Lieh« Jungen und Mädchen, kennt ihr eigentlich das Liederbuch der deutJugend
Leben - Singen - Kämpfen 9. Auflage
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Lieh« Jungen und Mädchen, kennt ihr eigentlich das Liederbuch der deutJugend
Leben - Singen - Kämpfen 9. Auflage
•
Mit Holzschnitten von
Ursula Wendorff-Weidt
•
356 Seiten
Ganzleinen 3,50 DM
In diesem Buch findet ihr bekannte Hymnen, Volkslieder, Kampf-, Sport-, Scherz- und Liebeslieder wie „Jugend aller Nationen", „Für den Frieden der Welt", „Auf, du junger Wandersmann", ..Im Frühtau zu Berge", „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit", „Sonne, Sonne, scheine heller", „All mein'' Gedanken", ..Liebchen, gute Nacht" und viele andere. — Der Anhang des Buches enthält Hinweise für den Singegruppenleiter. Wenn ihr auf Fahrt geht oder wandert, dann denkt daran: Das Liederbuch gehört dazu! Was wäre eine Wanderung ohne Gesang?! Euer
Verlag
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B E R N H A R D FAUST
Paez, General der Lianeros
VERLAG N E U E S L E B E N B E R L I N 1960
Als Bolivar, der Befreier Südamerikas, 1819 in Kolumbien einrückte, diente in seiner Kavallerie ein gewisser Jose Antonio Paez. Dieser Paez, der aus ärmlichsten Verhältnissen stammte, hatte mit fünfzehn Jahren in der Nötwehr einen Mann erschlagen und mußte aus "Barinas, seiner Vaterstadt am Fuß der Kordilleren, ins Weidegebiet am Orinoko flüchten. Bei den Bewohnern dieser stets von Überschwemmungen bedrohten Ebene, der Llanos, fand er einen Unterschlupf; bis zu den Hirtenvölkern der Wildnis reichte der Arm des spanischen Königs nicht, da fanden Raub und Willkür ein Ende, und es herrschten andere Gesetze. Es wäre nichts zu gewinnen gewesen außer Kampf, hätte man die Menschen jener Gegend unterjochen wollen, wo nur abgesteckte Pfähle im Hochgras die Pfade bezeichneten. Die Hirten, Tag und Nacht bei ihren Pferden und mit ihnen so verwachsen, als wären Reiter und Tier ein Wesen, das durch die Wildnis braust, hüteten ihre scheinbare Freiheit und Unabhängigkeit mit der Entschlossenheit von Verzweifelten. Freilich mußten sie dankbar sein, daß die Besitzer der Herden, die sie wie ihre eigenen weideten, von Zeit •^u Zeit Beauftragte in die Ebene
sandten, die ihnen Felle und Talg, ihre Erzeugnisse, gegen minderwertige Waren und geringen Lohn abnahmen. Doch diese Abhängigkeit erschien ihnen wie ein unabänderliches Schicksal. Als Paez, trotz seiner Jugend von großer Gestalt und von einer für sein Alter unglaublichen Körperkraft, dieses Land betrat und hier eine Zuflucht suchte, herrschte infolge der Wirtschaftskrise nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon auch unter den Lianeros bitterste Not. Das Vieh mußte abgeschlachtet werden, ohne daß sich jemand gefunden hätte, der Feile und Talg zu kaufen begehrte Aber die Pächter mußten ihre volle Pacht weiterzahlen, die Hirten bekamen kaum noch Lohn von den Großgrundbesitzern in der Stadt, und die Aufseher. ä\e hier und da verstreut saßen wie fette Schmeißfliegen, begannen sich vor den Halbverhungerten durch Leibwachen und wehrhafte Mauern zu sichern. Paez genoß zwar überall Gastfreundschaft, gegen Arbeit, doch überall gab man ihm deutlich zu verstehen, daß er sich bald wieder davonmachen möchte. So irrte er meist heimatlos durch diese ungeheure Steppe, die erfüllt ist von Gefahren und die sich aufs Gemüt legt durch ihra Menschenleere und gleich förmige i
Einsamkeit. Völlig erschöpft schleppte sich Antonio, schon schwankend vor Hunger, zu einem Rancho, der Hütte einer Farm, durch deren halbzerfaliene Lehmwände die Windstöße pfiffen. Der Pächter dieser Farm, ein ehemaliger Schmuggler und entlaufener Zuchthäusler, ließ eher - das stellte sich bald heraus - einen Menschen verrecken denn ein kostbares Stück aus seiner Viehherde. Dieser Mann, ein Riese mit welligem Haar und von brauner Hautfarbe, ohne Zweifel ein Mestize, drehte ihm den Rücken zu und kaute an einem' getrockneten Salzfieischriemen, wozu er als Beikost einen faden Brotkuchen aus Kassawawurzeln aß. Ohne daß er Paez einer Antwort würdigte, führte er sein Mahl zu Ende, trank dazu schluckweise, in genußvollen Absätzen, aus einer Tonkanne, wendete sich gemächlich um, als habe er erst jetzt von der Anwesenheit eines Fremden Kenntnis genommen, und musterte Paez aus scharfen, tückischen Augen. Der Junge, der da vor ihm stand, war in seinem Äußeren nicht gerade vertrauenerweckend: barfuß, in zerrissener Hose, zerrissenem Hemd, mit zerbeultem Strohhut. Keine Miene in dem ledernen Gesicht des Mestizen verriet, ob er Anstoß genommen hatte an diesen äußeren Kenn4
zeichen eines Lumpenproletariers aus dem Kehricht der südamerikanischen Hafenstädte. Ein Blick genügte, und er wußte, dieser da war irrsinnig vor Hitze und Fieber und Verlassenheit. Er taumelte, er winselte unter dem brennenden Gefühl in seinem Magen. Widerwillig knurrte der Farmer, „dieser da" könne sich ein Stück Brot verdienen, falls er einen ungesattelten Hengst zu reiten vermöge. Antonio nickte fast teilnahmslos, wie er jeder Bedingung zugestimmt hätte, nur um ein Stück Tassajo auf der Zunge zu spüren und seinen Heißhunger mit diesem Trockenfleisch zu stillen. Daraufhin griff der Mestize nach einem Lasso, winkte stumm, und Paez folgte ihm, vor seinen Augen die Sonne in drehenden, schäumenden Riesenwirbeln und -kreisen. Wie in einem Traum sah Antonio die rollenden Augen des Hengstes vor sich, das wie lachend fletschende Gebiß, und wäre er gesund gewesen, ihn hätte die Wut gepackt über seine verächtliche Lage. Aber ihn fror, das verschleppte Fieber weckte Angstgefühl in ihm, und er wußte, Todesangst in sich, daß er auf sein Verderben zuwankte. Vielleicht dirigierte der hagere rostbraune Satan wie aus Spaß das Teufelsvieh an seinem Lasso, damit er den hergelaufenen jun-
gen Burschen mürbe bekam für seine Zwecke. Dabei wußte Paez, daß es gefährlich war, unmittelbar vor die Augen des gereizten Tieres zu treten. Er versuchte es von der Seite her zu gewinnen und die Kruppe mit ihrem wulstigen Haarbüschel zu erfassen. Er wußte nicht, wie es ihm gelungen war, aber plötzlich hing er daran, ohne daß er die Kraft
besessen hätte, sich auf den Rükken zu schwingen. Hilflos baumelte er daran, und zu seiner Bestürzung begann das Pferd im Kreis dahinzujagen, im weiten Bogen um den haarigen Mann mit seiner mörderischen Roheit und brutalen Gewissenlosigkeit. Wenn ich mich fallen lasse, zerstampft mich das Biest, dachte der geschundene Junge. Doch 5
entsprang dieser nebelhafte Gedanke eher dem Gefühl als der Erkenntnis. Wie ein zähneknirschendes Wimmern waren Erkennen und Erfassen. Begriff und Wort in Gehirn und Kehle stekkengeblieben: „Das Biest! Das Biest! ..." Und wie weit von sich abgerückt fühlte er die Bewegungen des jagenden Tieres und roch dessen warmen Fellgeruch. Die Grassteppe löste sich wie wallender Nebel auf, in dem andere Pferde, Pferderücken an Pferderücken, wie dunkle Geisterschemen dahinschwebten, empor in die Sonnenglut und rauschend hernieder in die Abgründe der Tiefe. In seinen Ohren rauschte ein Meer, und er wußte: Jetzt lasse ich mich fallen, in den Tod niederfallen! Aber er ließ sich nicht zur Erde fallen; wie in einem Krampf blieben seine Hände in das schweißnasse Fell geklammert. Er glaubte sich noch festzuhalten, auf und nieder zu schweben, gleichsam an die Wolken zu stoßen und in das Erdinnere zu sinken, als er längst zu Boden geglitten und aufgenommen war von barmherziger Ohnmacht. Wie hätte er wissen können — und er hat es erst viel später erfahren —, daß sich der Riese über ihn beugte und lächelnd die Zähne entblößte in gefühl- und mitleidloser Despotenlust. Es war nicht, als habe
man eine Stimme gehört — es war, als raschle der Wind im Gras: „Dich werde ich schon kirre kriegen." Und es grollte wie ein abziehendes Gewitter: „Du wirst mir noch aus der Hand fressen, Bengel!" — Er bekam ihn unter die Fuchtel, mit Leichtigkeit, und hielt ihn, wenn es ihm beliebte, gleichsam am Lasso wie sein Pferd. Die Rettung, durch die er Antonio Paez einem Dasein voller Gefahren und Unterdrückungen überantwortete, erwies sich als eine Gnadenfrist, von Tag zu Tag mit der Drohung verbunden, er werde ihn über den Haufen schießen. Später, als sich Paez gekräftigt fühlte, wurde sein Aufenthalt ein gegenseitiges Sichbelauern; jede Schwäche des andern hätte unbarmherzig zu Mord und Tod geführt. Indessen gab es auch Zeiten, da sie sich leidlich vertrugen wie zwei gefangene Raubtiere. Das war, wenn der Orinoko über die Ufer trat und die Ebene in ein Meer verwandelte. Dann mußten sie sich und das Vieh retten, und die Messer und Pistolen blieben im Gürtel. Bis zu dieser fragwürdigen Bindung, da sie sich aneinander gewöhnt hatten, der Herr und sein Kettenhund, dauerte es noch eine gute Weile. Vorerst lag Paez draußen im Gras und fieberte;
starb er — gut, wenn nicht, dann hatte der lederhäutige Riese einen Gefährten für seine Einsamkeit gefunden, einen Sklaven in der Armut und Bedürfnislosigkeit. Aber der Riese tat nichts, was dem Fieberkranken auf die Beine geholfen hätte, lediglich daß er ihm zuweilen ein Stück Brotfladen hinüberwarf ins Gras. Er ließ Antonio niemals in seine Lehmhütte, teils aus Bosheit, teils aus Angst, sein Sklave könne sich des Nachts über ihn stürzen. Paez achtete dieses Verbot, nachdem er sich überzeugt hatte, daß sich hinter der bröckligen Mauer, worin Spinnen, Schaben und Ameisen ihrem gefräßigen Fleiß frönten, kein Wertgegenstand und Geheimnis befand als ein rohgezimmerter' Tisch mit etlichen Stühlen und einer wackligen Bank. In einer Ecke lag die Matte, mit Palmblättern zur Liegestätte hergerichtet. Natürlich hatte ihm der Mestize die Waffen abgenommen, das Buschmesser und eine Pistole, und Antonio ließ es geschehen. Er war dankbar, daß die Regenzeit spät eintrat. Wäre sie jetzt schon hereingebrochen, hätte ihn sein Herr unweigerlich liegenlassen, nur um die Herde zu retten, und Antonio wäre in den Fluten umgekommen. So wartete er, bis ein Stück Brot herüber-
flog, verkroch sich am Morgen vor der Sonne dichter ins Gras und torkelte vor der einsetzenden Nachtkälte bis in die Nähe der Hütte. Wenn sein Herr früh zur Herde ritt, ihm androhend, er werde ihn erschießen, falls er noch lange schmarotze, war er ein freier Mann und konnte, sobald er sich auf den Beinen zu halten vermochte, auf „Diebstahl" ausgehen. Denn irgend etwas zu nehmen, sich anzueignen, und sei es nur Steppengras, werde er, hatte der Riese in seiner knurrigen Sprechweise gesagt, mit dem Tode bestrafen. Tatsächlich gebrauchte er dieses Wort, als sei er Gesetzgeber und Richter in einem, und vermutlich hielt ihn nur die auch ihn quälende Einsamkeit zurück, die Drohung wahrzumachen, wozu er wahrscheinlich mehr als einmal Gelegenheit gefunden hätte. In Antonio erwachte, als das Fieber den Höhepunkt überschritten hatte, mit aller Macht der Lebenstrieb, und es drängte ihn, an dem Tagwerk seines Herrn teilzunehmen. Es langweilte ihn, stundenlang im Gras zu liegen und in den farblos glühenden Himmel zu starren. Auch machte ihm die Neugier zu schaffen und verlockte ihn, zu erfahren, wohin der Riese jeden Morgen ritt. Früh holte er sich ein Pferd von der Weide, und ?
hinweg war er; das Gras verschlang ihn, der gewaltige Horizont. Alle vorhandenen Waffen trug er stets bei sich; vielleicht hatte er andere in seiner Hütte vergraben Es war durchaus möglich, daß diese kahlen vier Wände noch andere Geheimnisse bargen, doch vorläufig gelüstete es Antonio nicht danach, sie zu erfahren; er sehnte den Tag herbei, wo ei dem Nichtstun, dieser mörderischen Langweile entrinnen konnte, der Monotonie aus Gras und Himmel. Zum Glück sehnte er sich nicht vergebens danach. In einem Anfall einer beinahe menschlischen Rührung brachte der Mestize eines Morgens ein Lasso mit und zeigte Antonio das Auswerfen und Einholen. Tagelang hatte der Gerettete nun Muße, diese Kunst zu üben, doch beachtete er dabei die Vorsicht, den Fortschritt seines Könnens nicht völlig zu verraten und preiszugeben. Wie eine Prüfung ergab, zeigte sich der knurrende Riese bald mit Antonios Können zufrieden, und sofort, nachdem er die Brauchbarkeit seines Gastes festgestellt hatte, hieß er ihn ein Pferd besteigen. Ungesattelt — das Spiel auf Leben und Tod mit dem halbwilden Tier begann abermals, wobei Antonio vor Angst bald alle Krankheit aus dem Leibe schwitzte.
Es war, immer unter Hinzufügung höhnischer Drohungen durch den Mestizen, „vereinbart" worden, daß Antonio demnächst „mitreiten sollte", das heißt zur Herde hinaus in die Steppe. Er freute sich schon darauf, begierig nach Gesellschaft; beinahe hatte er zu sprechen verlernt, und das ständige Mißtrauen, die hfclbe Todesgefahr, in der er sich als Gefährte des Mestizen befand, machte ihn selbst verschlossen und zwang ihn, auf der Hut zu sein. Aber er kam nicht dazu, an dem Glück und friedlichen Geschick teilzunehmen, das ihn wieder zu den Menschen, in menschliche Gesellschaft zurückgeführt hätte. Eines Abends blieb der Mestize weg, so daß Antonio haushalten mußte mit seinem Vorrat an Fleisch und Brotkuchen. Wieviel durfte er davon verzehren, wann kam der geheimnisvolle Herr dieser Vorräte wieder, und kam er überhaupt je zurück? Die Verlockung war groß, ein Pferd zu nehmen und zu fliehen - wohin? Er wußte es nicht, und vielleicht wäre er eher entdeckt, verfolgt, eingeholt und als Dieb verurteilt und aufgehängt worden, als er zu vermuten wagte. Stundenlang ritt er in die Grassteppe und musterte den ewig gleichbleibenden Himmel. Nur an den Orinoko wagte er sich
nicht — von dort war er gekommen, als Flüchtling auf einem gestohlenen Boot, als ein Verfolgter auf der Flucht. Dort ging es zurück in die Städte und ihre zweifelhafte Zivilisation, ihre Gerichte. Halb gezwungen ordnete er sich deshalb dem Gesetz der Lianeros und der menschenarmen Einsamkeit der Ebene unter. War sein Herr — er nannte ihn abwechselnd „der Alte" oder „der Schurke" - vielleicht auch in diese Einöde geflüchtet, um Konflikten zu entgehen, in die er, ein so gewalttätiger Mann,hineingeraten war? Zu seiner Überraschung wurde Paez eines Tages von Stimmen geweckt. Es war der Mestize, und in seinem Gefolge sah Antonio draußen fünf Reiter. Eigenmächtig hatte er jetzt von dem Rancho Besitz ergriffen; er schaltete und waltete innerhalb der vier Wände nach Belieben und fühlte nicht ohne Stolz, daß er über Reichtümer verfügte, die er seit Monaten entbehrt hatte: den Tisch, die Stühle, die Bank und ein Dach über dem Kopf. Plötzlich verjagten ihn nun die Flüche des eigentlichen Inhabers; ein Fußtritt bekräftigte, wer hier Herr war im Hause. Es hätte auch noch übler ausgehen können, aber Boves hatte Eile. Das schien, wie Antonio aus den Reden der andern zu bemerken
glaubte, sein Name, obwohl er eigentlich Rodriguez hieß. Er würde wohl seine Gründe haben, sich einen andern Rufnamen zuzulegen, wie um damit seinen Lebensablauf zu ändern und gleichsam in eine neue Haut zu schlüpfen. Aus den Gesprächen entnahm Antonio ferner, daß ein Fest gefeiert werden sollte. Flaschen waren mitgebracht worden: Wein; Antonio sah es, als er aus vorsichtiger Entfernung die Hütte umschlich. Der Herr sei dagewesen, ein Städter, hieß es, der Eigentümer dieser unübersehbaren Herde, die sie bewachten und bewirtschafteten, und man hatte die Felle und den Talg verladen, fässerweise Talg. Alles war auf den Orinoko verfrachtet worden, und zurück blieb der billige Schnaps, den der Verwalter des Großgrundbesitzers, den man fälschlicherweise als den Herrn betrachtete, ihnen als Lohn aufgezwungen hatte, und je Mann etwa zweihundert Sol Bargeld. Was aber wollte man mit diesem Dreck anfangen, wo es weit und breit nichts zu kaufen gab? Die Gäste, Viehhirten und -schlächter wie Boves, warfen ihre Ponchos ab und hockten sich, nachdem sich jeder eine Flasche gesichert hatte, an den Tisch. Eigens zu dem Zweck, hier im 9
Spiel ihr Geld umzusetzen, waren sie zu Boves gekommen, der ja keine Familie besaß. Weiber und Kinder konnte man bei dieser Männerangelegenheit, die zuweilen in Streit und Schießereien ausartete, kaum gebrauchen als stumme Zeugen und Ankläger. Ein weiberloser Rancho, das war in dieser Stunde das Gegebene, ein herzhafter Schluck und Fluch; es bedeutete einfach das ganze Daseinsglück für diese Menschen. Oder wie es Boves, der einige Worte Englisch verstand, mit einem wilden Grinsen ausdrückte: „You lucky devil — Sie glücklicher Teufel, zum Teufel, Sie haben aber Glück!" Jener sagenhafte Herr, dem eigentlich die Herden gehörten und den sie nie zu Gesicht bekamen, der Finquero, ihr Großgrundbesitzer, wäre sicher in moralischer Entrüstung zerflossen, hätte er gesehen, wie sein Geld, sein gutes Geld, hin und her geschoben, begehrt, verspielt und dennoch mißachtet wurde. Nur Boves machte inmitten der Gleichmütigkeit der andern eine Ausnahme: er fluchte, was die Zunge über die Lippen brachte, und entschädigte sich mit überschwenglicher Wollust für die langen Wochen des Schweigens. Aber das Glück, das er in seinem holprigen Englisch berufen hatte, war ihm nicht hold, und seine 10
Stirn rötete sich, er begann zu schwitzen im Spielerzorn und -neid, ohne daß es ihm eigentlich um die Geldsumme zu tun gewesen wäre, als vielmehr um das Gefühl herrschsüchtiger Überlegenheit und bevorzugter Macht. Besonders Cuzco, ein Mapuche, Indianer vom Stamm dieses Namens, erregte durch seinen gleichbleibenden Gewinn den Zorn des Riesen. Es war schon in vorgerückter Stunde, da sich die Gemüter sichtlich erhitzten; der Sonnenuntergang nahte, und man mußte sich bald zur Rahe begeben. Indessen hatte das Häuflein Münzen seinen Weg über den Tisch von Boves zu dem Indianer genommen, und mehr als einmal war der Leidtragende in einer tierisch röchelnden Wut aufgesprungen. Plötzlich aber, als Cuzco den letzten Rest mit flacher Hand herüberstrich, riß Boves ein Messer hervor und stach in diese glückliche Spielerhand, durchstach sie und nagelte sie am Tisch fest. Mit heiserem Gebrüll erklärte er, dieser Hund habe falsch gespielt, dieser Hund . . . und: „Buen viaje, glückliche Reise in den Tod!" Ein herrliches Fest — was wäre es ohne Spiel und Blutvergießen? Blut, die Ströme des Lebens, kannte , man von der täglichen Arbeit, wenn man ganze Herden
abschlachtete. Davon rührte die Unempfindlichkeit. Antonio Paez lernte beides kennen: diese Härte und den Stumpfsinn im alltäglichen Einerlei. Sechzehn Stunden saß er oft im Sattel, und es sollten Zeiten kommen, da er unterwegs schlief. Dabei diese
schwüle Stille, in der das unterirdische Gehämmer der Zikaden gleichsam im Weltall dröhnte. Ach nein, mitunter schien ihm die Zeit bei den Viehherden der Lianeros wiederum nicht langweilig; sie weckte den Sinn für Größe in ihm und war erhaben 11
wie die unendliche Tiefe des Raumes. Cuzco war nicht gestorben. Nicht einmal ohnmächtig war ei geworden, als ihm seine Gefährten blut- und schmerzstillende Blätter auflegten. Cuzco selbst riß, bevor er sich setzen mußte, was man als das einzige Anzeichen seiner Schwäche ansehen sollte, das Messer aus seiner Handfläche. Aber kein Schmerzenslaut kam über seine Lippen. Auch die Münzen, die er gewonnen hatte, strich er, noch als ihn seine Gefährten verbanden, fürsorglich in die Tasche. Dann nahm er Platz, während seine Gefährten eine primitive Art Gericht bildeten. Man verurteilte Boves zu einer Bußzahlung, die zu leisten er sich im Augenblick außerstande sah. Zudem war er am nächsten Morgen verschwunden; er hatte alles, sogar seinen Packesel mitgenommen. Der Teufel mochte wissen, was er wegzuschleppen hatte, hier aus der Armut und öden Einsamkeit an der Orinokoebene. Antonio wurde nun Herr des Hauses, man sprach es ihm zu, und er fühlte sich nicht wenig stolz auf seine windschiefe Lehmhütte, die er tagtäglich im Gespräch erwähnte, als redete er von einem Palast. Seit er aber den Rancho bezog, hatte er sich stillschweigend verpflichtet, an 12
die Stelle des Geflüchteten zu treten, und das bedeutete nichts anderes als sechzehn Stunden mit oder ohne Sattel auf einem Pferderücken. Es genügte aber nicht, daß er die auf der unübersehbaren Fläche zerstreute Herde stundenlang umritt, er mußte Gerber und Schlächter werden und vor allem auf der Hut sein vor Jaguaren und Schlangen. Ja, nicht nur deren Raublüsternheit verursachte Verluste an Vieh, sondern viel mehr das Unbegreifliche, Chambeco, der Dämon der Savanne. Mehr als einmal wähnte er voll Aberglauben dessen Fratze aus dem Hochgras auftauchen zu sehen, und er schämte sich nicht, daß er, gereizt durch die Sonnenglut und die Fieberschwüle der Sümpfe, blindlings Schüsse abfeuerte ins geheimnisvoll Unsichtbare. Die monate- und jahrelange Einsamkeit machte ihn scheu, doch wachsam wie ein Raubtier selbst, gespannt auf Gefahren und bedacht wie der Jaguar, den er bekämpfte. Schlangen und Skorpione waren seine Feinde, und wenn er sie überlistete und tötete, rettete er stets sein Vieh. Sein Vieh? Nun, das Vieh, das er hütete, die halbwilden Herden, die sich in der Ebene verloren. Wenn sie geschlachtet werden sollten, mußte er sie mit seinen Gefährten auf tageweiten Strek-
ken zusammentreiben. Dabei stählte er seine Kräfte; er wuchs, wurde größer und stärker als die Lianeros gemeinhin, war ihnen schließlich als Reiter ebenbürtig und hatte überall ein Wort mitzusprechen. Ihr grausames Wesen, ihre Roheiten suchte er mit nicht geringerer Grausamkeit zu begrenzen, und so wurde er, obwohl er sie geistig überragte, doch ein Bewohner der Llanos wie sie alle mit ihrer harten und unbequemen Ursprünglichkeit. Er trieb es so mehrere Jahre, ein vielleicht armseliges, entbehrungsreiches Dasein, aber ein Abenteurer- und Heldenleben, das kein Buch aufzeichnet und das verlorengeht in der Geschichte. Aber die Gegenwart, der er sich hingab, konnte seine jungen Kräfte nicht völlig verzehren, und an die Zukunft verschwendete er keine Gedanken. Von Zeit zu Zeit kam der Verwalter des sagenhaften Herrn in der Stadt und holte Talg und Felle, worauf sich die Lianeros betranken und einen Tag ihren Rausch ausschliefen, dann ritten sie wieder irgendwohin heim und lebten weiter bei schwerer körperlicher Ausarbeitung tagaus, tagein von dürren Brotkuchenfladen und zähen, getrockneten Salzfleischriemen. Wenn Antonio zuweilen über seine Lage nachdachte, glaubte er
sich wunschlos zufrieden, doch manchmal befiel ihn eine unerklärliche Traurigkeit. Wähnte er sich nicht verloren und verschlungen in der ganzen ungeheuren Ebene samt dem Orinoko und seinen verzweigten Nebenflüssen? Sobald er das dumpfe Gefühl, er sei rettungslos dem Dschungel ausgeliefert, überwunden hatte, wurde er überheblich und langweilte sich. Von wilder Sehnsucht erfaßt, Neues kennenzulernen, ein waghalsiges Abenteuer, nach dem man die wohlige Erschöpfung der verklingenden Erregung und nun vollendeten Ruhe in sich spürt, jagte er in die Weite, als müßte er den Horizont und seine Grenzenlosigkeit erstürmen. Ohne Sattel, ohne Zügel, die Hand in der Mähne des Tieres, trieb er die Pfade entlang, längs des rauschenden Hochgrases, und lag fast auf dem Hals seines Hengstes. In seinen Blicken mischte sich die Lust des Reitens mit dem verzweifelten Suchen nach etwas Unbekanntem. Dabei wußte er nicht, was er sich wünschte in seiner halsbrecherischen, romantischen Verwegenheit. Vielleicht rührte diese innere Unrast, die er durch die äußere zu bändigen versuchte, daher, daß er, früh verwaist, in einem Kloster erzogen worden war, in geistiger und räumlicher Enge. Was andere als eine Selbst13
Verständlichkeit besaßen, mußte er stets und für immer entbehren: das Elternhaus, die Geborgenheit und liebevolle Teilnahme. Wenn die Welt so war, wie sie sich seiner Jugend anbot, erfüllt von erzieherischer Kälte und gesetzmäßigen Regeln in vollendeter Grausamkeit, so daß jeder sich als der Feind seines Nächsten entpuppte, war sie ein Kampf aller gegen alle, ohne Freude, Freunde und ein erstrebenswertes Ziel. Wäre das Dasein so, dann war es nicht lebens-, dann war es hassenswert. Ohne Begeisterung, ohne Hingabe für eine Sache, einen Sinn, eine Idee war es tot, ein Mechanismus des Gehorsams, wie ihn die Jesuiten erstrebten. Einen der Väter, der ihn durch Exerzitien quälte und schließlich, als er seine Bemühung nicht belohnt sah, prügeln wollte, hatte er wiedergeprügelt und dabei erschlagen. Dann hatte er sich, nicht ganz ungezwungen, in die Freiheit gestürzt: Dank seiner Jugend war er nur verbannt worden, andernfalls hätte man ihn an einem Baum hochgezogen. Nun hatte er sie, die unendliche Auswahl und Mannigfaltigkeit in schrankenloser Freiheit. Es war aber nur ein Tausch gewesen; neue Regeln, neue Gesetze, eine neue Ordnung, be14
stimmt durch die Herdenbesitzer, erfaßten ihn. Nur Rinder schlachten, das Vieh vor der Regenflut hinwegtreiben in trockenes Gelände, nur die Jagd, das Spiel, Freunde und Frauen, alles das machte nicht das Leben aus; irgendwo mußte ein anderer, besserer Ansporn liegen, ein höherer Wert. Daß man den Verwalter, wenn er, beschützt von einer Meute Bewaffneter, herauskam, aus dem waffenstarrenden Menschenknäuel riß und das zappelnde Männlein bis an den Orinoko entführte, um ihn, weil er die Lianeros um Geld und Wein betrog, den Alligatoren vorzuwerfen — das war schon etwas. Etwas, das das Gemüt befriedigte und dem Stolz schmeichelte, wenn man, das zähneklappernde Angstbündel im Arm, heimkehrte und sich als einer fühlte, der die Gerechtigkeit wiederhergestellt hatte. Von solchen Ritten, die ihn berühmt machten, erwarb Antonio Paez den Spitznamen „Eisenarsch". Seine Gefährten wollten dadurch sagen, keine Strecke auf dem Pferderücken sei dem Verwegenen, ohne daß er sich wundgeritten hätte, lang, schwierig, mühevoll genug. Wenn sie zu darben begannen, des Trockenfleisches müde, schaffte er Pflanzenkost herbei, Früchte und Wein; er machte dem Verwalter
begreiflich, daß sie zuweilen eine Hose, daß die Weiber in der Regenzeit eine Decke, einen warmen Rock benötigten. Mühelos brachte er diesen eleganten Hasenfuß auf den Trab, obwohl dessen städtische Leibwache, erzfaule Galgenstricke, mit verlegenem Grinsen danebenstanden, das Gewehr schußbereit im Arm. Alles das, wie gesagt, war schon etwas, doch nicht alles. Es erhöhte zwar das Kraftgefühl, aber beruhigte die Gedanken, die Wünsche nicht vollends. Eines Tages wurde es anders, da kam aus einem benachbarten Rancho die Kunde, ein Fremder sei gekommen, der werbe Männer für den Krieg, in dem man sich alles erobern könne, was man begehre. Es gehe gegen die Städter, die den Lianeros keinen Talg und keine Felle abkaufen wollten, weil sie angeblich davon genug hätten. „Verbrennt sie", hieß es, „wir haben genug, die Welt hat keinen Bedarf an eurem ranzigen Stinktalg." Was bedeutete alles das? Sie brauchten Ponchos, Waffen und Pulver, Kleider und andere Kleinigkeiten — nein, alles behauptete Seltenheitswert für sie in ihrer Not und Armut! Wollte ihnen ihr Finquero die begehrten Sachen nicht liefern? Da sind Felle, da ist Talg, Vorräte im Überfluß, auch Salzfleisch! Wann
wollte er sie verladen? Wie, niemals? Zum Teufel, wie sollten sie noch reiten können, wenn sie keine Lederschurze zum Reiten geliefert bekamen als Schutz gegen Gras und Gestrüpp? Nichts, keine Krume Salz,, kein Maß Wein! He, Caballeros, ist das die Wahrheit? Bei der Heiligen Jungfrau, die volle Wahrheit! Dann, um Himmels willen, möge der Herr Verwalter dennoch geneigt sein, die Lianeros mit seinem Besuch zu beehren, damit man ihn von der Notlage überzeuge; man werde jeden, der es wage, ihm ein Härchen zu krümmen, am Lasso erdrosseln. Gegen den Wind gesprochen! Niemand kam und erbarmte sich ihrer Sorgen und Wünsche. Wahrscheinlich w a r Senor, der Herr Verwalter, über Antonios räuberische Bosheit verärgert. Ihn, den Beauftragten unsres Herrn und Wohltäters, zu entführen — was für ein Rohling! Dieser Gringo hatte nichts als Dummheiten im Kopf, man müßte ihm die Flügel stutzen. Und so schnei! neigte sich die Meinung der Volksgunst nach der andern Seite, so weit die dumpfen Köpfe denken und urteilen konnten in ihrer verlassenen Unwissenheit. Wäre nicht der Fremde gekommen, jener Unbekannte, der sagenhafte Schätze versprach und behauptete, alles Elend käme von den (5
Kreolen, der heimischen Aristokratie, wer weiß, ob sich die Volkswut nicht über kurz oder lang ein Opfer gesucht hätte, und zweifellos wäre dieses Sühneopfer Antonio mit seiner verblaßten Popularität geworden. Es sei, hieß es schließlich bei den Zusammenkünften, kein Fremder, der alle Aufmerksamkeit von Antonio auf sich abgelenkt hatte, es sei Boves, der Llanero. Wie herrlich, da konnte man ein offenes Wort unbedenklich sprechen, von Mann zu Mann, und seiner Antwort unbedenklich glauben! Zum Beispiel, was sollte aus den Rindern, den Fellen, dem Talg werden, wenn Sefior, der Großgrundbesitzer, seine Leute nicht schickte, um den durch saure Arbeit mühsam erworbenen Reichtum abholen zu lassen, Ware gegen Ware? Da lachte Bovis, der nun wie ein Herr auftrat, und rief: „Kommt mit, Amigos, wir müssen erst die Aufsässigen züchtigen, die dem guten König, unserm spanischen Vater, und seiner hochheiligen Kirche den Dienst und Gehorsam aufgesagt haben!" So sprach er, so oder so hnlich, und er zeigte sich gar nicht mehr maulfaul und mürsch wie in jener Zeit, da er noch in der Ebene lebte. Das war ein Mann mit einem echten Schlag und Herzen! 16
Tatsächlich ließen die Lianeros alles stehen und liegen und folgten seinem Ruf — zwar nicht alle, aber doch die Jungen — in ansehnlichen Scharen. Auf, fuere, hinaus, folgen wir dem Capitan, viel Glück zu diesem herrlichen Krieg! Die Weiber und Kinder werden nicht gleich verhungern, mögen sie das Vieh abschlachten, und wir verdienen draußen Geld! Hier ist es damit vorbei, der Finquero ist ein Verräter! Nur Antonio, der sich, von aller Volksgunst entthront und beinahe ihr Opfer, abseits in seinem Rancho hielt, bewahrte sein gesundes Mißtrauen vor diesen Verlockungen. Wenn es, sagte er sich, je zum Kriege käme, wolle er auch die andere Seite hören, bevor er seine Entscheidung träfe. Boves hatte ihn zwar vor dem Hungertod bewahrt, als er vor Jahren an seiner Lehmhütte winselte, aber er hatte ihn gleichzeitig am Lasso gehalten wie ein Fohlen, das ausschlagen will, so daß er an der Schlinge fast erstickt wäre. Vorsicht deshalb auf alle Fälle, ich will von diesem Erzgauner nicht ein zweites Mal übertölpelt werden! Oder sollte man kurzerhand hingehen und ihn zur Rede stellen? Als Antonio, ungewiß, wozu er sich entscheiden solle, seine Waffen in Ordnung brachte, Reiseproviant sammelte und sich zwei
Pferde einfing, kam Cuzco geritten, der Mapucheindianer, den Boves vor Jahren des Falschspiels beschuldigt hatte, und erklärte, er reite nicht mit seinem Feind. Da Boves jedoch, fügte er hinzu, wie ehemals eine Art Willkürherrschaft ausübe in der Ebene und sich vermutlich hier auf die Dauer niederlasse, gehe er, Cuzco, außer Landes. Es falle ihm schwer, er verlasse die Heimat . . . Doch da, anstatt einer Antwort, verpackte Antonio schon seinen Proviant, und eine Stunde darauf saß er im Sattel. Zu spät besann er sich, daß er den Rancho hätte anzünden sollen. Aber genug, die Hütte würde ohne sein Zutun verfallen, die Hütte samt Tisch, Stühlen und Bank. Gras würde darüber wachsen. Antonio und Cuzco mieden die Städte, und wenn sie Reiter auftauchen sahen, suchten sie sich, da sie nicht wußten, wen sie vor sich hatten, rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Zuweilen verdingten sie sich, wenn sie der Hunger trieb, auf einer Hazienda*, doch meist lebten sie unstet als Abenteurer. Daß es aber Kriege gab, sei es in Venezuela oder Panama, Ekuador oder Peru und Neugranada, vernahmen sie unterwegs, und immer • Landgut
deutlicher stellte sich ihnen, da sie Boves auf spanischer Seite wußten, Bolivar als Libertador vor, als Befreier Südamerikas von spanischer Willkür. In Neugranada blieben sie längere Zeit, in der Provinz Casanare, die sich im Osten bis an die Anden erstreckt. Dort wurden sie auch schließlich Soldaten in der Armee der Freiheitskämpfer, unter General Ricaurte. Soldat, das bedeutete nicht eine schmucke Uniform und volle Verpflegung. Sie blieben wie bisher auf sich und ihre Waffen angewiesen, und was sie auf dem Pferd mit sich führten, war Beutegut, erkämpfte Ware. Meist war es Fleisch oder ein Brotfladen, eine Hose oder eine Waffe, sogar einen Sattel besaß Antonio am Ende, und Cuzco dünkte sich unüberwindlich, seit er zu seiner Lanze eine Pistole erbeutet hatte. Auf Ritten und Gefechten, die sich, immer im Kleinkrieg, durch ganz Casanare ausdehnten, die Westprovinz Neugranadas, erwarb sich Paez, der sich bald auszeichnete und rasch befördert wurde, nochmals Ruhm als Culo de hierro, als Eisenarsch. Sowohl die königlich-spanischen Truppen als auch die südamerikanischen Patrioten führten den Krieg, der für jene ein ungerechter war, mit unglaublicher Erbitterung. Einmal vernahmen die Republikaner 17
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von einem Greis, dem man beide Ohren abgeschnitten hatte, daß der blutrünstigste der spanischen Generäle ein Mann sei namens Boves. Der lasse, wer sich nur einer freiheitlichen Gesinnung verdächtig mache, gefangene Frauen, ja Kinder über ausgestreute Glasscherben gehen; jeden, der mit der Waffe in der Hand ergriffen werde, lasse er von Pferden- in Stücke reißen. Ein Scheusal! Die Opfer, die er auf dem Gewissen habe, zählten nach Tausenden. Cuzco begann zu zittern, als er den Namen seines Feindes hörte, und schwor, er werde ihn töten, er werde sich rächen. Er und kein anderer sei zu dieser Tat verpflichtet, versicherte er immer wieder und bat Antonio, ihm die Möglichkeit zu verschaffen, nach dem Osten reiten zu dürfen, wo Boves seine grausame Herrschaft ausübte. Vor dem Mann, der eine schwarze Fahne mit dem grinsenden Totenkopf an der Spitze seiner Scharen führte, töteten die Mütter ihre Kinder, und man wisse, daß er kriegsgefangene Generäle zu seiner Tafel lade und in ihrer Gegenwart, wenn sie schon die Freiheit erwarteten, den Befehl gebe zur Erschießung der Gäste. Das war der Mann, der Cuzcos Hand mit seinem Messer auf die Tischplatte festgestochen und ihn des Falsch18
spiels beschuldigt hatte, als er sein Geld verlor. Hinweg mit diesem Tier von der Erde, für ihn war der Tod noch zu barmherzig! Antonio Paez, damals Hauptmann, erwirkte für Cuzco tatsächlich die Erlaubnis, nach dem Osten des Landes reiten zu dürfen, wo die republikanische Befreiungsarmee einen schweren Stand hatte gegen die spanischen Monarchisten. Es fiel Antonio nicht leicht, den langjährigen Weggefährten scheiden zu sehen; er ließ sich versprechen, daß Cuzco zurückkehren werde — nach vollbrachter Tat. Der Indianer versprach es, aber seine unbewegte Miene drückte deutlich aus, daß er auch, ohne Rache zu finden, in die ewigen Jagdgründe eingehen könne. Antonio hatte ihm noch eine schriftliche Empfehlung ausgestellt, und nun sah er ihn davonreiten, ohne daß sich Cuzco zu einem letzten Gruß gewendet hätte. Cartagna war verloren, und die Spanier gingen gegen Bogota vor, so daß keiner, erst recht Hauptmann Paez nicht, Muße fand, lange trüben Gedanken nachzuhängen. Die Patrioten sahen sich schon gezwungen, Guardatete aufzugeben, doch Paez, der nun seinerseits begann, Reiter aus den Llanos anzuwerben, mit gutem Gewissen, und aus ihnen allmählich eineMuster-
truppe heranbildete, die zwar in keiner städtischen Garnison zu Paradezwecken bestanden hätte, aber voll Feuer und Kampfgeist erfüllt war — Antonio Paez machte sich anheischig, die bedrohte Stadt mit einer Handvoll dieser Reiter zu halten. Es blieb General Ricaurte, der die Infanterie und Bagage in Sicherheit bringen wollte, nichts übrig, als Eisenarsch gewähren zu lassen, wiewohl er vom militärischen Standpunkt das Aussichtslose eines solchen Unternehmens von vornherein unterstrich. Oder wußte Paez nicht, daß Oberst Lopez, der ihm gegenüberlag, über sechzehnhundert Mann befehligte? Eins zu zehn, eine verdammt niedrige Aussicht auf Sieg! Aber Paez, seine Lianeros anfeuernd, ritt im Galopp an, und wie im Sturm brachen sie in die durch lange Märsche und zahlreiche Flußübergänge ermüdeten Heihen der Feinde. Es mochte auch sein, daß viele, die bei der spanischen Kavallerie dienten, der grausamen Disziplin, die bei den Uniformierten herrschte, überdrüssig waren; viele dieser Lianeros hätten ihrem unbändigen Freiheitstrieb zuliebe gern auf das eitle Äußere verzichtet und warteten auf eine Gelegenheit, sich auf die andere Seite oder schnurstracks in die Heimat
zu begeben. In seiner Bescheidenheit meldete Paez, als er siegreich zurückkehrte, nur mit der kargen Redewendung, er habe Glück gehabt, es wäre so schönes Wetter gewesen und das Gras nicht zu hoch, und nichts hätte sie bei der Attacke behindert. Günstig auch, daß eine Chacara, eine kleine Siedlung, dem Feind die Sicht versperrte, der Hof Mate de la Miel, und im übrigen: „Felicidad, mein General, Reiterglück!" „Casanare ist gerettet", rief der General mehrmals und atmete hörbar auf. „Oberst Paez, ich beglückwünsche Sie!" Er war nun Oberst — aber er war damit nicht reicher als jeder andere Lianer o: die Hose hing in Fetzen an seinen Beinen hernieder, der Sombrero war verbeult, die nackte Brust mit Narben von Dorn- und Grasrissen und -wunden bedeckt, das Gesicht mager von den großen Anstrengungen und Entbehrungen. Vielleicht bestand der einzige Unterschied zwischen ihm und seinen Reitern darin, daß er keine Lanze trug und statt dessen eine Pistole im Gürtel wie ein Aristokrat. Auch durfte er Befehle erteilen, aber er mußte der erste sein, der sie ausführte. Nachts lag er wie sie unterm freien Himmel, mußte allein sein 19
Pferd an die Fußfessel legen, wenn sie bald wieder aufbrechen wollten, oder mit dem Lasso von der Weide holen, und erwies er sich je zu langsam, starb er wie sie den gleichen Tod. Gewiß, die Provinz war zerstört, und Lopez zog sich zurück, nicht ohne die Republikaner wissen zu lassen: „Wir kommen wieder!" Nach vier Monaten, einer Frist, die beide Seiten auf ihre Weise nützten, die Spanier durch strategisch exakte Truppenverschiebungen, wie sie schulmäßig in ihrem Generalstab ausgeheckt wurden, die Aufständischen, indem sie ihre Herden in Sicherheit brachten — nach dieser Zeit stand Lopez wieder am Apure. Es gelang nicht, ihm den Übergang zu verwehren. Gestärkt, neu gerüstet, mit der hochmütigen Absicht gekommen, den Krieg wider Viehhirten und Schweinetreiber als eine Strafexpedition aufzufassen, trieb er die Landbevölkerung vor sich her und ließ jeden niedermetzeln, der sich erkühnte, um Gnade zu flehen. Nicht anders als die Konquistadoren vor ihm auf ihren Eroberungs-, Raub- und Vernichtüngszügen forderte er Blutzoll für die allerheiligste spanische Majestät und seine alleinseligmachende Kirche. Oberst Paez warf ihn ein zweites Mal, er überraschte ihn 20
mit der Kühnheit seiner nun schon berühmten und gefürchteten Reiterangriffe. Oberst Lopez, Seiner spanischen Majestät in allen Regeln der Kriegskunst geschulter Heerführer, mußte sich abermals den verachteten Lanzenreitern beugen. Nochmals hatte Paez, derLIanero, eine Atempause für sein Land erkämpft, so daß ihm Bolivar, der Libertador, einen größeren Wirkungskreis zuwies und für den ganzen Distrikt zum General ernannte. Jetzt, nach diesem unglaublichen Aufstieg, wurde Antonio erst eigentlich bekannt in der Befreiungsarmee. Natürlich sorgten die Lianeros dafür, daß dessen Volkstümlichkeit in ihrer Sprache verbreitet und ausgedrückt wurde: „Culo de hierro, General Eisenarsch!" In diesen Tagen, die Paez den höchsten persönlichen Erfolg einbrachten, meldete sich Cuzco, der schweigsame Mapuche, dessen rechte Handfläche eine breite Stichnarbe verunstaltete, bei dem neuernannten General zurück oder vielmehr, er war eines Morgens einfach da, saß im Kreise der andern aus Antonios nächster Umgebung und verzehrte sein Brot und Fleisch. Es wäre verfehlt, von ihm soldatische Umgangsformen zu verlangen, womöglich gar, er müsse sich in militärischer Haltung
zurückmelden. Hatte er nicht sein Manneswort gehalten, das Wort eines kämpfenden Lianeros? Das mußte genügen, und es genügte General Eisenarsch in einer Weise, daß er ihn für immer bei sich behielt oder, wie man es in der Bürosprache der Spanier ausgedrückt hätte, „abgestellt zum Dienst im Stab des Kommandierenden Generals Paez". Solche hochtönenden Worte lagen Antonio fern, sie wären lächerlich, im Guerillakrieg der Lianeros und im Urwald am Orinoko völlig unangebracht gewesen. In diesem Krieg, der zu einem großen Teil gegen Naturgewalten geführt wurde, gegen die Hitze des Tages, die Tropenhitze, und die Kälte der Nacht, gegen Überschwemmungen, wilde Tiere und die verlorene Weite der Landschaft, den unendlichen Raum — in diesem Krieg also vergaß man zivile Umgangsformen. An dieser Stelle, angesichts dieser Metzeleien und in ihrer barbarischen Blutrünstigkeit, in der die angemaßte Herrschaft der Spanier, einer christlich-europäischen Monarchie, Ungeheuerliches leistete, wäre die Sprache der Schreibstuben nur als ein Hohn erschienen, grotesk, als wollte man Parkett in den Dschungel legen oder die Anden in Lackstiefeln besteigen. Nichts von alledem, Cuzco war
einfach da, tat seinen Dienst und begehrte durch seine Anwesenheit die stillschweigend vereinbarte Verpflegung oder das Recht, sich im Verein mit seinen Gefährten drüben bei den Spaniern das Notwendige holen zu dürfen. Als Rangabzeichen erhielt er zu seiner Lanze lediglich eine Pistole, das war alles: daß er als Vorgesetzter an der Spitze reiten mußte, verstand sich von selbst, und man kann sagen, es blieb daher alles beim alten. Nur durch eine Absonderlichkeit unterschied sich Cuzco fortan, einen kleinen Gegenstand nämlich, den er an einer Bastschnur um den Hals trug: eine Tsantea*. Es ist Boves'Kopf, dachte Antonio überrascht, als er beim ersten Wiedersehen einen Blick darauf geworfen hatte. Aber er schwieg. denn es wäre unhöflich gewesen sich mit weibischer Neugier danach zu erkundigen. Als Spanien riesige Nachschubgeschwader übers Meer sandte, nahm der Kampf für die nationale Befreiung der Südamerikaner eine bedenkliche Wendung. Unter solchen Bedingungen, erschwerten Bedingungen, war kein Staatsmann imstande, auch nicht Bolivar, den Widerstand aus eigenen Mitteln zu organisieren, und Helden wie Antonio » Schrumpfkopf •n
Paez nützte alle Tollkühnheil nichts. Gleichviel, es war Tatsache, daß die Republikaner vor der Übermacht weichen mußten. Bogota, die Hauptstadt, wurde von Morillo, dem Pacificador* der Spanier, ihrem Höchstkommandierenden, der die Kolonien zurückgewinnen, erneut unterdrücken wollte, erobert und besetzt. Das Werk der Reaktion begann. Wie Paez durch Cuzco, der sich als Späher ins feindliche Gebiet geschlichen hatte, nach mehrwöchiger Beobachtung erfuhr, sollte der Scherge Spaniens erklärt haben, er werde das Rad der Geschichte zurückdrehen und die alten Zustände unbarmherzig wiederherstellen. Er hatte alle Ursache, in Hohn und Triumph auszubrechen. Nachdem er mit seiner Flotte die insel Margarita besetzt und als Stützpunkt ausgebaut hatte, wollte er nacheinander Venezuela, Kolumbien und Ekuador ohne Rücksicht auf Kosten, Opfer und Verluste zurückerobern und für immer mit Härte unterwerfen. Welche Maßnahmen er sich dabei vorstellte, zeigte er an dem Beispiel der Hauptstadt. Eine Militärjunta wurde hier ernannt, und nach dem Bericht Cuzcos hatten sich danach sogleich die Gefängnisse gefüllt. " Friedensstifter 22
Ganze Familien wurden von den Kriegsgerichten verurteilt, alle sollten die Inquisition passieren. In erster Linie suchte der Pacificador die einheimische Intelligenz auszurotten, die Kirchengegner und Leute der fortschrittlichen Aufklärung. Wenn er damit die Kreolen traf, die südamerikanische Oberschicht, um so gefügiger schien ihm danach die Urbevölkerung zu werden. „Seine Majestät, unser alierheiligster Herr auf dem spanischen Thron, kann nicht umhin, wenn er diese Provinzen unterwerfen will, in Gnaden anzuordnen, daß dieselben Maßnahmen ergriffen werden wie einst beim Anfang der Eroberung Südamerikas durch die Konquistadoren", erklärte Morillo mit brüsker Offenherzigkeit. Wie Boves lud er alle, die er persönlich an Hand von Akten auserlesen hatte, zum Empfang und bewirtete sie aufs prächtigste, wobei er seinen Gästen bei Musik und Tafelgenüssen mitteilte, daß sie nach dem Mahl erschossen würden. „So ladet man Verräter in Gesellschaft", pflegte er hinzuzufügen und bat die Entsetzten, sich durch diese kleine Unerquicklichkeit nicht stören zu lassen bei den bis dahin gewährten Daseins-, Gaumen- und Sinnesfreuden.
Mit den unteren Schichten, der verachteten Masse des Bürgertums und städtischen Proletariats, verfuhr der Vertreter Seiner Majestät noch einfacher, abgesehen von der ländlichen Bevölkerung, die er kaum der Aufmerksamkeit würdigte, indem er, wie er sagte, mit ihren Köpfen die Straßen pflasterte. Neue Abgaben, eine Steuer von gehn- Prozent auf das Einkommen, wurden eingeführt, um, da niemand arbeiten, verdienen und zahlen konnte, einen Vorwand zu geben für weitere Beschlagnahmen, Anklagen, Verhaftungen und Erpressungen. Geld wurde erpreßt, Verrat wurde erpreßt, unmögliche Geständnisse wurden erpreßt; die Beschuldigten warfen sich öffentlich noch eine größere Schuld vor, als der Ankläger in seiner Niedertracht erfinden konnte, und verurteilten sich selbst, nur um der Qual des Gewissens- und Leibeszwanges ein Ende zu bereiten. Es gab kein Gesetz und keine Gerechtigkeit mehr, wie man vorher nur den Anschein davon aufrechterhalten hatte. Es gab nur Spaniens Herrlichkeit und des Diktators Allmacht unter dem Segen der Kirche. Keine Versöhnung, nur geistige und moralische Knechtschaft, ein Regiment des Blutvergießens und der Angst, das
beabsichtigte dieser gewissenlose Friedensstifter. Den längst überlebten rückständigen Gesetzen der dreihundertjährigen Herrschaft der Spanier in Südamerika sollte in einer völlig veränderten Welt neue Geltung verschafft werden. Voll Haß verfolgten die Lianeros diesen Rückschlag, der Absolutismus und Tyrannei verewigen wollte gegen die Grundsätze der Französischen Revolution. War denn ein König noch möglich, die Form einer europäischen Regierung, die nach Belieben in einem fremden Land schalten und walten konnte, wie es ihr beliebte? Auch Antonio Paez, dem politische Fragen fern lagen, mußte sich plötzlich damit beschäftigen. Wie eine Forderung des um sich greifenden städtischen Lebens, der Zivilisation, die auch die Ebene und weite Landschaft ergriff, heischte sie ungestüm eine Lösung. Bisher erschienen den Lianeros alle, die in der Stadt wohnten, eine räumliche Zusammenballung vieler Menschen, unterschiedslos als Faulenzer und Prasser, hochmütige Müßiggänger, die in den Destillen saßen. Nun, da sie selbst in die Städte kamen, erkannten sie die Aufteilung in einheimische und fremde Aristokratie. Jetzt gewahrten sie mit Überraschung, daß es in den Städten Arme und 83
Enterbte gab in großer Anzahl, dürftiger und ärmlicher lebend als sie, die Armen der Llanos. Es war eine Frage, die Bolivar, der Libertador, die nationale Frage nannte, eine heikle Frage. Antonio Paez beschäftigte sie insofern, als er sie seinen Leuten beantworten mußte: Es ging ihnen jetzt darum, für wen sie kämpften, Entbehrungen erlitten, Blut vergossen. Wenn Stadt und Land, Kreolen und Lianeros, gemeinsam nach Unabhängigkeit strebten — wie sollte diese Freiheit nach dem Kriege für die soziale Gerechtigkeit bürgen? Nicht nur die Interessen der einheimischen Aristokratie galt es zu wahren, weder ihre noch der Städter überhaupt, sondern auch die Forderungen der ländlichen Bevölkerung. Sollten die Lianeros, die ihr Blut für das neue Vaterland vergossen, wieder ein verachtetes Dasein fristen als Hirten, Jäger, Schmuggler, Räuber oder Flüchtlinge des Urwaldes? Mußte man sie nicht beteiligen an den Erfolgen des Sieges und seiner neuen Ordnung? Solche Fragen waren es, die die Lianeros, die alle Provinzen, alle südamerikanischen Länder beschäftigten, Argentinien, Brasilien und Neugranada nicht weniger als Venezuela. In einer Periode der Entmutigung, als die 24
spanische Reaktion siegreich vordrang, hatte Antonio Paez eine Unterredung mit dem Libertador, in der er alle Wünsche und Zweifel, die seine Reiter vorbrachten, mit Bolivar erörterte. Es geschah durchaus freundschaftlieh im Ton, aber unerbittlich in der Sache. Von den Lianeros hatte er den Auftrag mitbekommen, sich von den Republikanern zu lösen, falls diese Fragen der Zukunft nicht oder unbefriedigend als eine Nebensache beantwortet würden. „Libertador, meine Leute haben nicht Ruhr und Krätze erduldet, damit sie, wenn der Sieg errungen ist, von Schmeichlern und Schmarotzern ausgesogen werden wie jetzt von den Spaniern", begann Paez, als er in einer Audienz bei Bolivar vorsprach, weniger aus eigenem Entschluß denn als gewählter und beauftragter Sprecher der Lianeros. „Ihr habt uns da Santader geschickt, einen Federoffizier, wie meine Leute sagen, aber nicht allein, daß er ein General ohne Reitertugenden und ein Mann ohne Humor ist, verübeln sie ihm, als vielmehr, daß er eine Schranke um sich errichtet, er will nicht unsere Not und Kleidung teilen. Wenn dieser Aristokrat sich erlaubt, schon jetzt solche Unterschiede geltend zu machen, wie soll es erst nach dem
Kriege werden? Wer wird dann die Lianeros als Erretter des Vaterlandes ehren? Wird man sie vergessen und wieder in den Dreck ihrer Armut und auferlegten Entbehrungen zurückstoßen?" Bolivar konnte auf alle Fragen
und Vorwürfe, die Paez vorbrachte, nicht so schnell antworten, wie sie fielen und Wahrheiten enthüllten, und er konnte auch nicht dem Vorgetragenen die Berechtigung absprechen. Wie Paez es darstellte, nicht anders 25
war es, aber es waren Befürchtungen, die er in Forderungen kleidete, und solche Drohungen mußte der Libertador abweisen, sie streiften eine Beleidigung des künftigen und bereits jetzt tatsächlichen Staatsoberhauptes. Wahrscheinlich würde die Entwicklung die Wege einschlagen, vor denen der General warnte, und die Lianeros würden fernerhin die Unterschicht — um nicht zu sagen: die Enterbten — der Nation bilden. Gewiß lag es an den Menschen, die das neue Südamerika schufen, und daran, wie sie es errichteten. Verfängliche Fragen! Bolivar hütete sich, sie zu beantworten, ja vermutlich hatte er sie in dieser Schroffheit selbst nicht gestellt, so tief und heftig fesselte ihn die Frage der nationalen Befreiung. Daher hielt er sich an die allernächste Wirklichkeit und nahm, indem er manches überhörte, nur Kenntnis von den Vorstellungen, die das wirklich Nahe berührten. In der Tat, er hatte den benannten Santader geschickt, einen Mann, der gewiß nicht mit den Lianeros sympathisieren würde, aber einen ausgezeichneten Organisator. „Ein Federfuchser", wiederholte Paez, aber Bolivar nahm diese respektwidrige Unterbrechung mit gespieltem Wohlwollen auf, der undurchdringlichen Freund23
lichkeit des Diplomaten. „Freilich, er wird Urteile nicht fällen wie Ihr. General, indem et sie durch einen Einzelkampf des Anklägers mit dem Angeklagten entscheidet." Er lachte in eitel Kameradschaft und Herzlichkeit. „Leider fehlt ihm Eure Gewandtheit und Körperkraft. Und stellt Ihr, General", fügte er leise hinzu, hastig wie in einem Selbstgespräch, doch nicht ohne einen boshaft ironischen Unterton, „dadurch nicht immer Eure eigene Gerechtigkeit und gesetzmäßige Absicht her?" „Allerdings, zuweilen." Paez schmunzelte: Ob ein Gekleideter oder Nackter, ein Mann auf gesatteltem oder ungesatteltem Pferd — ihm, General Eisenarsch, galt weniger die Person, die oben saß, als der Reiter, immer nur der Reitermut, das Reiterherz. Sein Adjutant war ein Analphabet, aber er hatte an seiner, des Generals, Seite sechs feindliche Kanonenboote auf dem Apure erobert — Kanonenboote mit Lanzenreitern! Hatte er Morillo nicht mehr als einmal die Steppe in Brand gesetzt und ihm vor der Nase ein Schnippchen geschlagen? „Libertador, mit Verwegenen gründet man eine neue Nation und nicht allein durch die List und Logik der Bücher- und gelehrten Feldherrnweisheit." Immerhin sah Paez ein, daß er
ein bestimmtes Maß der Kriegsund Manneszucht unter seinen Scharen einhalten mußte, odei der Zusammenhalt ging verloren Seinerseits erkannte der Libertador den unschätzbaren Kampfgeist und den unersetzlichen Mut seines Generals zur Genüge, als daß er diesen Tapferen hätte zur Rechenschaft ziehen mögen. Und war ein Brief Morillos, den man aufgefangen und den er kürzlich gelesen hatte, nicht die höchste Auszeichnung, die man General Eisenarsch ausstellen konnte? „Vierzehn Angriffe, die General Paez auf meine Truppen führte", schrieb sein Feind, „zeigen, daß diese Leute keineswegs, wie man gesagt und Seiner Majestät berichtet hatte, minderwertig und verächtlich sind als eine Horde von Memmen und zuchtlosen Räubern." Ruhm, viel Ruhm erntete Paez mit seinen Scharen in der Savanne, wo nur die schweigende Todesverachtung als das sicherste Kampfmittel galt. Aber dieLlaneros gaben nichts auf diesen Ruhm, besonders nicht, als ihnen die Fleischriemen ausgegangen waren, und sie hätten lieber ein Stück auf den Sattel gehängt als die klangvolle Anerkennung Bolivars angehört. War zudem Zeit für viele Worte? Morillo drängte sie mit der Übermacht seines
Heeres aus Santa Fernando über den Arauca. Allerdings gelang dem spanischen Führet nicht, General Eisenarsch zu stellen, immer entwichen ihm die Lianeros auf ihren struppigen, flinken Pferden in den menschenleeren Raum. In den Kämpfen gegen Napoleon waren die Spanier selbst erfolgreiche Meister eines solchen Kleinkrieges gewesen, doch hier, wo sie nicht in einer gerechten Sache fochten, versagten ihre Kräfte, und Viehhirten errangen Siegeslorbeeren. Paez benutzte alle Mittel, die ihm zu Gebote standen: die Schnelligkeit seiner Reiter, ihr tollkühnes Draufgehen, die beispiellose Härte ihres Widerstandes gegen Naturgewalten und ihre Zähigkeit in Entbehrungen. Wenn der Spanier glaubte, endlich General Eisenarsch zu fassen, waren es am Ende doch nur verstreute Gruppen, die seine Kavallerie einfing. Das Gros hatte die Steppe in Brand gesetzt, verschwand hinter einer Rauchwand, und nun loderte, wo in der kalten Jahreszeit ein See schwamm, ein schlagendes Flammenmeer. Ermüdende Märsche auf der Suche nach Wasser, immer nur diese trostlose Wüste der Zerstörung, überall Asche, ein unübersehbares Aschefeld, in dem noch hier und da ein letzter Funke ausglühte. 27
Morillo war kein Feigling, aber er wußte, daß der Marsch durch diese Aschewüste schwere Verluste forderte, womöglich den Untergang seiner Armee. Mit Mühe erreichte er Achaguas, verschanzte sich und konnte mit seinem Heer die letzten Vorräte verzehren, die er aus besseren Tagen vorfand. Dann jedoch mußte er weiter, sich durchschlagen, die Verbindung mit der Nachschubbasis aufnehmen. Sein Gegner schien von der Bildfläche verschwunden, war wie in die Ferne verflüchtigt; nur noch durch verwegene Hin- und Herritte machte er auf seine Gegenwart aufmerksam, täuschte starke Verbände vor, zeigte sich überall und nirgendwo und war dennoch nicht zu fassen. Hinter dem Vorhang dieser Taktik durchschwamm General Eisenarsch eines Tages den Arauca. Da er sich vorn an der Spitze, dicht am Feind, in seiner ganzen Größe zeigte, was der Feind sofort bemerkte, reizte er Morillo zu einem energischen Nachstoß. Sicher hoffte er, den verwegenen Reiterführer zu töten und, indem er ihn tötete, gleichsam allen Llaneros den Garaus zu machen. Das Zehnfache an Übermacht setzte der Spanier ein, um des Tollkühnen habhaft zu werden und seinen Kopf, den Kopf eines Verräters, der allerheiligsten
Majestät vor die Füße zu legen. Paez lachte, als er gewahrte, daß Morillo, zum Angriff gereizt, seine Streitmacht aufteilte und ihre Reiter vom Fußvolk trennte. Mitten im Strom schwenkte er ein, dicht am Feind, und Morillo setzte ihm mit tausend Mann ungestüm nach; es rauschte, spritzte und schäumte in den Fluten. Zuweilen verschwand ein Reiter, ohne daß man die Ursache bemerkt hätte, verschwand spurlos, nur daß sich das Wasser im weiten Umkreis rot färbte. Dieser Angriff quer über den von Alligatoren bevölkerten Fluß, wo ihn drüben am Ufer kämpfgewohnte Gegner erwarteten, war ebenso leichtfertig als tollkühn; es hieß die Llaneros auf ihrem eigenen Gebiet fassen und treffen wollen. Es war töricht und hochmütig in der Überschätzung der eigenen Fähigkeiten, unklug in der Unterschätzung des Feindes. Aber Morillo wollte es Päez gleichtun, und wie Paez ritt auch er an der Spitze. Welche Unterschiede! Welche Irrtümer! Die Llaneros saßen auf halbwilden Steppenpferden, die Spanier hatten nur kavalleristisch geschulte Reittiere, die in Gruppen aufzutreten gewöhnt waren, hier aber ging es um Einzelkämpfe. Morillo wollte das Unmögliche wahrmachen, Regeln der Kriegskunst fast tur29
niermäßig im Hochgras und Wasser durchführen, Paez aber liebte das abwechslungsreiche Gefecht, und er scheute auch den Rückzug, sogar die Flucht, den Anschein der Feigheit nicht. Aber wie konnte er täuschen, Schwäche vortäuschen! Mitten im strömenden Wasser wendete er um, wo man ihn bereits als Gefangenen betrachtete und am nächsten Baum gehängt sah, und seine Heiter suchten scheinbar im Entweichen ihr Heil. Nichts jedoch, sie besetzten das jenseitige Ufergelände, lose verteilt hinter Gestrüpp und Gras, da erwarteten sie die erschöpften Spanier. Schnaubend, von Schlamm bespritzt bis zur Unkenntlichkeit, retteten sich die spanischen Reiter an die Böschung, aufgelöst, in einzelnen Gliedern und ohne den schulmäßigen Halt ihres Verbandes. Schwer bewaffnet, schwer gekleidet in ihrer Uniform, unbeholfen und unbeweglich vor Angst und Erschöpfung, suchten sie Erholung, Beruhigung und eine Atempause. Doch da tauchten schon die Lianeros auf, halbnackt auf ihren Pferden, ohne Stiefel, in denen das Wasser schwappen würde, und stießen die kaum Geretteten mit ihren Lanzen das steile Ufer wieder hinab. Ohne Schutz ihrer Infanterie war die spanische Kavalle30
rie verloren, ein Opfer ihrer exerziermäßigen Engherzigkeit und harten Dressur. Morillo hatte, als er seine Truppen sammelte, einen Verlust von vierhundert Mann, teils durch Nahkampf, teils geopfert in der schnellen Strömung. Um eine Lehre reicher, obwohl er alle Kriegskünste zu beherrschen glaubte, zog er sich auf Achaguas zurück, gezwungen, Verstärkung von der Küste anzufordern. Das Glück hatte General Eisenarsch begleitet, und wäre es allen Führern der Patrioten hold gewesen, wäre die Entscheidung bereits jetzt errungen worden. Aber erst der Übergang über die Anden und die Schlachten von Carabobo und Pichincha, in denen Morillo immer noch zwölf tausend Mann zur Verfügung hatte, brachten die Befreiung für die Ländermasse von Guiria bis Guayaquil, und in wenigen Wochen waren den Spaniern zwölf Provinzen entrissen. Die Macht Bolivars reichte nun vom Stillen bis zum Atlantischen Ozean, obwohl seine Lage auch nach der Gründung Kolumbiens schwierig blieb. Erst die spanische Revolution 1820 brachte den südamerikanischen Kolonien die endgültige, lang ersehnte, lang erkämpfte Unabhängigkeit. Als man Antonio Paez, dem berühmten General, der an erster
Stelle den Befreiungssieg Südamerikas erfocht, ein hohes Amt in dem neuen Staat anbot, erwiderte er lächelnd: „Lamento mueto, ich bedaure sehr, meine Herren", und versicherte, er kehre wieder zurück in die Llanos. „Wie ehemals will ich wiederum in einer Hazienda leben, vielleicht meiner eigenen Farm, wenn ich Geld genug heimbringen sollte, und Rinder züchten, Vieh weiden. Wie früher will ich mit den Lianeros Karten und Würfel spielen, wenn wir Talg und Häute genug verkauft haben, und weiterhin von Brotfladen und Salzfleischriemen leben. Ja, wie ehedem will ich, nun da ich im Frieden den General ablege, inmitten meiner alten Kampfgefährten nichts sein als
Eisenarsch, ein Llanero unter Lianeros!" — General Jose Antonio Paez, der berühmte Reiterführer der Indianer im Freiheitskampf Kolumbiens und Venezuelas, wurde aber später, von den Vorstellungen seiner politischen Freundeveranlaßt, seinem Wort untreu und verließ die Steppe. Er trennte sich von Bolivar, dem Libertador, und trennte Venezuela von Großkolumbien. Bis zum Jahre 1863 bekleidete er hier mehrmals das Amt eines Präsidenten, wurde zum Diktator. Er hatte, wie so viele Kämpfer bürgerlicher Revolutionen und Befreiungsbewegungen, vergessen, wofür er einst gekämpft hatte, wer er einst gewesen war: ein Llanero unter Lianeros.
Copyright by Verlag Neues Leben Berlin 1960 . Lizenz Nr. 303 (305/73/60) Umschlagzeichnung und Illustrationen: Hildegard Gerbeth-Schröder Druck: (140) Neues Deutschland, Berlin N 54 • 2178 ES 9 D 4/5
Ein Mercedes 300 SL jagt auf der Straße von Ferrara nach Süden; sein polizeiliches Kennzeichen weist ihn als Fahrzeug aus Westdeutschland aus. In ihm sitzt ein Herr in den „besten Jahren" mit seiner Familie: der Personalchef des WEMAG-Konzerns Kischkel. In einer kleinen Ortschaft kurz vor dem Ufer des Reno hält der Wagen vor einer Tankstelle. „Alles raus zum Beinevertreten", kommandiert der Herr in den besten Jahren mit knarrender Stimme. Der Tankwart kommt; es ist ein hagerer, einäugiger Mensch mit einem zernarbten Gesicht unter dichten schwarzen Haaren. Er trägt einen blauen Overall und eine weiße Mütze. Plötzlich sieht er den Mann in den besten Jahren dicht vor sich, den Mann mit den kurzgeschnittenen Haaren, der goldumrandeten Brille und dem Schmiß auf der rechten Wange. Wie versteinert steht der Italiener und starrt auf den Deutschen. „Major Kischkel", sagt er tonlos. Und dann schreit er es hinaus, haßerfüllt, mit verzerrtem Gesicht: „Major Kischkel!" In unserem nächsten Heft bringen wir die spannende Erzählung aus dem Kampf italienischer Partisanen