KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTUR KUNDLICHE
HEFTE
OTTO M I E L K E
OZEANRIESEN GLA...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTUR KUNDLICHE
HEFTE
OTTO M I E L K E
OZEANRIESEN GLANZ UND U N T E R G A N G
VERLAG SEBASTIAN MURNAU • M Ü N C H E N
LUX
INNSBRUCK -BASEL
Unbezwungen und frei wie seit Anbeginn ist die See. Über die pfadlosen Weiten der Meere wandern die Wogenberge und brausen die Stürme wie am ersten Schöpfungstag. Die See trägt die Schiffe der Menschen auf ihrem Rücken — unberührt, gleichmütig, solange es ihr gefällt. Aber wenn die Elemente sich empören oder wenn die Technik versagt, dann steht der Seemann unmittelbar den Naturgewalten gegenüber in einem schonungslosen und ungleichen Kampf um Sein oder Nichtsein. Dann gilt es, sich zu bewähren, sieh zu behaupten — oder unterzugehen!
Hundertmal über den Atlantik Am Morgen des 26. Juli 1956 wurden die Menschen in aller Welt durch eine Katastrophen-Nachricht aufgeschreckt: „Schiffsunglück im Nebel! — Zwei Ozeanriesen vor der USA-Küste zusammengestoßen! — 2300 Passagiere in Lebensgefahr!" So und ähnlich lauteten die balkendicken Schlagzeilen der Morgenblätter, und so schrien es die Zeitungsjungen den Großstädtern in die Ohren. „Rätselhafte Schiffskatastrophe! — Italienischer Luxusdampfer schwer beschädigt! — SOS-Rufe alarmieren den ganzen Nordatlantik! — Wird die ,Andrea Doria' sinken?" Die Frage ging von Mund zu Mund. Sie ließ Hunderttausende für Augenblicke die eigenen Sorgen vergessen. Was war das für ein Schiff, diese ,Andrea Doria?' Die Zeitungen gaben erste Auskunft: ein 29 083 Bruttoregistertonnen großer Passagierdampfer der halbstaatlichen Italia-Linie in Genua, der größte und schönste Nachkriegsbau der italienischen Handelsmarine. Das Schiff befand sich auf der Reise nach New York, 1134 Passagiere und 575 Mann Besatzung waren an Bord. Dieser Ozeanriese war in der vergangenen Nacht südlich vom Nantucket-Feuerschiff mit dem schwedischen Passagierschiff ,Stockholm' der Svenska Amerika-Linie in voller Fahrt zusammengestoßen. Auf dem Schweden fuhren 206 Mann Besatzung und 460 Passagiere, die sich nach Kopenhagen und Göteborg eingeschifft hatten. Weit über 2000 Menschen also erlebten zur Stunde, in der die Welt entsetzt aufhorchte, die dramatischsten Augenblicke ihres Lebens. Seit der ,Titanic'-Katastrophe im Jahre 1912 war in Friedenszeiten 2
ähnliches nicht mehr geschehen. Fast ein halbes Jahrhundert war die Weltschiffahrt von Katastrophen solchen Ausmaßes verschont geblieben. Und nun diese Nachricht! In Gesprächen und Kommentaren suchte man nach einer Erklärung für das Unfaßbare. Fast täglich stießen irgendwo auf der Welt Schiffe zusammen. Doch das geschah in engen Gewässern, auf Flüssen, vor Hafeneinfahrten . . . dort war es verständlich. Hier aber fuhren beide Schiffe auf der unendlichen Weite des Atlantiks, und doch mußten sie blind aufeinander losgerannt sein. Wie hatte das geschehen können? Der italienische Passagier-Turbinendampfer, erst 1952 vom Stapel gelaufen und seither der Stolz aller italienischen Seefahrer, war am 17. Juli aus Genua zu seiner 101. Atlantiküberquerung ausgelaufen. Ein stolzes Jubiläum: Einhundertmal schon war der Schnelldampfer nach New York und zurück gefahren, und nie war das geringste passiert. Das Meer konnte dem Riesen so wenig anhaben, daß an Bord selbst die Seekrankheit nahezu unbekannt war. Wer von den mehr als elfhundert Fahrgästen hätte also an eine Gefahr denken sollen? Das Vertrauen zu Schiff und Besatzung war groß, und dieses Vertrauen war wohlbegründet. „Die ,Andrea Doria' ist unsinkbar!" Das hatte man jedem, der es hören wollte, mit gutem Gewissen gesagt. Zehn von oben nach unten durchgehende stählerne Schotte teilten das Innere des Rumpfes in elf wasserdichte Abteilungen. Sämtliche Durchgänge konnten von einer Zentrale aus binnen weniger Sekunden hydraulisch geschlossen werden. Gab es also wirklich eine Kollision, bei der die stählerne Bordwand an irgendeiner Stelle leckgestoßen wurde, so konnte höchstens eine der elf Abteilungen voll Wasser laufen. Mehr war nicht zu befürchten. Ja, die Sicherheit ging sogar noch weiter: Sollten — unvorstellbar! — selbst zwei Abteilungen vollaufen, so würde die ,Andrea Doria' immer noch ohne Gefährdung ihrer Fahrgäste den nächsten Hafen erreichen. „Ich kann mir keinen Fall ausdenken, bei dem dieses Schiff so schwer beschädigt würde, daß die See in mehr al* zwei Abteilungen eindringen könnte!" hatte der geschäftsführende Direktor der Reederei bei der Indienststellung der ,Andrea Doria' ausgerufen und 3
damit in der Öffentlichkeit das Wort von der Unsinkbarkeit des neuen Ozean riesen geprägt. Damals dachte niemand daran, daß schon 44 Jahre zuvor ähnliche Worte gesprochen worden waren, als der britische Riesendampfer .Titanic' im April 1912 zu seiner Jungfernfahrt auslief. Fünf Tage später sank das vielbewunderte und gepriesene Schiff auf den Grund des Atlantik. Die „unsinkbare Titanic" war schneller verschwunden, als es selbst der größte Pessimist auszusprechen gewagt hätte. Gewiß, die Ursache war ein riesiger Eisberg, vielleicht zwanzigmal so groß wie das Schiff, scharfkantig und von der Härte eines Diamanten. Er hatte in dunkler Nacht den Rumpf des Riesen unter der Wasserlinie hundert Meter lang aufgerissen. In breitem Schwall war die See tonnenweise eingeströmt und hatte nicht weniger als fünf Abteilungen des Schiffes überflutet. Die angrenzenden Schotte hatten dem übermächtigen Wasserdruck nicht standgehalten, Sie waren eins nach dem anderen gebrochen, und damit war das Schicksal des Schiffes besiegelt. Doch was sollte dieser Vergleich? 1912 war noch kein Gedanke an ein Radargerät, das auch den Kapitän der /Titanic' untrüglich vor dem gefährlich nahen Eisberg gewarnt hätte. Die Schiffsführung der ,Andrea Doria' dagegen besaß, 45 Jahre spater, eine Reihe vorzüglicher technischer Geräte. Ob bei tiefer Dunkelheit oder bei dichtem Nebel, ob über oder unter Wasser -r- diese Geräte ließen alles erkennen, was sich dem Schiff an Hindernissen entgegenstellte. Kurzum: Ein größeres Unglück oder gar eine Katastrophe auf See war für die ,Andrea Doria' praktisch ausgeschlossen. So versicherten es die Erbauer, so propagierte es die Reederei, und so glaubten es schließlich die Passagiere.
Der letzte Tag auf See Piero Calami, der Kapitän, stammte aus einer alten italienischen Scefahrerfamilie. Er selbst war seit einem vollen Menschenalter auf dem Meer zu Hause. Nicht weniger als achtzig Reisen hatte er schon mit der ,Andrea Doria' gemacht. Nun stand er kurz vor der Vollendung seines 60. Lebensjahres und damit vor seiner Pensionierung. Die Fahrt durch das Mittelmeer und die Straße von Gibraltar verlief bei herrlichstem Wetter ohne jeden Zwischenfall. Die 575 Be4
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Der zermalmte Vorderteil der „Stockholm" nach dem Zusammenstoß mit der „Andrea Doria" diensteten an Bord kannten genau ihre Aufgabe; jeder wußte, wo er hingehörte und was er zu tun hatte, damit die Seereise 'allen Gästen des Schiffes zu einem angenehmen, erholsamen Erlebnis würde. Wußten diese Männer aber auch, was sie im Fall einer Gefahr zu tun hatten? Und vor allen Dingen: wußten es die Passagiere?
Den Vorschriften zufolge hätte innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach dem Verlassen des letzten europäischen Hafens ein ,Alle-Mann-Manöver' mit sämtlichen Passagieren stattfinden müssen. Dabei wären alle Menschen an Bord auf die vorhandenen sechzehn Rettungsboote eingeteilt worden. Jedermann hätte gewußt, wo im Falle einer Gefahr sein Platz sein sollte. Aber es war immer und überall das gleiche: Die Fahrgäste auffordern, Schwimmwesten anzulegen, sich aufs Bootsdeck zu bemühen und sich dort für ein offenbar sinnloses, theoretisches Manöver einteilen zu lassen — das hieß die Stimmung verderben, spöttische Bemerkungen einstecken, hieß dem passiven Verhalten derer begegnen zu müssen, für die man sorgen wollte. „Dieser Zirkus! So ein Affentheater!", von drastischeren Ausdrükken ganz zu schweigen. Zu Anfang ihrer Reisen über den Ozean war dieser Widerstand der Passagiere auf der ,Andrea Doria' besonders deutlich gewesen. Das war die Kehrseite der Propaganda über die Unsinkbarkeit des Schiffes. Kaum einer nahm die auch von der Besatzung nur ungern durchgeführte Probe auf den Ernstfall wirklich ernst. Daher und weil man sicher war, daß nichts passieren würde, unterließ man es schließlich ganz, die Fahrgäste mit dieser Art unerwünschter Gesellschaftsspiele zu belästigen. Die sechs Tage dauernde Fahrt über den sehr friedlichen Atlantik, der den Reisenden nicht einmal Wellen mit Schaumkämmen vorführte, rechtfertigte letzten Endes die Sorglosigkeit in den Kabinen und Gesellschaftsräumen. Diese Fahrt hatte nichts mit Schlingern und Stampfen zu tun, sie war ein herrliches Dahingleiten. Hinzu kamen noch die wohltuenden Bemühungen der Schiffsleitung und der überaus höflichen und diensteifrigen Stewards, die den Gästen der 1. Klasse wie auch denen der Touristenklasse die Reisetage zu einem erlesenen Genuß machten. Der 25. Juli war der letzte Seetag. Er wurde, wie auf allen Passagierschiffen, auch auf der ,Andrea Doria' mit einem Abschiedsfest beschlossen, das am frühen Abend mit einem großartigen KapitänsDiner begann und mit einem rauschenden Ball in allen Sälen seinen "Ausklang finden sollte. Am nächsten Mittag würde man den Fuß auf amerikanischen Boden setzen. 6
Die „Stockholm" fährt durch die Nacht Zur selben Stunde, in der sich die Gäste der ,Andrea Doria' an die festlich gedeckten Tafeln setzten, verließ das schwedische Passagiermotorschiff ,Stockholm' den New Yorker Hafen zu seiner Rückreise nach Kopenhagen und Göteborg. Auch dieser schneeweiße Fahrgaster war ein prächtiges Schiff, besonders, seit er vor drei Jahren in Bremen umgebaut worden war. Nur knapp halb so groß wie der Italiener, besaß die ,Stockhom' dennoch allen Komfort und war auf das modernste eingerichtet. Natürlich hatte man auch dieses Schiff wasserdicht unterteilt; es besaß alle erforderlichen Sicherheitseinrichtungen und eine der neuesten RadarAnlagen. Radar, aus den Anfangsbuchstaben der englischen Bezeichnung radio detection and ranging entstanden, ist ein Funkmeßgerät. Von einer kreisenden Antenne, meist auf dem Vormast des Schiffes, werden in regelmäßigen Abständen Hochfrequenzstrahlen ausgesandt, die von allen in Reichweite befindlichen Gegenständen zurückgeworfen und vom Radardipol wieder aufgefangen werden. Aus der Laufzeit zum strahlenspiegelnden Objekt und zurück ergibt sich die Entfernung des Gegenstandes. Die Antennenstrahlrichtung wird im Radargerät registriert und, mit der Entfernung gekoppelt, auf eine Braunsche Röhre geworfen. Der Bildschirm ist dem der Fernsehgeräte sehr ähnlich. Auf ihm zeichnen sich alle im Umkreis befindlichen Gegenstände als Lichtgebilde ab, und zwar im maßstabgerechten Abstand vom Mittelpunkt der Mattscheibe. Dieser Mittelpunkt ist der Standort des Beschauers. An Hand einer Skala läßt sich die Entfernung mühelos ablesen. Führer der ,Stockholm' war der 63jährige Kapitän Gunnar Nordensen. Wie sein italienischer Kollege war auch er ein erfahrener Seemann, der das Motorschiff schon viele Male sicher und ohne Zwischenfall über den Ozean gebracht hatte. Nachdem der Schwede das Ambrose-Channel-Feuerschiff passiert hatte, übernahm der III. Offizier, Ernest Carstens-Johannsen, die Brückenwache, zu der noch ein Quartiermeister und ein Läufer gehörten. Der am Selbststeuergerät eingestellte Kurs zeigte 90 Grad, also genau Ost. Die See war sehr ruhig, der Himmel bedeckt, und die Sicht betrug
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fünf bis sechs Seemeilen. Das Schiff befand sich auf dem freien Atlantik. Etwas Besonderes war nicht zu erwarten. Also würde diese Wache genauso ruhig und ergebnislos verlaufen wie hundert andere auch . . . Es war-die dritte Reise, die Carstens-Johannsen auf der .Stockholm' machte. Zuvor hatte der 26jährige Offizier seine Dienstzeit bei der schwedischen Kriegsmarine abgeleistet und dabei eine Spezialausbildung als Radarbeobachter erhalten. Der Umgang mit diesem Gerät, besonders die Auswertung der Bilder, war ihm also geläufig. Daß er daher weit öfter einen Blick auf den Bildschirm warf, als es seine Kollegen zu tun pflegten, war ohne weiteres verständlich. Was er gelernt hatte, wendete er auch an, zumal diese Kenntnisse seine Aufgabe als Wachoffizier erleichterten. Als Kapitän Nordensen um 21 Uhr 30 noch einmal auf die Brücke kam und nach einem langen Blick auf die Seekarte eine Kursänderung auf 87 Grad anordnete, im übrigen aber alles in Ordnung fand, konnte er sich beruhigt in seine Kajüte zurüdkziehen. Es lief alles seinen gewohnten Gang. Die .Stockholm' strebte mit 18 Knoten Fahrt ostwärts durch die dunkle, ruhige Nacht. Während man auf der ,Andrea Doria', zu der sich der Abstand der .Stockholm' in jeder Stunde um 40 Seemeilen verringerte, in ausgelassener Stimmung Abschied feierte, herrschte auf dem schwedischen Passagierschiff schon bald Ruhe. Nach dem Abendessen zogen sich die meisten Fahrgäste in die Kabinen zurück, um sich zeitig schlafen zu legen. Nach den Aufregungen der Abreise, dem beschwerlichen Anmarschweg zum Schiff, dem Abschied von New York und seinen Menschen war man am ersten Abend nicht zu lauten Festen aufgelegt.
Fremdes Schiff rechts voraus! Auf der Brücke des italienischen Schnelldampfers ,Andrea Doria' herrschte indessen gespannte Aufmerksamkeit. Seit dem Nachmittag befand sich das Schiff im Bereich der berüchtigten Neufundlandnebel. In diesem Seegebiet trifft der aus dem Norden kommende eiskalte Labradorstrom mit dem warmen Golfstrom zusammen. Zuweilen wurde das Schiff in dichte Schwaden gehüllt; dann wiederum lichtete sich der Nebel und gestattete für kurze Zeit freien Blick. 8
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Diese wechselnden Sichtverhältnisse, bei denen man doppelt scharf aufpassen mußte, zogen sich bis zum Einbruch der Dunkelheit hin. Mehrfach wurden Schiffe überholt oder passiert. Das Nebelhorn brüllte seine Warnung in die schmutziggrauen Schwaden hinein. Zusätzliche Ausguckposten wurden aufgestellt, die jedes in Sicht kommende Fahrzeug sofort zu melden hatten. Der Offizier am Radargerät saß diesen Männern wie die Faust im Nacken; denn er sah ja weit eher, was sich näherte, hatte also die Aufmerksamkeit der Ausgucks ständig unter Kontrolle. Nantucket-Feuerschiff war in dunkler Nacht bereits passiert, als man auf dem Radarschirm der ,Andrea Doria' ein Fahrzeug ausmachte, das etwa 17 Seemeilen entfernt vier Grad an Steuerbord auf Gegenkurs lag. Der eigene Kurs war in diesem Augenblick 268 Grad, also fast genau West.
Der letzte Augenblick des italienischen Luxusschiffes
Ein entgegenkommendes Schiff, das ziemlich rechts voraus lag, mußte besonders sorgfältig beobachtet werden, zumal man es bei den herrschenden miserablen Sichtverhältnissen mit bloßem Auge erst in letzter Minute entdecken würde. Kapitän Calamai befand sich selbst auf der Brücke. Der wachhabende Offizier konnte daher am Radargerät bleiben und das andere Fahrzeug ständig beobachten. Dem Leuchtreflex nach mußte es sich um ein größeres Schiff handeln. Es wanderte im Näherkommen allmählich nach Steuerbord aus, so daß es, als sich der Abstand zu ihm auf 5 Seemeilen verringert hatte, in 15 Grad Schiffspeilung lag. Hiernach würden sich beide Fahrzeuge mit Abstand Steuerbord an Steuerbord passieren. Auf See gibt es keinen ausdrücklichen Rechts- oder Linksverkehr. Zwei Schiffe können an Backbord und an Steuerbord aneinander vorbeifahren. Nur wenn sie genau aufeinander zuhalten, Steven auf Steven, sind beide Schiffe nach der internationalen Seestraßenordnung verpflichtet, nach Steuerbord auszuweichen. Auch auf der .Stockholm' hatte man gegen 23 Uhr den Lichtreflex des entgegenkommenden großen Schiffes auf dem Bildschirm des Radargerätes ausgemacht. Der Abstand betrug 12 Seemeilen. Der andere lag aber nicht an Steuerbord voraus, sondern in 358 Grad Schiffspeilung, also etwas an Backbordseite. Während der darauffolgenden zwanzig Minuten wurde die Bewegung dieses anderen Schiffes auch hier ständig beobachtet. Als der Abstand zu ihm nur noch sechs Seemeilen betrug, ließ sich erkennen, daß sich bei gleichbleibenden Kursen beide Schiffe Backbord an Backbord in einem Abstand von etwa dreiviertel Seemeilen passieren würden. Steuerbord an Steuerbord — Backbord an Backbord? Entweder — oder! Nur eines konnte richtig sein! Oder stimmten beide Angaben nicht? Lagen die Schiffe etwa auf sich kreuzenden Kursen? Hatte die ,Andrea Doria' den Schweden tatsächlich an Steuerbord voraus und die ,Stockholm' den Italiener an Backbord, dann konnten sie nicht auf Gegenkurs liegen, sondern fuhren im stumpfen Winkel von etwa 175 Grad aufeinander zu. Nach der Seestraßenordnung hätte in diesem Fall dasjenige Fahrzeug aus dem Wege gehen müssen, welches das andere an seiner Steuerbordseite hatte, also die .Andrea Doria'. 10
Aussage steht gegen Aussage In der erregenden Verhandlung vor dem US-Bundesgericht in New York prallten die Meinungen und Widersprüche über diesen Punkt hart aufeinander. Keiner der beiden Kapitäne, keiner ihrer Offiziere wich auch nur einen Schritt von seinen Aussagen ab. Die eine Partei blieb dabei, das entgegenkommende Schiff an Steuerbord beobachtet, die andere wollte es einwandfrei an Backbordseite geortet haben; beide aber wollten zum anderen parallelen Kurs gefahren sein. „Als sich uns die ,Stockholm' nach dem Radarbild bis auf etwa zwei Seemeilen genähert hatte", sagte Kapitän Calamai aus, „und sie zwischen dreißig und vierzig Grad Schiffspeüung, also an Steuerbord, lag, wurde der Ausguck verschärft. Bald darauf erschien in der diesigen Luft an Steuerbord voraus ein diffuser Schein, der von der Topplaterne des uns entgegenkommenden Schiffes stammte. Bis zu diesem Augenblick mußte ich annehmen, daß die ,Stockholm' uns glatt an Steuerbordseite passieren würde. Plötzlich aber drehte das schwedische Schiff auf uns zu. Der Abstand betrug nur noch knapp eine Seemeile. In dieser Situation war nichts anderes möglich, als das Ruder sofort hart Backbord zu legen und mit dem Nebelhorn das entsprechende Kursänderungssignal — zwei kurze Töne — zu geben." So lautete die Darstellung des Italieners. Was hatte den wachhabenden Offizier der .Stockholm' veranlaßt, kurz vor der Begegnung mit der ,Andrea Doria' nach Steuerbord zu drehen? Um den Abstand zum Italiener, den er sowohl nach dem Radarbild als auch mit eigenen Augen an Backbord voraus sah, sicherheitshalber noch etwas zu vergrößern, befahl er, das Ruder noch um zwei Strich nach Steuerbord zu legen. Kurz darauf sah er jedoch mit Schrecken, daß die ,Andrea Doria' ganz unmotiviert in die gleiche Richtung abdrehte und dadurch der ,Stockholm' direkt vor den Bug lief. Sofort wurde das Ruder auf ,Hart Steuerbord' gelegt und die Maschine auf ,Voll zurück' beordert. Das Unglück war jedoch nicht mehr abzuwenden. So stellten es die Schweden dar. Eine Schiffsführung hüben, eine drüben. Aussage stand gegen Aussage. Beweise gab es nicht, die Logbücher des Italieners, auf die es 11
ankam, fehlten. So war es dem US-Bundesgericht auch nach wochenlangen Verhören und Verhandlungen nicht möglich, Klarheit darüber zu schaffen, wer die Schuld an dem Unglück trug. Eines stand fest: Es war 23 Uhr 21 Ortszeit, als sich die weiße ,Stockholm' der ,Andrea Doria' mit kaum verminderter Geschwindigkeit von rechts näherte. Der Steven des Motorschiffes befand sich nur noch auf Steinwurfweite entfernt. Ein paar Passagiere des Italieners waren aus den Ballsälen an Deck gekommen, um ein wenig Luft zu schöpfen. Dort an der Reling sahen sie plötzlich das Unheil auf sich zukommen. Der Schreck machte sie starr und hilflos. Kein noch so entsetzter Schrei konnte die Katastrophe jetzt noch verhindern. Hier vollzogen sich nur noch Naturgesetze, erbarmungslos und unabwendbar. Dieses stählerne Schiffsungetüm schien sich der ordnenden Menschenhand entzogen zu haben. Es raste auf sie zu, und niemand konnte ihm Einhalt gebieten. Sekunden später erschütterte ein gewaltiger Stoß den italienischen Ozeanriesen. Das ganze Schiff wurde dabei angehoben. Es krachte, knirschte und splitterte ohrenbetäubend. In den Räumen sprangen die Menschen von den Stühlen. Die tanzenden Paare hielten verstört inne. Die Musik riß ab. Frauen schrien auf, Gläser fielen zu Boden, das buntschillernde Sprachgewirr brach ab und wich lähmender Stille. Dann fiel der Riese wieder in seine normale Lage zurück. Was war geschehen? Der messerscharfe, stählerne Klippersteven der ,Stockholm', für Eisfahrten noch erheblich verstärkt, hatte sich, getrieben von der Gewalt einer vieltausendpferdigen Maschine, im spitzen Winkel in die Steuerbordseite des Vorschiffes der ,Andrea Doria' gebohrt. Da der Schwede etwas niedriger war als der Riese aus Genua, riß er ihm unterhalb der Brückenaufbauten die Bordwand auf. In fünfzehn Meter Länge und zehn Meter Höhe schälte er mit kreischendem Getöse die Außenhautplatten des Italieners von den Spanten. Durch das riesige Leck, in das ein Fischkutter bequem hätte hineinfahren können, ergoß sich die See mit derartiger Wucht, daß zwei Abteilungen des Schiffes binnen kurzer Frist volliefen. Sofort wurden vom Ruderhaus aus sämtliche noch unversehrten Schotte geschlossen. Die Anlage funktionierte jedoch infolge der hcf12
tigen Erschütterung nicht mehr richtig. Manche der hydraulisch betätigten Türen in den Schottwänden schlössen sich nur unvollständig. Durch schmale Spalte und Ritzen strömte das Wasser unaufhörlich in die benachbarten Abteilungen ein. Ähnlich verhielt es sich mit der Pumpenanlage, durch die das Schiff gelenzt werden sollte. Die zu ihrem Antrieb benötigten Generatoren waren durch den Stoß und durch einströmendes Wasser beschädigt worden. Sie arbeiteten nur mangelhaft und versagten schließlich völlig. So konnte das Wasser ungehindert in den Schiffsleib dringen, und schon nach den ersten Minuten bekam der schwergetroffene Riese leichte Schlagseite. Dennoch glaubte in der ersten halben Stunde nach dem Zusammenstoß von der Schiffsleitung der ,Andrea Doria' noch niemand an eine Katastrophe. Zu sehr war man von der Unsinkbarkeit des Schiffes überzeugt. Gewiß, es hatte eine Kollision gegeben und ein wahrscheinlich recht erhebliches Leck. Mehr als zwei Abteilungen würden aber kaum voll Wasser laufen. Mit diesem Ballast im Schiffskörper blieb der Dampfer ja noch durchaus schwimmfähig . . . Das wußte jedermann. Schließlich war es oft genug verkündet worden. Niemand hatte eine rechte Vorstellung vom wahren Umfang der erlittenen Beschädigung. So gelang es den Offizieren, Decksleuten und Stewards, die Fahrgäste wieder zu beruhigen. Das Licht hatte nur im Augenblick des Rammstoßes kurz geflackert, dann aber ruhig weitergebrannt. Die Musik begann nach wenigen Minuten wieder zu spielen. Niemand wollte sich vor den anderen blamieren. Alle bewahrten ihre Haltung, und selbst die Ängstlichsten faßten neuen Mut. Von den gewaltigen Trümmern unter Deck, vom Schreien der eingeschlossenen, eingeklemmten, schwerverletzten Menschen, vom Rauschen der unaufhörlich eindringenden und nach und nach das ganze Schiff überflutenden Wassermassen sah und hörte man ja nichts in den Gesellschaftsräumen. Dort lebte die Unterhaltung wieder auf. Viele lachten, tranken sich zu auf den Schreck. Und einige ganz Unbekümmerte waren schon wieder auf der Tanzfläche . . . Diejenigen freilich, die auf das Promenadendeck hinausgeeilt waren, sahen im nebligen Dunst gerade noch die Lichter und Umrisse eines großen Schiffes verschwinden. Ihnen fiel es nicht schwer, zu kombinieren, was in Wirklichkeit vorgefallen war. 13
Dieses schattenhafte Schiff war die .Stockholm'. Ihr Bug, mit dem sie dem Italiener die klaffende Wunde beigebracht hatte, war durch den Anprall völlig zusammengedrückt und zerfetzt worden. Der eben noch schnittig geformte, vorspringende Steven bot nun ein wüstes Bild: ein einziges Gewirr von verbogenem Eisen und Stahl und zersplittertem Holz, zudem noch eine Unzahl bizarrer Fetzen, die der Bug des Schweden aus dem Rumpf des Italieners gerissen hatte. Ganz vorn und ganz oben auf diesen wüsten Trümmern lag neben einem zerbeulten Bett ein vierjähriges Mädchen. Es lebte! Noch Minuten vorher hatte es friedlich in Kabine 54 der ,Andrea Doria' geschlafen. Ein Decksmann der ,Stockholm' entdeckte es als erster. Sofort kroch er unter eigener Lebensgefahr über den zerfetzten Bug, bis er das Kind erreichte und es nahe vor dem Absturz in Sicherheit brachte. Der Bordarzt nahm die schwerverletzte Kleine sofort in seine Obhut. Anschließend unternahm der Mann eine zweite halsbrecherische Klettertour über dieses unvorstellbare Gewirr aus verbogenen und zerfetzten Holz- und Eisenteilen. Er hatte dort auch eine Frau liegen sehen. Sie war tot, und doch setzte der Matrose erneut sein Leben ein, um ihre Leiche zu bergen. Als er sie aus den Trümmern befreite, stürzte sie ins Wasser. Mit letzter Kraft brachte der Mann sich selbst in Sicherheit. Mit vollgelaufenem vorderem Laderaum blieb das schwedische Fahrgastschiff liegen. Die sofort geschlossenen Schotte hielten. Nicht ein Tropfen Wasser drang in Abteilung II. Das Schiff blieb schwimmfähii», und niemand auf ihm geriet mehr in Gefahr.
Hilfe von allen Seiten Inzwischen begann ein Ozeanriese zu sterben, ohne daß es den Menschen an Bord schon voll bewußt wurde. Innerhalb weniger Minuten hatte die .Andrea Doria' dreißig Grad Schlagseite bekommen. Ob nun wirklich ernste Gefahr bestand oder nicht — zuerst mußten die Passagiere in Sicherheit gebracht werden! Von den sechzehn großen Rettungsbooten, die insgesamt 1600 Menschen zu fassen vermochten, konnten jedoch die acht an Backbordseite hängenden Fahrzeuge wegen der Schräglage des Schiffes schon nicht mehr zu Wasser gelassen werden. Für über 1100 Passagiere und 575 Mann Besatzung 14
standen also nur noch acht Boote zur Verfügung. Das waren viel zuwenig, um alle Gäste und die Mannschaft von Bord zu geben. Sobald dieser Mangel den Passagieren zum Bewußtsein kam, mußte eine Panik ausbrechen. Der Kampf um einen Platz in den Rettungsbooten würde einsetzen. Das zu verhindern, war im Augenblick die größte Sorge der Schiffsleitung. Ohne Zögern befahl Kapitän Calamai, SOS-Rufe auszusenden und alle in der Nähe stehenden Schiffe um Hilfe zu bitten. Fast gleichzeitig meldete sich auch die zurückgebliebene ,Stockholm" mit einem Seenotruf: „SOS — SOS — Wir sind mit einem anderen Schiff zusammengestoßen — ,Stockholm' Vorsteven schwer beschädigt — SOS — SOS." Die Küstenwachstation von East Moriches auf Long Island fing diese Rufe auf. Sofort meldete sie an die Zentrale in New York, daß .Andrea Doria' und ,Stockholm' auf 40 Grad 30 Minuten nördlicher Breite und 69 Grad 53 Minuten westlicher Länge schwer zusammengeprallt seien. Eine Minute später gab die Zentralstelle der US-Küsrenwadie Großalarm für alle Stationen an der Ostküste. Sämtliche im Bereich der Unglücksstelle gelegenen Seenotrettungs- und KüstenwadischifTe erhielten Order zum Großeinsatz. Flugzeuge wurden angefordert. Sie sollten die Unfallstelle umkreisen und die Rettungsaktion leiten. Zum Glück lag der Schauplatz des Dramas nur 100 Seemeilen von der Küste entfernt, war also verhältnismäßig schnell zu erreichen. Das erste Schiff, das auf die SOS-Rufe des Italieners antwortete, war der große französische Passagierdampfer ,Ile de France'. Er hatte am Vortage kurz vor der ,Stockholm' den New Yorker Hafen zur Reise nach Europa verlassen und befand sich infolge seiner größeren Geschwindigkeit etwa fünfzig Meilen weiter seewärts. „Wir halten mit höchster Fahrt auf Sie zu", funkte der Franzose an die havarierten Schiffe. Er hatte sofort kehrtgemacht. Kapitän Raoul de Baudean zögerte keinen Augenblick, seine Hilfe anzubieten. Jede verlorene Stunde kostete seine Reederei Tausende von Francs, die ihr niemand ersetzen würde. Aber danach fragte man nicht auf See, wenn es galt, Menschen in Lebensgefahr zu retten. Sobald ein Seenotruf ein Schiff erreichte und es zu Hilfe kommen konnte, hatten alle anderen Interessen zurückzutreten. 15
Gerettete der „Andrea Doria" an Bord der „Ile de France" Genauso dachte man auch auf dem amerikanischen Frachter ,Cape Ann' der United Fruit Company, der am nächsten stand und gleichfalls Kurs auf die beiden SOS rufenden Schiffe nahm. Der dritte, der sich meldete und sein Kommen zusagte, obgleich er mehr als 100 Seemeilen entfernt stand, war der US-Marinetransporter ,William H. Thomas'. Drei Schiffe also eilten von drei verschiedenen Seiten mit höchster Fahrt auf den Unglücksort zu. Inzwischen meldete sich auch die Küstenwachstation auf Long Island. Sie teilte mit, daß insgesamt acht Seenotrettungsboote und KüstenwachschirTe ausgelaufen seien. Diese Fahrzeuge hätten alles 16
an Bord, was zur Rettung Schiftbrüchiger dienlich sei. Flugzeuge konnten jedoch infolge des starken Nebels vorläufig nicht aufsteigen. Die ,Stockholm' antwortete. „Sind schwer beschädigt — Bug zerschmettert — Laderaum Nummer eins voll Wasser — Müssen auf unserer Position bleiben — Helft, wo ihr könnt!" Anschließend funkte sie, obwohl sie selbst Hilfe nötig hatte, an die ,Andrea Doria'. Der Italiener solle seine Rettungsboote zu Wasser lassen. Die ,Stockholm' könne alle Schiffbrüchigen aufnehmen. Die Antwort der ,Andrea Doria' ließ zum erstenmal das Ausmaß der Katastrophe ahnen: „Haben zu viel Schlagseite — unmöglich Rettungsboote auszusetzen — sendet sofort Boote!" Waren nicht wenigstens die acht Boote an Steuerbordseite zu Wasser gekommen? Diese Boote ließen sich doch bedienen! Die Schiffsleitung zögerte damit. Sie befürchtete nach wie vor den Ausbruch einer Panik. Vielleicht war sie auch etwas kopflos geworden. Zu unvorbereitet hatte sie das Unglück getroffen. Offiziere und Besatzung waren der Lage nicht gewachsen, sie standen dem Katastrophenfall fassungslos gegenüber. Während sich der Dampfer langsam weiter zur Seite neigte, wurden endlich die ersten Rettungsboote zu Wasser gelassen. Aber sie waren fast nur mit den Besatzungsmitgliedern bemannt, die die Riemen zu bedienen hatten . . . Wie kam es, daß sich trotz des Ernstes der Lage nur so wenige Fahrgäste in den Booten befanden? Die Schiffsleitung sagte aus, daß sich von den Fahrgästen anfangs niemand dazu hätte bewegen lassen, von Bord zu gehen. Auch jetzt, trotz der Schlagseite des Schiffes, wollte noch niemand an eine tödliche Gefahr glauben. Die Angst vor der Nacht, dem Nebel und dem Meer war größer. Der Atlantik lag heute so glatt wie ein Spiegel da. Und doch flößte er ihnen Furcht ein, ließ sie vor dem Schritt zurückschrecken, sich ihm in diesen Nußschalen von Rettungsbooten anzuvertrauen. Erst das immer stärkere Überneigen des Dampfers nährte den Verdacht, daß die angebliche Unsinkbarkeit der ,Andrea Doria' ein etwas zu leichtfertig ausgestreutes Märchen war. Wie oft war so etwas nun schon behauptet worden? Und doch hatte es noch nie ein unsinkbares Schiff gegeben . . . 17
Endlich begriffen die Passagiere, daß das Leben auf dem Spiel stand. Ihre Erregung begann sich zu steigern. Längst waren die ersten zu Wasser gelassenen Boote in Dunkelheit und Nebel außer Sicht gekommen. Nun setzte an Deck der befürchtete heftige Kampf um die restlichen Boote ein — Boote, die nur einen Bruchteil der Menschen zu fassen vermochten, die sich auf dem sinkenden Schiff befanden. Der drohenden Panik vermochte die Besatzung schließlich Herr zu werden, weil die ,Stockholm' und die bereits eingetroffene ,Cape Ann' sofort ihre Rettungsboote schickten. Wie sich die Rettung der meisten Fahrgäste vollzog und wie sich das Schicksal des verlassenen italienischen Luxusdampfers vollendete, werden wir noch hören. Nicht auszudenken, was sich auf dem Riesenschiff abgespielt hätte, wenn kein Schiff in der Nähe gewesen wäre oder wenn Sturm jedes Zuwasserlassen von Rettungsbooten unmöglich gemacht hätte. Eine Katastrophe schlimmsten Ausmaßes wäre die unausbleibliche Folge gewesen.
44 Jahre vorher Unwillkürlich drängen sich einem die Bilder jener erregenden Ereignisse auf, die vierundvierzig Jahre zuvor an nahezu derselben Stelle des Nordatlantik geschehen waren und die Welt erschüttert hatten. Seither ist der Untergang der /Titanic' unzählige Male beschrieben, dramatisiert, verfilmt worden. Aber gerade dadurch hat sich in vielen Punkten eine ebenso falsche wie hartnäckige Legende gebildet. Es tut not, das Schicksal des Riesenschiffes einmal so darzustellen, wie es sachlicher Nachprüfung standhält. Die /Titanic' war am 10. April 1912 zur Jungfernreise nach New York ausgelaufen. Ganz Southampton, ja, ganz England soll im Bann dieses Ereignisses gestanden haben. Das allein klingt schon merkwürdig. Das Schwesterschiff der .Titanic', die .Olympic', die mit nur ganz geringen Abweichungen etwas kleiner, aber ebenso schön und gleichermaßen stabil war, hatte schon ein Jahr zuvor die erste Reise über den Nordatlantik angetreten und war seitdem regelmäßig auf dieser Route gefahren. Von ihrer ersten Ausfahrt hatte man erheblich weniger Aufhebens gemacht. Der Verdacht ist begründet, daß das erste Auslaufen der /Titanic' erst nach ihrem Untergang so „glorifiziert" worden ist. 18
Natürlich war es ein besonderes Ereignis gewesen, einen zweiten Riesen dieser Art in Dienst zu stellen. England, die Beherrscherin der Meere, war stolz darauf, als erstes Land zwei solche Ozeanriesen in den regelmäßigen Schnellverkehr nach den USA eingesetzt zu haben. Schnelldampfer im eigentlichen Sinne waren aber weder die ,Olympic' noch die /Titanic'. Das schnellste Passagierschiff damaliger Zeit war die britische ,Mauretania', Inhaberin des ,Blauen Bandes'. Sie war rund 32 000 BRT groß und besaß eine Maschinenanlage mit 70 000 PS, die ihr eine Geschwindigkeit von 26,5 Knoten verlieh. Die .Titanic' war rund 46 000 BRT groß. Ihre Kolbendampfmaschinen leisteten zusammen mit der Abdampfturbine aber nur 50 000 PS, also fast 20 000 PS weniger als die ,Königin der Meere'. Die Geschwindigkeit der /Titanic' betrug daher genau wie die der .Olympic' bestenfalls 22 Knoten, ihre Dienstgeschwindigkeit war auf 21,5 Seemeilen in der Stunde festgelegt worden. Zwei seitliche Schrauben und eine Mittelschraube dienten als Antrieb. Trotzdem ist seit dieser Zeit das Märchen nicht mehr auszurotten, daß die .Titanic' auf ihrer Jungfernfahrt den Rekord der .Mauretania' habe brechen und das ,Blaue Band' erringen wollen. Jeder Schuljunge kann sich ausrechnen, daß solch eine Wettfahrt niemals beabsichtigt gewesen sein kann. Ein größeres Schiff mit kleinerer Maschine kann niemals einem kleineren Dampfer mit größerer Maschine davonlaufen. Die .Titanic' machte also ihre erste Reise. Sie war nicht aufregender als alle Jungfernfahrten großer Schiffe. Daß an Bord viele berühmte Persönlichkeiten waren, unter ihnen der Generaldirektor der White Star Line, der die .Titanic' gehörte, und der amerikanische Milliardär Astor mit seiner Frau, lag in der Natur der Sache. Reiche oder berühmte Leute pflegen mit Luxusschiffen zu fahren. Auch damals hatte man die Werbetrommel eifrig gerührt und die Vorzüge des neuen Dampfers in allen Tönen gepriesen. Das zugkräftigste Schlagwort war auch hier das von der Unsinkbarkeit des Schiffes. Gewiß, die .Titanic' war ein Wunderwerk britischer Schiffbaukunst. „Safety first!" Diese Forderung „Zuerst die Sicherheit!" stand als oberstes Gebot bei dem Bau des Ozeanriesen Pate. Ein fast über die 19
ganze Schiffslänge gehender, mannshoher doppelter Stahlboden enthielt 60 .wasserdichte Abteilungen. Fünfzehn von oben nach unten durchgehende Querschotte, deren Durchgänge hydraulisch geschlossen werden konnten, teilten das Schiff im Fall einer Gefahr in 16 Abteilungen. Zwei davon konnten voll Wasser laufen, ohne daß die Schwimmfähigkeit des Dampfers beeinträchtigt wurde. Das waren Tatsachen und Argumente, die Zugkraft besaßen. Fast 1200 Passagiere fanden auf dem mit allem denkbaren Luxus damaliger Zeit ausgestatteten Schiff Platz. Luxuriös waren die Kabinen und Gesellschaftsräume ausgestattet. Aufzüge schafften eine bequeme Verbindung zwischen den neun Decks. Das Schiff besaß eigene Rauchsalons, ein „Cafe Parisien", eine Veranda zum FünfUhr-Tee, verglaste Promenadendecks, ein Schwimmbad, ein Türkisches Bad, Wintergarten und Tennisplatz. Rund 900 Personen dienten dazu, das Schiff über den Ozean zu bringen und für das Wohl der Fahrgäste zu sorgen.
Eisberge! An Bord der /Titanic' herrschte die beste Stimmung. So war es auch am Abend jenes 14. April, einem Sonntag. In den Salons und Sälen der Ersten Klasse traf sich die Elite der Gesellschaft. Wäre nicht das leichte Vibrieren der gewaltigen Maschinen gewesen, so hätte man nicht einmal gemerkt, daß man sich auf einem Schiff befand. Alles war wie in einem großen, erstklassigen Hotel: erstaunliche Weiträumigkeit, verschwenderischer Luxus, bestechende Eleganz. Man aß, trank, plauderte, tanzte, flirtete, und wenn die Gesichter erhitzt waren, ging man hinaus auf das langgestreckte Promenadendeck und ließ sich den kühlen Fahrtwind um die Stirn wehen. Auf der Kommandobrücke durfte man nicht ganz sorglos sein. In den letzten Stunden hatten mehrere Funksprüche anderer Schiffe vor gesichteten Eisbergen südlich der berüchtigten Neufundlandbänke gewarnt. Und das war genau das Seegebiet, das die ,Titanic' jetzt ansteuerte. Zu Befürchtungen war jedoch kein Anlaß vorhanden. Kapitän und Wachoffiziere sowie mehrere Ausgucks hielten die Augen offen. So fuhr das Schiff weiterhin mit voller Kraft auf westlichem Kurs in die Nacht zum 15. April 1912 hinein. 20
Die „Titanic" sinkt in die Tiefe (Gemälde nach Berichten von Augenzeugen) In der letzten Stunde vor Mitternacht erhielt der neue White Star Dampfer einen Funkspruch des englischen Postdampfers ,Californian', der einige Seemeilen vor ihm lag und gleichfalls nach New York wollte. Am Nachmittag hatte er ihm schon eine Warnung vor treibenden Eisbergen zugefunkt. Nun meldete er in einem nicht leicht zu nehmenden Funkspruch: „An ,Titanic' — Hallo Käptn — sitzen hier fest im Drifteis — ,Californian'." 21
Das waren Eismassen, die der Labradorstrom von Grönland mitgebracht hatte. Vorsicht war geboten. Doch der diensthabende Funker der /Titanic' fertigte den Warner unwillig ab. Er möge Ruhe geben und ihn nicht stören, da er sich gerade von Cap Race auf Neufundland die neuesten Meldungen geben lasse. Diese Eigenmächtigkeit des Funkers sollte katastrophale Folgen haben. Kapitän E. C. Smith erfuhr nichts von der Meldung der ,Californian', also auch nichts davon, daß sie nur wenige Seemeilen entfernt stand. Der Funker des Engländers streifte verärgert die Kopfhörer ab, schloß seine Funkbude zu und legte sich in die Koje. Sein Dienst war längst beendet. Die /Titanic' dampfte also genau so ahnungslos durch die letzte Stunde vor Mitternacht dem Verderben entgegen, wie es 44 Jahre später auf der ,Andrea Doria' der Fall sein sollte. Hier wie dort waren Kapitän, Wachoffiziere, Rudergänger und Ausgucks auf Posten, kannten die Gefahr, blickten in die dunkle Nacht hinaus, wachten über das Wohl der Passagiere und sahen doch nicht das Unheil auf sich zukommen. Als sie es gewahrten, war es bereits zu spät. Es war 23.40 Uhr, als die beiden Ausgucks im Mastkorb der .Titanic' plötzlich recht voraus in nächster Nähe einen Eisberg sahen. Blitzschnell reagierte der Wachoffizier auf ihre Meldung: „Ruder hart Backbord! Alle Maschinen voll rückwärts!" Aber die gewaltige Masse von über 50 000 Gewichtstonnen, die sich mit einer Geschwindigkeit von fast 40 Kilometern in der Stunde vorwärts schob, konnte weder so schnell aus dem Kurs gedrückt noch gar angehalten werden. Zwei Kolosse, der eine aus Stahl, der. andere aus Eis, rannten aufeinander zu. Zwar fiel der Vorsteven des Dampfers um einige Grade nach Backbord ab. Das war aber auch alles. Ein Stoß ging durch das Schiff, nicht einmal heftig, aber doch spürbar. Metallisches Schurren folgte, so, als rutsche die Bordwand hart an der Eismauer entlang. Und wirklich glitt das Schiff an dem bläulichweißen Eisriesen vorbei. War es noch einmal gut gegangen? 22
Die ersten Meldungen aus der Tiefe des Schiffes zerstörten diese Hoffnung. Eine scharfe Kante des Eisberges hatte die Bordwand der ,Titanic' unter Wasser in einer Länge von etwa hundert Metern aufgeschnitten wie eine Sardinenbüchse. In breiter Front, über sechs Schotten weit, drang die See ins Innere des Riesen. Die Länge seiner Wunde machte das für unmöglich Gehaltene zur furchtbaren Gewißheit: Fünf Abteilungen des Dampfers wurden gleichzeitig überflutet. Eisblöcke hatten sich über den Schiffsrand geschoben, Wasser überschwemmte den Tennisplatz. Viele Passagiere schliefen schon. Sie hatten überhaupt nichts von dem Zusammenstoß gemerkt. Auch die anderen hatten kaum sonderlich auf die leichte Erschütterung geachtet. Nur wenige waren aus den Salons auf das Promenadendeck hinausgeeilt — nicht aus Angst, sondern um sich das Schauspiel eines dicht vorbeigleitenden Eisberges nicht entgehen ^zu lassen. Unter den Fahrgästen herrschte also völlige Ruhe, und nur auf der Brücke erkannte man die große Gefahr, in der sich das Schiff befand. So unglaublich, so unfaßbar es auch sein mochte: Die .Titanic' begann zu sinken! Sie war nicht zu halten. „CQD — CQD — CQD — (Come quick, danger!)"*), jagte der Funker auf Befehl des Kapitäns unaufhörlich seinen Notruf in die eisige Aprilnacht hinaus und gab Namen und Position bekannt. Zwei Schiffe, die sich in der Nähe befanden, drehten sofort auf den Unglückort zu: der Cunard-Dampfer ,Carpathia' und die ,Mount Temple'. Siebzig und mehr Seemeilen trennten sie von der ,Titanic'. Vier Stunden würde es mindestens dauern, ehe die .Carpathia' eintreffen konnte, obwohl man dort die Kessel überhitzte, die Ventile verkeilte und mit doppelter Heizerschicht fuhr, um die höchstmögliche Fahrt herauszuholen. Würde sich die ,Titanic' diese vier Stunden über Wasser halten? . Noch etwas stimmte zunächst zuversichtlich: ein Dampfer lag ja in nächster Nähe, sogar in Sichtweite, die ,Californian'. In wenigen Minuten konnte sie zur Stelle sein, würde ihre Boote zu Wasser *) Das heute international gebräuchliche SOS ist erst nach der ,Titanic'-Katastrophe eingeführt worden; ebenso das rote RaUetensignal bei Notfällen. Auch die Bestimmung, daß für jede Person ein Platz im Rettungsboot bereit sein muß und daß die Punkgeräte ständig besetzt sein müssen, beruht auf den Erfahrungen dieser Katastrophe. 23
lassen und nach und nach alle Passagiere und die Besatzung des todwunden Schiffes an Bord nehmen, wenn es sein mußte. Doch der Funker der ,Californian' schlief. Niemand auf diesem Schiff hörte die Hilferufe des Passagierdampfers. Wohl sah die Brückenwache die Lichterkette der ,Titanic' am Horizont, ahnte aber nichts Böses. Nach geraumer Zeit stiegen weiße Raketen zum nachtschwarzen Himmel empor. Es waren dringende Hilferufe, aber man hielt sie auf der ,Californian' für Feuerwerk .. . Auf der /Titanic' eilten die Stewards von Kabine zu Kabine, weckten die noch schlafenden Passagiere und baten sie, sich schleunigst anzuziehen und an Deck zu kommen. Eine derartige nächtliche Störung hatte man auf diesem Schiff nicht für möglich gehalten. Ungläubig oder empört, widerwillig oder neugierig folgten die Menschen der Aufforderung. Bald gingen die grauenerregenden Worte von Mund zu Mund, daß der Dampfer sinke. Etliche Fahrgäste wurden höchst unwillig ob dieses schlechten Scherzes, andere wußten nicht, was sie glauben sollten. „Nein, Madame, die /Titanic' wird wohl nicht sinken! Aber aus reiner Vorsicht müssen wir Sie doch bitten, von Bord zu gehen. Ladies and Children first! Frauen und Kinder zuerst!" Mit solchen gewundenen Erklärungen mußten die Offiziere den Menschen zureden und sie mit sanfter Gewalt zu den Rettungsbooten schieben. Die ersten wurden schon zu Wasser gelassen. Jedes Boot konnte rund 80 Personen fassen, aber nur wenige Ängstliche und Gehorsame waren eingestiegen. So legte ein Boot nach dem anderen von der Bordwand ab. Zwar wurde den Booten von Deck aus zugerufen, an der Passagiertreppe längsseits zu kommen und dort weitere Fahrgäste aufzunehmen. Doch vom Blickwinkel der Boote aus erkannte man erst richtig, wie stark der Dampfer mit seinem Vorschiff bereits abgesunken war. Aus Angst, in den gefährlichen Sog des sinkenden oder gar kenternden Schiffes zu geraten, machten sie, daß sie fortkamen, während die Schiffssirenen heulten. Insgesamt besaß die ,Titanic' nur zwanzig Rettungsboote, in denen etwa 1200 Menschen Platz finden konnten. An Bord befanden sich jedoch, obwohl das Schiff längst nicht voll besetzt war, über 2200 Personen . . . Um bei vollbesetztem Schiff für alle Rettungsmöglich24
keiten zu schaffen, hätte die /Titanic' etwa sechzig Boote mit sielt führen müssen. Der Riese war fast 270 Meter lang und 28 Meter breit, aber Platz für 60 Boote war einfach nicht zu schaffen gewesen. Man hätte dem Schiff dafür noch zwei volle Decks aufbauen müssen. Wozu auch? Es war ja unsinkbar! Nur fünf Tage wurde dieser Glaube alt. Dann hatte ein simpler, still dahinschwimmender Eisberg, der in seinem schneeigen Weiß so harmlos ausgesehen hatte, dem Schiff lautlos den Todesstoß versetzt und den Menschen ihre Unzulänglichkeit gezeigt. „Safety first?"
„Alle Passagiere der Titanic nach dem Zusammenstoß gerettet". So meldete noch 3 Tage nach dem Unglückstag die New Yorker Zeitung „The Evening Sun", dann erst wurde das ganze Ausmaß der Katastrophe bekannt. 25
Ein Riese stirbt Tiefer und tiefer neigte sich das Vorschiff. Bald bildeten die Decks eine gefährliche schiefe Ebene, auf der man sich nur noch festgeklammert aufrecht halten konnte. Immer schneller zerrann in den Fahrgästen die Unbekümmertheit und der Glaube an das unsinkbare Schiff. Nun plötzlich begannen sie über die Treppen und Decks zu hasten und sich um die Boote zu drängen, um unter allen Umständen einen Platz zu erhalten. „Frauen und Kinder zuerst!" Die Erkenntnis, daß längst nicht genügend Boote für alle Passagiere vorhanden waren, von der Besatzung ganz zu schweigen, machte die Menschen halb wahnsinnig vor Angst. Immer wieder wiesen die Offiziere auf das Schiff, dessen Topplaternen man am Horizont erkennen konnte. Dort winkte die Rettung, von dort kam bestimmt Hilfe. Dabei glaubten sie selbst nicht mehr daran, daß dieser Dampfer ihnen beistehen würde . . . Warum tat er es nicht? Seit geraumer Zeit war es dem Wachoffizier der .Californian' merkwürdig vorgekommen, daß die ,Titanic' keine Fahrt mehr machte und mehrfach Leuchtraketen abschoß. Er hatte deshalb den Kapitän wecken lassen. Beide hatten dann lange durch ihre Gläser zu dem Ozeanriesen hinübergeblickt. Seine vielen Lichter waren gut auszumachen. Daß er aber Schlagseite hatte, war nicht zu erkennen. Schließlich hatte der Wachoffizier auf Geheiß des Kapitäns versucht, mit der Morselampe Verbindung aufzunehmen. Soviel er aber auch klapperte und die /Titanic' anrief, der Passagierdampfer antwortete nicht. Nach Meinung beider Männer amüsierte man sich auf dem Luxusschiff derart köstlich, daß man für die Blinkrufe eines anderen Schiffes einfach keine Zeit hatte. Daß zur selben Stunde der Funker der .Titanic' immer und immer wieder seine verzweifelten CQD-Rufe hinausjagte, wußte man auf der ,Californian' nicht. Ihr Funker schlief. Es wäre Sache des Kapitäns gewesen, ihn wecken zu lassen. Aber er kam gar nicht auf die Idee, daß dem Ozeanriesen dort drüben etwas zugestoßen sein könnte. Warum brannte man auf der .Titanic' nicht statt der weißen Raketen Blau- oder Rotfeuer ab, wie es viele Schiffe taten, die sich in 26
Seenot befanden? Dann hätte es auf der ,Californian' keinen Zweifel gegeben. Aber solche Notsignale befanden sich gar nicht an Bord! Niemand hatte daran gedacht, sie mitzunehmen. Das hatte man entweder vergessen oder für völlig überflüssig gehalten. So blieb die ,Californian' ahnungslos und untätig liegen, während wenige Seemeilen entfernt zweitausend Menschen den Tod vor Augen hatten. Immer verbissener arbeiteten tief unten im schrägen Schiff Heizer an vier Kesseln, um die Lichtmaschine in Gang zu halten. Würde der Strom aussetzen, das Licht erlöschen und die elektrischen Bootswinden stillstehen, wäre die Panik vollständig. Dabei herrschte oben auf den Decks sowieso schon heilloses Durcheinander, schaurig übertönt von einem Chor zusammengedrängter, gläubiger Menschen, der klagend das Kirchenlied sang: „Näher, mein Gott, zu dir " Alle vierzehn regulären Rettungsboote waren bis um 2 Uhr morgens zu Wasser gelassen. Sie hätten 1200 Mesnchen aufnehmen können, aber nur knapp 500 waren eingestiegen. 1700 Menschen waren noch auf dem Schiff, und 1700 Menschen kämpften um einen Platz in den restlichen vier Klappbooten und zwei Kuttern. Nachdem auch diese Boote zu Wasser gebracht waren und überfüllt vom Schiff abgelegt hatten, blieben 1400 Unglückliche zurück, für die es keine Möglichkeit mehr gab, sich zu retten. Ein riesiges, schwimmendes Bauwerk aus Stahl, das nach heutigem Geldeswert 100 Millionen Mark gekostet hatte, ausgestattet mit verschwenderischem Luxus, gebaut für Jahrzehnte, vor Stunden noch ein strahlender Palast, in dem Reichtum, Schönheit, Eleganz und Wohlleben miteinander wetteiferten, wurde mit einem Schlage zum Riesensarg für eintausendvierhundert Menschen. Hilflos standen sie auf diesem sinkenden Schiff. Schreiend oder betend, tobend oder gefaßt, verzweifelt oder resignierend sahen sie dem unvermeidbaren Ende entgegen. Es war 2 Uhr 20, drei Stunden nach dem Zusammenstoß, als sich der Ozeanriese mit einem letzten Ruck steil auf seinen Vorsteven stellte, sekundenlang in dieser Lage zu verharren schien und dann fast senkrecht in die Tiefe schoß. Das gewaltige Rumoren im Innern des Schiffes, mit dem sich die 17
vielen hundert Tonnen schweren Kessel und Maschinen von ihren Fundamenten lösten und nach unten stürzten, begleitete diesen letzten Akt einer noch immer unfaßbaren Tragödie. Als der Wachoffizier der ,Californian' nach geraumer Zeit wieder einmal dorthin sah, wo die ,Titanic' gelegen hatte, war sie verschwunden. Nicht ein einziger Lichtschein war mehr zu erkennen. Sie wird ihre Decksbeleuchtung ausgeschaltet haben und weitergedampft sein, dachte der Mann. Er war froh, sich nicht mehr um sie kümmern zu brauchen. Im eisigen Wasser trieben viele Menschen, die erst im letzten Augenblick, nur mit einer Schwimmweste um die Brust oder an einen Rettungsring geklammert, vom sinkenden Schiff gesprungen waren. Ihr Rufen und Schreien erfüllte die Luft. Mit letzter Kraft suchten sie sich einem der Boote zu nähern, an denen schon allzu viele hingen und die Fahrzeuge zum Kentern zu bringen drohten. Wo immer noch Platz im Boot war, half man den Ertrinkenden aus dem Wasser. Und doch waren es nur wenige, die auf diese Weise dem Tod entrissen wurden. Hunderte fanden keinen Halt und kein Erbarmen. Erst zwei Stunden nach dem Untergang der ,Titanic' erreichte der erste Helfer, die britische ,Carpathia", den Schauplatz des Dramas. Jedermann an Bord beteiligte sich an dem Rettungswerk, das der Kapitän mit größter Umsicht führte. Er steuerte ein Rettungsboot nach dem anderen an. Die Insassen wurden an Bord genommen, sofort unter Deck gebracht und mit warmen Decken und heißen Getränken versorgt. Insgesamt barg die ,Carpathia' aus 17 Booten 711 Schiffbrüchige, zwei Drittel waren Frauen und Kinder. Als endlich die letzten geborgen waren, begann gerade der neue Tag zu dämmern. Von den drei restlichen Booten — zwanzig waren zu Wasser gekommen — fehlte jede Spur. Eines war schon an der Bordwand der /Titanic' zerschellt, die beiden anderen mußten gekentert sein. Nach Tagesanbruch brach die ,Carpathia' die Suche ab und dampfte nach New York zurück, wo sie die Geretteten an Land gab. Sie waren die einzigen, die die Jungfernreise des Riesenschiffes überstanden hatten. 1500 Menschen hatte die ,Titanic' mit sich in das nasse Grab des Atlantik hinabgerissen. 28
Alle Mann verlassen das Schiff! In einem Punkt unterschied sich die Katastrophe der ,Titanic' von der des italienischen Luxusschiffes ,Andrea Doria': Diesem Schiff standen sofort Retter zur Seite. Die ,Stockholm' ließ Boote zu Wasser, die ,Cape Ann' gleichfalls, und die ,Ile de France' befand sich ebenfalls schon in nächster Nähe. Um 2 Uhr 22 gab man von ,Cape Ann' einen Spruch an die ,Stockholm', daß das erste Boot mit Schiffbrüchigen bei ihr angelegt sei. Daraufhin sandte der Schwede einen Funkspruch an alle, daß die Räumung des sinkenden Italieners begonnen habe. Die Küstenwache antwortete, daß die US-Flotte den Flugzeugträger ,Tarawa' mit Zerstörergeleit sowie zwei starke Schlepper zur Unfallstelle entsandt habe. Man wollte offensichtlich versuchen, die ,Andrea Doria' noch in den Hafen oder wenigstens in flaches Wasser zu schleppen. Gleich darauf funkte der Italiener: „Wir brauchen dringend Verbandmaterial, Ärzte und Rettungsboote!" Nur wenige Schwerverletzte konnten aus den Trümmern unter Deck befreit werden. In den zerstörten Kabinen des Vorschiffs stand das Wasser längst bis unter die Decke. Wer dort eingeklemmt oder schwer verletzt worden war, konnte nicht mehr am Leben sein. Ähnlich wie auf der .Titanic' hatte sich auch die Schiffsführung der »Andrea Doria' endlich zu energischem Handeln durchgerungen und begann die Rettungsmaßnahmen richtig anzupacken. Sie hatte den Schock überwunden und sah den Tatsachen ins Auge. Das Schiff war verloren, darüber gab es nun keinen Zweifel mehr. Die Schlagseite nahm ständig zu. Inzwischen war auch die ,Ile de France' eingetroffen. Sie ließ sofort alle verfügbaren Rettungsboote zu Wasser, die sich im Nebel zu dem sinkenden Schiff tasteten. Dort kletterten die Passagiere an Strickleitern, Tauen und ausgehängten Netzen in hellen Scharen herunter, wurden sofort von den Booten aufgenommen und rasch in Sicherheit gebracht. „Alle Mann verlassen das Schiff — erwarten jede mögliche Hilfe", funkte die ,Andrea Doria' noch einmal. Jetzt waren auch die acht Seenotrettungsboote und Küstenwachschiffe zur Stelle. Sie halfen beim Bergen der Schiffbrüchigen. 29
Die Schwerverletzten waren an Bord der ,Stockholm' gebracht worden, die sofort Hubschrauber für den Transport an Land anforderte. Auch dieses Hilfsmittel wurde ohne Zögern eingesetzt. Stunde um Stunde arbeiteten die Besatzungen aller am Rettungswerk beteiligten Schiffe am Abbergen der Passagiere und der Besatzung. Inzwischen war es hellichter Tag geworden. Die Nebelfelder verschwanden. Klares Sonnenlicht überflutete den Schauplatz, auf dem sich ein sterbendes Schiff, umgeben von vielen Helfern, immer mehr auf die Seite legte. Insgesamt vierzehn Schiffe taten ihr Bestes. Die Funker schickten immer neue Meldungen zum amerikanischen Kontinent hinüber: „Bisher 875 Überlebende gerettet — .Andrea Doria' hat bereits sechzig Grad Schlagseite — US-Transporter ,William H. Thomas' an der Unfallstelle eingetroffen — Funkzeichen der ,Andrea Doria' nur noch sdiwach zu hören — Alle Passagiere werden geborgen — Auf dem Schiff bleibt nur ein Teil der Besatzung zurück " Die einlaufenden Funknachrichten wurden unmittelbar — in New York und anderen amerikanischen Großstädten, aber auch in Europa und dort vor allen Dingen in Rom und Genua — durch den Rundfunk und die Presse weiterverbreitet. Funkreporter, die mit Hubschraubern aufgestiegen waren und über dem Schauplatz der Tragödie kreisten, schilderten alles, was sie unter sich sahen: „Ununterbrochen nähern sich leere Rettungsboote der sinkenden ,Andrea Doria', um vollbeladen zu den anderen Schiffen zurückzukehren. Bei klarem Sonnenlicht erkennen wir aus niedriger Höhe, wie sich die Menschen auf dem Italiener an die Reling der Steuerbordseite drängen, wie sie darüber hinwegsteigen und wie Ameisen an Leitern und Netzen zum Wasser hinabklettern. Überall strecken sich ihnen aus den Booten hilfreiche Hände entgegen." „Bei aller Tragik ist es ein erhebendes Bild!" rief einer der Funkreporter in sein Mikrophon. „Alles, aber auch alles, was möglich war, ist hier aufgeboten, um dem todwund getroffenen Riesen beizustehen und seinen Menschen das Leben zu retten. Ich zähle vier große Dampfer, zwei kleinere Schiffe, acht Seenotrettungsboote, und sehe jetzt aus Westen vier Zerstörer mit großer Fahrt herankommen. Ihnen folgt, noch weit im Hintergrund, ein 30
Flugzeugträger. Die Zerstörer haben Ärzte, Sanitätspersonal und Medikamente an Bord, um den Verletzten der ,Andrea Doria' die Erste Hilfe zu bringen. Im Hafen von New York wird, wie ich soeben erfahren habe, in fliegender Eile alles zum Empfang der geretteten Schiffbrüchigen vorbereitet, damit sie ein Dach über den Kopf bekommen und die nötigste Kleidung und Pflege erhalten. Die ganze Welt nimmt Anteil am Schicksal dieser schwergeprüften Menschen. Die Ärmsten unter ihnen sind die Auswanderer, die mit allem, was sie besaßen, gekommen sind, um in den Vereinigten Staaten eine neue Heimat zu finden. Jetzt werden sie, kaum mit dem Nötigsten bekleidet, bar jeder Habe, den Fuß auf unser Land setzen und nicht wissen, wie für sie das Leben weitergehen soll . . . " Die Meldungen vom Zustand des Italieners wurden immer bedrohlicher. Es gab keine Hoffnung mehr, das Schiff noch zu bergen. Inzwischen hatte es mehr als 60 Grad Schlagseite bekommen. Da schickte die ,Ile de France' um 4 Uhr 58 den erlösenden Funkspruch in die Welt: „Alle Passagiere gerettet — Fahren mit Volldampf nach New York — Keine Hilfe mehr notwendig." Die Menschen, besonders jene, die Freunde und Verwandte auf dem italienischen Passagierschiff hatten, atmeten auf. Alle, also auch die Besatzungsmitglieder des Schiffes, waren gerettet: So verbreiteten es alle Rundfunkstationen, so verkündeten es alle Zeitungen.
Genauso hatte damals, als die /Titanic' versunken war, die erste, allzu optimistische Meldung gelautet. „All saved from Titanic after collision", — ,Nach dem Zusammenstoß sind alle Passagiere gerettet' " — hatte die New Yorker Zeitung ,Evening Sun' in dicker Überschrift auf ihrem Titelblatt vom 15. April 1912 verkündet. Wenige Tage darauf mußte man die Totenliste von 1500 Menschen veröffentlichen, die im Atlantik ein nasses Grab gefunden hatten. Bei der ,Andrea Doria' war die Zahl derer, die den Tag der Katastrophe nicht überlebten, gottlob weit geringer. Gemessen an der großen Hilfsbereitschaft, bei der man alles eingesetzt hatte, stieg jedoch die Zahl der Vermißten erschreckend in die Höhe. 31
Auf einen durch Funk erhaltenen Befehl seiner Reederei verließ Kapitän Galamai, der auf seinem Schiff hatte bleiben wollen, als letzter den Dampfer. Das war gegen sechs Uhr morgens. Seiner Aussage nach befand sich niemand mehr an Bord. Dann aber, als die Schiffe mit den Überlebenden des Italieners in New York einliefen, die ,Ile de France' 753 Gerettete von Bord gab, die ,Cape Ann' 129 Schiffbrüchige brachte und schließlich auch die ,Stockholm' trotz ihrer schweren Beschädigung mit eigener Kraft zurücksteuerte und 523 Besatzungsangehörige und Passagiere der .Andrea Doria' an Land setzte, als man dort in aller Eile Listen aufstellte und sie mit den aus Genua herübergefunkten Listen verglich, stellte man fest, daß doch nicht alle Menschen das sinkende Schiff verlassen haben konnten. Erst waren es 29, die man nicht fand, dann 43 und schließlich 50 Vermißte. Weder bis zur Stunde des Untergangs — 10 Uhr 09 Ortszeit (15 Uhr 09 MEZ) — noch nachher fand man unter den vielen Trümmern, die das Meer bedeckten, auch nur einen Überlebenden. Demnach müssen 50 Menschen auf dem Dampfer den Tod gefunden haben, ohne daß die Schiffsleitung, die vollzählig gerettet wurde, eine Erklärung darüber abzugeben vermochte. Das war die bittere Erkenntnis: Trotz aller nur denkbaren Hilfeleistung hatten nicht alle Menschen gerettet werden können. Wo lag die Ursache? Wer trug die Schuld? Die Aussagen der Überlebenden waren allzu widersprechend. Fest steht, daß der monatelange Streit, daß auch die Gerichtsverhandlungen die Schuldfrage nicht klären konnten. Ein Ozeanriese, ein modernes, für unsinkbar gehaltenes Schiff, liegt auf dem Grunde des Meeres, Millionenwerte sind vernichtet. 50 Menschen wurden jäh aus dem Leben gerissen.
Bilder: Bilderdienste Ullstein und Süddeutscher Verlag. Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Lux-Lesebogen
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(Geschichte)
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