zeigten weder Roberta noch ihre Mutter Überraschung. Grace hatte ihnen bereits gesagt, weshalb sie gekommen war. »Grace, es hilft Ihrem Mann nicht, wenn Sie Mr. Cranfield umbringen.« »Doch. Doch. Doch. Doch.« Bei jedem »doch« nickte sie heftig, und das Messer federte gegen Robertas Hals. Roberta schloß einen Moment die Augen und schwankte auf dem Stuhl. »Wie wollen Sie ihn denn umbringen, Grace?« fragte ich.
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Sie lachte. Das Lachen geriet mittendrin außer Kontrolle und endete in einem irren, schrillen Kichern. »Er kommt hierher, oder? Er kommt hierher und stellt sich neben mich, weil er genau das tut, was ich ihm sage, oder? Oder?« Ich blickte auf die Stahlklinge an Robertas perlweißer Haut und wußte, daß er ganz sicher genau das tun würde, was sie sagte. Das würde ich auch. »Und dann«, sagte sie. »Dann stoß ich das Messer einfach in ihn, und nicht in sie. Kapiert? Kapiert?« »Kapiert«, sagte ich. Sie nickte übertrieben, und ihre Hand zitterte. »Und was dann?« fragte ich. »Wie, was dann?« Sie wirkte verblüfft. Weiter als bis zu der Absicht, Cranfield zu töten, reichten ihre Gedanken nicht. Dahinter lag nur Dunkelheit und Verwirrung. Konsequenzen lagen außerhalb ihrer Vorstellung. »Edwin Byler könnte seine Pferde zu jemand anders schicken«, meinte ich. »Nein. Nein. Nur zu Dexter Cranfield. Nur zu ihm. Bräuchte einen versnobteren Trainer, hat er zu ihm gesagt. Wegnehmen will er ihn uns. Ich bring ihn um. Dann kann er die Pferde nicht kriegen.« Die Worte brachen in heftiger Monotonie aus ihr hervor und waren um so schrecklicher, als sie eindeutig automatisch kamen. Es waren Gedanken, die sie schon sehr lange im Kopf hatte. »Es wäre natürlich alles in Ordnung gewesen«, sagte ich langsam, »wenn Mr. Cranfield seine Lizenz nicht zurückbekommen hätte.« »Ja!« Ein bitterböses Kreischen. »Ich habe sie ihm wiederbeschafft«, sagte ich. »Sie haben sie ihm einfach so zurückgegeben! Einfach so! Das hätten sie nicht tun dürfen. Niemals.« »Sie haben sie ihm nicht einfach so zurückgegeben. Sie haben sie ihm zurückgegeben, weil ich dafür gesorgt habe.« 231
»Ach was...« »Ich habe jedem erzählt, daß ich es tun würde. Und genauso war’s auch.« »Nein. Nein. Nein.« »Doch«, sagte ich kategorisch. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich langsam, und das auf höchst erschreckende Weise. Ich wartete, während es in ihr chaotisches Hirn drang, daß sie es ganz allein mir zu verdanken hätte, wenn Byler seine Pferde doch zu Cranfield schickte. Ich konnte förmlich zusehen, wie die Absicht zu töten sich auf mich ausdehnte. Die fast wachsame Zurückhaltung in ihrem Verhalten mir gegenüber wich einem haßerfüllt glühenden Blick. Ich schluckte. Dann sagte ich noch einmal: »Wenn ich nicht dafür gesorgt hätte, daß die Stewards Mr. Cranfield die Lizenz zurückgeben, wäre er immer noch gesperrt.« »Nicht, Kelly«, sagte Roberta entsetzt. »Bitte. Tu das nicht.« »Sei still«, sagte ich. »Ich oder dein Vater... wer hat wohl die größere Chance? Und lauf weg, wenn du kannst.« Grace hörte nicht zu. Grace war damit beschäftigt, das Wesentliche zu erfassen und sich für eine bestimmte Vorgehensweise zu entscheiden. Um ihre Pupillen war viel Weiß zu sehen. »Ich bring dich um«, sagte sie. »Ich bring dich um.« Ich stand ganz still. Ich wartete. Die Sekunden dehnten sich wie Jahrhunderte. »Komm her«, sagte sie. »Komm her, oder ich schneid ihr den Hals durch.«
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15 Die Krücken aufstoßend, schob ich mich Stück für Stück auf sie zu. Als ich es zur Hälfte geschafft hatte, gab Mrs. Cranfield ein ächzendes Seufzen von sich, wurde ohnmächtig und fiel so ungeschickt, daß sich das messingene Kaminbesteck mit nervenzerfetzendem Scheppern auf dem Boden verteilte. Grace zuckte zusammen. Die Klinge ritzte Robertas Haut, und sie schrie auf. Fast aus dem Gleichgewicht gebracht, blieb ich stehen, erstarrte zu völliger Reglosigkeit und beschwor Grace stumm, nicht in Panik zu verfallen, nicht vollends auszurasten, nicht das letzte bißchen Kontrolle über ihren Verstand einzubüßen. Sie war nicht mehr weit davon entfernt, auf alles einzustechen, was sich in Reichweite befand. »Sitz still«, sagte ich mit äußerster Eindringlichkeit zu Roberta, und sie warf mir einen verstörten Blick zu und gab sich alle Mühe, völlig ruhig zu sitzen. Sie zitterte heftig. Ich hatte nie geglaubt, daß ich beten konnte. Ich betete. Grace bewegte ihren Kopf in scharfen, an einen Vogel erinnernden Rucken. Das Messer lag immer noch an Robertas Hals. Graces andere Hand hielt immer noch Robertas Schulter gepackt. Ein Blutfaden lief Robertas Haut hinab und wurde, ein roter Klecks, von ihrem weißen Pullover aufgesogen. Niemand kümmerte sich um Robertas Mutter. Ich wagte nicht einmal, zu ihr hinzusehen, denn dazu hätte ich den Blick von Grace abwenden müssen. »Komm her«, sagte Grace. »Komm her.« Ihre Stimme war heiser, kaum mehr als ein lautes Flüstern. Und obwohl sie mir mit unverkennbarer Mordlust in den Augen entgegensah, war ich unaussprechlich dankbar dafür, daß sie immer noch reden, immer noch denken, immer noch eine Absicht verfolgen konnte.
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Auf den letzten paar Schritten fragte ich mich, wie ich ihr ausweichen sollte, da ich weder springen noch die Knie beugen konnte und noch nicht einmal die Hände frei hatte. Ein bißchen spät, um sich Sorgen zu machen. Ich verkürzte den letzten Schritt etwas, so daß sie sich von der Stelle bewegen mußte, um an mich heranzukommen, und ließ zugleich den rechten Ellbogen aus der Unterarmstütze herausgleiten. Sie war fast zu schnell. Sie stach ohne Vorwarnung zu, ein auf meine Kehle gezielter, rascher Stoß, und obwohl ich gerade noch die fünf Zentimeter zurückzuckte, die es brauchte, um ihm zu entgehen, kam mir die durch die Luft zischende Klinge noch nahe genug und schlitzte den Kragen meiner Jacke auf. Ich riß den rechten Arm quer nach oben, so daß die Krücke gegen sie knallte, als sie es gerade noch einmal versuchen wollte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Roberta sich aus Graces Klammergriff wand und sich halb stolpernd, halb fallend von dem Stuhl wegbewegte. »Bring dich um«, sagte Grace. Die Worte waren verzerrt. Die Bedeutung klar. Sie dachte überhaupt nicht an Selbstverteidigung. Dachte überhaupt nicht mehr, soweit ich es erkennen konnte. Wurde nur von einem einzigen brennenden Wunsch verzehrt. Ich hob die linke Krücke wie einen Stock, um sie wegzustoßen. Sie wich ihr aus und versuchte mir das Messer in die Rippen zu jagen, und als ich mich nach hinten warf, verlor ich das Gleichgewicht und ging halb zu Boden: mit hoch erhobenem Arm stand sie über mir wie eine Priesterin bei einem Menschenopfer. Ich ließ eine Krücke vollends los. Sinnlos, mit der bloßen Hand ein Messer abzuwehren. Ich versuchte ihr die andere Krücke ins Gesicht zu stoßen, blieb dabei aber an einem Sessel hängen.
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Graces Arm fuhr herab. Ich ließ mich flach auf den Boden fallen, sobald ich die Bewegung sah: das Messer folgte mir, ohne Schaden anzurichten, und der Stoß hatte, bis er mich erreichte, seine ganze Wucht eingebüßt. Noch ein Riß in meiner Jacke. Sie ging neben mir in die Knie, und wieder hob sich der Arm. Aus dem Nirgendwo pfiff meine verlorene Krücke durch die Luft und krachte gegen die Hand, die das Messer hielt. Grace zischte wie eine Schlange, ließ es fallen, und es prallte mit der Spitze nach unten auf meinen Gips. Sie fuhr herum, um festzustellen, wer sie geschlagen hatte, und streckte die Hände nach der Krücke aus, mit der Roberta eben zum zweitenmal nach ihr zielte. Sie bekam sie zu fassen und zerrte daran. Ich warf mich auf dem Boden herum, reckte mich, bis meine Finger sich um den Griff des Messers schlossen, und warf es, so fest ich konnte, in Richtung der offenen Tür zum Flur. Grace war zuviel für Roberta. Zuviel auch für mich. Sie war entsetzlich, irrsinnig, stark. Ich stemmte mich auf mein linkes Knie hoch und schlang ihr von hinten fest die Arme um die Brust, um so ihre Arme am Körper festzunageln. Sie schleuderte mich herum wie einen Sack Federn, während sie sich mühte, auf die Beine zu kommen. Sie schaffte es schließlich und hob mich dabei samt Gips mit hoch. Sie wußte, wo ich das Messer hingeworfen hatte. Sie ging in diese Richtung los und schleppte mich, der ich ihr immer noch wie ein Blutegel am Rücken klebte, mit sich. »Nimm das Messer, und lauf zu den Ställen«, keuchte ich Roberta zu. Ein Mädchen, wie man es so bald nicht wieder fand. Sie rannte einfach los, hob das Messer auf und rannte weiter auf den Flur und zum Haus hinaus. Grace fing an, Unverständliches zu kreischen, und versuchte, meine über ihrem mageren Brustbein verschränkten Finger zu 235
lösen. Ich klammerte mich verzweifelt fest, und als sie meinen Griff nicht sprengen konnte, begann sie, mich mit wilder, schmerzhafter Bösartigkeit überall zu kneifen, wo sie nur hinreichte. Ihr Haar, das normalerweise im Nacken zu einem Knoten aufgesteckt war, hatte sich gelöst und hing mir ins Gesicht. Ich konnte immer weniger von den Vorgängen sehen. Ich bekam nur mit, daß sie immer noch der Tür zustrebte, immer noch unvorstellbar gewalttätig war und mittlerweile ein von plötzlichen Schreien durchsetztes, ununterbrochenes Gemurmel sinnloser Worte von sich gab. Bei der Tür angekommen, versuchte sie sich dadurch von mir zu befreien, daß sie mich gegen den Rahmen schmetterte. Das war Schwerarbeit, die am Ende aber von Erfolg gekrönt war, und als sie mein Gewicht von sich abfallen spürte, drehte sie sich blitzschnell um und fuhr mit starren Fingern auf meinen Hals los. Ihr Gesicht war puterrot angelaufen. Die Augen in einem fürchterlich stieren Blick weit aufgerissen. Die Zähne gebleckt, die Lippen nur noch dünne Striche. Ich hatte noch nie im Leben etwas so Entsetzliches gesehen. Hätte nie gedacht, daß ein Mensch so aussehen konnte, hatte mir niemals mörderischen Wahnsinn vorstellen können. Sie hätte mich mit Sicherheit umgebracht, wenn Tony nicht gewesen wäre, denn gegen ihre Körperkraft war meine der reinste Witz. Er kam von der Küche aus in den Flur gefegt und riß sie mit einem Rugby-Tackling in Kniehöhe zu Boden, und auch ich stürzte dabei und fiel auf sie, weil sie versuchte, mir förmlich den Kehlkopf herauszureißen, und einfach nicht loslassen wollte. Es bedurfte aller Anstrengung von Tony, Archie und drei anderen Stallburschen, sie von mir loszumachen und unten zu halten. Sie saßen auf ihren Armen und Beinen, auf ihrer Brust
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und ihrem Kopf, und sie warf sich unter ihnen konvulsivisch hin und her. Roberta liefen die Tränen übers Gesicht, und ich hatte nicht mehr genug Puste, um ihr zu sagen, sie solle sich beruhigen, es bestehe keine Gefahr mehr, keine... kein... Ich lehnte mich kraftlos an die Wand und dachte, daß es doch verdammt albern wäre, jetzt umzukippen. Holte statt dessen dreimal tief Luft. Alles beruhigte sich wieder, wenn auch widerwillig. »Ein Arzt ist unterwegs«, meinte Tony. »Ich glaube allerdings nicht, daß er auf so was gefaßt ist.« »Er wird schon wissen, was er zu tun hat.« »Mutter!« rief Roberta plötzlich aus. »Die habe ich völlig vergessen.« Sie eilte an mir vorbei in den Salon, und ich hörte, wie die Stimme ihrer Mutter sich zu einer verstörten, verwirrten Frage hob. Grace schrie unentwegt, aber ihre Stimme klang wie Möwengekreisch, und nichts, was sie sagte, ergab einen Sinn. Einer der Stallburschen sagte mitfühlend: »Armes Ding, sollen wir sie nicht aufstehen lassen?« Und Tony gab heftig zurück: »Nur unter einem Tigernetz.« »Sie weiß gar nicht, was vor sich geht«, sagte ich müde. »Sie hat sich nicht mehr unter Kontrolle. Also laßt sie um Gottes willen nicht los.« Mit Ausnahme von Tonys resoluten Einsachtzig saßen sie alle sehr behutsam auf ihr, und zweimal hätte Grace sie um ein Haar abgeschüttelt. Schließlich und endlich klingelte es an der Haustür, und ich stakste durch den Flur, um aufzumachen. Es war der ortsansässige Arzt, mit unschlüssiger Miene, weil er sich zweifellos fragte, ob das Ganze ein Jux sei. Aber ein einziger Blick auf Grace, und er öffnete seine Tasche, während er durch den Flur auf sie zueilte. Er stieß ihr die Nadel einer Injektionsspritze in den Arm, und bald erschlaffte das konvulsivische Zucken, das schrille Geschrei erstarb zu einem Murmeln und verstummte dann vollends. Die fünf Männer 237
standen langsam auf und bewegten sich von ihr weg, und wie sie da lag, wirkte sie wie geschrumpft und zerknittert, und ihr ergrauendes Haar stand in Strähnen von ihren schlaff entspannten Zügen ab. Es schien unglaublich, daß ein so magerer Körper, daß so dünne Gliedmaßen eine derartige Kraft entwickeln konnten. Wir alle blickten eher mit ehrfürchtiger Scheu als mitleidig auf sie herab, während wir zusahen, wie die letzten Zuckungen sie durchliefen und sie in friedliche Bewußtlosigkeit versank. Eine halbe Stunde später lag Grace immer noch im Flur auf dem Boden, aber sie hatte ein Kissen unter dem Kopf, und eine Decke hielt sie warm. Dexter Cranfield war von der Arbeit mit den Pferden zurückgekehrt und unvorbereitet in die Nachwehen des Dramas hineingeplatzt. Die halb hysterischen Erklärungen seiner Frau hatten ihm nicht sonderlich geholfen. Roberta sagte ihm, Grace habe ihn umbringen wollen, weil er seine Lizenz zurückbekommen habe, und daß er überhaupt gesperrt worden sei, habe er ebenfalls ihr zu verdanken; ich führte sein wütendes Herumgestampfe hauptsächlich darauf zurück, daß die Ursache unserer Probleme eine Frau war. Er hatte grundsätzlich etwas gegen Frauen. Sie hätte schon vor Jahren eingesperrt gehört, sagte er. Boshaftes, kleinliches, intrigantes, heimtückisches Luder... typisch Frau, sagte er. Ich hörte ihm mit ernster Miene zu und kam zu dem Schluß, daß er unter einem autoritären Kindermädchen gelitten hatte. Der Arzt hatte ausgiebig telefoniert, und bald darauf traf ein Krankenwagen mit zwei mitfühlend wirkenden Männern und viel Spezialausrüstung ein. Die Haustür stand weit offen, und die Aussicht auf Graces unmittelbar bevorstehende Abfahrt war für jeden eine Erleichterung. Mitten in diesem geschäftigen Treiben kam Jack Roxford angefahren. 238
Er stieg hastig aus, warf einen entsetzten Blick auf den Krankenwagen und pflügte zur Haustür herein. Als er Grace auf dem Boden liegen sah – die Krankenwagenfahrer wollten sie gerade auf eine Trage legen –, sank er neben ihr auf die Knie. »Grace, Liebes...« Er betrachtete sie genauer. Sie war immer noch bewußtlos, mittlerweile sehr blaß und wirkte verhutzelt und wie sechzig. »Grace, Liebes!« Seine Stimme hatte etwas Gequältes. »Was fehlt ihr?« Der Arzt fing an, es ihm beizubringen. Cranfield unterbrach die sanften Worte und blaffte brutal: »Sie ist total verrückt. Sie ist hergekommen, weil sie mich umbringen wollte, und sie hätte meine Frau und meine Tochter umbringen können. Es ist absolut skandalös, daß sie in diesem Zustand frei herumläuft. Ich werde mich deswegen an meine Anwälte wenden.« Jack Roxford hörte nur den ersten Teil. Sein Blick wanderte zu dem Schnitt an Robertas Hals und dem Blutfleck auf ihrem Pullover, und er schlug die Hand vor den Mund und sah aus, als wäre ihm übel. »Grace«, sagte er. »O Grace...« Es gab keinen Zweifel, daß er sie liebte. Er beugte sich über sie, strich ihr das Haar aus der Stirn, sprach leise auf sie ein, und als er schließlich aufblickte, standen ihm Tränen in den Augen und auf den Wangen. »Sie wird doch wieder gesund, oder?« Der Arzt wand sich unbehaglich und meinte, das müsse man abwarten, so etwas brauche seine Zeit, es gebe heutzutage hervorragende Therapien... Die Krankenwagenfahrer legten sie sanft auf die Trage und hoben sie an. »Ich möchte mitfahren«, sagte Jack Roxford. »Wo bringen Sie sie hin? Lassen Sie mich mitfahren.« Einer der beiden Männer nannte ihm den Namen der Klinik und riet ihm, nicht mitzukommen. 239
»Versuchen Sie’s lieber heute abend, Sir. Hat ja keinen Zweck, daß Sie den ganzen Tag warten, oder?« Der Arzt fügte hinzu, daß Grace noch eine ganze Zeit bewußtlos sein und danach unter starken Beruhigungsmitteln stehen werde: es sei wohl tatsächlich besser, wenn Roxford sie nicht begleitete. Die Männer in der weißen Kluft trugen Grace in den Sonnenschein hinaus und verfrachteten sie in den Krankenwagen, und wir folgten ihnen allesamt nach draußen auf die Einfahrt. Jack Roxford wirkte ganz und gar verlassen, als sie die Türen schlossen, sich ein letztes Mal mit dem Arzt besprachen und dann ohne weitere Umstände losfuhren. Roberta berührte ihn am Arm. »Soll ich Ihnen etwas zu trinken holen, Mr. Roxford?« Er sah sie geistesabwesend an, und plötzlich verzog sich sein Gesicht, und er brachte kein Wort heraus. »Nicht, Mr. Roxford«, sagte Roberta mitfühlend. »Sie hat ja keine Schmerzen oder dergleichen.« Er schüttelte den Kopf. Roberta legte ihm den Arm um die Schultern und führte ihn ins Haus zurück. »Und nun?« fragte Tony. »Ich muß wirklich nach Reading. Meine Starter müssen fürs zweite Rennen bestätigt werden.« Ich sah auf meine Uhr. »Eine Viertelstunde hast du schon noch Luft. Ich denke, wir sollten Jack Roxford mitnehmen. Er hat übrigens auch einen Starter, obwohl ihm das im Moment ziemlich egal sein dürfte... außer daß es eins von Edwin Bylers Pferden ist. Aber er ist im Moment nicht in der Lage, selbst zu fahren, und das Rennen hält ihn vielleicht davon ab, allzu viel über Grace nachzugrübeln.« »Ja. Kann sein«, meinte Tony grinsend. »Geh ins Haus und sieh zu, daß du ihn überreden kannst, mit uns zu kommen.« »Okay.« Er entfernte sich gutgelaunt, und ich verbrachte die Wartezeit damit, auf meinen Krücken in der Einfahrt herumzustaksen und in die dort abgestellten Autos 240
hineinzustarren. Ich brauchte ja jetzt ein neues... würde mir allerdings wahrscheinlich wieder das gleiche kaufen. Ich lehnte mich an Tonys Wagen und dachte über Grace nach. Sie hatte mir, zusätzlich zu den Blessuren Marke Oakley, mit ihrer Kneiferei ein hübsches Erbe von blauen Flecken vermacht. Außerdem würde es ein Vermögen kosten, meine Jacke kunststopfen zu lassen, und mein Hals fühlte sich an wie eine weit fortgeschrittene Mandelentzündung. Ich betrachtete düster mein Gipsbein. Detektiv zu spielen war offenbar doppelt so riskant, wie Hindernisrennen zu reiten. Wenn ich Glück hatte, dachte ich mit einem Seufzer, konnte ich mich nun wieder der üblichen, aber weniger häufigen Form des Ramponiertwerdens zuwenden. Tony kam mit Roberta und Jack Roxford aus dem Haus. Jack wirkte benommen und ließ sich von Tony auf den Beifahrersitz des Kombis helfen, als wäre er mit seinen Gedanken meilenweit entfernt. Was er vermutlich auch war. Ich stakste knirschend über den Kies zu Roberta hinüber. »Was macht dein Hals?« fragte ich. »Und deiner?« Ich musterte ihre Schnittwunde genauer. Sie war nicht tief. Knapp drei Zentimeter lang. »Das wird keine große Narbe geben«, meinte ich. »Nein«, stimmte sie zu. Ihr Gesicht war mir ganz nah. Ihre Augen waren bernsteinfarben mit dunklen Tupfen. »Bleib hier«, sagte sie unvermittelt. »Du mußt nicht zum Rennen gehen.« »Ich bin mit Lord Ferth verabredet... am besten, man bringt die Geschichte ein für allemal zu Ende.« »Ja, wahrscheinlich.« Sie wirkte plötzlich sehr müde. Sie hatte einen anstrengenden Samstagmorgen gehabt.
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»Wenn du nichts Besseres zu tun hast«, schlug ich vor, »würdest du dann morgen zu mir kommen und mir was zum Mittagessen kochen?« Ein kleines Lächeln zupfte an ihrem Mund und machte ihr Fältchen in den Augenwinkeln. »Mit zwölf habe ich mich hoffnungslos in dich verhebt«, sagte sie. »Und dann hat sich das wieder gegeben?« »Ja.« »Schade.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Wer ist Bobbie?« fragte ich. »Bobbie? Ach, das ist Lord Icelands Sohn.« »Das paßt.« Sie lachte. »Vater will, daß ich ihn heirate.« »Das hätte ich mir denken können.« »Aber Vater wird eine Enttäuschung erleben.« »Gut«, sagte ich. »Kelly«, schrie Tony. »Komm jetzt endlich, Herrgott noch mal, sonst verspäte ich mich noch.« »Auf Wiedersehen«, sagte ich ruhig. »Bis morgen.« Tony fuhr mit der gebotenen Vorsicht und Aufmerksamkeit zur Rennbahn von Reading, und Jack Roxford blieb von Anfang bis Ende in düsteres Schweigen versunken. Als wir auf dem Parkplatz anhielten, stieg er aus und ging ohne ein Wort des Dankes oder der Erklärung auf den Eingang zu. Tony sah ihm nach und schnalzte mitleidig mit der Zunge. »Die Frau ist es nicht wert.« »Für ihn schon.« Tony eilte davon, um seine Pferde zu bestätigen, und ich folgte ihm etwas langsamer durchs Tor und hielt dabei nach Lord Ferth Ausschau.
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Es war ein herrliches Gefühl, wieder auf der Rennbahn zu sein. Wie wenn man aus dem Gefängnis entlassen würde. Die gleichen Leute, die mich auf dem Ball des Jockeys’ Fund schief angesehen hatten, klopften mir nun vertraulich auf die Schulter und sagten mir, wie sie sich freuten, mich zu sehen. Ganz bestimmt, dachte ich undankbar. Tritt nie einen Menschen, sobald er wieder auf den Beinen steht. Lord Ferth stand vor der Waage in einer Menschengruppe, aus der er sich löste, als er mich kommen sah. »Kommen Sie mit in den Speisesaal der Stewards«, sagte er. »Dort finden wir bestimmt ein ruhiges Eckchen.« »Können wir es bis nach dem dritten Rennen verschieben? Ich hätte gern meinen Vetter Tony dabei, und der hat ein paar Starter...« »Selbstverständlich. Später würde es mir im Grunde auch besser passen. Dann also nach dem dritten.« Ich sah mir die ersten drei Rennen mit der Gier eines zurückgekehrten Exilanten an. Tonys Pferd, das ich auch manchmal ritt, wurde in einem schnellen Rennen Vierter, was für den nächsten Start Gutes verhieß, und Bylers Pferd gewann das dritte. Als ich zum Absattelring eilte, um festzustellen, wie Jack Roxford zurechtkam, stieß ich beinahe mit Kessel zusammen. Er musterte mich von Kopf bis Fuß, registrierte den Gips und die Krücken und sagte kein Wort. Mein Gesicht blieb ebenso kalt und ausdruckslos wie das seine. Nachdem er zur Genüge demonstriert hatte, daß er sich nicht zu entschuldigen gedachte, drehte er sich brüsk auf dem Absatz um und ging von dannen. »Nun sieh dir das an«, sagte mir Tony ins Ohr. »Du könntest ihn wegen Verleumdung verklagen.« »Was soll’s?« Bei Charlie West hatte ich eine ganz ähnliche Reaktion erlebt.
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Trotz, von der leicht schmollenden Variante. Ich zuckte die Achseln. Es war meine eigene Schuld; vielleicht würde es sich mit der Zeit geben. Tony kam mit mir zum Absattelring. Byler war da und strahlte. Jack Roxford wirkte immer noch verloren. Wir bekamen mit, wie Byler einen Drink zur Feier des Sieges vorschlug und Jack geistesabwesend den Kopf schüttelte, als hätte er nicht verstanden. »Hol Jack da raus«, sagte ich zu Tony. »Sag ihm, daß du dich weiter um ihn kümmerst.« »Wie du meinst.« Er schob sich wie geheißen durch das Publikum, nahm Jack beim Ellbogen, sagte ein paar erklärende Worte zu Byler und lotste Jack weg. Ich gesellte mich zu ihnen, sagte in neutralem Tonfall: »Hier entlang«, und führte sie zum Speisesaal der Stewards. Sie gingen beide zur Tür hinein, nahmen die Hüte ab und hängten sie an die Garderobenhaken. Die Mittagessenszeit war vorbei, und die langen Tische waren zum Tee gedeckt, aber außer Lord Ferth war niemand da. Er gab Tony und Jack die Hand und forderte sie auf, am Ende eines Tisches Platz zu nehmen. »Kelly?« meinte er mit fragendem Unterton. »Ich stehe«, sagte ich. »Das geht besser.« »Also«, sagte Ferth mit einem neugierigen Seitenblick auf Tony und Jack, »Sie haben mir gesagt, Kelly, daß Sie wissen, wer Sie und Dexter Cranfield hereingelegt hat.« Ich nickte. Tony sagte bedauernd: »Grace Roxford. Jacks Frau.« Jack senkte den Blick geistesabwesend auf das Tischtuch und sagte kein Wort. Tony erklärte Lord Ferth, was vor kurzem bei Cranfields geschehen war, und der machte ein immer bestürzteres Gesicht. »Mein lieber Mr. Roxford«, sagte er unbehaglich. »Es tut mir sehr leid. Ungeheuer leid.« Er blickte zu mir auf. »Man wäre 244
nie darauf gekommen, daß sie... daß ausgerechnet Grace Roxford... Sie hereingelegt haben könnte.« »Stimmt«, sagte ich sanft. »Sie war es auch nicht.«
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16 Sowohl Tony als auch Jack fuhren hoch, wie von einem elektrischen Schlag getroffen. Lord Ferth sagte: »Aber Sie haben doch gerade...« Und Tony antwortete: »Ich dachte, es gibt keinen Zweifel... Sie hat versucht, Kelly umzubringen, und sie wollte auch Cranfield umbringen.« »Diesmal war es eindeutig sie, die versucht hat, mich umzubringen«, stimmte ich zu. »Aber beim ersten Mal nicht. Es war nicht sie, die sich an meinem Wagen zu schaffen gemacht hat.« »Sondern?« wollte Lord Ferth wissen. »Ihr Mann.« Jack stand auf. Er wirkte mit einemmal sehr viel weniger verloren. Ich stupste Tony mit meiner Krücke an der Schulter an, und er verstand den Wink, erhob sich ebenfalls und setzte sich zwischen Jack und die Tür. »Setzen Sie sich, Mr. Roxford«, sagte Lord Ferth mit Autorität, und nach kurzem Zögern gehorchte Jack langsam. »Das ist doch Unsinn«, sagte er protestierend. »Ich habe Kellys Wagen nicht angefaßt. Kein Mensch hätte diesen Unfall arrangieren können.« »Daß ich von einem Zug gerammt werde, haben Sie nicht voraussehen können«, stimmte ich zu, »aber irgendeinen Unfall schon.« »Aber Grace...« begann Tony, immer noch verblüfft. »Grace«, sagte ich nüchtern, »hat in fast jeder Hinsicht Eigenschaften an den Tag gelegt, die das genaue Gegenteil des Menschen sind, der Cranfield und meine Sperre eingefädelt hat. Grace war maßlos, voller Beschuldigungen, unbeherrscht
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und emotional. Die Planung, die zu unserer Sperre führte, war kühl, sorgfältig, effizient und brutal.« »Verrückte sind sehr gerissen«, wandte Tony zweifelnd ein. »Es war nicht Grace«, sagte ich nachdrücklich. »Es war Jack.« Kurzes Schweigen trat ein. Dann sagte Jack in lauter werdendem Jammerton: »Warum hat sie heute morgen bloß zu Cranfields gehen müssen? Warum hat sie keine Ruhe geben können?« »Das hätte auch nichts mehr genützt«, sagte ich, »da habe ich nämlich schon gewußt, daß Sie es waren.« »Das ist unmöglich.« Ferth räusperte sich. »Ich denke... äh... Sie sollten uns sagen, Kelly, welche Gründe Sie für diese sehr ernsten Anschuldigungen haben.« »Angefangen hat es damit«, sagte ich, »daß Dexter Cranfield Edwin Byler überredet hat, seine Pferde aus Roxfords Stall zu nehmen und sie ihm zu schicken. Zweifelsohne hat Cranfield, wie von Grace behauptet, Byler überzeugt, daß er als Trainer gesellschaftlich mehr gilt als Roxford. Gesellschaftliches Ansehen bedeutet sehr viel für Mr. Cranfield, und er glaubt vermutlich, daß das bei jedem anderen genauso ist. Und was Edwin Byler angeht, hatte er damit höchstwahrscheinlich recht. Aber Jack hatte Bylers Pferde schon trainiert, seit der sein erstes gekauft hatte, und in dem Maße, wie Bylers Vermögen und Lot größer wurden, nahmen auch Jacks Wohlstand und Prestige zu. Byler zu verlieren war für ihn die totale Katastrophe. Ein Rückfall ins Nichts. Das absolute Ende. Jack ist kein schlechter Trainer, aber er hat nicht die Persönlichkeit, um in die Spitze aufzusteigen – jedenfalls nicht ohne einen glücklichen Zufall, ein Himmelsgeschenk, wie Byler. Und einen Byler findet man nur einmal im Leben. Deswegen habe ich mir praktisch von Anfang an Gedanken über Jack gemacht; sobald Cranfield mir zwei Tage nach der Verhandlung gesagt 247
hat, Byler habe seine Pferde zu ihm schicken wollen. Mein Bedauern darüber, daß ich sie nicht würde reiten können, war nämlich ungeheuer stark... und mir ging auf, daß das nichts war verglichen mit dem, was Jack empfunden haben würde, wenn er sie verloren hätte.« »So schlimm war es auch wieder nicht«, sagte Jack dumpf. »Ich war unvoreingenommen«, sagte ich, »weil Pat Nikita ein ganz ähnliches Motiv hatte, nur andersherum. Er und Cranfield können sich nicht ausstehen. Er versuchte schon seit Jahren, Kessel von Cranfield loszueisen, und eine Möglichkeit wäre gewesen, dafür zu sorgen, daß Cranfield gesperrt wird. Dann gab es noch verschiedene Leute mit unbedeutenderen Motiven, zum Beispiel Charlie West, der gehofft haben könnte, Squelch für Nikita zu reiten, wenn ich aus dem Weg wäre. Und es kam durchaus auch jemand ganz anderer in Frage, jemand, auf den ich noch nicht gestoßen war und dessen Motiv ich nicht einmal ahnen konnte.« »Warum also muß es Mr. Roxford sein?« fragte Ferth. Ich zog das Papier, das Teddy Dewar mir geschickt hatte, aus der Tasche, reichte es ihm und erklärte, was es damit auf sich hatte. »Hier sieht man eine direkte Verbindung zwischen Oakley und den Leuten in den Kreisen. Einer dieser Leute ist Jack Roxford. Er hat also von Oakleys Existenz gewußt. Er hat gewußt, daß Oakley sich bereit finden würde, gefälschtes Beweismaterial zu liefern.« »Aber...« begann Lord Ferth. »Ja, ich weiß«, sagte ich. »Das ist nur ein Indiz. Dann gibt es noch diese Namensliste von George Newtonnards.« Ich gab ihm die Liste und zeigte mit dem Finger darauf. »Das sind die Leute, die mit Sicherheit wußten, daß Cranfield bei Newtonnards auf Cherry Pie gesetzt hatte. Auch das ist kein eindeutiger Beweis, denn es können ja noch andere Leute Bescheid gewußt haben, die nicht auf der Liste stehen. Aber 248
dieser Mann« – ich deutete auf den Namen in Herbie Subbings’ Liste von Kontaktpersonen – »dieser Mann ist Grace Roxfords Bruder, Jacks Schwager.« Ferth sah mich mit geradem Blick an. »Sie haben sich viel Mühe gemacht.« »Sie ist mir von Teddy Dewar und seinem Bekannten und von George Newtonnards abgenommen worden.« »Die allerdings auf Ihren Vorschlag hin tätig wurden.« »Ja.« »Noch etwas?« »Tja«, sagte ich. »Da sind noch diese sauber getippten Seiten voller Beschuldigungen, die an Lord Gowery geschickt wurden. Übrigens ganz untypisch für Grace. Wir könnten die Schrift mit der von Jacks Schreibmaschine vergleichen... Schreibmaschinen sind ungefähr so individuell wie Fingerabdrücke. Dazu hatte ich bisher noch keine Gelegenheit.« Jack blickte wild auf. Die Sache mit der Schreibmaschine leuchtete ihm ein. Die Bedeutung der Listen war ihm entgangen. Ferth sagte langsam: »Ich habe vom Sekretariat der Stewards den Brief erhalten, in dem man sie darauf aufmerksam gemacht hat, daß jemand trotz Lizenzentzug in einem Rennstall wohnt. Soweit ich mich erinnere, ist die Schrift die gleiche wie bei den ursprünglichen Beschuldigungen.« »Sehr gehässig, das«, sagte ich. »Sieht eher Grace ähnlich. Rachsüchtig und nicht sehr sinnvoll.« »Ich habe nie an das Sekretariat der Stewards geschrieben«, sagte Jack. »Und Grace?« Er schüttelte den Kopf. Vielleicht wußte er nichts davon. Es war auch nicht sonderlich wichtig. Ich sagte statt dessen: »Ich habe heute morgen einen Blick in Jacks Wagen geworfen, als
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er in Mr. Cranfields Haus war. Er hat eine riesige Werkzeugausrüstung darin, darunter auch einen Handbohrer.« »Nein«, sagte Jack. »Doch. Und Sie haben außerdem einen alten grauen Volkswagen, das Auto, das Grace heute gefahren hat. Dieses Auto hat mein Mechaniker gesehen, als Sie die Überreste meines Wagens untersucht haben. Wahrscheinlich haben Sie gehofft, Sie könnten etwaige verräterische Stücke mit Bohrlöchern beseitigen, aus denen die Versicherung auf einen Mordversuch hätte schließen können, aber Derek war vor ihnen da. Und Sie sind ihm entweder gefolgt oder Sie haben in der Werkstatt gefragt, ob er irgendein Wrackteil mitgenommen hat, denn Sie haben David Oakley in meine Wohnung geschickt, um es zurückzuholen. Oakley hat nicht gewußt, welche Bedeutung das Stück hatte, nach dem er suchte. Ein Stück Metall mit einem Loch darin. Mehr hat er nicht gewußt. Er war da, um sich ein Honorar zu verdienen.« »Hat er es gefunden?« fragte Ferth. »Nein, ich habe es immer noch. Kann man einen Bohrer einem ganz bestimmten Loch zuordnen?« Ferth wußte es nicht. Jack sagte kein Wort. »Als Sie auf dem Ball gehört haben«, fuhr ich fort, »daß ich versuchen will herauszufinden, wer Cranfield und mich hereingelegt hat, haben Sie beschlossen, mich aus dem Weg zu räumen, um mir zuvorzukommen. Denn falls ich es schaffte, würden Sie viel mehr verlieren als Bylers Pferde. Also haben Sie sich, während ich mich mit Lord Ferth unterhalten und mit Roberta getanzt habe, nach hinten auf den Parkplatz verfügt und Ihre Falle zusammengebastelt. Und das«, fügte ich ruhig hinzu, während ich mich an den schreienden Schmerz der Luxationen erinnerte, »kann ich nur schwer verzeihen.« »Ich dreh ihm den Hals um«, blaffte Tony grimmig. Ich schüttelte den Kopf. »Was mit ihm passiert, hängt von Lord Ferth ab.« 250
Ferth sah mich mit geradem Blick an. »Sie finden ihn. Ich nehme ihn mir vor.« »Das war die Vereinbarung.« »Und zwar so, daß Sie damit zufrieden sind.« »Ja.« »Und womit sind Sie zufrieden?« Ich wußte es nicht. Tony rutschte unruhig hin und her und sah auf seine Uhr. »Lord Ferth, Kelly, es tut mir leid, aber ich habe für das letzte Rennen noch ein Pferd zu satteln... ich muß jetzt gehen.« »Ja, selbstverständlich«, sagte Lord Ferth. »Aber wir wären Ihnen alle sehr verbunden, wenn Sie über das, was Sie hier drinnen erfahren haben, Stillschweigen bewahren würden.« Tony machte ein verblüfftes Gesicht. »Klar. Wenn Sie meinen. Kein Wort.« Er ging zur Tür. »Bis später dann«, sagte er zu mir. »Alter Geheimniskrämer.« Als er hinausging, kam plaudernd eine Gruppe Stewards mit Frauen zum Tee herein. Lord Ferth ging zu ihnen hinüber und brachte die blitzenden Augen zum Einsatz, worauf sie allesamt den Rückwärtsgang einlegten. Ein hinter ihnen aufgetauchter Kellner wurde mit der Anweisung, sämtliche Gäste zur Teestube der Mitglieder zu schicken, vor der Tür postiert. Während dieser Vorgänge hielt Jack den Blick unverwandt auf die Tischdecke gerichtet und sagte kein Wort. Mir war auch nicht nach einem unverbindlichen Geplauder mit ihm zumute. Er hatte mich zuviel gekostet. Lord Ferth kam energischen Schritts zurück und setzte sich. »Also, Roxford«, sagte er in seinem geschäftsmäßigsten Ton, »Sie haben Kellys Anschuldigungen gehört. Jetzt ist es an Ihnen, sich zu verteidigen.« Jack hob langsam den Kopf. In den gewohnten tiefen Sorgenfalten stand Schweiß. »Es war jemand anders.« Seine Stimme war tot.
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»Es war mit Sicherheit nicht Grace«, sagte ich, »denn laut Lord Gowery war es eindeutig ein Mann, der versucht hat, ihn telefonisch zu erpressen.« Und die Person, die Charlie West bestochen hatte, war ebenfalls ein Mann gewesen – jedenfalls hatte er das behauptet. Jack Roxford zuckte zusammen. »Ja, Roxford, wir wissen von Lord Gowery«, sagte Ferth. »Sie können unmöglich...« »Sie gehören demselben Club an«, sagte ich mit Bestimmtheit, als wüßte ich es. Auch bei Jack Roxford war der Gedanke an den Club der Hebel, der die Schleusen öffnete. Wie schon Lord Gowery sank er zu einem Häufchen Elend zusammen. »Sie verstehen das nicht...« »Dann erklären Sie es uns«, sagte Ferth, »und wir versuchen es.« »Grace... wir... ich... Grace wollte nicht...« Seine Stimme versagte. Ich half ein wenig nach. »Grace mochte natürlichen Sex und wollte bei dem, was Sie wollten, nicht mitmachen.« Er schluckte. »Wir hatten schon kurz nach unserer Heirat ständig Krach, und das hat mir schwer zu schaffen gemacht. Ich liebe sie, wirklich. Ich habe sie immer geliebt. Dabei war ich... völlig durcheinander... sie hat nicht begriffen, daß ich sie nur aus Liebe geschlagen habe... sie hat gesagt, sie verläßt mich und läßt sich wegen Grausamkeit von mir scheiden... da habe ich mich an ein Mädchen gewandt, das ich kannte... ein Straßenmädchen, dem das nichts ausgemacht hat... ich meine... sie hat einen gelassen, wenn man genug bezahlt hat... wenn ich weiter zu ihr hätte gehen können... aber sie hat gesagt, sie macht das jetzt nicht mehr, es gebe allerdings einen Club in London... da bin ich dann hingegangen... und es war eine ungeheure Erleichterung... ich habe mich auch wieder mit Grace verstanden... natürlich haben wir nicht mehr... oder 252
jedenfalls kaum noch... aber irgendwie... konnten wir verheiratet bleiben.« Lord Ferth machte ein angewidertes Gesicht. »Ich konnte es zuerst nicht glauben«, sagte Jack etwas zusammenhängender, »als ich Lord Gowery dort gesehen habe. Ich habe ihn auf der Straße gesehen, direkt davor. Ich habe gedacht, es wäre nur ein Zufall. Aber dann, eines Abends, im Club, war ich mir sicher, daß er es war, und später habe ich ihn dann noch mal auf der Straße gesehen... aber ich habe nichts gesagt. Wie konnte ich denn? Und außerdem habe ich gewußt, wie ihm zumute war... dort geht man nur hin, wenn man muß... und wegbleiben kann man nicht.« »Wie lange wissen Sie schon, daß Lord Gowery in denselben Club geht?« fragte ich. »Ach... zwei, drei Jahre. Schon lange. Ich weiß es nicht genau.« »Hat er auch gewußt, daß Sie Mitglied sind?« »Nein. Er hatte keine Ahnung. Ich habe auf der Rennbahn ein-, zweimal mit ihm über offizielle Dinge gesprochen... Er hatte keinen Schimmer.« »Und dann«, sagte Ferth gedankenvoll, »haben Sie gelesen, daß er als Vertreter von Colonel Midgeley zum Leiter der Verhandlung gegen Cranfield und Hughes ernannt wurde, und darin haben Sie eine gute Chance gesehen, Cranfield aus dem Rennsport hinauszudrängen und Bylers Pferde zu behalten.« Jack saß zusammengekrümmt auf seinem Stuhl und bestritt es nicht. »Und als Lord Gowery sich nicht erpressen ließ, haben Sie die Idee trotzdem weiterverfolgt und sich daran gemacht, Belastungsmaterial zu fabrizieren, um Ihre Ziele zu erreichen.« Langes Schweigen. Dann sagte Jack mit belegter, abgerissener Stimme: »Grace ist es so entsetzlich nahegegangen... daß Cranfield uns die Pferde wegnimmt... sie hat unentwegt davon geredet... morgens, mittags und abends. 253
Konnte gar nicht mehr aufhören. In einer Tour ging das. Daß sie Cranfield umbringen wollte... und solche Sachen. Ich meine... sie war schon immer ein bißchen nervös... ein bißchen überspannt... aber Cranfield hat sie aufgeregt... Ich habe ihretwegen manchmal ein bißchen Angst gekriegt, so heftig hat sie auf ihn reagiert... Eigentlich war das der Grund, warum ich erreichen wollte, daß Cranfield gesperrt wird... besser gesperrt, als daß Grace versucht, ihn umzubringen.« »Haben Sie ernsthaft geglaubt, daß sie es versuchen würde?« fragte ich. »Sie hat unentwegt davon geredet... ich wußte nicht, ob sie’s wirklich tun würde, aber ich habe solche Angst gehabt... ich wollte nicht, daß sie in Schwierigkeiten kommt... liebe, liebe Grace... ich wollte ihr helfen und alles wieder in Ordnung bringen... deshalb habe ich mich darauf eingelassen... und es war eigentlich gar nicht besonders schwer, als ich mich einmal dazu entschlossen hatte.« Ferth bedachte mich mit einem schiefen Lächeln, das ich mit einem ebensolchen erwiderte. Die Ehe, überlegte ich, konnte eine tödliche Institution sein. Graces Überspanntheit hatte sich durch die Belastung, die das Leben mit einem sexuell andersartigen Mann mit sich brachte, sicherlich verstärkt, und Jack hatte deswegen vermutlich Schuldgefühle gehabt und es wiedergutmachen wollen. Keiner von beiden war sehr vernunftbestimmt, und die ganze Situation hatte sich in ihrer engen Welt klaustrophobisch zugespitzt. Die endlosen Tiraden der lieben Grace hätten auch einen stärkeren Mann zu explosivem Handeln getrieben: Aber Jack konnte sie nicht verlassen, weil er bei seinen Pferden bleiben mußte, und er konnte sie nicht zum Teufel jagen, weil er sie liebte. Aus seiner Sicht war ihm, um Grace zum Schweigen zu bringen, nur die Möglichkeit geblieben, Cranfield zu ruinieren. »Warum ich?« fragte ich, darum bemüht, mir die Bitterkeit nicht anmerken zu lassen. »Warum auch ich?« 254
»Wie?« Er sah mich blinzelnd an, konzentrierte mühsam den Blick auf mich. »Sie... na ja... gegen Sie persönlich habe ich nichts... aber ich dachte, daß es nur so klappen kann... Cranfield hätte das Rennen schlecht manipulieren können, ohne daß Squelchs Jockey Mitwisser ist.« »Das Rennen war nicht manipuliert«, sagte ich. »Aber das weiß ich doch. Diese dummen Oxford-Stewards... trotzdem, sie haben mir eine so gute Gelegenheit verschafft... als ich erfahren habe, daß Lord Gowery die Verhandlung führt... und als ich dann mit Charlie West und Oakley alles klar gemacht hatte... hat mir Graces Bruder erzählt – und zwar ganz beiläufig, wohlgemerkt –, er hätte von seinem Buchmacher erfahren, daß Cranfield auf Cherry Pie gesetzt hat, und wissen Sie was? Da bin ich aus dem Lachen nicht mehr rausgekommen. Da ging’s mir tatsächlich wie Grace... zum Totlachen war das, daß er tatsächlich auf Cherry Pie gesetzt hat...« »Wie war das mit Charlie West?« fragte Ferth mit scharfer Stimme. »Ich habe ihn dafür bezahlt... daß er sagt, Kelly hätte Squelch zurückgehalten. Ich habe ihn angerufen und gefragt... ob Kelly jemals so etwas gemacht hätte... und er hat gesagt, Kelly hätte einmal, in einem Nachwuchs-Jagdrennen, gesagt: ›Okay, Jungs, Bremsen anziehen‹, da hab ich ihm gesagt, er soll aussagen, Kelly hätte das im Lemonfizz Cup gesagt, weil etwas, was Kelly wirklich gesagt hat, natürlich viel überzeugender wirkte...« Ferth sah mich vorwurfsvoll an. »Sie haben West geschützt.« Ich zuckte reumütig die Achseln. Jack achtete nicht darauf, hörte gar nicht zu. »Vor dem Ball ging es Grace gut«, fuhr er kläglich fort. »Sie war wieder wunderbar ruhig, nachdem Cranfield gesperrt worden war. Und dann hat Edwin Byler auch noch gesagt, wir würden seine Pferde für immer behalten... und wir waren 255
glücklich... auf unsere Weise... und dann haben wir mitbekommen, daß Kelly auf dem Ball war... und behauptet hat, er sei hereingelegt worden... und stehe kurz davor herauszufinden, von wem... und Grace hat Cranfields Tochter gesehen und war sofort wieder auf hundertzehn, fast so schlimm wie vorher... und ich habe gedacht... wenn Kelly tot wäre... käme alles wieder ins Lot...« Ferth schüttelte langsam den Kopf. Die Logik, die Jack Roxford von einem ungünstigen Schicksal Schritt für Schritt zum Verbrechen geführt hatte, war ihm unbegreiflich. »Ich dachte, er würde gar nichts spüren«, sagte Jack. »Ich dachte, daß man von Kohlenmonoxyd einfach ganz plötzlich bewußtlos wird. Ich dachte, es wäre so, als würde man einschlafen... er würde gar nichts merken. Nur eben nicht mehr aufwachen.« »Das Loch, das Sie gebohrt haben, war nicht groß genug«, sagte ich ohne Ironie. »Es ist nicht genug Gas auf einmal durchgekommen, um mich auszuknocken.« »Ich habe kein Rohr finden können, das groß genug war«, sagte er mit makabrer Nüchternheit. »Hab ein Stück nehmen müssen, was ich gerade bei der Hand hatte. Das war ein bißchen schmal. Daran lag das.« »Verstehe«, sagte ich ernst. So knapp. Ein paar Zentimeter von dem Expreßzug weg. Vier Millimeter mehr Rohrdurchmesser hätten schon gereicht. »Und hinterher haben Sie nach den Stücken vom Auspuffkrümmer gesucht?« »Ja... aber das wissen Sie ja schon. Ich war wütend auf Oakley, weil er’s nicht gefunden hat... er hat gesagt, er hätte versucht, Sie zum Sprechen zu bringen, aber ohne Erfolg... da hab ich ihm gesagt, das wundert mich nicht...« »Warum haben Sie ihn nicht beauftragt, mich umzubringen?« fragte ich sachlich.
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»Das wollte ich ja. Er hat gesagt, jemand umbringen, das macht er nicht. Er würde die Leiche beseitigen, wenn ich’s täte, aber den Job selber erledigen, das nicht. Es lohnt sich nicht, hat er gesagt.« Das hörte sich ganz nach Originalton Oakley an, direkt aus dem Munde des Ermittlers. »Und Sie konnten es nicht riskieren?« meinte ich. »Ich hatte überhaupt nicht die Chance. Ich meine... ich wollte Grace nicht so viel allein lassen... sie hat sich so aufgeregt... und dann waren Sie im Krankenhaus... und dann sind Sie in Ihre Wohnung zurückgekommen... und ich habe dann ja versucht, Sie aus der Wohnung rauszukriegen, damit ich an Sie rankomme...« »Also haben Sie doch ans Sekretariat der Stewards geschrieben«, rief Ferth aus. »Ja... aber da war es schon zu spät... es war ihr wirklich ernst damit... arme Grace, arme Grace... warum habe ich sie nur wegfahren lassen... dabei ging es ihr heute morgen doch viel besser... und jetzt... und jetzt...« Sein Gesicht verzog und rötete sich im Bemühen, nicht zu weinen. Der Gedanke an Grace, wie er sie zuletzt gesehen hatte, war zuviel für ihn. Er schniefte in ein Taschentuch. Ich fragte mich, wie ihm wohl zumute wäre, wenn er Grace so erlebt hätte, wie ich sie erlebt hatte. Aber die unkritische Liebe, die er für sie empfand, hätte wahrscheinlich auch das überstanden. »Bleiben Sie einen Moment da sitzen, Roxford«, befahl Lord Ferth, stand auf und bedeutete mir, mit ihm zur Tür hinüber zu gehen. »Was machen wir jetzt mit ihm?« fragte er. »Die Sache hat schon zu weite Kreise gezogen«, sagte ich widerstrebend, »um sich völlig unter den Teppich kehren zu lassen. Und er ist womöglich noch gefährlicher als Grace... Sie wird es überleben, und er wird sehr wahrscheinlich immer alles 257
unter dem Blickwinkel ihres Glücks sehen. Jeder, der sie auf irgendeine Weise schlecht behandelt, könnte als Opfer seiner Intrigen enden. Ruiniert... oder tot. Zum Beispiel Krankenschwestern... oder Verwandte... oder sogar Leute wie ich, die ihr überhaupt nichts getan haben. Jeder...« »Sie können sich offenbar in ihn hineinversetzen«, meinte Ferth. »Ich muß sagen, daß mir das nicht gelingt. Aber was Sie sagen, ist plausibel. Wir können ihm nicht einfach die Lizenz entziehen und es dabei bewenden lassen... das ist keine Rennsportangelegenheit mehr. Aber Lord Gowery...« »Lord Gowery muß es drauf ankommen lassen«, sagte ich ohne jede Genugtuung. »Sie können es höchstwahrscheinlich vermeiden, seinen Ruf kaputtzumachen... aber es ist viel wichtiger zu verhindern, daß Jack Roxford noch einmal das gleiche tut.« »Ja, das stimmt.« Er streckte die Hände in einer schiebenden Bewegung schräg von sich weg, als wolle er vor der Entscheidung zurückweichen. »Das Ganze ist so erschütternd.« Ich blickte zu Jack hinüber: ein zusammengesunkener, geschlagener Mensch mit nervösem Blick und besorgt gefurchter Stirn. Er zupfte mit den Fingern an der Tischdecke und knetete sie zu sinnlosen kleinen Falten. Er sah nicht wie ein Schurke aus. Kein Gewohnheitsverbrecher, sondern bloß ein hartnäckiger kleiner Mann mit der fixen Idee, an Grace wiedergutmachen zu müssen, daß er so war, wie er war. Nichts war sinnloser, als ihn ins Gefängnis zu stecken, und nichts konnte ihm stärker schaden: doch genau da würde er wohl landen. Seinen Körper in einen kleinen Käfig zu sperren würde den Knick in seiner Psyche nicht geradebiegen. Für Leute wie ihn war das System völlig abwegig. Er stand langsam auf und kam unsicher auf uns zu. »Sie werden wahrscheinlich die Polizei verständigen«, sagte er mit ausdruckslosem Gesicht. »Ich habe mir überlegt... bitte sagen Sie ihnen nichts von dem Club... ich sage auch nicht, daß 258
Lord Gowery dorthin geht... ich sage es keinem Menschen... ich wollte eigentlich gar nicht... es hätte ja auch gar nichts genützt, oder? Die Pferde wären sowieso nicht in meinem Stall geblieben... hätte überhaupt keinen Unterschied gemacht... es muß doch niemand von... dem Club erfahren, meinen Sie nicht auch?« »Nein«, sagte Lord Ferth mit gut verhehlter Erleichterung. »Das muß nicht sein.« Ein schwaches Lächeln machte mit seinen Runzeln flüchtig den Sorgenfalten Konkurrenz. »Danke.« Das Lächeln erstarb wieder. Der Ausdruck der Verlegenheit verstärkte sich. »Was meinen Sie... wieviel ich bekomme?« Ferth wand sich unbehaglich. »Darüber würde ich mir erst Gedanken machen, wenn Sie müssen.« »Sie könnten es wahrscheinlich halbieren«, sagte ich. »Wie?« Er machte sich auf mitleiderregende Weise Hoffnungen. Ich warf ihm ein Rettungsseil zu. »Indem Sie in einem anderen Prozeß aussagen, der mir vorschwebt, und David Oakley mit reinreißen.«
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TEIL III
Epilog März Gestern habe ich Breadwinner im Cheltenham Cup geritten. Ein Tier von seltenem Talent, das seine ganze Zukunft noch vor sich hat. Ein verwaschener Fuchs mit trottendem Gang, der den Kopf niedrig trägt. Nicht gerade der Inbegriff von Pferdeschönheit. Der alte Strepson sah ihm zu, wie er im Führring herumschlurfte, und sagte seufzend: »Er sieht aus, als schläft er halb.« »Hughes wird ihn schon aufwecken«, sagte Cranfield herablassend. Cranfield stand in der kalten Märzsonne und kehrte wie üblich gekonnt den Arroganten heraus. Die verkniffenen, berechnenden Linien um seinen Mund schienen sich im vergangenen Monat noch vertieft zu haben, und sein Verhalten mir gegenüber war, wenn überhaupt, noch distanzierter, noch herrenmäßiger, als je zuvor. Roberta sagte, sie habe ihm erzählt, daß ich es irgendwie geschafft hatte, unsere Lizenzen wiederzubeschaffen, aber er sah keinen Grund, ihr zu glauben, und bevorzugte den Gedanken eines göttlichen Eingreifens. »Kelly sagt«, meinte der alte Strepson im Plauderton, »daß Breadwinner ein spätes Fohlen und ein Spätentwickler war und seine wahre Leistungsstärke erst in ungefähr einem Jahr erreicht.« Cranfield bedachte mich mit einem schmallippig zurechtweisenden Blick und bemerkte offenbar gar nicht, daß ich ihm ein Alibi verschafft hatte, falls das Pferd nicht gewann, und daß er als erstklassiger Trainer dastand, falls es das doch tat. Was für eine niedrige Meinung er auch von mir hatte, ich erwiderte sie ohne Abstriche. 260
Ein Stück entfernt im Führring stand eine schweigende kleine Gruppe, die aus Kessel, Pat Nikita und deren Stalljockey Al Roach bestand. Ihr Pferd war der arme alte Squelch, und sie waren nicht so sehr darauf aus zu gewinnen, als vielmehr unter allen Umständen vor Breadwinner durchs Ziel zu gehen. Kessel selbst strahlte so viel Haß aus, daß er wahrscheinlich Kopfschmerzen davon hatte. Haß bewirkte das. An dem Tag, an dem ich das herausfand, gab ich das Hassen auf. Graces Haß-Kopfschmerzen mußten unerträglich gewesen sein. Ihre Gesundung war immer noch ungewiß. Irgendwie hatte Ferth den besten verfügbaren Psychiater für ihren Fall interessiert und außerdem dafür gesorgt, daß er auch Jack untersuchte. Bei meiner Ankunft hatte er mich vor der Waage kurz beiseite genommen und mir erzählt, was der Psychiater berichtet hatte. »Er sagt, Jack ist im rechtlichen Sinne zurechnungsfähig und wird sich vor Gericht verantworten müssen. Was Graces Chancen angeht, wolle er sich nicht festlegen. Er hat allerdings gesagt, daß die erzwungene Trennung der beiden in jeder Hinsicht ein Himmelsgeschenk war. Ihre einzige Chance, künftig ein halbwegs normales Leben zu führen, liege darin, eine totale und dauerhafte Trennung zu vollziehen. Eine Rückkehr zu den alten Verhältnissen könnte bedeuten, daß der ganze Kreislauf erneut in Gang kommt.« Ich sah ihn düster an. »Was für eine herzlose, traurige, deprimierende Lösung.« »Das weiß man nie«, sagte er optimistisch, »wenn sie erst einmal darüber hinweg sind, fühlen sie sich vielleicht beide... nun ja... befreit.« Ich lächelte ihn an. Er sagte abrupt: »Ihre Lebenseinstellung ist ansteckend, verdammt... Was ist denn nun mit dem vereinbarten Essen?« »Jederzeit.« 261
»Wäre Ihnen morgen recht? Acht Uhr. Im ›Caprice‹, gleich um die Ecke vom ›Ritz‹... das Essen ist dort besser als in meinem Club.« »Schön.« »Dann können Sie mir erzählen, wie die Polizei bei David Oakley vorankommt.« Ich hatte fast die ganze letzte Woche die Polizei von Birmingham am Telefon und auf meiner Türschwelle gehabt. Als ich mit genügend Beweismaterial für eine Anklage zu ihnen kam, wären sie mir beinahe schluchzend um den Hals gefallen und hatten später versprochen, mir – gerahmt – eine der ersten Früchte ihres Durchsuchungsbefehls zuzuschicken: einen zwei Jahre alten Brief von Cranfield an Jack Roxford, in dem er sich dafür bedankte, daß Jack auf einer Auktion nach einem Verkaufsrennen den Preis für ein von Cranfield ersteigertes Tier nicht in die Höhe getrieben hatte, und dem er einen Scheck über fünfzig Pfund beigefügt hatte. Unten auf die Seite hatte Cranfield geschrieben: Wie vereinbart. Danke. D. C. Es war der Brief, den Oakley in meiner Wohnung fotografiert hatte. Geliefert von Roxford, von dem die Idee mit dem Foto stammte. Aufbewahrt von Oakley, um etwas gegen Roxford in der Hand zu haben. Die Polizei hatte mir außerdem erzählt, Jack Roxford habe in den zwei Wochen vor der Verhandlung sechshundert Pfund in neuen Scheinen von seinem Konto abgehoben, und von diesem Geld habe David Oakley fünf Tage später dreihundert Pfund auf sein Konto einbezahlt. Der clevere, ausgebuffte Mr. Oakley hatte dem Vernehmen nach gesagt, es tue ihm leid, daß er Kelly Hughes nicht umgebracht habe. 262
Die Glocke gab das Zeichen zum Aufsitzen, und Cranfield, der alte Strepson und ich gingen zu Breadwinner hinüber. Als einziger Jockey von den Tagesereignissen ausgeschlossen blieb Charlie West, dem für den Rest der Saison die Lizenz entzogen worden war. Und er sei nur deshalb seiner gerechten Strafe entgangen und nicht lebenslang gesperrt worden, hatte Ferth ihm grimmig gesagt, weil Hughes sich für ihn verwendet habe. Ob Charlie West deswegen auch nur ein Gran Dankbarkeit empfand, war eine andere Frage. Ich schwang mich mühelos auf Breadwinner und setzte den rechten Fuß sorgfältig in den Steigbügel. Der Gips war aufgrund eines Kompromisses zwischen mir und dem Orthopäden vor sieben Tagen entfernt worden, aber der große Chirurg hatte mir folgende freundliche Abschiedsworte mitgegeben: »Sie haben dem Bein nicht genug Zeit gelassen, und wenn es wieder luxiert, dann ist das verdammt noch mal Ihre eigene Schuld.« Ich hatte ihm gesagt, ich könnte es mir nicht leisten, daß Cranfield für Breadwinner einen anderen Jockey engagierte, immerhin stünden sämtliche künftigen Rennen des Pferdes auf dem Spiel. Der alte Strepson war der dankbare Typ und wechselte einen Jockey, der für ihn gewonnen hatte, nicht aus; wenn ein anderer Jockey mit Breadwinner den Gold Cup gewänne, hätte ich zum letztenmal auf dem Pferd gesessen: erst dieses Argument hatte ihn veranlaßt, widerstrebend zur Säge zu greifen. Ich ordnete die Zügel und ließ das Pferd in ruhigem Schritt durch den Führring gehen, während sich alles zur richtigen Reihenfolge für die Parade über die Bahn sortierte. Vom Grand National abgesehen, war der Cheltenham Cup das größte Hindernisrennen des Jahres. Sämtliche Stars nahmen daran teil und trafen unter den gleichen Bedingungen aufeinander. Schlechte Pferde hatten keine Chance. 263
Es waren neun Pferde am Start. Breadwinner war das jüngste, Squelch das erfahrenste und ein übellauniger Grauer namens Ironclad der Favorit. Al Roach, von Kessel unbeeinflußt, schob sich am Start neben mich und bedachte mich mit seinem üblichen breiten und freundlichen irischen Grinsen. »Na, Kelly, Junge«, sagte er, »sag mir doch mal, wie du den Kleinen reitest.« »Willst du gesperrt werden?« Er schmunzelte. »Was hat’n der Besitzer gegen dich, Kelly Junge?« »Ich habe recht gehabt und er unrecht, und das kann er mir nicht verzeihen.« »Komischer Kerl ist das, dieser Kessel...« Die Bänder gingen hoch, und wir waren unterwegs. Dreieinviertel Meilen, einundzwanzig Hindernisse, zwei volle Runden um die Bahn. In der ersten Runde passierte nicht viel. Kein Pferd stürzte, kein Jockey kriegte den Rappel, und als wir an den Tribünen vorbei in die zweite Runde gingen, hätte ein größeres Laken alle zugedeckt. Die nächste Meile trennte die Männer von den Knaben, und das Feld zog sich zu einer unaufhaltsamen, donnernden, alle Kräfte aufbietenden Kolonne auseinander, in der Hoffnung, Schweiß und Taktik sich zu einem rasenden Mikrokosmos des Kampfes vermengten. Geschwindigkeit... Sprünge in halsbrecherischem Tempo... sich auf die Koordination des Pferdes verlassen... sich selbst bis zum Äußersten fordern... ein Rennen wie der Gold Cup zeigte einem, woraus man gemacht war... Kurz vor dem vorletzten Hindernis führte Ironclad mit drei Längen, die leicht auch zehn hätten sein können, vor Squelch und hatte alle Zeit der Welt, sich den Absprung passend zu machen. Squelch folgte ihm über das Hindernis, und vier Längen dahinter kämpfte Breadwinner um den dritten Platz.
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Zwischen den letzten beiden Hindernissen war die Reihenfolge unverändert. Breadwinner machte gegenüber Squelch und Squelch machte gegenüber Ironclad keinerlei Boden gut. Na gut, dachte ich resigniert. Dritter. Das war ja auch wirklich nicht übel für so ein junges Pferd. Man konnte schließlich nicht alles haben. Und außerdem gab es immer noch Pound Postage im Grand National, Samstag in vierzehn Tagen... Ironclad ging das letzte Hindernis an, sprang kraftvoll ab, überquerte das Birkenholz mit gut dreißig Zentimeter Luft unter sich... und fiel bei der Landung auf die Nase. Ich konnte es nicht glauben. Spornte Breadwinner mit jäh wiedererwachter Hoffnung an und trieb ihn zu dem Sprung seines jungen Lebens auf das letzte Hindernis zu. Squelch übersprang es natürlich als erster. Squelch, der trittsichere, auf den Punkt trainierte, vertraute alte Schurke... Ironie der Ironien, im Gold Cup von Squelch geschlagen zu werden. Breadwinner gab sein Bestes, um ihn einzuholen, und ich sah, daß Squelch wie im Lemonfizz vor Müdigkeit förmlich verhungerte. Länge um Länge verkleinerte mein schlaksiger Fuchs den Abstand und mühte, quälte, verausgabte sich, um vorbeizukommen... aber der Zielpfosten war zu nahe... es hatte keinen Sinn... es reichte nicht mehr... Al Roach wandte den Kopf, um festzustellen, wer ihm da im Nacken saß. Sah mich. Wußte, daß Breadwinner derjenige war, den er unter allen Umständen zu schlagen hatte. Geriet in Panik. Hätte er stillgesessen, hätte er mit zwei Längen Vorsprung gewonnen. Statt dessen griff er zur Peitsche und schlug Squelch zweimal auf die Flanke. Du Blödmann, dachte ich atemlos. Das kann er nicht leiden. Da bleibt er stehen. Er bleibt jedesmal stehen, wenn man ihn schlägt.
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Squelch schlug wütend mit dem Schweif. Sein rhythmischer Bewegungsablauf ging in ein Bocken über. Er warf heftig den Kopf hin und her. Ich sah Als verzweifeltes Gesicht, als Breadwinner ihn einholte... blitzartig huschte der Zielpfosten vorbei... und wir wußten beide nicht, wer gewonnen hatte. Laut Zielfoto lag Breadwinner um eine Nasenlänge vorn. Und wenn mich die Menge nach dem Lemonfizz ausgebuht hatte, so machte sie es nach dem Gold Cup wieder gut. Kessel war, wie nicht anders zu erwarten, knallrot vor Wut und schien fast zu platzen, als jemand laut bemerkte, daß Squelch mit Hughes im Sattel gewonnen hätte. Ich lachte. Kessel sah fast so mordlustig aus wie Grace. Der alte Strepson war vor Begeisterung ganz blaß, aber bei Cranfield ließ nicht einmal der Gold Cup erkennbar viel Freude aufkommen; später erfuhr ich, daß Edwin Byler ihm gerade gesagt hatte, er werde seine Pferde nun doch nicht zu ihm schicken. Graces Psychiater habe ihm geschrieben, Graces Gesundheit könne letztlich davon abhängen, daß Cranfield die Pferde nicht bekomme, und er, Byler, habe das Gefühl, er sei das den Roxfords schuldig... es tue ihm sehr leid, aber so sei es nun einmal. Roberta und ihre Mutter waren dagewesen und hatten Breadwinner im Absattelring getätschelt, und als ich zwanzig Minuten später in Straßenkleidung aus der Waage kam, lehnte Roberta dort an den Rails und wartete auf mich. »Du humpelst«, sagte sie ruhig. »Bin bloß nicht fit, das ist alles.« »Kaffee?« schlug sie vor. »Ja.« Gelassen ging sie vor mir her in die Kaffeestube. Ihr Kupferhaar leuchtete auch noch, als sie nicht mehr in der Sonne war, und mir gefiel der schlichte, naturfarbene Mantel, den sie dazu trug. 266
Ich holte ihr Kaffee, setzte mich zu ihr an einen kleinen Tisch mit Resopalplatte und betrachtete das von den Gästen vor uns hinterlassene Chaos: leere Kaffeetassen, Teller mit Krümeln, Zigarettenstummel und ein Bierglas, in dem noch etwas Schaum stand. Roberta schob das alles klaglos beiseite und ignorierte es dann. »Gewinnen und verlieren«, sagte sie. »Nur darum dreht es sich.« »Im Rennsport?« »Im Leben.« Ich sah sie an. Sie sagte: »Der Tag heute ist wunderbar, und das Gesperrtsein war schrecklich. So ist das wahrscheinlich mit allem... auf und ab... immerzu.« »Wahrscheinlich.« »Ich habe eine Menge gelernt seit der Verhandlung.« »Ich auch... über dich.« »Vater sagt, ich darf deine Herkunft nicht vergessen.« »Da hat er recht, das darfst du nicht.« »Vaters Psyche liegt in Fesseln. Seine Seele hat Gitterstäbe. Sein Kopf ist gerammelt voll mit Vorstellungen, die schon seit fünfzig Jahren veraltet sind.« Sie ahmte mit übertriebener Gespreiztheit meine eigenen Worte nach. Ich lachte. »Roberta...« »Bitte sag mir eins...« Sie zögerte. »An dem Bahnübergang... als du mich Rosalind genannt hast... wolltest du da sie?« »Nein«, sagte ich langsam, »dich... an ihrer Stelle.« Sie seufzte zufrieden. »Dagegen ist ja nichts einzuwenden«, sagte sie. »Oder?«
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