James Douglas
Operation Cinderella
s&p 12/2007
Als die Zwillingstürme in Schutt und Asche versinken, planen die Draht...
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James Douglas
Operation Cinderella
s&p 12/2007
Als die Zwillingstürme in Schutt und Asche versinken, planen die Drahtzieher bereits den nächsten Schlag: Die vom Schock gelähmte Nation soll durch einen perfiden Coup auf die US-Regierung und ihren Präsidenten endgültig in den Staub gedrückt werden. Die Einzigen, die den furchtbaren Plan vereiteln könnten, sind zwei Frauen – durch ein mysteriöses Schicksal verbunden, kämpfen sie gegen die Zeit und die tickende Uhr … ISBN: 978-3-7844-3122-2 Verlag: LangenMüller Erscheinungsjahr: 2007 Umschlaggestaltung: Atelier Sanna, München
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Die attraktive Psychologin Leslie Palmer genießt ihren guten Job beim US-Marinenachrichtendienst und die Stunden mit ihrem einfallsreichen Geliebten, bis eines Tages ihre Zwillingssöhne entführt werden. CIA-Doppelagent Rick Bronx schmiedet ein grausiges Komplott, in dem Leslie die Hauptrolle spielen soll mit dem Auftrag, als Doppelgängerin der First Lady den amerikanischen Präsidenten zu ermorden. Es bleiben Leslie zweiundsiebzig Stunden, wenn sie ihre Söhne lebend wieder sehen will. Aus der Asche der Zwillingstürme steigt sie ins Weiße Haus, um den furchtbaren Job zu erledigen, den sie nicht ablehnen kann. Dabei holt sie ihr Schicksal ein, das Jahre zurück in einer stürmischen Nacht in Texas seinen Anfang genommen hat. Sie wird bedroht, überwacht, man stellt ihrer Familie nach, mit keiner Menschenseele darf sie darüber reden. Doch sie ist kein Verlierertyp. Rick Bronx hat Leslie Palmer und ihre Söhne unterschätzt. Die Psychologin kämpft mit subtileren, aber sehr effektiven Mitteln gegen den Erpresser. Ihr Plan, sich der tödlichen Spirale zu entwinden, führt sie auf eine gefährliche Mission. Im Weißen Haus kommt es zwischendurch zu prickelnden Szenen, als der Präsident seine vermeintliche Gattin in die Arme schließen will. Leslie lässt sich scheinbar auf Bronx’ Handel ein, doch dieser hat noch nicht alle Trümpfe ausgespielt. Auf der Brooklyn-Bridge kommt es zum finalen Showdown. Die dramatischen Geschehnisse rund um den 11. September bilden den Hintergrund für diesen furiosen Thriller, der seine Leser mit überraschenden Wendungen in Atem hält und Zug um Zug auf eine verblüffende Auflösung zusteuert.
Autor
James Douglas lebt und arbeitet in Zürich und New York. Der ehemalige Zeitungsreporter, Wirtschaftsanwalt und Oberstleutnant kennt wie kein Zweiter die Verflechtungen von Geld, Macht und Politik. Seine tiefen Einblicke in geheimdienstliche Aktivitäten, verbunden mit unbändiger Fabulierlust und Prägnanz des Wortes, machen ihn zum Spezialisten für packende Spionagethriller, von denen zwei auch in New York erschienen.
Pete Edler, Stockholm, der schon meinen Roman »Brennpunkt Philadelphia« ins Amerikanische übersetzt hat, danke ich für seine wertvolle Unterstützung und Beratung, vor allem für kritische Durchsicht der Texte.
Prolog Im Nachhinein konnte der Chronist dieser Geschehnisse kaum fassen, was ihm in jener regnerischen Nacht im kalten Spätherbst des Jahres 2005 Unglaubliches widerfahren war. Es gab keinen triftigen Grund, von der üblichen Route abzuweichen und die drittklassige Straße durch die ziemlich verlassene, von Hügeln, Schluchten und Wäldern durchsetzte Gegend zu wählen. Vermutlich lag er gut in der Zeit, möglicherweise schreckte ihn der starke Verkehr auf der direkten Autoroute ab oder er folgte seiner Intuition, oder was er später dafür hielt. In Gedanken versunken fuhr er quer durch das einsame Land in die einbrechende Nacht hinein und freute sich auf die Feier, auf seine Liebsten, die vielen interessanten Freunde und die hübschen Frauen. In seiner Phantasie malte er sich das eindrucksvolle Château aus, sah die lange Allee im silbernen Mondschein, den symmetrisch um den glitzernden Teich angelegten Garten, die kiesige Auffahrt zum Hauptportal, unter dem die Gastgeberin in einem weichen Crêpe-de-Chine-Kleid ihn mit einem sanften Kuss begrüßte. Dann das Diner im Kerzenlicht, sein Magen knurrte unanständig, die Konversation, das süße Kosen, der köstliche Wein, sanft rieselnde Musik. Nichts hätte ihn davon abhalten können, das Château zu erreichen und in eine Nacht voller Lust und Leidenschaft zu versinken. Außer eine andere Frau. Die Straße fiel ab, eine nass glänzende Kurve führte zur Brücke. Zuerst sah er das schwarze Band des trägen Flusses im spärlichen Mondlicht, dann die Scheinwerfer. Abseits der Straße! Starr warfen sie ihren Lichtkegel ins schwarze Nichts. Etwas stimmte nicht. Ganz und gar nicht. Kein Zweifel. Er bremste abrupt, hielt an, sprang aus dem Wagen, warf sich an die Brüstung. Da sah er das Schreckensbild eines grotesk auf die 5
Seite gekippten liegenden Wagens im Flussbett. Seine Leuchten zündeten unheilvoll in den Nachthimmel hinauf. Er eilte, rutschte die Böschung hinunter, schrie und rief unverständliches Zeug. Kein Mensch antwortete. Sie lag mit dem Kopf auf dem Lenkrad. Blondes Haar schimmerte. Wasser umspülte ihr Gesicht. Sich am Wagen festhaltend, watete er heran. Brusttief strömte die kalte Flut. Später, nach Minuten, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, hatte er ihren schlaffen Körper mit Müh und Not geborgen. Sie lag reglos oben an der Böschung im nassen Farn. Telefonieren? Seine Jacke mitsamt dem Handy hatte es fortgeschwemmt. Später wusste er nicht mehr, wie er es geschafft hatte. Prellungen am ganzen Körper, eine Schnittwunde in der Hand, eine geschürfte Stirn erinnerten ihn an die Rettung in letzter Minute. Er presste der Leblosen Luft in die Lungen, immer wieder. Irgendwie machte er es richtig. Sein hartes militärisches Training lag Jahre zurück, aber die Reflexe waren noch vorhanden. Dann, endlich, regte sie sich. Für einen Bruchteil einer Sekunde begegneten sich ihre Augen. Ein erstaunter Blick aus einem schönen Gesicht. Sie hustete, schüttelte sich. In seinem Wagen fand er die karierte Decke, den Flachmann, halb gefüllt mit Whiskey. Beides half. Sie fand ihre Sprache wieder. Er chauffierte sie vorsichtig nach Hause: Le Milieu de la Fin, wie ein rostiges Schild verkündete. Das Ende der Welt erwies sich als sanfte, vom Mondlicht verzauberte Senke mit einem Bauernhaus als schwarzer Fleck. Ein Mann trat ins schwache Licht der Haustür, als der Wagen auf dem kiesigen Vorplatz knirschend anhielt. »Steve«, kam es schwach über ihre Lippen. Er musterte den Chronisten, der seine Frau wie Christophorus auf den Armen über die Schwelle trug, mit unverhohlen feindlichem Blick. »Was ist passiert? Was hat der Kerl dir getan? Wo ist dein Auto?«, fragte er aufgebracht, 6
mit zwei Fingern die hässliche, über die ganze Länge seines Nasenrückens verlaufende Narbe reibend. Später saßen sie vor dem lodernden Kaminfeuer. Steve brachte Tee, wollte die Polizei rufen. Sie schüttelte den Kopf, da verfiel er in trotziges Schweigen. Wenig später verließ er das Haus, die Kamera stumm vor sein struppig bärtiges Gesicht haltend, um seine Absicht anzudeuten. »Warum sind Sie eigentlich durch diese Gegend gefahren?«, fragte sie. Im Kamin verbreitete starke Glut behagliche Wärme. Der Chronist wusste keine Antwort. Schicksal, dachte er. »Es hat einen tieferen Sinn«, meinte sie, und nach Mitternacht, Steve war nicht zurück, begann sie mit ihrer Erzählung: »Es war kurz vor dem 11. September 2001 in New York. Ich hieß damals Leslie Palmer, hatte zwei Prachtkerle von Zwillingssöhnen, eine glänzende berufliche Karriere und ein nahezu vollkommen glückliches Leben. Dann krachte alles in sich zusammen …« Eine unglaubliche Geschichte. »Ich erzähle Ihnen meine Geschichte nur unter einer Bedingung«, sagte sie unmissverständlich. »Sie müssen mir versprechen, meine Anonymität zu respektieren, den Aufenthaltsort, meinen heutigen Namen. Sie können die Story verbreiten, aber lassen Sie mich in Ruhe.« Als Steve müde mit umgehängter Kamera zurückkam, war seine verschlossene Miene von tiefer Skepsis geprägt. Die Zeit verflog. Packend erzählte sie bis in den frühen Morgen hinein. »Warum erzählen Sie mir das alles?«, wollte er am nächsten Tag wissen, als sie zusammen in der Küche Gemüse für einen Salade Niçoise schnitten. Steve war ausgerückt, um mit dem Nachbar und dessen Traktor das Wrack zu bergen. »Warum kamen Sie des Weges und haben mich gerettet?«, antwortete sie sibyllinisch. »Ich glaube an eine höhere Fügung. 7
Es gibt im Leben Momente, in denen man auf seine innere Stimme hören muss. Wer schickte den Retter in finsterer Nacht?« Er blieb eine Woche auf ihrem Hof. Steve blieb verstockt, manchmal rauchten sie nachts draußen, blickten schweigend über Le Milieu de la Fin hinauf zu den Sternen. Was in den folgenden Kapiteln erzählt wird, ist Leslie Palmers schonungsloser Bericht über die dramatischen Ereignisse jener Tage, als die Vereinigten Staaten von Amerika nach dem furchtbaren Terroranschlag auf das World Trade Center in Manhattan nur knapp einem perfiden Anschlag auf die USRegierung entgingen.
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I. TEIL
01 … Rick Bronx hatte schon früher für seine Regierung getötet, in Afghanistan zum Beispiel. Über den Gedanken, dass er wieder töten würde, machte er sich keinen Herzschlag lang Gewissensbisse. Das hier war ein Geschäft, das sorgfältig und nach gewissen Prinzipien auszuführen war: Einfachheit hieß die erste Regel, Bündelung der mentalen und physischen Kräfte die zweite. Weiter galt es, sich jederzeit den Rücken frei zu halten. Vor zehn Minuten hatte er das CIA-Hauptquartier in Langley, Virginia, hinter sich gelassen, die Georgetown Pike in östlicher Richtung genommen. Nach ungefähr vier Meilen mündete die Turnpike in den Capital Beltway, überquerte den von dichtem Wald gesäumten Potomac River nach Maryland hinein. Es herrschte mäßiger Verkehr. Die Ausfahrt 38 brachte ihn in nördlicher Richtung auf die I-270 an das Städtchen Rockville. Auch heute spürte er dieselbe innere Erregung wie damals vor langer Zeit in Aden, als er als junger Hitzkopf die von ihm handgebastelte Bombe in das Versammlungslokal der jemenitischen Maoisten geworfen hatte. Die Wahl der Waffe war immer entscheidend. Sie musste ihm vertraut sein wie ein verlängerter Arm, damit im entscheidenden Augenblick nicht die geringste Unsicherheit den Erfolg gefährdete. Zwanzig Minuten später erinnerte ihn das Navigationssystem an die herannahende Ausfahrt 18. Er nahm Gas weg, verließ den Highway, warf einen prüfenden Blick auf die Karte, überquerte 9
dann die Frederick Road und näherte sich dem kleinen Ort Clarksburg. Er lag gut in der Zeit. Vor ihm erhob sich die sanft gewellte, bewaldete Hügellandschaft des Little-BennetRegionalparks. Abgemähte helle Felder flossen in die grünen Wiesen des Montgomery County, bevor er langsam in den lichten, bunten Mischwald hinein fuhr. Bronx schaute grimmig entschlossen drein, als er sich kurz im Rückspiegel checkte. Düster abwärts kurvende Mundwinkel, tiefe Stirnfalten über der markanten Nase, buschige Brauen und vor allem die graublauen, hellwachen Augen ließen den etwas steif wirkenden Mann mittleren Alters interessant aussehen. Frauen warfen ihm oft diese schnellen, aus Bewunderung und Abschätzung gemischten Blicke zu. Männer beneideten ihn, weil er trotz seines harten Aussehens, oder gerade deswegen, die Gabe hatte, mit gewinnender Art Leute rasch für sich einzunehmen. Sicher hatten ihm diese Eigenschaften bei seiner erstaunlich raschen Karriere vom versierten Feldagenten im Hindukusch in die oberen Etagen der berüchtigten CIA-Nachrichtenzentrale geholfen. Seinem beruflichen Blitzaufstieg war aber auch der passende Umstand förderlich, dass Rick weder Frau noch Kinder hatte. Als eingefleischter Junggeselle und Einzelgänger brauchte er keine Rücksichten auf hinderliche familiäre Ansprüche zu nehmen. Ein schwacher Wind aus Nordosten trieb ein paar Wolkenfetzen über die hohen Wipfel. Bevor die Landstraße nach ungefähr drei Meilen zu einem kleinen Fluss hin abfiel, lenkte Bronx in eine enge Autospur ein, die sich zwischen hohen, hellgrauen Stämmen verlor. Im Schritttempo fuhr er ein kurzes Stück hinein, erreichte die kleine Lichtung, fand die Stelle und setzte den dunkelblauen Ford rückwärts hinter den völlig verfallenen, niedrigen Schuppen. Bronx war die Varianten des Kills noch während der Fahrt systematisch durchgegangen. Erdrosseln? Ziemlich sauber zwar, 10
aber problematisch – ein möglicher Kampf konnte verräterische Spuren hinterlassen. Eine Sprengladung setzen? Dazu fehlte die erforderliche Zeit. Explosionen am Wagen eines Opfers ließen sich am besten in einem Parkhaus bewerkstelligen. Verkehrsunfall vortäuschen? Nein. Blieb die Schusswaffe. Ein Kopfschuss war rasch und endgültig, brutal zwar, aber Sensibilität war in diesem Geschäft der Anfang vom Ende. Howard Young erreichte den Treffpunkt, der abseits der Wanderpfade und Parkplätze lag, fast auf die Minute genau zur vereinbarten Zeit. Zunächst hörte Bronx nur Motorengeräusch, das abstarb. Darauf Stille. Mit zusammengezogenen Brauen spähte er in die Richtung, wo er seinen Kontakt erwartete. »Hallo?« Bronx fuhr herum. Ein schlanker, blonder Mann kam von hinten her entschlossenen Schrittes auf ihn zu. Ernsthaftigkeit stand in seinem Gesicht, umständlich fingerte er an seiner Krawatte herum, als wäre ihm der Kragen zu eng. Seine Lippen zuckten verschmitzt, als freue er sich über die gelungene Überraschung. Das Milchgesicht ist älter, als er aussieht, konstatierte Bronx gelassen für sich. »Es gibt zu viele Buchen in diesen Wäldern«, sprach der junge Agent des Zoll- und Grenzschutzes CBP den Kennsatz. »Richtig, Buchen nehmen dem Jungwuchs das Licht. Ich bin Rick Bronx, CIA.« »Howard Young. Sehr erfreut, Sir. Ziemlich abgelegen hier.« Er schielte um sich, als gälte es, feindliche Späher ausfindig zu machen. »Einsamkeit ist die wahre Gefährtin der Spione«, meinte Bronx bestimmt. »Hier sind wir sicher, ich kenne das Gebiet.«
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Er kam zur Sache: »Gute Arbeit, die Sie da geleistet haben, Howard. Nur frage ich mich, warum informierten Sie nicht gleich Ihren Commissioner?« Der Chef von Customs and Border Protection war ein alter Hase, dem nichts ferner stand als die Zusammenarbeit mit der CIA. Die Schlapphüte von Langley hielt er für eine verdorbene Brut von illegalen Spitzeln und lizenzierten Killern aus dem Kalten Krieg. Howards Antwort überraschte Bronx denn auch nicht im Geringsten. »Sehen Sie, Sir, ich hab’s gar nicht erst versucht. Mein Boss hat kein Musikgehör. Sein Flair für geheimdienstliche Arbeit ist ungefähr so groß wie seine Leidenschaft für Kannibalen. Also hab ich der Not gehorcht und mir ein eigenes Dossier angelegt. Hier, Sir, das wär’s.« Howard hielt dem grinsenden CIA-Mann einen gelben, länglichen Umschlag hin, den er aus der schmalen Aktentasche hervorgeklaubt hatte. Bronx zögerte absichtlich. »Finden Sie es richtig, dass Sie unter Missachtung des Dienstwegs an die CIA gelangen? Sie haben doch sicher eine Kopie für das CBP-Archiv angelegt?« Howard schüttelte theatralisch betrübt den Kopf. »Wissen Sie, Sir, wir fristen in unserer Nachrichtenabteilung ein kümmerliches Dasein. Reformen schiebt man auf die lange Bank. Also dachte ich mir, die CIA muss davon unterrichtet werden, bevor es zu spät ist. In Langley wisst ihr, was damit anzufangen ist. Bei uns hat man etwas gegen euch, also behält man die Informationen unter Verschluss und will die Erfolge selber einheimsen.« Bronx schien Youngs Worte abzuwägen. Das Risiko, dass Howard seine Information doch kopiert hatte, musste er in Kauf nehmen. Andererseits fand er im jugendlichen Gesicht des Mannes keine Spur von Doppelspiel. In solchen Dingen täuschte Bronx sich selten. 12
»Wem sagen Sie das, Howard!«, rief er dann aus, »Sie haben Recht – die Rivalitäten unter den Nachrichtendiensten führen dieses Land noch in den Ruin. Gut, dass Sie den Weg zu uns gegangen sind.« »Danke, Sir. Darf ich mit Ihrer Diskretion rechnen? Wenn die im CBP etwas von unserem Treffen erfahren, ist meine Gans gebraten.« Bronx passte Youngs kameradschaftlicher Ton. Wie väterlich legte er ihm die Hand auf die Schulter. »Keine Angst, Howard. Keine Seele hört was davon. Ich bin von Natur aus quellensicher. Lippen mit Reißverschluss, verschwiegen wie ein Grab.« Howard schien erleichtert. »Wissen Sie, Sir, ich bin frisch verheiratet, meine Frau bekommt ihr erstes Baby im Oktober, und ich, Sie verstehen, ich bin auf den Job angewiesen, also …« Bronx trat näher, blickte dem jungen Mann direkt in die unverfänglich strahlenden Augen. »Howard, Ihr Name bleibt mir in bester Erinnerung. Auch in Langley gibt es Veränderungen. Unsere Organisation ist im steten Fluss. Die Terrorabwehr wird jeden Tag wichtiger. Leute mit Initiative wie Sie, dynamische Selbststarter, die haben Zukunft. Dann also!« Er packte mit beiden Händen Youngs Arm, drückte ihm fest die Hand, als wolle er Abschied nehmen. Howard stammelte ein paar Dankesworte, fragte dann doch: »Sir – äh – interessiert Sie nicht, was da drin steht?« Sich aus der Umklammerung lösend, deutete er auf den Umschlag, den Bronx unter einen Ellbogen geklemmt hatte. Der CIA-Mann nickte mehrmals bestätigend, wobei ein anerkennendes Lächeln seine energisch gespannten Lippen umspielte. »Doch, doch. Brennend sogar. Sie sprachen doch am Telefon schon von verdächtigen Visa-Erteilungen. War schon etwas unvorsichtig. Hat vielleicht jemand zugehört? Mit wem haben Sie sonst noch darüber gesprochen?« Er zog die Blätter 13
vorsichtig aus dem Umschlag und schritt zum dunkel gähnenden Eingang des Schuppens hinüber. »Kein Sterbenswort, Sir«, sagte Young, ihm nacheilend. »Ich musste mich vorsehen. Bei uns laufen allerlei Intrigen, und …« »Gut gemacht, Howard«, lobte Bronx, wischte im Halbdunkel mit dem Ärmel über den alten Sägebock, dass der Staub aufwirbelte. »Sie werden … chhh … sehen, Sir«, hustete Young. »Die Visa sind von unseren Botschaften in Saudi-Arabien und Pakistan ausgestellt.« Bronx legte die Papiere auf die vermoderte Holzplatte, wobei sein Fuß gegen etwas Hartes stieß. Staubflöckchen tanzten wie kleine Mücken im Lichtstrahl, der durch die Dachritzen fiel. »Die Typen besuchen Flugschulen in Florida und Kalifornien …«, hörte er Howard berichten, während er sich bückte, um am Boden nachzuschauen. Der hölzerne Stiel einer Axt lag in verkrusteter Erde, von faulem Laub verklebt. Der Griff fühlte sich solide an, steckte fest im Eisen der schweren Klinge. Sich erhebend, lehnte er den Stiel beiläufig an den Sägebock, überflog dann das Dokument. »Einen der Männer habe ich ausgemacht«, plauderte Young ahnungslos weiter. Bronx traute seinen Augen kaum, wie brisant die Nachricht war, die ein greller dünner Sonnenstrahl illuminierte. Er las mit angehaltenem Atem, seine Hand tastete nach dem Stiel der Axt. Die Grundsatzfrage, die er sich routinemäßig stellte, nämlich ob der endgültige Schritt wirklich nötig sei, beantwortete sich in diesen Sekunden mit unvermeidbarer Klarheit. Immerhin standen sein eigener Kopf und Kragen auf dem Spiel. Er oder ich, wie in Afghanistan. Nur jetzt kein Zittern oder Zögern! »Der Name steht sogar auf einer APB-Fahndungsliste des FBI«, fuhr Young fort. »Alle sind völlig ungeschoren eingereist. 14
Ich meine, eine Überwachung wäre sicher sinnvoll, vor allem …« Bronx’ scharfer Blick traf den jungen Beamten. »Ja? Vor allem was?« »Vor allem, weil bei uns Gerüchte über Flugzeugentführungen kursieren.« »Tatsächlich? Was haben Sie denn gehört?« »Das Übliche. Im Al-Dschasira-Fernsehen hat die al Qaida mit einem großen Schlag gedroht – gegen den Mythos der amerikanischen Unbesiegbarkeit. Bei uns will keiner Notiz davon nehmen.« »Verstehe«, sagte Bronx ruhig. Er stützte sich auf den harten Holzstiel, der ihm wie ein Spazierstock zur Hüfte reichte, wo seine 9-mm-Glock entsichert im Holster steckte. »Da liegen Sie goldrichtig, Howard. In Langley folgen wir dieser These seit längerer Zeit. Ich meine, Terroranschläge hier, zuhause bei uns. Selbstmordattentate.« »Ich verbreite also keine Panik, indem ich Sie über diese drei Visa-Fälle ins Bild setze? Die Einzelheiten stehen in den Unterlagen. Sie werden staunen.« Young warf Bronx einen enthusiastischen Blick aus bergseeblauen Augen zu. Bronx nickte zustimmend. Er zweifelte keinen Moment an der Aussage. Dieser Young war Vorfällen auf die Spur gekommen, von denen er nicht ahnen konnte, wie brisant sie in nächster Zeit für die nationale Sicherheit sein würden. Bronx beugte sich scheinbar interessiert über die Papiere. Seine Hand umklammerte mit eisernem Griff die Axt. »Sagen Sie, mein Freund, weiß Ihre Frau, wo Sie hingefahren sind?« Howard schüttelte energisch den Kopf. »Ich rede mit Beth nicht über meine Arbeit.« »Gut. Sehr gut«, murmelte Bronx. 15
Sie waren mutterseelenallein. Nur spärlich drangen Sonnenstrahlen durch die mächtigen Kronen der hohen Koniferen. Gestrüpp wucherte im Schatten: Jogger und Wanderer auf ihren Pfaden suchten die lichteren Stellen auf, wo sie golden und rötlich verfärbte Bäume, sprudelndes Wasser und der Blick auf den fast wolkenlosen Himmel des ausklingenden Sommers erfreuten. Auch Parkwächter hatten keinen Anlass für eine Patrouille in dem entlegenen Waldstück, das Bronx ausgesucht hatte. »Nimmt mich wunder, Sir, ich meine professionell – wie sind Sie grade auf diese Stelle hier als Treffpunkt gekommen?« Bronx spürte die Herausforderung der Frage, richtete sich auf. »Routine, nehme ich an. Wir befinden uns hier außerhalb des UAV-Perimeters.« »UAV?« Howard blickte neugierig in Bronx’ Gesicht, dessen Züge ihm im Halbdunkel des Schuppeninnerns ungemein hart schienen. »Unmanned Aerial Vehicles – unbemannte Flugkörper. Wir setzen sie im Bereich von schützenswerten Objekten ein. Und zwar 24-7, vierundzwanzig Stunden täglich, sieben Tage die Woche. Langley, Washington, D.C., Dulles Airport und Umgebung, das liegt alles im Einsatzradius der Drohnen.« Howard duckte sich unwillkürlich. Er schielte durch den Ausgang zu den Wipfeln hoch. »Hilft nicht, Howard. Sie sehen die Dinger nicht, weil sie sehr hoch fliegen. Aber hier fliegen sowieso keine, wir sind sicher. Ihre Autolizenznummer könnte sonst abgelesen werden. Auch in stockdunkler Nacht.« Bronx schlenkerte mit der Hand. »Gehen wir zurück.« Als Young sich umdrehte, griff Bronx das Beil mit beiden Händen. Den endgültigen Entschluss hatte er, wie schon oft, impulsiv gefasst. 16
»Vielen Dank, Sir«, sagte Howard, Bronx voran aus dem Schuppen schreitend, »ich schätze Ihr Vertrauen wirklich.« Bronx holte beidhändig aus. Mit furchtbarer Wucht schlug die schwere Axt in Youngs blonden Schopf ein. Der Mann stürzte vornüber auf die Knie, sackte geräuschlos zusammen. »Tut mir leid, Howard«, keuchte Bronx. Noch bevor sich ein Schrei aus Youngs Kehle lösen konnte, hatte der Schlag den Schädel gespalten, augenblicklich das Gehirn zerstört, die Nervenstränge zerschnitten, alle Wahrnehmungen für immer ausgelöscht. Der Killer schleifte den Leblosen an seinen Schuhen in den Schuppen zurück, betrachtete sein eigenes Werk, grunzend die furchtbare Wunde begutachtend. Sorgfältig wischte er das Mordwerkzeug am Griff mit seinem Taschentuch ab, durchwühlte dann eiskalt Youngs Jacke und Hose, steckte die Zündschlüssel in die Tasche. Notizen über das geheime Treffen fand er weder in den Kleidern noch in der Aktentasche. Auch nicht in Howards kleinem Toyota, wo Bronx sich die Zeit nahm, die von Young gefahrene Route im Navigationssystem sorgfältig zu löschen. Unter einer Gruppe Rotbuchen vorbei schritt er rasch zurück zu seinem Wagen. Unter seinen Füßen raschelte das erste Herbstlaub auf dem kiesigen Pfad. »Buchen nehmen dem Jungwuchs das Licht«, murmelte er den Losungssatz. Er kicherte krächzend über seinen Einfall. Einen verheißungsvollen Jungwuchs hatte er fällen müssen. Leider. Sonst hätte es ins Auge gehen können. Der Große Plan durfte um nichts in dieser Welt scheitern. Sein Atem kam schon wieder ruhiger, das Herz schlug vielleicht noch ein wenig rasch. Bronx zündete sich gemütlich eine Zigarette an. Wenige Minuten später rollte ein unauffällig dunkelblauer Ford auf der Route 123 in nördliche Richtung, überquerte den Little Bennet Creek. 17
Später nahm Rick Bronx weiter nördlich die Interstate 270 zurück nach Langley, um sich in der Abgeschiedenheit seines eigenen Büros mit der Akte dieser Frau zu befassen, dieser Leslie Palmer – eine jener überheblichen, talentierten Frauen, in Washington Powerschwäne genannt. Geil war die, mit zum Glück ein paar nicht ganz harmlosen Schwächen, die er mit der ihm eigenen Finesse ausnützen würde. Dabei flog sein Geist zurück zum Schuppen, zu der Axt, Youngs klaffendem Schädel. Das war auch Finesse, grinste er in sich hinein. Jetzt aber stand die Palmer zuoberst auf seiner Liste.
02 Hätte Leslie Palmer gewusst, was da in den nächsten Wochen auf sie zukam, wäre sie wohl gar nicht erst aufgestanden, um ins Büro zu fahren. Sie hätte ihren Auftritt im Kleintheater abgesagt, wäre vermutlich irgendwohin geflüchtet. Doch natürlich wusste sie es nicht, nahm den Tag wie jeden andern guten Mutes in Angriff, lebte frischauf ins Kommende hinein. Leslie Palmer erwachte, weil unten in der Straße Sirenen jaulten, mal Stakkato, mal nach oben gedehnt, in nervtötender Hochfrequenz, plötzlich durchbrochen vom Gebrumm eines Basshorns. Sie stand auf, setzte die Füße auf den flauschigen lindengrünen Teppich, der sich weich wie Samt anfühlte, ging dann langsam ins Wohnzimmer – das war groß, mit drei breiten Fenstern, die den Blick auf die Straße freigaben. Ein großer Glasesstisch mit vier Polstersesseln wirkte einladend, aber Leslie nutzte ihn hauptsächlich zum Ausbreiten von Büchern und Zeitschriften. Geistesabwesend schaute sie zum Fenster hinaus. Ein paar Leute eilten über den breiten Gehsteig, ein gelbes Taxi bog ein, ließ einem Trupp Windhunde an der Leine einer hageren Frau den Vortritt. Der Lärm verschallte. 18
Kurz vor acht! Leslie ging rasch ins Badezimmer. Die Sirenen heulten noch in ihren Gliedern nach. Irgendwas Übles lag in der Luft. Sie war nicht abergläubisch, doch es waren diese Ahnungen, die sie heimsuchten wie Morgendämmern, sie beschlichen, beschwingten oder wie heute in Gedanken versinken ließen. Ihr sechster Sinn hatte viel mit eben jener glänzenden beruflichen Karriere zu tun, die schon bald eine dramatische Wende nehmen sollte. Heute war der Tag, nach dem in ihrem Leben nichts mehr sein würde wie zuvor. Sie spürte ein sachtes Hämmern unter der Schädeldecke. Signale. Alarmzeichen? Sie konnte sie nicht deuten, hätte sie auch nie akzeptiert; den absurden Gedanken, dass sie Opfer einer kolossalen, tödlichen Verschwörung werden sollte, hätte sie als schlicht undenkbar weit von sich gewiesen. Das Telefon summte aggressiv wie eine Hornisse im Wohnzimmer. Anrufer nicht identifiziert, stellte sich heraus. Zögernd nahm sie ab. »Hallo?« Die Stimme ihres Jungen. Ihr sank das Herz. »Mama, Craig. Ich bin’s … Eh, hallo, wie geht’s, hör zu, kannst du Geld schicken? Alex hat Mist gebaut.« Leslie hielt den Atem an. Ihr Herz pochte wild. Bitte, lieber Gott, nur jetzt keine Hiobsbotschaft! »… Er hat sich mit dem Kerl geprügelt, hat einiges abgekriegt.« »Um Himmels willen, was macht ihr für Dummheiten«, rief Leslie aufgebracht. »Wer war der Kerl? Habt ihr mit der Polizei zu tun?« »Ich glaube nicht. Wir haben nichts mehr gehört. Komisch war’s schon.« 19
»Warum?« »Alex schwört, der Typ habe ihm seit Tagen nachgestellt. Kannst du uns etwas Moneten schicken, nur für den Fall … Ich meine, wenn Alex in Schwierigkeiten kommt.« Leslie begriff. Der Anruf kam aus dem noblen Gstaad, dem schweizerischen Aspen, wo sich im Glanz von schneeigen Gipfeln und Gletschern die Schönen und Reichen tummeln und prachtvolle Chalets diskreten Charme verbreiten. »Hör mal zu, Craig, ihr bekommt doch Geld von Monsieur Mercier, oder?« Sie sagte es schleppend, in ihrem weichen, südlichen Tonfall. »Mama, Alex will nicht, dass Paul davon erfährt.« Sie war ungeduldig, wollte spätestens um neun im Büro sein. Die Präsentation vor dem Verhandlungsleiter im UNO-Gebäude musste sie noch gründlich repetieren. Es ging darum, den Chinesen richtig einzuschätzen. Craig schien leicht gestresst. »Hallo, Mom, bist du noch dran?« Leslie atmete jetzt ruhiger. Doch der Beschützerinstinkt erforderte eine kraftvolle Reaktion. »Moment. Dein lieber Bruder hat sich also geprügelt. Ist er verletzt?« »Ein Tomatenauge, sonst nichts, aber der andere, der schaute nicht gut aus.« »Gut. Hör zu, wartet mal ab«, riet sie, auf praktisch schaltend. »Haltet mich auf dem Laufenden. Ich kümmere mich drum. Aber ruf mich später an, bin auf dem Sprung. Und noch was, Craig: Macht verdammt noch mal nicht noch mehr Unsinn!« Sie beendete das Gespräch. Doch das Herzklopfen blieb, begleitete sie in den Lift und hinunter auf die Straße, hinüber, am Kino und der Cafeteria vorbei, zur Ecke an die 68th Street, wo eine schmale Treppe in die U-Bahn-Station hinunter führte.
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Wieso hatte Craig wegen so einer Lappalie überhaupt angerufen? Die Jungs waren doch nicht von gestern! Aber sie waren ihr Alles und Einziges. Steckten sie etwa in Schwierigkeiten? Leslie versuchte, die Bilder der Alpenlandschaft vor Augen zu bekommen – die weißen Gipfel, die sattgrüne Wiese vor Paul Merciers Villa. Das Rütteln und Vibrieren des Zugs ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Vorwürfe quälten sie. Die Zwillinge brauchten ihre Aufmerksamkeit, nicht nur Geld. Andererseits waren sie selbstständig, brillante Studenten, Sportskanonen. Als Leslie daran dachte, wie hübsch und schneidig ihre Darlings daherkamen, wurde ihr warm ums Herz.
03 Die World Trade Center Plaza strahlte um neun Uhr morgens groß, sauber und hell. Die mächtigen Zwillingstürme liefen im blauen Himmel zusammen. In ihrem Schatten strömten Pendlerscharen von der Wall Street her über den Platz, ab und zu kreuzten VIP-Limousinen auf. Gegen Mittag würden massenhaft Touristen aus ganz Amerika, Europa und Asien für Erinnerungsbilder posieren, bevor sie sich an den Aufzügen im Innern des South Tower drängten. Der Blick von der schwindelhohen Aussichtsplattform war berauschend. Leslie hatte mit Alex und Craig oben gestanden, zusammen das Restaurant unter der Brooklyn Bridge ausgespäht, wo sie dann am Abend von ihrem Tisch wieder hinauf zur Aussichtsplattform des gewaltigen Wahrzeichens staunten. Sie seufzte, irgendetwas bedrängte sie, als eine Limousine mit Blaulicht heranglitt. Der Springbrunnen verdeckte Leslies Blickfeld zum Teil, doch offenbar war es eine prominente Person, die ausstieg und um den Wagen herumkam. Ein Hüne eskortierte sie mit dem Gehabe eines professionellen Bodyguards zu den Eingängen. 21
»Die First Lady«, schnappte sie eine Bemerkung auf, versuchte einen Blick auf das vertraute Gesicht zu erhaschen, während sie beim Kaffeestand geduldig wartete, bis sie dran war, sich dabei wundernd, was die First Lady wohl so früh hier im Tower machte. Eine jugendlich sonore Stimme unterbrach von hinten her den Gedanken. »Hey, Leslie!« Sie wandte sich um. Shelley aus der Analyseabteilung grinste aus seiner beachtlichen Höhe von einem Meter neunzig auf sie herunter. »Ah, Shelley, gut, dich zu sehen.« Sie schenkte dem eingefleischten Junggesellen mit der hünenhaften Gestalt eines durchtrainierten Schwergewichtlers ein warmes Lächeln. In seinen dunklen Augen, die über ihren Busen streiften, las sie höflich kaschiertes Verlangen. Sie sah keinen Grund, den unverhofften Flirt nicht zu genießen. »Die First Lady, hast du gesehen?« Shelley machte eine lässige Kopfbewegung. Leslie nahm ihren Kaffeebecher, legte die Münzen hin. Als sie hinüberblickte, war von der Gesellschaft nur noch die Limousine mit dem schwarzen Chauffeur zu sehen. »Was macht das Landei bloß in New York?«, spottete Shelley, für seinen Kaffee zahlend. Er legte eine Hand sanft auf Leslies Hüfte. »Gehen wir?« »Smarte Geldanlagen«, mutmaßte Leslie leichthin. »Pass auf, die hohe Dame besucht uns noch«, grinste Shelley. »Sag mal, hast du Zeit für einen Drink später, nach der Arbeit?« Leslie zuckte unverbindlich die Schultern. Zusammen schlenderten sie gut gelaunt über die Plaza. Unwillkürlich schaute sie hinauf zu den Turmspitzen, die unter weiß quellenden Wolken langsam das Himmelsblau zu durchqueren schienen. Bewegungsanalyse ist mein Leben, Shelley, wollte sie 22
ausrufen. Doch das majestätische Bild hatte etwas Trügerisches. Etwas lag in der Luft. »Möglich, Shelley. Alles ist möglich, nicht wahr?« Sie löste sich lächelnd von dem charmanten Analysten. »Bis später. Ich hole nur noch meine Zeitung.« Ahnungen sind zwiespältig, wusste Leslie, nicht fassbar; sie bleiben unwirkliche Träume, die ihre Deutung oft erst erhalten, wenn es zu spät ist. Gern hätte sie gewusst, was die böse Ahnung bedeutete, die sie beschlichen hatte. Doch dann, als sie das Wall Street Journal unter den Arm klemmte, musste sie plötzlich lachen über diesen Einfall aus dem Blau. Pass auf, die hohe Dame besucht uns noch, hallte Shelleys Bemerkung nach. Und warum eigentlich nicht? Immer noch amüsiert lächelnd betrat sie wenig später das WTC-7-Gebäude und fuhr mit dem dezent rauschenden Expresslift nach oben. Und die Sorge um Alex und Craig meldete sich rasch wieder. Die Jungen verübten zwar ständig irgendwelche Streiche, aber sie hatte stets ein gutes Gefühl, wenn ihre Gedanken in die sichere Schweiz abschweiften und sie sich ihre Sprösslinge auf der Terrasse des alten, dunklen Chalets von Paul Mercier vorstellte: Craig salopp in knielangen Shorts, Alex, der Größere, mit engen Jeans und verwaschenem Poloshirt. Wie sie schlank und schlaksig da standen, den Rücken der Alpenkette zugekehrt, die Sonne in den blonden buschigen Haaren – einfach patente Kerle, neunzehn im Oktober. Die Welt lag ihnen zu Füßen. Leslie Palmer lächelte versonnen … Ihre Boys! Für sie würde sie alles tun. Absolut alles …
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04 Das Gebäude, in dem sie seit ein paar Jahren arbeitete, lag im Schatten des mächtigen North Towers, dessen silberne Fassade das Licht der Morgensonne, von weißen Jalousien diskret gedämpft, in den Konferenzraum im 17. Stockwerk reflektierte. Dort warteten etwa zwei Dutzend Leute, fast ausschließlich Männer, geduldig auf die Bewegungsexpertin. Jene wiederum hatte sich unbemerkt in den Postraum geschlichen, wo Danny vor einem Bildschirm sitzend an einem saftigen New York Bagel kaute. »Danny, ich habe einen Plan, du musst mir helfen«, sagte sie, den Schelm im Blick, dann die Stimme zu vertraulichem Flüstern senkend. Er machte große Augen und grinste. »Alles klar, Madam.« Darauf wühlte Leslie im Garderobenschrank, fand, was sie suchte, und verschwand im Ladies Room – während die Leute im Konferenzraum jetzt schon leicht ungehalten warteten. Ms. Palmer war stets pünktlich, ihr Fehlen um halb zehn an diesem Morgen erstaunlich. Einer las die Zeitung. Shelley erzählte beiläufig, er habe die First Lady gesehen. Die komme neulich öfters in die Stadt, wusste ein anderer. Plötzlich stand Danny vom Empfang im Raum. Mit beiden Händen fuchtelte er filmreif, seine langen, gepflegten Haare wirbelten um das klassisch chinesisch geprägte Gesicht: »Die … die First Lady, die First Lady der Vereinigten Staaten ist hier!« Der zitternde, abgewinkelte Zeigefinger vor der Brust, die zusammengepressten Lippen markierten die nahende Katastrophe. Die Wartenden starrten den Clown verständnislos an. Einer lachte auf. »Mach keine blöden Witze, Fung Ku!« Ein anderer platzte heraus: »Scheiß auf die Frost Lady!« 24
Da stand jene schon in der Tür. Den Hals in typischer Haltung komprimiert, das Gesicht streng gestrafft, fragte sie kühl: »Wer hat das gesagt?« Der Amtsdirektor stammelte, völlig außer Fassung: »Es ist … sind Sie … Sie?« Sie war es, kein Zweifel. Wie von Taranteln gestochen schossen die Männer hoch, schauten einander ungläubig an. Die Gattin des Präsidenten der Vereinigten Staaten trat in den Briefing Room. Ihr strenger Blick umfasste die Anwesenden, jeden Einzelnen als Übeltäter identifizierend. »Also, bitte. Wer hat das gesagt?« Der Witzbold der Gruppe wurde zuerst weich. »Bill Clinton, Madam?« Im unterdrückten Gelächter trat die First Lady vor, wandte sich an den Direktor. »Mister Wagner, Sir«, sagte sie tadelnd, »Sie sind mit Ihrer Abteilung nicht auf Budgetkurs.« Der Angesprochene stand wie vom Schlag gerührt. Als er schließlich die Sprache wiederfand, flötete er galant: »Eh, Madam, was beschert uns die Ehre? Willkommen im Marinenachrichtendienst.« »Weichen Sie mir nicht aus, Wagner«, erwiderte die First Lady. »Übrigens, ich habe gehört, Sie haben eine äußerst fähige Mitarbeiterin. Eine Leslie Palmer? Ist sie anwesend? Übrigens, haben Sie für diese talentierte Dame eine Gehaltserhöhung vorgesehen?« »Ich werde das sicher in Betracht ziehen, Madam«, antwortete Wagner verwirrt, »doch wenn Sie gestatten …« Die First Lady fiel ihm barsch ins Wort. »Hoffentlich. Sonst werde ich Ihnen die Eier schleifen. Sir!« Die Männer standen einen Augenblick wie betäubt. Nur das Summen irgendeines aberwitzigen Computers störte die Stille. Einzig Shelley lehnte sich entspannt zurück, und als Leslie 25
merkte, dass es den Männern zu dämmern anfing, riss sie mit beiden Händen lachend die Perücke vom Kopf. »Okay, Leute, war nur eine kleine Einlage. Sie sehen, meine Herren, was Äußerlichkeiten und Gebärden bewirken können. Das Thema unserer heutigen Sitzung.« Sie schritt mit triumphierendem Schmunzeln ans Rednerpult, machte sich am Overheadprojektor zu schaffen. Alle wirkten ziemlich verdattert. Einzig Shelley lobte schlagfertig: »Kompliment, Leslie, das war erstklassig! Übrigens, ›Scheiß auf die Frost Lady‹ soll Clinton tatsächlich gesagt haben, nämlich als Hillary damals von der Zigarrengeschichte mit Monica Lewinsky erfuhr.« Leslie tat die anzügliche Bemerkung mit souveränem Lächeln ab. »Männer!«, seufzte sie auf, fuhr dann gleich mit ihrem Thema fort: »Der chinesische Präsident, meine Herren« – sie zeigte auf das projizierte Bild in ihrem Rücken – »hat einige bemerkenswerte Schwachstellen, die wir bei Verhandlungen ausnützen können.« Ihre Kollegen hatten sich immer noch nicht gefasst. »Was meine ich?«, fragte sie methodisch geschickt. »Arroganz?«, schlug Shelley vor. Leslie schüttelte den Kopf. »Ist keine Schwäche, Shelley, sondern der Ausdruck übersteigerten Selbstvertrauens.« Dann sagte sie in die Stille: »Der Mann kann nicht zuhören. Also sagen Sie das, was Sie ihm sagen wollen, in zwei Sätzen. Möglichst nur Hauptsätze. Klare Disposition im Kopf. Möglichst wenig auf Papier.« »Woraus schließen Sie das?«, fragte der vom State Department. Sie gab die Frage mit einer Kopfbewegung im Kreis weiter. Als keiner antwortete, startete sie ein Video.
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»Schauen Sie auf seine Hände«, instruierte sie. »Er legt sie auf die Tischplatte. Jetzt kippt er die Handflächen vor sich nach oben. Sehen Sie?« »Wie Schutzschilder«, schlug Wagner vor. »Genau. Und nun schauen Sie hin: Schild hoch, Schild tief und wieder hoch. Der Mann will sich nichts sagen lassen. Was folgern wir daraus?« »Er spielt mit Tatsachen oder Emotionen. Schleuder oder Harfe, gewissermaßen.« »Nicht schlecht, Shelley«, lobte Leslie lächelnd. »Der Typ ist gehemmt. Eine andere Umgebung, der chinesische Garten zum Beispiel, löst seinen Muskelpanzer.« »Wie kommen Sie darauf?«, fragte der von der Nachrichtenauswertung staunend. »Warten Sie ab.« Sie löste eine Filmsequenz mit einer Frauengruppe aus, auf die der Chinese zuging. »Der Typ ist ein Umarmer, einer, der alles an sich ziehen will«, erklärte sie, während die Männer konzentriert auf die Szene starrten. »Dieser Staatschef braucht Anerkennung, will geliebt werden. Lassen Sie die Harfe spielen.« »Anerkennung?«, zweifelte der Dunkelhäutige. »Der ist doch die Nummer eins. Hat doch alles!« »Irrtum«, widersprach Leslie. »Unser Präsident hat auch alles. Trotzdem will er Bestätigung, dass die Rede gut war, seine Initiative brillant, sein Witz beim Dinner lustig und so weiter. Sehen Sie, wie der Epikanter die Arme kaum still halten kann?« »Epikanter … was?«, fragte eine Frau im dunkelblauen Kostüm. »Das bezieht sich auf die epikantische Augenfalte. Im Straßenjargon heißt das wohl Schlitzauge.« Eine Lachsalve belohnte ihre Schlagfertigkeit. 27
»Stimmt«, kommentierte der vom State verblüfft, »das mit den Armen.« Leslie machte die Schutzschildbewegung mit den Handflächen. »Denken Sie also daran. Überraschen Sie ihn mit einer vertrauten Umgebung, mit Leuten, die ihn verehren.« »Schwierig«, murrte Wagner. »Aber nicht unmöglich. Und vergessen Sie eins nicht, er will alles umarmen. Ich meine das geopolitisch.« »Sie denken an Taiwan? Eine Aggression?« Leslie schüttelte den Kopf. »Ich denke an Indien und Iran. China will die bilateralen Beziehungen mit dem Iran festigen, denke ich, uns den Rang ablaufen. Das alles schließe ich aus seiner Körperhaltung.« Sie spulte den Film zurück, zeigte ein paar andere typische Szenen. Die lebhafte Diskussion drehte sich um verräterische Köperhaltungen, die Zeit verging im Nu. »Wir machen eine Pause«, entschied der Amtsdirektor nach ungefähr einer Stunde. Danny vom Empfang schob einen Servierwagen mit Kaffee in den Raum. Er zwinkerte Leslie verschwörerisch zu. Das Thema der gekonnten Doppelgängerin beherrschte nun das Geplauder, als die Gruppe mit ihren Pappbechern um den Kaffeekrug herumstand. Shelley schmeichelte diskret: »Ist mir gar nicht aufgefallen, dass du der First Lady so ähnlich bist.« Leslie zierte sich charmant. »Die richtige First Lady ist in der Öffentlichkeit zu wenig gegenwärtig, meine ich. Für dich wird sie dadurch nicht zum Objekt des Begehrens wie irgendein heiß verehrter Filmstar. Du weißt eigentlich nicht, wie sie aussieht. Psychologisch erklärbar.« Shelley nickte versonnen.
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»Zudem tragen Schminke und Frisur viel dazu bei. Ich bin ihr ähnlich, will aber nicht wie sie aussehen.« Sie fuhr mit der Hand abweisend über ihr Gesicht. Ob der Auftritt von eben improvisiert war, wollte Wagner wissen. Er hielt ihr einen Becher mit dampfendem Kaffee hin. »Mit oder ohne Zucker? Haben Sie jemals auf der Bühne gespielt?« »Danke, ohne. Von wegen dem Sketch mit der First Lady? Ich habe sie mal auf der Bühne persifliert, nur so aus Jux.« Shelley hakte nach: »Und umgekehrt kannst du von der Art, wie sich jemand bewegt, auf sein Inneres schließen?« »Genau, aus der Tanzleidenschaft habe ich dann irgendwann meinen Beruf gemacht. Bewegungspsychologie, Analyse der Gesten und Gebärden.« Sie halbierte ein großes Croissant. »Interessant ist, dass bereits Präsident Reagan zu diesem Hilfsmittel gegriffen hat.« Sie nahm unter fragenden Blicken einen Mundvoll. Die Aufmerksamkeit war ihr sicher. »Es ging in den achtziger Jahren um die NATO-Nachrüstung mit Marschflugkörpern. Gorbatschow reiste nach Genf, um Reagan davon abzubringen. Uri Geller, der Parapsychologe, erhielt vom Stab des Präsidenten den Auftrag, die Russen während der Verhandlungen scharf zu beobachten.« Sie nahm einen Schluck Kaffee. Die Fassade des North Towers glänzte in der Vormittagssonne. Es würde einer der heißesten Spätsommertage werden, hatten die Wetterfrösche aller Fernsehstationen angekündigt. »Geller gab unseren Leuten sehr nützliche Tipps. Er behauptete auch, die Sowjets mit positiven Gedanken bombardiert zu haben.« Wagner gab sich unschuldig. »Das mit der Gehaltserhöhung, meinten Sie das im Ernst?« 29
»Tja, wenn’s die First Lady persönlich anregt …« Ihr strenges Brauenheben brachte alle zum Lachen. Nachdem die Konferenz wenig später beendet war, kehrte Leslie aufgeräumt in ihr Office zurück. Sie telefonierte noch mal in die Schweiz, durchwühlte dann die nächsten anderthalb Stunden in ihrem hellen Eckbüro die Post, Zeitschriften und Memoranden von andern Dienststellen, stellte dann den Scheck auf Craig Palmer aus. Ihre Arbeitsgeräte bestanden aus drei aneinandergereihten Großbildschirmen und zwei Fernsehern mit Festplattenspeichern. Auf dem mittleren stand der chinesische Präsident auf einer Art Dschunke vor einer Riesenstaumauer. Leslie ließ die Sequenzen vor und zurück laufen und untersuchte die Bewegungen. Die Hände vor allem, dann Arme und die Kopfhaltung. Wie der Oberkörper mitmachte, ob die Schultern eingefallen oder hochgezogen waren, das Beinschwingen … Sie merkte kaum, wie die Zeit verstrich, tippte Notizen in den Schreibcomputer. Die Digitaluhr klickte auf zwölf. Normalerweise Zeit zum Lunch. Mit einem zufriedenen Seufzer lehnte sie sich zurück. Jetzt war sie schon besser drauf als frühmorgens. Alles stimmte mehr oder weniger. Alex hatte aus Lausanne angerufen, wo er an der EFPL studierte, den Vorfall heruntergespielt. Über die Festtage war vorgesehen, dass beide nach New York kamen. War es der Gedanke an Weihnachten oder gar an die Zwillingssöhne, der Leslie so bedrückt hatte? Sie schüttelte unsicher den Kopf. Vor kurzem hätte sie noch alles für eine feste, dauerhafte Männerbeziehung gegeben. So viel war sicher. Aber wie sollte sie das richten? Vater hatte ihr kürzlich gesagt: Mädchen, die Frau von heute braucht einen vielseitigen Kerl, einen mit Geist, Geld und … Okay, am einfachsten wäre einer, der alle drei Eigenschaften vereinigt. Vater hatte darauf schalkhaft gezwinkert, als wäre er selber gerade der Letzte dieser raren 30
Spezies. Leslie glaubte ihm auf Anhieb. Sie kam auch nicht vom andern Geschlecht los. Am liebsten hätte sie an jedem Finger einen Freund gehabt. Sie brauchte die Männer wie ihre Lungen den Sauerstoff, wollte als begehrter Mittelpunkt umworben werden, die Burschen wie eine Dompteuse am Zügel halten. Und dann war ihr Ben geradezu in den Schoß gefallen. Im wahrsten Sinn des Wortes. Und jetzt dürfte er sich jeden Augenblick ankündigen. Leslie spürte die Erregung heiß in allen Fasern ihres jugendlichen Körpers. Unten auf der Plaza schob ein Obdachloser einen gestohlenen Einkaufswagen vor sich her, behangen mit drei wie Puppen aufgedunsenen Plastiksäcken voller Dosen und Flaschen. Ein altes Kleinradio schepperte einen Song. Ben Heller zog den Bund seiner leger geschnittenen Hose straff und blickte auf zu den Fenstern, hinter denen ihn Leslie Palmer mit kribbelnder Ungeduld erwartete.
05 So virtuos, wie er Klavier spielte, kannte sich Ben in spezieller Computersoftware aus. Leslie ärgerte sich über die Junkmail, die sie gutgläubig öffnete, wenn täuschende Stichwörter wie etwa Craig und Alex sie ahnungslos dazu verleiteten. »Lass mich mal sehen«, schlug Ben vor. »Schauen ist immer gut«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Jetzt klimperte er auf ihren Tasten herum. »Sonderbar«, sinnierte er. »Jemand will dir einen Trojaner platzieren. Hast du etwa Feinde?« Sie lehnte sich an seine breiten Schultern. Ohne ihre Antwort abzuwarten, steckte er den Stick in die Öffnung. »Ich lade meine
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Spezialsoftware herunter. Wenn du wieder mal belästigt wirst, gib mir Bescheid, mein Programm spürt das Schwein auf.« »Synxx«, las Leslie. Sie strich mit ihren Lippen über seinen Haaransatz. »Was geschieht dann?« »Du wirst schon sehen. Es ist ein Anwenderprogramm für kostenloses Telefonieren via Internet.« Er senkte die Stimme. »Du musst das streng vertraulich behandeln. Das Nutzerprogramm wird sich in Windeseile verbreiten, weil es attraktiv ist. Alle wollen es haben, um gratis zu telefonieren. Damit bekommen wir in Synxx automatisch Zugriff auf die Server aller Nutzer. So einfach wie genial. Die Codes sind bergsicher verschlüsselt. Stufe US-Sicherheitsdienst.« »Ist das legal?« Er schüttelte den Kopf. »Illegal, aber sehr praktisch. Wir arbeiten im Auftrag der …« Er brach ab. »Egal. Ruf mich am besten an, wenn du belästigt wirst oder sagen wir, wenn du Vergeltung üben willst. Mein Programm öffnet Computer wie Casanova einst die Schöße der Weiber.« »Ich liebe dein Programm«, lächelte sie, verstand aber nicht ganz, worauf er hinauswollte. Vergeltung üben? Leslie stand der Sinn im Augenblick nicht nach Computertechnogequassel. Ihre Mittagszeit war knapp, und als Ben zu weiteren Erklärungen ausholte, presste sie ihm ihren Finger auf die Lippen. Dann zog sie ihn am Gürtel in den alten, verlassenen Nachrichtenraum hinüber, schloss die Tür von innen ab. Ben war ein Glücksfall. Nicht nur, weil er bei Synxx hypersensible Software für das offline Ausspionieren von Computern entwickelte – auch, und besonders, weil er ihr die lustvollsten Momente bescherte, die sie je erlebt hatte. Ein alter, hölzerner, langer Eichentisch war das einzige Möbelstück unter einem altmodischen grünen Lampenschirm. Die verstaubten Jalousien dunkelten den geheimnisvollen Raum ab. Früher hatten hier lange Reihen von Telexgeräten Tag und 32
Nacht die Meldungen der Flugzeugträgergruppen aus aller Welt ausgespuckt. Dass sie Ben kennen gelernt hatte, hing mit ihrer Gewohnheit zusammen, nach dem Joggen Dehnübungen zu machen, wobei sie ziemlich naiv übersah, dass ihr hautenges rotes Turnhöschen mit fünf Zentimeter Innennaht virile Männer leicht provozieren konnte. Es war an einem Sonntag im Park, so um neun gewesen. Leslie hatte ihre Runden abgelaufen, tänzelte vom alten Reservoirgebäude die paar Stufen auf die Holzplanken der Brücke hinunter. Die Sonne zeichnete helle Flecken auf das alte Holz, ein blauer Himmel wölbte sich über den hohen Platanen. Zwei Reiter ritten unter der Brücke durch, von der Sandbahn her drang Wiehern hoch. Sonst waren nur gedämpfte Geräusche zu hören. Welch herrlicher Morgen! Leslie holte tief Atem, bevor sie ein schlankes Bein grazil auf das schmiedeeiserne Geländer legte, die Arme nach den Zehenspitzen streckend. Nach einer bestimmten Zeit – sie hatte die leicht exzentrische Angewohnheit, zu zählen: Randsteine, Treppenstufen, Sekundenintervalle – verlegte sie das Gewicht auf die andere Seite, um das linke Bein zu dehnen. Da sah sie zum ersten Mal Bens sehnigen Körper, im spitzen Winkel dehnend ans Geländer gelehnt. Der dunkelblonde Wuschelkopf lag dabei an der Brüstung, als suche er dort ein Ruhekissen. Der Mann grinste ihr zu, seine Freude an ihren engen roten Shorts recht unverhohlen zur Schau tragend. Sie lächelte mechanisch mit einem Zucken der Mundwinkel zurück, wie das kluge Frauen oft tun, um Verehrer nicht mit verächtlicher Miene in Rage zu bringen. »Hey«, sagte er, auf unverfängliche New Yorker Manier. »Hey«, gab sie zurück, das rechte Bein anwinkelnd, dabei mit der Hand die Ferse an die Hinterbacke pressend. Sieht gut aus, der Held, dachte sie leicht ironisch. 33
Sie nannte sie die Lunch-Stellung. Es war ziemlich riskant, mitten im Betrieb, nur durch eine Türe von ihren Kollegen getrennt, ihren süßen Lunch zu verzehren, aber sie konnte einfach nicht genug von Ben bekommen. Ein Junge mit schier unerschöpflicher Lendenkraft, dabei zum Fressen süß. Sein wirrer Blondschopf, die vollen Lippen, die himmelblauen, unschuldsvollen Augen brachten Leslie um den Verstand. Die Lunch-Stellung. Allein der Gedanke daran ließ Blut in die Kapillaren ihrer Schenkel wallen. Die Zeit war knapp – sie hob den Rock, rieb sich an ihm. Seine Lippen schmeckten leidenschaftlich die ihren, seine Hände strichen über ihre Schenkel in den Schoß, rissen das Höschen herunter. Sie keuchte ungeniert. »Hast du ihn endlich draußen? Gib ihn mir … ich will ihn … jetzt!« Sie warf sich rücklings auf das kühle Holz, stützte sich auf die Ellenbogen, wollte, nein, musste zuschauen. Das machte sie unheimlich an, zu sehen, wie er sein stattliches Glied bolzengerade einführte – langsam, langsam, hatte sie ihn gelehrt –, dann plötzlich tief eindrang, um gleich wieder von außen mit der Spitze zu kitzeln, als Auftakt zu tiefen rhythmischen Stößen. Himmlisch! Das Paradies auf Erden! »Rot steht Ihnen gut«, hatte er damals im Central Park gesagt, dann noch grinsend gefragt: »Was sollte ich in dieser Lage sonst wohl sagen?« Mit jener betont ehrlichen Bemerkung hatte er sie buchstäblich auf dem linken Fuß erwischt. Sie hatte den Mann, der sich zu voller Größe aufgerichtet hatte, provokativ gemustert. »Sie wollen mich sicher zu etwas einladen? Brunch?« »Liebend gerne. Ich wohne in der Siebenundsechzigsten. Wir könnten uns im … im …« Doch das Lokal fiel ihm nicht ein, also schlug Leslie ein populäres Brunchrestaurant an der Columbus Avenue auf der 34
anderen Parkseite vor. Bevor sie sich auf der Brücke voneinander trennten, deutete sie auf seine Beine. »Sie haben gar nicht gedehnt, Ben.« Er blickte ziemlich perplex. »Wie kommt … wie können Sie das wissen?« »Nun, Ihre Gebärden waren auf eine andere Zielrichtung programmiert. Sie wollten steif und stramm sein, nicht dehnen. Ich kenne mich in Körpersprache aus. Bis später dann!« Sie ließ ihn verdutzt stehen. Später, nach dem Brunch, bestand Ben darauf, ihr seinen Flügel zu zeigen, womit ihm ein Volltreffer in ihre Ader der Neugier gelang. »Ich muss zurück«, hauchte sie jetzt im alten, kahlen Nachrichtenraum. Er hatte sich sanft zurückgezogen, blickte erhitzt auf sie nieder. Sie rieb sich die Brüste, fuhr mit den Handflächen über den Bauch, koste mit den Fingerspitzen die Innenseiten ihrer Schenkel. Den Mund leicht geöffnet, ließ sie die Zunge hin und her über ihre feucht glänzenden Lippen spielen. Mit einer Bewegung wie fließende Seide drehte sie sich auf den Bauch. Einen Augenblick nur hatte Ben Muße, ihren rassigen Körper aus dieser Sicht zu bewundern, dann hob sie langsam den kleinen, festen Po an, befahl ihm mit leiser, dunkler Stimme jetzt, augenblicklich, herein zu kommen. Wortlos folgte er der unwiderstehlichen Einladung. Ein tiefer, wollüstiger Laut entfuhr der schönen Frau, ein Stöhnen wie aus Urzeiten, ein Klang, der Ben unwillkürlich einhalten ließ. Sie fühlte seine starken Hände fest auf ihren zitternden Hüften, wie damals nach dem Brunch, als er so betörend gespielt hatte, seine Finger bei einem Walzer von Chopin schwerelos über die Tasten flogen. Die romantische Musik hatte ihre Sehnsüchte geweckt, ihre kühnsten Wünsche im Takt tanzen lassen. Ihre Sinne wirbelten, die sanften Wiegungen seines Körpers 35
versprachen ihr höchste Erfüllung. Ihre Seele hatte sich Bens zauberhaften Klängen bedingungslos erschlossen. Sie hatte ihre Bluse ausgezogen, den Rock hoch genommen, war federleicht tänzelnd mit halb geschlossenen Augen über das Parkett geschwebt … Es gab Augenblicke, die sie nie vergessen würde – wie jenes Stück: Chopin, Opus 34, Nummer 1 … Jetzt waren beide erschöpft. Er zog sie an sich, streichelte ihre Wangen. »Leslie, Leslie … du … wie schön du bist!« Wie eine Wilde schien sie ihm nach diesem hemmungslosen Ritt – nein, wie ein schönes, wildes Tier. Sein Tier! Sie glitt herunter vom Tisch, stand einen Moment schwankend, glättete den Rock. Dann öffnete sie die Tür – vorsichtig, einen Spalt weit.
06 Als Leslie Palmer am Abend in gehobener Stimmung beim Hunter College die Subway Station verließ und die 68th Street überquerte, sah sie im Eingang zum Kleiderladen einen Mann stehen, der sie mit düsterer Miene fixierte. Normalerweise wartet man doch nicht in der Tür, außer es regnete in Strömen. Unbehagen befiel Leslie. Sie schlug die Augen nieder, eilte mit raschen Schritten über den langen Fußgängerstreifen in die Third Avenue hinein. Ihr Haus befand sich nur ein paar Häuserblocks entfernt, heute unter einem klaren, wolkenlosen Himmel. Sie fühlte, dass der Typ ihr folgte, schritt schneller. »Verzeihen Sie, haben Sie einen Augenblick?« Es war tatsächlich der Kerl vom Laden. Sein brauner Anzug hing verwahrlost an ihm herunter. Leslie eilte ungerührt weiter. 36
»Ich arbeite für die Regierung.« Zum Beweis zückte er eine Dienstmarke. Leslie erfasste auf einen Blick die grässlich grüne Krawatte und des Mannes Körperhaltung. Etwas stimmte nicht an seiner Armbewegung. »Was sagen Sie?«, schnappte sie, lief weiter. Wieder protzte er mit seiner Dienstmarke. Das war es! Er hielt die Hand unten, wie einer, der um Trinkgeld bettelt. Warum hält er das Ding nicht auf Augenhöhe? Sie hatte die Ecke fast erreicht, wies ihn barsch zurecht. »Kann jeder sagen. Gehen Sie weg!« Der Kerl blieb endlich stehen. Ein Taxi hupte mehrmals. Als sie dann zurückblickte, sah sie ihn nicht mehr und lief erleichtert die paar Stufen zum Hauseingang hoch. Billige Anmache, ärgerte sie sich, als sie die Tür aufschloss, war aber nicht ganz überzeugt von ihrer eigenen Erklärung. Leslies Wohnung im dritten Stock schaute nach Süden. Sie trat an eins der hohen Fenster, schob die Tüllgardinen beiseite und spähte zur Straßenecke hinunter. Menschen strömten aus allen Richtungen. Ein Kerl mit braunem Anzug war nirgends zu sehen. Sie zog sich rasch aus, stieg in die Badewanne, unter die Dusche. Die Gedanken schweiften. Sie sah sich in Bens Umarmung, lachte über ihren Stunt, das gelungene Schäferstündchen am Morgen im Marinenachrichtendienst, sorgte sich über ihre Söhne in der Schweiz. Sie hörte das Telefon nicht gleich. Erst als sie vor dem Frisiertisch stand und ihren gut trainierten Körper musterte, schreckte sie das Klingeln auf. Craig und Alex! In der Schweiz ging es bereits auf Mitternacht zu. Hastig schlang sie das Badetuch um, rannte ins Wohnzimmer und nahm freudig erwartungsvoll ab. »Hallo!?«
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»Ms. Palmer, ich muss Sie unbedingt sprechen. Ich bin von der Regierung.« Leslie hielt den Atem an: »Das haben Sie schon mal gesagt.« »Hören Sie! Charles J. Palmer ist doch Ihr Vater, stimmt’s?« Leslie war plötzlich hellwach. »Allerdings, was ist mit ihm?« »Nun, darüber möchte ich mit Ihnen sprechen, unter vier Augen«, tönte die mysteriöse Stimme. »Lassen Sie mich in Ruhe!« Sie hängte auf. Billige Anmache! Dann wählte sie hektisch eine Nummer. Was könnte mit Vater sein? Hatte es mit Vietnam zu tun? Ist er am Ende bei seinen Recherchen auf militärische Geheimnisse gestoßen? Irgendwelche Gräueltaten, man wusste ja nie. Sie ließ es zehn Mal läuten. Keine Antwort. Nach einer halben Stunde klingelte es. Leslie stutzte. Man hatte ihr keinen Besucher avisiert. Es war aber nur der Lieferboy des Chinesen, der das Essen brachte. Leslie atmete erleichtert durch.
07 Als sie am nächsten Morgen im Expressaufzug des Südturms zum Meeting mit Steinberg hinauffuhr, hatte sie den Vorfall mit dem angeblichen Regierungsbeamten schon fast vergessen. Der steinreiche, gut aussehende Tycoon hatte seine Bürolandschaft eigenartigerweise nur in der 56. Etage des WTC, keineswegs eine Toplage. Über Steinberg & Friedman türmten sich die achtzehn Stockwerke von Morgan Stanley und Dow Jones. Aber man munkelte, der pausbäckige Immobilienmakler leide an Höhenangst, weshalb er hauptsächlich Luxuswohnungen an der Park Avenue, zwischen 60th und 90th Street, an der so genannten Gold Coast, verkaufte. 38
»Sie sollten Ihr Talent in die Politik einbringen, Leslie.« Er hatte sie in sein Eckzimmer auf das italienische Designersofa komplimentiert. »Besten Dank«, beschied sie ihm knapp. »Ich arbeite für die Regierung. Das reicht mir.« »Sehen Sie, Sie können wie niemand anderer in diesem Land den Präsidenten einschätzen.« Er legte seine Füße auf den kostbaren antiken Salontisch, machte eine aufmunternde Geste, es ihm gleichzutun. Sie blickte ihn fragend an. »Also, Mr. Steinberg, worauf wollen Sie hinaus?« »Spike, meine Freunde nennen mich Spike«, meinte er ermunternd, starrte einen kurzen Moment auf ihre unter dem engen Rock entblößten Knie. »Ich möchte Sie auf unseren Kongress einladen.« »Kongress?« »Auf den demokratischen Parteikongress.« »Und was, glauben Sie, hätte ich dort verloren?« Er griff nach einem Blatt neben sich auf der Couch, warf einen Blick darauf. »Sie waren eine brillante Professorin. Eine echte Magnolie aus Stahl. Ihre Stimme wiegt immer noch schwer.« »Also, Spike, meine Eltern haben schon immer Wert auf ein Leben mit Stil gesetzt.« Sie hörte sich mit lebhafter Stimme sprechen – ein netter Bursche, dieser Spike. »Sie dachten immer sehr strategisch. Ich sollte alle Sachen gut machen, gut vorbereitet sein und als Frau in der Männerwelt gewappnet sein. Sie haben mir viel, sehr viel gegeben.« Eine Pause trat ein. Spike lächelte angestrengt, wiederholte: »Sie kennen den Präsidenten.« Sie zuckte die Schultern. Spike brauchte nicht zu wissen, dass sie die First Lady sogar noch besser kannte. Zum Jahresanfang war sie von ihr ins Weiße Haus eingeladen worden. 39
»Wir möchten von Ihnen ein paar Analysen, Sie verstehen?« Leslie hob die Brauen. Noch verstand sie gar nichts. Sein Zeigefinger zielte zum Fenster hinaus auf die Officesuite von Leslies Stabstelle im 16. Stock des Nachbargebäudes. »Ich weiß, was Sie da drüben machen. Sie sind Expertin in Körpersprache. Aus Gesten und Gebärden von Exponenten schließen Sie auf deren Gefährlichkeit, decken Schwächen auf und geben uns Tipps, wie wir mit denen verhandeln müssen. Habe ich Recht?« Leslie machte eine abwägende Kopfbewegung, als müsse sie seine Aussage auf korrekte Grammatik prüfen. »Allerdings befasst sich ein Teil meiner Arbeit mit der Analyse von Regierungschefs, die mit den USA verhandeln.« Begeisterung beflügelte Spikes Stimme. »Eben, genau, wir wollen den einfachen Leuten in Amerika die Augen öffnen, wie zwiespältig, wie impulsiv er ist.« »Wer, bitte?« »Der Präsident.« »Also … äh … Spike, ich verdiene mein Geld in der Marineadministration. Der Präsident, den Sie da demontieren wollen, ist mein Oberbefehlshaber!« Spike schürzte die Lippen, verzog die Mundwinkel. Sein Gesicht wirkte weich und sympathisch. Leslie war eine Frau, die unbewusst stets nach guten Männern Ausschau hielt. Ihr Blick fiel auf seine kräftigen Oberschenkel. Seine männliche Sinnlichkeit verwirrte sie ein wenig und nur momentan. Spike nahm einen neuen Anlauf. »Nun, vielleicht habe ich mich zu pointiert ausgedrückt. Es geht um eine Verhaltensstudie. Also zum Beispiel die Frage: Glaubt der Präsident an das, was er verkündet? Sind seine Statements echt? Oder gaukelt er uns etwas vor?«
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»Wovon Sie offenbar ausgehen, nehme ich an«, fuhr ihm Leslie scharf in die Parade. Er grinste unbekümmert. »Mein Vorurteil vielleicht, aber immerhin eine Art Urteil.« »Mmm, und da soll ich Ihnen die Munition zum Abschuss liefern?« »Nein«, widersprach Spike mit ernstem Gesicht, »wir wollen den manipulierten Massenmedien entgegenhalten.« »Ich verstehe schon. Trotzdem mache ich da nicht mit.« »Leslie, bitte, Sie haben doch jede Menge Analysematerial. Videomitschnitte der Fernsehauftritte, seine Reden, die Wahlkampfreportagen, Auslandsbesuche und so weiter.« »War er denn schon mal im Ausland?« Spike winkte belustigt ab. »Und wie ich höre, haben Sie von der First Lady ebenfalls jede Menge Material. Warum eigentlich?« »Und von wem hören Sie das?« »Sehen Sie, Leslie, Ihr Boss, Martin Wagner, findet die Idee gut, solange Sie es außerhalb des Dienstes tun. Ich habe mit ihm gesprochen.« Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Ich stehe aber nun Mal in Diensten der Marine.« Spike versuchte ihre Bedenken mit einer Handbewegung wegzuwischen. »Martin will Ihnen gern ein kleines Time-out ermöglichen.« Leslie gab sich cool, als wisse sie schon alles, hatte aber keinen blassen Dunst von einer geplanten wissenschaftlichen Auszeit. »Martin meint, wenn Sie während dieser Zeit auf das Salär verzichteten, also ihm nicht mehr unterstünden, auch nicht mehr dem Oberbefehlshaber …« 41
Es fiel ihr leicht, Entrüstung zu spielen: »Ist Wagner in den Plan eingeweiht? Was geht hier vor?« »Martin und ich sind doch alte Kumpels. Er hält sich da zwar raus, aber er unterstützt meine Idee.« Sie schüttelte den Kopf, dass die Locken flogen. »Und Sie bezahlen gut? Das Doppelte, nehme ich an.« »Schnell geschossen, Madam. Ja, meine Firma bezahlt Ihnen – das Dreifache. Eine reine Auftragsarbeit. Kein Interessenkonflikt. Der Quellenschutz ist gewährleistet.« Leslie schluckte ein paar Mal. Sie erhob sich und trat ans Fenster, spürte Spikes Blicke auf den Rundungen ihrer Figur. Sie wandte sich ihm wieder zu. »Hat Ihnen Martin alles erzählt?« »Wie meinen Sie?« »Ich meine meine Söhne. Dass ich die Arbeit aufgeben will, um mich um sie zu kümmern. Wussten Sie das auch?« Sie senkte den Kopf. »Ich habe sie vernachlässigt. Bin eine furchtbare Rabenmutter.« Als sich ihre Blicke wieder trafen, wusste sie, dass er nicht log, als er sagte, er hätte keine Ahnung davon gehabt. »Gehen die Boys hier zur Schule?« »Nein, sie besuchen ein Internat in der Schweiz.« Er legte eine Hand auf ihren Arm, presste die Lippen zusammen, als überlege er den nächsten Schritt. Leslie gab sich einen Ruck und schritt zur Tür. Sie hatte keine Ahnung, wie es mit ihr weitergehen sollte. Ihr Forschungsprojekt blieb liegen, die Arbeit im Amt war zur Routine verkommen, ein reifer, verlässlicher Mann fehlte ihr und über allem lauerte das schlechte Gewissen, ihre Söhne in einer entscheidenden Lebensphase im Stich zu lassen. Als Spike jetzt dicht neben ihr stand, spürte sie starkes statisches Prickeln. Sich ihm an die Brust werfen, ihre 42
Magnetfelder vereinigen, genau dieses Verlangen spürte sie. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, öffnete Spike beide Arme. »Schlafen Sie darüber, Leslie. Wir besprechen die Sache in …«, er zögerte, offenbar unsicher, »… wenn ich aus Kalifornien zurück bin. Ich hole meinen neuen Jet ab. Ein feiner Vogel.« Er beugte sich über den Laptop auf dem Arbeitstisch. »Geht der neunte September?«, fragte er. »Hier in meinem Büro?« Sie schüttelte den Kopf. Der Tag war auf ihrem Kalender für eine Konferenz in Newport News markiert. »Der zehnte?« »Nein, auch besetzt. Aber am elften. Da bin ich flexibel.« Spike blickte prüfend auf seinen elektronischen Kalender, strich sich über das glatt rasierte Kinn. »Gut. Sagen wir zum Kaffee? Ist halb neun morgens zu früh?« Sie lachte auf. »Bitte, Sir, ich arbeite für die Marine.« Abgemacht. In gut einer Woche würde sie klarer sehen und auf festeren Füßen stehen. Sie sah keine Chance, seinen Vorschlag anzunehmen. Aber darüber reden dürfte nicht schaden. Zudem war Spike nett und attraktiv. Und hatte einen Privatjet. Wenn das nicht sexy war! Der smarte Mittvierziger begleitete sie an den wie Schuhschachteln aneinandergereihten Einzelbüros vorbei zum Flur mit den Aufzügen. Als die Lifttür aufging und ein Dutzend Gesichter teilnahmslos auf sie starrten, spielte Spike gekonnt die kleine Karte aus, die er noch im Ärmel hatte. »Übrigens, haben Sie noch Interesse an dieser West-SideWohnung?« Sie stoppte abrupt, starrte ihn an. Die Lifttür ruckelte gegen ihre Hüfte. Natürlich, und wie! Das Hausgenossenschaftskomitee war im Begriff gewesen, sie abzulehnen, oder hatte sie vermutlich bereits abgelehnt. »Was 43
wissen Sie denn davon?« Sie sprach im Tonfall der Entrüstung, als hätte er nach ihrem Monatszyklus gefragt. Er machte eine alles und nichts erklärende Handbewegung. »Ach, zufällig kenne ich den Vorsitzenden der Hausgenossenschaft. Sie wissen doch, wie das läuft. Die suchen immer nach Gründen, jemanden abzulehnen …« Er stockte – das Dutzend Augenpaare im Aufzug schoss ihm strafende Blicke zu. Er zog sie sanft am Arm aus dem Lift in die Halle zurück. Leslie protestierte: »Ich habe dem Vorstand meinen lückenlosen Lebenslauf gegeben, das Interview verlief gut, keine Haustiere, von wilden Partys keine Rede, allein erziehende Mutter …« »Dann die Frage nach Ihrem Job?«, imitierte er sie in spöttischem Singsang. Sie nickte mehrmals. Er hob erklärend die Linke. »Eben, diese Kleinkarierten halten Sie für eine Geheimdienstlerin. Agentin. Ein Schnüffler im Haus, Sie verstehen? Willkommener Grund für ein Njet.« Sie schnaubte aufgebracht, stapfte zur Tür hinüber, über der das grüne Schild mit dem Hinweis zu den Treppen leuchtete. Wie stumpfsinnig fixierte sie das Symbol eines fliehenden Menschen. Einen Augenblick lang war sie versucht, durch den Notausgang die Treppen hinunterzurennen. »Kommen Sie, Leslie. Ich kann dem Komitee eine Garantie anbieten. Natürlich nur, wenn Sie wollen, ich meine, das Apartment gehört zu den feinsten und der Preis ist runtergekommen.« Leslie sah ihre Chance. Warum eigentlich nicht? Sie hatte zwei Jahre darauf gewartet – alles unternommen, um die Vierzimmerwohnung mit Aussicht auf den Park zu bekommen. Wieder öffnete sich die Lifttür. 44
»Gut, wir sprechen darüber, wenn Sie zurück sind. Das war ein bisschen viel auf einmal heute.« Die Lifttür glitt zu. »Am elften dann!«, rief er noch, dann hatte die Lifttür sein warmes Lächeln weggewischt. Ein Lächeln, das ihr bildhaft vor Augen blieb, als sie unten auf die Plaza hinaustrat, und später, als sie am Lincoln Center aus der Subway stieg und über die Columbus Avenue an Kleiderboutiquen und Manikürshops vorbei zum Parkeingang schlenderte. Es war genau das gewesen, was sie brauchte – ein reifer, verlässlicher, steinreicher Mann mit einem Lächeln wie eine kleine Verheißung.
08 Die Amateurbühne der Theaterliebhabergruppe Viel Lärm um nichts lag am West Broadway im Soho in einem alten Apartmenthaus, in dem früher ein nüchternes Versammlungslokal der Heilsarmee untergebracht gewesen war. Der hohe Raum im Erdgeschoss fasste etwa fünfzehn eng bestuhlte Reihen, die kurz vor Beginn der Vorstellung bis auf zwei Ränge gefüllt waren. Ganz hinten hatte ein Mann in Sportjacke ohne Krawatte, mit einer Baseballmütze auf dem Kopf Platz genommen. Als ein freundlich grüßender Besucher mit seiner Frau sich neben ihn setzte, blieb des Mannes Gesicht mürrisch. Da blendete das Licht ab. Ein triumphaler Musikschwall rauschte über die erwartungsvollen Köpfe. Langsam öffnete sich der Vorhang. Ein schlaksiger Kerl am Flügel beugte sein Haupt, begann rhythmisch auf die Tasten zu hämmern. Sie gaben ein modernes Stück, angeblich von Arthur oder Henry Miller. Dem Zuschauer mit Mütze und unrasiertem Kinn war dies völlig egal.
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Zum Glück für ihn lief die Handlung rasant in drei Akten ab. Ein ziemlich dämliches Stück, schien ihm, aber er war ein Kunstbanause. Die einzige Kunst, wovon er etwas verstand, war die Kampfkunst. Einzig die Frau in der Hauptrolle interessierte ihn an diesem Abend. Nur ihretwegen hatte er sich auf den Weg gemacht, sich widerwillig hinten hingesetzt. Pure Zeitverschwendung. Sie spielte die Rolle einer Mutter, die ihre Tochter wie ihren Augapfel hütete. Durch raffinierte Verwandlung versetzte sie sich in die Haut einer Nebenbuhlerin, um die Treue des Verlobten ihrer Tochter auf die Probe zu stellen. Dieser, vom Schlaks am Piano gespielt, konnte der Versuchung nicht widerstehen und warf sich treulos an den Busen der andern. Dem Kerl in der hintersten Reihe war es piepegal. Allerdings fiel ihm auf, dass der Pianist die Protagonistin mit einer Inbrunst küsste, als wäre er nicht nur in dieser Posse ihr Liebhaber. Einen Augenblick lang spürte der Beobachter eine süßliche Regung, die nicht zu seiner kaltblütigen Art passte. Leidenschaft und neidisches Verlangen lenkten ab. Für Leslie Palmer war die Bühne in diesem ehemaligen Sektenlokal eine logische Folge ihrer früher leidenschaftlich gepflegten Schauspielerei. Aber sie fühlte heute Abend, dass ihr das Engagement langsam, aber sicher über den Kopf wuchs. Zudem ließ ihre Diktion zu wünschen übrig, aber sie hatte schlicht nicht die Zeit, das Sprechtraining wieder aufzunehmen. Lieber würde sie wieder tanzen. Sie war fest entschlossen, heute Abend dem Leiter ihren Entschluss mitzuteilen: Fred, du weißt, mein Job fordert mich … Blöd! Fred, ich höre auf. Bitte akzeptier den Entscheid. Das Publikum gab eine stehende Ovation. Ganz hinten drängelte einer zum Ausgang – der Kerl aus der hintersten Reihe. »Können wir sprechen, Ms. Palmer?« 46
»Keine Interviews«, beschied sie kurz angebunden. »Unser Sprecher ist Fred.« Sie wandte sich ab, doch der Mann ließ nicht locker. »Es geht nicht um das Theater.« Erstaunt drehte sie sich um. »Wieso …? Ach Sie sind’s wieder! Was wollen Sie eigentlich? Stellen Sie mir nach?« Sie hatte laut gesprochen, Köpfe drehten sich. Hilfe suchend schaute sie sich nach Fred um. Der Mann beugte sich raunend vor. »Ich bin CIA.« »Na und? Was habe ich verbrochen?« Leslie entrüstete sich so laut, dass Passanten stehen blieben. »Nicht hier bitte«, bat der CIA-Mann, flüsterte dann provozierend, »es ist alles in Ordnung. Ihren Söhnen, Alex und Craig, geht es blendend in der Schweiz.« Leslie stand bewegungslos, den Kerl mit der blöden Mütze und dem Zweitagebart ungläubig anstarrend. Den Mund halb offen, schüttelte sie langsam den Kopf. Ihre Söhne? So etwas Intimes wie ihre Familie – unerhört! Sie folgte ihm unwillkürlich zum Rand des Gehsteigs, an einen schwarzen Explorer mit abgedunkelten Scheiben. »Special Agent, CIA.« Wieder ließ er seine Dienstmarke aufblitzen. »Nennen Sie mich doch Bob.« Sie lachte schrill auf. »Sie? Spionieren Sie etwa meinen Söhnen nach?« »Immer mit der Ruhe, Ms. Palmer«, konterte Bob gelassen. »Wir haben völlig friedliche Absichten. Steigen wir in meinen Wagen, ich fahre Sie nach Hause.« Sie spähte durch die dunkel reflektierende Scheibe skeptisch ins Innere des geräumigen Offroaders. »Leslie, ist alles okay?«, wollte ein groß gewachsener Mann mit weißer Mähne und schnittigen Gesichtszügen oben auf der 47
Treppe wissen. Er blickte abschätzend auf das protzige Gefährt hinunter. »Du gehst schon?« Sie winkte ihm lächelnd zu. »Danke, Fred, ich komme klar, keine Sorge. Wirklich, vielen Dank, wir sehen uns bei der Probe.« Der Mann, der sich Bob nannte, öffnete ihr gespielt galant die Beifahrertür. »Sie sind ziemlich dickköpfig«, grinste er. Ihre Söhne vor Augen stieg Leslie ein. »Ich durfte Sie leider nicht direkt kontaktieren«, erklärte Bob, während er sich hinter das Lenkrad schob. Das »sehr vertraulich« schluckte der anschwellende Motor. »Wir wissen, dass Sie zu Jahresbeginn in einem Programm des Secret Service mitmachten, Ms. Palmer. Heute wollen wir Ihnen vorschlagen, für unsere Dienststelle, also im Interesse der Nation, einen ähnlichen Job zu übernehmen.« Er musterte sie von der Seite, blickte dann in den Seitenspiegel, während er gemächlich aus der Parkbucht heraus manövrierte. »Ich habe einen Job. Vielen Dank«, sagte sie. »Weiß ich. Wir können das regeln.« Der Explorer glitt in den Verkehr. »Ihre Arbeit für das War College wird nicht darunter leiden. Mit Ihrem Direktor ist alles abgesprochen.« »Dann weiß er mehr, als ich weiß, ist ja wunderbar«, erwiderte Leslie höhnisch. Ihr selbst klang das unsicher, defensiv. Offener Hohn war selten ihre Art. Der Bursche, der sich Bob nannte, spielte plötzlich Verlegenheit. »Nein, nein, durchaus nicht. Natürlich weiß Wagner keine Einzelheiten. Der Auftrag ist eben hochgeheim, daher dieser unkonventionelle Kontakt mit Ihnen.« Leslie wechselte auf barsch herablassend. »Nun, was wollen Sie? Haben sie in Langley alle heißen Brei im Maul?« 48
Bob steuerte den Explorer zügig an Fußgängern und doppelt geparkten Wagen vorbei. »Sie hatten als Double für die First Lady trainiert. Wir möchten, dass Sie diesen Job weiter machen. Unter meiner Leitung.« Sein Blick war fest auf die Straße gerichtet. Der Verkehr auf der Houston Street war jetzt dichter. Der Wagen spurte ein, um auf den FDR Drive zu gelangen, der den East River hoch führte. Leslie merkte plötzlich, dass ihre Hände zitterten. »Und wo liegt der Haken? Warum die CIA?« Er bremste vor einem Rotlicht ab. Der Schein einer hell beleuchteten Fassade fiel ins Wageninnere, auf den weißen Umschlag, der auf der Mittelkonsole lag – ein Brief. Die Rechte in ihre Richtung schlenkernd, blickte Bob zur Ampel hoch. »Nationale Sicherheit.« Aus lauter Gewohnheit lugte Leslie noch mal auf den Umschlag, registrierte die Adresse: Mrs. Amira al Raisi, Duschanbe. Das stand deutlich gedruckt, der Absender darüber links am oberen Rand war Rick Bronx, 178 Braodway, Brooklyn, N.Y. 11211. Leslie schien starr nach vorn zu blicken, schielte aber überprüfend auf den Umschlag: Du-schan-be. Rick Bronx … Braodway … Tippfehler … Die Ampel ging auf Grün. Der Wagen zog an, der Brief rutschte weg. Bob fing ihn reflexartig mit der Rechten auf, steckte ihn auf seiner Seite ins Türfach. Als hätte sie nichts bemerkt, schaute Leslie auffällig eine Fassade hoch. Amira al Raisi. Ein klangvoller, lieblicher Name. Freundin? Tochter? Auf dem FDR Drive hatten sie freie Fahrt den East River hoch. Bob nahm den Faden wieder auf. »Ja, also, Nationale Sicherheit. Das wird Ihnen schon begreiflich, wenn wir die 49
Einzelheiten besprechen. Vorerst brauche ich Ihre Zusage und Ihre Unterschrift auf dem Geheimhaltungspapier. Dann bekommen Sie gleich den ersten Scheck.« Das Zittern war jetzt auch in ihren Knien zu spüren. Gerade deswegen gab sie sich unbeeindruckt, reagierte gezielt vulgär. »Stecken Sie sich den doch hin, wo keine Sonne scheint, Mister. Ich bin wirklich nicht bei Laune für diesen Shit. Da vorne, Exit 12, zweigen Sie jetzt ab! Einundsechzigste Straße. Können Sie bitte abzweigen, ja?« Er stellte den Blinker, bremste ab. »Okay, Ms. Palmer, wir geben Ihnen Bedenkzeit. Sprechen Sie mit niemandem darüber. Ich meine das wörtlich. Mit keiner Menschenseele!« Er schaute sie kurz und prüfend an. »Folgen Sie dieser Regel nicht – gleichgültig, ob Sie annehmen oder ablehnen –, können Ihre Söhne darunter leiden.« Leslie bebte jetzt am ganzen Körper. Sich an die Stirn greifend, sagte sie beinahe stammelnd: »Hören Sie, meine Familie geht Sie nichts an!« Bob blieb ungerührt. »Sie haben zwei Söhne. Zwillinge. Wir kennen Ihre Familie in- und auswendig. Uns entgeht nichts.« »Und meine Mutter?« Leslies Lippen bewegten sich kaum, als sie das Wort sprach. »Leider verstorben. In Texas. Tut mir leid.« »Das war vor über dreißig Jahren.« »Ich weiß, Sie waren damals ein Mädchen. Heute lebt Ihr Vater allein, in Brooklyn Heights.« »Und weiter? Was noch?« »Na schön, wollen Sie Ihren Lebenslauf hören, die Schulen, die Tufts University?« Er bremste ab, bog in ihre Straße ein. »Ah«, rief sie, »ich hab’s. Sie sind ein richtiges Asshole! Wie steht’s denn mit meinen zahllosen Vorstrafen?« 50
»Warum fragen Sie? Da liegt nichts vor, rein nichts, Sie wissen selber, Sie sind clean. Keine Leichen im Schrank.« Leslie atmete durch. Das war gut. Schon hatte sie befürchtet, er habe tiefer in ihr Privatleben geschnüffelt. Zum Glück wusste der Bursche offenbar nichts von ihrer Jennifer. Sie gab sich beleidigend verständig. »Okay, ich bin beeindruckt.« Er hob ein wenig die Schultern. »Wir tun nur unsere Pflicht.« Das sagen sie alle, diese Arsch… Nein, besser Beherrschung üben. Abwarten und Tee trinken, wie sie früh gelernt hatte. Der Mann stieg aus. »Bisschen die Beine vertreten«, gab er vor und erfasste mit einem Blick ihr Gebäude, den schwach erleuchteten Eingang, die fensterlose Tür, kein neugieriges Gesicht eines Pförtners. Zum Abschied produzierte er ein gewollt unbekümmertes Lächeln für sie. »Übrigens, ich heiße Bronx. Und nicht Bob – Rick Bronx.« Leslie wartete oben an der breiten Treppe, bis das Brummeln des Achtzylinders verklungen war, dann öffnete sie die Haustür. »Duschanbe«, murmelte sie. »Duschanbe … Duschanbe …«, als der Lift sie empor trug. In der Küche schrieb sie hastig die vom Umschlag abgelesenen Namen auf den ersten besten Zettel, der ihr unter die Hände kam. Während das Hühnchen in der Mikrowelle garte, öffnete Leslie eine Flasche Cabernet. Sie trug ein gefülltes Glas ins Wohnzimmer, startete mit immer noch zitternden Fingern ihren Laptop. Diese Sache ließ ihr keine Ruhe. Duschanbe. Hauptstadt Tadschikistans. 50 Prozent des Staatsgebietes liegen auf einer Höhe von 3000 Meter über dem Meer oder höher … Leslie blickte, nach einem Atlas suchend, die Bücherwand hoch. »… Der Osten des Landes wird vom Pamir-Gebirge und dem größten Teil des Pamir-Hochlandes geprägt … Dort befindet 51
sich auch der höchste Berg des Landes, der 7495 Meter hohe Pik Ismoil Somoni, früher Pik Kommunismus …« Leslie schüttelte widerwillig amüsiert den Kopf. Auf dem Dach der Welt bedeckten Gletscher eine Fläche von etwa 1200 Quadratkilometern. Sie fröstelte wieder beim Gedanken an den Anwerbungsversuch dieser Nacht. Ausgerechnet CIA! Sie stand auf. Der Große-Randell-Atlas zeigte ihr die Grenzen. Der äußerste Norden des Faltengebirges gehörte zu Kirgisien, der Osten zu China, der Süden zu Afghanistan, der Rest zu Tadschikistan. Die Mikrowelle piepste. Sie eilte in die hell erleuchtete, fensterlose Küche, legte die Hühnchenhälfte auf einen Teller, nahm den Fertigsalat aus dem Kühlschrank. Während sie aß, studierte sie die Post, die sich aufgetürmt hatte, sortierte sie, entschied dann, den Rest des Abends ihre Rechnungen zur Bezahlung zu ordnen. Der alte Kommunismus Piz konnte ihr doch gestohlen bleiben! Ihr Handy vibrierte zirpend. Ben? Sie lief in die Küche, starrte auf das Display. Von wegen Ben! Ein mulmiges Gefühl wühlte ihren Magen auf. ERWARTE SIE MORGEN 6 P.M. BEIM NEWSSTAND AUF DER WTC PLAZA. BRONX. Sie hielt es nicht länger aus, eilte ins Schlafzimmer, durchwühlte die Schubladen, zog ein paar feine Sachen an. Sie schlang einen scharlachroten Schal um den Hals und löschte das Licht. Habe nicht die Absicht, jetzt in schlotternde Ohnmacht zu versinken, behauptete sie sich selbst gegenüber. Es galt, den Stier bei den Hörnern zu packen! Sie hob die Hände. Ja, das blöde Zittern war weg. Sie fühlte ein befreites Lächeln. Und gab es da nicht noch einen Stier … Äh … Einen dynamischen jungen Mann, der ihr wieder zu Energie, Schneid und Phantasie verhelfen konnte? 52
09 Ben streifte an die dreißig, hielt sich gerne für einen außergewöhnlichen jungen Mann, der sein Informatikstudium erfolgreich abgeschlossen hatte, sehr kultiviert und anderen um einiges überlegen war – oder auch je nach Moment für einen eher niedrigen Typ, der seinen untrüglichen Instinkten folgt – leicht verrückt, verschlagen und unbekümmert. »Ich komme aus Virginia«, plauderte er. »Mein Vater war dort ein angesehener Richter. Ich hatte Glück. Meine Eltern waren großzügig und tolerant. Mom hatte ein Flair, gesellschaftliche Fäden zu ziehen.« »Auch ein Landei«, sagte Leslie mit leichtem Spott. »Genau wie ich.« »Warum? Lass mich raten. Georgia?« »Texas. Odessa. Liegt im Westen. Schon gehört?« Ben verneinte kopfschüttelnd. »Mein Dad war Arzt, ich ging aufs Odessa College, und weil ich die Beste war, erhielt ich einen begehrten Studienplatz an der Tufts University.« Sie rollte die Augen. »Hoch renommiert.« Ben tat beeindruckt, küsste sie auf die Wange, mit der Linken eine Melodie intonierend. Er sprach leise, als übe er ein Lied. »Dass ich in der Provinz aufwuchs, habe ich nie bereut. Im Gegenteil. Mir ist nicht alles in den Schoß gefallen, wie vielen meiner Freunde auf der Uni.« Er lachte unbekümmert auf. »Diesen Stadtpinkeln fühlte ich mich immer überlegen.« Leslie nickte. »Ich habe auch früh gelernt, mich zu behaupten. Mein Vater zog dann später nach New York. Hast du den History Channel?« Ben nickte. »Er leitete da militärhistorische Sendungen.« 53
Ben hob erstaunt das Gesicht. »Als Arzt?« »Als Stabsarzt machte Dad zweimal eine Tour in Vietnam.« Burschikos schwang sie sich rittlings auf ihn. »Wieder zuhause verfasste er ein Standardwerk über truppenärztlichen Dienst unter Kampfbedingungen. Seit World War Two, Stalingrad, oder so ähnlich.« Sie schlang die Arme um seinen Hals. Ben hielt ihren stürmischen Küssen amüsiert stand. »Und … oh … was machte … äh … deine liebe Mutter?« Leslie warf den Kopf zurück. »Früh gestorben. Ich kannte sie kaum. Leben deine Eltern noch?« Er nickte bloß. Leslie blickte ihn gespielt kühl und selbstsicher an. »Du verehrst deine Mama, ist doch so, oder?« »Äh … nun … ich glaube schon, warum?« Sie lachte und küsste ihn auf den Mund. »Weil du auf reife Frauen stehst!« Sie setzte mit mehr Küssen nach, um eventuelle Widerrede zu ersticken. Recht hat sie, dachte Ben imponiert grinsend. Dabei bevorzugte er Blondinen. Waren sie hübsch, spürte er das Verlangen, ihnen mit seinen vielseitigen Talenten zu imponieren. Er schätzte guten Stil und wurde vor Ehrfurcht geradezu unterwürfig, wenn Frauen Macht ausstrahlten, sei es beruflich, politisch oder weil sie im Showgeschäft mitmischten. Leslie passte nahtlos in dieses Frauenbild. Ihr Flüstern kitzelte sein Ohr. »Was machen wir jetzt?« Er drückte sie mit beiden Händen fester, stand auf. Sie umschlang ihn mit den Beinen, ließ sich übers Parkett tragen. Im Schlafzimmer deponierte er sie sanft auf dem Bett. »Bitte, bitte«, flüsterte sie, »Musik.«
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Er tat einen Schritt ans Fenster, zog das Rouleau herunter, machte sich an der Anlage zu schaffen. Barry Whites Bassbariton schmiegte sich ein. Ben legte sich neben sie. Sie fingerte ungeduldig an seinem Hosenbund, während er ihren Rock öffnete und geschickt herunterzog. Wie entgeistert starrte er auf das rot-weiß getupfte Lackhöschen. »Ich liebe es, dich auszuziehen und zu sehen, wie du darunter noch mal angezogen bist«, feixte er kennerisch. »Und Fliegenpilze finde ich besonders geil.« »Mir steht schöne Reizwäsche zu«, lachte sie geschmeichelt und begann an seiner Hose zu ziehen. Wie’s sich gehörte, hatten seine Shorts einwandfreie Passform. Sie fuhr mit der Hand unter den festen Rippenstrick, griff ungeniert die warme, hartweiche Spitze seines fest erigierten Glieds. Wie einfach Männer doch gebaut sind, sinnierte sie erregt. Einfach – und verdammt praktisch! »Ich liebe erotische Delikte«, gestand sie heiser und setzte sich umgekehrt auf seine Brust. Ihr Hintern mit den beiden attraktiv gelegenen Grübchen war leicht angehoben, so dass er den kleinen, vom Lackslip knapp verdeckten Wulst der Vulva direkt vor Augen hatte. Leslie wiederum konnte nicht anders, als das stolze Zepter seiner standhaften Männlichkeit in den Mund nehmen, daran saugen, es zwischen beiden Handflächen erst leicht, dann rauer reiben, seinen prallen Sack abwechselnd streicheln und lecken, bis eine süße volle Dünung sie anhob und sie berauschend kam. Dann war ihr standhafter Ben an der Reihe. Leslie verlor jedes Zeitgefühl. Irgendwo in den Tiefen dieser Zeitlosigkeit schlug ein großes, rhythmisch pumpendes Herz. Das war Ben, und sie, wie eins, jetzt zu seinem Takt, der auch zu ihrem wurde. Als er sich mit tiefem Röcheln ergoss, kam sie noch einmal, diesmal nicht wie
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Dünung, die auf Sand zerstiebt, sondern wie der Strom, der sich endlich ins Meer ergießt. Erst viel später gestand sie sich ein, dass sie mit Ben ihre Sexualität neu entdeckt hatte. Der bildhübsche Junge hatte sie entflammt, all ihre heimlichen Begierden wieder geweckt, alle erotischen Triebe und Freuden, die irgendwann nach der Geburt ihrer Söhne eingeschlafen waren, lustvoll aufgeschreckt, sie lüstern gemacht, sie richtig geschafft – sie ganz einfach befriedigt. Jene leidenschaftliche Nacht in seinem Apartment, nach all dem Stress, die Nacht, in der rötliches Licht, ein Barry-WhiteAlbum und sogar das frivole Bild von Madonna in Leder über dem Kopfende des Betts seinem Schlafzimmer eine gewisse Bordellästhetik verliehen, all das umfing sie lange lustvoll, ließ sie alles vergessen, gab allem Unangenehmen weiche Konturen.
10 Wie abgesprochen wartete Rick Bronx am nächsten Tag neben dem Zeitungsstand, von wo aus er einen guten Überblick über die Plaza hatte. Leslie kam allein, schlenderte zum Brunnen. Bronx setzte sie sofort unter Druck. »Hören Sie, Leslie, wir brauchen Ihren Entscheid bis zum kommenden Dienstag.« Sie überlegte. Dienstag war der elfte September, da hatte sie ihre Verabredung mit Spike. »Was soll das? Warum diese Eile? Wo brennt’s denn, um Himmels willen?« »Ich weiß, das scheint hart. Aber wir schützen das Land vor Terror. Ungewöhnliche Zeiten fordern ungewöhnliche Maßnahmen.« »Terror? Wie meinen Sie das eigentlich konkret? In Amerika sind wir sicher.« Sie schaute sich um, als suche sie auf dem hell schimmernden Teil der Plaza, im Halbschatten der mächtigen 56
Zwillingstürme, die Bestätigung einer heilen Welt. »Was soll uns hier schon passieren?« Bronx seufzte. »Eben, wir müssen uns vorsehen, damit uns nichts passiert. Das ist ja gerade die Aufgabe der Terrorbekämpfung.« »Also bitte, wir sind doch nicht in Tschetschenien.« Leslie blieb am Wasserbecken stehen. Bronx sah das Spiegelbild der Zwillingstürme. Im kräuselnden Wasser schien es, als wankten sie. Ein Schauer lief ihm den Rücken hinunter. »Stimmt«, fasste er sich. »Aber wer weiß, was kommt. Jedenfalls stehen Sie als Beamtin der Regierung unter Eid. Es geht um die Nationale Sicherheit. Dieses Projekt hat höchste Prioritätsstufe.« »Sie setzen mich unter Druck, warum die Eile?« Wieder seufzte Bronx, diesmal wie ein Mann von Welt. »Gott hat die Zeit geschaffen, Madam, der Teufel den Kalender.« Sie hob belustigt eine Braue. »Sie sind doch nicht etwa auch noch gläubig?« Er zuckte abschätzig die Schultern. »Bin zwar Muslim, aber keiner von den Fanatischen. Ich glaube an die Größe der Vereinigten Staaten. Schon mal von Osama bin Laden gehört?« »Wie könnte ich – bin doch von gestern.« »Dann wissen Sie vielleicht, der steckt hinter dem blutigen Bombenattentat auf die Botschaften in Dar el Salam und Nairobi. Die Zerstörung der USS Cole geht auf sein Konto. Wir sind naiv und unbekümmert in diesem Land. Wir nehmen den bärtigen Araber und seine Fatwa nicht ernst.« Bronx hielt den Arm mit hochgeklappter Hand vor die Brust. Leslie blickte jetzt doch ein wenig gestrig drein. »Fatwa?« 57
»Sein Gebot, wonach es eines Muslims heilige Pflicht ist, Amerikaner zu töten.« Sie tippte ihm mit dem Finger auf die Brust. »Leute wie Sie!« Bronx’ Augen blitzten wie ein Alarmsignal, etwas Gefährliches lag in seinem Blick. »Pieken Sie mich nicht«, schrie er wütend, als hätte sie ihn ins Herz getroffen. Hatte sie etwa sein religiöses Gefühl verletzt? Doch Bronx hatte sich bereits gefasst, murmelte entschuldigend: »Schon gut. Ich meine nur, wir müssen wirklich auf der Hut sein!« »Unsinn, das sind doch nur Sprüchlein zum Anheizen der Massen. Dies hier ist New York, Mann! Wir sind eine Supermacht, vergessen? Was können uns diese Fanatiker schon antun? Zu Stoßzeiten in der Grand Central Station Nervengift versprühen?« Sie tat diese absurde Möglichkeit mit einer leichtfertigen Gebärde ab und fügte an: »Sie sollten nicht so viel TV-Schund absorbieren.« Bronx schien unproportioniert erregt. Er hatte den Arm schützend auf Schulterhöhe vorgeschoben. »Niemand nimmt uns ernst, bis es passiert!« Leslie schloss zu ihm auf, als hätte sie eine unterschwellige Drohung herausgehört. »Haben Sie etwa konkrete Anhaltspunkte?« »Wir haben unsere Informationen. Es geht schlicht darum, dass Sie, sollte es die Sicherheit der Nation gebieten, die Rolle der First Lady übernehmen.« »Nur gerade das? Nicht mehr, nicht weniger?« Ihr spöttischer Ton schien ihn zu nerven. »Sie sind die Einzige, die in Frage kommt. Äußerlich gleichen Sie sich wie ein Ei dem andern, ein paar kosmetische Retuschen machen Sie zum perfekten Ebenbild. Den letzten Schliff bringen wir Ihnen bei. Dann sind Sie die First Lady.«
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Leslie schaute sich unbehaglich um. Tausende strömten sorglos oder geschäftig über die Plaza. Sie wusste, dass Doubles immer für den Präsidenten bereitstanden, angeblich zu seinem Schutz oder zur Täuschung des Feindes, aber die First Lady? Worin bestünde denn da ihre sicherheitspolitische Bedeutung? »Auch die Frau des Präsidenten ist eine Zielscheibe«, meinte Bronx, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Mord- oder Entführungsopfer. Nicht auszudenken.« Sie gelangten an die Treppen. Leslies Stimme triefte förmlich vor Ironie. »Wäre ein schwarzer Tag für die CIA, nicht?« »Spötteln Sie nur, wies Ihnen beliebt, Madam, wir haben unseren Auftrag. Da gibt es keine Kompromisse.« Er blieb abrupt stehen. »Also, machen Sie mit?« »Nun, dann werde ich also im Weißen Haus alles mir ihr persönlich besprechen, ja?« Es schien ihr, als zuckte er bei diesen Worten zusammen. »Wozu?« »Wozu, wozu?«, schoss sie zurück. »Mann, sind Sie schwer von Begriff! Ist doch logisch. Auch mit dem Präsidenten muss ich den Auftrag sicher absprechen.« Bronx schüttelte den Kopf. »Damit etwas ein für alle Mal klar ist, Ms. Palmer. Außer mir und Ihnen weiß kein Mensch von dieser Mission. Das gilt auch für den Präsidenten.« Sich breitbeinig vor ihm aufbauend, blickte sie schräg unter ihren kampflustig gesenkten Brauen hoch in seine blaugrauen, tief liegenden Augen. »Ich brauche Bedenkzeit.« »Haben Sie nicht.« »Was habe ich nicht? Ich werde mich … meine, ich werde das gründlich überdenken, dann erst …« Bronx fiel ihr scharf ins Wort. »Wen wollen Sie denn konsultieren?« 59
Seine Augen waren Schlitze, eng wie Schießscharten. Seine raue Stimme hatte einen drohenden Unterton. »Kommen Sie.« Wortlos folgte sie ihm an den Treppen vorbei hinüber zur Fußgängerüberführung. Gedanken rasten ihr durch den Kopf. Was lag für sie drin? Die Bezahlung musste auf jeden Fall stimmen. Eigentlich kein allzu schwieriger Job, sagte sie sich. Gewissermaßen auf sie zugeschnitten. Und was zum Teufel wusste Bronx eigentlich von ihrem früheren Einsatz für die First Lady? Sie kam nicht dazu, die Frage zu stellen. Unter ihnen rauschte der wie üblich schwere Verkehr auf der Hudson Parkway. Am Ende der Passage blieb Bronx stehen. Die Office-Türme des Finanzdistrikts ragten in den schiefergrauen Himmel, New Jersey auf der andern Seite lag im Dunst seiner Industrieanlagen, dazwischen glitzerte der Fluss. Bronx zog wortlos ein Foto von der Größe einer Ansichtskarte aus der Rocktasche und hielt es ihr unter die Augen. Leslie durchfuhr es siedendheiß. »Meine … Das sind meine Söhne! Wo haben Sie die Aufnahme her?« Statt zu antworten, kramte Bronx weitere Fotos hervor – gestochen scharfe, schwarzweiße Bilder. »Schauen Sie, hier, auf dem Fahrrad, Monsieur Mercier, wenn ich nicht irre, ja? Und der Marathonläufer da, der trainiert mit Craig. Hier haben wir Alex, den fleißigen Studenten in Lausanne …« Leslie atmete tief aus. Ihre Magengrube schien hohl und leer. Bronx hatte Bilder von den Jungs, als wäre er mit ihnen herumgereist! Beim Sport, am See, in den Bergen, vor dem Internat, auf dem Bahnhof … Die aufkeimende Rage nur mit Mühe kontrollierend, atmete sie langsam tief ein. »Wo haben Sie die Bilder her? Geben Sie her!«
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Sie riss sie ihm aus den Händen, drückte sie an die Brust. Bronx strahlte die Gleichgültigkeit eines völlig Unbeteiligten aus. »Madam, wir beschützen Ihre Boys.« Hatte sie richtig gehört? Ihre Stimme war eisig geworden. »Beschützen? Vor was?« Sie packte ihn plötzlich am Kragen, stieß ihn mit aller Kraft von sich. Japanische Touristen mit umgehängten Kameras blieben erstaunt stehen, lächelten, wie Japaner in jeder Lage lächeln, einer hob den Fotoapparat. Weiter vorne standen abgewandt zwei Polizisten. Ihre Aufmerksamkeit galt einem Hubschrauber der Küstenwache, der im Tiefflug über den Hudson knatterte. Bronx straffte seinen Anzug, strich die Haare zurück. Mit einer beschwichtigenden Armbewegung trat er auf Leslie zu. »Lassen Sie mich in Ruhe!«, schrie sie und schlug verzweifelt die Hände auf den Kopf. »Picture, please!« Einer der Japaner hielt ihr lächelnd die Kamera hin. »Picture von Tower, please?« Irritiert blickte Leslie auf. Bronx trat dazwischen, sie mit breitem Rücken abschirmend. »Schauen Sie, Leslie, eine einzige Regel gilt hier«, dozierte er seelenruhig, »Sie steigen ein, oder Ihre Söhne steigen aus.« Erschöpfung umfing sie. »Wie meinen Sie das?« »Genau wie ich es sage. Die Boys sind unser Pfand. Ob Sie es wollen oder nicht.« »Das ist nicht einfach nur Erpressung. Das ist … das ist … kriminell.« »Meinetwegen. Ihren Söhnen werden wir alle Vorteile verschaffen. Gute Studienplätze, die besten Jobs. Wir kümmern uns um unsere Leute. Das ist mein Angebot. Wenn Sie einsteigen, tun Sie es für Ihre Jungen.« »Und wenn nicht?« 61
»Wenn Sie herum reden, sich erkundigen oder gar nicht erst annehmen, nun, das könnte ernsthafte Folgen für Ihre Söhne haben.« Später wusste Leslie nicht mehr genau, was in ihr vorgegangen war. Sie erinnerte sich nur an die blinde Wut, die hochgestiegen war, an den schmerzenden Handrücken, als sie Bronx im Gesicht traf; dann fand sie sich verzweifelt auf einer Bank wieder, starrte auf die schwarzen Schuhe unter einer Uniformhose, nahm die Waffe am Gürtel der Polizistin wahr … Sie schüttelte den Kopf, nickte, hob abwehrend beide Hände. »Danke, Officer, es geht schon!« Sie blickte auf: Bronx war weg. Sie wankte zu einer Seitenstraße, winkte einem Taxi. Zuhause angekommen holte sie die verstaubte Flasche Cognac aus dem Küchenschrank, goss zitternd ein Glas voll. Sie nahm einen tiefen Schluck, schüttelte sich. Die mit Zorn gemischte Verzweiflung wollte nicht abklingen. Sie wischte sich das Gesicht mit Küchenkrepp ab, taumelte ins Wohnzimmer und ließ sich erschöpft auf die Couch fallen. Das Ding mit diesem Bronx hing wie ein Damoklesschwert über ihr. Sie musste tun, was er wollte. Sie riss sich die Kleider vom Leib und wankte in die Dusche. Das heiße Wasser verschaffte ihr etwas Linderung. Sie atmete tief durch. Doch, es gab vielleicht einen, dem sie sich anvertrauen durfte. Es musste einen Ausweg geben. Ihr Vater wüsste bestimmt Rat. Die leicht gebräunte Haut war von der Dusche gerötet, ihre Haare nass und dunkel. Sie schlang den Bademantel um sich, ging barfuß in die Küche, um nach etwas Essbarem zu stöbern. Was sie fand, waren ein Stückchen Käse und eine halbe Tomate. »Krieg dich in den Griff«, hatte Vater sie oft gemahnt, wenn sie niedergeschlagen nach Hause kam und ihr die Schule und alles gestohlen bleiben konnte. Endlich nahm sie das Telefon zur Hand, zögerte, drückte schließlich die Taste. 62
Endlos läutete es. Na klar, wieder mal nicht zuhause! Da klickte es. »Palmer.« Wie gut sie ihr tat, diese sonore, gütige Stimme. »Paps! Hallo. Wie geht’s? Ich muss mit dir reden. Wie? Nein nicht am Telefon. Triffst du mich zum Lunch? Geht es morgen im Sette Mezzo?« Sie sah ihn vor sich, den großen, buschigen Kopf mit den Stirnfalten, die hellwachen Augen, der lustige Schnauzbart, leicht vornübergebeugt der massige, dicke Körper. Das Bild eines Landarztes wie von Norman Rockwell gemalt, dachte sie manchmal liebevoll, fast eine Karikatur. »Wo brennt’s denn? Um ein Uhr könnte ich es richten. Ist was passiert?« Sie fühlte, wie sie rascher atmete. »Daddy, hast du mit jemandem von der Regierung zu tun?« »Ach, diese Bürokraten«, brummte er. »Ja, da rief einer tatsächlich wegen einer Steuergeschichte an. So ein Käse! Weißt du, das Geld, das du von mir erhalten hast.« Er hatte ihr einen Treuhandfonds eingerichtet, aus dem ihr nach seinem Tod erhebliche Mittel zufließen würden. »Nein, nein, Dad, es geht um Alex und Craig. Es ist wichtig.« Einige Augenblicke lang blieb die Leitung still. »Wer sagt das?«, fragte er schließlich in gespanntem Tonfall. »Morgen, beim Lunch, okay?« »Klar, aber mach dir jetzt keine Sorgen, mein Kind, okay?« Erleichtert, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, bestellte sie beim Chinesen vegetarisch, trocknete sich die Haare und legte sich auf die Couch. Dabei wollte ihr ein Satz nicht aus dem Gedächtnis weichen: Niemand nimmt uns ernst, bis es zu spät ist. Und diese 63
Armbewegung. Etwas stimmte ernsthaft nicht an diesem Rick Bronx. Ihr Hirn marternd, an Bronx’ Gebärde herumstudierend, nickte sie schließlich ein. Im Traum trug sie ein Mann auf kräftigen Armen beschwingt in Vaters Haus die Treppe hoch – Ben … … wie zärtlich er war! Im Arbeitszimmer loderten Flammen im Kamin. Wie immer. Das ganze Jahr. Sommer und Winter. Sie tranken Champagner. Ein Hummer kroch über den Salontisch. Langsam führte Ben sie zu süßer Erregung. Leslie war aus dem leichten, durchgeknöpften Kleid geschlüpft … Ließ den knallbunten Hüftgürtel fallen … Musik begann von der Decke zu rieseln, auf ihren Rücken, wie winzige Perlen, als sie sich auf der Rückseite der Couch über die Lehne beugte, lüstern die Beine spreizte und flüsterte: »Komm jetzt!« Es war einfach grandios, Ben hatte das Flair für Atmosphäre, die Lust, sie zu verfuhren. Er öffnete ihr das volle Leben, eine neue Welt. Eben waren sie ausgegangen, in ihre Bars und Restaurants … Ein schnauzbärtiger Kellner in weißer Schürze und einem feinmaschigen Fangnetz in der Hand klopfte an den Türrahmen, er müsse den entwischten Hummer zurückholen … Hinter ihm grinste Bronx und schwenkte Fotografien in der Hand. Leslie lachte schrill, Ben riss seinen Hosenstall auf. »Du bist verrückt«, stöhnte er. Er war erregt, und als er in sie eindrang, trug ein nur mit schwarzen Rüschenhandschuhen bekleidetes zierliches Mädchen lächelnd eine Flasche Champagner herein. Er sei fit, gerade richtig für sie, lobte sie laut keuchend, den Hintern höher in die Luft reckend, den Kopf in den Nacken geworfen … Sie drängte nicht, zappelte nicht, ließ ihm den Genuss, die Kontrolle. Als er kräftig auf die Klimax zustieß, 64
krachte plötzlich ein Holz im Feuer. Funken stoben, das Mädchen ließ schreiend die Flasche fallen, der Hummer brutzelte in der Glut … Das Krachen war ein Schuss gewesen. Bronx hatte Craig mitten ins Herz geschossen. Jetzt hob er den Finger und sagte: »Einsteigen oder aussteigen!« Ein Scheit zersprang mit lautem Knall. Leslie erwachte mit pochendem Herzen. Wo kam der Lärm her? Im Wohnzimmer brannte noch das Licht. Die dunklen Fenster sperrten die Nacht aus. Die Wohnungstür war sicher verriegelt. Unsicher schlüpfte sie ins Bett, zog die Decke hoch, bis über die Ohren. Es dauerte lange, bis ihre wirren Gedanken im Schlaf zerflossen.
11 Am nächsten Tag hatte Leslie es eilig. Der Regen machte es um die Mittagszeit schwierig, in der Fulton Street ein Taxi aufzutreiben. Vater Charles Palmer hasste Unpünktlichkeit. Sicher saß er bereits am Tisch, und der Charmeur würde sie mit den Worten begrüßen: Dein Anblick lässt die Zeit vergessen, bin auch eben erst gekommen. Als der Taxifahrer an der Ecke der siebzigsten Straße hielt, hatte der Regen aufgehört. Wie so oft in dieser quecksilbrigen Stadt, klarte der Himmel in wenigen Minuten auf, helles Blau leuchtete über den Dächern der Lexington Avenue. Charles Palmer kam aus dem Nichts auf sie zu. Seine stürmische Umarmung sagte mehr als viele Worte, und zusammen gingen sie die paar Schritte ins Sette Mezzo. Oriente geleitete sie mit südländischem Charme an den runden Tisch direkt am Fenster. 65
»Wie kannst du nur in so teuren Lokalen essen«, raunte Charles, als der hagere, kroatische Kellner herbeieilte, die Zettel in der Hand ordnete, die Lippen netzte und begann, die Tagespezialitäten herunterzuleiern. Leslie liebte die private Atmosphäre des Restaurants. Als Stammkundin genoss sie die volle Aufmerksamkeit des vorwiegend europäischen Personals. »Ist das nicht dieser Kleidermensch mit der Polomarke?«, platzte Charles heraus und drehte sich unbekümmert nach dem älteren Herrn mit der vollen grauweißen Mähne um. »Paps, bitte!«, mahnte Leslie. »Weißt du, was du nimmst?« Sie lüpfte diskret die Brauen in Richtung Kellner, der mit gespitztem Stift bereitstand. Sie bestellten, der Kroate notierte, Oriente stellte eine Flasche Montalcino auf den Tisch. »Tenuta Argiano, samtweich und verführerisch«, schwärmte er. Charles ließ sich einschenken, probierte, gab sein Urteil. »Buono!« Seine Augen verrieten Ungeduld, als ob er etwas loswerden wollte, jedoch den Zeitpunkt noch nicht für angebracht hielt. »Ziemlich elitärer Ort, das hier«, kommentierte er, Weißbrot in Olivenöl tunkend. »Ja, du bist nicht der einzige Promi hier«, neckte Leslie. »Übrigens ich lade ein, und du hältst dich schön still!« Er schenkte ihr ein Schmunzeln, dann beugte er sich vor. »Also schieß los, wo liegt der Hase im Pfeffer?« Leslie hob die Schultern leicht an und blickte diskret in die Runde. »Also, ich werde von einem CIA-Typen erpresst. Er versucht mich zu einem Geheimjob im Weißen Haus zu zwingen.« Charles Palmer kaute am olivenölgetränkten Brotstück. »Ist 66
doch dein Business, nicht?«, beschied er schlicht. Sie verneinte heftig mit Kopfschütteln. »Nein, dies ist was ganz anderes. Dieser Bursche bedroht mich. Wenn ich nicht mitmache, will er sich an meinen Jungen rächen.« »Was? Hat er das wirklich gesagt? Alex und Craig?« Palmers entrüsteter Tonfall schwang durch das ganze Restaurant. »Weiß der Kerl eigentlich, mit wem er es zu tun hat? Wir Palmers lassen uns nicht …« Er kam nicht weiter. Leslie sprach langsam, ernst. »Paps, hör zu, ich habe keine Wahl.« Er zupfte an seinem Schnurrbart, blickte flüchtig zum Fenster hinaus: »CIA, sagst du! Was verlangen diese unterbelichteten Schurken denn von meiner Tochter?« Leslie blieb stumm. Sie rang mit einer Entscheidung. Sollte sie Vater wirklich einweihen? Mit niemandem darüber sprechen, dröhnte ihr Bronx’ Warnung im Kopf. »Ich weiß nicht«, wich sie aus. »Ich darf nicht darüber reden.« »Komm schon, das wäre ja gelacht, wenn dein Vater nicht Bescheid wissen darf.« Er hob sein Glas. »Auf uns, alles Gute, Leslie!« Sie folgte widerwillig, nippte nur flüchtig. »Also, ich soll als Double für die First Lady einspringen«, verriet sie mit kaum hörbarer Stimme. »Es geht um die Nationale Sicherheit. Paps, versprich mir …« Seine Reaktion ließ sie verstummen. Die unschuldig verschmitzten Gesichtszüge wurden zur Maske. Er lehnte sich langsam zurück, starrte sie lange aus kalten Augen an. »Was ist?« Sich vorbeugend, murmelte Charles heiser: »Was haben sie dir als Begründung gesagt? Warum ausgerechnet du?« Leslie schaute ihn groß an. »Das überrascht dich nicht?« Er bewegte den Charakterkopf, die Schultern. 67
»Du hast dieses schauspielerische Talent und du, nun, du bist ihr ähnlich, das hab ich doch schon immer gewusst.« »Gut, aber meine Söhne sollen sie aus dem Spiel lassen!« Charles ignorierte den Einwand. »Hat der Typ dir irgendeine Erklärung gegeben?« »Erklärung ist gut! Du hast schön reden. Erpressung heißt das. Entweder ich mache mit, oder es gibt Probleme. Dad, ich habe wirklich Angst.« Er lächelte väterlich. »Komm schon, Baby, du hattest noch nie Angst vor neuen Aufgaben. Ich kenne dich besser. Du bist ein Kontrollfreak. Du wickelst die Männer um den Finger wie Baumwollgarn. Aber noch mal – wühlt der etwa in deiner Vergangenheit? Wie heißt der Kerl eigentlich, der soll sich in Acht nehmen.« Palmers Augen blitzten. Ein Hilfskellner legte die Teller mit der Vorspeise auf den Tisch. Leslie hob die Gabel in die Luft. »Vergangenheit? Meine? Nein, warum sollte er?« Charles schien erleichtert und stocherte im Hummersalat herum, als suche er darin nach einem Ausweg. »Dann ist ja gut. Also, nimmst du an? Ich denke, du schaffst das mit links!« Aber Leslie ließ sich nicht abwimmeln. »Was soll die Frage über meine Vergangenheit?« »Du hast schon immer zum Fatalismus geneigt. Du kontrollierst zwar die Männer, nicht aber dein Schicksal. Du lässt dich von Ereignissen in der unerschütterlichen Hoffnung treiben, dass alles seinen vorbestimmten Sinn hat.« Leslie drehte ihren Teller unschlüssig. »Danke für den psychologischen Exkurs.« »Meistens akzeptierst du, was dir eine intelligente Person vorschlägt. Das meine ich. Du erblickst darin einen 68
dynamischen Prozess und machst mit. Aus Neugier, oder nenn es Unternehmungslust, wenn du willst.« »Okay. Du meinst, ich soll mich einfach beugen?« Charles zuckte kauend mit den Achseln. »Ich denke schon. Du kannst doch der Herausforderung ohnehin nicht widerstehen, oder?« Sie analysierte ihr Verhalten. War sie Bronx etwa verfallen? Wollte sie gar von ihm herumkommandiert werden? Es war immer dasselbe mit den Männern. Oder spürte sie, dass etwas faul war? Sie legte einen Zeitungsausschnitt auf den Tisch. Der Titel eines Kurzberichts lautete: FIRST LADY IM FINANZDISTRIKT. »Hast du das gesehen?« »Ist Jerry Moseley ihr Finanzberater?«, las er laut, dabei entschieden den Kopf schüttelnd. »Um Geld anzulegen, braucht sie nicht nach Manhattan zu fliegen. Schau, Frauen haben drei Gründe, irgendwohin zu gehen: zur Schönheitspflege, mit der Freundin einkaufen oder eine Affäre!« »Du bist unmöglich, du Macho!« Sie tippte auf den Zeitungsartikel. »Mein CIA-Typ machte eine Andeutung in dieser Richtung.« »In welcher Richtung?« Leslie lugte scharf nach beiden Seiten, beugte sich vor. »Weißt du, was er sagte? Er sagte wörtlich: ›Sie hat eine Beziehung, die uns missfällt.‹ Rätselhaft, nicht?« Charles sagte nichts. Der verhaltene Schalk in ihm war verschwunden. Er schürzte die Lippen, streichelte mit Daumen und Zeigefinger nachdenklich den Schnauz. »Du wolltest etwas über meine Kindheit erzählen?«, mahnte Leslie. Er wandte den Kopf ab, wobei sein aufmerksamer Blick über die belebte Straße strich. 69
»Paps, hallo! Ist was?« Sie folgte seinem Blick. Draußen staute sich gerade der Verkehr vor dem Rotlicht. Passanten zogen vorbei. Er blickte sie an. Sein Gesicht arbeitete. Schließlich sprach er. »Nun gut, es gibt da einen wunden Punkt, aber …« »Aber was? Bitte keine Geheimnisse, ich bin nicht mehr zwölf.« »Ach, nichts. Wenn sie nichts wissen, ist’s gut.« Er legte das Besteck nieder. Dabei machte er ein Gesicht, als möchte er noch etwas sagen, als läge ihm etwas auf der Zunge – etwas, das er ihr schon längst mitteilen wollte, aber es nicht übers Herz brachte, ihr zu offenbaren. Leslie war plötzlich der Appetit vergangen. Sie ließ den Mozzarella unberührt. Sie senkte die Stimme. »Hat es mit Texas zu tun?« Er nickte, streckte beide Hände über den Tisch. »Diese Hände, Baby, haben dich zur Welt gebracht. Das war milde ausgedrückt eine dramatische Nacht. Ich wollte es dir schon lange erzählen, doch …« Sein finsterer Ausdruck nahm ihr die Worte. Diese Veränderung verhieß nichts Gutes. Weil sie diese, seine Maske leider gut genug kannte, befürchtete sie das Schlimmste. Palmer starrte böse durch die Fensterscheibe. Fast entglitt seiner zitternden Hand das Glas. Langsam hob er mit gestrecktem Zeigefinger die Rechte. »Der Kerl da drüben … den hab ich schon heute Morgen vor meinem Haus gesehen. Kann doch kein Zufall sein.« Sie beugte sich vor, um seine Blickrichtung aufzufangen. »Wo?« »Neben dem blauen Pick-up vor der Bäckerei.« »Bist du sicher? Diese Typen sehen doch alle gleich aus.« Er hob seine Hände in einer typischen Halt-mal-still-Gebärde. 70
»Liebste, ich habe ein Auge für Anatomisches. Fällt dir an diesem Burschen etwas auf?« Leslie warf noch einen prüfenden Blick hinüber. »Der Pferdeschwanz?« »Ach nee. Schau doch genau hin, der Typ hat nur ein Ohr! Vermutlich vom Mafiaboss persönlich abgeschnitten.« Leslie tat, als sähe sie es auch. »Jetzt steigt er hinters Lenkrad«, berichtete sie. »Dann diese hellbraunen dämlichen Cowboystiefel. Die sah ich heute Vormittag aus seiner Karre baumeln. Kein Zweifel. Wir haben schon drei Merkmale, die übereinstimmen. Glaubst du mir jetzt endlich?« Charles Palmers Antlitz hatte sich gerötet. »Wieso sollte er denn derselbe sein?« »Die beschatten mich, Leslie. Dein CIA-Dunkelmann steckt dahinter. Komm, wir gehen.« Er stand so heftig auf, dass auf dem Tisch die Gläser klirrten, stapfte zum Ausgang, dass der Boden förmlich vibrierte. Sie hielt ihn am Jackett zurück. »Daddy, du wolltest mir eben noch etwas sagen!« »Komm mich besuchen. Warte, dem verpasse ich eine Abreibung.« Er rannte leichtfüßig durch die Türe, hielt mit einer Pranke sämtlichen Verkehr auf und überquerte seelenruhig die Straße. Leslie traute ihren Augen kaum. Impulsiv riss er den Typ am einzigen Ohr vom Fahrersitz, drückte ihn gegen die Ladebrücke und schlug dem Überrumpelten in rascher Folge die flache Hand rechts und links ins Gesicht. Dann geschah alles blitzschnell. Charles Palmer verschwand auf dem Hintersitz des Taxis, dessen Fahrer einen Formel-1Start hinlegte. Der blaue Pick-up schoss vom Randstein weg, rammte seitlich einen weißen Brotlieferwagen, der in Schräglage kippte und auf zwei Rädern in die Weinhandlung an 71
der Ecke krachte. Wild hupend nahm der Pick-up die Verfolgung auf. Oriente stand mit besorgtem Chefgesicht neben Leslie. »Was ist passiert?« »Ein Notfall«, flüsterte sie entsetzt, kam mechanisch in Bewegung. Langsam begann sie zu begreifen. Gewissensbisse plagten sie. War es ein Fehler, Vater in die Sache hineinzuziehen? Wieso meinte er, beschattet zu werden? Sie ging in die Wäscherei, nahm die Blusen in Empfang. Als sie wenig später ihre Wohnung betrat, blinkte schon das rote Telefonlämpchen. Die Nachricht war von Dad. »Leslie, meine Liebe, ich habe ihn abgehängt. Hast du gesehen? Dem habe ich’s gezeigt, ha! Was den anderen betrifft, hab ich es mir überlegt. Komm gegen sechs Uhr raus zu mir. Die Sache lässt mir keine Ruhe!« Sie schlug seine Handynummer – keine Antwort, typisch Dad! Noch am selben Abend fuhr sie hinüber zu ihm nach Brooklyn Heights.
12 »Dieser Bronx will nicht dich, er will Macht«, befand Charles Palmer zum Schluss seiner Ausführungen. »Was wir brauchen, ist einen Plan. Aber lass mich zuerst auf den Punkt zurückkommen, den ich heute Mittag angeschnitten habe. Kann sein, dass Zusammenhänge bestehen.« Hohe, in dunklem Holz getäfelte Wände umfassten den behaglichen Raum. Vater Palmer schaufelte Eis in einen Schwenker, goss aus der Kristallkaraffe goldbraune Flüssigkeit, dass die Eiswürfel klirrten, setzte sich zufrieden brummelnd in den hohen Ohrensessel aus weinrotem Leder. 72
Leslie schaute amüsiert auf das fröhlich züngelnde Kaminfeuer. Obwohl sie sich mit seiner Marotte längst abgefunden hatte, konnte sie nicht umhin, provozierend zu bemerken: »Du bist einfach unglaublich! Mitten im Sommer machst du Feuer! Und die Klimaanlage läuft auch noch.« Charles Palmer hob das Glas gegen das Feuer, drehte es bedächtig in der Hand. »Ich lass mich doch nicht aus der Gewohnheit bringen!«, dröhnte er. Nachdenklich blickte er auf das Spiel der Glanzlichter, die den Whiskey schimmern ließen, als wäre er Gold. Dann nahm er einen Schluck und begann zu erzählen: »Baby, es war die schlimmste Nacht meines Lebens. Es ging um Leben und Tod. Draußen goss es in Strömen. Im Park bogen sich die Ulmen unter den peitschenden Böen des heftigen Sturms. Die Lichter flackerten. Fabienne, hochschwanger, begann plötzlich zu stöhnen. Auf ihrem Antlitz lag dieser sonderbar hehre Ausdruck einer Gebärenden. Ich wusste sofort, dass keine Zeit zu verlieren war. Im Fernsehen sah man Eisenhower auf Wahlkampftour, sichtlich aufgebracht verdammte er vor jubelnden Truppen den Einmarsch der Sowjets in Ungarn. Noch heute sehe ich die Bilder kristallklar vor mir. Ich raste mit dem alten Chevy den Dixie Boulevard hinunter, du erinnerst dich … dein College liegt in der Nähe … … Die Stadt hatte damals noch nicht die Größe von heute. Die Bevölkerungsexplosion kam erst später mit dem Ölboom. Ende der fünfziger Jahre hatten wir bloß ein einziges Spital in Odessa. Es lag an der 4th Street, wo heute der riesige Komplex des Medical Center alles überragt. Die lange Anfahrt zur Geburtsklinik lag im Dunkeln, heftige Regenschwaden klatschten unaufhörlich auf die Windschutzscheibe, die Wischer arbeiteten Akkord, Blitze erhellten die überschwemmte Fahrbahn. Ich sag dir, ich hatte meine liebe Mühe, den schwach beleuchteten Eingang zu finden. Morgens um zwei Uhr war er natürlich geschlossen. Nichts regte sich im Spital. Um die Ecke 73
gelangte ich zur Emergency, eine Hand wie Blei auf der Hupe. Defekte Neonröhren flackerten uns gespenstisch entgegen. Fabienne hielt sich tapfer. Mit gepressten Lippen drückte sie beide Hände auf den Unterleib. Stumm und verzweifelt starrte sie mich an, wie dem Schicksal ergeben …« Leslie gestikulierte ungeduldig. »Und dann, ging alles gut?« Sie saß ihm gegenüber, die Füße gegen das knisternde Feuer gestreckt. »Wart ab, es war noch alles in Ordnung …« … Charles Palmer hielt vor der gedeckten Vorfahrt der Notaufnahme sachte an, blickte besorgt zum Rücksitz. »Alles in Ordnung?«, fragte er liebevoll, stieg aus und half der Frau aus dem Wagen. Sie fest stützend, eilte er mit ihr durch die Flügeltür ins Innere. Die Halle gähnte leer. In dem öden Milieu echoten ihre Schritte trostlos. Endlich, hinter dem Empfangstresen ein bleiches Gesicht im gebündelten Licht einer Tischlampe. »Julia, Kreißsaal Eins bereit machen. Rufen Sie Jessica!«, rief Palmer im Heraneilen. Nur widerwillig trennte sich die Nachtschwester von ihrer Lektüre. »Machen Sie schon!«, herrschte Palmer sie an, als er vor den Aufzügen stand. Erst jetzt erkannte sie den Arzt. »Sofort, Doktor«, rief sie aufgeschreckt. »Wer ist sonst noch da? Haben wir einen Gynäkologen?« Julia rannte um den Tresen herum zum Fahrstuhl, dessen Tür sich rumpelnd öffnete. Einen Einsatzplan schwenkend rief sie: »Wir haben heute Nacht nur einen Stationsarzt. Ferguson. Kein Oberarzt in der Notfallaufnahme. Auch niemand von der Gynäkologie steht bereit.« Ihr Blick fixierte das kreidebleiche Gesicht der Schwangeren, das sich schmerzhaft verzog, als sie nach Atem ringend die Hand auf den Leib presste. 74
Langsam glitt die Lifttür zu. »Und Kirkhoff?«, bellte Palmer durch den Spalt. »Schaffen Sie Doktor Kirkhoff herbei, Julia. Augenblicklich!« Er drückte beruhigend Fabiennes Arm. »Gleich sind wir da. Alles wird gut gehen, Liebling«, tröstete er. Aber seine Gedanken rasten: Ferguson war als junger Internist eine brauchbare Assistenz, aber keine große Hilfe bei Komplikationen … Kirkhoff! Wenn doch bloß der erfahrene Geburtshelfer zur Stelle wäre … Der Fahrstuhl hielt mit einem Ruck. Ein Schrei blieb Fabienne in der Kehle stecken. Die Tür glitt zur Seite. Eine Schwester rollte kurvend ein Bett heran. »Melissa! Gut, dass Sie da sind. Es eilt.« Melissa genügte ein Blick. Gemeinsam, wortlos, schoben sie das Rollbett den langen, schwach beleuchteten Flur hinunter. »Doktor Kirkhoff hat seinen freien Tag, Charley«, informierte Melissa mit gespannter Stimme. Der Arzt sprach jetzt mit jener zwingenden Kommandostimme, die er für ernste Notfälle parat hielt. »Jemand soll zusehen, dass er auf der Stelle hier erscheint!« Resigniert hob sie eine Hand. »Er ist in seinem Landhaus. Julia versucht, ihn dort aufzutreiben. Vor einer Stunde dürfte er es bei diesem miesen Sauwetter nicht schaffen. Was jetzt?« Fabienne stöhnte heftig auf. Palmer fasste aufgeschreckt nach ihr. Sie bäumte sich auf, ihr Gesicht erstarrte, die Augen rollten. Plötzlich entfuhr ihr ein herzerweichender Schrei, der in ein Stammeln überging: »Oh, oh … Charley, hilf mir!« Sie sank zurück auf das Kissen, lag bewegungslos da. »Kaiserschnitt, OPS … los«, brüllte Palmer, dass seine Stimme widerhallte. Im Laufschritt schwenkten sie das Rollbett am Kreißsaal vorbei in den kahlen Seitengang. Palmer legte seine Hand an Fabiennes Hals. 75
»Schwacher Puls! Wo zum Teufel bleibt Ferguson?!« Im Operationssaal flammten die Lichter auf, als sie einfuhren. Aus einer Tür eilte ein junger Arzt herbei, an seinem Mundschutz fummelnd. »Ferguson«, rief Palmer mit scharfer Befehlsstimme. »Sie machen die Narkose!« Dann beugte er sich mit vor Entsetzen geweiteten Augen über das reglose, schöne Gesicht und flüsterte, die Lippen dicht an ein Ohr gepresst: »Liebling, Fabienne …« »Fassen Sie an«, mahnte Melissa, die Ruhe selbst. Zusammen hoben sie die Schwangere auf den Operationstisch. Melissa schob den Instrumentenwagen heran und half Palmer, der sich schon die Hände abtrocknete, in die weiße Schürze. Fünf Minuten später, um zwei Uhr sechsunddreißig, begann die Operation im grell beleuchteten, kahlen OPS des Odessa Hospitals. Hier, zwischen den behaglichen vier Wänden des mit Büchern übersäten Arbeitszimmers in Brooklyn, fragte Leslie gepresst: »Also … bitte … wer war Fabienne?« Palmer trug getönte Brillengläser, die sein langes, zerfurchtes Gesicht mit dem breiten Doppelkinn schneidiger aussehen ließen. Er wandte den Blick von der Glut ab. »Eine Französin, jung, hinreißend schön, temperamentvoll. Die einzige Frau, die ich je … lassen wir das. Sie starb in jener Nacht.« Leslie starrte ihn fassungslos an. »Und das Baby?« Trotz des Feuers fröstelnd umklammerte sie ihre angewinkelten Beine. Er nippte am Glas, fuhr fort. … Der talentierte Arzt Charley Palmer hatte an der Universitätsklinik von Dallas eine gute Chirurgenausbildung genossen. Er fühlte sich sicher, wenn es darum ging, einen Kaiserschnitt zu machen. Wie viele solche Operationen er bis zu 76
jener verhängnisvollen Nacht schon glanzvoll durchgeführt hatte, hätte er nicht aus dem Stegreif sagen können. Jedenfalls verursachte ihm der Eingriff schon lange kein Bauchweh mehr. Ihm war augenblicklich klar, dass die Frau nicht auf natürlichem Weg gebären konnte. Wimmernd war sie in völlige Apathie versunken. Mit wirrem Blick schien sie nahe daran, das Bewusstsein zu verlieren. Die Herztöne wurden schwächer. Sie durchkämpfte eine schwere Krise. Welcher Art die auch immer sein mochte, Palmer wusste, dass höchste Eile geboten war. Doch seine schlimmsten Befürchtungen sollten noch übertroffen werden. Die Vorbereitungen klappten reibungslos. Melissa bewahrte den Überblick und half dem nervösen Ferguson am Narkosegerät. Sie war Gold wert, aber als sie Palmer das Skalpell reichte, blinzelte sie schockiert: Die Hände des Chirurgen zitterten! »Alles in Ordnung, Doktor?« Der forschende Blick aus den schönen, dunklen Augen traf Palmer mitten ins Herz. Er riss sich zusammen, fragte tadelnd: »Was soll denn sein? Alles bestens, fangen wir an. Puls? Atmung?« Routinefragen. Sorgfältig machte er den Schnitt, dann noch einen, verlangte die Schere … »Uterusruptur«, schrie er plötzlich, bellte Befehle: »Rasch! Die Klammer, das Sauggerät. Infusionen … Klemmen …! Um Himmels willen, beeilen Sie sich. Wo bleibt Kirkhoff? Wir müssen …« Er brach ab, konstatierte tonlos: »Zwillinge!« Beim Kamin fuhr Leslie aus ihrer bequemen Haltung auf. »Zwillinge?«, rief sie erstaunt. »Wenn es Zwillinge waren, dann …« Dad wischte den Einwand mit der Hand weg. »Wir wussten es nicht. Damals untersuchten die Ärzte noch nicht mit Ultraschall. Und die Patientin kam von auswärts …« 77
Er rang sichtlich mitgenommen nach Worten. »In der gleichen Sekunde begriff ich, dass ich die Frau verloren hatte.« Leslie hielt eine Hand vor ihr bestürztes Gesicht. Nur das leise Knistern des Feuers durchbrach die Stille. Charles räusperte sich, nahm den Faden wieder auf … … Hektisch, aber kontrolliert befreite er die Winzlinge aus dem Mutterleib, reichte zwei kostbare Leben an Melissa weiter. Trotz Blutstillung, Klammern, Abbinden, Absaugen … Alle notfallmäßigen Eingriffe blieben erfolglos. Das Blut strömte und pulste unaufhaltsam, es war der schreckliche Albtraum eines jeden Chirurgen. Hilflos musste Palmer zuschauen, wie die Frau unter seinen Händen verblutete. Und in diese desperate Lage hinein schrien plötzlich zwei Babys, dass es in den Ohren gellte. Die Zwillinge lebten! Sie schrien! Der Hauch des Todes war wie weggepustet. Neues Leben floss wie Licht in die Düsternis, und Charley Palmer spürte die Schöpfung neuer Kraft, als ob sie aus der jungen Frau strömte, deren Herztöne in diesen Sekunden verstummten. Der Puls setzte aus, ein langer, nervender Summton bedeutete brutale Endgültigkeit. Palmer beugte sich verzweifelt über das jetzt friedlich geglättete Gesicht. Er schluchzte auf. »Es tut mir so leid, so leid …« Brooklyn. Im Kamin war das Feuer am Erlöschen. Kaum bewegte Leslie die Lippen, als sie das Wort sprach. »Du hast sie geliebt.« »Sie starb unter meinem Messer«, wich er aus. »Es war furchtbar.« »Und was geschah dann? Gabst du dir selbst die Schuld?« Er nickte langsam, nahm einen Schluck Whiskey. »Es war schon passiert, als ich den Schnitt machte. Die Obduktion hat es dann auch bestätigt. Welch Glück, dass die Zwillinge lebten. Aber das war nur der Anfang der Katastrophe. Die Ereignisse 78
überstürzten sich. Es war, als hätte sich in dieser Nacht in Texas die ganze Welt gegen mich verschworen.« Leslie schenkte sich ungeduldig Wasser nach. »Erzähl schon«, mahnte sie. »Ja, es ist lange her, und du sollst alles wissen, meine Liebe …« … Charley Palmer stand wie gelähmt über die Tote gebeugt, während Melissa die Zwillinge in warme Windeln wickelte und sie jedes für sich in ein Rollbettchen legte. Irgendwo kreischten Sirenen. Wenig später Rufe und Schritte im Nebenraum. Regungslos verharrte Palmer. Der Verlust der geliebten Frau hatte ihn bis ins Tiefste der Seele erschüttert. Er hatte als Arzt versagt, seine Liebste im Stich gelassen. Die Stimme kam von weit her. »Doktor Palmer?« Melissa zupfte ihn behutsam am blutnassen Ärmel. Sie sprach in sanftem Ton, der allerdings keine Widerrede zuließ. »Doktor, wir haben einen Notfall. Bitte!« Sie zog ihn sacht von der Leiche weg. »Was? Notfall? Ich weiß, es war schrecklich …« »Sie können ihr jetzt nicht mehr helfen«, hörte er sie. »Kommen Sie, Charley.« In der Tür stand Ferguson mit entsetztem Gesicht. »Die Frau kriegt ihr Kind, es geht los!«, rief der junge Assistenzarzt außer sich. »Die Diagnose!«, murmelte Palmer, sich mechanisch in Bewegung setzend. Die Frau lag unter weißen Tüchern. Palmer hätte am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht. »Doktor Kirkhoff ist unterwegs«, informierte Melissa hoffnungsvoll. »Wir können nicht länger warten«, befand Ferguson mit besorgtem Blick auf den Gebärstuhl, wo die dunkelhaarige Frau
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ihre Augen geschlossen hielt, als schliefe sie. »Wir haben ihr ein Sedativ gegeben.« »Sind Sie noch bei Trost?!«, entfuhr es Palmer. Er war dabei, die Frau zu untersuchen, als ihre Wehen wieder einsetzten. Sie arbeitete und presste unter Ächzen und Stöhnen. Sie schrie. Das Baby wollte und wollte nicht kommen! Palmer brauchte nicht lange über die Ursache zu spekulieren – es lag quer. Die logische Lösung, der unausweichliche Bescheid, war Kaiserschnitt. Aber Palmer stand da wie gelähmt. »Ich war traumatisiert, Leslie«, intonierte er in das schwenkende Whiskeyglas hinein. »Ich starrte auf sie hinunter, konnte mich nicht rühren. Es war wie in einem dieser ekelhaften Träume. Das Auto fährt auf den Abgrund zu, dein Fuß sucht nach dem Bremspedal, gelangt einfach nicht hin, die Muskeln gehorchen nicht, nichts regt sich. Genau so fühlte ich mich.« »Du hattest Angst, die Operation wieder …« »… wieder zu verpfuschen, sag es nur«, half er nach. »Ja, sicher. Ich brachte den Mut nicht auf, nach dem Blutbad mit Fabienne noch mal zu schneiden. Schlimm, unglaublich, ist doch so?« Er stand auf, goss sich an der Bar aus der schweren Kristallkaraffe Whiskey nach, genoss einen kräftigen Schluck. »Jetzt hörst du den Rest der Geschichte.« Er setzte sich schräg auf die Tischkante. »Ob du willst oder nicht.« … Mit Müh und Not gelang es Charley Palmer um vier Uhr morgens, das Baby zur Welt zu bringen. Doch er konstatierte sogleich die traurige Tatsache, dass es nicht mehr atmete. Kein Schrei, kein Zappeln. Palmer hielt den leblosen Winzling schützend in den Armen, sein breiter Rücken schirmte die Blicke Fergusons ab. Da schoss der Gedanke urplötzlich in sein erschöpftes Hirn. Auf Melissa blickend, die bewährte, gelassene 80
und beste aller Schwestern, kommandierte er: »Ein Tuch, rasch!« Melissa half ihm, ihr Blick sagte nichts aus, sie tat ihre Handreichungen ruhig, professionell. Palmer rannte mit dem Bündel in den Armen in den Operationssaal hinüber. »Reanimation!«, hörten sie ihn rufen, bevor die Tür zuschlug. Im Arbeitszimmer des Charles Palmer war es dunkel geworden. Leslie drehte die Stehlampe an. Ihre Stimme klang gespannt. »Du konntest das Baby hoffentlich retten?« »Es ging um Minuten. Ich wusste gar nicht, was in mir vorging. Erst später, viel später, analysierte ich mein Verhalten: ein verrücktes Benehmen. Es war hochgradig kriminell, Leslie.« »Kriminell? Was solltest du denn verbrochen haben! Operationen, die schiefgehen, können jedem Chirurgen passieren.« Ihr Vater schüttelte den Kopf. Er richtete sich voller Stolz auf, sagte im Brustton der Überzeugung: »Es war verrückt, was ich gemacht habe, es brauchte Chuzpe, und …« »Und was?« Leslie machte große Augen. »Erzähl bitte.« … Als sich Schwester Melissa nach bangen Minuten traute, die Tür zum Operationssaal zu öffnen, stand Palmer vor dem Instrumententisch. Er hielt ein Neugeborenes liebevoll in den Armen, sprach ihm mit gebeugtem Kopf flüsternd zu. Den fragenden Blick der Schwester beantwortete er mit einem erleichterten Nicken. Melissa schaute sich neugierig um, trat näher und nahm ihm das Baby ab. Ihre Blicke begegneten sich. »Ein Mädchen«, murmelte Palmer heiser. Das Neugeborene atmete, zuckte, verkniff die Augen. Melissa trug es wortlos hinüber und legte es der erschöpften Mutter in die Arme, gerade als polternd und keuchend der rundliche Kirkhoff mit verschwitztem Gesicht in den Gebärsaal trat.
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»Wieso, alles schon erledigt?«, flachste er. »Was haben wir denn da?« Er beugte sich frivol über die Wöchnerin, piekte mit dem Zeigefinger neckisch des Babys Ärmchen. »Bist ein schönes Baby, richtig süß!« Zu Ferguson gewandt fragte er munter: »Ist Meister Palmer noch da? Wo versteckt sich der Knabe?« Der ausgestreckten Hand der Oberschwester folgend, eilte er in den Operationssaal. Palmer wandte sich vom Waschbecken ab, trocknete gelassen die Hände. Der Operationstisch war leer. Im Hintergrund zeichneten sich die Konturen eines Körpers unter einem weißen Leichentuch ab. Blutbefleckte Spuren der Operation quollen in der Form von Watte, Tuchfetzen und Verbandszeug aus blanken Chrombehältern, deckten das Bündel mit dem toten Baby zu. »Exitus in tabula«, gestand Palmer nüchtern, bevor Kirkhoff das breite Lästermaul öffnen konnte. »Oh, tut mir leid, wer war’s?« »Eine junge Frau, hat ein gesundes Mädchen geboren. Uterusruptur.« »Prä oder post?«, wollte der Gynäkologe wissen. »Sie hatte bereits starke Haemorrhagie, als ich auftat.« »Gut für dich«, fand Kirkhoff, entschied gleich mit lässiger Handbewegung: »Ab in die Pathologie!« Leslie stand jetzt breitbeinig vor ihrem Dad, ihr Busen wogte. Sie rang nach Worten. Charles Palmer zog schuldbewusst die Brauen hoch. Er breitete die Arme aus, als wollte er seine ganze Vergangenheit umfassend erklären. Leslie beugte sich vor, als wäre sie im Begriff, rückwärts in den Kamin zu steigen. »Du hast diesem Kirkhoff gesagt, ein Mädchen? Du hast nicht Zwillinge gesagt? Wer war die andere Frau?« Wie zum Schwur hob Palmer besänftigend eine Hand. 82
»Das hat Kirkhoff auch gefragt«, meinte er geradezu schelmisch. »Ich wusste es auch nicht. Ich bat ihn, den Papierkram zu erledigen.« Leslie starrte ihn immer noch ungläubig an. »Du hattest keine Ahnung, wer die andere Mutter war? Du hast ihr geholfen, ich meine nach all dem Schrecken. Und du kanntest ihren Namen nicht?« Palmer wiegte nachdenklich das Haupt. »Es war mir egal«, sagte er schlicht. »Ich musste alles erst mal verdauen. Kannst du das nachfühlen?« Verwirrt wandte Leslie ein: »Aber da war doch noch etwas?« Sie suchte krampfhaft nach dem Faden, doch Palmer unterbrach mit autoritärer Stimme. »Na schön, hör zu. Die Geschichte hat noch eine kleine Fortsetzung. Aber es ist spät geworden. Ich bin müde und du solltest nicht zu spät zurück. Bei mir willst du ja nicht schlafen, ist doch so?« Sie lehnte lächelnd mit einer Handbewegung ab. »Du kannst mich doch nicht einfach so auf die Folter spannen. Das ist nicht fair. Jetzt erzählst du weiter!« Er blieb unnachgiebig. »Ich habe alles schön aufgezeichnet und dokumentiert, und …« »Dokumentiert?« »Natürlich, für dich. In der Schublade oben im Schlafzimmer, wo der Revolver … egal, die Manschettenknöpfe … du weißt schon, da liegt ein roter Umschlag. Dort sind ein paar wichtige Aufzeichnungen, die wir in Ruhe durchgehen wollen. Nächstes Mal. Jetzt bin ich zu müde.« Wie zum Beweis rieb er sich die Stirn und schloss die Augen. Also verabschiedete sie sich, und zwar mit einem doppelten Kuss. »Ich liebe dich, Paps.«
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Sie ging lächelnd aus dem Zimmer, die Treppe hinunter. Oben räusperte sich Dad. »Da wäre noch etwas, Leslie. Melissa … Melissa hat …« Sie fuhr herum. Aus ihrem Blick sah er, dass sie wusste, was er sagen wollte. »Melissa hat das Babygirl zu sich genommen. Später haben wir geheiratet und …« Er stockte. Leslie legte beide Hände an die Schläfen und vollendete den Satz: »Meine leibliche Mutter ist Fabienne! Und von dir hat sie die Zwillinge … Zwillinge …« Sie rannte die Treppe hoch, sank in den Sessel. Er reichte ihr einen Drink. Der Cognac brannte in der Kehle. Heiser stieß sie hervor: »Dann war Melissa … meine Pflegemutter?! Warum hast du mir das nie erzählt?« Mit Verzweiflung in den Augen schaute sie zu ihm auf. Er legte eine Hand väterlich tröstend auf ihre Schulter. Viel später in der Nacht, im Taxi, das Charles bestellt hatte, glitt sie über die matt schimmernde Brooklyn Bridge, sah die mächtigen Zwillingstürme des Welthandelszentrums in den Nachthimmel glitzern und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Als der Fahrer den FDR Drive verließ und in die belebte Upper East Side tauchte, war sie immer noch völlig durcheinander. Doch ihr rationales Denken sagte ihr, wie von weit her, dass diese Geschichte noch ein paar lose Fäden hatte. Endlich zuhause angekommen, schluckte sie ein Beruhigungsmittel und ging zu Bett. Eine Weile lag sie ruhig atmend da, auf die Wirkung der Pillen wartend. Bald, ohne es zu merken, war sie in tiefen, traumlosen Schlaf gesunken.
13 Über dem langen, dunkelgrünen Grat flirrte das Licht. Die Sonne stand tief und würde sich bald hinter der Bergkette 84
verabschieden. Auf der mit feinstem Granit teuer gepflasterten Fußgängerpromenade von Gstaad stellte sich die typische lockere Geschäftigkeit des Vorabends ein. Aus der Ferne läuteten vereinzelte Kuhglocken, Bergsteiger zogen müden Schrittes durch die autofreie Spaziermeile, und im Rialto servierte Maggie, die Kellnerin aus Toronto, einem Gast in Bügelfaltenhosen und Sporthemd ein Glas Weißwein. Daneben starrten zwei Typen stumm auf den Gast. Die Kirchenglocke schlug mit zwei tiefen Klängen die halbe Stunde. Einer trug einen Schlapphut. Die Hand des anderen fuhr plötzlich in die Hosentasche und klaubte das Telefon hervor. An einem Streichholz kauend lauschte er, blickte hinter schwarzer Sonnenbrille nickend zum Kumpan. Dann standen sie auf, mischten sich unter die Spaziergänger. Vor einem Uhrenladen blieben sie stehen. Eine Uhr gab die Zeit in New York an: halb eins, mittags. Am Bahnhof stiegen die Männer in den schwarzen Pajero und rollten unauffällig fort. Als sie die Anhöhe in den sanften Hügeln erreicht hatten, bogen sie zu einem Chalet ab, das sich unter den steilen Bergen der Umgebung zu ducken schien. Sie parkten gut versteckt neben dem Haus, schritten zur Eingangstür. Der Schlapphut schaute sich um. Sein Blick fiel auf eine von Schafen abgeweidete Wiese, über das Tal und in den Dunst, der sich über das große Dorf legte. Der Dunkelhäutige, die Sonnenbrille auf der Stirn, machte sich am Schloss zu schaffen, was ihm kaum Schweiß auf seinen glatt rasierten Schädel trieb. Es knirschte und kratzte zwei Mal, dann stand die berggrün gefärbte, mit roten Blumenmustern verzierte Tür offen. Die Männer traten in den geräumigen Flur und schauten sich um. Post lag auf einem Abstelltisch, ein Newsweek Magazine, zwei Briefe, adressiert an Craig Palmer. Der Schlapphut nickte zufrieden gestellt, verdrückte sich in den Salon. Der Dunkelhäutige suchte das Schlafzimmer ab, warf einen abschätzigen Blick in die winzige Dusche, dann setzte er 85
sich vom Fenster abgewandt auf einen Küchenhocker und betrachtete die an der Kühlschranktür aufgeklebten Schnappschüsse von verrückten, durch die Luft katapultierenden Snowboardern. Grunzend rieb er sich in primitiver Vorfreude die Fäuste … Der Bus hielt weiter unten an der Hauptstraße. Ein schlanker, großer Junge stieg aus, schritt das Sträßchen hoch. Im Chalet von Monsieur Mercier wohnte Craig in der kleinen Gastwohnung im Erdgeschoss. Einen Moment verharrte er vor der verzierten Tür zu seinem Apartment, stellte dann die Sporttasche ab, als hätte er sich eines Besseren besonnen und stieg die hölzerne Treppe hoch. Oben angelangt, griff er nach dem Schlüssel über dem Türrahmen, öffnete die aus Altholz gestemmte Tür und betrat ein großes, modern eingerichtetes Zimmer. Er drückte auf den flachen Schalter – über den Fenstern warfen verborgene Lichtröhren einen warmen Schein an den Rand der Decke, aus der zahlreiche kleine Lämpchen auf das helle Parkett herunter strahlten. Craig schritt durch den schmalen, in altem Holz getäfelten Gang zum Badezimmer, das Monsieur Mercier für die recht seltenen Gäste eingerichtet hatte und selber kaum benutzte. Craig fühlte sich wohl in dem großen Duschraum hinter der Glaswand bei dem Paneel mit all den Düsen und Brausen. Im Nu stand er nackt vor dem Spiegel. Sein Körper glänzte vom Schweiß der Anstrengung, die er hinter sich hatte. Eine knappe Stunde Spinning mit rasch wechselndem Tempo, wie auch simulierte Steigungen und Sprints mit zunehmendem Widerstand hatte ihn ganz schön gefordert. Er liebte seinen Body, strotzte vor Energie. Geschmeidige Muskeln spannten sich über Arme und Oberschenkel. Der Bauch war wie ein flaches Brett. Sein Bruder Alex, einen halben Kopf kleiner, stand ihm nicht nach. Alex wohnte seit einiger Zeit auf dem Campus der EFPL Lausanne.
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Das Wasser massierte Craigs Körper angenehm. Er wandte sich um, ließ den Rücken berieseln, wusch sich die Haare, dann schob er die Glastür beiseite und trocknete sich mit einem großen, roten Frottétuch ab. Als er in den Wohnraum trat, um seine Kleider … verhielt er mitten in der Bewegung. Wieder klopfte es an der Tür. »Paul?« Keine Antwort. Er schlug sich das Tuch um die Hüfte, drehte den Schlüssel. Die Tür knallte ihm ins Gesicht. Er torkelte rückwärts. Zwei Kerle sprangen brutal entschlossen ins Zimmer, griffen den Strauchelnden bei den Armen, traktierten ihn, ohne etwas zu sagen, mit Faustschlägen. Der mit dem Schlapphut hielt Craig fest, der andere schlug ihm ins Gesicht, stieß ihm das Knie in den Unterleib, schmetterte dann einen furchtbaren Haken ans Kinn des Wehrlosen. Der Schlapphut beugte sich munter feixend über den Zusammengesunkenen, zündete sich eine Zigarette an. Derweil traktierte der mit der Sonnenbrille Craig mit wüsten Fußtritten in den Rücken, an den Kopf. Stöhnend deckte Craig seinen Kopf mit den Armen ab. Blut schoss ihm aus Mund und Nase. Der Schlapphut zog seinen randgenähten Schuh aus, drückte die rechte Hand des dumpf Ächzenden auf den Holzboden, begann jetzt mit dem hohen Absatz auf die Finger zu hämmern, während sein Kumpel Craig das Hemd in den Mund stopfte, um Schreien und Wimmern zu ersticken. Nachdem sie endlich von dem Geschundenen abgelassen hatten, machte der Dunkelhäutige grinsend mit einer kleinen Digitalkamera ein paar Aufnahmen. Dann gab er mit einem Kopfnicken das Zeichen zum Abhauen.
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14 Ungefähr zur gleichen Zeit holte Leslie Palmer elegant aus und schwang durch. »Guter Schlag, Les!«, lobte Harry. Der weiße Ball flog in weitem Bogen hoch über dem Hudson River gen New Jersey – so jedenfalls schien es. »Schöne Weite«, entschied Harry, als der Ball nach gut zweihundert Metern auf die grüne, mit hohen Netzen umfasste Zielfläche von Pier 59 der Golftrainingsanlage aufschlug und dort in einem weißen Meer von Bällen ausrollte. Es war zwei Uhr nachmittags. Leslie kam an Sonntagen oft um diese Zeit zum Abschlagstraining in die Chelsea Piers, wo sie früher Tanzkurse belegt hatte. Wer wollte, konnte hier eine der riesigen Kletterwände stürmen, über eine 400-Meter Laufstrecke spurten und dabei jede Menge interessante New Yorker treffen. Leslie liebte die saloppe, unkonventionelle Atmosphäre. Harry, der alles filmte, um später mit ihr den Ablauf der Schwünge am Bildschirm zu analysieren, spornte sie an. »Weiter so, das war perfekt.« Der nächste Ball rollte automatisch auf den T. Leslie sprach ihn konzentriert an, machte sorgfältig einen Probeschwung, rutschte mit den Füßen hin und her. Da fühlte sie eine Bewegung in ihrem Rücken. Sie hielt im letzten Moment ein, schaute sich genervt um. Da stand er – Rick Bronx. Mit diesem blöden Grinsen im Gesicht. Der Mann ging ihr definitiv auf die Nieren. Hatte er sich etwa angemeldet? Sie zog Luft ein, holte wütend aus und hackte auf den Ball hinunter, als wolle sie Bronx zwischen die Ohren treffen.
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»Mmm, null Komma null nix«, kommentierte Harry, nicht sonderlich diskret. Der Schläger hatte die Matte hart getroffen – der Ball hopste hoch, flog kurz und krumm, rollte seitwärts weg. »Shit!«, zischelte Leslie. Das Nummer-sieben-Eisen kämpferisch in der Faust, stampfte sie schnaufend auf den Störenfried zu. »Bronx, scheren Sie sich zum Teufel!« Der hob beide Hände in einer halb versöhnlichen, halb beunruhigten Geste. »Sorry, Madam. Ich warte nebenan.« Flüsternd fügte er hinzu: »Wir müssen reden!« Sie gab Harry ein bedauerndes Schulterzucken. Der Pro verstand, ohne zu mucken. Viele seiner Stammkunden schätzten Diskretion mindest so sehr wie das Golftraining. »Kein Problem, Les.« Er schlenderte leise pfeifend zum nächsten Abschlag. Bronx jonglierte mit einem Golfball, bis Harry außer Hörweite war, begann dann ohne Umschweife. »Hören Sie, Leslie, das absolut Wichtigste Ihrer Mission ist höchste Geheimhaltung. Sie reden mit keinem Menschen darüber, auch nicht mit dem Präsidenten. Besonders nicht mit ihm.« Leslie wedelte mit dem Schläger vor ihren leicht gespreizten Beinen. »Warum denn ausgerechnet nicht mit ihm, ist er etwa nicht mein Mann?« Ihr Ton war barsch, sie holte jetzt ernsthaft aus. »Schlafen wir etwa nicht miteinander?« Bronx wich zurück. Diese Weiber mit ihrer Logik trieben ihn noch in den Wahnsinn! Es gelang ihm, einen gelassenen Ton anzuschlagen. »Schauen Sie, Leslie, soweit wir das beurteilen können, ist der Präsident einfach nicht verlässlich.«
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Leslie traf den Ball perfekt. Ein heller, satter Ton schickte ihn auf eine schöne Flugbahn. Elegant durchschwingend blickte sie dem Projektil stolz nach. Bronx schien unbeeindruckt. »Die Nummer eins ist eine Plaudertasche, sein Office eine Waschküche. Da wird getratscht. Bruchstücke seiner unverdauten Ansichten zirkulieren hinter der Bühne, und plötzlich bauscht einer seiner Superschlauen das Zeugs auf, fängt an nachzuforschen, und als Nächstes sickert die Sache an die Öffentlichkeit durch. Dann haben wir den Salat. Verstehen Sie jetzt?« Leslie stützte sich auf den Schläger. Ihr leuchtete nicht ein, weshalb rein theoretisch das Verschwinden der First Lady eine Staatsaffäre sein sollte. Was hatte die Frau denn schon für eine Funktion, außer ab und zu Frauengruppen zu empfangen und auf Wohltätigkeitsbällen zu glänzen? »Und warum darf die Nation nicht erfahren, falls der Präsidentengattin irgendwas widerfahren sollte?« Bronx traute seinen Ohren nicht. Im herablassenden Ton eines Oberlehrers dozierte er: »Ms. Palmer, die Nationale Sicherheit steht auf dem Spiel. Wir sind nicht auf den Kopf gefallen und wir haben zusammen mit FBI und Secret Service eine Strategie für den Fall, dass der Präsident oder seine Frau Opfer eines Attentats werden.« Er pausierte, bückte sich, um ihr den heruntergekollerten Ball auf das T zurückzulegen. Sie setzte den Schlägerkopf prüfend vor den Ball. »Ich weiß nicht. Der Präsident sähe sich in so einem Fall sicher einer Sympathiewelle der Bevölkerung gegenüber. Eine solche Tragödie würde unser Land doch nur zusammenschweißen, oder?« Bronx winkte ab. »Es geht nicht um den Präsidenten. Wir agieren im höchsten Interesse der Nation.« 90
Leslie schlug ab. Bronx folgte dem Geschoss mit halb geschlossenen Lidern, bis es an der 180er Marke aufschlug. »Wir haben es hier mit einer zentralen psychologischen Frage zu tun, die wir lange und gründlich analysiert haben.« Sie streifte einen ihrer Golfhandschuhe ab, schwenkte ihn ironisch. »Was Sie nicht sagen, Mister!« »Wenn der Präsident merkt, dass Sie nicht seine Frau sind, lässt er Sie mit Sicherheit fallen wie eine heiße Kartoffel. Ist ja auch scheißegal. Jedenfalls würde sein Agieren Sie kompromittieren. Ihr Auftrag wäre gefährdet. Sie wissen, was Sie erwartet, sollten Sie versagen.« Leslie starrte ihn aus geweiteten Augen an. Gelassen hielt ihr Bronx ein Mobiltelefon mit rotem Gehäuse hin. »Was soll ich damit?« Sie steckte die Schläger in den Golfsack. Bronx hatte ihr die Lust am Spiel endgültig genommen – mehr als genug. Zum Kotzen war’s! »Wenden Sie ab sofort nur noch dieses sichere Handy an. Die Gespräche werden automatisch verschlüsselt.« Sie riss ihm das Gerät aus der Hand, marschierte ab. Er wedelte zwischen Daumen und Zeigefinger mit einem Farbfoto im Postkartenformat. »Hallo, Madam, hier wäre noch was.« Leslies Lider verengten sich zu dünnen Schlitzen. Sie erfasste die hundsgemeine Botschaft auf einen Blick. Da standen ihre Söhne vor einem sonnenbestrahlten, mit Blumen geschmückten Landhaus. Es war das schöne alte Chalet von Paul Mercier. Paul stand lächelnd zwischen den beiden Jungen. Auf dem Foto war direkt über Craigs Kopf mit rotem Tintenstift ein grässliches Fadenkreuz gemalt. Eine lebende Zielscheibe, für sie als Mutter schier unfassbar. »Ist … ist er … Was soll das? Sind Sie verrückt geworden?« 91
Bronx schüttelte den Kopf. »Offenbar will jemand einer arroganten Frau Mutter eine Warnung übermitteln.« Leslie war aschfahl geworden. »Warum Craig? Was hat er mit der Sache zu tun? Ich muss ihn anrufen.« Bronx schaute sich vorsichtig um, flüsterte: »Wenn Sie nicht haargenau alles tun, was ich von Ihnen verlange, Leslie, machen wir die Bürschchen fertig. Beide.« Phantasierte sie? Der Mann war wahnsinnig. Sie träumte das alles doch nur! Aber Bronx stand leibhaftig vor ihr. Über seiner teuflischen Fratze fehlten nur noch die Hörner. »Mensch, Sie lügen bloß! So was können Sie doch nicht sagen. Haben Sie wirklich töten gesagt? Töten?« Er nickte. Ein ganz lockeres Nicken. Leslies Augen funkelten plötzlich gefährlich. »Sie Vieh! Ich gehe zur Polizei, zu Ihrem Direktor persönlich, ja, ich bringe Sie in den Knast … Ich arbeite für die Regierung, ich kenne Leute, der Präsident im Weißen Haus wird davon erfahren. Da können Sie Gift drauf nehmen, Sie … Sie erbärmlicher Hund!« Bronx schaute sie an, bis sie seinem Blick begegnete, standhielt. »Machen Sie doch, was Sie wollen«, sagte er kalt. »Ihnen glaubt doch keiner. Haben Sie denn Beweise? Und wenn Sie zur Polizei gehen oder sonst wohin, dann schlagen wir erst recht zu!« Noch einmal hielt er ihr das Bild mit dem bedrohlichen Fadenkreuz dicht vor die Augen. Später, als sie die Anlage verließ, musste Leslie um eine Filmcrew herum laufen, die vor den Eingängen zu den Piers eine Szene drehte. Sie glaubte, John Travolta zu erkennen. Wie der diese Sache wohl anpacken würde? Sie wollte jetzt so rasch wie möglich nach Hause, musste dringend die Schweiz anrufen. Warum hat sich Alex noch nicht
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gemeldet? Und Vater! Ja, Dad würde ihr helfen, das Richtige zu tun. Es ging nicht anders. Sie musste ihm alles sagen. Hatte der Travolta nicht auch schon Mal den Präsidenten gespielt? Der Gedanke beruhigte sie irgendwie, als wenn sie sich in guter Gesellschaft befände. Sie eilte durch den mit alten Vorkriegshäusern verbauten Chelsea District zur 34th Street Subway Station, um von dort mit der N-Linie zurückzufahren. Die paar Schritte taten ihr gut. Eine Gruppe Motorräder brummelte in sittsamem Tempo an ihr vorbei. Die ganze Straßenbreite in Anspruch nehmend, lagen die Männer locker lässig in ihren farbenfroh lackierten Maschinen. PLEASURE CRUISE RIDERS, verkündete die Schrift auf den Rücken ihrer Lederjacken. Leslie wünschte sich nichts sehnlicher, als ebenso unbeschwert durch die Gegend kreuzen zu können, irgendwohin, wo es keine ekelhaften Typen wie Rick Bronx gab, oder auch, dass alles, was ihr passierte, nur im Film mit ihr in der Hauptrolle geschah … und mit dem guten alten John Travolta als romantischen Helden. Was hieß hier Travolta! Sie brauchte Ben!
15 Als Leslie ziemlich niedergeschlagen nach Hause kam und hastig die Treppe hoch zum Eingang stieg, war ihr Kopf voll mit dem, was ihr Bronx alles eingetrichtert hatte. Die schweren Gedanken fuhren mit ihr im Fahrstuhl hoch. Seufzend legte sie eine Hand auf den Türknauf, klaubte mit der andern die Schlüssel aus der Seitentasche ihres Blazers. Der Schlüssel brauchte zu ihrem Erstaunen nur gerade eine Vierteldrehung in Uhrzeigerrichtung, um die gesicherte Tür zu öffnen. Gesichert? Hatte sie vielleicht vergessen, richtig abzuschließen? Fragend trat sie in den Vorraum ihrer Wohnung. Wie ein Tier, das Gefahr wittert, spürte sie augenblicklich, dass sie nicht allein 93
war. Sollte sie rennen? Auf den Absätzen kehrtmachen und raus? Zaghaft tat sie ein paar Schritte. »Ist da jemand?« Ach, sie hatte sich natürlich getäuscht. Panik. Verfolgungswahn. Sie warf die Tasche in die Einbuchtung der Garderobe, freute sich auf das helle, warme Licht des Wohnzimmers. Sie standen mitten auf dem Parkett. Zwei Männer mit leicht gespreizten Beinen. Leslie schlug das Herz hoch im Hals. Einer war größer als der andere, ein Fleischkloß mit einem dicken, dunklen, verschwitzten Gesicht. Den Kopf hielt er schief, als stemme er ihn gegen einen starken Wind. Er hatte ein Grinsen aufgesetzt. »Hallo, Ms. Palmer. Ich bin Leon und mein Partner hier ist Chenny. Wir dachten, wir kämen schnell mal vorbei.« »Sich kennen lernen«, grunzte der Kleinere und sah sich die Wohnung an, als wolle er Maß für eine Totalrevision nehmen – die olivenfarbene Tapete, das beige Sofa, den Corbusier-Sessel. Er hatte ein sehr blasses Gesicht, einen dünnen geraden Lippenbart, schmale Augen. Kinn und Kiefer wirkten hart. Leslie starrte den Dicken an. »Wer sind Sie? Wie sind Sie hier hereingekommen?« Sie fragte sich ernsthaft, ob die Kerle am Ende Sex wollten. Unverschämt, wie die ihre schöne Wohnung mit ihrer Anwesenheit beschmutzten. Die Polizei anrufen? Es war der Kleine mit dem schrägen Blick, der sprach. »Wir führen nichts Böses im Schild, ehrlich!« Zum Beweis hob er beschwichtigend die Hände in einer Geste der Friedfertigkeit, die zu seinem kantig schiefen Gesicht passte wie die Faust aufs Auge. »Wir sind Mitarbeiter von Mister Bronx«, erklärte Leon. Wunderbar! Bronx hatte also seine Typen für das Grobe! Leslie gab sich ungerührt. »Wenn Sie nicht augenblicklich die 94
Wohnung verlassen, gibt’s Ärger«, drohte sie, tat ein paar Schritte in Richtung Schlafzimmertür. Sie hatte sich rasend schnell einen Plan zurechtgelegt, der funktionieren sollte. Sie musste nur unter einem Vorwand ins Schlafzimmer gelangen, wo sie ihren Dienstrevolver versteckt hatte. »Sie haben natürlich die Möglichkeit, die Polizei zu rufen«, sagte der Fleischige. »Würden wir eigentlich verstehen, oder, Chenny? Wir sind ja ziemlich ungebeten hier eingedrungen.« Der Kleine setzte sich mit fiesem Grinsen auf den Rand des Glastischs. »Aber wenn Sie die Polizei rufen, wird Mister Bronx sehr böse werden, und das wollen wir doch vermeiden; denn wenn er wütend ist, kann das schlimm enden. Ganz schlimm.« Leslie traute ihren Augen nicht. Unverschämt war nur der Vorname von deren Eindringen. Und der Zwerg setzt sich mir nichts, dir nichts auf meinen Esstisch! Plötzlich drehte sie sich um, rannte ins Schlafzimmer. Das Überraschungsmanöver gelang. Sie knallte die Türe zu, atmete tief durch, hastete zu ihrem großen breiten Bett. Sie hatte die Waffe zum Schutz so unter die Matratze gelegt, dass sie den Griff im Notfall leicht fassen konnte, selbst falls sie im Schlaf überrascht werden sollte. Von wegen Schlaf! Am helllichten Tage kamen solche Gangster heutzutage. Unglaublich! Denen werde ich die Eier schleifen. Sie hob die Matratze an, griff darunter – die Hand tastete ins Leere. Da war nur kalter Stoff. Wohin hatte sie denn die verdammte Knarre verlegt? Sie fasste noch mal nach, hob die Matratze höher, guckte darunter. Nichts! Langsam ging die Tür auf. Leslie richtete sich auf. Der Kleine stand im Zimmer – in ihrem Schlafzimmer! Er hob eine Hand. Der Zeigefinger steckte keck im Abzugbügel ihres Revolvers. Mit höhnischem Gesichtsausdruck ließ er die Waffe hin und her baumeln. Dazu dieses fiese Lächeln, als er fragte: »Suchen Sie
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etwas Bestimmtes, Ms. Palmer?« Dabei machte er eine barsche Handbewegung in Richtung Salon. Dort saß der fette Leon auf der Couch, die Beine angewinkelt, aber weit gespreizt. An seinem aufgedunsenen Wanst fiel die Jacke herunter wie ein Stück Karton. Sollte sie einfach davon laufen? Die Wohnung verlassen, Hilfe holen? Das ging kaum. Des Kleinen schorfige Hand spielte weiterhin mit dem Revolver. »Geladen und entsichert«, bemerkte er mit einem abschätzigen Verziehen der Mundwinkel, ganz als sei er Leslies Gedanken auf die Spur gekommen. Mit einem Ausdruck tiefster Enttäuschung auf dem Gesicht sagte der Dicke: »Also wissen Sie, wir wollen Ihnen ja bloß behilflich sein. Da haben Sie doch nichts dagegen, was? Ich meine, es geht doch einfach darum, dass Sie keine Fehler machen oder so was.« Leslies Stimme war scharf wie ein Skalpell: »Hat Bronx Sie geschickt? Was wollen Sie genau?« »Also, sehen Sie, Ihre Söhne könnten leiden, wenn Sie unüberlegt handeln, das wollten wir Ihnen nur klarmachen.« »Was heißt denn das, was wissen Sie von meinen Söhnen?« Sie sank in den Sessel am Glastisch. »Wir wissen Bescheid. Wir sind ganz einfach um ihre Sicherheit besorgt.« Um Fassung ringend, konterte sie: »Was können Sie schon tun, meine Boys sind in Europa.« »Verstehen Sie uns richtig. Wir wollen Ihnen nur helfen, keine Fehler oder so was zu machen. Alle Anweisungen von Mister Bronx genau zu befolgen.« »Und mit keinem Menschen darüber zu reden«, setzte Chenny nach, gelangweilt die Revolvermündung beäugend. Immer noch auf dem Tischrand, beugte er sich vor. Sein Gesicht kam näher
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an Leslie heran. »Hör gut zu, Mädchen. Wenn du uns im Stich lässt, sind Craig und Alex ganz plötzlich sautot, verstanden?« Bei diesen Worten schlug sich der Fettwanst die flache Hand an die Stirn. »Oh, äh – beinahe hätt ich es vergessen.« Er zog ein mitten gefaltetes Blatt Papier aus der Seitentasche seiner Jacke, hielt es Leslie hin. »Dieses Digitalfoto ist vor ein paar Stunden aufgenommen worden. In Gestaad.« Gestaad, Gstaad meint der. Unglaublich! »Zeigen Sie her!«, herrschte sie ihn an. Besser, sie hätte nicht hingeschaut – ein schreckliches Bild. Craig lag in einer Blutlache, sein Gesicht schmerzhaft verzerrt. Leslies Mund fühlte sich trocken an, die Lippen verengten sich. Ihr wurde schwindlig. Ein Dutzend dumpfe Herzschläge später hatte sie sich genügend gefasst, den Kopf zu heben. Sie rang nach Worten, doch der Kleine kam ihr zuvor. »Ja, Girlie, dein Craig lebt noch. Betonung auf noch. Hat ein paar Zähne weniger und – äh – ein paar gebrochene Finger mehr. Das da ist nur ein kleiner Denkzettel, Baby. Betone kleiner.« »Ja, das ist es«, bestätigte der Fettkloß, »ein kleiner Denkzettel, weiter nichts. Wenn Sie alles genau befolgen, was immer Mr. Bronx von Ihnen verlangt, geschieht Ihren Boys nichts weiter.« »Und … äh … wenn nicht?«, stammelte sie, obschon sie nur zu genau wusste, was kommen würde. »Dann bringen wir den hier um, was. Und sollten Sie dann immer noch nicht spuren, kommt dieser hier an die Reihe.« Er produzierte noch ein Farbfoto. Diesmal erkannte Leslie das Bild auf Anhieb. Sie zog reflexiv den Kopf ein. Unverkennbar ihr Alex, der da in Wollmütze und großer Schneebrille auf einem Snowboard 97
hoch durch die Luft wirbelte. Das Bild ihres Jungen verschwamm vor ihren Augen. »Alex!«, brachte sie hervor. »Ihr seid … Schweine … miserable Schweinehunde seid ihr. Schergen von Bronx – Folterknechte! Pfui Teufel!« Sie spuckte dem Fetten mitten ins Gesicht. Der wischte die Spucke mit dem Handrücken weg, schüttelte nur den Kopf, wie man das macht, wenn jemand, dem man helfen will, entschlossen scheint, ins Verderben zu rennen. »Ach wo, na ja!«, meinte er seelenruhig. »Wir sind Partner oder so was, Sie und wir. Bronx hatte uns übrigens bei Ihnen angemeldet. Wie das höfliche Leute zu tun pflegen. Schauen Sie doch mal Ihre E-Mail nach.« »Ja, wir haben den Computer im Arbeitszimmer bereits gestartet«, meinte der Kleine mit vor Ironie triefender Stimme. »Wie gesagt, Mädchen, wir tun wirklich unser Bestes, dir behilflich zu sein.« Leslie wankte mehr als sie ging an ihre Arbeitsecke. Ihre Gedanken begannen wild zu kreisen. Alles war noch an seinem Platz. Nur der Bildschirm leuchtete – das E-Mail-Konto stand tatsächlich offen, eine neue Nachricht war angezeigt. LEON UND CHENNY, MEINE PARTNER, WERDEN SIE BESUCHEN. SEIEN SIE LIEB ZU IHNEN. BRONX. Der Fettklumpen nickte dem Kleinen zu. »Also seien Sie vorsichtig, Ms. Palmer. Alles wird gut gehen.« Schob Chenny, der mit den Achseln zuckte und Okay, okay schon mummelte, vor sich zur Tür hinaus. Leslie brüllte wie ein waidwundes Tier. »Ja, ja – Haut ab, ihr … ihr … Höllenhunde!« Tobend, mit von Hass verdunkeltem Blick, schleuderte sie den Briefbeschwerer aus dickem Messing. Der krachte gegen die Tür, gerade als diese hinter den beiden ins Schloss fiel.
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16 Nassim lag bequem zurückgelehnt im Prunkstück aller Motorradfahrer, einer alten Harley, auf der, so wurde gemunkelt, schon Elvis geritten sei – gemütlich die Houston Street hinunter brummelnd, um dann in die breite Avenue of The Americas einzuschwenken. Als die Ampeln auf Grün wechselten, gab Nassim Gas, brauste an einem Bus vorbei über die Kreuzung. Vor ihm lag wie eine Rennbahn die lange sechsspurige Straße. Es war wenig Verkehr. Die Maschine dröhnte. In den Seitenspiegeln glänzten die Türme des World Trade Centers. Lockiges Haar von Sandy auf dem Rücksitz flatterte ins Blickfeld – darüber ein schwarzer, satt anliegender Helm, wie ihn englische Soldaten in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs getragen hatten. Nach gut einer halben Meile kamen die anderen Maschinen näher. In lockerer Formation nahmen sie die ganze Straßenbreite in Beschlag. Spiegelblanke Integralhelme verdeckten die Gesichter der in majestätischer Haltung heranbrausenden Kerle. Sandy winkte locker. Lärm erfüllte die sechste Avenue. Jetzt schalteten die Lichter auf Gelb. Nassim hob die Hand. Die Motoren klangen ab, die Räder rollten aus, schwenkten an den Randstein. Immer wenn Nassim seinen Helm mit dem roten Supermanschweif abnahm, staunte Sandy über seine üppige Haarpracht, konnte sich an seinen leuchtenden, schwarzen Augen nicht sattsehen. Der Blick, der sie dann traf, war eine Mischung aus Abgefeimtheit und verliebter Sorge um sie – ein Raubein mit Charme. Die andern Pleasure Cruise Riders bockten ihre wuchtigen, chromverzierten, bunt bemalten Maschinen auf und scharten 99
sich um Nassim. Es war der Augenblick des Sich-gegenseitigauf-die-Schulter-Klopfens. »Wann verkaufst du endlich diesen Schrott?«, grinste der Hagere. Nassims Harley galt unter Kennern als Prunkstück mit vielen Jahresringen. Die über hunderttausend Meilen hatten der Mechanik und dem Motor allerdings zugesetzt: Nassim dachte tatsächlich ans Absetzen. »Die ist in supergutem Zustand, Maat«, wehrte er sich. »Sie hat noch Würde, Junge, nicht wie deine Zucchini Suzuki. Auf Ebay hat mir einer zwölf Riesen geboten, ohne Witz.« Sie setzten sich an die metallenen Tische des Straßencafés und bestellten. Nur einer fehlte, sonst waren die vom engsten Kreis der Pleasure Cruise Riders dem Ruf ihres Anführers vollzählig gefolgt. Nassim hob erneut die Hand, warf die geschnürten langen Haare über eine Schulter. »Die Rallye ist am elften September. Wir sammeln uns wie abgemacht in der Fulton Street. Wie immer.« Long Bill blies eine Säule Zigarrenqualm in die Gegend. »Und wann kriegst du die Neue?« »In vier Wochen hofft man. Gerade rechtzeitig zur Rallye.« Ein Schwarm Motorradfahrer mit schwarzen Brillen dröhnte heran, die modifizierten Helme im Stil der Deutschen Wehrmacht anno 43, darunter blasse Gesichter über abgegriffenen Lederjacken. Wie auf Kommando hoben sie die Fäuste gegen die Pleasure Cruise Riders, vollzogen unter hupendem Protest eines Taxifahrers Schwenker über die ganze Avenue, brummten dann feixend vorbei. »Die Rommels«, meinte Long Bill geringschätzig. Denen und andern gingen die Pleasure-Cruise-Leute aus dem Weg. Sie achteten auf Stil. Die meisten hatten gute Jobs oder 100
waren ihr eigener Herr und Meister. Long Bill, stämmig wie ein Footballspieler, war Geschäftsführer einer Fleischverpackungsanlage im Meat District. Ronnie, der untersetzte schnauzbärtige Glatzkopf mit Einstein-Brille, brillierte als Telematik-Spezialist, der die Gruppe mit allen Schikanen auf neuestem Stand hielt und über alle Finessen der illegalen Abhörung Bescheid wusste. Der Älteste der Gruppe war Nassim, er wirkte auch reifer, um nicht zu sagen verschlagener, als die andern. Meistens unrasiert, rauchte er rosa Zigarillos und konnte ausgesprochen niederträchtig sein. Zweifellos war er der Interessanteste der Gang, oft für Frauen, die in dem herausragenden Chirurgen einen Traummann zu erkennen meinten. Vermutlich auch weil er ein steifes Bein hatte, sexistische Sprüche zum Besten gab und ständig Tabletten gegen die Schmerzen schluckte. Frauen fühlten mit dem Instinkt von Krankenschwestern die wunde Seele dieses Nassim, wollten dem geschiedenen Einzelgänger Balsam drauf streichen oder streicheln, je nach Bedarf. Und wenn er dann noch ein fein gestimmtes Saxophonsolo hinlegte, war er wie Opium für alle Liebessanitäterinnen. Als Oberarzt im Bellevue Emergency Room des Medical Centers flickte er souverän Unfallopfer von Schießereien und Schlägereien zusammen, während das pathetisch feierliche Gehabe des hageren Jüngsten der Gruppe auf einen Sonntagsfernsehprediger schließen ließe. Doch Martin Luther, so behauptete der angeblich Deutschstämmige wirklich zu heißen, führte erfolgreich eine Allerweltsklempnerwerkstatt, wo neben WC-Schüsseln auch ein alter Ferrari aufgebockt stand. Der Vierte der Gruppe, wie konnte es anders sein, war Rechtsanwalt, wovon es in New York so viele gab, dass kein Mensch mehr die Brauen hob. Doch Chuck Browne stand als junger Unterstaatsanwalt eindeutig auf der Seite des Gesetzes – oder was er dafür hielt. Alle verband sie etwas Außergewöhnliches: die Hautfarbe. Sie war nicht pechschwarz wie Senegalesen, von denen sie 101
scheinbar abstammten, auch nicht hellbraun wie Mischlinge aus Puerto Rico, sondern ein bisschen dunkler getönt, ungefähr wie die Farbe des berühmten braunen Tütenpapiers in den Läden von Manhattan. Jetzt kamen die Rommels zurück, kreisten schnittig wie Haie vor dem Café, ruckten dann ihre Ungetüme über den Randstein aufs Trottoir, offensichtlich Streit suchend. Einer schwenkte eine Budweiser-Flasche wie eine Handgranate in der Faust. »Hey, ihr feinen Stadtpinkel, ein Rennen? Habt wohl jetzt schon die Hosen voll, was?«, grölte der Vorderste auf einer schwarzen BMW. Hinter ihm stieg einer mit breitem Brustkasten von der Maschine, trat rüpelhaft nah an Nassim heran. Dieser schob einen rosa Zigarillo zwischen die Lippen, gab sich gemütlich Feuer. Der Rommel polterte weiter: »Was hast du gesagt, Hinkebein? Du magst uns wohl nicht, was?« »Nicht hier, Rommelboy«, antwortete Nassim, ihm den Rauch ins Gesicht hoch schickend. »Wir messen uns im Bogey Dump. Genau der richtige Ort für euch abgewrackte Proleten.« Der Bogey Dump, eine verlassene Schutthalde in der Nähe einer Air Force Base auf Long Island, galt als Tummelfeld für Motocross-Fahrer. Der Wehrmachtsbehelmte verengte seine Augen zu Schlitzen. Offensichtlich überlegte er, ob er zuschlagen sollte, doch der kalte Blick aus Nassims hartem Gesicht hielt ihn zurück. »Ha, habt ihr die große Klappe gehört?«, giftete er. »Die Salonbiker wollen ein Rennen! Also okay, ihr Schnecken, Bogey Dump!« Um Long Bill entstand plötzlich ein Handgemenge. Fäuste flogen. Long Bill hatte einen im Schwitzkasten, wuchtete ihn im Kreise umher, dass die schlingernden Beine die andern abhielten. 102
Die Situation war gefährlich. Messer konnten fliegen. Nassim überlegte noch den nächsten Schritt, als die Blaulichter schon herangerast kamen. Die Rommels traten zurück an ihre Maschinen und spielten Lamm. Die stiefelbewehrten Männer von der New Yorker Highway-Motorradstreife koppelten die Rommel Bikes zusammen, nahmen sich dann Zeit. Sie prüften gründlich die Papiere der Maschinen, die Führerscheine, den Versicherungsnachweis. Sie riefen die Zentrale zum Abchecken der Daten an. Einer in schlampigem Zivil leuchtete die Rahmennummern ab. Die Rommels standen lammfromm da, flüsternd, ihre kahl rasierten Schädel weiße Tupfer gegen das Dunkel der Monturen. Eine halbe Stunde später, während die Pleasure Cruise Riders ihre Klubbesprechung ungestört und scheinbar desinteressiert fortsetzten, rauschten die gedemütigten Angeber recht kleinlaut wieder ab. »Am elften reite ich meine neue Honda«, trumpfte Nassim auf. Er stand auf, klopfte imaginären Staub vom Jackenleder. »Vergesst den Treffpunkt nicht. Die Rommels meiden die Plaza, wir werden Ruhe haben.« Sandy putzte mit einem roten Lappen liebevoll an dem galvanisierten Zylinder herum, als Martin Luther zu ihr trat, ihr salopp den Bauch tätschelte. »Schaffst du es noch zum Elften?« »Hände weg, Untier«, lachte sie. »Erstens stelle ich meine Honda jetzt in die Ecke, und zweitens soll mein Baby erst Ende November zur Welt kommen.« Sie strich sich zärtlich über den Bauch. Sandy war für das Catering der Pleasure Cruise Riders verantwortlich, was ihr als Serviceangestellte im Windows on the World Restaurant hoch oben im South Tower keine Mühe bereitete. Die Sonne eines herrlichen Altweibersommers strahlte vom Himmel. Hoch über den glänzenden Zwillingstürmen zog ein 103
Linienflugzeug einen schmalen Kondensstreifen durch das wolkenlose Blau. Nassim kreiselte lässig mit dem schwarz behandschuhten, leicht erhobenen Zeigefinger. Die Pleasure Cruise Riders schwangen sich in die Sitze, ließen ein, zwei Mal aufheulen und rauschten ab – frei wie Amerika.
17 In Leslies Arbeitszimmer hatte Ben die E-Mail von Bronx in sein Programm gelegt und befand sich ein paar Minuten später im Server des Absenders. Er kratzte sich am Hinterkopf. »Komisch, Les, die Nachrichten, die dein Typ erhält … Da soll einer draus schlau werden.« Die Synxx-Spionagesoftware projizierte ein Meer von Daten auf den Bildschirm. »Zeig her!« Leslie rutschte mit ihrem Stuhl näher und schaute auf die von Zahlenwirrwarr durchbrochenen Texte. »Die Wirtschaftsfakultät … Die Fakultät für Naturwissenschaften …«, las er vor sich hin. »Da, die Medizinische Fakultät, die Juristische Fakultät … Was ist das? Hat er mit Studenten zu tun?« »Wer schickt ihm diese Mails? Kann dein geniales Programm das nicht feststellen?« Ben runzelte die Stirn. »Doch, doch, kann ich, später vielleicht, sieh mal, das sind doch verschlüsselte Meldungen. Du solltest dich darin eigentlich besser auskennen.« Sie küsste ihn flüchtig auf die Wange. »Ich entschlüssele die Körpersprache, Süßer. Moment!« Sie verharrte plötzlich mit zusammengepressten Lippen. »Was ist? Hast du den Code schon geknackt?«, hänselte Ben. Sie stand kopfschüttelnd auf, begann langsam auf und ab zu schreiten. Da war doch noch was! Ja, Bronx’ rechter Arm, rief 104
sich Leslie die Gebärden in Erinnerung. Wie versteift, auf Abwehr bedacht, hält er ihn wie ein Boxer vor dem Oberkörper. Im Stehen, im Gehen … die Hand zur Faust geballt. Er will etwas beweisen. Der Besserwisser? Nein. Der Rechthaberische. Vielleicht? Der Zerstörer, ja, der … Sie trommelte mit den Fäusten an die Schläfen, setzte sich wieder. »Fällt mir einfach nicht ein.« »Les, dieser Typ ist doch CIA, oder? Also. Die Fakultäten bezeichnen zum Beispiel … ein Land oder eine Stadt oder … eine Firma. Möglich, nicht?« Sie nickte abwartend. »Und hier die sonderbare Nachricht: Einschreibeschluss für alle Fakultäten ist der 11. September 2001. Ist das nicht komisch?« »Immatrikulationsfristen gibt es, Ben«, gab sie zu bedenken. Er wischte die Bemerkung mit der Hand weg. »Wenn ich im Geheimdienst wäre, mir würden die Alarmglocken Sturm läuten. Der 11. September ist nach meiner unmaßgeblichen Dilettantenmeinung die verschlüsselte Auslösung einer Aktion. Zum Beispiel diese so genannten ›Fakultäten‹ in die Luft sprengen oder als Fakultäten getarnte Banken ausrauben.« »Die CIA-Dunkelmänner sind alles, nur nicht Bankräuber«, blieb Leslie skeptisch. »Ist auch nicht der Punkt. Für was stehen diese Fakultäten? Das ist die analytische Gretchenfrage. Du bist doch Spionageabwehr, nicht?« Sie verneinte mit beiden Händen. Ben beugte sich wieder über den Bildschirm. Eine Weile war nur das Tastenklappern zu hören. »Hör zu, da studiert ein gewisser Mohammed Wirtschaft, der Ahmed Medizin … Hassan … da, ein Zungenbrecher … sind alles Araber. Terroristen, wenn du mich fragst.« 105
»Jetzt siehst du aber Gespenster, Ben. Bronx ist für den Middle East Desk tätig. Seine Informanten sind eben Araber aus dem Nahen Osten und nicht Mayas aus Guatemala.« Sie unterdrückte ostentativ ein leichtes Gähnen. »Sie schicken ihm diesen Schrott in verschleierter Sprache, das ist eine gute Methode. Übrigens, der elfte September ist nächsten Dienstag.« Ben nahm unbekümmert einen Schluck Champagner. »Ich sag dir eins …« »Schieß los!« »Champagner ist gut für den Teint.« Sie warf ihm gespielt entrüstet ein Taschenbuch an den Kopf, das Ben geschickt auffing und zurückwarf. »Bumerang!«, rief er ausgelassen. Leslie blickte ihn düster an, als sei sie tief beleidigt. Ben setzte sorglos zu einer Entschuldigung an. »Warte – ich hab’s«, rief sie. »Er ist der Abgewiesene, der heimzahlt, der Abgewiesene wird zum Zerstörer! Das ist es!« Erregt sprang sie auf, ballte die Fäuste, trommelte in die Luft. »Er schlägt zurück!« »Wer? Bist du okay?« »Egal, vergiss es. Seine Gebärden … ich sehe es einfach. Mein Fachgebiet ist schließlich Bewegungspsychologie.« Das wilde Schattenboxen hatte sie in einen tranceähnlichen Zustand versetzt, sie sah Bronx vor sich – verkannt, abgewiesen, gedemütigt, nicht ernst genommen. Rachsüchtig zerstört er Symbole der Macht … Vielleicht sogar das Kriegsschiff USS Cole … die Botschaften in Afrika … Ja, ja, das war’s, so musste es sein! »Er steht im Sold der al Qaida, Ben«, beschied sie aufgebracht.
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Und nun was? Jennifer anrufen? Vielleicht hatte sie ihren geheimnisvollen Job noch und kannte die richtigen Leute im CIA in Langley. Leute, die vielleicht mehr über Bronx wussten. Ja, sie würde anrufen. Im Augenblick allerdings hielt Ben sie davon ab. Er hatte sie von hinten umarmt und zur Couch im Wohnzimmer bugsiert. Sie befreite sich, gab ihm einen Schubs, dass er in das Sofa plumpste. Lachend grätschte sie rittlings auf seinen Schoß und küsste ihn leidenschaftlich. Der heiße Augenblick drängte alles in den Hintergrund. Ihre Hand wanderte über seinen Körper an jene Stelle, wo in diesem sinnlichen Moment die einzige harte Wirklichkeit lag. Auf Leslies anderem Bildschirm lächelte die US-Botschafterin von Tadschikistan gezwungen. Bens Finger suchten, fanden, die Sleep-Mode Taste, das Lächeln erstarb. Er umschlang Leslie, trug den geschmeidigen Körper ins Schlafzimmer und ließ sich mit ihr auf das großzügig proportionierte Bett fallen. Da er Ordnung schätzte, amüsierte es ihn zu konstatieren, dass sich eine gewisse Struktur in diese Schäferstündchen geschlichen hatte. Das gab beiden die emotionelle Sicherheit, sich voll und ganz ihrem heißen Liebemachen hinzugeben. So schlummerte Leslie denn auch befriedigt, als Ben sich in der Küche ein Bier aus dem Kühlschrank holte und auf leisen Sohlen zurück ins Arbeitszimmer schlich. Er öffnete die Seite, kopierte die verschlüsselten Nachrichten, komprimierte sie und sandte sie an seine eigene E-Mail-Adresse. So, das hätten wir! Zuhause würde er in aller Ruhe die verschiedenen Absender der suspekten Mails orten und recherchieren. Bevor er die Seite schloss, versicherte er sich, dass er nicht nur alle IP-Daten korrekt übertragen hatte, sondern ihm auch sämtliche Schlüsseldaten, die seine Synxx-Software angeführt hatte, vollständig zur Verfügung standen – inklusive ServerIdentifikationsnummern und Zugangspasswörter. Er schaute auf 107
die Uhr. Halb fünf. Er packte die Kopien in seine Jacke, schlich zurück an die Schlafzimmertür und warf einen letzten Blick auf seine Geliebte. Leslie hatte das linke Bein über das Laken geworfen, beide Brüste entblößt. Selbst im Schlaf noch waren ihre dunkel glänzenden Brustwarzen fest erigiert, die Züge entspannt, geradezu aufgelöst. Ein feines Lächeln umgab ihre Lippen. Er trat zurück, tappte geräuschlos zur Tür und schlich hinaus.
18 Der Umsteigebahnhof unter dem World Trade Center wimmelte von Leuten. Zehntausende Pendler stiegen hier täglich trockenen Fußes von den Überlandlinien in die Subway um. Leslie hastete die Rolltreppen hoch zur großen Shopping Mall und hielt vor einer langen Reihe Telefonzellen an. Sie schmiegte sich in die knappe Öffnung und wählte die Nummer, die sie seit einem guten Jahr nicht mehr angewandt hatte. In Maryland schien das Telefon endlos zu läuten, dann die Stimme. Leslies Mutterherz schlug heftig. »Jennifer? Ich bin’s. Wie geht’s?« Die Antwort ließ ebenfalls auf sich warten. »Mir geht es gut, aber dir vermutlich nicht. Sonst würdest du ja wohl kaum anrufen!« Leslie gab vor, den Tadel überhört zu haben. »Ich bin wohlauf. Gesundheitlich jedenfalls. Aber ich muss dich sprechen. Kannst du her fliegen?« Sie lauschte. Jennifer war von Leslies Ansinnen nicht begeistert. »Es ist wichtig, Jennifer, im Ernst. Glaub mir, jemand ist hinter uns her, will uns fertig machen. Sie haben Craig brutal zusammengeschlagen.« 108
Leslie schluchzte auf. Jennifers Stimme klang plötzlich teilnahmsvoll. »Mama, ich rufe sofort zurück.« Jennifer war bildhübsch, sie hatte diese reine, hellbraun getönte Haut, ein sanftes, schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen, tief liegende stille Augen, seiden glänzendes schwarzes Haar und sinnlich geschwungene Lippen. Kein Wunder – ihr Vater war ein ausnehmend schöner Mann gewesen, und gescheit dazu: Pandar, ein hochbegabter Molekularbiologe. Jennifer war Leslies erstes Kind, ihr bestgehütetes Geheimnis. Ihr Liebhaber war verheiratet gewesen, ein Aufsehen durfte es zu jener Zeit nicht geben, sie wäre sofort von der Hochschule geflogen. Leslie gebar in aller Stille, gab als Vater unbekannt an und sorgte sich um das Baby, bis sie es zur Adoption freigab. Sie hasste sich deswegen, aber ihre Karriere, hatte sie Pandar beschworen, stehe auf dem Spiel – sie war einfach noch nicht bereit gewesen, ein Kind aufzuziehen. Sie seufzte. Auf keiner Behörde war Jennifer als ihre Tochter geführt. Weder Vater Palmer noch Craig und Alex hatten eine Ahnung von der schönen Halbschwester, heute 24-jährig, geboren am 11. September. Nächste Woche hatte sie Geburtstag, und Leslie, die ihr von einem Sonderkonto vierteljährlich einen Scheck schickte, würde für diesen Geburtstag noch etwas mehr draufsetzen.
19 In seinem Apartment angekommen, setzte Ben sich hinter heruntergelassenen Rouleaus an seinen Schreibtisch und druckte die Nachrichten bezüglich der Fakultäten doppelt aus. Danach tippte er zwei kurze Briefe in den Computer, druckte sie auf weißes Papier und steckte sie mit den Geheimbotschaften in 109
zwei Umschläge. Einen adressierte er an die CIA, Langley, Virginia, den anderen ans FBI, Washington, D.C. Noch einmal überlegte er sorgfältig. Die Regierungsstellen würden feststellen können, dass Ben die Mails vom Konto eines gewissen Rick Bronx gehackt hatte, zweifellos der Sache dann nachgehen. Oder sollte er ihnen etwa die Kontakte von Bronx noch auf dem elektronischen Silbertablett servieren? So weit war er noch nicht. Zunächst wollte er die Absender der Geheimbotschaften selbst herauspflücken. Jedenfalls hatte er seine Bürgerpflicht getan, auch wenn sie ihm vorwerfen könnten, dass das Herausfischen von E-Mails aus gesicherten Systemen eine kriminelle Handlung darstellte. Das Drahtlose gluckste – Leslie, gestresst, kurz angebunden. Sie sei unterwegs zu ihrem Vater in Brooklyn. In sanftem Ton versprach Ben, sie später anzurufen. Er nahm eine Trainingsjacke vom Haken und verließ die Wohnung. Der Vorabend begann mild, die ersten Lichter funkelten an den Hochhausfassaden. Leichtfüßig eilte er auf der 67th Street über die Third Avenue in die Lexington Avenue hinein, winkte ein Taxi heran und fuhr hinunter zur 42nd Street. In diesem lebhaften, so verrucht wie geschäftigen Viertel rund um Grand Central Station trat er in ein FedEx Office und gab die beiden Briefe per Express-Kurier auf. Als er an Grand Central vorbei in die Third Avenue hinüberschlenderte und beschloss, zu Fuß nach Hause zurückzugehen, wurde ihm plötzlich klar, dass er Leslie einem Risiko ausgesetzt hatte, indem er ihren Computer für sein Hacken benutzt hatte. Wer ernsthaft Interesse an so was hatte, die Geduld dazu, und natürlich die gleichen Kenntnisse wie ein genialer Synxx-Programmierer namens Ben, konnte die fischende Quelle lokalisieren, im Endeffekt gar Leslies Wohnadresse aus dem Daten-Pool extrahieren. Trotzdem machte Ben sich keine ernsthaften Sorgen. Vielmehr hoffte er, seine Briefe würden die hohen Beamten wachrütteln. 110
Er hatte wirklich kein Problem, sich als gefeierter Held auf der Frontseite der Post unter der fetten Schlagzeile HACKER VERHINDERT TERRORANSCHLAG zu bewundern.
20 Ihr platinfarbener Audi blinkte sie liebvoll an, als Leslie nach dem Gespräch mit Jennifer in der unterirdischen Garage des Marinenachrichtendienstes im WTC-7-Gebäude auf die Zündschlüsselfernbedienung drückte. Wenigstens einer, der verlässlich war! Sie kurvte vorsichtig hinauf in das schwindende Tageslicht des dämmernden Sommerabends. Tief in Gedanken versunken, merkte sie kaum, wie sie im dichten Verkehr zur Brooklyn Bridge gelangt war. Alles in ihrem Kopf drehte sich um das Gespräch mit Paps über die dramatische Nacht im Spital von Odessa vor über vierzig Jahren. Vater hatte zum Gynäkologen Kirkhoff von einem Mädchen gesprochen. Singular! Das zweite Baby, ihre Zwillingsschwester, hatte er der Frau mit der Totgeburt untergeschoben. Wer war sie gewesen? Nun, in den nächsten Stunden würde Dad die Karten aufdecken und das letzte Geheimnis jener dramatischen Nacht lüften. Sie schmunzelte innerlich – und das Herz stand ihr still. Aufgeschreckt trat sie auf die Bremse. Die Reifen quietschten. Der Wagen schlitterte zum Stillstand. Der Mann sprang entsetzt zur Seite. Das Rotlicht! Sie hatte vor lauter Zerstreutheit die Ampel übersehen. Peinlich. Sie hob fuchtelnd die Hände, grimassierte entschuldigend. Der Kerl starrte sie erst böse an, dann setzte er seinen unterbrochenen Gang grinsend fort. »Nichts passiert«, sagten seine Lippen. Leslie stieß erleichtert die Luft aus.
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Als sie wenig später in die vertraute Cranberry Street einbog, wo Charles Palmer vor Jahren eines der begehrten Häuser im historischen Teil von Brooklyn erstanden hatte, erschrak sie zum zweiten Mal. Vor dem Haus, das vor einigen Jahre als Kulisse für Mondsüchtig mit Cher gedient hatte, wo damals die Wohnwagen, Materiallaster, Scheinwerfer und der gesamte Krempel der Filmcrew alles verbarrikadiert hatten, blinkte eine Armada blauweißer Polizeiwagen. Gelbe Absperrbänder zogen sich um das Haus mit dem breiten Treppenaufgang aus rotbraunem Sandstein. Überall standen uniformierte Polizisten herum, die rotweißen Lichter blinkten gespenstisch von den Streifenwagen. Neben einem Polizeilastwagen war ein Reporterteam dabei, einem hohen Tier in Zivil das Mikrofon hinzuhalten. Leute standen betroffen in Gruppen herum, einige hatten sich an die Absperrbänder vorgedrängt. Leslie hupte wild, zerteilte die bestürzte Menge, bis ihr eine Uniformierte in den Weg trat. Sie sprang aus dem Wagen, stürzte auf die Frau zu, rief aufgebracht: »Ich muss da hinein. Was ist passiert? Lassen Sie mich sofort durch!« Mit kräftiger Armbewegung schubste sie die Polizistin zur Seite, rannte die Stufen hoch. Ein groß gewachsener Ziviler mit wilder Mähne und Motorradjacke hielt unter der Haustür besänftigend eine Hand hoch. »Hallo, bitte! Ich bin Unterstaatsanwalt Chuck Browne, sind Sie …?« Reflexartig klaubte Leslie die Dienstmarke des Marinenachrichtendienstes hervor. »Was ist mit meinem Vater passiert?«, keuchte sie. Browne warf ein geübtes Auge auf das Ding, meinte ruhig: »Kommen Sie, Ms. Palmer.« Er umfing beschützend ihre Schulter, geleitete sie ins Haus.
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Der massige Körper von Charles Palmer lag ausgestreckt unten an der Treppe, die nach oben ins Schlafzimmer führte. Der Unterstaatsanwalt lüftete das weiße Tuch vom Gesicht. Leslie unterdrückte einen Schrei. Das weißbehaarte Haupt lag in einer dunkelroten Blutlache. Dads Augen starrten sie kalt erloschen an. Die Arme waren schräg seitwärts ausgestreckt, als hätte er noch nach Gleichgewicht gerungen. »Paps …«, stieß Leslie schluchzend hervor, beugte sich über ihn, hielt seine Arme umklammert. »Paps, Paps, Paps!« Die Leute von der Spurensicherung tappten geräuschlos herum. »Mein aufrichtiges Beileid«, murmelte Browne betreten. Leslie musste alle ihre Kräfte zusammennehmen, um nicht laut herauszuheulen. Vater tat ihr so leid. Mit dumpfem Blick nahm sie alles in sich auf: die Rückenlage, seine Beine, das karierte Sporthemd, die schwarzen Jeans. Ihr Blick blieb lange auf all diesem unaussprechlich Traurigen haften. Ihr Herz zog sich zusammen. Böse Ahnungen wallten auf. Dann strich sie liebevoll über seine Augen, fragte mit gepresster Stimme, was geschehen sei. Vaters Kopf war unnatürlich verdreht. Sein Gesicht wies einen sonderbar geheimnisvollen Zug auf, als wolle er ihr noch etwas mitteilen. Etwas wie Sei auf der Hut, Mädchen, sie sind hinter dir her! »Schädelbruch«, hörte sie den Unterstaatsanwalt. »Und? Wie ist es passiert? Haben Sie eine Ahnung?« Leslie atmete stoßartig, sie kämpfte gegen Übelkeit. »Sie meinen, ob es ein Unfall war?«, sagte Browne. Sie nickte. Einer, der sich als Gerichtsarzt vorstellte, sagte: »Die Leiche ist noch nicht freigegeben.«
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Leslies Stimme klang plötzlich nüchtern. »Mein Vater wurde umgebracht!« Die Männer starrten sie an. Sie hatte sich gefasst. »Was ist Ihr Befund, Doktor?« »Die Kopfwunde stammt von einem harten Gegenstand. Könnte das Treppengeländer sein.« »Das Geländer ist aus Holz«, widersprach Leslie. »Wir können Gewaltanwendung nicht ausschließen«, meinte Browne vorsichtig. »Hat Ihr Vater Feinde gehabt?« Leslie brauchte nicht lange zu überlegen. Klar, Bronx steckt dahinter. Die CIA hat Dad zum Schweigen gebracht! Ihre Gedanken rasten. Schließlich schüttelte sie verneinend den Kopf. »Sind Sie sicher? Es gibt Einbruchspuren«, sagte Browne. »Können Sie feststellen, ob etwas Kostbares fehlt?« »Ja, kann ich!« Benommen stieg Leslie die Treppe hoch ins Schlafzimmer. In der Schublade, wo ich den Revolver … dort liegt ein roter Umschlag … Die schreckliche Unordnung im Schlafgemach passte nicht zu Vaters disziplinierter Lebensweise. Das Zimmer war ohne Zweifel durchsucht worden. Leslie sah es auf den ersten Blick. Hastig kniete sie nieder und durchwühlte die offenen Schubladen. Ihre Hand fand den Revolver unter alten Wollsocken, berührte metallene Manschettenknöpfe, strich suchend über nacktes Holz … Nichts! Die andern Schubladen, das Arbeitszimmer! Sie musste nachsehen. Die Suche stellte sich rasch als erfolglos heraus. Kein roter Umschlag kam zum Vorschein. Er war weg! Verschwunden! Erschöpft kniete sie neben ihrem Vater nieder, drückte die trockenen Lippen sanft gegen seine schön gewölbte Stirn. Sein Gesicht war das eines friedlich Schlummernden, als träumte er. Kein Anzeichen eines qualvollen Endes. Sie ließ 114
einen Finger zärtlich durch eine silbergraue Locke gleiten, die sich gelöst hatte – fühlte etwas. Ein Glassplitter. Sie schaute näher hin: Kristall. Sie sprang auf, rannte ins Arbeitszimmer, blieb wie angewurzelt vor der Hausbar stehen. »Sie fehlt«, sagte sie tonlos zu Browne, der ihr alarmiert gefolgt war. »Was fehlt?« »Die Kristallkaraffe!«, hauchte Leslie. Stumm deutete sie auf den ledernen Papierkorb unter dem Tisch. Einer der Kriminalisten zog den schweren Kristallkrug behutsam aus dem Versteck heraus, schaute zum geschnitzten Fries an die Decke, als suche er dort eine Erleuchtung, inspizierte dann das Blut und die Haare, die am Kristall klebten. Unverständlich murmelte er etwas von Spuren, die eindeutig seien. Leslie drang förmlich auf den Mann ein. »Dann ist es also Mord! Wissen Sie, wer der Täter ist?« Der Tatortspezialist bewegte nichtssagend die Schultern. Später, als Leslie in ihrem Apartment unter der heißen Dusche stand, traf sie die Erkenntnis mit voller Wucht: Sie selbst hatte Vater umgebracht! Sie allein hatte Schuld an seinem schrecklichen Tod. Entgegen Bronx’ strikter Anweisungen hatte sie Dad gedankenlos eingeweiht und damit sein Schicksal besiegelt. In ihrer Verzweiflung warf sie sich splitternackt aufs Bett, verbarg das Gesicht unter Kissen. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass ihr Handy summte – der Unterstaatsanwalt. »Ms. Palmer? Browne hier. Wollte Sie nur benachrichtigen, dass wir an einer Tasse in der Küche Fingerabdrücke sichergestellt haben. Es dauert noch ein wenig, bis wir ein Täterprofil haben. Aber wir sind ein Riesenschritt weitergekommen.« Sie bedankte sich und speicherte seine Nummer. Der Mann gefiel ihr – einer jener Leute, die man ruhig als einen NoNonsense-Typ einstufen konnte. Ein Frontsoldat im Kampf 115
gegen das Böse. Dann schüttelte sie ein Weinkrampf, von dem sie sich erst viel später leise schluchzend erholte.
21 Leslie spazierte am nächsten Morgen in die Madison Avenue hinüber, am Whitney Museum vorbei und blieb vor dem Carlyle Hotel stehen. Die frische Brise tat ihr gut. Sie hatte noch Zeit bis zum Rendezvous mit Jennifer, zog das Telefon aus der Handtasche und suchte unter der schalldämpfenden Haube einer Telefonzelle Schutz vor dem Straßenlärm. Während sie ihr Büro anrief, beobachtete sie einen Mann, der vor einem Geschäft für werdende Mütter stehen blieb und die Auslage betrachtete. Aus lauter Gewohnheit erfasste sie seine Erscheinung, das kurze schwarze Haar, den dunkelblauen Rollkragenpullover. Im Büro gab es nichts Neues, und Wagner wusste, wie sie zu erreichen war. Etwas an diesem Kerl irritierte sie! MotherCare? Was interessieren ihn Umstandskleider? Seine große Nase schnupperte nicht nach der unten ausgestellten Ware, sondern blieb hoch, als spähe er nach einem Spiegelbild im Schaufensterglas. Egal. Ihr knurrender Magen führte sie zur Cafeteria schräg gegenüber auf der andern Seite der Kreuzung. Wenig später trank sie einen Cappuccino und knabberte an einem Bagel, dabei das Handy nach Meldungen abcheckend. Das Display zeigte einen unbeantworteten Anruf an. Neugierig prüfte sie die Nummer. Es war Browne, der Unterstaatsanwalt, der sie gesucht hatte. Sie drückte die Taste, um zurückzurufen. Nachdem Browne sich höflich nach ihrem Befinden erkundigt hatte, kam er zur Sache. »Dieser Muhammed Jannos, erinnern Sie sich?« Sie schirmte mit einer Hand das Gerät ab. »Vermutlich der Mörder meines Vaters, ja? Was ist mit ihm?« 116
»Nun, Muhammed Jannos sitzt seit fast zehn Jahren in einem Hochsicherheitsknast in New Jersey«, kam die angenehme Stimme Brownes durch das Stimmengewirr des Restaurants. »Dann war er vermutlich auf Hafturlaub, als er meinen Vater umbrachte?« Es blieb still. »Hallo, noch dran?« »Bin ich«, kam Browne sotto voce zurück. »Jannos ist tot – im Knast liquidiert. Ein Tag nach dem Mord an Ihrem Vater. Jannos war seit seiner Verurteilung nie draußen gewesen. Seine Familie existiert nicht. Er war ein Einzelgänger. Jemand hat den Mordfall getürkt, Leslie, und die Spuren an die Henkeltasse gelegt …« Er brach ab. Leslie griff sich an die Stirn, ihre Stimme zitterte. »Sie werden die Hintermänner finden, Browne. Ich helfe Ihnen.« Wenn Sie nicht haargenau alles tun, was ich von Ihnen verlange, Leslie, machen wir die Bürschchen fertig. Beide … Wie ein Dolchstoß stach Bronx’ Warnung in ihr Herz. »Man hat mir den Fall entzogen, Leslie. Tut mir leid. Kann im Augenblick nicht weiterreden. Vielen Dank.« Die Verbindung brach ab. Leslie starrte auf das rote Gehäuse ihres Handys. Sollte sie Bronx anrufen? Hatte nicht das Bestattungsinstitut Vorrang? Irgendwann musste sie sich um das Haus kümmern, Vaters Akten und all die Papiere in seinem Schreibtisch. Manuskripte? Was geschah mit den Möbeln, dem alten, braunen, runden Tisch im Esszimmer, an dem Vater nie aß, sondern an seinen Berichten arbeitete? Es gab noch eine Menge zu tun. Sie seufzte, legte ein paar Scheine auf den Tisch, wollte aufstehen. Da summte das Telefon. Leslie sank das Herz. Bronx! »Es war Mord, Leslie«, klang es ihr kalt ins Ohr. »Die Spuren identifizieren einen verwahrlosten Schwarzen aus Harlem. Raub 117
ist das Motiv.« Als die Leitung stumm blieb, senkte Bronx seine Stimme: »Tut mir schrecklich leid für Sie, wirklich. Mein Beileid!« Seine Heuchelei schnürte ihr die Kehle zu. Nach Luft ringend stieß sie hervor: »Ich glaube Ihnen kein Wort, Bronx. Sie sind ein verdammter Lügner!« »Sie haben gegen meine strikte Weisung verstoßen«, schoss er zurück. »Eine Plaudertasche sind Sie, haben Ihrem Vater den Geheimauftrag verraten. Wir wissen alles, Leslie. Jetzt spielt es allerdings keine Rolle mehr.« Bronx’ heiser drohende Stimme drang wie ein Dolch in ihr Herz. »Wollte Ihnen nur sagen, denken Sie an Ihre Söhne. Wenn Sie den Job gut machen, werden Sie es nicht bereuen. Wir werden es für die Jungen richten. Wie die Mafia für ihre Leute sorgt, werde ich zusehen, dass ihnen nichts fehlen wird. Von der Mafia können wir alle was lernen, besonders wenn’s um Vergeltung geht, oder?« Bronx’ Stimme schien jetzt von weit her an ihr Ohr zu dröhnen. »Wenn Sie den Job verbocken, Leslie, dann ist mir scheißegal, was den beiden Rüpeln geschieht, ob tot oder lebendig, scheißegal.« Dann gebrauchte Rick Bronx sein Lieblingswort zum dritten Mal: »Scheißegal sage ich … dann kann ich Alex und Craig nicht mehr beschützen. Denken Sie an ihren Daddy.« Die Leitung war tot. Übelkeit kroch in ihr hoch. Sie stand auf, wankte aus dem Coffeeshop. Wenn Bronx ein knallhartes Ultimatum stellen wollte, war ihm das voll und ganz gelungen, würgte sie innerlich hervor, als sie ein Taxi heran winkte und mit aschfahlem Gesicht einstieg. »York und zweiundsiebzigste.« Geradeaus starrend betastete sie ihre heißen Wangen.
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22 »Ich will den Kerl zur Strecke bringen«, versicherte Leslie grimmig ihrer Tochter. »Ich werde das Schwein entlarven. Wer und was er auch immer ist. Doppelagent im Sold der al Qaida? Ein Freelancer außer Kontrolle? Ein gemeiner Verbrecher, der sein Amt missbraucht?« »Du spinnst doch, Mama. Er ist CIA. Da kannst du nichts ausrichten.« Sie standen am Ende der 72nd Street auf der Plattform über dem FDR Drive und schauten auf den East River hinaus. Ein Lastkahn pflügte mit seinem breiten Bug die Strömung des grün schimmernden Flusses. Ein Ausflugsboot kam stromabwärts entgegen und ließ sein dumpfes Horn erschallen. »Er hat Dad ermordet. Craig und Alex sind die nächsten. Er muss gestoppt werden. Ja, stimmt, ich will ihn erledigen, das ist mein Ziel. Nichts bringt mich davon ab.« »Ich habe mich schlau gemacht«, entgegnete Jennifer ruhig. »Rick Bronx genießt Achtung und Vertrauen.« Leslie fuchtelte aufgeregt mit beiden Händen, aber Jennifer blieb hart. »Mama, lass die Hände von Bronx. Die CIA ist eine Nummer zu groß für dich. Die drohen immer, in dem Geschäft ist das Routine. Aber nasse Jobs sind längst vorbei.« »Nasse Jobs?« »Tötungen. So was verlangt Genehmigung von hoch oben. Das geht nicht mehr heute. Höchstens im Krieg, aber wir sind nicht im Krieg.« »Jenny, also bitte, der Schweinehund führt noch viel Schlimmeres im Schild, ich weiß das. Ich lese sein Gehabe wie ein offenes Buch – ein sehr böses Buch.« 119
Jennifer lehnte sich an das Geländer. »Was er von dir verlangt, dass du nicht darüber reden sollst, ist völlig normal in der Branche, das weißt du doch selber. Seine Mission ist von höchstem Ort abgesegnet, darauf kannst du dich verlassen.« »Ich will zurückschlagen können«, trotzte Leslie. »So bin ich nun mal aufgewachsen. Dad hat mir immer gesagt, ›Schlag zurück, bevor’s zu spät ist‹.« Erregt begann sie auf und ab zu marschieren. Jennifer blickte ernst auf die Mutter. »Also gut, ich habe ein paar Informationen für dich, aber ich riskiere Kopf und Kragen dabei. Ist das alles wirklich so wichtig, wie du glaubst?« Leslie machte eine kleine hilflose Gebärde. »Ich habe Angst, Jenny. Der Kerl hat Dad ermordet. Er erpresst mich mit Alex und Craig. Du musst wissen, wenn etwas schiefgeht, bin ich erledigt. Diese Leute verstehen absolut keinen Spaß. Diese Person, diese Amira al Raisi, sie ist mein einziger Anhaltspunkt. Und ich spüre, dass ich auf dem richtigen Weg bin.« »Schau, Mama, Bronx hat eine unangefochtene Stellung in der CIA. Er hat mit dem Nahen Osten zu tun. Es scheint, dass er dort seine Informanten hat. Er ist, was wir Adler nennen, das sind Agenten, die gewisse Freiheiten haben. Also, seine Mutter ist Araberin. Sie lebt in der Hauptstadt von Tadschikistan. Duschanbe?« Leslie wich einem auf sie zukurvenden Rollbrettfahrer aus. »Ich weiß, wo das liegt«, schnappte sie. »Bronx’ Mutter hat CIA-Status als freie Mitarbeiterin«, fuhr Jennifer unbeirrt fort. »Keine große Sache. Sie ist dem Stationsleiter unterstellt. Sie macht kleine Verrichtungen. Bronx schickt ihr jeden Monat einen Scheck.« »Ist das alles?« »Das ist verdammt viel, Leslie. Jetzt kennst du seine Bruchstelle.« 120
»Die von Bronx?« Ein Hubschrauber knatterte plötzlich über die Dachkante des angrenzenden Hochhauses. »Natürlich«, rief Jennifer mehrmals nickend in den Lärm hinein. »Du meinst …?« »Spiel mir bloß nicht die Naive, bitte«, sagte Jennifer ärgerlich, der wegkurvenden Maschine mit den Augen folgend. »Ich mache das nur, weil du praktisch eine von uns bist. Marinenachrichtendienst. Es geht um Informationsaustausch, wenn jemand fragt.« Sie lösten sich vom Geländer und spazierten gemächlich zur York Avenue zurück. »Klar, ich weiß nichts anderes«, versprach Leslie. »Hast du die Adresse der Mutter?« Resigniert seufzend rollte Jennifer die Augen gen Himmel. »Hallo! Sind wir etwa schlecht organisiert? Natürlich hab ich die – hier. Und du verrätst mich nicht? Darauf kann ich mich verlassen?« »Hallo!«, hieb die Mutter lächelnd zurück. »Und wie bist du daran gekommen?« »Mein Boss, Ken Cooper, kennt ein paar Leute in der Spionageabwehr. Seine Sicherheitsfreigabe ist hoch, mindestens Stufe drei. Das gibt ihm Zugang zu gewissen Daten.« Leslie griff nach Jennifers Arm. »Du glaubst wirklich, Bronx ist okay?« Jennifer schüttelte den Kopf. »Nein. Er war lange in Afghanistan, spricht arabisch, kennt den Koran, seine Mutter ist Muslim.« Sie trat auf die Straße, hob einen Arm. Das Taxi schwenkte ein. »Bronx sitzt fest im Sattel, aber trauen? Nein, wirklich nicht. Ich traue keinem von denen.« 121
Leslie neigte den Kopf. »Wann sehen wir uns wieder, Jenny?« »Weiß nicht«, wiegelte die Tochter ab, stieg ein. »Vielleicht um Weihnachten. Kommen Alex und Craig nach Hause?« Sie zog die Tür zu, wandte sich an den Fahrer. Das Taxi wendete, Jennifer winkte kurz, mit ernstem Gesicht, durch die Scheibe. Leslie schaute ihr nach, ließ die winkende Linke fallen, schritt dann energisch weit aus auf dem kurzen Weg nach Hause …
23 … Sie verlangsamte ihre Schritte. Mit einem Gefühl der Leere schlenderte sie an Modegeschäften vorbei, änderte nach ein paar Häuserblocks ohne besonderen Anlass unvermittelt die Richtung. Sie sann auf Rache, dachte an Tadschikistan, merkte kaum, wie sie zur 82nd Street gelangt war. Unschlüssig blieb sie vor dem großen Bücherladen an der Lexington Avenue stehen. Sollte sie mit der Subway zurückfahren? Da sah sie plötzlich durch das Schaufenster den jungen Mann vor einem Büchertisch schmökern. Ben? Welch wunderbare Überraschung! Hocherfreut betrat sie den hellen Laden, schlängelte sich durch Bücherberge hindurch zu ihrem Lover. »Ben?« Ein fremdes Gesicht wandte sich ihr fragend zu. Enttäuscht suchte sie nach der ruhigen Ecke mit den bequemen Sesseln. Auf einem Tischchen lagen Hochglanzhefte, wovon eins Leslies Interesse weckte. Sie setzte sich, blätterte gelangweilt durch das luxuriös gestaltete Magazin, hob ab und zu den Blick in der trügerischen Hoffnung, Ben könnte doch noch auftauchen. Und da war es! Das breite zerklüftete, braune Tal mit den silbrig glänzenden Flussarmen: Tadschikistan. Sie las die Untertexte der atemberaubenden Bilder, tauchte tief in jene 122
ferne, exotische Welt. Wie ein trockener Schwamm sog sie die Namen auf: Duschanbe, Pamir, das östliche Hochland, dort, wo der verehrte Imam aller Imame, der Aga Khan herrschte. Die Helikopter, die Piloten … es war faszinierend. Leslie schaute verstohlen um sich, riss unter lautem Husten die Seiten heraus. Niemand nahm Notiz. Dann eilte sie beschwingt mit ihrem Fund nach Hause. Der Plan nahm Gestalt an. Ben? Sie wollte Ben. Kaum in der Wohnung, ließ sie Tasche und Jacke achtlos fallen, streifte die Schuhe auf dem Weg zum Telefon ab. »Ben?« Seine Tonbandstimme vibrierte durch ihren Leib. Sie hinterließ eine Nachricht und überlegte. Konnte Ben ihr helfen? Der Klavierspieler, Computerfreak, Softwarespezialist, Skifahrer, Angler, Pizzabote … was noch alles? Liebhaber – nein, Frauentraum! Aber die Geographie blieb hängen. Sie rief noch mal an und gab etwas Vernünftiges aufs Band. »Ben, ich brauche Infos über Tadschikistan, Pamir … Ich meine, was es dort alles gibt, was da los ist. Wie kommt man da hin?« Diese letztere Frage schien ihr ziemlich blöd. Sie setzte sich an den Computer, öffnete den Trip Advisor mit einem Klick. Nichts. Destination unbekannt. Augenblick – da … … Es gab eine Tadschikistan Airline. Kein Flug ab New York, nur ab München und Almati. München, Abflug 17.40, Ankunft am nächsten Morgen um 05.50 Ortszeit. Ein langer Flug, mit Zwischenlandung in Istanbul. Es war kurz vor Mitternacht, als sie endlich ihre Recherchen beendete – erst den Computer, dann sich selber auf Sleep stellte.
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24 Am nächsten Tag hetzte sie vom Bestattungsinstitut zurück nach Brooklyn. In Vaters gespenstisch stillem Haus suchte sie in allen Räumen noch einmal gründlich nach dem roten Dossier. Ohne Erfolg. Dann aß sie lustlos vom mitgebrachten Sushi und wählte noch rasch die Schweizer Nummer. Sie musste Craig und Alex über Großvaters Begräbnis Bescheid geben. Da keiner abnahm, schrieb sie eine SMS: BESTATTUNG DIENSTAG 16 UHR, BROOKLYN, GREENWOOD. Dann schloss sie alles ab. Das Taxi wartete vor dem Haus. Ohne entnervenden Stau gelangte sie zügig zum flaggengeschmückten Eingang des UNGebäudes, schaffte es gerade noch rechtzeitig. Keuchend erreichte sie das Sitzungszimmer im 21. Stock. »Alles steht bereit«, raunte der gute Shelley und drückte ihr diskret den Laser Pointer in die Hand. Sich räuspernd, trat Leslie aufs Podium. »Hi, Leute, jetzt wird es ernst«, rief sie munter in die Runde. »Hoffentlich haben Sie nicht zu viel Sushi gegessen wie ich, denn ich brauche Ihre volle Aufmerksamkeit. Kaffee steht dort hinten bereit, falls jemand Aufputschung braucht.« Das erste Bild projizierte Hosenstöße und Lackschuhe. Die rund zwanzig Spezialisten des Verhandlungsteams grinsten. Leslie blieb ernst. »Gut, dass ihr Spaß habt, Leute, aber die Haltung von Füßen und Beinen gibt uns tatsächlich oft unterschätzte Anhaltspunkte.« Unweit des UN-Gebäudes, in der imposanten hohen Halle der ehrwürdigen Grand Central Station, lehnte Rick Bronx zwischen zwei Auskunftsschaltern gegen die Wand des alten, achteckigen Billettkiosks, grimmig zur Uhr mit den vier in Messing gefassten Ziffernblättern hinauf schauend. Sein Handy am Ohr, trat er von einem Fuß auf den andern, die Mundwinkel scharf 124
nach unten gekrümmt. Leslies Handy war auf Voicemail gestellt. Bronx drückte ungehalten die End-Taste und tippte eine Textnachricht ein. »Wir analysieren nicht nur die Worte«, dozierte unterdessen Leslie Palmer vor erfahrenen Diplomaten und Unterhändlern, »sondern ziehen auch die Gestik, die gesamte Körpersprache in Betracht, um auf den Charakter oder ein Handlungsmuster zu schließen. Der Libidostau – um ein oft verkanntes und verdrängtes Beispiel zu nennen – der Libidostau also kann in Sadismus und Hass als Reaktion auf verwehrte Liebe konvertieren. Die Triebverdrängung führt dann zum typischen Pressen von Muskeln – im Nacken, Mund oder Becken. So drückt der Körper aus, dass er sich zurückhält. Wir erkennen dann zurückgezogene Schultern, steif gestreckte Beine …« Ihr Handy summte. »… wenn Sie also einem hoch gehaltenen Brustkorb begegnen, der den Atem zurückhält, steif mit hohlem Kreuz geht, ist hohe Alarmbereitschaft angezeigt. Oft signalisiert ein dermaßen verklemmter Körper unberechenbare Aktionen und Reaktionen.« Bronx hatte Treffpunkt und Zeit eingetippt und die Nachricht abgeschickt. Auf Sichtdistanz lungerten seine zwei Partner am Zeitungskiosk herum. Chenny kaufte sich Brezeln; Leon tat, als schaue er sich die neuesten Taschenbücher an. Um sie herum strömten die Leute, ein stetes Kommen und Gehen, in dem nur einem geübten Auge die auffällig unauffällige Verhaltensweise dieser beiden Typen aufgefallen wäre. Bronx hatte Zeit. Die Maschine mit den Palmer-Jungen würde erst in ein paar Stunden landen. Bis dahin wollte er nach seinem Plan die Zeit nutzen, die letzten Vorbereitungen zu treffen. Im UN-Gebäude lief der Vortrag über die körperbetonte Analyse des Verhandlungspartners weiter. Die knapp zwei
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Dutzend Zuhörer beiderlei Geschlechts schienen von Leslies Ausführungen in Bann geschlagen – die Zeit flog dahin. »Wer in seiner Kindheit und dann später immer wieder vom Gefühl der Minderwertigkeit geplagt wird, sei es aufgrund von Hautfarbe, Herkunft, Religion, sei es aus anderen Gründen, der entwickelt einen selbstzerstörerischen Hass gegen alles und alle …«, erläuterte sie, »… oder weil er nicht ernst genommen wird. Diese destruktive, gefährliche Haltung voller Abneigung und Misstrauen äußert sich in der Versteifung des Körpers, am deutlichsten am Mund. Denken Sie an die Lippen …«, theatralisch zog sie mit den Fingern ihre Mundwinkel übertrieben stark nach unten, »… so eine Zwanzig-nach-achtFresse«, kommentierte sie zu allgemeinem Gelächter, »signalisiert meistens eine unheilvolle Verhärtung, die Sie auch an anderen Stellen des Körpers beobachten können, wenn Sie geschult sind, auf so etwas zu achten. Der Volksmund spricht etwa vom verkniffenen Arsch …« Wieder schallendes Gelächter. »Absolut zutreffend. Leider sind Persönlichkeiten mit diesen Syndromen auch bei uns in höchsten Stellungen postiert, es kann die CIA sein …« – sie musterte die Zuhörer sekundenlang nach einer sichtbaren Reaktion – »… ein Firmenboss, auch ein weiblicher natürlich, oder Leute in hohen Regierungspositionen.« Sie klickte auf die nächste Folie, ließ die verschiedenen projizierten Köpfe einige Sekunden einwirken, bevor sie fragte: »Was sehen Sie hier?« »Köpfe von Staatsmännern«, rief einer. »Gesichter, die Bände sprechen«, meinte eine junge Diplomatin, die sich als Melanie vorstellte. »Gut, sehr gut.« Leslie wandte sich der Bildfläche zu. »Sagen Sie mir bitte einfach ob ›verspannt‹ oder ›locker‹. Bereit?« Die Zuhörer nickten enthusiastisch Zustimmung. »Also, hier!« Sie zeigte mit dem Laserpointer auf Hitler. 126
»Verspannt. Verkniffener Arsch«, schallte es ihr entgegen. »Der da? Kennen Sie den?« »Ja, Schmidt, Exkanzler der Bundesrepublik Deutschland«, rief die Diplomatin. »Seine markanten Mundfalten deuten auf Verspannung, eine Zwanzig-nach-acht-Uhr …« »Schon gut«, lachte Leslie und deutete auf das Konterfei eines breit grinsenden Präsident Reagan. Ah- und Oh-Rufe ertönten. »Glatt rasiert und locker«, kommentierte einer. »Total entspannt, abgeklärter Star«, ein anderer. Leslie nickte lobend. »Und der hier, wer ist dieser hagere, ausgemergelte General?« Ein Moment lang herrschte Sprachlosigkeit. »Total frustriert«, meinte der Delegationsleiter, »dem traue ich nicht über den Weg.« »Diktator Franco«, klärte Leslie sie auf, bewegte den Pointer dann auf ein Gesicht unter einem auf Durst gekippten Cowboyhut. »Und hier?« Spontanes Lachen. »Er hat beides, unser Präsident«, wagte sich die Diplomatin vor. »Einen spitzbübischen Approach, und doch wieder etwas Verkrampftes, als spähe er nach Widersachern.« In das Gelächter hinein sagte Leslie: »Gute Analyse, Melanie.« Dann zeigte sich noch ein Bild des jüngeren Chruschtschow. »Ziemlich souverän, selbstbewusst«, meinte die bebrillte Frau neben dem Delegationsleiter. »Okay, nicht schlecht. Und hier? Sehen Sie einen Unterschied zwischen Putin und de Gaulle?«
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Die Zuhörer schauten lange auf die projizierten Fotos der beiden Köpfe, bis einer sich meldete. »Beide haben ein Vergangenheitsproblem.« »Warum?«, ermunterte Leslie. »Ich weiß nicht«, erklärte der Gefragte, ein junger Praktikant. »De Gaulles Gesicht scheint rückwärts zu schauen, und die maskenhaften Züge des Russen verbergen irgendeine Altlast, vielleicht Foltern oder Giftmord, was weiß ich …« Trotz der allgemeinen Heiterkeit blieb Leslie ernst. »Sie haben ein gutes Auge … eh …?« »Ron«, strahlte der dermaßen Gelobte. »Und ich finde Ihren Vortrag echt faszinierend.« Ms. Palmers Publikum klatschte lebhaft Beifall. »Danke, Ron, danke Ihnen allen, bleiben Sie dran. Hier, zum Schluss verteile ich noch eine kleine Schrift über Körpersprache, die es Ihnen ermöglichen soll, besser gegen Ihre Gegner am Verhandlungstisch gewappnet zu sein. Also, das wär’s dann, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und für Ihre kostbare Zeit.« Wieder brandete Applaus auf. Die Zuhörer standen gut gelaunt auf, einige drängten nach vorn. Leslie nahm Komplimente entgegen, auch von Shelley, der den visuellen Ablauf koordiniert hatte. Zwei Zuhörerinnen belagerten sie mit Fragen nach geschlechtsspezifischer Körpersprache, auch der Pressesprecher der Delegation stand, ausgerechnet mit hängenden Mundfalten, wartend an. Leslie merkte, wie sie ungeduldig wurde. Heute war der Zehnte. Sie wollte einen feierlichen Rahmen für die Bestattung des Vaters arrangieren, auch für Craig und Alex ihr Arbeitszimmer herrichten. Glücklicherweise hatte Dad im Brooklyn Greenwood Cemetery in weiser Voraussicht eine Nische im Columbaria-Urnengarten reserviert. Leslie hatte sich 128
schon telefonisch mit dem Bestattungsberater über den Ablauf der Beerdigungszeremonie verständigt. Und ihr Boss schließlich hatte sie zum Lunch im Village eingeladen. Wagner wollte ihre Auszeit besprechen, doch sie zweifelte ernsthaft, dass sie alles auf die Reihe kriegen würde. »Ja, Sie haben völlig Recht«, räumte sie der Bebrillten im zu engen Ensemble hastig ein, »Reich zufolge ist der Orgasmus ein autonomer Prozess, der sich nach dem Abströmen der Erregung auf die Genitalien löst und uns Frauen völlig entspannt, was auf Männer ebenfalls zutrifft … Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden …« Leslie warf einen panischen Blick auf die fortgeschrittene Stunde und begann sich lächelnd und nickend in Richtung Ausgang abzusetzen. Bevor sie im Erdgeschoss aus dem enormen, chromglänzenden Fahrstuhl trat, hatte sie auf ihrem Handy die Textnachrichten gecheckt und zu ihrer Enttäuschung gelesen, dass ihre Boys ihr Angebot ignorieren wollten. WIR WOHNEN IN MARKS LOFT IM GREENWICH VILLAGE, lautete die ernüchternde Mitteilung, die Leslie beschäftigte, bis sie in der Third Avenue den 101er Bus bestieg. Sie überschlug im Geist ihren Terminkalender. Es war der 10. September. Morgen hatte sie die Verabredung mit Spike – halb neun im South Tower. Und Bronx, ihr verdammter Quälgeist, hatte sie für neun Uhr in die Lobby des South Towers beordert. Was der wohl diesmal im Schild führte! Wohl oder übel musste sie ihn treffen. Sie hatte keine Wahl. Wie bin ich eigentlich in diesen Teufelsstrudel rein geraten? Falsche Frage!, korrigierte sie sich. Wie komm ich aus diesem Teufelsstrudel raus?
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25 Rick Bronx hatte ohne großen Aufwand in Erfahrung gebracht, dass die Einäscherung von Charles Palmer für den späten Nachtmittag des 11. Septembers arrangiert war. Die SwissairMaschine SR 100 von Zürich mit den beiden Enkeln des Verstorbenen an Bord sollte nach der automatischen Telefonauskunft der Fluggesellschaft heute pünktlich um vier Uhr auf JFK landen. Morgen ist der 11. September, danach wird alles anders sein, freute sich Bronx, als er beschwingt zum Zeitungsstand schritt, eine Times kaufte und seinen beiden Partnern mit Kopfnicken das verabredete Zeichen gab. »Nun, meine Damen und Herren, es gibt viele Wege, die zum Ziel führen«, erklärte Ken Cooper um diese Zeit im CIAHauptquartier in Langley. »Quellen im Innern, Doppelagenten, Abhören, Dokumente fischen, Überflüge, dann die Computerauswertung der gesammelten Daten. Wir wissen nicht, wo sich die Führung versteckt. Hätten wir einen Agenten hoch oben in der AQ, wäre uns die Information zugekommen und wir hätten die Terrorbosse längst mit intelligenten Bomben karbonisiert.« Im kleinen Vortragssaal hatte sich eine Gruppe von Auswertungsspezialisten versammelt, um den Erläuterungen des verdienten CIA-Mannes zu folgen, der vom Direktor mit Sonderaufgaben betreut worden war. »Nun werden Sie einwenden, dass wir eine präzise Information über den Aufenthalt des Terrorbosses im Hindukusch bekommen haben und weiter fragen, warum wir ihn mit unseren panzerbrechenden Superbomben nie erwischt haben? Weshalb fanden unsere Spezialkräfte zwar die Bunker, aber keinen der gesuchten Anführer?« 130
Ken schaute erwartungsvoll in die Runde. Als Leiter der Abteilung Innovation im neu konzipierten Direktorium Science & Technology (DS&T) genoss er weniger Ansehen als die so genannten harten Kerle der Geheimen Nachrichtenbeschaffung, wie Rick Bronx, ein Frontmann, dessen Büro zufällig direkt über dem Vortragssaal lag. »Sie werden als Nächstes den Schluss ziehen, dass die Zielperson über unsere Aktionen Bescheid wusste. Ist es nicht auffällig, werden sie mutmaßen. Wir verfügen über Zielkoordinaten, die stimmen. Die Geschosse treffen, durchschlagen den Beton, zerstören und verbrennen alles im Innern – doch der Gesuchte ist entkommen, schwört eine Woche später auf dem arabischen Sender höhnisch Rache. Sie, meine Damen und Herren, sind frustriert, und Sie haben Recht. Ich bin es auch.« Ken Cooper knipste den Projektor aus. Das Panoramafoto des Tora-Bora-Gebirges im Nordosten Afghanistans verlöschte. »Wenn es so einfach wäre!«, murmelte Cooper. Aufgeweckt fragte Jennifer, die ihn bei allen Versuchen mit den unbemannten Aufklärungsflugzeugen unterstützte: »Danke schön, Sir, aber was machen wir jetzt?« »Wir bleiben wie der Schuster bei unseren Leisten. Wir liefern die Schneidkantentechnologie für die Zielaufklärung. Das ist meine Kernkompetenz. Vielleicht sind wir das nächste Mal schneller als der Informant.« Al Qaida hatte nach Ken Coopers fester Überzeugung einen Spion in Amerika, und zwar nahe an den Leuten von der Einsatzplanung – im Pentagon oder im Zentralkommando der Streitkräfte oder gar im CIA-Hauptquartier. Jedenfalls musste dieser Maulwurf einer sein, der Afghanistan kannte. Die nächste halbe Stunde lang erklärte Ken Cooper die Gründe, die zur Ausdehnung des Einsatzgebiets der 131
unbemannten Aufklärungsflüge über Washington, D.C. geführt hatten. »Kriminelle Vorbereitungshandlungen finden erfahrungsgemäß in der Nähe des Tatorts statt«, führte er aus. »Ich denke zum Beispiel an das Bereitstellen von Fahrzeugen und so weiter. Deshalb hat der erweiterte Abschnitt große Bedeutung für die gezielte Fahndung. Aus diesem Grund habe ich die Reichweite der UAV vergrößert. Wir haben die ersten Bilder bereits ausgewertet und werden in Testanalysen ihre Genauigkeit überprüfen.« Als die Gruppe das Briefingzimmer verlassen hatte, setzte Jennifer ihre ansprechende rechte Rundung halbwegs auf die Tischkante, piekte mit spitzem Bleistift in Richtung Ken, um ihren Punkt zu betonen. »Warum reden Sie nicht mit Rick Bronx oder dem Direktor höchstpersönlich?« Cooper schaute sie ein paar Herzschläge lang an. »Erstens, meine Gute, ist Spionageabwehr nicht mein Business. Die Bosse mögen es nicht, wenn man ihnen dreinredet. Zweitens – immer angenommen, ich will meinen Job unbedingt verlieren, indem ich mich als Saubermacher aufspiele – bräuchte ich Beweise. Handfestes Zeug. Wo Informationen fehlen, wachsen Gerüchte, und diese treffen dich dann früher oder später wie ein Bumerang.« »Aber Sie sind überzeugt, dass ein faules Ei im Nest liegt? Dass irgendwo ein Maulwurf wühlt?« Er nicke, jungenhaft lächelnd – was sich als Auftakt, sie zum Abendessen einzuladen, herausstellte. Was Bronx in der Nachrichtendivision nicht wissen konnte, war die Tatsache, dass Cooper den Überwachungsradius der UAV erst vor ein paar Wochen ausgeweitet hatte.
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Ken schaute noch vor dem Rendezvous mit der hübschen Jennifer in Gedanken versunken auf das Orbiter-Modell, das auf seinem Pult stand. Irgendetwas irritierte ihn daran. Es gelang ihm nicht zu definieren, was es war, was ihn wiederum so lange störte, bis er in einer seiner intuitiven Anwandlungen das elektronische Adressenverzeichnis durchwühlte und den gesuchten Namen fand. Erwartungsvoll schmunzelnd drückte er auf die Taste. Es läutete in einem Apartment in New York City. »Bitte hinterlassen Sie Ihre Nummer«, sagte die akzentuierte Stimme. Ken tat wie empfohlen, legte auf und nahm die Zeitung zur Hand, die er aufbewahrt hatte. Die Washington Post berichtete auf der dritten Seite vom ungeklärten Todesfall eines Angestellten des Zoll- und Grenzschutzes in Maryland. Cooper las die rot angestrichene Meldung noch einmal. Den Little-Bennet-Regionalpark kannte er – ein Freund aus der Abteilung Geheime Nachrichtenbeschaffung hatte ihn letzten Frühling zum Fischen dorthin überredet, eine Freizeitbeschäftigung, für die Ken ungefähr so viel Geduld wie null Begeisterung aufbrachte. Er ging trotzdem mit, weil er eine günstige Gelegenheit sah, auf den Parkwegen sein neues Titanium Bike auszuprobieren. Die Fahrt vierzig Meilen nördlich von Langley ins Grüne auf der andern Seite des Potomac schien ihm gerade noch in vernünftiger Reichweite für einen Plauschausflug zu liegen. Apropos Reichweite! Wie hieß der Tote? In der Zeitung stand wie üblich kein Name, da die Ermittlungen noch liefen. Eigentlich war Ken dieser Todesfall egal. Fast täglich verreckte hier ein Mensch von Mörderhand. Nach der Kriminalstatistik des FBI und der Cosmopolitan Police hatte sich der Distrikt Washington mit 262 Morden den zweifelhaften Ruf der »Mörderhauptstadt« Amerikas – knapp vor Detroit und Baltimore – erworben. 133
Aber der Fall liegt nun mal in Reichweite meiner Drohnen, sinnierte Ken, besser abklären, ob die Auswertung der Luftaufnahmen einen Fingerzeig gibt. Der Summton seines Handys unterbrach diese Gedanken – Avi Leumi, der zurückrief.
26 Leumi war der hagere, schnelle, dunkelhaarige Israeli, der im Jahr 2000 mit einer Armeeuniform getarnt den Militärpolizeieinsatz gegen ein still gelegtes Hospital nördlich von Aden geleitet hatte. Damals wie jetzt verdiente er sein Brot als verdeckter Spezialagent des Mossad. Der israelische Geheimdienst hatte Wind davon bekommen, dass im Jemen ein Anschlag auf die Synagoge vorbereitet wurde. Im Jargon der al Qaida stand die Bezeichnung Synagoge gemeinhin für Israel, wie auch ein getöteter Amerikaner die Vereinigten Staaten repräsentierte. Das Hospital hatte ihm keine verdächtigen Anhaltspunkte geliefert, keine sonderbaren Telefonverbindungen oder elektronischer Datenverkehr fielen auf. Doch Leumis Spürnase witterte Gefahr. Etwas stimmte nicht an dem angeblich an eine Investorengruppe vermieteten alten Spital. Als er mit den Militärpolizisten eindrang, kam es zu einem kurzen Feuergefecht – da tauchte aus der Mitte der Araber überraschend dieser amerikanische Agent auf – scheinbar damit beschäftigt, Männer für einen Einsatz zu rekrutieren. Avi Leumi kam die Sache reichlich spanisch vor, er fotografierte, fokussierte sein Interesse auf den später als Rick Bronx identifizierten Anführer der Gruppe. Die GPS-Koordinaten hatte er dem LEO (Low Earth Orbiter) genannten Spionagesatelliten vermittelt. Einen Monat später verfügte der Mossad nicht nur über scharfe Schwarz134
weißbilder von Bronx, sondern auch über Wärmeabtastungen, die auf Besprechungen in Räumen unter der Erdoberfläche hinwiesen – so genannte chthonische Aktivitäten. Avi hatte die unfreiwillige Begegnung mit Bronx im Jemen indessen zunächst in der Aktenablage verstaut. Bronx war CIA, und der Mossad überwacht ebenso wenig heimliche CIA-Operationen, wie Langley auf die Idee käme, den Mossad zu beschatten. Man kannte und respektierte einander und war jederzeit für den andern zur Stelle, wenn es brannte. Auch nach dem Anschlag auf die USS Cole im Oktober 2000 hatte Leumi keine Veranlassung gehabt, einen Gedanken auf Rick Bronx zu verwenden. Der von Routine geprägte Verstand des Israelis ließ einen kleinen Splitter im Gehirn hängen, der ihn ab und zu an den Jemen erinnerte, aber erst als er vor genau sechs Wochen nach Washington gekommen war, um als technischer Berater für die neuen Orbiter zu fungieren, flackerte der Name Rick Bronx wieder in seinem Hirn auf. Zwangsläufig kam Leumi mit Ken Cooper in Kontakt, der eine Counter Terrorism Unit (CTU) leitete. Cooper hatte die Antiterroreinheit zunächst gegen den Widerstand der CIABürokraten als Versuchsstruktur aufgebaut, später mit modernsten Mitteln ausrüsten können: Supercomputer, Drohnen, Internet Codes, State-of-the-art-Gerät auf jedem Gebiet. »Das ist das Raffinierte am neuen Orbiter«, erklärte Avi jetzt begeistert. »Du kannst bei der Auswertung den Kameras eine GPS-Position eingeben, und die suchen dann das Gebiet im Umkreis ab. Lass uns mal sehen. Hast du zufällig ein Planquadrat? Wäre hilfreich.« »Hat der Frosch Ohren?«, parierte Ken grinsend und legte den Raster auf das Kartenfeld des Bennet-Regional-Parks. »Versuch mal mit P 9!« »Okay – Papa Neun«, wiederholte Avi. Eine Weile blieb die Leitung still, dann: »Negativ, kein Feedback.« 135
»Moment, Avi, bleib dran!« Ken überprüfte die elektronische Landkarte. Die genaue Lage des Tatorts mit der Leiche von Howard Young vom CBP ging aus den Polizeiakten nicht hervor. Doch Ken erinnerte sich, dass eine Beerensammlerin zu Protokoll gegeben hatte, den grausigen Leichenfund nur gemacht zu haben, weil ein Fuchs aus einem Schuppen flüchtete, als sie in die Nähe kam. Schuppen? Er vergrößerte den Ausschnitt mit dem Zoom. Tatsächlich gelang es ihm, einen verschwommenen Punkt zu lokalisieren. »Versuch es mit R 10, Avi«, rief Ken, »siehst du eine Hütte?« »Romeo Ten«, quittierte Leumi, und kurz darauf schallte die muntere Stimme aus dem Lautsprecher: »Eine Hütte, zwei Wagen, Moment. Ich zoome mal.« »Was hast du gefunden?« »Also, wir haben neben deiner Hütte eine dunkelfarbige Limousine mit den Kennzeichen …« »Du kannst die Nummer ablesen?«, fuhr Ken begeistert dazwischen. »Wer das glaubt, wird selig.« »Ruhig, Junge, es dauert ein paar Sekunden. Schau, der Wagen fährt weg und hier, da siehst du ihn im Licht. Gestochen scharf!« »Kannst du den Fahrer heranziehen?« »Nein, der Winkel ist zu spitz. Aber du siehst, der Orbiter ist nicht zu übertreffen. Seine Reichweite und Kameraschärfe sind einmalig, ich hoffe, dein Draht zu den Beschaffungsinstanzen in der CIA …« Ken unterbrach ihn scharf. »Die Nummer, Avi! Kannst du mir die Autonummer durchgeben?« »Kein Problem. Schon gemacht. Wem gehört die Karre?« Ken schaute auf den Bildschirm, wo die Nachricht mit der Nummer am unteren Rand aufleuchtete – ein Regierungscode, 136
IA-G, ein Wagen aus dem Firmenpool! Er gab die Zahlen in den CIA-Autoindex ein. »Not listed …«, las er. »Kein Eintrag.« »Und was bedeutet das, spezifisch?« »Die meisten Wagen unserer Agenten sind auch intern nicht gelistet.« »Aber jemand hat die Liste, oder?« »Ich denke schon. Avi, hör mal, ich werde deine Hilfe zum Auswerten brauchen, okay? Dein Anwenderprogramm liest sich wie Hebräisch.« Cooper legte grinsend auf, drückte auf die Funkverbindungstaste. »Jennifer, kennst du jemanden im Autopool?« »Du meinst den CIA-Autopark? Nein, aber ab und zu geben sie mir einen Wagen. Wieso?« »Komm rüber, ich erklär’s dir.« Eine Stunde später ging Jennifer in der großen Parkhalle im Untergeschoss des CIA-Geländes auf das kleine Bürohäuschen unweit der Ausfahrt zu. Der Garagenwart, der sich über einen Bildschirm beugte, war ein Mann in den besten Jahren, der seine gepflegte Uniform mit Würde trug. »Howdy«, lächelte Jennifer. »Ich bin Jennifer. Wie geht’s? Ich habe ein Problem.« Sie schaute in seine lebhaften Augen. Sein ebenmäßiges, gefurchtes Gesicht erinnerte sie an einen alternden Schauspieler. Den Blick senkend, las sie das goldgerahmte Namensschild an der stramm uniformierten Brust. Der Mann lächelte neutral. »Na, was kann es denn schon sein? Etwa den Schlüssel verloren?« »Nein, Jack, die Sache ist die, die Leute in Accounting schikanieren mich. Es geht um eine spesenberechtigte Fahrt am … Warten Sie.« 137
Sie klaubte umständlich einen Zettel aus der engen Hosentasche, während Jack sie gut gelaunt beobachtete. »Diese Bürokraten«, seufzte Jennifer, »da, ich hab’s. Die Nummer ist 456 IA-G.« Jack setzte sich an den Computer, tippte auf ein paar Tasten. »Datum, Madam?« Jennifer teilte ihm den Tag mit. Es war der Todestag von Howard Young. Sich an der weißen Wand umsehend, rief sie plötzlich aus: »Wow, ist das Ihr Wagen, Jack?« »Moment, das haben wir gleich. Wie bitte?« Er schaute auf, schmunzelte. »Sie meinen den alten Schlitten da, ja, allerdings, das ist meiner. Aston Martin DB 5, Baujahr 1958.« »Super, Mann, wie James Bond in Goldfinger. Sie sehen Sean Connery sogar ähnlich, Jack!« Er lachte achselzuckend, als habe er das Kompliment schon oft gehört. »Verdiene leider keinen müden Dollar damit. Hier, Ihr Name leuchtet nicht auf. Schauen Sie!« Jennifer lehnte sich vor, wobei ihre blonden Haare seine Wange kitzelten. Er wich nicht zurück. Ihre Intensität war ungespielt. »Da haben wir es. Die Typen von der Buchhaltung verlangen eine Abrechnung von mir mit Kilometerleistung und so weiter, dabei bin gar nicht ich gefahren, sondern dieser billige Agent, wie heißt er schon wieder?« »Bronx von der Nachrichtenabteilung«, las Jack bereitwillig ab. »Er hat den Wagen bestellt und am gleichen Tag zurückgegeben. Wollen Sie einen Ausdruck als Unterlage?« »Gerne, die Erbsenzähler geben sonst keine Ruhe. Da sehen Sie nur, Jack, mit welchem Schwachsinn wir manchmal die Zeit vergeuden müssen. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Wirklich echt effizient. Und Ihren Aston Martin, da sollten wir beide Mal eine kleine Spritztour machen.« 138
Jack schien diese Bemerkung nicht ernst zu nehmen. Höflich lächelnd stand er auf. »War mir ein Vergnügen, Madam.« Als sie bereits aus dem kleinen Office getreten war, machte sie plötzlich kehrt. »Oh … Jack … fast hätte ich was vergessen. Hat Bronx seit diesem letzten Mal noch einen Wagen geholt?« Jack zögerte. Er schien die Legitimität der Fragestellerin nun doch zu erwägen. »Ist das wichtig? Soll ich wirklich nachschauen?« »Ja, sehr wichtig, Jack. Dieser Bronx – das bleibt unter uns, ist mir höchst peinlich – aber er stellt mir nach. Er protzt mit seinen Autos. Dabei gehören die sicher der Firma.« Verständnisvoll nickend setzte Jack sich wieder an den Computer, ließ die Tasten klappern. Schon nach einigen Augenblicken schloss er mit einem energischen Anschlag des rechten kleinen Fingers ab. »Also, Bronx hat seitdem keinen Wagen mehr verlangt – allerdings …« »Ja?« »Wir haben ihm ein Lincoln Town Car im Depot Manhattan reserviert.« »New York? Okay, das erklärt einiges. Vielen Dank, Jack. Und wenn ich irgendwann mal was für Sie tun kann, hier ist meine Office-Nummer.« Der hilfreiche Servicebeamte nahm die kleine, diskret gedruckte Karte mit unverbindlichem Lächeln entgegen – genau wie es sich für einen Mann seines Alters und Rangs gehörte.
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II. TEIL
27 Es war im Sommer 1997. Draußen flirrte die Luft bei über 36 Grad. Der abhörsichere Konferenzraum in der amerikanischen Botschaft in Kenia war vor kurzem noch angenehm gekühlt gewesen, bevor die Klimaanlage plötzlich ausfiel. Rick Bronx fand den Grund für die Panne heraus. Einer musste ja immer nach dem Rechten sehen, und Rick Bronx gehörte zu dieser Sorte harter Burschen, die aufräumen, die Suppe einer verbockten Situation auslöffeln oder bei Bedarf auch für das Grobe zuständig sind. Um Letzteres ging es gerade bei dieser Geheimbesprechung, als die Aircondition mit rauem Scheppern endlich wieder einsetzte, dann in eintöniges Summen verfiel. Er nippte an seinem Becher kaltem Kaffee und lauschte dem monotonen Gesurre, das ihn duselig machte. Seine Gedanken schweiften ab, Jahre zurück in das Rekrutierungsbüro eines Transporters der US Navy im Hafen von Aden. Das gleiche eintönige Summen … … »Sie wollen also zu den Marinefüsilieren – aha«, hatte der dickleibige kalkgesichtige Stabssergeant gesagt, wobei jenes ›aha‹ wie ein brummiges Glucksen tönte. »Yessir!« »Und warum? Sie bewerben sich für die absolute Kampfelite dieser Welt.« Er klopfte eine Faust auf seinen panzergleichen Brustkorb, als gälte es, die Unbesiegbarkeit seiner Truppe zu demonstrieren. 140
Bronx war es todernst. »Meine Lieblingstruppe. Ich verstehe etwas von Waffen, bin gut trainiert und dachte …« Das Gegenüber wischte die Antwort mit einer Handbewegung weg. Die kleinen dunkelbraunen Augen ruhten abschätzend auf Rick Bronx’ ebenmäßiger, dunkler Haut, wanderten zum dichten, pechschwarzen Haar, wie es kein richtiger Amerikaner hatte, streiften über die kleinen Locken hinter den Ohren. »Wirklich, gedacht haben Sie. Hören Sie, spuren sollen Sie, nicht denken. Wir brauchen keine Schlaumeier. Sie sind Araber, Bürschchen.« Zum Beweis hob er mit zwei Fingern Rick Bronx’ Lebenslauf in die Höhe. »Wir nehmen nur harte Kerle, die parieren und durchhalten. Araber sind Weicheier, das weiß jeder!« »Ich bin Amerikaner, Sir. Hier aufgewachsen. Mein Vater ist der Hafenmeister. Ich spreche arabisch, ich dachte … ich meine, die Marine kann doch Leute mit Sprachkenntnissen brauchen, dachte ich.« »Was Sie nicht sagen. Wir reden aber nicht mit denen, kapiert? Die sollen erst mal Englisch lernen. Also, die Marine ist nichts für Sie. Ich bin Jude. Glauben Sie, ich machte Karriere, weil ich Hebräisch kann?« Er gluckste in sich hinein. Rick Bronx’ Unbehagen nahm zu. Seine weichen Lippen verzogen sich. Er stand auf. »Versuchen Sie’s bei der Army. Die nehmen sowieso alles, was bei uns durchfällt.« Später, in der Botschaft in Nairobi, hatte der drahtige kurz geschorene Offizier oben am Tisch die Stimme ostentativ angehoben – das Bild der höhnischen Unteroffiziersfratze verschwamm vor Rick Bronx’ innerem Auge. »Die USS Cole wird im Oktober einige Zeit in Aden anlegen. Sie verfügt über die neueste Generation UAVs, unbemannte Aufklärungsflugzeuge. Rick Bronx?« 141
»Yessir!« Der Aufgerufene richtete sich zögernd aus krummer Haltung auf. »Ich weiß, was UAVs sind, Sir.« »Gut, Sie unterstehen ab sofort dem Stationsleiter in Aden. Sobald Ihr Briefing morgen früh beendet ist, fliegen Sie in den Jemen.« Bronx nickte ohne Begeisterung, und während der Offizier die Einsatzbesprechung fortsetzte, flogen seine Gedanken zurück …
28 … Als Präsident Kennedy in Dallas den Mörderkugeln zum Opfer fiel, war Rick Bronx ein elfjähriger Junge namens Adil. Das Elternhaus war aus rötlichem Vulkangestein gebaut; es überragte die Altstadt von Aden mit den weiten Hafenanlagen. Zum Missfallen seiner sanftmütigen Mutter Amira, die ihn zum Klavierspielen anhielt, machte er im schattigen Palmengarten lieber mit Steinschleudern Jagd auf streunende Katzen. Mutter stammte aus dem Pamirhochland weit im Norden, wo dickköpfige Leute eigenwillige Laute ausstoßen – sie gelangte früh an den Persischen Golf. Dank der British Overseas Airways war sie dann im Südjemen gelandet. Machte sie nämlich als Stewardess in Aden Station, zog es sie abends unwiderstehlich nach Al-Burayqa, auch Little Aden genannt. Dort hingen Scharen von einsamen Engländern und abenteuerlustigen Amerikanern am Tresen der amerikanischen Bar. Männer, die im großen Frachthafen arbeiteten oder mit der Marine zu tun hatten. Abenteurer, die ausgelassen um die paar jungen Frauen in ihren adretten Uniformen buhlten. Aden ist die Wintermetropole des Jemen. Das Klima ist angenehm, der anmutigen Amira gefiel die Stadt, und prompt verliebte sie sich: Der Auserwählte war ein gebräunter Mann mit schmalem Lippenbart, hübsch, ein Teint wie aus Tausendundei142
ne Nacht. Ein Mann mit blitzenden Augen, vollem Haar, schönem Mund. Den Amerikaner verriet er bloß, wenn er fluchte wie ein Taxifahrer aus der Bronx, wo er herstammte, sonst lobte ihn seine Kundschaft als verlässlich und schnell. Als umtriebiger Frachtagent einer britischen Weltfirma verdiente er gut, bevor er später im Schlumberger Konzern mit der Belieferung des gesamten Nahen Ostens mit Ölförderungsausrüstungen zu Wohlstand gelangte. Ob er tatsächlich Bronx hieß, wie in all seinen Papieren inklusive Sozialversicherung stand, oder ob das ein Spitzname war, interessierte hier wirklich niemanden. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Ein Jahr später kam ein Sohn zur Welt. Die Hebamme war aus dem Halbdunkel des Flurs getreten, hatte dem Vater ins Ohr geflüstert. »Amiralla, ich habe einen Sohn«, rief Bronx mit von Vaterstolz geschwellter Brust in die Runde. »Ein Sohn, sein Sohn!«, schallte es in der Runde. Die Männer klopften ihm auf die Schulter, ein paar seiner Vertrauten entluden, wie es bei solchen Gelegenheiten Brauch war, ihre Schießeisen in die Luft. Adil, ein arabischer Name, von der Mutter gewählt, fand der Vater feminin, aber sie erklärte ihm die Bedeutung, der Gerechte, da stimmte er zu. Bronx sorgte dafür, dass Adil die amerikanische Staatsbürgerschaft behielt, die englische Schule besuchte und einen Baseball schlagen lernte, während die Mutter ihm in vielen Stunden Sprache und die Lehren des Heiligen Koran eintrichterte. Adil tollte mit den Jungen aus der Stadt herum, die ihn allein schon wegen seines beigefarbenen Teints und den hellblauen Augen in ihre verschworene Brüderschaft aufnahmen. Als 1968 der Vietnamkrieg heiß lief, faszinierten Adil die Berichte über die Kämpfe der Amerikaner gegen den Vietcong, 143
er bewunderte die jungen, lässigen GIs auf den M 113Schützenpanzern, bestaunte die Fotos der bauchigen Helikopter mit der offenen Luke, aus der die Besatzung mit schwerem Maschinengewehr auf den durch die Reisfelder infiltrierenden Vietcong feuerte. Nichts wünschte er sich sehnlicher, als eines Tages ebenfalls zu dieser Truppe zu gehören. Wenn er im Nachrichtenprogramm des Fernsehers von Erfolgen der Amerikaner hörte, freute er sich und hasste die kleinen VC genannten Männchen, die seinen Helden hinterhältig Verluste zufügten. Und Adils Vater ärgerte sich über die Politiker im Weißen Haus, die den Generälen keine freie Hand ließen, diesen Krieg zu gewinnen. Vater war der Beste und dessen feindselige Haltung der Regierung gegenüber prägte den heranwachsenden Jungen. Vor allem spürte er das unbändige Verlangen, denen eines Tages zu zeigen, dass er kämpfen konnte, für Amerika, und dies trotz seiner Hautfarbe und Herkunft aus einem kaum bekannten Teil der Welt. »Adil«, verkündete seine Mutter, als er fünfzehn war, »wir Araber sind vom Westen zu lange gemeistert worden. Du musst uns helfen, den Westen zu meistern. Willst du das tun?«
29 Als Rick Bronx an diesem drückenden Sommernachmittag im Jahre 1997 das Botschaftsgebäude in Nairobi verließ, gab er sich ernsthaft Rechenschaft über den tief in ihm wurzelnden Hass gegen seinen Dienstherrn, die CIA, gegen Washington, gegen die ganze jüdische Clique, die dort drüben den Ton angab. Genau wie dieser arrogante, feiste, aufgeblasene Rekrutierungssergeant auf dem Schlachtschiff. Diese Geringschätzung, die ihn so tief verletzte, hatte genau dort und damals ihren Anfang gehabt. Eine Herablassung, die seine 144
Mutter, die Araberin, beleidigte – ja, nicht nur sie, sondern ein ganzes, stolzes Volk. Als er achtzehn war, erlebte er den Verrat der rücksichtslos egozentrischen amerikanischen TV-Gesellschaften an ihren Soldaten im Dschungel von Vietnam. Später lernte er das Land, das ihm die Staatsbürgerschaft schenkte, als amoralisch, lüstern, zügellos zu sehen. Nur Geld, Erfolg und Macht zählten. Die predigten Tugend, doch ihnen fehlte der Glaube: Wie anders war zu erklären, dass sie den Kampf gegen den Kommunismus in Vietnam aufgaben, ihre sechsundfünfzigtausend Gefallenen schamlos verrieten? Wir Araber sind vom Westen zu lange gemeistert worden. Du musst uns helfen, den Westen zu meistern. Willst du das tun? Und die beleidigende Arroganz nahm ihren Fortgang, als er in die US Army ging. Rick Bronx war (ohne darauf zu achten, sein Hirn steuerte wie auf Autopilot programmiert) durch den dichten Verkehr Nairobis zu dem kleinen Haus gefahren, das er mit zwei Botschaftsleuten bewohnte. Er parkte den völlig verstaubten Chevy Suburban im eingezäunten Teil des Anliegens unter dem Schattendach. Im offenen Kamin der Terrasse knisterte ein Feuer; jemand hatte wohl vor, ihn mit einem Barbecue zu beglücken. Ein Black Daniels schien ihm der beste Zeitvertreib, bis die Gäste eintrafen. Eiswürfel klirrten, das Wasser lief ihm schon im Mund zusammen, als er sich in einen Korbstuhl fallen ließ, einen langen, tiefen Schluck nahm und in die Flammen starrte. Da leuchteten wieder jene Bilder auf, die der Einsatzleiter in der Botschaft verscheucht hatte …
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30 … Vater Frank hatte Adil in die Staaten mitgenommen, dort dafür gesorgt, dass er bei der Army unterkam. Militärdienst ist beste Lebensschule, pflegte er zu sagen. Diese einfache Lebensweisheit traf bei Adil auf offene Ohren. Waffen faszinierten ihn ohnehin. In Aden hatte seine Gang mit Karbid Sprengsätze gebastelt. Ein älterer englischer Junge bewahrte im Keller seines Vaters eine Kalashnikov AK-47, eine Uzi sowie Pistolen auf, die er alle in ihre Bestandteile zu zerlegen wusste. Adil war von diesem Arsenal hingerissen. Zusammen schlichen die beiden zu einer abgelegenen Stelle am Strand, wo sie im Lärm der Brandung, aus einer Walther PPK feuernd, mit Benzin gefüllte Plastikflaschen zum Explodieren brachten. Adil hatte sich Harper Collins’ illustrierte Bändchen über moderne Panzer und Kampfflugzeuge verschafft. Dazu schenkte ihm sein Vater einen Schmöker über Kriegsberichterstattung vom Zweiten Weltkrieg bis Vietnam. Adil sah seiner Ausbildung in der Army mit Begeisterung entgegen, hielt sich fit und zweifelte nicht daran, dass er in der Handhabung von Waffen, Sprengmitteln und Geräten zu den Besten gehören würde. Er sah sich wie einer der Helden aus einem Hollywoodfilm im Zweiten Weltkrieg, wie er Bunker stürmte und ausräucherte. Er konnte kaum warten, es ihnen gleichzutun, neue Waffen kennen zu lernen, und er liebte den Schießlärm, die alles zerfetzende Wucht der Sprengungen. Schmerz schien er nicht zu kennen, und seit er – mit einem blutigen Riss am Schädel – einen schreienden Kameraden unter einem gekippten Jeep hervor mit stoischer Ruhe geborgen hatte, verliehen sie ihm respektvoll den Spitznamen Advil. Advil gegen Schmerzen! – wie der Werbeslogan lautete. Dann kam die kalte Dusche. Sie versetzten ihn als Schreibstubenhengst nach Maryland. Es war die wohl größte 146
Demütigung, die ihm dieses Land zufügen konnte. Ein kaffeebrauner Drillsergeant, der ihn um zwei Köpfe überragte, pfiff ihn am Schluss einer mit scharfer Munition durchgeführten Nahkampfübung an: »Für Kerlchen wie dich haben sie in Fort Meade Verwendung.« Zunächst begriff Adil nichts. Fort Meade ist ein riesiger Stützpunkt, auf dessem weitläufigen Gelände auch irgendwo der streng geheime Bundessicherheitsdienst NSA quartiert ist. »Du sprichst arabisch, Advil«, konstatierte der Sergeant, als wäre damit alles erklärt. Als Adil stocksteif dastand, fügte er hinzu: »Du passt doch sowieso nicht zu uns.« Das bezog sich natürlich auf die Schwarzen, die in Adils Kompanie eine erdrückende Mehrheit ausmachten. El Paso rekrutierte vor allem in den Südstaaten. Und er meinte, dass Adil nicht schwarz genug war. Kein Black Muslim oder so was – irgend so eine Mischung. Offiziell erklärten sie ihm die Versetzung mit dem Bedürfnis der Streitkräfte für Leute mit Fremdsprachenkenntnissen. Vor allem Arabisch. Es nützte nichts, dass er besser war als die Anderen – physisch wie auch mental. »He, Advil, nimm’s leicht«, tröstete ihn einer der Kumpels, der zu den paar Weißen zählte. »Die sehen dich als Sicherheitsrisiko. Wo kommst du her? Aus dem Jemen. Schau, die glauben, dass du uns in den Rücken schießt, wenn’s gegen die Kameltreiber losgeht.« Sie hatten ihn ein zweites Mal abgelehnt. Noch am gleichen Abend schrieb er seiner Mutter. Die ersten drei Sätze brauchte er sich nicht lange zu überlegen. Ich komme zurück, Patrioten sind in Amerika nicht gefragt. Ich komme nach Hause, wo Patrioten gebraucht werden. Sie meinen, ich sei ein Sicherheitsrisiko, und ich werde ihnen beweisen, dass sie Recht haben … 147
Bevor er dann zum Bundessicherheitsdienst NSA versetzt wurde, änderte er seinen Namen. Der weiche arabische Name Adil hatte ihm nur geschadet. Von jetzt an hieß er Rick Bronx.
31 Rick Bronx starrte ins Feuer. Tief in der Glut sah er fern das zerklüftete Tal mit den von Felsen zersetzten Hügeln, das Ungetüm eines sowjetischen Panzers, der dröhnend auf ihn zuratterte. Erbärmlich wehrlos wie im Schraubstock festgeklemmt lag er unter dem schweren Leib des toten Pferdes auf der steinigen Piste, verzweifelt mit den Armen rudernd. Der Panzer, den er automatisch als einen T-72 registrierte, senkte die 125-mm-Glattrohrkanone mit dem rohrparallelen MG, die Luken hermetisch geschlossen. Rick Bronx wartete auf den Knall, den Schmerz, das Nichts, das Ende in diesem beschissenen Tal im Nirgendwo. Der Knall kam, war furchtbar, ohrenbetäubend – die Hitze versengte seine schwarzen Haare unter der eng anliegenden Ledermütze. Als er nach dem ersten Schock die Augen aufriss, mit beiden Händen den dröhnenden Kopf hielt, dachte er stumpfsinnig an die wonnevolle Prophezeiung der zweiundsechzig schönen Huris, die ihn, den Märtyrer, schon bald, wenn nicht sofort im Paradies beglücken würden. »Beweg dich, Amerikanski«, mahnte stattdessen eine kräftige Stimme, die niemand anderem gehörte als dem langbärtigen Osama, den er bislang für einen sanftmütigen Prediger gehalten hatte. Der Panzer brannte, ein Soldat taumelte aus dem Turm, rutschte ab, schlug auf die Erde. Osama hielt ein rauchendes Raketenrohr in einer Hand, mit der andern zerrte er am Zügel des verendeten Gauls, der Bronx begraben hielt. Zwei seiner 148
Männer eilten heran – noch bevor der sowjetische HIND rasselnd in die Kurve ging, lagen sie alle vier hinter dem Felsen in Deckung. In aller Ruhe half Osama einem Mudschahid, seine Stinger-Rakete auf die Schulter zu stützen – als das schwarze Ding wie ein riesiges, bösartiges Insekt aus dem gleißenden Sonnenlicht über ihnen auftauchte, rauschte die Rakete ab. Diese Stinger-Raketen wurden 1986 geliefert: Bronx hatte den jungen Kriegern im Camp bei Dschalalabad in hartem Drill beigebracht, wie man sie einsetzt. Mit Erfolg. Der Hubschrauber explodierte in einem gewaltigen Feuerball, Trümmer regneten auf die Erde nieder. Bronx keuchte: »Du hast mir das Leben gerettet.« »Jetzt schuldest du mir eins«, grinste der Bärtige. Sie lagen beide am Boden, spähten in die Luft. »Greifen wir an?«, schrie Ahmed, der Stingerschütze. »Rückzug«, keuchte Bronx. Osama nickte. Der Kampflärm verhallte so plötzlich, wie er aufgebrandet war. Kein einziger Schuss fiel mehr. Nur das Brummen schwerer Motoren drang aus dem Tal herauf. Ein Dutzend Männer in den typischen weiten Hosen, eng anliegenden Mützen, umgeschlungenen Tüchern standen triumphierend oben auf dem Wrack des zerstörten Sowjetpanzers. Ein scharfer Befehl ließ sie herunterspringen. Als die Gruppe die Höhe erreicht hatte, sahen sie die Panzerkolonne im Tal abdrehen. Am grauen Himmel bewegte sich nichts. Trotzdem war Eile geboten. Spätestens innerhalb einer Stunde würden die Sowjets mit ihren Jagdbombern nach den Widerstandsnestern suchen. »Ich will Pilot werden«, sagte Ahmed, als die Gruppe nach einem langen Fußmarsch den Tora Bora erreicht hatte, sich dort unter den Felsen des Eingangs sammelte.
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Rick Bronx ließ seine volle Unterlippe ein wenig hängen, den jungen Krieger mit skeptischem Blick abschätzend. Dessen dunkles Gewand verschmolz gegen den schwarzen Felsen. Nur die Augen leuchteten. Bronx kam es immer vor, als trügen die Männer hier Anzüge wie Zelte. Sie traten in den dunklen Gang der ersten Höhle. »Mach dich an Mohammed ran«, empfahl Bronx, »der will auch nach Amerika, wenn hier alles vorbei ist.« »Ich weiß. In Amerika kennt er eine Gruppe Brüder, die denken wie wir. Sie sind wie Amerikaner, ohne diesen lächerlichen Bart.« Ahmed rieb grinsend sein haarig überwuchertes Kinn. »Du fällst dort nur auf die Nase. Ich rate dir, geh zur Schule, lerne ein, zwei Jahre Englisch, einen praktischen Beruf, Mechaniker, Ingenieur … Die pfeifen dort auf uns Araber.« Bronx tippte den Zeigefinger auf seine Brust, als wolle er sich selber in die Gruppe der Diskriminierten einschließen. Ahmed nickte, als hätte er sich alles gemerkt. Dabei blieb es zunächst.
32 Der schwarze Hausbursche kam heran, räusperte sich, stocherte im Feuer herum. Bronx’ Erinnerungsbilder zerstoben in einem Funkenregen. Im Haus näherten sich Stimmen. Barbecue time! Bronx trank das Glas mit langem kräftigem Zug leer – er wusste, dass es haargenau an jenem Tag am Hindukusch gewesen war, als er gelobt hatte, alles für seinen Lebensretter zu tun. Was auch immer dieser verlangen würde. Waffen und Munition versteckten sie in Höhlen in der Nähe des Ausbildungslagers. Das Leben in den Camps sprach den Tatendrang der jungen Männer an. Sie kamen aus Saudi150
Arabien, Algerien, Usbekistan, von überall. Die Tschetschenen und Tadschiken kamen meistens in Gruppen zu drei, dann gab es Kaschmirer, Jemeniten, und alle vermischten sich mit den Paschtunen. Sie eiferten um die Wette, in den Augen ihrer Ausbilder die Besten zu sein. Noch vor Tagesanbruch wurden die Männer von den Ausbildern geweckt. Nach dem Gebet folgte ein halbstündiges, hartes Körpertraining, dann brachen sie auf in die Berge der näheren Umgebung. Dabei ging es vor allem darum, sich im felsigen, schroffen Gelände, in der Kälte, mit Waffen und schwerem Gepäck sicher zu bewegen. Wieder im Lager folgte Waffentraining. Bronx bildete die Glaubenskämpfer an der Kalashnikov, der Panzerfaust und der Boden-Luftrakete aus. Seine Methode war Drill, Drill und noch mal Drill. Die jungen Männer waren lernbegierig, ungeduldig, aber er musste sie dazu bringen, in jeder Lage, schnell, oft mit verbundenen Augen oder in der Nacht, die Waffen zerlegen und wieder zusammensetzen zu können. Der perfekten Handhabung folgte der Waffeneinsatz. Er paukte ihnen Geschossbahnen ein, die praktische Einsatzdistanz und den Grundsatz von Feuer und Bewegung im Angriff, den Aufbau eines Hinterhalts. Man kannte und respektierte den waffenkundigen Amerikaner, und er ließ sich auf salopp Amerikanisch Rick duzen. In den achtziger Jahren rückten gut zwanzigtausend Rekruten aus allen Teilen der Welt zum Kampf gegen die Sowjets in die Lager, und Bronx trug wesentlich zu ihrer Waffen- und Gefechtsausbildung bei, was ihm die Achtung der muslimischen Führer eintrug. Fünf Mal am Tag verrichteten die Männer ihr salat, das tägliche Gebet, und nach dem stark gesalzenen abendlichen Eintopf versammelten sich die Rekruten zur religiösen Unterweisung. Wer als Mudschahid für Gott kämpfen wollte, musste begreifen, was Gott von ihm wollte. Die Ausbilder trichterten den Männern das Gesetz des Dschihad ein. Niemand 151
soll sich vor der Pflicht drücken, Gewalt gegen die Ungläubigen einzusetzen. Die meisten ließen die Indoktrinierung über sich ergehen, Eifrige wollten die Kampfregeln in den Versen des Korans ergründen und lechzten nach spiritueller Vorbereitung. Bronx ließ die Religionslehrer wirken und unterhielt sich in dieser Zeit mit den Anführern über die Einsatzplanung. Was die Sowjets anbetraf, hatten jene einhundertzehntausend Elitesoldaten im Land. Sie taten, was sie konnten, die Ausbildungslager aus der Luft zu zerstören. Rick Bronx setzte durch, dass eine Vielzahl von Höhlen nicht nur als Waffen- und Munitionslager, sondern auch zu verbundenen Systemen für Unterkünfte, Küchen und Waffenausbildung erweitert wurden. War mit einem sowjetischen Angriff zu rechnen, konnten die Männer das Lager innerhalb kürzester Zeit verlegen. Rick Bronx baute eine wirksame, einfache Verteidigung gegen Luftangriffe mit den von der CIA 1986 über den pakistanischen Geheimdienst ISI beschafften Stingers auf. Dabei wandte er das bewährte Prinzip des Hinterhalts an, indem er Stellungen wählte, die sowjetische Kampfhubschrauber erst unter Feuer nehmen konnten, wenn sie in die Einsatzdistanz der BodenLuftraketen gerieten, dabei den Vorteil der längeren Reichweite ihrer Bordkanonen preisgeben mussten. Frust befiel Bronx jeweils am Freitag, wenn die Religiösen den jumu’ah, den arbeitsfreien Versammlungstag, mit Predigten und Einkehr feierten. Die Ausbildung ruhte, und Bronx war gezwungen, während des jumu’ah die Sicherheit mit den wenigen westlichen Spezialisten zu gewährleisten, bis nach verlustreichen sowjetischen Einfällen der Pate des Dschihad, Abdullah Azzam, der Mentor bin Ladens, die Weisung erließ, dass auch an Freitagen der Kampf Vorrang erhielt. Bronx, der sich mit der Zeit die Gebräuche der Mudschahidin aneignete, hatte ein geschultes Auge für Männer mit Führereigenschaften. Es gab einige darunter, die sich pragmatisch verhielten, den Bart stutzten und kaum über den 152
Koran redeten. Rick Bronx sah in ihnen den weltlichen Typ, der für Einsätze an Feiertagen in Frage kam. Seine Mission als CIAAgent ging dabei immer mehr in seiner Mudschahidin-Rolle im Kampf gegen die Sowjets auf. Seiner Mutter Ermahnung, Wir Araber sind vom Westen zu lange gemeistert worden, du musst uns helfen, den Westen zu meistern. Willst du das tun?, bestimmte sein Tun als unanfechtbaren Leitsatz. Mohammed, der Schweigsame, kam eines Abends zu ihm in die Kantine. Die Höhle war kalt, draußen schneite es seit Tagen ununterbrochen. Die Männer, in Decken gehüllt, scharten sich um das Feuer. »Ich will nach Amerika, Rick«, begann er flüsternd. Bronx sagte nichts. »Ein paar Jahre vielleicht«, sagte Mohammed und steckte ihm eine Geschäftskarte zu. »Die Firma meines Vaters. Dort wissen sie immer, wo ich bin.« Bronx schaute ihm in die dunklen, im Feuerschein flackernden Augen. Er nickte, steckte die Adresse ein, ohne sie zu lesen. An Mohammed würde er sich erinnern. Als Saudi erhielt der ja jederzeit ein Visum für die USA.
33 Als die Russen Wochen später im Februar 1989 den Rückzug aus Afghanistan einleiteten, überwarf sich bin Laden mit seinem Freund und Meister Abdullah Azzam. Ein Richtungskampf drohte die Bewegung zu schwächen. In dieser kritischen Phase zögerte Bronx keine Sekunde – er wusste, wo er stand. Einige Zeit später fiel Azzam in Peschawar einem nie geklärten Autobombenattentat zum Opfer. Man munkelte, der britische Geheimdienst SIS stecke dahinter. Bronx blieb im Hintergrund, während bin Laden die Führung übernahm. Zwei Tage vor 153
Ramadan rief der Mudschahidinführer den CIA-Ausbilder in sein Gefechtszelt in der Nähe von Herat. »Du hast Großes geleistet, Rick«, lobte Osama und schenkte Tee ein. »Willst du mich auch in Zukunft begleiten? Überleg dir die Antwort gut. Denk an das Wort des Propheten: ›Auch der Weg zurück ist ein Weg‹.« Als Bronx schwieg, lehnte sich Osama zurück. Eine Schulter berührte den Lauf der angelehnten Kalashnikov. »Die Sowjets sind besiegt, jetzt gilt mein Kampf den weltlichen muslimischen Ländern.« Bronx zögerte keinen Augenblick. »Die Araber sind vom Westen zu lange gemeistert worden. Ich helfe dir, den Westen zu meistern.« »Bist du bereit, dafür zu sterben?« »Ich bin bereit, dafür zu kämpfen, Emir. Ich schulde dir eins, oder hast du das vergessen?« Sie blickten einander ernst lächelnd an. Beide wussten, dass sie fortan das Band einer unzertrennlichen Männerfreundschaft verbinden würde. So machte Osama bin Laden, der neue Pate des Dschihad, den Amerikaner, der ihm den Tatbeweis treuer Gefolgschaft erbracht hatte, zu seinem bevorzugten Agenten mitten im Herzen Amerikas.
34 Von der Entwicklung in Afghanistan zunächst überrascht, konnte die CIA nicht froh genug darüber sein, dass es einen Mann wie Bronx gab. Sie stationierte ihn als einen der wenigen fundierten Kenner, wenn nicht gar ihren einzigen, nacheinander in Kabul, Peschawar und im Jemen. Sein arabisches Blut, seine 154
Kenntnis von Arabisch als Muttersprache, wie auch von Paschto, all das machte ihn zu einem unschätzbar wertvollen Feldagenten im Nahen Osten. Niemand in Langley zweifelte an seiner Loyalität. Bronx war souverän, solide, verlässlich. Sein track record war höchst überzeugend. Unter diesen Umständen seine Loyalität Amerika gegenüber in Frage zu stellen, kam niemandem in den Sinn. »Wir müssen blutig agieren. Massen von Menschen töten, das muss unser Ziel sein. Ich sehe den Selbstmordterrorismus als instrumentell ausgerichtete Strategie«, dozierte Osama eines Abends. »Der Westen hat Klischeevorstellungen über die Selbstmordattentäter. Es ist nicht der angebliche Zorn, die Verzweiflung, die Frustration oder Neid auf die Früchte des Westens, die unsere Attentäter bewegen. Es sind ganz einfach die strategischen Notwendigkeiten.« Sie saßen auf gepolsterten Lederhockern, knabberten an Hühnchenflügeln herum. »Was meinst du damit, wo soll das hinauslaufen?« Bronx warf ein abgenagtes Knöchelchen über die Schulter. »Ich will Leute mit Bildung, keine einfältigen Trottel, Arme oder Depressive. Wir müssen die nächsten Jahrzehnte eine intelligente Elitetruppe heranbilden, für deren Einsatz zwei Voraussetzungen gegeben sind – die Bereitschaft zu töten und der Wille zu sterben.« »Also keine glutäugigen Fanatiker oder wahnsinnige Killertypen«, folgerte Bronx. »Durchaus nicht. Im Gegenteil – der Terrorismus stellt für die Dschihad-Kämpfer einen rationalen Entschluss dar. Im Prinzip sind es gescheite, nachdenkliche, normale Leute, geschickt im sozialen Umgang, dazu unauffällig.« Bronx nickte beipflichtend. »Der Selbstmordanschlag ist schockierend, blutig und vor allem kosteneffìzient.« 155
»Genau! Zudem todsicher und schwer zu verhindern. Wir erzeugen ein Gefühl der Lähmung und Hilflosigkeit. Hilfst du mir dabei, Rickie? Der Baum des Triumphes und der Macht wächst und gedeiht nur mit Blut und Mühsal. Wir werden auch den Jemen befreien, das Land, dem ich meinen Namen verdanke. Du kennst dich doch in Aden aus, Rick? Im großen Hafen, stimmt doch?« Bronx nickte staunend. Es war keine Frage, es war eine Feststellung, deren Sinn Bronx erst Jahre später aufgehen sollte. Jetzt reichte er Osama wortlos die Hand, drückte fest zu. Ihre glühenden Blicke trafen sich, durchbohrten den andern.
35 Als am Mittag des 12. Oktober 2000 sein Mobiltelefon diesen nervenden Summton von sich gab, wusste Fotoreporter Steve Quinn instinktiv, dass etwas Großes passiert war. Zunächst war es das Geschrei gewesen, das ihn unsanft aus seinem Dämmerschlaf gerüttelt hatte. »Allah, Allah …« »Dschihad …« »Allah ist groß …« »Lailatu ’l-Qadr … Das Schicksal der Nacht will es …« »Es lebe der Prophet …« Zunächst dachte Quinn an Streit, an eines der vielen Gerangel im turbulenten Basar. Doch die Worte wiederholten sich. »Allah Akbar!« Immer wieder. Gott sei Dank war das in ein läppisches Klingeln übergegangene Summen seines Handys verstummt, bevor er drangehen konnte. Gut so!
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Quinn straffte sein Hemd, schlurfte lustlos ins Bad, weckte sein von der langen Nacht müdes und stoppelbärtiges Gesicht mit ein paar Klatscher Wasser. Seine Swatch-Armbanduhr zeigte den zwölften, halb eins, an diesem schläfrigen Nachmittag, fernab von zu Hause, im Tollhaus von Peschawar, der letzten Ruhepause vor dem Aufbruch zum abenteuerlichen Treck nach Afghanistan. Sein Telefon auf dem runden Billigmöbel eines Tischchens, mit Glimmkratern von ausgedrückten Zigaretten übersät, begann zum zweiten Mal nervend zu vibrieren – Quinn tat schon deshalb den Tigersprung ans Gerät, weil er die schreckliche Melodie nicht ausstehen konnte und sich jedes Mal ärgerte, dass es ihm nicht gelang, ein paar Takte seines Lieblingssongs aus The Entertainer als Signalton herunterzuladen. In der Ecke traf sein Zeigefinger das Gerät breitseits, schnellte es weg, gegen das breite Gehäuse der Digitalkamera, wo es abprallte und über den Fußboden scheppernd an die Wand schlug. Wie zum Hohn setzte das blöde Geklingel sogleich wieder munter ein. »Verdammt!«, fluchte Quinn, auf allen vieren Jagd auf den Störenfried machend. Er nahm ihn in die Faust, als sei es eine Maus, dabei lauthals »Verficktes Scheißding!« wetternd. »Wie bitte? Steve? Seit wann meldest du dich so charmant? Störe ich bei etwas?« Die Stimme war selbst bei der schlechten Empfangsqualität im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet die unverkennbare Mischung von professioneller Effizienz und sinnlicher Allüre: Stefanie, die Fotoredaktionsassistentin aus New York hing mit rauchiger Stimme in der Leitung. »Hey, Stefanie, du störst nie, leider …« »Hast du die Bilder gesehen?«, unterbrach sie in so dramatischer Tonlage, dass Steve die Lust am Flirten augenblicklich verging. Was zum Teufel ist los? 157
»Schau CNN, Steve! Sie haben ein Kriegsschiff unserer Navy zerstört«, sprudelte sie frisch drauflos. »Der Boss will Bilder. Du musst runter nach Aden.« Quinn schob den eckigen Kasten des schwarzen Minifernsehers heran, drehte ihn an und wartete, bis das Flimmern geruhte, in ein zitterndes Bild zu evolvieren. Dann endlich sah er die schwarzen Rauchschwaden, die über das Sternenbanner am Antennenmast strichen. Ihm stockte förmlich der Atem. »Ich sehe es. Das ist doch … Wahnsinn!« Der Kreuzer mit den eleganten Linien stand in Flammen, ein haushohes Loch klaffte mittschiffs backbord. »Das ist die USS Cole, einer der modernsten Raketenkreuzer, die wir haben, ich meine unsere Navy …« Die flimmernden Bilder wiederholten sich. Quinn lauschte mit einem Ohr der abgehackten Reporterstimme … »Hör mal, Stefanie, Süße, ich reise morgen nach Afghanistan, alles wie geplant, sag bitte Frankie Boy, ein Abstecher nach Aden liegt nicht drin, er soll sich diesen Plan …« Ein sonorer Stimmbrocken fuhr ihm in die Rede. »Steve? Hier Frank. Alles okay?« Der Boss himself. »Hör gut zu, wir verschieben deinen Trip. Du musst nach Aden. Die USS Cole ist jetzt Top News! Wehrlos am Marinepier vertäut, nahe am Absaufen! Das ist jetzt unsere höchste Priorität!« »Was genau ist eigentlich passiert?« »Soviel wir wissen, sind Terroristen ins Hafenbecken eingedrungen, mit einem Schlauchboot voller Sprengstoff. Sie haben sich in den Schiffsrumpf gebombt. Wir brauchen Bilder – deine Bilder.« Quinn starrte auf die Wiederholung immer derselben Aufnahmen. Die US Navy bot ein erbärmliches Bild. Scheinbar wie in Pearl Harbor in völliger Ahnungslosigkeit überrascht! 158
»Okay, okay, ist gut. Ich rufe zurück, Frank, sobald ich die Verbindungen habe – die Flüge, meine ich.« »Gut, ich warte. Auf heißen Kohlen, Junge!« Der Boss in New York hängte auf. Quinn sank schwer auf die Bettkante. Wieder mal alles im Eimer! Scheiße und noch mal Scheiße! Diese verdammte Terroristenbande hatte ihm alle Pläne über den Haufen geworfen. Dabei war die Reise bis in alle Einzelheiten vorbereitet, der Start der guten Wetterlage wegen auf morgen bestimmt. Und jetzt? Die schöne Fotosafari in den Hindukusch, die gewaltige Bergregion Afghanistans, abgeblasen! Zum Kotzen war das. Aden!? Da war er schon gewesen, kannte den Hafen, die Höhe mit dem alten Militärspital, wo er mit dem Schrecken davongekommen war … Angewidert schüttelte er den Gedanken ab. Plötzlich wurde ihm übel. Aus der Minibar klaubte er einen Gin hervor, stürzte ihn geradezu hechelnd hinter die Binde, schüttelte sich wie ein nasser Hund. Na, geht ja schon besser! Um beschäftigt zu bleiben, checkte er mechanisch Batterie und Stromversorgung seiner Kamera. Sie war der letzte Schrei in Digitalfotografie, gut fünf Riesen wert, Eigentum des New Yorker. Schüsse krachten. Der Lärm unten im Basar hielt an. Die Dramatik der Ereignisse im Jemen vibrierte bis hinauf in Quinns Hotelzimmer im zweiten Stock. Später hatten sie dann die Opferstatistik bekannt geben: 17 Tote, 39 verletzte amerikanische Matrosen. Peschawar tobte. Prügelnd und schießend trennten Polizei und pakistanisches Militär den Mob. Erst gegen Mitternacht kehrte Ruhe ein, als der arabische Sender Al Dschasira eine mahnende Botschaft Osama bin Ladens ausstrahlte, wonach seine al Qaida die Urheberschaft für das Bombenattentat in Aden geltend machte. Quinn hasste diese langgesichtige, bärtige, teilnahmslose Prophetengestalt abgrundtief. Der Angriff auf die USS Cole als Symbol arroganter Macht der USA sei nur der Anfang einer 159
Serie weiterer furchtbarer Anschläge, hatte der Terrorboss gedroht, um dann sogleich alle gläubigen Muslime mit sanfter Stimme aufzufordern, Ruhe zu bewahren. Quinns trübe Stimmung hellte kaum auf, als Stefanie noch mal gut gelaunt anrief und ihm eine Sonderzulage von sofort verfügbaren fünftausend US-Dollar in Aussicht stellte. Quinns Loyalität stand außer Zweifel. In der Redaktion des New Yorker wussten sie, dass er genau tun würde, was sie von ihm verlangten – alles liegen lassen und schnellstmöglich nach Aden fliegen. Natürlich hatten sie Recht. Während Quinn sich dementsprechend voraussagbar daranmachte, zähneknirschend haargenau ihre Erwartungen zu erfüllen, konnte er nicht ahnen, dass er erst sieben Monate später wieder eine Gelegenheit haben würde, seine so sorgfältig geplante Fotoexpedition ins faszinierende Afghanistan anzutreten. Hätte er auch nur den Dunst einer Vorahnung gehabt, was ihm in seinem Schicksalsmonat Mai 2001 am Hindukusch widerfahren würde, hätte er Peschawar an diesem 12. Oktober endgültig und unwiderruflich den Rücken gekehrt!
36 Am Tage nach dem Terroranschlag auf die USS Cole projizierte Leslie Palmer die gleiche Aufnahme des eiskalt blickenden, die Kalashnikov salopp im Arm wiegenden, sanft predigenden Terrorbosses in ihrem Büro des Marinenachrichtendiensts in Manhattan auf eine große Leinwand. Sie fixierte und studierte den unbeweglichen Bärtigen; sie drehte, zoomte das Bild hin und zurück. Schließlich ließ sie den Terroristenführer starr glotzend stehen, wo er stand. »Dieser Arsch ist bewegungspsychologisch eine harte Nuss«, konstatierte sie aufgebracht, trat ans Fenster und schaute gedankenverloren zu den beiden so wuchtigen wie grazilen 160
Zwillingstürmen hoch, die weit über ihr dort oben im Himmel konspirativ die Köpfe zusammenzustecken schienen. Die klaren, nackten, glatten Konturen der schlanken Wolkenkratzer mit ihren je 110 Stockwerken faszinierten sie ungemein – in ihrer gleißenden Mächtigkeit schienen sie ihr eine Botschaft zuzuraunen. Nur dass sie nicht fasste, was diese Botschaft wohl sein mochte. Kopfschüttelnd ging sie an ihr PowerPoint-Pult zurück, wischte den bescheuerten Araber mit einem Tastendruck weg. Erst viel später würde Leslie verstehen, dass die Zeichen immer da gewesen waren. Natürlich, das Typische sprang ins Auge, man musste es nur sehen – der Bart, diese langhaarigen Schwaden, die Kinn und Hals zudeckten. Kinn und Hals – der Drehpunkt als Ausdruck von Flexibilität. Es war augenfällig: Alles versteckt unter viel Bart. Viel Unsicherheit kaschiert mit haarigem Filz. »Beim Barte des Propheten«, entfuhr es Leslie eines Tages, »der Mann ist mutterseelenallein, hat Angst vor Rivalen, vergräbt sich im hintersten Winkel, ist stur auf Zerstörung fixiert. Für immer, auf alle Zeiten!«
37 Die AQ mit jener haarigen Witzfigur eines Führers hatte im Herbst 2000 noch nicht den Status einer ernst zu nehmenden Kriegspartei. Über den neuen Kalten Krieg des Islams gegen den Westen hatte höchstens eine Handvoll besorgter Vordenker unter sich geredet – Staatsmänner hätten sowieso nie darauf gehört. Außer etwa in den Antiterrorabteilungen des FBI und des SIS nahm leider noch niemand im Westen die AQ als akute Gefahr wahr. Die Sicherheitsorgane erblickten in den Angriffen auf amerikanische Truppen und Einrichtungen im Ausland 161
etwas, das zum Glück weit weg von der Heimatfront, in Afrika oder sonst im Rest der Welt passierte. Der lärmend erfolgreiche Überraschungsschlag auf die USS Cole sollte eine neue Ära im Kampf der AQ gegen die westliche Dominanz auf der arabischen Halbinsel eröffnen. Niemand erkannte die Gefahr einer verhängnisvollen Globalisierung des AQ-Terrors. Als Fotoreporter Steve Quinn Monate später spurlos in Afghanistan verschwand, vermutete denn zunächst auch kein Mensch einen Zusammenhang zur schlimmsten aller Terrorunternehmungen. In den USA sah höchstens der Chef der Antiterrorabteilung des FBI in den steten Terroraufrufen Al-Zahiris eine Gefahr für amerikanische Städte, fand aber kein Gehör. Im weit verzweigten Gestrüpp der amerikanischen Geheimdienste verkehrten unzählig viele Sonderzüge. Alle hielten vitale Ergebnisse ihrer Recherchen für sich, gaben wichtige Erkenntnisse nicht weiter, aus Angst, die Konkurrenz könnte den Erfolg einstreichen. Neben FBI, CIA und dem streng geheimen Bundessicherheitsdienst NSA mischten sage und schreibe weitere 16 Nachrichtendienste in der Informationsbeschaffung mit. Darunter die Geheimdienste der Army – der größte von allen –, der Marine, Air Force, Nationalgarde, Immigrationsbehörde, der FTA (Firearms, Tobacco and Alcohol) und der Drogenbekämpfung – DEA. Sie alle sammelten getrennt Ozeane von Informationen, redeten aber kaum miteinander. So fügten sich die einzelnen Mosaiksteinchen aus der Flut von abgefangenen, abgehörten und aus Verhören gewonnenen Informationen nie zu einem Bild zusammen, das schon immer da war und im Nachrichtenwesen immer da sein würde. Man hätte das Puzzle nur zusammensetzen müssen! Kein Wunder, dass auch die kurz vor dem 11. September 2001 von Leslie Palmers in hochgradiger Hard- und Software und auf intensiv erotischen Seitengebieten spezialisierten Liebhaber Ben 162
Heller geäußerte, brisante Vermutung über einen bevorstehenden Anschlag schließlich dazu verdammt war, im bürokratischen Gerangel der Nachrichtendienste unbemerkt zu versacken. Andererseits hatte es jemand, wie etwa CIA-Mann Rick Bronx, nicht allzu schwer, in diesem Geheimdienstdschungel ein Eigenleben zu fuhren. Gegenseitige Überprüfungen und Identitätschecks gab es höchstens in der Theorie der Handbücher. Bekannt und geschätzt, wie er in Geheimdienstkreisen sein mochte, war er gleichzeitig der perfekte Schatten.
38 Etwa sieben Monate nach seiner überstürzten Abreise aus Peschawar nach Aden gelang es Steve Quinn, endlich an den Ausgangspunkt seiner Reise zurückzukehren. Im sonnenbestrahlten Nordwesten Pakistans, in den Ausläufern des Waziri-Gebirges, dem Grenzgebiet zu Afghanistan, schmolzen die letzten Schneereste unter den kräftiger gewordenen Sonnenstrahlen weg. Ein trockener Wind blies aus den Bergen und dachte nicht ans Einschlafen. Der Toyota Land Cruiser fuhr auf der breiten, mit Schotter bedeckten Passstraße mäßig schnell abwärts, eine Staubfahne aufwirbelnd, die von weit her auffiel. Steve Quinn hockte auf dem abgewetzten Kunstleder des Beifahrersitzes, seine Kamera durch das offene Seitenfenster auf die fantastische Kulisse des Hindukusch gerichtet, auf die unendlich lang gestreckte sandbraune Ebene tief darunter, die sich dahinter auftürmenden Riesen des Grenzgebirges. Nachdem sie sich im wirren Durcheinander von Marktständen, engen Gassen, verschachtelten Häusern und Höhlen gleichenden 163
Geschäften des alten Qissa Khawani Bazar mit Lebensmitteln, Getränken und warmen Decken eingedeckt hatten, waren sie am frühen Morgen aus Peschawar aufgebrochen. Auf der Fahrt blieb Abdulahi, ein Pakistani aus dem schwer kontrollierbaren Grenzgebiet, wortkarg. Er sprach Paschto, die Sprache der Waziri, zeigte seinem Passagier ab und zu mit stummer Handbewegung die hehre Schönheit der wilden Landschaft, die sich immer wieder in neuen Blickwinkeln atemberaubend offenbarte. Steve Quinn hielt seine Kamera in Aktion und dachte an nichts anderes, als die Bilder seines Lebens zu schießen. Sie hatten den historisch so berühmt wie berüchtigten Khyberpass nach haarsträubenden Windungen an steilen Abgründen vorbei erreicht. Als sie jetzt auf der andern Seite durch gefährliche, rutschige Kurven hinunterfuhren, schien sich Abdulahi jedes Mal zu amüsieren, wenn sein Gast ungewollt die Beine versteifte, um ein vermeintliches Bremsmanöver einzuleiten. Seit jeher zogen die Karawanen aus Afghanistan über den langen, schwierigen Pass, transportierten Waren, Lebensmittel, Ausrüstungsgegenstände nach dem »Picadilly Zentralasiens«, wie die Briten den Handelsplatz Peschawar zu Kolonialzeiten zu nennen pflegten. Sie überholten schwer beladene Laster, schäbige, überladene Pick-ups kamen ihnen entgegen, Pferdegespanne verschnauften am Straßenrand, und Quinn hatte keine Zweifel, dass nicht nur Baumwolle und Reis, sondern auch Drogen und Waffen über diese jahrhundertealte Transversale verschoben wurden. Vor ihnen breitete sich ein ödes, zerklüftetes Gelände aus, das sich die afghanisch-pakistanische Grenze entlang zog und als Hochburg der Taliban galt. Zu spät bemerkte er die Gruppe Männer in ihren weiten Hosen, den langen, wallenden Hemden und schief aufgesetzten 164
Turbanen. Abdulahi stieß einen Fluch aus, trat mit vollem Körpergewicht auf die Bremse. »Dschihadisten«, schrie er, legte hastig knirschend den Rückwärtsgang ein, während die Turbane heraneilten, bedrohlich ihre Kalashnikovs in der Luft schwenkend. Quinn hatte immer noch nicht voll begriffen. »Abdu, was wollen die?« Abdulahi stieß unverständliche Laute aus. Die Augen vor Schrecken geweitet, manövrierte er hastig rückwärts auf eine Ausweichstelle, um zu wenden. Doch die schwarz vermummten Männer aus dem Hinterhalt waren plötzlich überall. Sie kamen von hinten, stießen Gewehrkolben in die Wagenseiten. Zwei rissen die Fahrertür auf, zerrten Abdulahi heraus. Er versuchte vergeblich, sich in der Stammessprache der Wegelagerer zu erklären. Einer, mit blitzenden Augen und einen Kopf größer als die anderen, packte den Fahrer wortlos am Kragen, hievte ihn wie ein Hebekran zum Straßenrand und schickte ihn mit einem kräftigen Stoß die steile Geröllwüste hinunter. Quinn hielt protestierend und fuchtelnd seinen Pass in die Höhe, was einzig bewirkte, dass ihn eine Faust hart im Gesicht traf. Alles lief schnell und präzise ab. In Hotel hatte Steve Quinn am frühen Morgen versucht, seinen Sohn in Brooklyn anzurufen, aber die Verbindung klappte nicht – in New York herrschte noch tiefe Nacht, also hinterließ er eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Jetzt bugsierten ihn die Banditen mit gefesselten Händen unzimperlich hinten auf die Pritsche. Seine Gedanken rasten. In diesen dramatischen Sekunden wunderte er sich, ob das perfekt inszenierte Kidnapping dummer Zufall oder raffinierter Plan war. Wer wusste eigentlich von meiner Reise?, suchte er seine wirren Gedanken zu ordnen. Im Hotel, erinnerte er sich, hatte er beim Auschecken dem britischen Manager beiläufig von seiner 165
Expedition erzählt, war jedoch nicht auf das geringste Interesse gestoßen. »Gute Reise dann«, hatte jener ihm geflissentlich gewünscht, aber da hatte er in der Lobby schon diesen jungen Pakistaner so offenbar um sein Gepäck herum streunen sehen, dass er aus lauter Irritation vergaß, seinem Sohn genauere Informationen über die nächste Etappe der Expedition durchzugeben. Als die Kidnapper jetzt den Toyota rumpelnd und rasselnd die Passstraße hinunter jagten, schien ihm, als habe einer von ihnen vor dem Hotel gelungert, als Abdulahi Steves unförmig dicke Reisetasche mit der Fotoausrüstung verlud. Aber die Kerle mit ihren umwickelten Köpfen sahen irgendwie alle gleich aus. Trotzdem hätte er schwören können, dass sie ihn ausspioniert hatten. Er verrenkte mühsam den Körper, um einen Blick auf den Fahrer zu erhaschen. Da schlug etwas Hartes gegen seinen Hinterkopf. Er verlor augenblicklich die Besinnung.
39 Der Bärtige, der sich über ihn beugte, trug keines dieser handtuchartigen Kopftücher, sein entspanntes Gesicht war angenehm von der Sonne gegerbt, die Augen blitzten gescheit. Er sprach in gelassenem Tonfall. »Sie sind ein Spion der Amerikaner.« Quinn stützte sich blinzelnd auf die Ellenbogen. »Nonsens, ich bin Journalist.« »Wir haben andere Informationen. Schauen Sie selber«, widersprach der Bärtige, hielt ihm einen Wisch unter die Augen. Quinns Kopf dröhnte, er hatte keine Lust, der Aufforderung nachzukommen. Sein Gegenüber bewegte ermunternd das bärtige Kinn.
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»Bitte, das hier ist eine Liste der in Islamabad operierenden US-Agenten.« Quinn griff sich an die Stirn, verkniff die Augen, erschrak – da stand in großen Lettern sein Name, rot unterstrichen: QUINN, STEPHEN (STEVE). Zurücklehnend konterte er: »Ich bin Fotograf aus New York. Habe mit eurer Sache absolut nichts zu tun!« Der Anführer schüttelte seufzend den Kopf, so dass Strähnen von langen schwarzen Haaren sein Haupt umwallten. »Da sind wir besser informiert, Quinn. Wenn Sie nicht kooperieren wollen, werde ich Sie zum Reden bringen.« Er winkte nach hinten. Zwei Bewaffnete waren augenblicklich zur Stelle, nickten auf die knappen Befehle des Anführers. Sie packten Quinn, der vergeblich um sich schlug und Fußtritte austeilte. Sie drehten ihm die Arme auf den Rücken, dass er vor Schmerz aufschrie, stießen ihn vor den Anführer hin. Schwer atmend rang Quinn nach Worten: »Verwechslung … Sir … ich … ich bin kein Spion.« »Das sagen sie alle, oder etwa nicht?«, kam es in gepflegtem Englisch zurück, fast als hätte der Mann in Oxford studiert. Sie schleppten ihn durch niedere, düstere Gänge. Erst jetzt erkannte Quinn fröstelnd, dass sie sich tief im Bergesinnern befinden mussten. Die beiden Krieger grinsten Quinn hämisch an. Was ihm bevorstand, hätte sich weder seine noch überhaupt irgendjemandes noch so morbide Phantasie auch nur andeutungsweise ausmalen können.
40 »Wo bin ich?«, keuchte Quinn, als sie ihn mit Stricken nackt auf eine hölzerne Pritsche spannten. Das Gewölbe über ihm war aus dem schieren Felsen gehauen, zwei Glühlampen baumelten an 167
einem Draht, gespenstisches Licht auf die bärtigen Gesichter werfend. Die wilden Burschen lachten. Von irgendwo kam ein Luftzug. Eine Tür schlug dröhnend zu, echote schallend durch das Verlies. Schritte näherten sich. Die beiden Dschihadisten traten ehrfurchtsvoll zur Seite. »Der Scheich«, flüsterte einer. Es war der Bärtige, ohne Turban. Er trug jetzt ein weißes, goldbesticktes Gewand. Die Gestalt hinter ihm stand in jeder Hinsicht im krassen Gegensatz zum gebildeten Ausdruck des ersten. Aus einem finsteren Gesicht stachen schwarze Augen hervor, die aufgequollenen Lippen unterstrichen den brutalen Ausdruck, ein schmaler Bart fiel auf ein schwarzes Wams, unter dem sich ein muskulöser Oberkörper abzeichnete. In der Hand trug dieser bedrohliche Typ von einem Henker eine Tasche, die er bedächtig auf den niederen Holztisch legte, sich würdevoll umdrehte und in grinsender Vorfreude auf Quinns nackten Körper glotzte. Dabei strich er sich mit klobigen Fingern über die feuchten Lippen, wandte sich sogleich devoten Blicks und in stramm aufrechter Haltung dem zu, den sie den Scheich genannt hatten. Quinn durchrieselte kalter Schauder. Wieder hallten Schritte im Gewölbegang. Ein Taliban kam herein, warf Quinns prall gefüllte Reisetasche achtlos auf den Boden, machte kehrt und knallte die Türe dröhnend ins Schloss. Als der dumpfe Lärm verhallt war, herrschte im Raum Totenstille. Der Vollstrecker zog genüsslich ein Etui, eine braune Medizinflasche und ein dickes Pack Watte aus einem schwarzen Plastiksack. Mit den Fingerspitzen einer klobigen Hand zauberte er ein Skalpell hervor, hielt es grunzend hoch gegen das Licht. »Sie werden jetzt reden, Quinn«, mahnte der Scheich. »Sie sagen mir, wer Sie sind. Alles – Ihre Auftraggeber, die Mission, alles.« Quinn bäumte sich keuchend auf. 168
»Wer sind Sie? Wo bin ich? Ich bin Bürger der USA. Fotograf für den New Yorker, ich bin Steve Quinn, kein Spion, verdammt noch mal …« Er brach erschöpft ab. »Sie sind im Gewahrsam der Taliban«, belehrte ihn der Scheich. »Mehr brauchen Sie nicht zu wissen. Wenn Sie reden, ich meine vernünftig reden, werden Sie gut behandelt. Andernfalls fahren Sie zur Hölle, unter Qualen, und glauben Sie mir, Sie werden langsam sterben. Sie sind ein Ungläubiger, der uns verraten will. Gib es doch zu, Amerikaner! Alles, was wir tun, geschieht nach dem Willen Allahs zum ewigen Verderbnis der Ungläubigen.« Der Scheich schaute prüfend nach der Wirkung seiner Worte. Quinn schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich weiß nichts, ich bin …« Der Scheich brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen, nickte dem Folterknecht zu. Einer der Bewaffneten hielt Quinns Kopf wie im Schraubstock fest. »Sie jetzt singen, Mann!«, höhnte er. Widerstand war zwecklos. Genüsslich setzte der Vollstrecker das Skalpell auf Quinns Nasenrücken und ritzte die Haut einen Millimeter tief die ganze Länge der Nase. Quinns Schrei ging in Stöhnen über, als der Folterer die Wunde sorgfältig mit brennender Flüssigkeit betupfte. »Reden Sie, ersparen Sie sich die sinnlose Qual, Mister Quinn«, riet der Anführer in seinem gepflegten Englisch. »Sie sind der einzig Vernünftige, Sir, hören Sie doch zu«, flehte Quinn ihn an. »Ich bin unschuldig. Ich weiß, Sie werden mich töten. Sie töten alle Amerikaner, es gibt eine Fatwa, alle Amerikaner zu töten, ob ich rede oder nicht, aber ich bin kein Spion. Ich bin Fotograf, mein Sohn lebt in Brooklyn, ich arbeite für …« 169
Quinn schrie gellend auf, als der Folterer ihm das Messer quer über die Brust zog. »O … nein, nein … aufhören … bitte …« Schattenhaft, durch getrübte Augen, sah er das unbeteiligte, verächtlich gleichgültige Gesicht des Anführers, das sich über ihn beugte. »Jammere und weine und winsle weiter, Amerikaner. Ein letztes Mal, sag uns, was ihr vorhabt, was die CIA gegen uns im Schild führt, wo die Raketen eures Weichlings, dieses Weiberhelden eines Präsidenten einschlagen und ich werde Gnade walten lassen …« Quinn geiferte unverständliches Zeug, schüttelte krampfhaft den Kopf, flehte mit den Augen. Die gebabbelten Worte erstickten in einem heulenden Schrei, als das scharfe Messer der Länge nach über seine Brust zum Bauch schnitt. Die Wunde war tief genug, dass Blut spritzte, und als die ätzende Tinktur in die zerschnittenen Kapillarfasern floss, brachte der höllisch sengende Schmerz Quinn beinahe um den Verstand. Der Scheich setzte sich mit reglosem Gesicht auf einen ledernen Hocker, machte Quinns Reisetasche auf. »Hör gut zu, Amerikaner! Wir sind kein Volk von dummen Kameltreibern, wie ihr arroganten Amerikaner denkt. Unsere besten Leute haben eure Schulen besucht oder in England studiert.« Er machte eine Pause, fuhr dann in leierndem Tonfall fort. »Steve Quinn kam von Aden nach Islamabad, traf sich dort mit dem Polizeichef und einem amerikanischen Agenten namens Carpenter, stimmt’s?« Quinn stöhnte nur. »Dann im Hotel in Peschawar, da verkehrten Sie mit dem Manager. Warum dieses Hotel? Der Manager ist ein britischer Undercoveragent. Sie telefonierten nach New York; die Nummer, die uns das Hotel weitergab, ist ein Gebäude in 170
Manhattan, in dem die Geheimdienste fünf Stockwerke belegen.« »Mein … Sohn … arbeitet dort … für eine Ingenieurfirma …«, mümmelte Quinn. »Leugne nicht!«, donnerte der Scheich zurück. Er gab resigniert ein Zeichen. Der Wüstling mit dem Messer beugte sich über Quinns gespreizte Beine, griff mit der Linken den angeschwollenen Penis. Quinn stieß gurgelnd hervor: »Ich rede, ich gebe alles zu …« Der Folterer machte den Schnitt. Vom Ansatz des Glieds durch die Mitte nach vorne, Blut pulste heraus, der Mann goss mehr Desinfektionsmittel nach. Quinn lag spasmisch atmend mit aufgerissenen Augen da, Speichel troff aus seinem verzerrten Mund, sein ganzer Körper bebte. Finsternis kam auf, umhüllte ihn. Angewidert wandte sich der Anführer ab. Er hob die Reisetasche auf und schritt hinaus, von den beiden Kriegern gefolgt. Ein paar Herzschläge lang stand der Folterknecht unschlüssig da. Dann griff er sich unter das vielschichtige Gewand, holte sein selbst im Ruhestand noch dickes, langes Glied hervor. Er stellte sich breitbeinig über Quinn, legte den zottigen Kopf in den Nacken und pisste alsdann seelenruhig auf den wie leblos daliegenden Amerikaner.
41 Das Teufelsgesicht des Schlächters schreckte Quinn auf. Sein getrübter Blick sah das geifernde Maul eines Hundes, die stumpfen Wahnsinnsaugen des Folterers. Von weit her drang ein dumpf labernder Laut in sein Bewusstsein. Jetzt nahm der Kerl Quinns Glied in die Hand, schnitt es mit einer glühend roten 171
Schere ab. Quinn spürte nichts. Der Höllenhund schnappte nach dem getrennten Teil. Jetzt lachten alle, lachten, lachten und das Lachen hallte nach, es war das schallende Hohngelächter von hundert Teufeln, die ihre Dreizäcke schwangen und auf Quinns Unterleib herumtanzten. Feuer loderte in seinem Körper – Höllenfeuer. Zwei Stockwerke tiefer in der unterirdischen Anlage ließ sich Scheich Bassan auf welche, grün bestickte Kissen nieder. Er streckte ein Bein auf den kunstvoll geknüpften Teppich, das andere hielt er angewinkelt und benutzte es, die Zeitschriften darauf abzulegen. Ihm gegenüber hatte es sich Al-Zahiri, der Operationschef der AQ, bequem gemacht. Nachdenklich strich er sich den langen, dünnen, gräulich weißen Bart. »Und, haben wir die Informationen?« Bassan verneinte kopfschüttelnd. »Der Amerikaner will nicht reden.« »Dann soll er zur Hölle fahren!« Bassan deutete behutsam auf die drei New Yorker Magazine, die er in Quinns Tasche gefunden hatte. »Unsere Nachrichten aus Aden und Islamabad sind keine Beweise. Nur Indizien, Sidi. Quinn ist vermutlich ein harmloser Fotoreporter, einer dieser naiven Amerikaner, die unser Land mit Hot Dogs, Jeans und Coca-Cola bekehren wollen.« »Was führt dich zu dieser Ansicht, Bruder?« Die mit grünen Teppichen behängten Wände verliehen dem Raum eine behagliche Wärme. Bassan räkelte sich. »Ich habe eben seine Artikel in diesen Heften studiert. Der New Yorker ist ein prominentes Magazin mit großer Auflage, das in ganz Amerika gelesen wird.« »Na und?«, wandte der andere ein. »Die perfekte Tarnung für ihre Agenten, nicht?« 172
»Sicher«, räumte Bassan ein. »Aber das spielt keine Rolle.« Der Operationschef hob erstaunt die Brauen. Er blickte interessiert auf das Heft, das ihm Bassan entgegenhielt. Auf der Titelseite lächelte ein unverhüllter Frauenkopf vor dem blauen Hintergrund des Meers. »Quinn hat diese Hefte vermutlich dabei, um mit seinen Arbeiten zu beeindrucken«, erklärte Bassan und strich mit dem Zeigefinger über die glänzende Titelseite. »In diesem hier hat er die Amerikanerin fotografiert.« Al-Zahiri blätterte durch das Magazin, runzelte missbilligend die Stirn, als vermisse er aufreizende Nacktaufnahmen der abgebildeten Schönheit. »Die Fotos sind hervorragend, aber die Geschichte dieser Frau könnte unserer Sache nützlich sein«, meinte Bassan bedeutungsvoll. Der CO machte große Augen, schwieg. Er wusste, dass Bassan bisher nur brauchbare Vorschläge unterbreitet hatte. Ein feines Klirren unterbrach die Stille, als ein junger Taliban ein Tablett mit Teekrug und Tassen hereintrug und respektvoll stehen blieb. Die Männer ließen den Jungen einschenken, während sie in den Heften blätterten. Die Reportage, die Bassan meinte, zeigte eine lächelnde Frau an verschiedenen Orten – mal ans Geländer einer Terrasse lehnend, dann wie sie vor einem der Zwillingstürme in Manhattan über den Platz spazierte. Mit Büchern in der Hand sah man sie in ihrem Büro lächeln, und eine offensichtlich ältere Aufnahme stammte vom sommerlich grünen Gelände einer Hochschule in Kalifornien. Die Aufnahme, die Al-Zahiri am besten gefiel, hatte Quinn in einem rötlich abgedunkelten Theater aufgenommen. Die Frau trug lange weiße Gewänder, ein elegant geschlungenes Kopftuch. Sie schien in der Luft zu schweben. »Der Mann fotografiert gut«, murmelte er. 173
Bassan nickte, wartete. »Soll er uns etwa als Fotograf nützlich sein?« Bassan bewegte unverbindlich die Schultern. »Möglich, aber ich dachte an etwas anderes.« Während der Operationschef an seiner Tasse nippte und an einem dünnen Brotfladen knabberte, erläuterte Bassan sein Konzept. Die Frau habe Bewegungspsychologie studiert, als Schauspielerin und Tänzerin gearbeitet und stehe heute im Dienst einer speziellen Abteilung der amerikanischen Marine, die sich darauf spezialisierte, Gesten und Gebärden von Staatsmännern zu lesen, die meistens aus Ländern kommen, die den USA Probleme verursachen … Al-Zahiri lachte auf. »Fidel Castro, der Iran, Saddam Hussein …« »Genau. Die Leute in der speziellen Abteilung dieser Frau entdecken in den Gebärden Schwächen und Marotten, die sie dann gezielt ausnützen.« »Aus diesem Grund lassen wir uns nicht fotografieren«, grinste der Operationsleiter, um gleich eine ernstere Miene aufzusetzen. »Wir müssen Osama darüber informieren, dass er auf den Videos, die wir planen, noch stoischer, noch unbeweglicher wirkt.« »Gute Idee«, lobte Bassan. Al-Zahiri winkte unwirsch ab. »Weiter, was kann sie sonst noch?« »Im Bericht ist es nur andeutungsweise enthalten, was sie sonst noch leistet. Es steht hier, dass sie Personen imitieren kann und – hören Sie gut zu, die Regierung hat sie als Doppelgängerin der neuen First Lady angeheuert.« »Steht das so im Bericht?«, zweifelte der CO.
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»Meine Interpretation, Sidi, aber wenn einer es weiß, dann Quinn. Er hat das Interview gemacht, sie besucht, mit ihr zu Abend gegessen, vielleicht hat er sie sogar …« Auf einen Wink des CO verstummte Bassan, dessen Erfahrung mit allen Aspekten einer freien Gesellschaft ihn immer wieder einholte und anwiderte. »Es heißt im Text nur, dass sie auch für das Weiße Haus eine nicht näher bezeichnete Aufgabe übernommen hat. Schau dir das Bild an. Fällt dir etwas auf?« Der CO schüttelte missbilligend den Kopf. »Ein unverhülltes Frauengesicht ist eine schamlose Beleidigung des Propheten.« »Sie gleicht zum Verwechseln der Frau des amerikanischen Präsidenten, der seit diesem Jahr im Amt ist«, meinte Bassan vieldeutig. »Ich kenne ihr Gesicht nicht so genau. Was willst du jetzt tun, Bassan?« Bassan nahm sorgfältig einen Schluck Tee aus der goldverzierten Tasse, räusperte sich. »Quinn erzählt uns alles über dieses Weibsbild, dann forschen wir über unsere Zelle in New York nach, ob sie im Großen Plan eine Rolle spielen kann.« Einen Moment zweifelte Bassan, ob sein Gegenüber über die von Scheich Khalid angeführte Zelle im Herzen Amerikas Bescheid wusste, aber er fragte nicht nach. Es galt das Prinzip, dass jeder von ihnen nur so viel wissen musste, wie nötig war, um seinen personenspezifischen Auftrag auszuführen. »Und angenommen, die Informationen sind brauchbar, was wäre dann dein Plan, Bruder?« Bassans Augen funkelten unternehmungslustig, als er sich nach vorne beugte. Er sprach lange, so leise flüsternd, dass niemand, der eventuell in der Nähe lauschte, etwas verstanden hätte. 175
Nur einmal drang die Frage hörbar in den Raum: »Und du bist sicher, Bassan, dass diese – eh – diese First Lady regelmäßig in einen der Zwillingstürme geht?« Bassan nickte heftig. »Genau. Einmal im Monat, an einem Dienstag. Schon bevor sie ins Weiße Haus kam, ging sie öfters heimlich nach Manhattan. Immer in einen der großen Türme, diese Totempfähle des Amerikaners.« Es war jetzt Mai im Jahre 2001 westlicher Zeitrechnung, der neue US-Präsident erst fünf Monate im Amt. Doch die Gewohnheiten seiner Frau schienen sich nicht geändert zu haben. Eben darüber wollte sich Bassan noch ein besseres Bild machen. Sie blickten eine Weile schweigend vor sich hin. Dann redeten sie wieder sanft und leise, machten ab und zu Handbewegungen, neigten die Köpfe, lächelten. Der Tee war längst erkaltet, da blickten sie einander leuchtenden Auges an. »Ein guter Plan – nein, ein fantastisches Konzept, mein Sohn«, lobte der CO mit Bewunderung in der Stimme. »Ich werde im Rat darüber reden. Osama wird entscheiden. Besorge mir alle nötigen Einzelheiten. Und eins ist wichtig – lass alles von Bronx bestätigen. Die Gewohnheiten, die Zeiten, wir brauchen Lagepläne, alles! Übrigens, wie heißt die Frau?« Bassan antwortete, ohne lange zu überlegen. »Leslie Palmer heißt sie.« Sie trennten sich unzeremoniell. Eine Stunde später verfasste Bassan eine sorgfältig redigierte und verschlüsselte E-Mail. Es gab noch viel zu tun. Aber ein verheißungsvoller Anfang war gemacht. Bronx wird mich nicht im Stich lassen, sinnierte er, als er die E-Mail mit einem Klick abschickte. Man schrieb den 25. Mai 2001. Dieser Rick Bronx, wusste Bassan, war der geheime Topagent der al Qaida, der tief verdeckt mitten im CIA-Hauptquartier in Langley arbeitete und in der bevorstehenden Operation Großer 176
Plan eine Schlüsselrolle spielen würde. Wenn alles klappte, was Bassan plante, würde … er lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Insh’Allah! Allah hat das Buch des Lebens geschrieben. Allah allein kennt jedes Wort darin!
42 Als Quinn tief aufseufzend zu sich kam, fühlten sich seine Hände anders an. Auch die Beine. Jählings begriff er – er war nicht mehr gefesselt! Vorsichtig bewegte er die Arme, tastete mit den Händen nach unten. Der Höllenhund! Die aufkeimende Panik erwies sich als unbegründet. Er atmete auf. Alles war noch vorhanden, offenbar einigermaßen heil und ganz, jedenfalls nicht abgeschnitten. Auf die Ellenbogen gestützt schaute er an sich herunter. Die Brust, der Bauch, sein Unterleib, alles war mit Watte und Verbandstoff notdürftig abgedeckt. Blut sickerte durch. Jemand hatte seine Kleider auf den Hocker neben seine Tasche gelegt. Eine Wasserflasche stand auf dem Tisch, wo der Folterer seine Messer ausgebreitet hatte. Quinn erhob sich stöhnend, setzte die Beine auf den Boden, stand vorsichtig auf. Schwankend griff er nach der Flasche, trank gierig, spritzte Wasser über sein brennendes Gesicht. Darauf streifte er das Hemd über, zog vorsichtig die Hosen an, ohne die notdürftigen Verbände zu verschieben. Kaum war er mit dieser umständlichen und schmerzhaften Arbeit fertig, als die Tür aufging, die sadistisch-perverse, wild bärtige Fratze des Folterers ihn hämisch angrinste. Quinn wich zurück. Lustvoll mit der Zunge schnalzend, zückte der Quäler sein Folterskalpell, machte die primitiv eindeutige Gebärde des
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Penis-Abschneidens, stieß ihn grob zur Tür hinaus in den schmalen Korridor. »Sie haben eine letzte Chance, Quinn. Wenn Sie nicht kooperieren, überlasse ich Sie dem da«, sagte Bassan in der grünen Kammer mit erschreckender Endgültigkeit. Mit einer unwirschen Kopfbewegung gab er dem Folterknecht das Zeichen zum Abgang. Quinn biss sich auf die Lippen. Vor Wut und Angst bebend wäre er diesem sich so ekelhaft zivilisiert gebenden Bastard von einem Araber am liebsten an die Gurgel gegangen. Mit aller Verachtung, die er aufbringen konnte, stieß er hervor: »Schweine, barbarische Schweine. Ein perverses Pack, ein …« Bassan lächelte mokant. »Wir machen doch bloß, was uns deine Leute gelehrt haben.« Dann erklärte er, worum es ging. Er sprach vom New Yorker, von Quinns Reportagen, von der porträtierten Frau und davon, dass er alles über sie wissen wollte. Lückenlos … Quinn fuhr ihm störrisch in die Rede. »Ich will einen Arzt, ich brauche Schmerzmittel. Und ich stinke wie ein Pariser Pissoir.« Bassan schaute ihn gefährlich lange an. »Eines sei klargestellt, Quinn. Sie stellen keine Bedingungen, keine Fragen, keine Forderungen. Sie bleiben Gefangener der al Qaida. Wenn Sie meine Erwartungen erfüllen, wenn Ihre Informationen uns nützlich sind, und nur dann, können wir Sie vielleicht eines Tages im Austausch gegen zehn unserer Leute frei lassen, die von der CIA im Lager von Bagram eingesperrt sind. Und was das Stinken anbetrifft, danke für Ihr Mitgefühl, aber an Gestank gewöhnt sich jeder, der mit Amerikanern zu tun hat.« Er gab ein Zeichen, worauf ein Gehilfe heraneilte und eine Videokamera auf eine alte Truhe stellte, die aussah, als würde demnächst ein Skelett den Deckel aufstoßen. 178
Bassan legte die Kassette ein, kommandierte scharf. »Sie erzählen mir über diese Frau, diese Leslie Palmer.« Er hob demonstrativ ein New Yorker Magazin in die Höhe, fuhr kalt fort: »Ich will alles hören. Bin ich zufrieden, bekommen Sie einen Arzt und zu essen, wenn nicht, machen wir Sie zur Leiche – zu einer sehr langsamen Leiche.« Letzteres war kein Vorschlag, kein Befehl, es war ganz einfach Erpressung pur. Reden oder sterben. Quinn nickte schwach Zustimmung. Was blieb ihm anderes übrig hier, in der Tiefe der scheußlichen Katakomben der Al-Qaida-Festung? Mit kaltem Schaudern beantwortete er im Innern seine eigene Frage: Was dir übrig bliebe, Alter Junge, wäre der Höllenhund!
43 Quinn begann zu erzählen: »Leslie Palmer ist Professorin für strategische Forschung am Naval War College. Sie ist diplomierte Bewegungsanalystin im Labor für Personeneinschätzung des Verteidigungsministeriums. Ihr Arbeitsort ist im World Trade Center, Manhattan, im Gebäude WTC 7, direkt neben den Zwillingstürmen. Viele Geheimdienststellen haben dort Büros auf mehreren Etagen, unter anderen die CIA und der Bundessicherheitsdienst NSA. Die Steuerbehörde sitzt im gleichen Gebäude. Tief im Keller liegt der nukleargepanzerte Notstandsbunker des Bürgermeisters von New York.« Die Videokamera lief. Nützlich, recht nützlich, das, dachte Bassan und forderte den Gefangenen mit einer Handbewegung zum Weiterreden auf. Quinn fuhr mit schleppender Stimme fort: »Es hat mit Alabama zu tun. Dort liegt die Maxwell Air Force Base. Leslie Palmer hat da einige Zeit gearbeitet, bevor sie an die Ostküste zog.« 179
Quinn schaute gespannt in die Gesichtszüge Bassans, ob dem diese geographischen Angaben etwas bedeuteten. »Auf dem Stützpunkt betreibt die Air Force ein Counterproliferation Center, es geht dabei …« Bassan fiel ihm wichtigtuerisch ins Wort. »… um das Verhindern der Verbreitung von Nuklearwaffen an Schurkenstaaten.« »Mehr als das, was jeder weiß«, parierte Quinn mit unverhohlener Genugtuung. »Die USA, erzählte mir Leslie Palmer, haben es lange vernachlässigt, sich mit ihren Feinden zu beschäftigen. In der Armee, für taktische Zwecke im Kampf, lernen die Kommandanten als eine der Grundregeln, den Feind zu kennen, seine Stärke, die Waffen, die er einsetzen kann, wie er seine Truppen organisiert und wer diese kommandiert.« Der Araber machte ein besorgtes Gesicht, ganz als hinge sein Konterfei schon in jedem Kommandoposten des amerikanischen Feindes an der Wand. »Also weiter!« »In der Politik hingegen, im Weißen Haus selber, aber auch im State Department, wo die Strategie der Außenpolitik konzipiert wird, hat man es völlig verfehlt, den Gegner zu analysieren und zu verstehen. Leslie meinte in erster Linie die Führer von Schurkenstaaten wie Nordkorea, Libyen, Syrien, Iran und Terroristengruppen wie …« Quinn zögerte. »Al Qaida?« »›Kenne deinen Feind‹, lautet das wissenschaftliche Programm, an dem Leslie Palmer maßgeblich beteiligt ist. Es ist die uralte Herausforderung, ausländische Führer genau einzuschätzen und solche Beurteilungen realistisch brauchbar zu machen.« Bassan neigte den Kopf, als wiege er den Gedanken ab. Je länger er zuhörte, desto nützlicher schien ihm dieser Bursche. »Es ist ein beinhartes Geschäft, an die wahre menschliche Identität heranzukommen, das Verhalten verschlossener, 180
komplexer Persönlichkeiten vorauszusagen, zu denen wir keinen Zugang haben und die noch dazu über Massenvernichtungswaffen verfügen«, dozierte Quinn herablassend. »Trotzdem muss man sich fragen, warum Amerika, warum wir im Land der unbegrenzten Möglichkeiten das erstklassige Wissen unserer Wissenschaftler nicht zum Tragen bringen konnten, um diese Lücke zu schließen.« Quinn atmete durch, versuchte abzuschließen. »Das Meiste davon steht in meinem Artikel.« Bassan gab sich überlegen informiert. »In Alabama haben sie die Lücke geschlossen, vermute ich.« Quinn ging nicht auf den Köder ein. »Palmer hat auf diesem Gebiet Karriere gemacht. Sie hat mir einiges erzählt. Unglaubliche Geschichten.« Ein Taliban brachte Tee. Der Araber legte eine neue Videokassette ein. »Erzählen Sie weiter, Quinn.« Ungefähr zur gleichen Zeit überflog Operationschef Al-Zahiri ein Stockwerk tiefer in seinem bequem eingerichteten Kommandoposten das Interview im New Yorker. … Hat sie ihren Abschluss an der Tufts Universität gemacht. Die Lehre von Reich über den Muskelpanzer faszinierte sie, und so begann sie eine Laufbahn mit dem Analysieren von Gebärden und Bewegungen, Fokus auf Menschen, die Geschichte schrieben. Hitler zum Beispiel … … Es kommt sehr darauf an, wie jemand geht, wie eine Person im Zimmer umherschaut, wie sie mit etwas herumspielt oder an etwas fummelt. Auf den ersten Blick scheinen solche Bewegungen völlig harmlose Merkmale zu sein, auch für prominente Leute wie Staatschefs. … Für sie können sie triftige Anhaltspunkte sein, wie die betreffende Person in kritischen Situationen handeln wird. Sie geben ihr aufschlussreiche Einblicke, um das Verhalten von Staatschefs dieser Welt zu entschlüsseln und vorherzusagen. 181
Das Benehmen eines Leaders entsteht aus Impulsen und Neigungen, die er im Körper spürt … Al-Zahiri schnalzte frustriert mit der Zunge, blätterte weiter zum Interview. Palmer: Ich verarbeite unzählige Fernsehaufnahmen von Interviews, Ansprachen und Pressekonferenzen. Es geht um jahrelange Analysen. Natürlich habe ich auch Zugriff auf die Bandaufnahmen der Geheimdienste, die alle Fernsehprogramme lückenlos registrieren und abspeichern. Quinn: Können Sie ein Beispiel geben? Palmer: Einmal untersuchte ich Videoaufnahmen eines Mannes, der im Nordirak an einer Veranstaltung erschien und von dem einige Experten glaubten, er sei ein Doppelgänger. Quinn: Ein Double von Saddam Hussein? Palmer: Richtig. Im Labor habe ich die Bewegungen des Diktators über gut 20 Jahre analysiert und bemerkte sofort eine typische Bewegung – der Mann schnippte seinen Finger in die Luft, nachdem er sich am linken Auge gekratzt hatte. Quinn: Ziemlich banal, finden Sie nicht auch? Palmer: Nicht für mich. Diese Gebärde bestätigte, dass dieser Mann der echte Hussein war. Sein Stresszeichen war, mit dem Finger zum Augendeckel zu gehen. Die plötzliche Schnippgeste nach dem Augenreiben könnte Husseins plötzliche Aktionen wie die Invasion Kuwaits 1991 erklären. Quinn: Ich weiß, Sie verraten Ihre Methoden nicht. Trotzdem – wie gehen Sie vor? Palmer: Erfolg kommt erst und nur, wenn ich Bewegungen über längere Zeit studiere, um daraus ein bestimmtes Verhaltensmuster abzuleiten. Ich habe Putin lange studiert. Der russische Präsident hat eine Neigung zu undemokratischer Politik. Er ist schwer zu lesen und hyperwachsam.
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Quinn: Sie trainieren auch Staatschefs, sich richtig zu bewegen? Palmer: Nein. Die meisten der Leader verfügen über eine koordinierte Ausdrucksweise, mit der sie jede Gebärde einer Hochdrucksituation anpassen können. Ihr aufmerksamer Blick, die Haltung des Rückgrats, die Gebärden, man hört es geradezu vibrieren. Wenn jemand seine Ausdrucksweise so gekonnt koordiniert, kann er sich bei öffentlichen Auftritten zur Höchstleistung steigern. Ronald Reagan, Gorbatschow und Fidel Castro beherrschen diese Kunst meisterhaft. Quinn: Hört sich an wie eine sportliche Leistung. Palmer: Allerdings. Die Bewegungskontrolle von Politikern kann tatsächlich mit denen von Athleten verglichen werden, die alle Muskeln im richtigen Moment zur Höchstform bringen. Sie lockern sich, lassen den Körper spielen und geben Vollgas. Politische Führer, die es richtig machen, erreichen die gleiche eindrückliche Wirkung. Machen sie es falsch und sind verkrampft, kann man zusehen, wie sie leiden und dementsprechend auch ihr Land darunter leiden kann. Quinn: Sie sind doch Schauspielerin. Palmer (lacht): Eigentlich war ich Tänzerin. Tanzen ist äußerste Körperbeherrschung, deshalb sind Schauspielerinnen oft auch gute Tänzerinnen. Du lernst, dich durch Bewegung auszudrücken. Quinn: Sie sehen der First Lady ähnlich. Kennen Sie einander? Palmer: Ich habe sie einmal in Washington getroffen, aber da gibt es weiter nichts zu erzählen. Quinn: Sie haben wohl für die First Lady den Präsidenten analysiert? Palmer (lacht): Nein, aber ich spielte kürzlich ihre Rolle während eines Empfangs für japanische Geschäftsfrauen – nur so, mehr aus Jux. 183
Al-Zahiri legte die Zeitschrift weg, strich nachdenklich über den langen Bart. In der grünen Kammer einen Stock höher war Bassan Ungeduld anzumerken. Er stand auf und betrachtete einen silbernen Krummdolch auf schwarzem Samt, der eingerahmt an der Wand hing – ein Geschenk aus dem Jemen. »Erzählen Sie mir vom Auftrag der Palmer für das Weiße Haus.« Quinn, der Palmer hoch und heilig sein Journalistenwort gegeben hatte, kam der Aufforderung nur zögernd nach – und nur nachdem ihm die schweißglänzende Fratze des Höllenhunds durchs Hirn gefahren war. »Sie ist als Doppelgängerin vorgesehen, falls das Weiße Haus bedroht ist. Mehr weiß ich nicht.« Letzteres war erfunden, wenn auch nicht ganz frei. Leslie hatte ihm anvertraut, dass sie die Rolle des Doubles der First Lady einübte, ihre Mode studierte und alle ihre Gebärden analysierte. Es fällt mir leicht, erinnerte er sich an ihre Worte. Ich fühle mich ihr verbunden. Bassan fuhr hoch, riss Quinn mit blitzschneller Bewegung das Pflaster von der Nase. »Alles!«, keifte er. »Alles habe ich gesagt!« Quinn biss die Zähne zusammen, hielt sich die schmerzende Nase, wischte das frische Blut mit dem Handrücken weg. Der plötzliche brutale Angriff hatte den letzten Rest von innerem Widerstand gebrochen. Geradezu erleichtert erzählte er dem Araber alles, was ihm Leslie Palmer über ihren Job im Weißen Haus anvertraut hatte.
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44 Während einer der folgenden Nächte wälzte sich Quinn von wirren Träumen geplagt auf der harten Pritsche seiner engen Zelle. Wilde Bilder flossen ihm zu: Schwerelos sah er sich über eine öde, braune, schweflig stinkende Wüstenlandschaft schweben – tief unten lag das Trainingscamp im Norden des Jemen, wo er nach der Fotoreportage über die Polizeisonderkräfte die Nacht verbracht hatte. Dunkelhäutige Nackte winkten ihm. Er stand vor einer grünen Tür mit goldenem Knauf, sie öffnete sich, und er trat in einen Hof mit einem aus Fliesen und Mosaik geformten Springbrunnen, der totes, rotes Wasser spie – Blut! Und da thronte der schweißüberströmte Amerikaner mit hartem, nussbraunem Gesicht und einer dicken Zigarre im schiefen Mundwinkel auf einem Haufen dicker Teppiche. Er glotzte ihn an, umschmiegt von verschleierten Frauen in weißen Gewändern, die die Rundungen ihrer schönen Körper verführerisch durchscheinen ließen. Orientalische Musik füllte den Raum, Schüsse durchbrachen die unheimliche Stimmung. Von draußen rief der Chefredakteur des New Yorker, man solle die Kamele satteln. Und auf einmal schossen aus dem Nichts aufgetauchte Leibwächter auf ihn, er spürte stechenden Schmerz überall im Körper, schrie – wachte auf. Ein Wächter öffnete Quinns Zellentür, schaute mürrisch hinein, deutete auf die Flasche Wasser am Boden. Quinn fand in die Realität zurück. Der absurde Traum erinnerte ihn an den arabisch anmutenden Amerikaner von damals, als er nach dem blöden Unfall mit dem alten italienischen Roller nicht weit vom Ausbildungscamp mit einem blutenden Arm das verlassene Hospital entdeckt hatte. Erschießen statt heilen, hatte der Amerikaner im Operationssaal entschieden. 185
Im Hof brannten Feuer auf Holzstößen. Bewaffnete stießen ihn mit den Gewehrkolben daran vorbei hinter eine Mauer. Quinns Schicksal wäre in dieser Stunde besiegelt gewesen, wären nicht Soldaten mit angeschlagenen Maschinenpistolen aus einer Staubwolke ihrer Jeeps in den Hof geprescht. Militärpolizei. Allen voran ein schlanker, schmalgesichtiger Offizier mit schwarzem Haar. Die schwere Pistole in der Faust, gab er knappe Befehle, ohne jedoch zu schreien – streckte den Mann, der neben Quinn seine Kalashnikov hoch riss, mit gezieltem Schuss nieder. Quinn begriff erst später, dass er offenbar eine geheime Besprechung gestört hatte. Wer war der Mann? Was hatten seine als Pfleger getarnten Schergen in dem längst geschlossenen Spital gemacht, bevor die meisten sich der Verhaftung durch Flucht entzogen hatten? Wo war der Amerikaner geblieben? Jedenfalls blitzten Quinn seitdem das harte, zornig gerötete Gesicht, die hängenden Mundwinkel, die blauen oder grauen Augen, die ihn kalt anstarrten, immer wieder in der Erinnerung auf. Je länger er sich über den grotesken Traum Gedanken machte, desto mehr hätte er schwören können, dasselbe Gesicht einen Monat später im Hafen von Aden wiedererkannt zu haben. Quinn war praktisch in den Amerikaner hineingerannt, als er nach dem Fotografieren im Marinestützpunkt zur Stadt zurückschlenderte. Der Amerikaner war in Begleitung eines Arabers und trug einen hellgrauen Anzug, absolut westlich im Schnitt. Die Gesichtshaut war rau wie Apfelsinenschale. Das Haar trug er im Bürstenschnitt. Der rasch kaschierte, verblüffte Ausdruck des Mannes verriet Quinn, dass der ihn wiedererkannt hatte. Als er merkte, dass sie ihm folgten, hatte Quinn sich rasch abgesetzt, war in eine Kneipe geflüchtet, hatte sich unter die Einheimischen gemischt. Der Kleiderschrank von einem Wirt, mit breitem Gesicht und wildem schwarzem Vollbart, zeigte ihm 186
den Hinterausgang, als der Amerikaner, jetzt von zwei muskulösen Typen flankiert und nach Quinn Ausschau haltend, eintrat. Seidenweiche Haut strich gegen Quinn, dunkle Augen im verhüllten Gesicht tauchten in seinen fragenden Blick. »Das ist Rick, der Amerikaner«, flüsterte die Schöne.
45 Die Höhle der Gefährten hatte ihre Bezeichnung in der Zeit erhalten, als Rick Bronx die Dschihadisten im Kampf gegen die sowjetischen Besatzer an Waffen und Sprengstoff ausbildete und der junge, hoch angesehene Milliardär Osama bin Laden Geld aus seinem saudischen Familienimperium in den Aufbau eines Bunkersystems am Hindukusch pumpte. Bin Laden hatte beschlossen, Projekte zu finanzieren, die für den Heiligen Krieg nützlich waren, Straßen in den Bergen zu bauen, Tunnel und Höhlen hinein zu brechen, die dem afghanischen Mudschahidin Schutz vor Luftangriffen boten. Die riesige Baufirma Bin Laden schickte Bagger, Bulldozer und Elektrogeneratoren, Betonmischer und Stahl nach Afghanistan. »Hier habe ich unsere Verwundeten behandelt«, berichtete AlZahiri mit sehnsüchtigem Unterton und zog Bassan am Ärmel zum hellen Licht des Ausgangs. In der Höhle fand eine Musterung statt. Auf zwei Gliedern standen ungefähr achtzig Dschihadisten stramm mit umgehängten Gewehren, den Blick geradeaus, und warteten auf den Inspizienten, der langsam die Reihe abschritt. »Die Höhle war damals Sammelpunkt der verschworenen Anführer, später als die Russen einfielen, unser Lazarett«, erläuterte Al-Zahiri. Sie schritten zum Vorplatz des Höhleneingangs, blickten auf das grell erleuchtete Land hinaus. 187
»Wir werden die Höhle der Gefährten leider aufgeben müssen. Wenn der Große Plan durchgeführt ist, wird es hier Bomben hageln.« Bassan lehnte sich an den von Staub weißen Geländewagen und schaute zu der mit Beton verstärkten Decke der Höhleneinfahrt auf. »Wie sicher sind wir in Tora Bora?« Al-Zahiri schien ihm nicht zuzuhören. Seine Augen hatten einen sonderbaren Glanz angenommen, schweiften in die Ferne, als erblicke er dort eine wunderbare Verheißung. Plötzlich wandte er sich ruckartig um. »Weißt du, Bruder, als Chirurg im Kampf habe ich mir vor einer Amputation immer den möglichen Ausgang überlegt. Erfolg oder Misserfolg. Diesmal wird die Amputation gelingen.« »Wie bitte?«, fragte Bassan. Al-Zahiri schüttelte den Kopf, ganz der Stratege. »Der Große Plan, mein großer Plan, ist einfach fantastisch.« Sein Antlitz glühte förmlich, als er dozierte: »Unseren Nachfahren werden wir von Großtaten berichten können. Die Operation ist ein gewaltiger, simultaner Angriff auf vier strategische Ziele des Amerikaners. Mir gefällt die Tarnung unserer Leute: Sie bezeichnen die Gebäude, die wir zerstören werden, als Fakultäten. Die Decknamen sind genial. Niemand schöpft Verdacht, wenn Bruchstücke unserer Kommunikation abgefangen werden und die Rede von Universitäten, Professoren, Semestergebühren ist. Kein Mensch wird auf die Idee kommen, dass der Tag des Einschreibeschlusses an den Fakultäten das Angriffsdatum kaschiert.« Bassans Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Ist es der 11. September?« »Hängt von Bronx ab. Er klärt ab. Die Piloten sind bereit.« Aus der Höhle drangen begeisterte Kampfrufe und Waffenlärm, als die Krieger ihren Drill an den Kalashnikovs vorführten. 188
»Wir führen einen vierfachen Vernichtungsschlag«, sagte AlZahiri so leise, als hätten die Bunkerwände Ohren. »Die Zwillingstürme in New York – diese Totempfähle, ich glaube, sie werden als Wirtschafts- und juristische Fakultät bezeichnet, dann zwei Ziele in Washington, das Kapitol, in dem ihr Parlament tagt, und das Pentagon.« »Warum nicht das Weiße Haus?«, murmelte Bassan. »Man sagte mir, das Weiße Haus sei schwierig anzufliegen, nicht aber das Pentagon. Wir überlassen diese Entscheidung den Piloten.« »Vorausgesetzt, es gelingt, Bruder«, mahnte Bassan mit sanfter Stimme. »Allah Akbar, Bruder. Allah ist groß. Der Große Plan heißt so, weil Allah groß ist. Einer unser Flieger wird durchkommen, vielleicht zwei, der Schock wird die Amerikaner lähmen, die Erschütterung alles übertreffen. Ein Blitz aus heiterem Himmel.« Al-Zahiri fuhr mit der geballten Faust schneidend durch die Luft. »Was die Japse in Pearl Harbor gemacht haben, wird gegen unsere tollkühnen Taten verblassen. Wir stoßen den Amerikaner mit der Nase in den Staub, treffen seine Wirtschaft mit einem frontalen Schlag. Der Mythos vom großen Amerika wird einstürzen.« »Wir rechnen mit fünftausend Toten«, sagte Bassan. »Gut. Je mehr, desto besser. Schmerz, Wut und Trauer wird den Amerikaner zerreißen. Dann, Bruder, wenn alle glauben, es ist vorbei, wenn sie fassungslos wieder Atem schöpfen, fällt der Genickschuss. Phase Zwei ist der endgültige Vernichtungsschlag.« Er legte beide Hände auf Bassans Schultern, schaute ihm tief in die Augen. »Überraschend!«, deklamierte er theatralisch. »Im Ausmaß noch schrecklicher als der Große Plan! Wir töten den Präsidenten des Amerikaners, den Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Und seine eigene Frau wird ihn umbringen. Wir 189
machen die First Lady zur Selbstmordattentäterin. Sie gibt ihm den wohlverdienten Gnadenstoß!« Bassan wich überrascht zurück. Er rieb sich das bärtige Kinn, die Augen funkelten listig. »Genial, Bruder! Lass uns dem Plan einen Decknamen geben – Operation Cinderella! Ja, das passt. Sie steigt wie das Aschenputtel aus der Asche der Türme ins Weiße Haus …« Er hielt inne, als seien ihm Zweifel an seiner Idee gekommen. »Du glaubst, dass es funktioniert? Sie würde es tun?« »Ja, ich denke schon«, erwiderte Al-Zahiri im Brustton der Überzeugung. »Geh den Plan sorgfältig durch, Bruder. Sie hat gar keine andere Wahl. Entweder sie, oder ihre Brut.« »Du meinst ihre Zwillingssöhne?«, vergewisserte sich Bassan. »Ja, genau. Welche Mutter würde denn anders handeln, als den schweren Weg zu beschreiten? Soll sie etwa ihre Söhne opfern, um den Präsidenten zu retten? Einen Idioten, mit dem sie nichts verbindet? Ein fremder Mann. Niemals, Bruder, keine Mutter dieser Erde lässt ihr eigenes Fleisch und Blut im Stich. Nein, tut sie nicht, und ja, ich bin überzeugt, Bruder, dass es klappt.« »Bronx hat gute Arbeit geleistet.« Al-Zahiri nickte fast unmerklich, dunkle Glut schwelte in seinen Augen. »Nicht auszudenken, was passiert. Stell dir vor, Bruder, der Amerikaner ist am Boden zerstört. Gelobt sei Gott! Der Mythos von der Nationalen Sicherheit ist zerfallen. Die Wahrzeichen liegen in Trümmern. Mitten ins Herz getroffen muss er zusehen, wie der Präsident, statt das Land aus der Krise zu führen, von seiner Frau gemeuchelt wird. Von seinem eigenen angetrauten Weib! Ist das denn noch zu fassen? Der Schock wird tiefer sitzen als je zuvor. Wir werden den Mythos ihrer Geheimdienste zerstören, Allah Akbar!« »Sie werden uns mit Atombomben ausradieren«, gab Bassan zu bedenken. 190
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Sie müssten ja erst einmal dahinterkommen, dass die First Lady ein Double ist, das wir präpariert haben. Abgesehen davon, würde die Welt einen Atomkrieg nie billigen.« »Viel hängt von Bronx ab.« »Ich weiß, er ist der Einzige, der – äh – die Operation zum Erfolg führen kann. Wie soll sie noch mal heißen?« »Operation Cinderella«, gab Bassan begeistert zurück. Al-Zahiri runzelte die Stirn. »Warum ein westlicher Name?« »Weil das unauffälliger ist«, erwiderte Bassan ohne Zögern. »Wählen wir einen Begriff aus unserer Sprache, und sie fangen ihn auf, du weißt, mit ihren Supercomputern, die alles, was durch den Äther schwirrt und über fiberoptische Kabel ins Land kommt, nach bestimmten Schlüsselwörtern absuchen, dann mobilisieren sie aufgeschreckt ihre Koranexperten und Sprachspezialisten, sind hellwach und werden keine Ruhe geben, bis sie dahinterkommen, was hinter dem arabischen Decknamen steht.« Bassan hielt inne, als wolle er Atem holen, hob dann bedeutungsvoll den Finger, zog die Brauen hoch. »Aber ein westlicher Name? Cinderella? Da denken die Amerikaner doch nur an ihre Disney-Trickfilme … an die Kürbiskutsche, die ihr Aschenputtel um Mitternacht abholt – absolut harmlos. Keiner wird aufgeschreckt!« Bassan gab ein schallendes Lachen von sich, doch Al-Zahiris Gesichtsausdruck blieb streng. »Du magst Recht haben, doch …« Des Teufels Advokat spielend, fiel Bassan ihm ins Wort. »Allerdings könnte Bronx Operation Cinderella verraten.« »Ich denke nicht an Verrat«, widersprach Al-Zahiri. »Bronx ist vollkommen loyal. Ein verlässlicher Einzelgänger ohne Schwachstellen.« »Du meinst, er hat keine wunden Punkte, wie eine Geliebte, Alkoholsucht, Geldsorgen, üppiger Lebenswandel …« 191
»Ja, das meine ich. Er hat nichts dergleichen. Er sitzt fest im Sattel in der Zentrale des Amerikaners. Osama legt für ihn die Hand ins Feuer.« Bassan gab sich nicht zufrieden. »Kennst du den Grund, warum Osama ihm blind vertraut?« Al-Zahiri schwenkte einen gestreckten Arm über das Panorama der wilden Berglandschaft. »Sie haben zusammen gegen die Sowjets gekämpft.« »Das wissen wir. Das haben viele getan.« Al-Zahiri senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Es war Bronx, der Abdul Azzam in Peschawar erledigt hat.« Bassans Augen weiteten sich vor Erstaunen und Ehrfurcht. »Er hat die Autobombe gezündet? Das macht ihn für den Amerikaner zum Helden.« »Sicher. Mehr als das. Zu ihrem besten Mann. Wer einen meistgesuchten Topterroristen beseitigt, ist bis ins Weiße Haus über alle Zweifel erhaben.« »Ich verstehe. Gerade deshalb müssen wir vorsichtig sein«, gab Bassan zu bedenken. »Bronx könnte sich mit der Operation Cinderella unnötigerweise exponieren. Bis heute hat noch kein Hahn danach gekräht, was er genau macht, wie er operiert, welche Kanäle zu uns offen stehen. Das könnte sich ändern, wenn der Große Plan ausgeführt ist. Und wenn jemand anfängt, seine Loyalität zu hinterfragen … er eine Unvorsichtigkeit begeht … du weißt, wie das meistens endet.« Al-Zahiri hob einen rötlichen Stein auf, wog ihn mit fein gegliederter Hand. »Du meinst, Bronx ist ein Risiko?« Er ließ den Stein fallen. »Siehst du, dieser Stein kann hundert Jahre hier liegen oder morgen zu Staub zermalmt werden. Genau so ist das Leben. Es lässt sich nicht endgültig planen. Insh’Allah, wer weiß, ob uns morgen das Schicksal zermalmt?« »Du sprichst fatalistisch.« 192
»Nicht im Fall von Bronx«, widersprach Al-Zahiri. »Der wird sich hüten. Wenn Osama will, kann er ihn jederzeit dem Amerikaner ans Messer liefern. Verstehst du? Nichts einfacher als das. Oder wenn die Feinde nach dem großen Schlag Scheich Khalid gefangen nehmen, halten wir Bronx hier bei uns fest und tauschen ihn aus, wenn wir das wollen. Bronx weiß das natürlich. Ich glaube aber, er handelt aus voller Überzeugung für unsere gerechte Sache. Er hasst sein Land, Amerika.« »Unser militärisches Genie Khalid mit seinen kühnen Plänen wird an Cinderella seine große Freude haben«, kommentierte Bassan. »Deine Ironie ist nicht zu überhören, Bassan, hast du mit ihm gesprochen?« »Nein, es ist nicht klug, jetzt mit ihm zu sprechen. Aber Bronx …« »Bronx und Khalid sind Rivalen, denke daran …« »Sicher, Bronx trifft ihn regelmäßig in New Jersey, wo er lebt, und Bronx beklagt sich, dass Khalid sich jede Einmischung in die Planung und Ausführung verbietet.« Al-Zahiri schien den Einwand auf der Zunge zergehen zu lassen. »Wenn das stimmt, wird Osama ein Machtwort sprechen müssen«, beschied er abschließend. »Und was Bronx anbetrifft, wir zahlen ihm mehr als fürstlich. Du weißt es vielleicht nicht. Für den Großen Plan bekommt er zehn Millionen Dollar. Amerikanische.« Bassans Brauen stiegen bis unter den Haaransatz. »Kaum fassbar, dass er uns so viel wert sein soll.« »Keine Angst«, beschwichtigte Al-Zahiri, hämisch lächelnd. »Wir werden das Geld an ihrer Börse verdienen, indem wir vor dem Tag des Großen Plans mit ihren Aktien spekulieren. Bronx weiß, wie es läuft. In diesem Punkt ist Khalid mit ihm einig und stellt ihm seine Infrastruktur zur Verfügung. Trotzdem wird er, wenn alles gelaufen ist, vielleicht zur Belastung. Auch Khalid, 193
dieser Angeber. Dann wird der eine oder andere als Märtyrer in die Geschichte unseres heldenhaften Kampfes gegen die Ungläubigen eingehen.« Ein Taliban näherte sich respektvoll, blieb wortlos stehen. Als Bassan ihn ermunterte zu sprechen, mahnte er höflich, es sei Zeit zum Essen. Die Männer schritten gemächlich den Weg zurück in das Innere der großen Höhle der Gefährten. Bevor sie sich zu den andern Anführern gesellten, hatte Bassan noch eine Frage. »Und was werden wir der Welt sagen?« »Du weißt, Bruder«, meinte Al-Zahiri in belehrendem Tonfall, »Osama setzt viel mehr auf Fernsehbilder als auf ideologische Statements.«
46 In Brooklyn hatte sich Rick Bronx in Jeans und einem schwarzen, kragenlosen Baumwollhemd auf die Kante der grauen, mit Flecken übersäten Kunststofftischplatte gesetzt. Er ließ ein Bein baumeln, schaute ohne etwas wahrzunehmen auf das mit Papierstößen und Zeitschriften überfüllte Regal. Im engen Arbeitszimmer war alles grau – der Teppich, die zahlreichen Geräte, der Lampenschirm, der abgewetzte Bürodrehstuhl, den Rick mit einem Tritt des freien Fußes ärgerlich weg kickte. Er fuhr sich durch die grauen Schläfenhaare und marterte seine sich ebenso grau anfühlenden Hirnzellen mit Überlegungen, wo im Großen Plan die losen Enden liegen mochten. Der führende Kopf hinter der Planung aller Aktionen war Scheich Khalid. Bronx musste mit dem sich ramponiert und schwächlich in Szene setzenden Führer in New Jersey vor allem in der Vorbereitungsphase kommunizieren. Jetzt hielt er sich an 194
seinen Kampfgefährten Bassan. Verbindungen zu Khalid könnten sich verräterisch auswirken. Zwar galt der chaotische Typ als dunkles Genie im Untergrund, hatte aber auch einen Hang zum Protzen. Seine Seele kann das Erhabene nicht vom Geringen und Abgeschmackten unterscheiden. Bronx schüttelte sich angewidert. Khalid gab an, hinter den Anschlägen auf Kriegsschiffe in der Straße von Gibraltar gesteckt und den Lastwagenbombenanschlag auf das World Trade Center im Jahre 1993 ausgeführt zu haben. Er nahm eine unangefochtene Stellung bei der al Qaida ein, darüber machte Bronx sich keine Illusionen. Der Scheich hatte die Macht, traf allein die Entscheidungen: Operation Cinderella hatte er nur unter Druck seitens der Führung im Hindukusch widerwillig zugestimmt. Bronx hatte den Kontakt mit ihm tunlichst vermieden. Khalid war kein unbeschriebenes Blatt – als Angehöriger einer extremen Bewegung stand er sicher unter Observation. An Bassan hingegen konnte Bronx sich weiter halten. Der galt CIAintern einer Handvoll Eingeweihter als Superdoppelagent hoch oben in der al Qaida, von Bronx geworben und geführt. Er war auf diese Leistung stolz. Zusammen mit der Tötung des OsamaRivalen Abdullah Azzam in Peschawar hatte sich sein Ruf innerhalb der CIA ins Ehrfürchtige gesteigert. Befriedigt nickte Bronx sich selber zu. Aber er spürte, dass Operation Cinderella schieflaufen könnte. Es gab zu viele Unwägbarkeiten … Die Palmer-Zwillingssöhne blieben jedenfalls seine besten Trümpfe … Wo konnte etwas schieflaufen? Über die Piloten wusste er nicht viel, brauchte auch nichts zu wissen. Ahmed, der stille Mudschahid, der ihn im Hindukusch unter dem toten Gaul hervorgezerrt hatte, lebte jetzt in New Jersey und wirkte als Bote für den Imam, den der Scheich bestimmt hatte, die heldenhaften 195
Märtyrerpiloten mit der glücklichen Verheißung des Paradieses in ihrer Todesbereitschaft zu stärken. Sollte er Ahmed herbeizitieren? Er seufzte innerlich auf – immer gab es mehr zu tun, nie war der Job erledigt. Er starrte stumpf auf seinen lädierten Daumennagel. Zwar hatte er das Problem Howard Young elegant gelöst, die verräterischen Informationen über die entscheidenden Vorbereitungen in den Flugschulen gerade noch rechtzeitig abgefangen. Khalid, diese Ausgeburt von Arroganz – Scheich hin, Allah her –, ging ihm aufs Gemüt. Mit keinem Wort hatte der die verwegene Intervention gewürdigt. Und die nächste Schwierigkeit kam bestimmt. Sie hieß nicht Leslie Palmer. Die Frau hatte er in seiner Gewalt – über ihre Söhne. Das lose Ende hieß Steve Quinn, dieser verdammte Reporter, der ihm schon zwei Mal durch die Lappen gegangen war. Vermutlich hatten die Wolltuchköpfe in Afghanistan inzwischen die Lage bereinigt und Quinn, der ihm unten im Jemen eine unverzeihliche Blöße gegeben hatte, einen Kopf kürzer gemacht. Ungeduldig wartete Bronx auf Nachrichten, nagte mit den Zähnen am Nagelsplitter, bis er riss und ein Blutstropfen auf die Daumenspitze quoll. Er wischte das Blut an den Jeans ab, trat düsteren Gesichts ans vergitterte Fenster. Die mächtigen Zwillingstürme glänzten matt in der Abendsonne – ein Wahrzeichen, das nicht wegzudenken war. Er schnalzte mit der Zunge, sein hartes Antlitz hellte sich auf, als er sie in Gedanken wanken sah. In sich hinein grinsend sah er plötzlich den roten Feuerball der über dem Golf von Aden untergehenden Sonne … … Sie hatte tiefer gestanden als jetzt, hier, in Manhattan; es war Oktober gewesen, im Hafen ankerte die USS Cole, ein moderner, mit Marschflugkörpern bestückter Kreuzer. Die Einsatzbesprechung fand im alten Hospital im nördlichen Hügelgebiet statt, an der Hauptstraße, die dort nach Osten abdrehte, am Camp vorbeiführte. 196
Bronx hatte den Treffpunkt ausgekundschaftet. Das Hospital lag auf einem Plateau, das die Sicht auf die Straße bis weit hinunter zum Dorf freigab. Die im verlotterten Operationssaal um den Holztisch versammelten Pfleger hatten weniger eine Ahnung von erster Hilfe und Lebensrettung als von Sprengstoff und Lebensvernichtung. Bronx stand oben am Tisch und entfaltete den Plan der Hafenanlage. Der bärtige Anführer des Kommandos beugte sich vor. Ein anderer brütete über den Fotos des Kreuzers. Die Tür zum OPS war zu, draußen verbot eine rot leuchtende Lampe den Zutritt. Bronx war gut drauf. Der Krankenhausbetrieb war schon vor Monaten eingestellt worden. Er hatte sich bei der Gesundheitsverwaltung als Investor ausgegeben, der die verlassene Station renovieren und ein Behandlungszentrum einrichten wollte. Der Mann, der die Tür aufriss und blutüberströmt in den Raum taumelte, hatte davon keine Ahnung. Er wankte auf die perplexe Gruppe zu, stützte sich stöhnend auf den Tisch, wies schwankend seine klaffende Armwunde auf. Das schlug doch dem Fass den Boden aus! Lernten diese unterbelichteten Typen eigentlich nie, Wachposten aufzustellen? Vor Wut kochend, zerwühlte Bronx den Plan, fegte die Bilder vom Tisch. »Was zum Teufel wollen Sie?«, brüllte er den Ankömmling an. Ohne eine Antwort abzuwarten, befahl er scharf: »Schafft ihn weg!« Dabei verdeutlichte seine schneidend über die Kehle fahrende Hand den Befehl. Aber dieser Quinn war davongekommen – und hatte sein Gesicht gesehen … Bronx fluchte jedes Mal innerlich, wenn er sich die peinliche Szene in dem verlassenen Hospital im Jemen wieder vor Augen führte. Auch jetzt. Eine unverständliche Schimpftirade zischte ungehört zwischen seinen Zähnen hervor, 197
als er böse gelaunt ans Faxgerät trat. Nichts! Wieder keine Nachricht! Doch, halt! Beinahe hätte er das graue Blatt übersehen, das vom Papierhalter auf den Teppich nieder gerutscht war. Er hob es auf, las. Ein schiefes Lächeln verzog seine Lippen. »Operation Cinderella!«, raunte er sich selber zu, schob dann das Papier zwischen die Greifzähne des Shredders. Während das Schnitzelwerk knirschte, bearbeitete er die Tasten seines weinrot verschalten Handys. Das Gerät am Ohr, angelte er nach der Whiskeyflasche, die dazu diente, auf dem Chaos des Bücherregals die broschierten, hellblauen Bände von Foreign Affairs vor dem Absturz zu bewahren. Die Nummer, die Bronx aktiviert hatte, läutete im Weißen Haus. Nach wenigen Sekunden meldete sich der angerufene Secret-Service-Agent mit einem vorsichtigen: »Hallo?« »Ich brauche Geleitschutz«, sagte Bronx ohne Vorgeplänkel. Er klemmte das Handy mit der Achsel ans Ohr, drehte den Flaschenverschluss auf. »Wo?« »Wie letztes Mal, gleiche Zeit, vier Uhr.« Ein paar Bändchen von Foreign Affairs rutschten weg, klatschten auf den Teppich. »Okay«, kam die Antwort. Bronx kappte die Verbindung. Das Gespräch hatte weniger als zehn Sekunden gedauert. Aus der verschleierten Rede wusste sein Geheimkontakt im Weißen Haus, dass Bronx Informationen über den Terminplan der First Lady wollte – Geleitschutz – und das Treffen mit ihm am vierten Wochentag – vier Uhr – an dem Ort stattfand, der für Donnerstage im Voraus bestimmt war. Da sich im Durcheinander des Regals kein Glas finden ließ, setzte Bronx die Flasche kurzerhand an die ausgetrockneten Lippen, nahm zwei große, tiefe Schlucke. Befriedigt ächzend 198
erschien ihm augenblicklich alles in besserem Licht. Energie und Mut durchfluteten ihn, seine rechte Faust schoss zur Decke empor. »Cinderella!«, stieß er hervor.
47 Eines Tages war der Wächter, nachdem er den mit Salz aufgemischten Eintopf auf den Tisch gestellt hatte, unschlüssig stehen geblieben. Quinn blickte überrascht auf. Es war Salim, der junge Taliban mit der Narbe, die vom Ohr fast bis zum Mundwinkel verlief – der, der ihn am freundlichsten von allen behandelte. Jetzt lag dieser besondere Ausdruck auf seinem Gesicht, als müsse er etwas loswerden. »Was ist, Salim?«, hatte Quinn aufmunternd gefragt. Der junge Afghane schaute unsicher um sich, bevor er flüsterte: »Betest du nicht?« Sich rasch fassend, legte Quinn lächelnd den Löffel weg. »In Amerika gehen wir am Sonntag in die Kirche zum Beten.« »Wir beten fünf Mal am Tag zu Allah, das ist besser.« Quinn stocherte in der breiigen Masse aus Bohnen und Lammfleisch herum, murmelte: »Ich weiß.« Dabei hatte er das Gefühl, es ging Salim nicht um die Religion. Er hob den Blick. »Hast du eine Freundin, Salim?« Salim fingerte nickend an seinem Gürtel. Ein Leuchten war in seine Augen gekommen. »Wie heißt dein Mädchen?«, fragte Quinn leise, in verschwörerischem Ton. Wieder der huschende Blick. »Natalia.« Salim legte einen Finger auf die Lippen. 199
»Russin?«, fragte Quinn im vertraulichen Ton eines Komplizen. »Psst!« Salim legte erschrocken die ganze Hand auf den Mund. »Keine Angst, Salim«, versicherte Quinn. Er war noch dabei, sich die nächste Frage zu überlegen, als der junge Taliban plötzlich niederkniete, als wolle er beten, eine Hand auf Quinns Arm legte. »Natalia ist in Kabul. Ich darf sie nicht sehen, sie ist …« »Keine Muslimin?« Salim nickte noch mit gepressten Lippen, strahlte dann übers ganze Gesicht. »Sie ist wunderschön«, und im gleichen Atemzug: »Wie heißt deine Frau?« Quinns Antlitz verdüsterte sich. Langsam drehte er den Kopf hin und her. Salim starrte entsetzt. »Tot?« Quinn korrigierte lachend: »No, no, wir sind geschieden«, fügte dann derb hinzu: »Gibt es denn hier keine Weiber?« Salim zeigte mit dem Zeigfinger vertikal nach unten und meinte kumpelhaft: »Es gibt Kammern für die Huris, ein abgesperrter Bereich. Nur die Bosse können dort ein und aus gehen.« Schritte wurden lauter. Salim sprang zur Tür, drückte wieder den Finger auf die Lippen, nahm die Wächterpose ein und marschierte stramm hinaus. Von da an war der Bann gebrochen. In den folgenden Tagen und Wochen, wenn Salim Dienst hatte, redeten sie miteinander, wann immer sie Gelegenheit dazu hatten. Quinn erzählte von New York, von Amerika, was die Leute essen und trinken. »Wir sind eine gemischte Gesellschaft. Bei uns leben Weiße und Schwarze, Chinesen, Latinos, Muslime, Juden und solche, die an nichts glauben, außer an den Dollar«, plauderte Quinn 200
einmal. Darauf gestand Salim, dass er sich nichts sehnlicher wünsche, als eines Tages mit Natalia in einem großen, breiten Luxusauto durch Amerika zu fahren, an die Niagarafälle und in die großen Schluchten im Westen. Quinn seinerseits brachte durch Salim viel über die Festung in Erfahrung. Es handelte sich um ein ausgeklügeltes System von Höhlen und Tunneln. Hier gab es sicher über hundert unterirdische Kammern, die nach Quinns Schätzung Platz für wenigstens fünfhundert Leute boten. Salim berichtete, dass er sich nur gerade dort, wo er arbeitete, zurechtfand, aber nie in das Labyrinth von Quergängen wagen würde. »Aber du musst doch wissen, wie du raus kommst, falls es mal brennt«, suggerierte Quinn eines Morgens, während Salim, eine Schere in der Hand, dem Amerikaner beibrachte, wie sein struppig gewachsener Bart nach Art der Taliban zu stutzen sei. Salim richtete sich auf. »Uns sind Ausgangswege zugewiesen. Es gibt hier über zwanzig verschiedene Ausstiegswege.« Später war Quinn erlaubt worden, die Mahlzeiten in einem Essraum einzunehmen. Auf dem Weg dorthin, oder wenn er in die grüne Kammer zu den Verhören musste, entwickelte er mit der Zeit einen, allerdings begrenzten, Orientierungssinn. Trotzdem blieb ihm immer noch rätselhaft, welcher Gang zu einem Ausgang führte – und Salim konnte er natürlich nicht so mir nichts, dir nichts danach fragen. »Wenn ich hier raus käme«, lachte Quinn eines Abends, als wolle er einen utopischen Witz erzählen, »wenn ich frei wäre, dann könnte ich dich und Natalia nach Amerika mitnehmen. Würde dir das gefallen, Salim?« Der junge Dschihadist blickte ihn so groß an, dass seine buschigen Brauen fast den Haaransatz berührten. Er öffnete den Mund, aber kein Wort kam heraus. Dann schüttelte er verwirrt den Kopf und tappte rückwärts aus der Zelle, als hätte der Amerikaner eben nach perversem Sex gefragt. 201
Der Köder war ausgelegt.
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III. TEIL
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11. September Sarah Crawford, First Lady der USA, entstieg dem schwarzen Cadillac keineswegs souverän würdevoll, konstatierte Bronx, der sie vom Zeitungsstand aus über den Rand eines Yachtmagazins beobachtete. Sie bewegte sich hastig, wie jemand im Regen, der ohne Schirm rasch das Trockene erreichen will. Zwei SecretService-Agenten folgten dichtauf. Bevor sie hinter der hohen Glasfront des Südturmeingangs in der mächtigen, fünf Stockwerke hohen Lobby verschwand, schaffte sie es noch, halb abgedreht mit der Hand zu winken, als sei ihr plötzlich bewusst geworden, da draußen warte vielleicht noch eine Handvoll Wähler ihres Mannes auf ein Zeichen ihrer Huld. Hausmanager Tommy Fisher stand breitbeinig hinter den Drehtüren, ein Funkhörgerät im Ohr, neben ihm seine zwei Bodyguards, ebenfalls verdrahtet. Fisher schaute der Präsidentengattin auf die Beine, die schlank und gerade daherkamen, der Rock knapp über die Knie gezogen. Er gab ein Handzeichen, worauf seine Leute die Flügeltür neben den Drehtüren aufrissen. Als Sarah in die hohe mit großen Marmorpaneelen verkleidete Lobby trat, strich sie nervös über die brünetten Haare, die ihre hohen Wangen umschmeichelten, verhielt einen Augenblick in ihrem zügigen Gang. Sie trug ein zweiteiliges Kostüm mit 203
feinen lila Streifen und eine rosafarbene Bluse – jetzt straffte sie rasch die Jacke, hielt auf die Aufzüge zu. Das Aussteigen aus der Limousine und Betreten des Gebäudes war so rasch gegangen, dass die meisten Passanten an diesem Morgen die Ankunft der Präsidentengattin gar nicht mitbekamen. Genau wie sie es wollte. Nur keine Aufmerksamkeit erregen! Innerhalb kurzer Zeit war sie schon zum zweiten Mal nach New York gekommen, was ihr Unbehagen verursachte, da der Moment der Enthüllung durch Radio, Presse und Fernsehen unvermeidlich näher rückte, inklusive die groß aufgemachte Frage, was denn die immer als sozial zurückhaltend, wenn nicht gar scheu inszenierte Dame aus dem tiefen Süden ausgerechnet im Finanzdistrikt zu suchen hatte. Auch die Gruppe an einem der Kaffeestände auf der Plaza schien vom prominenten Blitzbesuch nichts bemerkt zu haben. Es waren Touristen aus Iowa, die am Morgen in aller Frühe am Rockefeller Center für die Morgensendung von NBC angestanden hatten und jetzt darauf warteten, dass das Observation Deck auf dem Südturm des World Trade Center öffnete. »Willkommen, Madam«, grüßte Fisher höflich mit einladender Gebärde auf den kurzen roten Teppich hin, der über den Marmorboden zu einem Lift auf der linken Seite der langen Reihe von Aufzügen führte. Die jetzt weltbekannte Frau lächelte verhalten, reichte ihm kurz die Hand, schritt zügig weiter. Die Leute, die durch die anderen Eingänge in den Tower kamen, waren um diese Zeit allesamt Angestellte der eingemieteten Firmen, deren Bosse mit Limousinen in die Tiefgarage fuhren und dort die Aufzüge in obere Etagen nahmen. Man warf neugierige Blicke zum roten Teppich, nahm die Frau als eine der vielen VIP zur Kenntnis, die täglich das Handelszentrum besuchten, übersah die beiden unterschiedlich gebauten Leibwächter ebenso wenig wie draußen die paar New 204
Yorker Polizisten in ihren kurzärmeligen blauen Hemden und den schweren Gürteln, an denen die Dienstwaffe und unförmige Polizeiutensilien baumelten. Es war ein Zufall, dass sich Tommy Fisher umdrehte, als auch Leslie Palmer wenig später an den Lift trat, der neben dem mit dem roten Teppich lag. Sie hatte sich im Warten leicht abgedreht, blickte auf und schnurgerade in die Augen des Hausmeisters. Fisher stutzte. Dieses Gesicht? War die First Lady schon wieder runtergefahren und auf dem Weg hinaus? Nein, sagte er sich, zeitlich war das kaum möglich. Er schüttelte den Kopf und heftete den Blick an ihre Figur. Die Ähnlichkeit war verblüffend. Er musste die Frau nach ihrem Namen fragen. Das Hausrecht gab ihm die Befugnis dazu. Doch als er sich endlich aus seiner Überraschungsstarre löste, hatte Leslie den Aufzug bereits betreten, schon ihren Blick gesenkt, als die Tür zuglitt. Das Letzte, worüber der Hausmeister staunte, waren ihre Beine. Schlank und schön geformt trugen sie breite Hüften. Bei Frauenbeinen irrte er sich selten. First Lady Sarah Crawford blickte im schnellen Expressaufzug auf die roten Spitzen ihrer schmalen Schuhe hinunter. Den großen, breitschultrigen Kerl eines Secret-Service-Manns, der mit typisch unbeteiligter Miene zur Decke starrte, sah Sarah heute zum ersten Mal in ihrer persönlichen Leibgarde. Sein Name war ihr entfallen. Julia wirkte neben dem Neuen geradezu zierlich, und ihre hellblonden, militärisch kurz geschnittenen Haare hätten keinen besseren Kontrast zum schwarzen Hünen abgeben können. Sarah blickte auf, in Julias warme Augen. Sie tauschten ein Lächeln, dann schauten beide angespannt auf das Display, das mit gelb leuchtenden Ziffern die Stockwerke anzeigte. Als die 62 erschien, hüstelte der Sicherheitsmann, drängte näher an die Lifttür, die sich geräuschlos auseinander schob. Mit zwei Riesenschritten war der Agent im breiten Korridor, blieb 205
scharf nach allen Seiten spähend auf dem grauen Teppich stehen. Dann gab er Julia mit einem Kopfnicken das AllesklarZeichen. Ein Kurier mit Hörknopf im Ohr, die Baseballmütze mit dem Schirm rückwärts, starrte kauend auf den Fußboden; eine beleibte Schwarze mit weißen Ohrringen trug im langsamen Wippgang einen Umschlag durch den Flur, sonst war niemand in Sicht. Die First Lady näherte sich mit ihrer Eskorte einer breiten Mahagonitür am Ende des Korridors. Über ihren dunkelblonden Haarschopf hinwegspähend, fiel der Blick des großen Schwarzen auf die silbernen Lettern: Bradley Burk Moseley. Er sprach leise in den kleinen, in einer Pranke kaschierten Sender. Die blank polierte schwere Edelholztür schwang auf – Jerry Moseley jr. kam der kleinen Gruppe energischen Schritts entgegen. Der gut aussehende Mann im schwarzen Nadelstreifenanzug, mit vollen, silbergrauen Haaren, strahlte über das ganze, dezent gebräunte Gesicht. Er begrüßte die First Lady taktvoll mit einer kleinen Kopfverbeugung, komplimentierte sie dann mit einer charmanten Handbewegung in Richtung des Büros, dessen Flügeltüren einladend offen standen. Die beiden Agenten des Secret Service würdigte er kaum eines Blickes, als wären sie Leute des Reinigungsteams, die jeweils vor neun Uhr eine Runde durch die Büros der Anwaltsfirma machten, um dort Kaffeebecher, Papierknäuel, Speisereste und andere Spuren der Nachtarbeit mit verrechenbaren Stunden der ehrgeizigen jungen Rechtsanwälte zu beseitigen. Jerry Moseley jr. lag mit rund fünfzig Jahren altersmäßig im Mittelfeld der Partner der renommierten Großanwaltsfirma. Nach den erzeugten Honorareinnahmen mischte er jedoch in der obersten Liga der begehrten Prozessanwälte mit.
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»Willkommen, Madam, wie war die Reise? Wie geht es dem Präsidenten?«, hörten ihn die Secret-Service-Agenten flöten. Obschon sie sich von ihm wie Luft behandelt vorkamen, ließ ihre Aufmerksamkeit keine Sekunde nach. Sie überprüften rasch und effizient den Vorraum mit dem Empfangstresen, Mr. Moseleys Büro sowie das Besprechungszimmer. Julia besichtigte die Damentoilette, dann nahm sie routinemäßig wie all die früheren Male, meistens an einem Dienstag, Aufstellung im Korridor. Der stämmige Schwarze sprach mit wach umherblickenden Augen in sein Kleinstfunkgerät, indem er den Handballen an die Lippen hob, als wolle er hüsteln. »Cincinatti im 62. Stock, Zeit: 08:35.« Die Durchsage war Routine. Die Meldung ging zunächst in den Empfänger im Heck des Cadillacs der First Lady. Dort wurde das Signal verstärkt und auf die nächstgelegene, ausschließlich für den Secret Service des Weißen Hauses benützte Antenne geleitet, um von dort via Satellit die Geheimdienstzentrale im Weißen Haus zu erreichen. So weit der Agent mit dem kaffeebraunen Gesicht, dessen Wangen sich unter den rhythmischen Kaubewegungen blähten, wusste, stand die Antenne auf einem der Wolkenkratzer in der 69th Street. »Ah, endlich, Jerry!« Die First Lady warf sich Moseley an den Hals, küsste ihn sanft auf den Mund. Er hielt sie fest umschlungen. »Sarah, du weißt, ich liebe dich!«
49 Als Leslie Palmer den Expresslift des Südturms betrat, um in den sechsundfünfzigsten Stock hoch zu fahren, wollte sie noch rasch zwei Anrufe erledigen. Der erste galt Bronx, den sie unten
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nicht gesehen hatte. Sie hatten doch um halb neun vor der Lobby abgemacht, oder irrte sie sich? »Hallo«, tönte die kiesige Stimme. »Bronx«, sprach Leslie in das schreiend hässliche rote Handy, das sie fast so verabscheute wie Bronx selber. »Ich komme eine halbe Stunde später, okay? Bin verabredet.« »Geht nicht, wo sind Sie?«, fragte er scharf. Seine Stimme hatte plötzlich einen besorgten Tonfall. »Oben im Südturm. Etwa um Viertel nach neun bin ich wieder unten. Können Sie ausnahmsweise auf mich warten?« Ein paar Sekunden hörte sie nur Rauschen. Dann warf sein heftiger Wortschwall sie fast an die Wand. »Leslie, verdammt, hören Sie gut zu, ich muss Sie sofort sehen, verstanden? Sie müssen runterkommen. Beeilen Sie sich, hören Sie mich? Ich will, dass …« »Geh, fick dich doch«, schnitt sie ihn hitzig ab, »ich bin verabredet«, und drückte auf STOP. Erstaunte Blicke trafen sie. Ein junger Mann im dunklen Geschäftsanzug und blendend weißem Hemd nickte grinsend. »Recht so, Madam!« Als sie auf dem Stock von Steinberg & Friedman ausstieg, rief sie Shelley im Büro an, hinterließ eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter über ihr Meeting im Südturm bis gut nach neun. »Sag dem Boss bitte, er soll die Budgetsitzung ohne mich anfangen«, beendete sie die Durchsage und betrat den mit englischen Möbeln stilvoll ausgestatteten Vorraum. »Oh, Ms. Palmer, tut mir leid«, kam die in ein elegantes rostbraunes Kostüm gekleidete Empfangsassistentin errötend auf sie zu. »Ich habe in Ihrem Büro eine Nachricht hinterlassen. Tut mir schrecklich leid, Mister Steinberg konnte um Mitternacht nicht abfliegen. In Kalifornien gab es Verzögerungen mit der technischen Abnahme seines Jets«, erklärte sie mit schuldvoller Miene, als wäre sie persönlich die Ursache des geplatzten Termins. 208
Leslie lächelte unbekümmert. »Ist doch kein Problem. Wirklich nicht.« »Haben Sie’s schon gehört? Scheinbar ist drüben im Tower etwas Schlimmes passiert.« Leslie schüttelte verständnislos den Kopf. »Nein, wann denn?« Dass die Besprechung mit Spike ins Wasser gefallen war, kam ihr eigentlich ganz gelegen. Achselzuckend wandte sie sich zum Gehen, als die Lady vom Empfang Aufmerksamkeit heischend gestikulierte. »Jetzt gerade, vor ein paar Minuten.« Leslie schaute automatisch auf ihre Uhr. Bald neun. »Mr. Steinberg wünschte, dass ich Ihnen die Papiere für die Wohnung gebe, wenn Sie einen Moment Platz nehmen möchten.« Sie wies einladend auf das rote ChesterBesuchersofa. »Darf ich Ihnen Kaffee bringen?« »Gerne, ohne Milch, ohne Zucker, bitte.« Leslie setzte sich auf das straff gepolsterte Lederkissen, stand gleich wieder auf und trat ans Fenster, das eine berauschende Aussicht auf die Südspitze Manhattans bot. Im leichten Dunst dieses herrlichen Morgens grüßte die Freiheitsstatue herüber – in der Ferne schlug die Verrazano-Hängebrücke ihren großen, eleganten Bogen hoch über die Bucht von New York. Das Handy summte. Sie checkte das Display: Es war Bronx – fünf vor neun. Sie drückte barsch auf die rote Stop-Taste. Der kann mich doch mal kreuzweise! Nein, lieber nicht, lächelte sie amüsiert in sich hinein. Das wäre furchtbar …
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50 Im 62. Stock hatte Jerry Moseley jr. keine Zeit verschwendet. Charmant geleitete er Sarah Crawford durch die mit dicken Lederbänden der Gerichtspraxis gefüllte Bibliothek zu einer Tür, die eine aufsteigende Wendeltreppe freigab. Sie stiegen empor, betraten durch eine schalldichte, schwere Tür ein Eckzimmer, das Sarah jedes Mal den Atem verschlug. Das rauchige Glas der auf beiden Seiten bis zum Boden reichenden Fenster verklärte den großartigen Blick auf den Hudson River, über Manhattan hinauf bis zum Central Park und nach Westen hinüber auf das New-Jersey-Ufer des gewaltigen Flusses. Sarah setzte sich mit einem wonnevollen Seufzer auf den Rand des breiten Bettes. Die Faszination der Aussicht, das Geheimnisvolle des verschworenen Treffens, dann die Vorfreude auf Jerrys Liebkosungen ließen kleine Flutwogen der Erregung durch ihren Körper strömen. Ein heller Knall aus der Küchennische im hinteren Teil des gediegenen Liebesnests entlockte Sarah einen freudigen Laut – Jerry trat mit zwei schmalen mit prickelndem Champagner gefüllten Kelchen zu ihr. »Auf dich, Darling!« »Auf uns, Sweetheart!« Sie nahm einen kleinen Schluck, stand auf und trat zur Ecke zwischen den Fenstern, wo ein eleganter Golfsack aus hellem Leder stand. »Wieso läuft immer der Fernseher, wenn ich zu dir komme?«, fragte sie amüsiert. Das kleine Gerät flimmerte auf einem Sideboard am Fenster. Wenn man den Blick vom Bildschirm hob, fiel er auf den Nordturm, der in seiner ganzen Majestät in den glasklaren Himmel ragte und so nahe stand, dass man hinter den Fenstern Gestalten schattenhaft wahrnehmen konnte. 210
»Ist doch praktisch«, erwiderte Jerry. »Du siehst die Außentemperatur, die Börsenkurse.« Er steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel. »Passiert was in der Welt, bin ich gleich im Bild. Aber ich stell ihn ab.« Er steckte das vergoldete Feuerzeug in die Tasche zurück, suchte nach der Fernbedienung, während Sarah mit der Hand über den Titaniumkopf eines Golfschlägers strich, der aus dem eleganten Ledersack ragte. »Rauch bitte nicht, Jerry!« »Das ist ein Lady«, sagte er, die Zigarette zwischen den Fingern. »Extra für dich besorgt. Hat einen weichen Schaft.« Er trat näher, um ihr den neuen Schläger zu demonstrieren. Plötzlich bebte der Fußboden. Die First Lady zuckte zusammen. »Was war das?« Der ohrenbetäubende Lärm einer Explosion fuhr ihr wie eine Faust in den Leib. Sie schrie auf, torkelte rückwärts gegen die Bettkante. »Mein Gott, Jerry, was …?« Die Glasscheiben erzitterten laut klirrend, als ein Windstoß mit Orkanwucht gegen sie schlug. Die ganze Konstruktion des mächtigen Südturms rüttelte und schüttelte, als werde sie im nächsten Moment aus den Fugen springen. Unter strahlend blauem Himmel, an jenem milden Herbstmorgen, war die Gruppe der Pleasure Cruise Riders in beschaulicher Fahrt über den West Broadway in südlicher Richtung gezuckelt. Nassim sagte gerade: »Wir nehmen die Brooklyn Bridge, dann hinunter nach …« Er brach ab, hob den Kopf nach dem dröhnenden Jaulen. Eine tief fliegende Düsenmaschine. »Heiliger Strohsack! Was soll das?? Hey!« Das Blut erstarrte in seinen Adern. Dann sahen es die andern – der silberne Passagierjet im Tiefflug und – rein in den Turm. Voll rein, fadengerade … Der rote Feuerball der Explosion, der Qualm! 211
»Mannomann, eine Megakatastrophe, fliegt einer voll in das WTC!« Sie dröhnten mit den Motoren, ruckelten über das Trottoir einen halben Block aufwärts, um freiere Sicht zu bekommen. Schreiend rannten ihnen Leute entgegen. »Kommt, zurück zur Fulton Street. Hinter dem Hotel stehen wir nicht im Weg.« Sie kurvten an den Randstein der östlichen Seite des Straßenzugs, starrten fassungslos in den von Rauch erfüllten Himmel. Ein Feuerwehrlaster preschte mit nervenerschütterndem Basshorngebrüll heran. Dumpfe Explosionen rollten durch die Straßenschluchten. Ronnie war aufgeschlossen, manövrierte seine Suzuki vor die Gruppe, drehte ein paar Mal das Gas auf, dass scharf sirrendes Motorengeheul die Luft erfüllte, stieg ab, setzte den Helm auf den himmelblauen Tank, fummelte am Schnauz, hielt mit einer Hand die Videokamera hoch. Sein kahles Haupt glänzte vor Schweiß. »Ich hab alles drauf … Wahnsinn! Schaut her!« Beinahe verhedderte er sich im Lenkgestänge, als er überstürzt aufbockte und zu seinen Kollegen hastete. »Hey, ich hatte gerade eure Formation schön im Bild, als ich das Dröhnen über mir hörte … Düsen … Wie auf dem Airport … Ich schwenkte sofort die Kamera … Schaut … alles drauf!« Er rang nach Atem. Ronnie war der Technofreak der Gruppe, die nun in Sekundenschnelle über ihn herfiel, an ihm klebte. Jeder wollte die Bilder sehen. »Es ist ein Passagierjet.« »Eine Boeing 767 vermutlich«, wusste Ronnie, und ihre aller Kommentare überstürzten sich, sie spekulierten, werweißten und 212
stets von neuem drückte Ronnie auf REPLAY, immer wieder hoben sie den Blick hinauf zum qualmenden Nordturm. »Ich muss näher ran«, schrie Nassim über das Aufheulen seiner Maschine. »Kommt, zur Fulton Street! Vielleicht können wir helfen.« Der Appell des Arztes löste die andern endlich aus ihrer bleischweren Erstarrung. Sarah Crawford starrte bleich zum Nordturm hinüber. Grellrote, giftig gelbe Flammen zischten aus der Fassade. Auf Augenhöhe schossen weiße Rauchfahnen wie Fontänen aus zersprungenen Fenstern. Plötzlich quoll eine grässlich fette Masse schwarzer Qualm auf der ganzen Breite von mindestens fünf Stockwerken aus dem gegenüberliegenden Turm. Sarah klatschte beide Handflächen ans Gesicht. »Mein Gott! Im Nordturm ist etwas explodiert!« Moseley starrte wie betäubt auf das Inferno von Feuer und Rauch da drüben. Krachend rissen sich ganze Gebäudeteile los, schnellten in weitem Bogen vom Turm weg. »Um Himmels willen, Jerry, mach was! Ruf die Feuerwehr!« Die Digitalanzeige am Fernsehbildschirm zeigte 08:46. Moseley hackte hastig auf seinem Handy herum, sprach erregt mit gebeugtem Kopf ins Gerät. Sarah verstand kein Wort, der brutale Lärm von Explosionen füllte den Raum. Verzweifelt klammerte sie sich an den Golfsack. Wieder erschütterte eine Detonation das Zimmer – Ruß und Staub verklebten das Glas der Fensterwand. »Jerry!«, schrie die First Lady, sich zur Tür tastend. »Ich will hier raus! Etwas Schlimmes ist passiert. Da, was sagen sie im TV?« Moseley zwang sich, den Blick vom qualmenden Nordturm auf den TV-Schirm zu senken. »Ein Unfall, Wahnsinn!«
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Ein Sprecher mit ernster Miene bewegte die Lippen. Der Ton war weg. Sarah kauerte mit eingezogenem Kopf hinter dem Golfsack in Deckung, als erwarte sie einen Trümmerhagel. Das Telefon summte giftig. Moseley hieb genervt die Lautsprechertaste: »Keine Störung, habe ich …« »Sir! Julia Arnold hier, Secret Service, kommen Sie bitte sofort mit Mrs. Crawford nach unten zu uns, jetzt gleich, haben Sie mich verstanden?« »Ja, geht in Ordnung, Mrs. Crawford ist okay.« »Das ist mir unheimlich, Jerry, ich will raus hier!« Moseley reagierte gefasster. »Nichts überstürzen, Darling!« Er schlang seine kräftigen Arme um sie, küsste sie auf die Stirn. »Erst müssen wir wissen, was passiert ist.« Er aktivierte den Ton des Fernsehers. Sarah schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich wie in einer tödlichen Falle gefangen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Höhenangst. In diesem Augenblick erschien auf dem Schirm der Nordturm, aus anderem Blickwinkel. In seinem oberen Teil klaffte ein gewaltiges Loch. Dicker, schwarzer Rauch quoll unaufhörlich aus der fürchterlichen Bresche. »Um acht Uhr fünfundvierzig hat ein Kleinflugzeug den Nordturm getroffen«, hörte Sarah den TV-Sprecher berichten. Sie konnte kaum fassen, was der da schwafelte. Sie hatte unzählige Flugstunden in der Luft verbracht – ihr war schlicht unvorstellbar, dass ein Pilot am frühen Morgen bei schönstem Wetter dermaßen die Orientierung verlieren konnte. »Jerry, da muss einer Schnaps gesoffen haben, wenn er bei dieser Sicht in eins der höchsten Gebäude der Welt hineinfliegt – es sei denn, die Maschine hat Motorpanne. Nein, auch das ist unwahrscheinlich.«
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»Warum nicht?« Moseley stand beim Fernseher, das Handy am Ohr. »In dieser Gegend fliegst du schön geradeaus, den Fluss entlang, du musst nicht abdrehen, wie auf der andern Seite über dem East River, wo du der Sperrzone von La Guardia ausweichen musst.« »Das Loch ist riesig«, konstatierte er. »Aber der Turm wird halten.« »Warum bist du so sicher?« »Die Türme sind so gebaut, dass sie Flugzeugabstürze überstehen«, konstatierte Jerry fachkundig. »In den Kriegsjahren, das weißt du sicher, flog im Nebel eine Boeing der Luftwaffe ins Empire State. Das Ding steht heute noch.« »Jerry, heute ist kein Nebel«, erwiderte Sarah mit absurd zwingender Logik. »Wen rufst du an? Jerry, schau, da!« Sie streckte den Arm aus. »Mein Gott! Der Mann, der am Fenster steht. Siehst du ihn auch? Nein!« Jerry blickte bestürzt auf die Gestalt, die sich an der schwarzen, rauchig zerrissenen Fassade des Nordturms in diesem Augenblick von einem zertrümmerten Fenster löste – ein Bein angewinkelt wie in Zeitlupe in die Tiefe fiel. »Mein Gott«, keuchte Jerry, »das … ist … heller Wahnsinn!« Seine Worte waren ein einziges Stammeln. »Ich brauche was!« Er rannte zum Kühlschrank, griff die Wodkaflasche, riss auf, schluckte in langen, tiefen Zügen, als trinke er Wasser. Sarah hatte den Golfsack umgehängt und wartete ungeduldig an der Tür. »Komm schon, Jerry!« Energisches Klopfen ließ sie herumfahren, Jerry öffnete, die Blonde vom Secret Service stand vor ihm, drängte herein, überschaute diskret das Zimmer, das Bett.
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»Madam, ist alles in Ordnung? Kommen Sie bitte mit mir nach unten!«
51 Sechs Stockwerke tiefer holte die böse Ahnung Leslie Palmer ein. Im Nordturm ist etwas passiert! Hatte es mit dem dumpfen Knall zu tun, den sie vernommen hatte, als sie aus dem Lift getreten war? Unschlüssig schritt sie den kleinen Vorraum ab, trat ans Fenster, machte wieder kehrt. Aus den sonst stillen Büros von Steinberg & Friedman drang jetzt Stimmengewirr. Die Wohnungspapiere konnten ihr eigentlich gestohlen bleiben. Davon liefen sie ihr ohnehin nicht. Sie schaute auf ihre digitale Armbanduhr: 09:00. Am besten machte sie sich aus dem Staub, unten auf der Plaza kochte Bronx sicher schon vor Wut. Leslie ging zum Empfangstresen zurück – die rostbraune Lady war nirgends zu sehen. Sich am Tresen vorbeischiebend, spähte Leslie in das große Büro hinein. Wie eine Traube hingen die Angestellten vor einem an der Decke montierten TV-Gerät. Eine junge, schlanke Angestellte, die Augen mit den auffallend langen Wimpern aufgerissen, prallte, um die Ecke rasend, fast in sie hinein. »Haben Sie gehört? Es brennt im Turm!« »Wo brennt’s?« Leslie zog es zurück in den Vorraum, nach draußen. Mit mulmigem Gefühl zirkelte sie um die niedere, mit dunkelgrünem Leder ausgekleidete Tischplatte herum, auf der man ihr eben noch den Kaffee servieren wollte, schaute zum breiten Fenster hinaus. Ein friedlicher Morgen strahlte ihr entgegen. Alles ruhig. Nirgends Rauch. Ihre Gedanken waren in diesen Tagen immer wieder zum gleichen Thema zurückgekehrt. Auch jetzt kam sie davon nicht 216
los. Auf Rache sinnend wälzte sie immer von neuem ihren schwierigen Plan, stellte sich den Flugplatz von Duschanbe vor – das grüne, saftige Land rundherum, wie sie alles in dem Hochglanzmagazin gesehen hatte. Und sie versuchte, sich ein Bild von Bronx’ Mutter zu machen. Wie konnte sie an diese Frau herankommen? Die Aufregung in ihrem Rücken, die plötzlich lauter gewordenen Stimmen, ihre im Unterbewussten nagende Ahnung hielten sie nicht mehr lange bei Steinberg & Friedman. In Gedanken versunken warf sie einen letzten verklärten Blick über die Mündungswasser des Hudson hinweg nach Staten Island, sah die winzigen Segelboote schräg gegen den Wind kreuzen, das weiß schäumende Kielwasser einer Motoryacht, dann plötzlich das Flugzeug. Ein riesiges Passagierflugzeug! Es kurvte im Tiefflug heran. Verdammt – träumte sie? Sie schrie auf. »Der fliegt doch viel zu tief!« Jetzt verdunkelte der mächtige Rumpf den Himmel. Leslie sah alles klar und deutlich – die Triebwerke, die in der Morgensonne gleißenden Fenster der Pilotenkanzel, sogar die Aufschrift konnte sie lesen – United. Da krachte es schon mit erschütternder Wucht. Oben im Turm. Das Gebäude bebte. Die Scheibe barst. Leslie konnte später nicht mehr sagen, was in ihr vorgegangen war. Erst als sie die Treppen hinunterrannte, oft zwei Stufen auf einmal nehmend, begriff sie, was sie tat. Sie flüchtete. Ein Flugzeug war in den Turm geflogen, zerschellt. Da gab’s nur eins – raus, nix wie raus! Nur nicht den Lift nehmen. Sie zählte Stufen, zählte Stockwerke. Menschen huschten unscharf an ihr vorbei, Stimmen überall, Schreie … ein einziger Schrei ohne Ende … Das atemberaubende Blickfeld der First Lady öffnete sich über die City bis hinauf zur entfernten Washington Bridge, als die 217
erste Maschine, Flug American Airlines 11, um 08:46 vom Central Park her über den West Broadway fliegend in den North Tower krachte. Auf der andern Seite des Südturms nahm Leslie Palmer noch die Aufregung wahr, dass im Nordturm, auf den sie keine Sicht hatte, ein Unglück passiert sei, schaute nachdenklich in die andere Richtung über die Südspitze Manhattans in die weite Bucht New Yorks, als sich um 09:03 vor ihren entsetzten Augen die zweite Maschine, Flug United Airlines 175, über den Hudson herankurvend in den Turm bohrte …
52 Aus den Büros unter ihnen schallte aufgebrachtes Stimmengewirr nach oben. Sarah hörte jetzt mit aller Deutlichkeit eine Lautsprecherdurchsage. »Jerry, Sie fordern die Leute auf, Ruhe zu bewahren und am Arbeitsplatz zu bleiben«, rief sie, schaute auf ihre Uhr. Neun. »Jerry, komm endlich. Auf was wartest du noch?« Sie schlang den Tragriemen des Golfsacks fester um die Schulter, trippelte hinter Secret-Service-Agent Julia Arnold die Wendeltreppe hinunter. Jerry Moseley jr. gab sich einen Ruck. »Ja, los!« Die Ereignisse überschlugen sich. Es war wie das Ende – wie Armageddon! Die gewaltige Explosion, die kurz nach neun an diesem wunderschönen, wolkenlosen Herbstmorgen die gediegenen Büros von Bradley Burk Moseley erschütterte und alle dort wie mit einem dumpfen Faustschlag zu Boden warf, schien direkt über ihren Köpfen weiterzuwüten. Wie die Welt später erfahren würde, hatten sich um 09:03 Terroristen mit einem Passagierflugzeug in den Südturm gebombt, der dann knapp eine Stunde später zusammenbrach. 218
Auf dem mit feinen Teppichen gedämpften Fußboden von Bradley Burk Moseley im 62. Stock lagen Teile der Decke, Gipsfetzen, Dreck. Rauchende Kabel hingen herunter. Ein beißender Gestank hatte sich rasend schnell verbreitet. Qualm und Staub verdunkelten die Fenster. »O mein Gott«, stöhnte Sarah, wie zur Salzsäule erstarrt. Moseley riss sie am Arm, schrie sie an. »Mir nach!« Sie stürzten in den Korridor. Gelangten zu den Liften. Moseley drückte wild den Abwärtsknopf, rüttelte an der ersten Aufzugstür, dann an der zweiten. »Verflucht!«, zischelte er, als ihn eine scharf bellende Stimme wie ein Messer in den Nacken schnitt. »Stehen bleiben, Mann! Keine Bewegung!« Es war der hünenhafte schwarze Secret-Service-Agent, der ihn mit verzerrter Miene anschrie. Sarah fuhr herum. »Wir bleiben hier, bis Rettung kommt. Keine Bewegung!«, brüllte der Agent durch das Krachen und Bersten, mit schwerem Zeigefinger bedeutungsvoll auf sein Minifunksprechgerät pochend. Moseley ignorierte ihn, hielt den Fahrstuhlknopf gedrückt, traktierte die Tür mit Fußtritten. Die paar Express-Aufzüge, die im 62. Stock hielten, schienen außer Betrieb zu sein. Die First Lady flehte ihren Liebhaber an. »Jerry, ich bitte dich, mach, was sie sagen!« Sie wandte sich an den Sicherheitsagenten. »Wo ist Frank?« Moseley brach seine nutzlose Attacke auf die Fahrstuhltür ab. »Nein, Madam, raus, kommen Sie!«, kommandierte er, plötzlich formell. Er packte sie grob um die Hüfte, schob und stieß sie rennend zum hintersten der Aufzüge, wo der Notausgang Zugang zu den Treppen bot. Moseley keuchte und hustete. 219
»Wer zur Hölle ist Frank?« Der Secret-Service-Agent war ihnen dicht auf den Hacken. Die Waffe in der Faust, packte er Moseley rau an der Schulter, riss ihn herum. »Sir, Sie bleiben stehen. Hände weg von der First Lady!« Panisch fuchtelnde Männer in weißen Hemden und Krawatten stürzten schreiend ins Treppenhaus. »Aufs Dach, aufs Dach! Wir sollen aufs Dach!« Die Gattin des Präsidenten schien Hoffnung zu schöpfen. »Jerry, hast du gehört? Wir müssen aufs Dach!« Moseley dachte nicht daran. »Was wir müssen, ist raus hier, Madam. Runter und raus!« »Unter uns brennt’s«, schrie eine Frau. »Da kommt keiner durch!« »Sir!« Wieder der Secret-Service-Mann! Diesmal packte er Moseleys Arm wie ein Schraubstock. Ein kaum hörbares Klingeln kündigte einen Lift an. Moseley blickte gehetzt auf die Aufzugstür. »Wir sind verantwortlich für ihre Sicherheit!«, brüllte der Geheimagent. Zur First Lady gewandt befahl er: »Folgen Sie uns, Madam.« Der wuchtige Schwinger traf den riesigen Schwarzen völlig unvorbereitet mitten im Solarplexus. Er krümmte sich, blickte verdutzt hoch. Moseley war in Rage. Diesmal traf ein gut gezielter Haken den Sicherheitsmann voll am Kinn. Der Mann torkelte rückwärts, verlor für einen Augenblick das Gleichgewicht. Der Arm mit der Waffe ruderte durch die Luft. Moseley sah seine Chance – Sarah brutal am Arm packend und mitreißend, rannte er zum Lift, dessen Tür sich langsam zur Seite schob. Drinnen drängte sich ein gutes Dutzend
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verängstigter Leute. Einige blickten Jerry feindselig an. Jemand schrie: »Los, kommen Sie schon!« »Halt, stehen bleiben!« Das Kommando kam von der Agentin mit der strohblonden GI-Frisur. Sie war in Kauerstellung, zielte beidhändig. Der Schuss aus der 9-mm-Automatic und der kräftige Stoß, der Moseley Sarah versetzte, kamen gleichzeitig. Die Kugel traf den Türrahmen. Moseley lag am Boden des Lifts, Sarah unter ihm. »Au, verdammt!«, krächzte er, als sein Kiefer heftig gegen einen Golfschlägerkopf schlug. Der verdammte Golfsack! Warum zur Hölle musste sie das Scheißding mitschleppen? »Julia hat geschossen«, keuchte Sarah, »ich kann’s kaum glauben!« Leute schrien, fluchten, aber alles spielte keine Rolle mehr, der Lift sackte ab, fuhr nach unten – vermutlich der einzige Lift im Südturm, der vom siebzigsten Stock noch abwärts lief, glitt scheppernd in die Tiefe. Die Leute hielten den Atem an, starrten gebannt auf das flackernde Display mit den Ziffern der Stockwerke. »Wer zur Hölle ist Frank?«, flüsterte Moseley wieder. »Frank Sureman, mein persönlicher Agent, der mich immer nach oben begleitet. Nur heute nicht. Ausgerechnet … Frank ist der Beste.« Ein Hitzeschwall brach in die Kabine, eine Frau schrie auf. »Wir verbrennen!« Der Lift hielt knirschend an, glitt aber mit einem Ruck gleich weiter. Jemand zählte leise leiernd die Stockwerke wie im Gebet. »Fünfzehn … Herrgott hilf … zwölf. Um Himmels willen … acht, sieben.« Ein ohrenbetäubendes Kreischen von Metall ließ alle aufschreien. Der Lift schlug polternd seitlich auf, dann wieder 221
ein Kreischen, schriller diesmal. Die Kabine blieb knirschend stecken. »Wo sind wir? Wir müssen raus. Sie da, machen Sie was!« Die Aufforderung eines älteren Mannes mit zerbrochenem Brillenglas galt Moseley, der die First Lady mit dem Rücken abschirmte. »Im sechsten sind wir. Wir müssen raus. Jemand muss da hoch steigen und die Deckenklappe öffnen.« Der mit der kaputten Brille, der dies vorschlug, fuchtelte nach oben. Drei junge Männer in blassblauen Overalls machten sich mit bloßen Händen daran, die Tür aufzuwuchten. Zuerst schafften sie eine Handbreit, eine Damenhandtasche hielt die Spalte offen, dann griffen Hände ein, die Tür schob sich auseinander, immer weiter. Auf Kopfhöhe tat sich direkt vor Moseley eine Lücke auf, durch die sich der Betonträger des Etagenfußbodens zog. Weißer Rauch strömte herein, die Kabine schwankte, es dröhnte, polterte von oben, das Licht erlosch. Eine junge Frau schluchzte auf. »Das ist das Ende!« Moseley hielt die First Lady fest umklammert, blickte hoch, zum einzigen Ausweg. Es war hoffnungslos. Es krachte und lärmte, als würde das Gebäude jede Sekunde über ihnen einstürzen. Seine Stimme war ein einziger Befehl. »Los jetzt, komm!« Er hakte einen Ellbogen über den Bodenabsatz, hievte sich mühsam hoch, kroch über die Kante aus der Kabine heraus. Bissiger Rauch brannte in den Augen, der Kehle – hustend griff er nach unten, fasste nach Sarah, erwischte den Golfsack, riss und zog am Tragriemen, sie kam höher. Endlich umklammerte er ihr Handgelenk, zog sie langsam, Zentimeter für Zentimeter, hoch. Plötzlich bewegte sich der Fahrstuhl. Jemand schrie auf. 222
»Wir fallen!« Sarah stieß einen Schrei aus. Moseley riss sie mit letzter Kraft nach oben über die Kante. Ihre Füße – verdammt! »Zieh die Beine an«, brüllte er, warf sich mit gewaltigem Ruck zur Seite. Sarah fiel über ihn. Der Lift hatte sich schon nach kurzem Absacken wieder verklemmt. Aus der rettenden Öffnung, durch die Moseley Sarah geborgen hatte, war ein knapp handbreiter Schlitz geworden. Die Leute im Fahrstuhl saßen hilflos in der Falle. Sarah hatte die Schuhe verloren, ein Fuß blutete. Immer noch hing ihr der Sack mit den Schlägern um den Leib. Moseley keuchte, dass die Lungen zu bersten drohten. »Wir haben Glück, Darling.« »Nein! Wir sind verloren.« Moseley begann ihre Fußwunde mit seinem Taschentuch notdürftig zu verbinden, wobei er versuchte, sie mit praktischen Fragen abzulenken. »Ist er gebrochen? Kannst du darauf stehen? Versuch es!« »Es geht. Und jetzt?« Krachender Lärm barst in den engen stickigen Raum der Halle im sechsten Stock. Trümmer und Splitter prasselten auf sie nieder, alles wurde schwarz, alles kam herunter. Glas flog herum wie in einem Tornado, harte Stücke von irgendwas prellten gegen die den Kopf schützenden Arme, die Schultern, die Brust … Moseley brüllte wie ein gestochenes Tier. »Der Lift, es hat den Lift erwischt!« Er riss sich zusammen, schrie: »Weg von hier! Zu den Treppen!« Wieder eine ohrenberstende Detonation – unheimlich nahe schien es. Schwarzer Qualm umhüllte, würgte sie. Moseley fasste nach Sarah, sie schloss humpelnd zu ihm auf. Jetzt spürte er eine Einbuchtung – ein Türrahmen! Er stieß gegen die Tür, sie gab nach. Jetzt standen sie auf einem Treppenabsatz. Das 223
Treppenhaus war schwarz von Rauch, doch die Stufen hielten, das Geländer auch. Sie begannen den Abstieg so schnell es ging. Ein Lichtstrahl von unten. Feuerwehrmänner in schwerer Ausrüstung stapften die Stufen hoch. Der vorderste hob die Schutzmaske. »Sind da oben noch Leute?« Moseley bewegte verneinend die freie Hand. Donnern füllte den Treppenschacht – eine Explosion, die von oben kam. Das Treppenhaus wankte. Eine Lichtröhre zerplatzte in einem Funkenregen. Sarah schrie und prallte gegen Moseley, dass der beinahe das Gleichgewicht verlor. Im gespenstisch flackernden Licht sah er eine Frau. Die Afroamerikanerin saß mit ausgestreckten Beinen am Boden, die Hände auf den Bauch gedrückt. War sie etwa schwanger? Moseley brüllte sie an. »Kommen Sie! Stehen Sie auf!« Die Frau starrte ihn apathisch an. Moseley ließ sie einfach sitzen, sprach Sarah Mut zu. »Darling, gleich haben wir’s geschafft!« Auf der dritten Etage wurde es heller. Panisch rannten, stürzten Gestalten die Treppe hinunter. »Die Lifte sind kaputt. Raus, wir müssen raus.« Ein Mann hatte seine Hände ausgestreckt. Lange Fetzen Haut hingen von den Armen herunter bis zu den Fingerspitzen. An beiden Armeni Dann sah Sarah das Gesicht, in dem Teile fehlten. Der Mann stammelte unaufhörlich: »Was ist passiert? Was ist passiert?« »Es brennt, wir verbrennen, wir sind lebendig begraben.« Eine schwarze Frau klammerte sich an Sarahs Arm. Die First Lady riss sich wenig damenhaft los. Ein bedächtige Stimme verkündete geradezu salbungsvoll: »Die Generatoren sind explodiert. Ruhe, Leute, Ruhe!«
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»Gleich sind wir draußen«, keuchte Moseley. »Noch ein paar Stufen und wir sind in der Empfangshalle. Wenn nur der Turm hält!« Die letzte Meldung des Secret-Service-Agenten im 62. Stock kam noch um 09:50 durch. Sie lautete abgehackt: »Wir haben Cincinatti verloren … Verschüttet … O Gott … alles kaputt … das ist das Ende.« Moseley schaute sich nach Sarah um. Sie folgte dichtauf, barfuß, umklammerte immer noch den blöden Golfsack, drückte ihn wie ein Riesenbaby an die Brust. Moseley sah ihre Augen, Sarah kreischte auf. Da sah auch er es – ein gewaltiger Riss tat sich auf. Weißer Staub schoss hoch. Sarah stürzte sich auf ihn, umklammerte seinen Oberkörper, dann sackte der Boden, die Stufen, das ganze Treppenhaus ab. Die beiden Körper, der Golfsack wie ein schutzbedürftiges Kind zwischen sie geklemmt, verschwanden im Wirbel von Staub und Schwärze. Sie fielen … alles fiel … die ganze Welt stürzte in den Abgrund …
53 Endlich – wie nach einer Ewigkeit – hatte Leslie Palmer es geschafft. Sie stand unten in der mächtigen Empfangshalle mit den einst hohen, spitz verlaufenden Fenstern wie in einer gotischen Kathedrale. Ein Mann brüllte fuchtelnd: »Die Aufzüge … die Aufzüge brennen!« Die Fensterscheiben waren weg, die schönen Marmorpaneele von den Wänden gerissen, überall lagen riesige Brocken Beton. Leslie suchte einen Weg aus dem trümmerübersäten Chaos ins Freie. Breitbeinig vor dem Eingang stand eine Feuerwehrfrau. Sie hielt ein Funkgerät vor ihr braunes, verrußtes, schweißüber225
strömtes Gesicht: »Raus hier aus der Gegend. Der Turm kommt runter. Haben Sie ihnen gesagt, dass der Turm runterkommt? Ja, er ist dabei, zusammenzubrechen.« Mit verkniffenen Augen sah Leslie die Flammen oben im Nordturm züngeln. In der zweiundneunzigsten Etage lösten sich Trümmer aus einem qualmenden Loch, fielen ins Leere. Bronx hetzte über die Plaza und die Trinity Street zu seinem neben der Kirche geparkten Explorer. Nicht weit von ihm warf Leslie einen Blick gen Himmel, sah die Turmspitze absacken, herunterkommen. Sie rannte – rannte um ihr Leben. Sie rannte über den Platz, eben noch beliebter Treffpunkt für New Yorker und Touristen, jetzt von verbogenen, scharfkantigen, rauchenden Trümmern übersät. Sie rannte mit letzter Kraft, das Millennium-Hotel schräg gegenüber vor Augen. Der dunkle, quadratische Bau verhieß Sicherheit. Sie wich einem Rettungswagen aus, hetzte zur Straße hinüber, auf der eine Menge Leute in panischer Hast irgendwohin rannten. Glasscherben überall – erstickend ekelhafter schwarzer Staub. Ein Tourist mit verschmutztem Rucksack hinkte vor ihr davon, Firefighters in schwarzen Schutzanzügen, mit langen schmalen Sauerstoffflaschen, hasteten vorbei. Sie musste es über die Fulton Street schaffen. Ein Körper … eine Leiche lag am Boden, der Kopf verdreht, die Augen starr offen. Leute schrien. Leslie rang nach Atem. Überall schallte der Ruf: »Raus hier! Raus aus dieser Hölle …«
54 Das Fallen schien endlos lange zu dauern. Sie würden zerschellen, unter Trümmern begraben und zermalmt. Instinktiv klammerte Moseley sich an das Geländer, erwartete den Aufprall. Sarah ließ nicht los. Auch nicht, als eine Masse Etwas 226
auf sie fiel. Es war nicht Stein oder Metall, es waren Körper. Sie roch, fühlte Fleisch. Für einen Moment glaubte sie das hektisch glänzende Weiß der Augen der schwangeren Frau vom Treppenabsatz gesehen zu haben. Schwärze, nichts als Schwärze, durchbrochen von grellgelben Kringeln war das Letzte, was Jerry Moseley jr. vor seinen Augen sah. Und Sarah … … Sarah spürte einen dumpfen Schlag gegen die Brust, der ihr den Atem nahm. Es krachte, dröhnte, barst. Ein Bergsturz, Wasser zischte, Funken sprühten. Sie sah sich von weit oben in einer gewaltigen Trümmerlandschaft auf dem weichen Fell eines schneeweißen Lamms liegen, spürte nichts mehr. So also war der Tod! Alles schwebte federleicht. Du siehst deinen eigenen erbärmlichen Körper, die Seele lebt, befreit von Pein, sie spinnt den Lebensfaden aus, versprüht ihren Hauch. Nur nicht aufgeben, Sarah, der Geist weht, du bist lebendig! Aber die Dunkelheit, der Rauch, das Elend waren stärker. Das Bild verblasste in ihrem Geist. Die First Lady fühlte nichts mehr. In seinem Explorer neben der Kirche empfing Rick Bronx die abgehackte Stimme seines Kontakts: »FLOTUS hat’s erwischt. Cinderella ist draußen.« Dann brach die Verbindung ab. Rick Bronx’ Rechnung war aufgegangen, die Operation Cinderella planmäßig angelaufen. Er startete den Explorer. Zeit, sich aus der Gefahrenzone davonzumachen. Cinderella war als neue First Lady of the United States, als neue FLOTUS, der Asche entstiegen.
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55 Regen. Nein – Trümmerteile hagelten herunter. Leslie zuckte zusammen, wagte einen Blick empor, hinauf zum Nordturm. Schaurig dunkle Rauchwolken qualmten in den Morgenhimmel, die Fenster stießen weiße Rauchkringel wie Wollstränge aus. Der Anblick war grauenvoll und unglaublich zugleich. Ein Streifenwagen stand festgefahren, verdreckt zwischen Trümmern. Sie stolperte, fiel, raffte sich auf, schaute sich verzweifelt um, die Stirne schmerzte, das Knie brannte. Sie rappelte sich hoch, wankte vorwärts, der Streife entgegen. Alles war mit grässlichem schwarzgrauem Staub bedeckt – ihr Haar, ihre Haut. Explosionen fragmentierten die Luft, erschütterten ihren Körper, Sirenen heulten, Feuerwehrmänner schleppten Gerät heran, jemand brüllte Befehle. »Die ganze Scheiße kommt jeden Augenblick runter«, hörte Leslie eine Stimme, als ihr ein brennender Schmerz in den Rücken stach. Sie strauchelte, spürte nicht mehr, wie sie stürzte, Kopf voran auf einen Haufen von Schutt fiel … Nassim saß steif in seiner Honda, der Motor lieft nervös drehte er an den Handgriffen. Die anderen stiebten mit ihren Maschinen dröhnend weg, machten ihm unmissverständliche Zeichen zu folgen. Er ließ den Motor aufheulen, ruckte vorwärts, schwenkte noch mal herum, beobachtete, wie die Türme brannten. Trümmer flogen jetzt massenhaft herunter, undefinierbares Zeugs knallte krachend runter, jeden Moment konnten ihn Metallfetzen oder Betonbrocken treffen. Nichts wie weg, den andern nach. Da sah Nassim die Frau. Ihr Blondschopf wogte im düsteren Dunst des niedersinkenden Qualms, sie rannte, hetzte wie ein
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verfolgtes Wild über den Schutt – und fiel. Nassim zuckte innerlich zusammen. »Die Frau! Autsch! Voll getroffen, habt ihr das gesehen?«, schrie er auf. Doch die Kumpels hatten schon das Weite gesucht. Ohne zu überlegen ließ Nassim seine funkelnagelneue Honda vorwärts preschen, umkurvte Hindernisse, gelangte näher heran. Etwas traf seinen Helm. »Steh auf, Mädchen!«, schrie er in den Tumult hinaus. Wie tot und erschlagen blieb sie liegen. Mit einem heftigen Knall schlug ein spitzer, kleiner Brocken vorne auf die Maschine, zersplitterte den Scheinwerfer. Nassim rang ums Gleichgewicht, gab reflexartig Gas, fuhr ruppig auf den Gehsteig, über Trümmer, Metall, Stein und all das schreckliche Zeug, das herumlag, herunterfiel, ihn streifte, er merkte nichts. Ein Adrenalinschub peitschte ihn an. Zum Glück hatte Nassim mit seinen Freunden im Bogey Dump auf Long Island Geländefahren trainiert. Motocross war die höchste Form der Beherrschung eines Motorrades – du fliegst durch die Luft, landest hart, musst schleudernd Hindernissen ausweichen, die Steigungen richtig anpacken und vor allem das Gleichgewicht auf steiler Talfahrt bewahren. Die Frau blutete, das Gesicht auf den Boden gedrückt. Eine Wunde klaffte an der Schulter. Er riss aus seinem schwarzen Hemd einen Fetzen, wickelte ihn um ihre Schulter und Armhöhle, knotete den Stoff zu einem Druckverband. Was jetzt? Hilft denn hier kein Arsch? Wo sind die verdammten Sanitäter? »Komm, Mädchen, steig auf!« Mit aller Kraft fasste er sie um die Hüfte, hievte sie hoch, legte den schlaffen Körper quer über die Maschine. Er sah keine andere Möglichkeit, als sie bäuchlings über den roten bauchigen Benzintank zu legen. 229
Das Getöse, Krachen, Schreien hielt unvermindert an. Die Augen brannten, er spähte nach einem Ausweg. Der wunderschöne, wolkenlose Morgen, der blaue, klare Himmel, wie es ihn nur in Manhattan gab, war finsterer Nacht gewichen. Als er endlich losfuhr, krachten rechts und links Fetzen von Zeugs runter, er hielt die Maschine nur mühsam auf Kurs im sich häufenden Staub und Schutt, umkurvte leblose Körper, beugte sich dabei schützend über die Frau, gelangte endlich auf ein freies Stück Straße. Wieder krachte es hinter ihm, eine graue Staubwolke fegte heran, ihn umhüllend, kratzte in seiner Lunge, er duckte sich, erreichte den Pier. South Street Seaport informierte die grüne Tafel am Laternenpfosten. Die stolze, alte Brooklyn Bridge spannte sich in grässlichen Rauchschwaden über den East River, drüben standen Menschenmassen am schmiedeeisernen Geländer und starrten herüber. Nassim fuhr an den Rand des hölzernen Decks am Wasser und hielt erschöpft an. Sein Bein schmerzte höllisch. Huh! Langsam, vorsichtig, legte er die Frau auf die hölzernen Planken. Sie regte sich, er sprach sie an, sie atmete. Gott sei Dank! Als sie die Augen aufschlug und er erleichtert durchatmete, sah er auf der anderen Straßenseite die Ambulanz. Wo blieb der Fahrer? Nassim ließ die Honda stehen, humpelte mit der Frau an der Schulter zum weißroten Krankenwagen hinüber. Harlem Hospital konnte er jetzt die Aufschrift entziffern. Nicht mein Spital, aber meine Ambulanz, entschied er. Erst jetzt fand er Gelegenheit, in ihr Gesicht zu schauen – ein schönes Gesicht, das sich an seine Achsel schmiegte und eine vage Erinnerung auslöste, als wäre er der Frau schon mal begegnet. 230
Der Ambulanzfahrer kniete vornübergebeugt am Rinnstein des Gehsteigs und übergab sich. War es die Möglichkeit? Der Mann kotzte sich die Seele aus dem Leib. Seine hellblaue Uniform war ein von Dreck verklebter, verstaubter Mantel. Keine Sekunde zögernd bugsierte Nassim seine spontan improvisierte Patientin vorne auf den verlassenen Beifahrersitz. Dann checkte er hinten den Rettungsraum. Die Hecktür war offen, der Wagen leer. Nassim schnallte die Gerettete fest. »Seien Sie ganz ruhig!«, sprach er ihr zu und drückte die flache Hand auf die Schmerzstelle seines Steifbeins. Wo waren seine Kumpels geblieben? Er trug immer noch seinen Integralhelm mit dem eingebauten Funk. Er drückte die Sendetaste. Nur hässliches Knistern. Kein Netz. Nix! Seine Hand fand die Schachtel in der Hosentasche. Er schluckte eine kleine Handvoll Tabletten, als plötzlich eine Menschentraube aus dem Dunst zur offenen Wagentür drängte. Erregte Stimmen: »Wir sind verletzt! Nehmt uns mit! Ein Arzt? Sind Sie Arzt? Helfen Sie mir!« Ein blutüberströmter Mann fiel der Länge nach auf den metallenen Wagenboden. Andere stiegen einfach ein. Chaos! Nassim warf die Tür ins Schloss, packte ein Mädchen, das mit einem völlig verdrehten Fuß schluchzend auf dem Gehsteig hockte, hievte es hoch, neben sich und die Frau, auf die Sitzbank. Er schaltete die Sirene ein, fuhr brutal los. Im Rückspiegel sah er nichts als eine graue Wand von Qualm. Den schwarzen Explorer, der hinter ihm mit gespenstischem Scheinwerferlicht aus der Staubwolke auftauchte, bemerkte er nicht. Er beugte sich über das Lenkrad und atmete tief durch. Krieg in Manhattan. Wer macht das, wer steckt dahinter? »Ich bringe Sie zur Notfallstation meines Spitals an der 33. Straße«, schrie Nassim durch das vergitterte Fenster nach
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hinten, rückte mit der freien Hand den notdürftigen Verband an der Schulter seiner Patientin zurecht. »Keine Sorge, wir kriegen Sie wieder fit. Wo kommen Sie her?« »Warum fragen Sie?«, fragte sie lau. Er äugte wieder scharf hinüber, hatte immer noch das nagende Gefühl, die Frau müsse er kennen. »Sind Sie berühmt oder so was?« Der Verkehr teilte sich brav vor dem heranwirbelnden Blaulicht. Nassim drückte das Pedal bis auf die Bodenmatte durch. »Passen Sie auf!« Er trat scharf auf die Bremse. Die Räder quietschten, der Wagen schlitterte. Eine junge Frau auf extrem hohen Stiletthacken, in kurzem, eng anliegendem Rock stöckelte seelenruhig über den Zebrastreifen, als wäre sie auf einem Haute-Couture-Laufsteg in Paris, sich einen Dreck um die Ambulanz kümmernd. »Verdammte Schlampe«, dröhnte Nassim. »Baby, du bist nicht geil genug, um so langsam zu watscheln!« Wieder gab er Gas, schrie durch das Motorengeheul: »Können Sie das glauben? Lauter Verrückte in dieser Stadt!« Als er in die 33rd Street einbog und weiter vorne die Auffahrt zur Notfallstation in Sicht kam, sah er, dass die Frau ihre Hand in die des verletzten Mädchens gelegt hatte. Nassim ließ nicht locker. »Also, wirklich, Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor. Habe ich eine Bildungslücke?« Leslie betastete ihre schmerzende Schulter mit einem Anflug von Lächeln. »Wie wär’s mit Desperate Housewives?«
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56 CIA-Agent Bronx war in ruppiger Fahrt und mit laufenden Wischern in die Trinity Street eingeschwenkt. Im Durcheinander sah er zunächst nicht viel, dann orientierte er sich an den Merkpunkten, die er sich vor dem Coffeeshop vorsorglich gegeben hatte. Er registrierte undeutlich zweierlei: SecretService-Agenten rannten zu ihren Fahrzeugen. Einen haute es um, er blieb liegen, und weiter vorne sah er den Motorradfahrer mit Cinderella wie eine Puppe überm Tank hängend in die Querstraße einbiegen. Ein bizarres Bild. Mit verkniffenen Lippen nahm er die Verfolgung auf. In der Notfallstation kam die Ambulanz mit kreischenden Reifen zum Stillstand. Die Sirene erlosch, die Lichter blitzten unvermindert weiter auf, den Notfall einhämmernd. Ein halbes Dutzend Sanitäter in hellblauen T-Shirts mit Namensschildchen hasteten Bahren schiebend auf Gummisohlen heran. »Amanda! Röntgen, Druckverband«, wies Nassim die Schwester mit Mandelaugen über dem Mundschutz an. »Sie hat Priorität, dann hinten den Mann und dort das Mädchen.« Alles lief professionell ab. Tausendmal durchgespielt. Schusswunden, Schädel- und Nasenbeinbrüche, schwere Traumata von Verkehrsunfallopfern gehörten in der Notfallaufnahme des NYU Medical Center zur Tagesordnung. Sie zurrten Leslie fest, schoben sie im Laufschritt weg. Nassim trabte an der Seite mit, eine Hand an die Bahre gelegt. Schwester Amanda tippte ihm auf die Schulter. »Der Notfall ist überfüllt, Doktor.« »Wird nicht lange dauern«, keuchte er und warf einen besorgten Blick nach hinten. Leslie schaute ihm unverwandt in die Augen. »Wer sind Sie?« 233
»Nassim. Ich arbeite hier als Arzt.« »Nassim?« Sein Gesicht schien ihr eigentümlich schön, mit all den Furchen und Falten. Motorenlärm und das abgehackte Jaulen einer Sirene zerstörte die von professioneller Effizienz geprägte Ruhe der Notfallaufnahme. Schwere Geländewagen preschten in die Auffahrt, die Schläge öffneten sich, Männer in schwarzen Anzügen und mit dunklen Brillen stürzten zum Eingang. Bronx überschaute die Aktion, als er hinter dem SecretService-Konvoi in die Notfallstation rollte und unauffällig in einem für Ärzte markierten Feld parkte. Dann schritt er gemächlich ins Innere, eine Hand unter der Jacke, wo die Neunmillimeter am Gürtel hing. »Los, los – rein in den Lift!«, kommandierte Nassim scharf. Die drei Secret-Service-Typen kamen um Sekunden zu spät. Die Türen des breiten Lastaufzugs schlossen sich vor ihren stumpfen Nasen. Zwei rannten wie eingedrillt sofort zu den Treppen, der Dritte blieb stehen, beobachtete die Liftanzeige und versuchte fluchend, sein Funkgerät zum Senden zu bringen. »Alles verstopft!« »Verdammt, wer zum Teufel sind Sie?«, herrschte Nassim seine Patientin an. »Ein paar außergewöhnlich hässliche Leute sind hinter Ihnen her. Kennen Sie die Typen?« Leslie schüttelte wortlos den Kopf. Aus ihren Augen traf ihn ein flehender Ausdruck, eine stummer Hilfeschrei. Gegenüber flehenden Frauenaugen war Nassim schon immer empfindlich gewesen – meist gezielt empfindlich. Hier, jetzt, war er jedenfalls zuerst Chirurg. »In die Chirurgie!« Als der Lift stoppte, drückte Nassim den Knopf für die höhere Etage. Dieses Ausweichmanöver brachte nur einen minimalen Zeitvorteil. Wenige Minuten später inszenierte Bronx seinen imposanten öffentlichen Auftritt. Auf der Etage der chirurgischen Abteilung 234
lag Leslie Palmer auf dem Rollbett, umringt von gestikulierenden Agenten des Secret Service. Einer richtete seine Pistole auf den jungen Arzt, der mit halb erhobenen Armen an die Wand zurückwich. Trotz der vorgehaltenen Laufmündung blieb Nassim erstaunlich gelassen, versuchte, die unerwünschten Besucher, die mit ihren Dienstmarken herum protzten, abzuwimmeln. »Ich bin Arzt, die Frau ist ein Notfall, scheren Sie sich zum Teufel.« In diesem Moment streckte Bronx seine CIA-Dienstmarke vor die verdutzten Gesichter der Geheimdienstler, verkündete mit Stentorenstimme, ganz als wäre er höchstpersönlich der Polizeichef der Stadt: »Sir, diese Patientin ist die First Lady der Vereinigten Staaten. Treten Sie zurück.« Verblüfft starrten die Männer in Schwarz auf das Handschild mit dem bronzenen Nathan-Hale-Männchen im runden CIASignet. Ein Breitschultriger mit wirrer Frisur fasste sich zuerst. »Wissen wir schon lange, Sir, was machen Sie hier?« »Spezialagent Bronx, CIA. Verhaften Sie sofort diesen Araber. Wir haben ihn schon länger im Auge. Er versuchte, die First Lady zu kidnappen. Ein Terrorist. Er gehört zu den verdammten Scheißkerlen, die gerade unsere Stadt bombardieren.« »Das hier ist ein Spital, verschwinden Sie«, versuchte Nassim, zur eigenen Überraschung völlig überrumpelt. Wo bleibt der interne Sicherheitsdienst? Warum gibt niemand dem Chefchirurgen Bescheid? Die Sanitäter waren wie vom Erdboden verschluckt. Keine Zeugen! Die chirurgische Abteilung glich einer Geisterhalle. Nassim schob den Instrumentenwagen heran, beugte sich über die Patientin. Während seine Hand nach dem Skalpell tastete, wusste er plötzlich, wo er das Gesicht schon gesehen hatte. Was sollte er tun? Unbemerkt schob er das Skalpell in die Hosentasche, umfing es mit der Hand. 235
Einer der Männer, der bis dahin ruhig daneben gestanden hatte und auf Nassim einen besonnenen Eindruck machte, hob gebieterisch die Hand. »Lasst den Arzt ran«, befahl er. »Er soll sie behandeln. Sie blutet an der Schulter!« Nassim beugte sich über die Patientin. Während er die Wunde begutachtete, raunte er ihr zu: »Sie sind okay, Madam. Nichts gebrochen. Sagen Sie doch etwas zu diesen Rambos!« Derselbe Mann meldete sich wieder, mit seiner Ruhe einflößenden Stimme. »Ist sie transportfähig?« Nassim nickte. »Aber jetzt braucht diese Frau eine Tetanusinjektion. Prophylaktisch.« Seine Diagnose schien niemand zu interessieren. »Darum kümmern wir uns«, entschied der Sprecher der Gruppe. So standen die Meinungen fest. Sie glaubten dem CIA-Mann, sahen in Nassim einen als Arzt getarnten Terroristen. Schuldig, bis zum Beweis des Gegenteils!, schoss es ihm durch den Kopf als er, aufbegehrend, den Hörer vom Wandtelefon riss – ihm einer der Secret-Service-Leute blitzschnell den Arm auf den Rücken drehte. Die Handschellen klinkten ein, dazu ein offenbar tief empfundenes: »Terroristenschwein!« Womit er zur Seite gedrängt wurde. Als Nassim sich mit plötzlicher Kraftanstrengung herumwarf, die beiden Agenten, die ihn festhielten damit momentan aus der Balance brachte, sah er, wie sich der CIA-Typ über die First Lady beugte. Trotz der prekären Lage musste er grinsen. Eine Zeleb! Das konnte man wohl behaupten!
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57 Bronx nutzte das von ihm inszenierte Gerangel um den Arzt, um Leslie letzte Instruktionen einzuschärfen. »Jetzt passen Sie gut auf, Leslie«, flüsterte er in eindringlichem Ton, »der Ernstfall hat begonnen. Sie müssen jetzt durchhalten. Wer sind Sie? Sagen Sie es mir!« Als er diese Frage stellte, umklammerte er mit eisernem Griff ihren Oberarm so schmerzhaft, dass sie verstört aufblickte. »Sarah Crawford«, kam die Antwort. »Gut«, lobte Bronx und lugte hinüber zu den Agenten, die den Arzt umzingelten und festhielten. »Die Bewährungsprobe steht Ihnen noch bevor«, presste Bronx zwischen den Zähnen hervor, die Lippen minimal bewegend. »Machen Sie schlapp, sind Ihre Boys innerhalb von Stunden kalt und tot.« Abgebrüht wie er war, fuhr ihm Leslies Blick trotzdem wie ein giftiges Stilett ins Auge. So kalt, so tödlich kalt blickte sie ihn an, dass er unwillkürlich zurückwich. »Was geht hier vor?«, fragte der besonnen wirkende Secret Service in Bronx’ Rücken. »Die First Lady wünscht frische Kleider«, antwortete Bronx ruhig. Er richtete sich voll auf, musterte den Fragesteller von Kopf bis Fuß. »Wer sind Sie, wenn ich fragen darf?« »Frank Sureman, Secret Service. Persönlicher Schutz, First Lady.« »Haben Sie zufällig eine Legitimation?« Sureman klaubte stoisch seinen Ausweis hervor. »Madam kennt mich.« Bronx tat, als prüfe er die Dienstmarke sorgfältig. »Gut«, entschied er, »Sie bringen die First Lady in Sicherheit.« 237
Mehrmals nickend kniete Agent Sureman am Rollbett nieder. In seiner Stimme lag ehrliche Besorgnis. »Mein Gott, Madam, was ist passiert? Hat man Sie gut behandelt?« Leslie wandte den Blick ab, schloss die Augen. »Wir haben ein kleines Problem«, meinte Sureman, sich aufrichtend. »Wir müssen Sie irgendwo unterbringen, bis unsere Transporte organisiert sind. Haben Sie Klamotten? Einen sicheren Raum, wo sie sich erholen kann?« Der Secret Service hatte im Notstandsbunker des Bürgermeisters von New York ein paar Räume zu Verfügung, um Einsätze in Manhattan zu leiten. Dort befand sich auch eine Hilfsstelle, doch das WTC-7-Gebäude mit dem Bürgermeisterbunker lag neben den Türmen mitten in der Gefahrenzone, fiel somit außer Betracht. »Haben Sie mich verstanden?«, drängte Sureman. Bronx nickte ein paar Mal abwägend. »Warum wohl nicht? Ja, wir haben ein sicheres Haus in Brooklyn. Die Route dahin ist offen, soweit ich weiß. Sie folgen mir einfach, ich fahre mit der First Lady voraus.« Leslie richtete sich auf, stützte sich auf einen Ellenbogen. »Ausgezeichnet. Da brauche ich nicht länger hier herumzuliegen.« Ihr Ton ließ keinen Widerspruch zu. Sie schwang die Beine über die Rollbettkante, stand auf. »Agent Sureman wird uns begleiten, Madam«, beeilte Bronx sich ihr zu versichern. Als Zeichen zum Aufbruch deutete er mit dem Kinn den Korridor hinunter. Draußen wehte ein warmer Wind über den Platz. Als Leslie, wie Sureman sie angewiesen hatte, auf dem Rücksitz von Bronx’ Explorer Platz nahm, schweifte ihr Blick über das flache Dach des niederen Empfangsgebäudes zur Skyline der Südspitze Manhattans. Vergeblich suchte sie die vertraute Silhouette der Twin Towers, jene stolzen Wahrzeichen des kontemporären 238
Manhattans. Die gewaltigen Türme des Welthandelszentrums waren verschwunden, wie fortgeblasen. Leslie fühlte, wie sich ihr Magen, ihr ganzer Unterleib zusammenzog. Ihr Herz allerdings schlug schon etwas ruhiger. Sekunden später preschte Bronx aus dem Parkfeld hinaus in die Straße und weiter in Richtung FDR Drive. Er schaltete das rotweiße Blinklicht ein. Zwei Wagen des Secret Service folgten dichtauf. »Wo fahren wir hin?« Der aufheulende Motor erstickte ihre Worte. »In ein sicheres Haus«, schrie Bronx über die Schulter. »Dann ab nach Washington.« »Wo ist Sarah Crawford?« »Tot. In den Trümmern des Südturms. Vergessen Sie’s. Sie haben es geschafft. Knapp den Klauen des Todes entronnen, kehren Sie vom Schock gezeichnet ins Weiße Haus zurück. Das ist Ihre Rolle. Ihre Bewährungsprobe hat begonnen!« Die neugeborene Sarah Crawford verzog keine Miene. Plötzlich fühlte sie sich wie kurz vor einem Bühnenauftritt – erregt, innerlich gestrafft. Da kam auch schon ihre erste Replik, lässig mokant geboten, wie sich’s für eine First Lady gehört. »Sie meinen wohl Feuertaufe!«
58 Das sichere Haus mit abblätternder rötlicher Fassade stand isoliert von anderen Gebäuden etwa fünf Stockwerke hoch am Wasser. Eine Umzäunung aus dicken hohen Gitterstäben war von einem massiven Tor unterbrochen, das sich automatisch öffnete, als die verschalten Stoßstangen des Explorers sich näherten. 239
PUBLIC STORAGE, las Leslie auf einem grellgelben Schild. Der Wagen glitt in die Unterflurgarage. »Ein sicheres Haus«, wiederholte Rick Bronx wenig später in einem trostlosen, grauen Raum mit einem funktionellen Bürotisch in der Mitte. Er öffnete einen kleinen Kühlschrank, ließ Eiswürfel in ein breites Glas klirren und reichte es Leslie. »Ich trinke keinen Whiskey«, lehnte sie ab und trat ans Fenster. Es war furchtbar. Rauchschwaden lagen düster über der Stadt. Dass die Türme im Bild des Finanzdistrikts fehlten, konnte sie immer noch nicht fassen. Sie machte dort im schwarzgrauen Dunst ihr Gebäude mit den Büros des Marinenachrichtendienstes aus. In diesem Augenblick traf sie die Erkenntnis mit voller Wucht. Keuchend ließ sie sich in das braune, mit Rissstellen durchsetzte Sofa fallen, deutete auf das Whiskeyglas. »Na, geben Sie her!« Sie war Sarah Crawford, First Lady, was nichts anderes hieß, als dass Leslie Palmer nicht mehr existierte. Natürlich! Ms. Palmer würde nie mehr ins Büro zurückkehren, auch nicht in ihre Wohnung. Craig und Alex würden sie … es war furchtbar. Ben! Dann die Beerdigung von Vater. Heute Nachmittag! Leslie Palmer, ein Opfer des Terroranschlags! Nach Atem ringend stürzte sie den Drink hinunter, den ihr Bronx mit prüfendem Blick aus kantigem Gesicht reichte. Leslie kam nicht dazu, sich das Unfassbare weiter auszumalen. Eine große flache Mattscheibe flimmerte und nahm augenblicklich ihre ganze Aufmerksamkeit gefangen. Fassungslos starrte sie auf die zwei jungen Gesichter, die eine ferngesteuerte Kamera heran zoomte. »Craig, Alex!«, kreischte sie, sprang hoch, das Glas entglitt ihrer Hand. »Wo sind Sie? Was machen Sie mit meinen Jungen?« 240
Leon, der schwarze Koloss mit zusammengedrückter Stirn, trat ein. »Sie haben zweiundsiebzig Stunden Zeit, Ihren Auftrag zu erfüllen, Leslie«, sagte Bronx in die angespannte Stille. Sein Ausdruck war eiskalt. Leslie wollte ihm an den Kragen, ihn würgen, wie neulich auf der Plaza, doch die schwere Hand des riesigen Schwarzen riss sie zurück. »Die Zeit läuft, und das Wasser steigt. Schauen Sie gut hin, Leslie.« Sie starrte wie betäubt auf ihre Zwillingssöhne. Die kauerten in einem flachen Boot, eine Art umrandete Plattform, schien ihr, die wie ein Ponton auf dem Wasser lag. »Der Raum ist hermetisch abgeschlossen. Der Wasserpegel steigt ständig, nach genauen Berechnungen. Hier sehen Sie, was passieren wird. Keine Angst, das hier ist vorläufig noch eine Simulation.« Bronx tippte salopp auf eine Taste. Leslie wand sich im eisernen Griff des Schwarzen. Der Ponton mit den zwei Comicfiguren, die ihre Söhne darstellten, näherte sich langsam, unaufhörlich der Decke, während der Countdown am Bildrand ablief. Jetzt schlug er oben an, das Wasser schwappte über das Boot. Die beiden digitalen Figuren ruderten verzweifelt mit den Armen, als ihnen das Nass an den Hals reichte. Sie rangen nach Luft, schlugen mit emporgestreckten Köpfen an die harte Decke – dann war der Raum voll Wasser, die virtuellen Körper auf dem Schirm erschlafften. Bronx schaltete das Tape ab. Leslie schlug plötzlich und unerwartet, jedoch vergeblich, mit Händen und Füßen aus. »Ich werde Ihre Söhne ertränken, genau wie Sie’s grade gesehen haben, es sei denn, Sie machen in den nächsten zweiundsiebzig Stunden genau, was ich Ihnen sage.« 241
»Sie, Sie sind …« »Sie haben zweiundsiebzig Stunden Zeit. Der Wasserspiegel braucht genau diese zweiundsiebzig Stunden, um bis hoch an die Decke zu steigen.« Bronx gab dem Schwarzen einen Wink. Leon ließ sie los, ging wortlos aus dem Zimmer. Sowie er die Tür hinter sich zugezogen hatte, begann Bronx zu erklären, was er von ihr verlangte. Ungeheuerlich! Den Präsidenten umbringen! Leslie saß wie gelähmt da, starrte auf den Bildschirm. Jetzt zeigte die Kamera Alex und Craig live in diesem furchtbaren Schwimmkäfig. Bronx’ Stimme drang wie von weit her an ihr Ohr. »… Sie werden die genauen Instruktionen rechtzeitig erhalten. Wenn Sie zur Polizei oder zum FBI gehen, ich werde es als Erster wissen. Die Uhr tickt. Sie allein haben das Schicksal Ihrer Söhne in den Händen.« Leslie stand auf, rannte zum Bildschirm, trommelte mit den Fäusten darauf, rief die Namen ihrer Söhne, sank in die Knie. Bronx reichte ihr ein mit einem Beruhigungsmittel gemixtes Glas Wasser. Sie trank gehorsam, geradezu dankbar. Noch leben meine Boys! Secret-Service-Agent Sureman traf etwas später eine ruhig wirkende First Lady in einem schlecht sitzenden, grauen Kostüm in der Halle. »Der Präsident ist orientiert, Madam, der Rücktransport ins Weiße Haus organisiert«, informierte er effizient. Orientiert? Dass sie nicht lachte. Das ist doch der pure Wahnsinn! Dann trat Bronx in ihr Blickfeld, den Daumen nach oben in die Luft streckend, machte er diese blöde, abgegriffene Geste. Er kam näher, beugte sich flüsternd über sie. »Seien Sie tapfer. Alles geht gut aus!« 242
Die Daumen-hoch-Strecker sind die Übertünchenden, sprang Leslie der Satz ins Gedächtnis. Sie finden an jedem feuchten Scheißdreck noch was Positives. Der Daumen ist ihr ErsatzStänder. Die Daumen-hoch-Strecker sind falsch, weil anal fixiert und … Diese Gedanken taten ihr gut. Bronx war schlicht ein Arschloch. Sie würde mit ihm fertig werden. Sie musste einen Weg finden. Bronx hatte seine Schwachstelle, von der er nicht ahnen konnte, dass sie sie kannte, nämlich Angst, dass er das Einzige verlieren könnte, was ihm in seinem Leben was bedeutete … »Drei unserer besten Leute sind im Dienst gefallen«, sagte Sureman mit zusammengepressten Lippen zu Bronx. »Die ganze Eskorte der First Lady ist im Südturm umgekommen.« Stunden später, unterwegs nach Washington, wurde Leslie alias First Lady Sarah Crawford klar: Es geht nicht um Amerika. Es geht einzig darum, Alex und Craig zu retten. Alles andere spielt keine Rolle. Sie würde es tun. Was es auch immer war, das Bronx verlangte. In zweiundsiebzig Stunden würde alles vorbei sein. Bevor sie irgendwann einnickte, sah sie das eigentümlich schön gefurchte Gesicht des Arztes über sich. Sie öffnete halb die Lippen und wartete, dass er näher kam. Wie hieß er noch? Nassim! Ein Name wie eine exotische Blume.
59 Eine halbe Stunde war vergangen, seit die First Lady im sicheren Geleit der Secret-Service-Agenten das Spital verlassen hatte. Zwei übel gelaunte, sichtlich erschöpfte New York City Cops stapften heran, klopften Staub von ihren Uniformen, glotzten den Verdächtigen feindselig an. Ihre weißverstaubten Gesichter wirkten im grellen klinischen Licht wie primitive Masken, und 243
wenn ihr Augenfunkeln etwas signalisierte, so war es nichts als blanke Wut. Die Finger des einen öffneten und schlossen sich nervös wie die Krallen einer Raubkatze. Nassims Teint ließ sich als lohfarben bezeichnen, eine Nuance heller als beige und wies mit all den markanten Falten im Gesicht einen Zug von Schönheit auf, den er mit jungen Jemeniten oder Lawrence-ofArabia-Typen teilte. Ein FBI-Agent namens Tom Lazio, ein Arbeitsmensch in zerknittertem Anzug und loser Krawatte, las Nassim den kurzen Text seiner verfassungsmäßigen Rechte von einer kleinen Plastikkarte ab, die er wie einen Puderspiegel in die Hand geklemmt hochhielt. Nicht gerade ein Gedächtniskünstler, dieser Typ!, feixte Nassim für sich. Darauf schubsten ihn die beiden Cops unsanft in den Lift. Als die Tür zuging, verabreichte ihm der mit dem Fingerzucken ohne Rücksicht auf die Verfassung noch einen Hieb in den Unterleib. »Jetzt ist Krieg, Scheißaraber!« Der andere verpasste dem sich Krümmenden einen Fausthieb gegen den Schädel. Vor dem Portal stießen sie den benommen torkelnden Gefangenen in den unmarkierten Van. Nassim fiel hart auf die Metallpritsche im Innern des Hecks. »Wir bringen einen Terrorverdächtigen ein, hören Sie mich? Scheiße, kein Netz, alles ist lahmgelegt.« Der Cop auf dem Beifahrersitz warf das Gerät in die Ablage, starrte grimmig auf die von Fahrzeugen verstopfte Straße. Nassim hörte den Fahrer fluchen. Nur ruckweise kamen sie vorwärts. Das Blaulicht half erst, als sie die breitere Avenue erreicht hatten. Der Wagen schoss vorwärts. Der Cop auf dem Beifahrersitz trommelte mit der Faust frustriert auf das Funkgerät, das nur Knistern von sich gab. Dann geschah es. Nassim hatte sich zufällig aufgerichtet, um durch das Gitter nach vorne spähend herauszufinden, wo sie langfuhren.
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Der Feuerwehrleiterwagen schoss wuchtig in die Avenue hinein. Hornend, blinkend, schlitternd. Nassim duckte sich, hielt die mit Handschellen gefesselten Hände schützend über den Kopf. Der Polizeiwagen quietschte, Schreie vom Vordersitz, dann der fürchterliche Aufprall. Der Laster der Leiterkompanie 4 hatte den Gefangenentransport frontal erwischt. Das Kreischen von Metall nahm kein Ende. Es dröhnte, hämmerte um ihn herum. Endlich, nach einer Ewigkeit, bewegte sich nichts mehr. Stille. Lebte er noch? Nassim bewegte vorsichtig die Schultern, die Arme, Füße. Die Wucht des Aufpralls hatte ihn ins Gitter geschleudert, das die Fahrerkabine vom Gefangenenraum trennte. Unter ihm, unter dem Gitter, sah er die Hand, dann das blutige Gesicht. Der Beifahrer. Nassim begriff, dass der Cop noch lebte, dass der Wagen auf dem Kopf stand. Er drückte sich ans Gitter, brüllte den Mann an: »Geben Sie mir die Schlüssel für die Handschellen!« Der Polizist öffnete matt die Augen. »Den Schlüssel, Mann! Ich bin Arzt. Ich hole Sie raus.« Es roch gefährlich nach Benzin. Der Polizist bewegte sich. Mühsam kam eine Hand hoch. Mit größter Mühe und sich aufs Äußerste streckend konnte Nassim den kleinen flachen Schlüssel ergattern. Hastig öffnete er die Fesselung, steckte die Handschellen ein. Als er wieder auf den Cop blickte, waren dessen Augen starr geworden. Nassim kletterte aus dem Wrack, sprang auf die Straße und fühlte einen stechenden Schmerz im Oberschenkel. Das Skalpell! Vorsichtig zog er es aus der lasche, als ihn eine Stimme erstarren ließ. »Still gestanden! Würde dir so passen, einfach abzuhauen, was!« Ein kleinwüchsiger Polizist mit gekräuselten schwarzen Haaren kam ein Paar Handschellen schwenkend auf ihn zu. 245
Nassim überlegte nicht lange. »Ihr Kollege lebt noch«, kommandierte er gebieterisch. »Los, worauf warten Sie noch, ich bin Arzt. Packen Sie zu!« Er schwenkte sein Skalpell, hielt es mit den Zähnen fest. Er muss schauerlich ausgesehen haben, zudem durchbohrte er den Bullen mit einem Furcht einflößenden Blick, so dass dieser auf der Stelle sein Gewaltmonopol vergaß und lammfromm in Kauerstellung ging, um nach dem vermeintlich nur Verletzten zu sehen. Vermutlich war es die Wut, die in Nassim brodelte, ihn jetzt völlig kaltblütig handeln ließ. Kaum hatte sich der Cop niedergekniet, packte ihn Nassim brutal am Handgelenk. In derselben Sekunde schnappte die Handschelle ein. Zweimal – am Handgelenk des Überrumpelten und am verbogenen Fensterrahmen des Autowracks. Mit zwei professionell gekonnten Skalpellhieben schnitt Nassim dem Polizisten den ledernen Waffengürtel auf, zog das Halfter mit der schweren SIG Sauer aus der Schlaufe, streifte das Funkgerät vom Riemen. Das genügte ihm voll und ganz. Um sich blickend, stand er ruhig auf. Kein Mensch kümmerte sich um die lauten Proteste des gefesselten Cops – sein Geschrei ging im Lärm unter. Die Menge starrte nur nach Süden – dorthin, wo die Zwillingstürme als Symbol der amerikanischen Wirtschaftsmacht gestanden hatten, dorthin, wo jetzt nur eine erbärmliche, schwarz qualmende Lücke klaffte. Alle standen im Schatten eines wahrhaft enormen Verbrechens – auch Nassim. Was es ihm erleichterte, hinter dem Lastwagen der Leiterkompanie zu verschwinden, dabei elegant über die Öllache setzend, die breit vom Wagen zum Rinnstein floss.
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60 Der Anblick des Weißen Hauses überwältigte sie immer von neuem, auch dieses Mal. Das Zentrum der Macht stand Leslie lockend offen. Spielte sie ihre Rolle richtig, war sie jetzt die First Lady der USA! Ein Strom aufregend widersprüchlicher Gefühle durchflutete sie. Nicht eins, sondern drei Leben hingen am dünnen Faden ihrer Schauspielerkunst. Schockiert entdeckte sie ein innerliches Grinsen. Welche Herausforderung! Die schwarzen, massiven Gittertore öffneten sich automatisch, die Marinesoldaten der Wache grüßten schneidig. Vor dem breiten Portal stand bereits in strammer Haltung matronenhaft eine junge Frau mit einem zum Hosenanzug der Uniform perfekt passenden Dienstgesicht. Der Wagen hielt. Die Agentin des Secret Service eilte geschäftig heran. Auf ihrem dunklen, ovalen Gesicht glänzte der wache Ausdruck von Einsatzbereitschaft. »Das ist Rita, die Neue«, informierte ihr Driver rechtzeitig, gerade noch bevor der Schlag schwungvoll aufging. »Guten Tag, Madam, wohin darf ich Sie begleiten? In den roten Raum?« Leslie würde sich daran gewöhnen, dass sie die Türen nicht mehr selber öffnen musste. Roter, grüner, blauer Raum? Ein mulmiges Gefühl machte sich im Magen breit. Sie stutzte. Was sollte sie antworten? Sie erinnerte sich überhaupt an nichts mehr. Der sorgfältig einstudierte Wohnungsplan fand nicht in ihr Gedächtnis zurück. Ihre Gedanken schwirrten wie desorientierte Heuschrecken im Schädel umher. »In die Küche, bitte«, fasste sich Leslie. »Eine Frau gehört an den Herd.« Dem barschen Ton haftete ein Hauch von Scherz an. Die Geheimdienstfrau wagte ein rasches, kurzes Lächeln. Von lautem Beifall keine Rede – ich muss meinen Dialog straffen!
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Die Küche des Weißen Hauses scheute durchaus keinen Vergleich mit der eines Fünfsternehotels. Schon gar nicht, was die blitzblanke Sauberkeit anbelangte, für die der Chefkoch persönlich seine Hand ins Feuer legen würde, sollte das von ihm verlangt werden. Ein großer polierter Herd mit golden verzierten Griffen dominierte die fast klinisch anmutende Anlage, in der täglich für Hunderte das Essen nach Sitten und Religionen vieler Länder zubereitet wurde. Der Mann, der für die reibungslose und zeitgerechte Erfüllung aller Wünsche und Marotten rund um die Uhr zuständig war, trat aus seinem Office neben der kühl temperierten Küche hervor, grüßte freundlich mit einer leichten Verbeugung. »Willkommen zurück, Madam. Wie geht es Ihnen?« Beschissen, dachte die ehemalige Leslie jetzt Sarah. »Gut, ausgezeichnet. Und Ihnen, Chef?« Küchenchef Mosiman stutzte einen Sekundenbruchteil. Seine breite, in blendend weißes Leinen gekleidete Brust wich unmerklich zurück. Chef hatte die First Lady noch nie gesagt. Es gefiel ihm, gefiel ihm sehr. »Gut, Madam. Danke für die Nachfrage. Hoffentlich erwischen wir diese Schweine.« Er ballte eine Faust gegen imaginäre Terroristen. »Darf ich Ihnen etwas zubereiten? Das Übliche vielleicht? Schön gegrilltes Gemüse?« »Ich pfeife auf das Übliche, Chef. Haben Sie vielleicht ein anständiges Steak? Ich habe einen Bärenhunger.« »Sofort, Madam. Zehn Minuten max. Wir bringen es Ihnen gleich hoch.« Leslie lehnte sich lässig an die Anrichte, pickte eine Olive aus einer Schale neben frischem, appetitlich geschnittenem Brot.
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»Ich warte hier«, beschied sie kauend. »Kann Ihnen ja ein bisschen über die Schulter gucken. Sie können mir das Menü dann persönlich servieren, Chef.« Mosiman lächelte verschmitzt. Dieser neue Ton passte ihm. Die Frau musste in New York allerlei durchgemacht haben, wie er gehört hatte, aber die trat jetzt ganz schön cool auf. Während er mit Pfanne, Olivenöl und Gewürzen hantierte, warf er ihr einen verstohlenen Blick zu – vielleicht einen Herzschlag länger, als es sich schickte. »Stieren Sie nicht so!«, parierte Leslie. »Sie machen mich nervös.« »’tschuldigung, Madam, tut mir wirklich leid, Madam, ich bin ein nervöses Wrack heute mit allem was …« Er schlug mit dem Schwingbesen heftig in die Glasschale, als müsse er seine zitternde Hand kaschieren. Sie lachte ihr helles Lachen, fuhr sich mit der Hand durch die vollen Haare. »Also kommen Sie schon, raus mit der Sprache! Ich sehe furchtbar ramponiert aus, richtig?« Mosiman hielt in seinem Anfall von Rührseligkeit inne, gestand kleinlaut: »Nun, als ich Sie anschaute, da dachte ich einen Moment …« »Was dachten Sie? Ich will’s wissen! Ich beiße doch nicht.« »Nun, Madam, ich dachte eben, wir hatten doch neulich dieses Double, das kurz mal in die Küche kam. Sie erinnern sich doch? Ihre Doppelgängerin?« Fragend blickte er auf, als sie näher kam, ihm burschikos einen spitzen Finger auf die Brust setzte. »Hey, wollen Sie etwa behaupten, Sie haben mich nicht erkannt?« Mosiman wich bestürzt zurück, protestierte mit beiden Händen fuchtelnd, so dass ihm der Schwingbesen entglitt und auf den schneeweißen Kachelboden federte. Die ehemalige Leslie brach in schallendes Gelächter aus. 249
»Nein, nein, im Gegenteil«, verwahrte sich Mosiman mit rot übergossenem Gesicht. »Ich dachte so bei mir, nein, dachte ich, die First Lady ist unverwechselbar. Niemand, kein Double kann sie ersetzen. Die Doppelgängerin war ein billiger Abklatsch, wenn Sie gestatten.« »Allerdings, eine abscheuliche Person«, stimmte Leslie lächelnd zu, mahnte dann: »Lassen Sie nichts anbrennen, Chef!« Sie deutete viel sagend auf den Herd, wo brutzelnd heißes Fett nach allen Seiten spritzte. Mosiman wischte sich die Hände an der Schürze ab, warf mit souveränem Schwung ein Stück Fleisch in die große flache Pfanne, wobei er stolz verkündete: »Filet Mignon aus erstklassiger texanischer Zucht, gut abgehängt.« »Medium, bitte, Chef!«, gab die First Lady ein. »Absolut, Madam. Einen Salat gefällig?« »Ja, und Pommes, bitte.« Sie tunkte ein Stück frischgebackenes Baguettebrot in Olivenöl. Auch das war neu. Die First Lady hatte nie viel übrig für French Fries und Oliven, aber Mosiman war genug in der Welt herumgekommen, um sich nicht bei Trivialem aufzuhalten. Als das Filet wie gewünscht à point gebraten war, legte er es mit dem Teller auf ein Serviertablett, folgte dann der First Lady leichtfüßig in das obere Geschoss, wo die Hausdame bereits den Tisch im privaten Dining Room dezent attraktiv gedeckt hatte. »Sie sind doch aus der Schweiz, Chef, ist doch so?«, erkundigte sich Leslie, als er das Essen auf den großen, weiß betuchten Tisch stellte. Während sie nach außen hin die routinierte Körpersprache der First Lady projizierte, drehte sich unaufhörlich im Kopf das scharf gezahnte Getriebe ihres Racheplans. »Ja, Madam.« 250
»Kennen Sie zufällig einen Ort namens Gestaad?« »Gstaad? Ja, sicher, Madam – ein nobler Kurort. Ich arbeitete früher in Montreux, etwa eine halbe Autostunde von Gstaad.« Die frischgebackene First Lady setzte sich. »Haben Sie zufällig Bekannte in Gestaad?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Madam, niemand, außer ein paar Küchenchefs. Man kennt sich dem Namen nach.« »Gut, danke, Chef.« »Bon Appétit, Madam. Darf ich sagen, welch große Freude und Ehre es ist, Sie wieder bei uns zu wissen.« Die First Lady produzierte ein rasches, angemessen geschmeicheltes Lächeln. »Man dankt. Sie sind ein richtiger Gentleman, Chef.« Was Mosiman mit scharlachrotem Gesicht zu hastigem Rückzug inklusive drei kurz aufeinander folgenden Bücklingen veranlasste.
61 Rosa Falhony war eine elegante, dynamische Frau mittleren Alters mit eng anliegendem schwarzem Haar. Ihre lebhaften Augen, blendend weiße Zähne blitzten aus dem dunklen Gesicht, wenn sie herzhaft lachte, was sie oft tat, sich wohl bewusst, dass sie dabei alle Blicke auf ihre feuerrot geschminkten Lippen zog. Rosa hatte südliches Temperament und einen Tatendrang, der sie für ihr Amt als persönliche Assistentin der First Lady unschätzbar machte. »Ich begreife sehr gut, dass Sie nach New York in die Behandlung wollen, Madam«, sagte sie zu Leslie noch am gleichen Abend, und als diese schwieg, fügte sie bei: »New
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York ist Leben, da geht die Post ab, trotz allem …« Sie berührte flüchtig, erschrocken, die Lippen. »Schauen Sie, Rosa, man hat mir geraten, an den Ort der Katastrophe zurückzukehren, um das traumatische Erlebnis auf diese Weise am besten aufzuarbeiten. Hier in Washington würde ich bloß Ressentiments gegen alles, was mit New York zu tun hat, nähren. Um dies zu vermeiden, empfahl man mir die Therapie in New York.« Rosa war eine praktische Frau. »Ich arbeitete ein paar Jährchen im Big Apple, Madam, in der Duane Street, nicht weit von City Hall entfernt. Mein Boss war Anwalt, einer, der die Hafenarbeitergewerkschaft vertrat. Ich sage Ihnen, Madam, New York ist eine gute Stadt. Die Narben werden heilen. Also, welcher von diesen Hirnschrumpfern gefällt Ihnen denn?« Sie breitete die Liste mit einer Reihe von illustren Namen vor ihr aus. »Rosa, hören Sie, Sie sind eine Perle. Was ich will, ist ein Arzt mit Hinterausgang.« Die Assistentin schaute ziemlich perplex drein, als wollte sie sagen, das habe doch jeder. »Finden Sie mir doch eine hübsche kleine Praxis zwischen Park und Fifth Avenue, so zwischen 66. und 70. Straße. Das ist eine sichere, ziemlich diskrete Gegend. Dann soll es da einen Ausgang in den Hinterhof geben.« Rosa nickte, verständnisvoll in sich hinein lächelnd. »Ich will die Sache mit einer Therapie nicht an die große Glocke hängen, Rosa. Absolute Diskretion ist unerlässlich. Auf keinen Fall will ich erleben, dass mich beim Verlassen der Arztpraxis eine Reportermeute überfällt. Deshalb der zweite Ausgang, okay, dear?« Sie schaute Rosa fest in die Augen, um festzustellen, ob die Frau mit dem klugen Gesicht etwas kaschierte. Dass Leslie den Hinterausgang womöglich für andere, dienliche Zwecke 252
benötigte, könnte Rosa durchaus dämmern – sie war offenbar eine erfahrene Lebefrau, die sich nicht so schnell was vormachen ließ. »Ist irgendwas?«, setzte Leslie konzentriert nach. »Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil, Sie handeln klug, Madam. Ich mache ein paar Anrufe, dann lege ich Ihnen eine neue Auswahl vor.« Leslie nickte erleichtert Zustimmung und entließ Rosa mit ein paar freundlichen Worten, in der Gewissheit, eine Verbündete gefunden zu haben. Wenn eine smarte Frau wie diese mich und meine Stimme in dieser Rolle akzeptiert, sinnierte sie, ja, dann … dann … wie hieß es noch im Theaterjargon? Dann ist leider immer erst Schluss, wenn die Dicke Dame singt.
62 Sarah Crawford alias Leslie Palmer saß vor dem elegant geformten antiken Pult und starrte auf den weißen Telefonapparat. Sollte sie? Sie blickte auf, trat ans breite Fenster und schaute auf die abenddämmernde Pennsylvania Avenue, da draußen, wo sie ein unbeschwertes Leben haben könnte, hätte Bronx sie nicht in diese vertrackte Situation manövriert. Die Tatsache war, sie hatte richtig Angst, spürte dieses Drehen im Magen, das Panik ankündigte. Sie atmete tief durch. Angst, entlarvt zu werden – vom Präsidenten, seinen Kindern, der Haushälterin. Hatte die Sekretärin sie nicht doch recht seltsam von der Seite beäugt? Nein, das war keine Angst davor, entdeckt zu werden, das Furchtbare lag ganz woanders. Wenn sie versagte, wenn ihr der kleinste Schnitzer passierte, würde Bronx brutal an ihren Söhnen Rache nehmen. Sie musste das furchtbare, doch trotzdem kleinere Übel wählen, den Auftrag durchstehen. Und um nicht zu versagen, wollte sie sich 253
wappnen, musste gut beschlagen sein. Ihre Geistesgegenwart hatte sie noch selten im Stich gelassen. Sie würde es schaffen, das war sie Craig und Alexander schuldig. Auch hier, allein, ganz die First Lady, ganz die methodische Aktrice, setzte sie sich ans Pult, nahm den Hörer ab und suchte die Taste für die externe Linie. »Yes, Madam, Sie wünschen?« Erschrocken legte Leslie auf und hätte sich gleich ohrfeigen können. Warum willst du denn selber wählen, dumme Gans? Als sich die angenehme Stimme zum zweiten Mal meldete, schlug Leslie einen natürlichen, freundlich autoritativen Ton an. »Verbinden Sie mich bitte mit dem Generalstaatsanwalt von Texas.« »Selbstverständlich, Madam, wir rufen sofort zurück.« »Danke.« Sie blieb wie eine Feder gespannt im Stuhl sitzen. Draußen, da unten auf dem Bürgersteig erkannte sie den Mann mit dem Poster, der, seit Jahren standhaft für Männeremanzipation kämpfend, dort auf und ab spazierte. »Ehemänner, raus aus der Küche!«, lautete sein Slogan. Jennifer hatte ein Jahr lang eine unglückliche Beziehung mit so einem Kerl, der nur eines wollte, nämlich wie ein Pascha verwöhnt zu werden. Ein Macho, in dessen Hirn nur sein Motorrad, Football und Sex Platz fanden. Motorrad? Jennifer? Irgendwie muss ich Kontakt mit ihr aufnehmen. Und dieser junge Arzt auf dem Motorrad, der sie geborgen hatte? Wie hieß der schneidige Kerl schon wieder? Er hinkte … Na … Na … Narim? Das Telefon summte diskret. »Ihre Verbindung, Madam, der Generalstaatsanwalt in Austin.« »Danke.« Sie wartete. Eine sonore Stimme meldete sich. 254
»Greg Dexter hier, was verschafft mir die Ehre, Madam?« Leslie kam rasch zur Sache. »Sie müssen mir helfen, Sir. Ich hatte 1973, am 6. November, in Midtown einen Autounfall. Wissen Sie davon?« Einen Moment blieb die Leitung stumm. In seinem Büro an der 15th Street in Austin verkniff der Generalstaatsanwalt die Lippen. Natürlich kannte er die Geschichte dieser Tragödie in der ländlichen Öde nahe dem Heimatort der First Lady. Aber bis heute hatte sie sich stets geweigert, darüber zu reden. Die näheren Umstände blieben ihr Geheimnis. »Ja, ich erinnere mich, dass so was passiert ist. Ist lange her. Sie haben ja Anfang des Jahres das Haus in Midtown besucht, wo der Präsident seine Kindheit verbrachte. Das war eine wirklich sympathische Geste, Madam, die wir alle hoch schätzen.« »Gehört wohl zu meinen Pflichten, nicht?«, entgegnete sie leichthin. »Hören Sie, Greg, ich brauche die Gerichtsakten, den Unfallrapport, das ganze Dossier, Sie verstehen, ich will – eh – bleibt dieses Gespräch vertraulich?« »Selbstverständlich, Madam«, spurte der Generalstaatsanwalt. »Schauen Sie, ich arbeite an meiner Biografie, ich will dieses Kapitel aufarbeiten, ich war damals siebzehnjährig. Ich brauche die Akten so rasch wie möglich. Geht es bis morgen Abend..« Generalstaatsanwalt Dexters Staunen drang mit seinem sekundenlangen Schweigen unmissverständlich durch die Leitung. Leslie starrte atemlos auf die im Display aufscheinende Nummer: 1512 463 2111. »Doch, Madam, ich denke schon, das geht. Werde gleich im Zentralarchiv anrufen und einen Sonderkurier hinschicken. Hat wohl mit diesem Terroranschlag zu tun? Wie geht es Ihnen? Janet würde sich freuen, Sie über ihr Projekt zu informieren, wenn Sie das nächste Mal zu uns hier runterkommen.« 255
Janet? Seine Frau? Projekt? »Absolut, natürlich – meine besten Grüße. Kommt sie mit der Sache gut voran? Hier geht es zu wie in einem Tollhaus, aber Weihnachten vielleicht. Bleiben Sie in Austin, Greg, oder gehen Sie …« »Nein, ich glaube, ich werde Extraschichten einlegen müssen«, griff er ihre Bemerkung rasch auf. »Verhaftungen stehen bevor. Wir gehen jetzt jeder Spur nach. Wir feiern im engen Kreis zu Hause, mit der Familie und den Enkeln. Janet hat momentan keine Lust, nach Maine zu reisen.« »Verstehe, dann vielen Dank und alles Gute«, sagte Leslie so herzlich wie artig. »Und genießen Sie Ihre Enkel, Greg.« Huh! Sie legte den Kopf in beide Hände, stützte die Ellenbogen auf die Mahagoniplatte. Ein Tollhaus. Wahrhaftig keine Übertreibung. Andrerseits ist’s irgendwie geil, wieder auf den Brettern zu stehen, die die Welt bedeuten – besonders wenn sie unsichtbar sind!
63 Widerwillig schlurfte Leslie ins Badezimmer. Ernst forschend musterte sie sich im breiten Spiegel, als sähe sie sich zum ersten Mal. Das volle brünette Haar fiel in die rechte Stirnhälfte, links wellten sich die dichten Strähnen vom Scheitel weg über das Ohr und ließen gerade noch den dezenten Goldschmuck am Ohrläppchen hervorlugen. Dann strich sie das Haar so in Form, dass ihr Schopf dem ihres Vorbilds möglichst nahe kam. Alles perfekt, First Ladylike, sprach sie sich zu, atmete durch. Doch ihr Herz pochte bis in den Hals hinauf. Da fiel ihr Blick auf die Haarbürste. Sie lag unscheinbar auf dem grauen Marmorfrisiertisch. Ein paar feine blonde Härchen 256
hatten sich in den Naturborsten verfangen. Leslie fasste den fein gearbeiteten Holzgriff, hob die Bürste zum Kopf. Mitten in der Bewegung schreckte sie zurück. Langsam senkte sich ihre Hand. Sie starrte auf das borstige Ding, als wäre es ein stachliges Insekt. Sie fühlte sich plötzlich schlecht und kannte augenblicklich den Grund – die Privatsphäre der First Lady drückte auf ihr Gemüt. Die Frau, die sie spielte, war tot, unter dem Schutt der zerbombten Türme begraben, und sie war frivol in ihr intimes Reich eingedrungen – genau genommen in eine Grabkammer! Welch Fluch wohl da auf sie wartete. Wie eine ertappte Voyeurin wich Leslie abrupt zurück, konnte nichts anfassen. Doch schon nach einer kurzen Weile verdrängte praktisches Denken ihre Skrupel. Wie roch die First Lady wohl? Ehemänner kennen den intimsten Duft ihrer Frauen. Der Präsident war da bestimmt keine Ausnahme. Neugierig öffnete sie den Schrank, betrachtete die Ansammlung von Fläschchen, Tuben und Dosen – Haartönungsshampoo, Nachtcreme, Lidschatten in Mondsteinton, Mauve und Lila, wunderbar zu ihren braunen Augen passend, Chanel № 5, ziemlich gewöhnlich. Irgendwo schlug eine Tür zu. Rasch schloss Leslie den Schrank und huschte auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer. Die Garderobe, die sie in der Ankleide vorfand, dünkte sie alles andere als üppig. Kleinbürgerlich sogar. Doch bei näherem Betrachten musste sie über die feinen Stoffe und exklusiven Designermodelle staunen, die zwischen dumpf farbigen Röcken und langweilig braunen Ensembles hingen. Die First Lady schien helle Pastellfarben zu bevorzugen. Offenbar strebte sie eine stilistische Erneuerung an, notierte Leslie, einen fein säuselnden Laut zwischen den Lippen produzierend. Sie zog ein Samttop von Jil Sander vom Bügel und hielt es sich prüfend vor die Brüste. Gleiche Größe, schätzte sie, im Gestänge wühlend. Die hippsten Label aus Los Angeles und schicke Blusen, die
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allesamt Urbanes mit stilvollen Ansprüchen ausstrahlten, alles wartete nur darauf, angezogen zu werden. Neugierig schob sie die andere Schranktür auf. Staunend betrachtete sie die neuen Power-Outfits, genau richtig für Frauen mit Macht, schmunzelte sie. Eine klassische Linie, elegant, mit einem Hauch der achtziger Jahre. Business Finesse. Sie zog das Schwarze heraus und begann, sich umzukleiden. Ein raffinierter Schnitt, beschied sie zungeschnalzend, als sie in das Yves-St.Laurent-Pièce geschlüpft war und sich im Spiegel betrachtete. »Genau meine Größe«, teilte sie dem Spiegel kokett lächelnd mit, wühlte dann in den Jeans und Jacken mit Schulterpolstern. Die würde sie später anprobieren! Sie wandte sich den Schubladen zu. Da gab es Unterwäsche. Diese Dinger von JC Penny, ziemlich bieder, feine Strümpfe von Wolford – aha – Dessous von La Perla, ganz schön sexy, und Basics von American Apparel. Buy American! Gerade wollte sie sich den unzähligen Schuhen zuwenden, die wie Vögel auf Stangen standen, als es klopfte. Es war Keisha, die schwarze Sekretärin, mit der zu großen, braunen Hornbrille. Ihr Haar hatte sie zu einem Knoten aufgesteckt. Sie trug einen grauen Anzug und eine Bluse, die über der üppigen Brust etwas spannte. »Wie geht es Ihnen, Madam?«, erkundigte sie sich unaufdringlich. »Können wir die Termine durchgehen, oder soll ich später kommen?« Leslie griff sich theatralisch an die Stirn. »Nein, Keisha, es wird schon gehen. Was haben wir denn?« »Ihre Stiftung, Madam. Der Chairman des Programms zur Förderung der Leseneigung …« Keisha machte eine Pause, als erwartete sie einen Ausbruch der Begeisterung. Leslie schaute sie bloß mit erhobenen Brauen an.
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»Nun, Mr. Portman, der Chairman«, fuhr Keisha geflissentlich fort. »Sie sind ja nicht immer einig mit ihm, aber er fragt an, ob Sie …« »Ob ich was?«, unterbrach die First Lady mit sicher gespielter Mischung aus Verärgerung und Ungeduld, wie sie es aus ein paar Neil-Simon-Komödien auf Sommerferienbühnen noch gut im Griff hatte. Keisha brach nicht unbedingt in schallendes Gelächter aus, aber sie nickte immerhin lächelnd. »Ich verstehe, Madam. Er fragte, ob Sie den Vortrag auch in der Kongressbibliothek halten würden?« Leslie zog die Brauen zusammen. »Wann denn? Warum?« Jetzt blickte Keisha doch leicht erstaunt über den Rand ihrer spektakulären Hornbrille. »Den Termin haben wir schon zugesagt. Der Chairman möchte den Vortrag in den Kongress verlegen.« Leslie griff sich wieder seufzend an die Stirn. »Keisha, ich bin noch völlig durcheinander, ehrlich. Können wir nicht absagen? Ich bin vollkommen fertig – diese Kopfschmerzen, seit …« »Ich verstehe, Madam. Ich frage den Chairman. Über zweihundert Leute haben bereits zugesagt.« Die First Lady gab sich zerstreut. »Was war das Thema noch mal?« »Lesen. Mehr lesen. Über die Bedeutung der Bücher für die Charakterbildung der Kinder.« »Okay, natürlich«, rief Leslie erleichtert aus. »In der Kongressbibliothek!« Keisha stand auf. »Über die anderen Verpflichtungen können wir ja morgen reden. Eilt nicht.« Leslie ließ die Sekretärin gehen, doch bevor jene die Tür zuzog, rief sie ihr nach: »Warten Sie, Keisha. Ich hab’s mir 259
überlegt. Wir sagen nicht ab. Morgen ist okay. Kongressbibliothek.« Die Sekretärin nickte freundlich, zog die Tür sanft zu. Bevor sie ins Schloss fiel, schickte sie noch ein Lächeln aus ihrem rundlichen Gesicht in den Raum und gestand demütig bescheiden: »Ich mag es, Madam, wenn Sie mich Keisha nennen.« Leslie hob die starken Schultern, spürte Adrenalin in die Glieder strömen. Kongressbibliothek? Ha – die Herausforderung nehm ich an! Zeit für einen Realitätscheck. Sie warf sich vor einem Spiegel in Pose. Ha, was? So kräht die erbärmliche Eitelkeit einer moribunden Schmierenkomödiantin!
64 Der Präsident war aus Sicherheitsgründen noch nicht ins Weiße Haus zurückgekehrt, ein willkommener Umstand für Leslie, die sich somit ohne allzu großen Erwartungsdruck rascher in ihre Aufgabe einleben konnte. Rosa Falhony erwies sich als wertvolle Stütze. Als Leslie ihr eröffnet hatte, sie wolle nach den schrecklichen Vorfällen in New York nicht in den alten Trott zurückfallen, sondern werde einiges ändern, zog sie nicht unter Stirnrunzeln ein besorgte Miene auf, sondern gab ihrer Zustimmung mit eifrigem Nicken und begeistertem Strahlen Ausdruck. »Madam, Sie wissen, ich bin für Sie da«, versicherte sie. Leslie war, als hätte sie ein Augenzwinkern bemerkt. »Übrigens, Sie haben schon etwas geändert.« Leslie hatte sie verdutzt angeschaut. »Dass Sie Rosa sagen, finde ich sehr sympathisch.« Leslie hatte erleichtert den Atem ausgestoßen, als sei ihr gerade ein Stein vom Herzen gefallen, um dann in einer 260
Andeutung von Selbstverständlichkeit beide Arme zu heben. Darauf hatte sie einen neuen Laptop verlangt und Rosa auf einem Notizzettel genau aufgeschrieben, welche Eigenschaften der Mac aufweisen sollte. Auch die Software, die zu installieren war, hatte sie genau angegeben. Zu ihrem Erstaunen stand das schlanke, silberne Gerät schon ein paar Stunden später für sie bereit. Zu ihrer Verwunderung hatte ihr Passwort immer noch Zugang zum Internsystem des Marinenachrichtendienstes. Hätte ja sein können, dass die Sicherheitsleute ihre Zugangsberechtigung gelöscht hatten. Sie zog in Betracht, dass ihr der Datenzugriff jederzeit entzogen werden konnte, schließlich galt Leslie Palmer jetzt im Amt als vermisst. Deshalb beeilte sie sich, die wichtigen Arbeiten, die sie gespeichert hatte, zu kopieren und zentral gespeicherte Daten herunterzuladen. Vor allem die klassifizierten Berichte über Tadschikistan interessierten sie, dann das Bild mit dem entschlossenen Gesicht, das näher zu untersuchen sie nicht mehr Zeit gehabt hatte. Inzwischen war ihr ein Name eingefallen, der dazu passen könnte. Angespannt und voller Erwartung öffnete sie das Programm, fand das Foto, öffnete es auf volle Größe. Das Gesicht lugte hinter einer Gruppe Männer in weiten, bunten Gewändern hervor. Sie zoomte es heran, schaute sorgfältig näher hin. Kein Zweifel. Es war derselbe. Der Mann irgendwo auf der arabischen Halbinsel war Steve Quinn, der Fotoreporter, der sie, es war noch kein Jahr her, für das mehrseitige Interview fotografiert hatte. Steve Quinn. Ich muss ihn sprechen. Sie suchte im Salon, ob eventuell der New Yorker mit dem Steve-Quinn-Interview zufällig herumlag, auch im Treaty Room schaute sie nach, dort wo der Präsident meistens die Füße aufs Pult legte, wenn er Besprechungen hielt – auch da nichts. Über der Pennsylvania Avenue und dem hell gepflegten Rasen des Weißen Hauses wurde die Abenddämmerung langsam zu Nacht. 261
Auf dem Tisch lagen Satellitenaufnahmen aus einem Berggebiet. Leslie schaute sie an, suchte nach sonst noch Brauchbarem und vergaß dabei völlig ihre Umgebung. Es war das schüchterne Klopfen an die Tür, das sie aufschreckte. Rosa steckte ihren elegant frisierten Kopf herein. »Madam, haben Sie das Läuten nicht gehört?« Wieder fabrizierte Leslie jenes abwesende Lächeln, welches sie als First Lady leicht zu dem entwickeln konnte, was Schauspieler eine Krücke nennen. Alle Welt würde es als das Lächeln einer tapferen Frau interpretieren, die durch die Hölle des World-Trade-Center-Desasters gegangen war – somit alles drum rum ignorieren oder verzeihen. »Schon möglich«, sagte sie leichthin. »Und?« »Der Präsident ist vorgefahren. Er möchte um halb sieben essen. Im Salon, Madam.« Leslie fühlte Panik aufkommen. Sie war völlig in diese Schnüffelei abgetaucht gewesen, schnappte förmlich nach Luft. »Mein Mann! Der kommt wie gerufen. Mein Gott, Rosa, wie schau ich aus? Was soll ich anziehen?« Sie blickte bestürzt an sich herunter. Verdammt, bin ich nicht weitaus schlanker als die … die … Sarah? Wie, wenn der Präsident das merkt? Drei, vier Pfund weniger kann ich dem Stress zuschreiben, aber was, wenn er … »Schwarz steht Ihnen bestens, Madam«, beschied Rosa, sachkundig das eng sitzende Ensemble musternd. »Macht Sie schlank wie Nicole Kidman.«
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65 Leslies neues Handy, das ihr Rosa gebracht hatte, klingelte vier Takte aus einer Chopin-Mazurka. Hastig griff sie danach. »Hallo?« Es war die Stimme des Präsidenten. Sie hörte kaum zu. Irgendwann sagte sie: »Es geht mir nicht gut«, hauchte etwas von Kopfschmerzen, wohlgemerkt in zerstreutem Tonfall. »Fühle mich andauernd schwindlig. Ich gehe morgen zum Arzt.« Es war das sonderbarste Telefongespräch, das sie je geführt hatte. Sie atmete durch: So, das war das! Nicht die Feuertaufe, aber wenigstens eine kleine Sprechprobe, oder? Minuten später stand er vor ihr. Ihr Mann, ein ganzer Kerl! Der Präsident der Vereinigten Staaten! Wortlos nahm er sie in die Arme. Umarmte sie fest. Flüsterte in ihr Ohr. »Honey, bin ich froh, dass du alles überstanden hast! Wie fühlst du dich, Hon?« Wie fühlte sie sich? Wie im Eiskasten! Ihr Körper hatte sich bei der Umarmung augenblicklich versteift. Sie fröstelte, Schwärze umhüllte sie, kräftige Arme schoben sie vorwärts, sie sah das Schafott, auf das sie zuschritt, den Henker, er lachte dreckig, seine Fratze war die von CIA-Bronx, er hielt das Beil über den beiden Jungen, die mit gefesselten Händen auf sie starrten, ihre Blicke trafen wie Dolchstöße. Alex bewegte die Lippen: »Du bist schuld, dass wir sterben«, las Leslie. »Alles wird gut, Hon«, hörte sie die weltbekannte Stimme. Leslie schlug die Augen auf. Ein Flaggenpin am Revers – Stars and Stripes – bewegte sich rückwärts, ein Gesicht kam ins Blickfeld, gefolgt von einem herben Duft Männlichkeit. Der Präsident, besorgten Blicks über sie gebeugt, streichelte ihre Wange.
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»Ist ja gut«, tröstete er, wobei er seitlich auf seine Armbanduhr peilte. Leslie kam zu sich. Sie lag auf der tiefen Chaiselongue von weichem braunem Leder, umweht von Schwindel. Ihr Blick fiel auf eine gerahmte Fotografie mit einer Gruppe Männer vor einem Fischkutter. Allmählich fand sie die Orientierung zurück, fasste sich. Stützte sich auf die Ellenbogen. »Du musst dich ausruhen, denk nicht mehr dran«, hörte sie den Präsidenten sagen. »Wie fühlst du dich?« Sie bebte vor Angst, in Sekunden würde der ganze Bluff auffliegen. Der Mann kniete vor ihr, legte eine Hand auf ihre Schulter. »Willst du etwas essen, Hon? Vielleicht deine Fenchelsuppe?« Fenchelsuppe, überlegte Leslie, fand mit einem Ruck in ihre Rolle zurück, ganz als hätte sie von der Bühne her das Stichwort für ihren Auftritt gehört. »Ach, mir wird so leicht schwindlig. Dann läuft der ganze Film wieder ab. Das ist schrecklich, verstehst du mich?« Sie drückte mit beiden Händen fest seine Hand. »Das ist doch ganz natürlich, Sweetie. Du hast Schreckliches durchgemacht. Du musst dich schonen. Leider habe ich keine Zeit zum Essen. Krisensitzung. Rosa kümmert sich um dich.« Er stand auf. »Ich muss noch mal mit Rudi telefonieren. Die Konferenz mit den Kommandeuren beginnt in einer Viertelstunde. Wir werden zurückschlagen, das garantiere ich.« Mit weichen Lippen pflanzte er ihr einen sanften Kuss auf die Wange, eilte zur Tür. Schon auf der Schwelle, rief er noch über die Schulter zurück: »Übrigens, ich fände es eine gute Idee, Mom einzuladen, sie kann sich deiner ein bisschen annehmen. Und die Kinder, die wollen auch vorbeikommen. Wir reden noch drüber, ja?« Die Tür schloss sich. Leslie atmete auf. 264
Ihr Laptop auf dem Arbeitstisch ruhte mit schwarzem Bildschirm in der Sleep-Mode. Sie drückte wahllos auf eine Taste und fand augenblicklich in die Wirklichkeit zurück. Später wusste Leslie nicht mehr zu sagen, ob ihre Ohnmacht gespielt oder wirklich gewesen war. Jedenfalls hatte sie die schrecklichen Henkersbilder noch lebhaft vor Augen. Sie waren eine heilsame Erinnerung daran, warum und für wen sie diese gefährliche Doppelrolle spielte. Schlau und verschlagen, kühn und kaltschnäuzig, so lauteten die Eigenschaften, die sie von jetzt an skrupellos ausleben musste! Was immer auch geschah, ihre Jungs sollten dereinst stolz auf ihre Mama sein. Das schwor sich Leslie im gleichen Moment, als der Präsident zwei Etagen tiefer sein Gespräch mit dem New Yorker Bürgermeister beendet hatte, sich zufrieden erhob und die paar Schritte ins Badezimmer machte. Dort blickte er einen Augenblick lang skeptisch in den Spiegel, probierte dann in rascher Reihenfolge einige entschlossene Gesichtszüge aus. Es war wichtig, dass er auf die Kommandeure, wenn er in wenigen Minuten zu ihnen sprach, dynamisch und aggressiv wirkte. Sie sollten auf ihren weltweit verstreuten Kommandoposten einen entschlossenen Oberbefehlshaber sehen. Seine von Kampfgeist und präsidialer Besonnenheit getragene Botschaft musste ansteckend wirken. Er fühlte sich in seinem Element. Diese furchtbare Krise war wie gerufen gekommen. Ein richtiger Segen in Verkleidung war das! Ja, der Herr ging manchmal seltsame Wege, seine Wunder zu wirken. Das Land brauchte ihn jetzt, er spürte die Gunst der Zeit und des Augenblicks für seine Präsidentschaft. Nicht auszudenken, säße sein Opponent heute hier im Oval Office und wüsste vor lauter Verzagtheit weder aus noch ein. Sich mit unverhohlener Befriedigung im Spiegel musternd, klopfte er mit der leicht geballten Rechten gegen die Brust, als gälte es ein Rülpsen zu stoppen. 265
»Ich habe die Wahlschlacht gewonnen. Jetzt werde ich meine Kräfte bündeln. Das Land von seiner Schmach befreien. Revanche nehmen. Der Welt beweisen, dass sie es mit dem richtigen Mann zur richtigen Zeit zu tun hat, ein Präsident, der willens ist, die Nation zu mobilisieren, den fanatischen Bombenlegern und Kameltreibern den Garaus zu machen. Weltweit, überall.« Er fand das gut. Patriotische Reden liefern war eben seine Stärke. So was ließ sich auf keiner Schule lernen, mit so was war man geboren! Sarah wird sich schon erholen, dachte er beiläufig, die ist taff. Er fand es einen genialen Einfall, seine Mutter auf Besuch einzuladen. Wenn sie ihre Schwiegertochter wie die Glucke ein verstörtes Küken unter die Fittiche nähme, ihr mit Rat und Tat beistünde, sie vermutlich sogar zur Erholung auf die Ranch in den Süden einlüde, ja dann hätte er den nötigen Freiraum, sich voll und ganz in die Arbeit zum Wohle der Nation zu stürzen. In diesen hektischen Tagen wollte er sich nicht auch noch um seine Frau kümmern müssen, die ihm in letzter Zeit ohnehin oft die kalte Schulter gezeigt hatte. Im Übrigen hatte sie sich für Therapie entschieden, was er gut fand – wer weiß, was dabei herauskommen kann, hoffentlich ein wieder etwas aktiveres … Nun, er wusste nicht einmal, welche Behandlung sie in Anspruch nehmen wollte. Rosa würde bestimmt alles Notwendige arrangieren. Wenn dann noch die Kinder zu Besuch kämen, was spätestens an Thanksgiving zu erwarten war, dürfte sich ihr Geisteszustand bestimmt rasch normalisieren. Alles in allem, besonders wenn man die turbulenten Umstände in Betracht zog, eine außerordentlich gute Prognose für Heim und Bett! Als er sicheren Schritts, jetzt geradezu froh gestimmt, zur Videokonferenz marschierte, schweiften seine Gedanken freilich von Sarah zu einer anderen Frau ab – eine, die sich nicht nur mit seinen Zielen identifizierte, sondern ihn darüber hinaus noch 266
spüren ließ, dass sie seine Arbeit schätzte und ihn in seinem Anspruch auf Leadership in der Welt enthusiastisch unterstützte.
66 Bill Baker wartete im Büro des Secret Service auf das Ende der präsidialen Videokonferenz mit den Kommandeuren der Streitkräfte. »Es ist so weit«, beschied ihm Agent Sureman nach einer halben Stunde, in der Baker sich noch mal die delikaten Fragen zurechtgelegt, im Kopf die möglichen Einwände gewälzt, seine Rede auf der Zunge ausprobiert hatte. Sir, wir finden, sie hat sich verändert. Dürfen wir darüber sprechen? Ich meine, wir haben Beobachtungen gesammelt und sind zu der Auffassung gelangt, dass die First Lady durch den Schock der Ereignisse möglicherweise … Der Präsident reichte ihm im Oval Office eine kräftige Hand. »Fünf Minuten, Bill. Schießen Sie los!« Bill Baker, Stellvertreter des FBI-Direktors, machte sich keine Illusionen über seine Mission. Welcher Ehemann hört schon gern von Fremden, dass seine Frau hinter seinem Rücken seltsame Kontakte pflegt? Möglicherweise eine Affäre hat? Bill brachte die Bedenken des FBI ruhig vor. Etwas überrascht hob der Präsident den Kopf, musterte sein Gegenüber, schielte auf die Uhr. »Was reden Sie da?«, sagte er barsch. »Worauf wollen Sie hinaus?« Baker blieb stehen, räusperte sich, hielt seine Arme ruhig am Körper. Er hatte einen hübschen Kopf, eine kräftige, gerade Nase, graugrüne, wache Augen, eine hohe Stirn. Der Präsident hingegen empfand eine unüberwindliche Geringschätzung für Polizeibeamte und Geheimdienstler, die in ihren Schlapphüten und Regenmänteln nicht davor zurückschreckten, seine 267
Kabinettsmitglieder auszuhorchen, stets einen Grund fanden, sogar ihn, den Oberbefehlshaber der Streitkräfte zu beschatten. Und jetzt dies! Die First Lady als Zielscheibe! Wut brodelte in ihm auf. Zum Glück hielt sich Baker stramm und respektvoll, was den Präsidenten etwas milder stimmte, da er eine Vorliebe für schneidige Soldaten hatte und sich am wohlsten bei den Streitkräften fühlte. Er hörte Bakers tiefe, ruhige Stimme wie aus weiter Ferne. »Sie ist eventuell destabilisiert, Sir, aus dem Tritt geraten, und wir sind natürlich besorgt.« »Hören Sie, Baker, Ihr Boss hat mir nichts davon erzählt, dass er irgendein Arsch herschickt, um mir zu sagen, dass meine Frau ausschert, spinnt oder was Sie auch immer meinen, entdeckt zu haben. Merken Sie sich, ich lasse nichts auf meine Frau kommen.« Zornesröte war ihm in die Wangen geschossen, die Finger trommelten auf die lederbezogene Tischplatte. »Sagen Sie, Baker, wo kneift Ihnen eigentlich das Loch?« Baker fasste sich mit einiger Mühe. »Mit Verlaub, Sir, die First Lady ist seit einiger Zeit sehr aktiv. Da sind ihre regelmäßigen Trips nach New York. Und wir haben Mühe, alle ihre Kontakte abzuchecken.« Der Präsident schnaubte: »Sie meinen doch nicht etwa, sie sei ein Sicherheitsrisiko? Meine Frau eine Gefahr für die Nation? Das Lächerlichste, was ich je gehört habe.« Er lachte schnaubend auf. »Hören Sie, Baker, Sie selber drehen wohl durch. Meine Frau hat 9/11 hautnah miterlebt. Das war vermutlich der Schock ihres Lebens. Überhaupt, wo waren Sie eigentlich, als die Türme runterkamen, he, wo?« Er schaute Baker von schräg unten an. Der Arme hatte gerade noch Zeit, mit angezogenen Mundwinkeln ein freundliches Gesicht zu mimen. Am liebsten hätte er geantwortet, dass er jedenfalls nicht sprachlos mit blöder Miene in einem Schulzimmer in Florida verharrt habe wie der Präsident der 268
Vereinigten Staaten. Stattdessen sagte Baker so nüchtern er konnte: »Ziemlich nahe am Pentagon, Sir. Die Maschine krachte vor meinen Augen ins Gebäude.« Zwischen Daumen und Zeigefinger zeigte er eine ungefähr fünf Zentimeter breite Spalte an. »So nahe ungefähr, Sir.« Der Präsident starrte ihn verdutzt an. »Wirklich? Na gut, also. Schön. Da sind Sie ja ein Held, Bill. Und Helden brauchen wir, heute mehr als je. Also, bitte, unter uns, worauf wollen Sie hinaus?« »Nun, Sir, mit allem Respekt, ist Ihnen an Ihrer Frau etwas Besonderes aufgefallen in letzter Zeit?« »Ich glaube nicht, dass ich darüber nachdenken will, Baker. Sie füttert Barney nicht mehr – kein Wunder, dass der brave Hund sie ständig anknurrt.« Wieder erschallte sein kurzes, geschnaubtes Lachen. »Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn sie mit dem Stabschef durchbrennt, haha. Sagen Sie, weshalb hat Sie der Direktor eigentlich geschickt?« »Wegen der First Lady, Sir, wir glauben, dass Sie, Mister President, vielleicht nicht genügend über alle Kontakte der First Lady im Bilde sind.« Der Präsident stand ruckartig auf. Er hatte keine Lust, diese hintergründige Befragung über sich ergehen zu lassen, war jetzt wirklich gereizt. »Also hören Sie mal gut zu, Baker. Ich dachte, das FBI hätte jetzt nach der Terrorattacke in New York genug Probleme am Hals, aber offensichtlich täusche ich mich. Entweder haben Sie nichts zu tun oder noch nicht gemerkt, dass wir im Krieg sind. Bestellen Sie dem Direktor, er solle mir die Köpfe dieser verdammten Terroristen bringen, auf einem silbernen Serviertablett, statt der First Lady nachzuspionieren. Übrigens 269
weiß mein Secret Service immer Bescheid, wo und wann meine Frau wen trifft.« Baker hielt die Lippen zusammengepresst, nickte verständnisvoll. Der Präsident fuhr jetzt etwas ruhiger fort: »Okay, Bill, machen Sie sich meiner Frau wegen keine Sorgen. Die First Lady hat viel durchgemacht. Ich wäre der Erste, der merkte, sollte etwas nicht stimmen. Ich meine, ernsthaft nicht stimmen. Kapiert?« Der stellvertretende FBI-Direktor gab seine Zustimmung heftig nickend, mit einem laut und deutlich formulierten »Yessir!« Er ließ sich die Hand schütteln, machte militärisch forsch auf einem Absatz kehrt und marschierte zügigen Schrittes hinaus, ließ den Präsidenten der Vereinigten Staaten mit jenem markant bübischen Grinsen auf dem Gesicht zurück, das viel dazu beigetragen hatte, weibliche Wähler schwach zu machen. Die FBI-Leute denken alle, sie sind J. Edgar Hoover, die alte Tunte. Der Oberbefehlshaber sämtlicher amerikanischer Streitkräfte schwang die diskret im Western Style gehaltenen Salonstiefel auf die Tischplatte, verschränkte die Arme hinterm Kopf, lehnte sich zurück. Das bübische Grinsen war zu einem eher spitzbübischen geworden. Nein, Leute, kommt mir bloß nicht mit solchem Bullshit, beschied er aufgeräumt. Auf diesem Scheiß-Rodeo bin ich wirklich schon ein paar Mal gewesen!
67 Es war zehn Uhr, als der Präsident die Wohnung betrat, um sich vor der Lagebesprechung im Untergeschoss, die vermutlich bis weit nach Mitternacht dauern würde, noch ein paar Minuten hinzulegen. Die Rage, in die er sich während der Besprechung mit dem FBI-Mann gesteigert hatte, war verraucht. Aber der 270
peinliche Umstand, dass seine Frau Anlass zu Abklärungen des FBI gab, schlug ihm auf den Magen. Schlecht gelaunt bestellte er einen seiner geliebten Baby-Hamburger und überlegte, ob er sich oben im Fitnessraum eine Entspannungsmassage von der reizenden Philippinin gönnen sollte. Doch seine Gedanken schweiften ab, Baker hatte ihm mit seinen Andeutungen einen Wurm ins Ohr gesteckt, und die Ahnung, seine Frau könne ihm Probleme bereiten, ließ ihm keine Ruhe. Vielleicht war ja alles ein Missverständnis. Wo war sie denn geblieben? Er schlang den letzten Bissen hinunter, tupfte den Mund mit der Serviette ab, erhob sich von dem kleinen, dezent in Mahagoni gehaltenen Esstisch. Die First Lady befand sich vermutlich nicht mehr in ihrem Arbeitszimmer im East Wing, entschied er und bemerkte das Licht in den hinteren Räumen. Als er am Schreibtisch vorbei schritt, bemerkte er die gelben, aus einem Schreibblock herausgerissenen Blätter. Er hielt inne, nahm ein Blatt auf. Es war mit Notizen voll gekritzelt. Er tastete nach den übrigen Blättern, hielt sie ans Licht der Leselampe, konzentrierte sich auf die Handschrift. Wer das wohl geschrieben hatte? Eine sanfte Stimme schmeichelte seinen Ohren. »Hallo, Darling. Kann ich dir einen Drink besorgen?« Sie stand leicht bekleidet hinter ihm. Unter einem seidigen, spitzenbesäumten Unterrock zeichnete sich ihre volle, geschmeidige Gestalt ab. Er schrak leicht zusammen, als hätte sie ihn aufgeweckt. Sie blickte ihn versonnen an. »Hallo, Hon. Ein Drink?«, fragte er verlegen. Was führt sie im Schild? »Gerne, aber Jim kann ihn doch richten.« Er war im Begriff, dem Butler zu läuten, doch Leslie klirrte bereits mit Eiswürfeln an der Bar, brachte ihm kurz danach ein Kristallglas mit einer golden leuchtenden Flüssigkeit, dabei ein Lächeln auf den Lippen, die ihm plötzlich voller schienen. 271
»Der Commander-in-Chief braucht eine Stärkung vom schwachen Geschlecht.« Überrascht nahm er den Drink entgegen. »Nichts gegen neue Sitten«, grinste er. Im Hinterkopf stach ihn wie ein Splitter ein unangenehm nagender Gedanke. Als Leslie nichts darauf entgegnete, meinte er schmunzelnd: »Du hast dich irgendwie verändert – sehr zu deinem Vorteil. Ich mag das.« »Solange man bewundern und lieben kann, bleibt man jung«, antwortete sie schlagfertig. »Das hat übrigens Picasso gesagt.« »Ach so? Seit wann gefällt der dir denn?« Er nahm das Glas, ging gemächlichen Schrittes ins Schlafzimmer. »Ich rede vom Zitat, nicht von den Bildern.« Leslie fühlte sich unbehaglich. Sie hatte das Gefühl, auf glitschiges Terrain zu rutschen, wollte, musste auf sicheren Grund zurückkehren. Doch der Plauderton des Präsidenten beruhigte sie zunächst. »Weißt du was, Honey? Da kommt heute einer vom FBI, und stell dir vor, die machen sich Sorgen um dich! Es ist das Lächerlichste, was ich je gehört habe.« »Warum denn?«, rief sie ihm ins Schlafzimmer nach. »Du sollst scheinbar brav am Herd bleiben, statt herumzuvagabundieren«, dröhnte er, kam zurück, nur ein blendend weißes Frottétuch um die Hüfte geschlungen. Leslie schluckte. Sie versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. Ob er verstimmt ist? Es dünkte sie, er sei nicht richtig bei der Sache. Sie sah ihm an, dass ihn irgendein Gedanke beschäftigte. Worum geht es wohl? »Wollen wir uns ein bisschen entspannen?«, wechselte sie geschickt das Thema, indem sie an dem Champagnerkelchglas nippte, das sie sich selber von der Hausbar geholt hatte.
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Überrascht hob er den Blick. Seine Augen funkelten listig, als hätte ihre galante Anregung in ihm ein kleines Feuer entfacht. Entschlossen stellte er sein leeres Glas auf ihrem Schreibtisch ab. »Leider keine Zeit zum Plauschen, Madam, die Pflicht ruft. Wer hat das da übrigens geschrieben?« Sie folgte seinem strengen Blick und der gebieterisch ausgestreckten Hand auf die Notizblätter mit ihrem Gekritzel, spielte die Ahnungslose. »Was geschrieben?« Anstatt zu antworten, sammelte er rasch die Blätter ein, dabei rutschte ihm das Tuch von der Hüfte weg, fiel zu Boden. Unbekümmert drehte er sich nach ihr um und streckte ihr mit fragendem Blick die Papiere entgegen. Leslie zwang ihre Augen heroisch auf die blöden Blätter Papier, statt dem Trieb folgend den Blick nach unten auf jene hoffentlich interessantere Stelle fallen zu lassen, die der Präsident völlig unverhüllt zur Schau stellte. Leslie fixierte krampfhaft seine Handvoll Papier, verlor dabei komplett die Fassung, fühlte heiße Röte in die Wangen steigen, kam sich vor wie ein Teenager beim ersten Kuss. Der Präsident schien von all dem nichts zu merken. Mit sonorem Brummen gab er Missfallen kund, das sich außerdem noch in kräftigem Stirnrunzeln äußerte. »Du schaust nicht mal drauf?«, beklagte er sich. »Doch, doch! Das sind meine Notizen zur Rede.« »Ich meine doch nicht die Papiere, Dummerchen«, quengelte der Präsident der Vereinigten Staaten und steckte ihr mit düsterer Miene die Blätter zu. Er machte auf den Fersen kehrt und marschierte ab ins Badezimmer. Leslie stierte entgeistert auf seinen prallen Hintern, überlegte fieberhaft, welchen Fehler sie eben gemacht haben könnte. Achtlos legte sie die gelben Blätter auf den Tisch zurück.
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»Wo ist Barney«, grölte er unter der Dusche. »Hat er schon gefressen?« »Ich hasse diesen Köter«, zischelte Leslie. Erst jetzt fühlte sie Erregung das Rückgrat hinunter ins Becken rieseln. Sie nahm einen kräftigen Schluck Champagner. Im Geist erwachten ihr Bilder von Ben, wie er sie umschlang, auf das breite Bett hinunterdrückte. Sie näherte sich vorsichtig der offenen Schlafzimmertür. Sie zögerte. Was meint er mit dem FBI? Etwas liegt in der Luft. Sie wollte seinen Blick erhaschen, ihn besänftigen, seinen Nacken und Rücken streicheln. Sie kam gerade rechtzeitig. Der Präsident war in seine marineblauen Boxershorts geschlüpft und dabei, seine gut gebaute Gestalt in einen rotseidenen Bademantel mit blauem Revers und Ärmelaufschlägen zu hüllen. Er begann das Gesicht mit Rasierschaum einzuseifen, tupfte blendend Weiß zum Rotblau der Kleidung auf und sah in Leslies Phantasie für einen Moment wie ein irgendwie aufrecht stehendes, verschlungenes Sternenbanner aus, oder wie Uncle Sam privat. Sie lehnte sich an den Türrahmen und schaute ihm mit begehrlichem Gesichtsausdruck zu. Erregt durch die unverhüllte Nähe zum mächtigsten Mann der Welt, der eben noch splitternackt vor ihr gestanden hatte, fühlte sie sich magnetisch zu ihm hingezogen. Macht korrumpiert, dachte sie. Und geilt auf. »Die Hose ist sexy«, versuchte sie ihren vermeintlichen Gatten anzumachen. Er knurrte trotzig, als sei die Stimmung für ihn nicht mehr zu retten. »Um was geht’s heute Abend, Darling?«, schnurrte sie katzenhaft und streichelte seine Brust von hinten her zärtlich mit beiden Handflächen. »Ich warte auf dich.« Federleicht glitten ihre Hände über seine Brustwarzen. 274
Sein Gesicht nahm bubenhafte Züge an. Ein Lächeln spielte um seine Lippen. Es gefiel ihm, wenn ihre Hand, eine Frauenhand, seinen Körper karessierte, besonders die Brustwarzen, was für Sarah wirklich neu war. Wo sie das wohl herhat? Glotzt sie heimlich Pornovideos? Trotz des ungewohnten Kitzelns wartete er ungeduldig darauf, dass sie weiter unten über den Steiß streicheln würde. Innerlich fühlte er tatsächlich, dass sich seine Frau irgendwie verändert hatte. Einerseits hatte sie eine Schüchternheit an sich, eben war sie glutrot angelaufen, als wäre sie eine Wildfremde, dann streifte ihn dieser laszive Blick, gefolgt von zärtlichen Berührungen. Er drückte seinen Hintern gegen ihre Schenkel. Vielleicht wirkt meine abweisende Barschheit stimulierend auf sie, mag sein, die Therapie hat genützt! Welch Letzteres er freilich als weniger wahrscheinlich in Betracht zog. »Es geht um Afghanistan, Hon«, nahm er ihre Frage auf. »Den Schweinehund werden wir erwischen.« Leslie erwiderte seine Annäherung, indem sie eine Hand unter den Bund seiner Boxershorts schob. Er plauderte weiter, wenn auch vielleicht eine Spur angespannter. »Weißt du, Sweetie, ich will in Afghanistan angreifen. Das Volk da draußen, die ganze Welt erwartet den Gegenschlag. Aber wir haben keinen Aktionsplan. Es ist unglaublich! Kannst du dir das vorstellen? Das Pentagon mit all den hundert Generälen ist nicht bereit. Donny schäumt vor Wut. Tenson ist mit der CIA weit voraus.« »Afghanistan ist ein riesig großes Land«, kommentierte Leslie vorsichtig, doch der mächtige Mann war in Gedanken weit entfernt. »Auf meinem Schreibtisch im Treaty Room liegt ein Kartenausschnitt, hol ihn mir, bitte«, befahl er und entzog sich ihrem Streicheln. Er setzte den SuperMach3-Rasierer mit der Rechten an die rechte Schläfe, zog mit der Linken die Haut 275
darunter straff, begann, sich mit langsamen, ebenmäßigen Zügen zu rasieren. Die Karte war eine Geländeaufnahme gespickt mit diversen militärischen Signaturen. Leslie konnte sich trotz angestrengtem Nachdenken nicht orientieren. Sie rief sich die Satellitenbilder ins Gedächtnis, suchte nach einer bekannten Topographie, mutmaßte über die Geländekonturen. Umsonst. Es war eine dieser militärischen Einsatzkarten in zu großem Maßstab, um eine Landesgrenze, eine Stadt oder einen Fluss auszumachen. Tora Bora war der einzige geographische Begriff auf dem Plan, der Leslie aus ihren Recherchen einen Sinn machte. In diesem Felskopf befanden sich, wie sie wusste, die Verstecke der Taliban. Jemand hatte die Silhouette eines Totenkopfs auf den Plan skizziert. Von ihm weg führten von Hand gezogene Linien zu zwei mit Buchstaben bezeichneten Punkten. Der Präsident äugte mit erhobenem Kinn und verzogenem Mund zur Tür, als Leslie zurückkam, die Karte in der Hand schwenkend. »Hast du diesen furchtbaren Totenkopf gemalt?« »Das? Das hat Donny gemacht. Du kennst ihn ja. Er will nukelar … ich meine nuklear losschlagen. Dreitausend Tote in New York, dreißigtausend Taliban in Afghanistan. Das war seine Rede. Was meinst du dazu?« »Moment. Auf diese Punkte hier? Die Tora-Bora-Bunker? In Afghanistan Atomwaffen einsetzen? Hat der noch alle Tassen im Schrank?« Sie griff sich erschrocken an die Lippen, als wolle sie die Worte zurücknehmen. Er legte den Rasierer auf die gläserne Ablage, tupfte die Schaumreste mit dem Handtuch ab, klatschte ein Aftershave an die Wangen, schaute sie dann plötzlich scharf an. »Genau! Genau das hab ich ihm auch gesagt. Hey, Hon, du kennst dich aber aus! Tora Bora. Heißt übrigens Lustige Witwe. In drei Tagen schreiben wir den Namen um – Heulende Witwe. 276
Dann haben wir diese Burschen einen Kopf kürzer gemacht.« »Ich glaube, Tora Bora bedeutet Alte Witwe.« Er maß sie mit einem erstaunten Blick. »Was du nicht sagst – nun, lustig wird’s allemal, wenn wir die ausräuchern.« Sie trat an ihn heran, knöpfte ihm das Hemd zu, in das er sich verheddert hatte. Er steckte die Karte ein, streichelte Leslie so, wie er Barney zu streicheln pflegte, nachdem er ihn gescholten hatte – sie auf später vertröstend. Bevor er raschen Schrittes in den Flur hinaus trat, drehte er sich noch mal um. »Wann hältst du deine Rede?« Er schwenkte die gelben Notizen in der Hand. »Ich will noch daran arbeiten!« Leslie hob verständnislos die Arme. »Morgen, Darling, das weißt du doch. Die Rede ist fertig. Du brauchst dich nicht darum zu kümmern.« Mit verdutztem Gesicht zog er die Tür zu, hatte gerade noch Zeit, ein Lächeln aufzusetzen, bevor der Spalt sich schloss. Leslie tastete sich hinüber in ihr Schlafzimmer, sank in einen Sessel und presste die Hände an die Schläfen. Sie war jäh von einer dieser schwermütigen Stimmungen befallen, die zuweilen ihr Inneres lahmlegten und Selbstzweifeln zum Ausbruch verhalfen. Der Totenkopf blitzte vor ihrem inneren Auge auf. Ihr Verhängnis schien besiegelt, das Ende nahe. Eine Katastrophe lag in der Luft. Sie hatte sich wie ein Volltrottel benommen, ließ sich von Emotionen leiten, von Lustgefühlen aufpeitschen. Dieser Mann hat mich bestimmt durchschaut. Was die Leute vom FBI ihm wohl eingeflüstert haben? Sie sah sich bereits auf der Anklagebank, mit Schimpf und Schande aus dem Haus geworfen. Ihre Jungs hatten eine Mutter, die kläglich versagte, als es galt, ihre jungen Leben zu retten, wenn das einzig Wichtige darin bestand, smart und cool zu 277
handeln, als es darum ging, denen da im Weißen Haus kaltschnäuzig den Marsch zu blasen und alles davon abhing, dass sie ihre Mission glanzvoll erfüllte. Nein, ich bin eine schlimme Versagerin auf der ganzen Linie, und morgen, morgen in der Kongressbibliothek wird die Blamage komplett sein. Sie legte sich seufzend aufs Bett, sehnte sich nach dem kuschelnden Ben, seinem warmen Körper, die ruhigen Atemzüge … schlief irgendwann ein. Keine bösen Visionen störten ihren Schlaf – als ob ihr Unbewusstes respektierte, dass sie schon wach einen furchtbaren Albtraum lebte.
68 Am nächsten Morgen brachte Rosa der First Lady wie gewünscht die sorgfältig ermittelten Resultate für eine psychiatrische Konsultation in New York City. Rosa setzte eine braune Hornbrille auf, deutete auf das Blatt, das sie vorbereitet hatte. »Die beste ihres Faches ist scheinbar diese Frau hier. Hervorragende Referenzen von Universitätsprofessoren. Sie hat viele beachtete Artikel über Behandlungsmethoden zum Angstsyndrom publiziert. Ihre Praxis liegt an der Ecke 79th Street und Fifth Avenue. Einen rückwärtigen Ausgang hat sie nicht, es gebe aber eine Verbindung zum anstoßenden Haus, so dass …« »Was haben Sie sonst noch?«, unterbrach Leslie. Die 79th Street lag ihr entschieden zu weit oben. »Jonathan Betason. Der hat eine vibrierende Stimme, die mich fast umwarf. 69th Street zwischen Madison und Fifth Avenue. Wissen Sie was? Er sagte mir, er brauche selber einen Hinterausgang und würde die First Lady sehr gerne empfangen. Er ist ein Veteran der Nationalgarde und behauptete, er verstehe sich darauf, Prominenz diskret abzuschirmen. Klang gut.« 278
»Gut, dieser … Betason passt mir, Rosa. Machen Sie einen Termin fest.« »Schon organisiert, Madam.« Rosa blitzte mit den Zähnen im feuerroten Oval ihres gesprächigen Mundes. »Doktor Betason nimmt Sie jederzeit kurzfristig an. Ist ihm eine Ehre. Genau, was wir brauchen. Heute um drei Uhr?« Leslie überlegte, wie sie in New York alles unter einen Hut bringen sollte. »Drei Uhr ist perfekt«, entschied sie. »Zum Vortrag in der Kongressbibliothek um acht schaff ich’s, oder?« Sie fragte sich, ob die Erregung, die sie in diesem Augenblick durchwogte, auf ihrem Gesicht sichtbar sei, aber Rosa hatte sich abgewandt, telefonierte bereits mit der Arztpraxis. Der Tag war gelaufen.
69 »Schatz, du siehst gar nicht mitgenommen aus«, witzelte der Präsident und steckte eine prüfende Nase in den Weinkrug. »Kalifornischer Merlot, würde ich sagen«, analysierte er kennerhaft. Auf dem Mittagstisch lockte ein RauchlachsRückenfilet neben ein paar Zitronenschnitzen. Leslie schnitt ein paar Stücke ab, legte eine Scheibe Schwarzbrot auf seinen Teller. »Es ist italienischer Amarone, Darling.« Sie führte das Glas an die Lippen, nahm einen Schluck. »Warum sollte es mir schlecht gehen?« »Das fragst du noch«, empörte sich der Präsident, am Lachs kauend, »nach allem, was du durchgemacht hast? Du siehst jünger aus, richtig jung, Sweetie. War als Kompliment gemeint!« Er kostete den Wein, wiegte den Kopf. »In weino veritas!« 279
Leslie gluckste. »Ich glaube das ist vino, nicht weino. Und was meinst du damit?« Er winkte belustigt ab. »Vino, weino, was tut’s – nur so eine Redensart. Mich freut’s, dass du wieder Lust am Wein hast. Du wolltest ja aufhören. Alkohol hemmt den Fettabbau, war dein Dauerbrenner.« Leslie spürte einen Angstkloß im Hals, als der Präsident sie mit leicht verkniffenen Augen musterte, als hätte er sie gerade entlarvt. Doch mit einem charmanten Lächeln meinte er: »Du bist schön, Honey, wirklich schön.« Sie entgegnete bewusst nichts darauf, wohl wissend, dass Ehefrauen die Komplimente ihrer Männer regungslos und als selbstverständlich entgegennehmen. Besser das Thema wechseln! »Mein Arzt hat mir am Telefon erklärt, dass ein Mensch zweierlei auf eine schwere seelische Erschütterung reagieren kann.« Sie blickte ihn interessiert an, während er Butter auf Schwarzbrot strich und ein Stück Lachs darauf legte. »Du meinst deinen Hirnschrumpfer?« »Genau. Betason. Die einen, erklärte er mir, erstarren nach einem schweren Schock, bleiben in sich gekehrt und hadern mit dem Schicksal. Diese Kategorie bleibt vergrämt und ist schwer zu therapieren.« »Und die andere Sorte«, wollte der Präsident wissen, als die junge, glanzvoll weiß uniformierte Servierdame eine Platte mit Ravioli al Limone brachte. »Eine Spezialität vom Chef«, verkündete sie mit einem halbherzigen Knicks. Die First Lady quittierte die plumpe Artigkeit mit formellem, leicht entlassendem Lächeln. Das Mädchen zog sich unbeholfen seitwärts gehend zurück. »Die andere Sorte lebt auf, weil sie es als Wink des Schicksals auffassen, dass sie den Klauen des Todes haarscharf entronnen 280
sind«, dozierte Leslie, den Punkt mit dem Tod dramatisch betonend. »Sie freuen sich über das neue Leben. Sie sehen das Entrinnen aus der Todesgefahr gewissermaßen als zweite Chance.« Der Präsident kaute an der Teigtasche, nickte anerkennend. »Schmeckt gut. Und zu welcher Kategorie gehörst du?« »Das fragst du noch?«, neckte sie lachend. »Ich gehöre nach Doktor Betason zu den zwei Prozent, die ein Schockerlebnis in neue Lebenskraft ummünzen. Voilà!« »Voilà? Kommt das nicht aus Froschland?«, fragte der Oberbefehlshaber aller Streitkräfte anzüglich gedehnt. »Lehrt der dich etwa auch noch Französisch?« »Aus dem traumatischen Erlebnis fließt neue Vitalität«, fügte Leslie pointiert hinzu. »Verstehst du?« Unter keusch gesenkten Augenlidern schickte sie ihm einen dunkel verführerischen Blick hinüber. Das reine Schmierentheater aus Desperate Housewives. Der Präsident wischte sich den Mund mit der blendend weißen Serviette. »Hat der Arzt das wirklich gesagt?« Sie kräuselte leicht die Lippen. »Nun, ja, ungefähr so hat er’s gesagt. Ich jedenfalls habe es in diesem Sinn verstanden, als wir telefonierten. Findest du nicht gut, dass ich zu den zwei Prozent gehöre, die durch ein Schreckerlebnis wachsen und aufleben?« Sie richtete sich auf. Ihre Brüste spannten sich unter der roséfarbenen Bluse, fingen seinen begehrlichen Blick ein. »Sicher, sicher, absolut. Ich freue mich ja, bin einfach verwundert. Du erscheinst mir wie neugeboren, eine andere Frau. Dieser Betastrahl … Dein Arzt …« »Betason«, korrigierte sie vergnügt. »… ist der einer dieser Sonnyboys, der seine Patientinnen aufs Kreuz legt?«
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»Mister President!«, verwahrte sie sich tadelnd, um sogleich verschmitzt fortzufahren: »Keine Angst, Sir, aber mein Lustgefühl ist voll intakt.« Wie zum Beweis lehnte sie sich lasziv zurück, fummelte mit der bloßen Fußspitze unter dem Tisch nach der Innenseite seiner Oberschenkel. Sie spürte, dass er wusste, was sie wollte, aber er rutschte weg, klang plötzlich ungehalten. »Wie geht es übrigens deinem Fuß? Hast du den Termin gemacht?« »Mein Fuß? Was soll denn damit sein?«, platzte sie heraus und hätte sich gleich vor Ärger auf die Zunge beißen können. »Der Schock hat wohl dein Gedächtnis lädiert«, lachte er, offenbar hoch amüsiert. »Die Operation an deiner Ferse …« »Ach so! Ja, klar!« Imaginäre Sturzbäche transpirierend hob sie locker eine Hand. »Ich weiß nicht, vielleicht geht’s mit Physiotherapie. Schauen wir mal.« Das diskrete Summen des Telefons rettete die Situation. Der Präsident ließ die Serviette neben den Teller fallen, stand rasch auf. »Das wird Tenson sein.« Er hob den Hörer, sagte nur ein knappes Okay, winkte ihr geschäftig zu und schritt zur Tür. Im Fernsehen hatte sie sein etwas steifer, breitbeiniger Gang immer kalt gelassen. Hier, aus nächster Nähe, fand sie ihn widerwillig sexy. Macht korrumpiert … zitierte sie bei sich. »Lagebesprechung«, hörte sie noch, dann war er weg. Sie atmete mit einem Das-ist-ja-noch-mal-gut-gegangenSeufzer auf. Es war zwölf Uhr mittags. Unten wartete die Limousine zur Andrews Air Force Base, wo der Jet bereitstand. Wie ging das nette kleine Sprichwort noch weiter?
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… und absolute Macht korrumpiert absolut! Erschauernd fand sie, dass sie nichts dagegen hätte, vom mächtigsten Mann der Welt ein wenig korrumpiert zu werden. Absolut nichts.
70 Doktor der Psychiatrie Jonathan Betason begrüßte die First Lady im hellen mit Zeitschriften übersäten Foyer und geleitete sie an leeren Wartestühlen vorbei galant in den Raum, den er distanziert mokant sein headlock, seinen Schwitzkasten, nannte. Secret-Service-Agent Frank Sureman beharrte darauf, im Wartezimmer Posten zu beziehen, während seine Partnerin Rita die drei Praxisräume mitsamt Toilette überprüfte, sich nach dem Gebäudegrundriss und einem Hinterausgang erkundigte, den es nach dem Kopfschütteln des Arztes nicht gab, worauf sie draußen im Wagen ihren Posten bezog. Rosa hatte der First Lady zugeflüstert, sich an Agent Sureman zu halten. Was sie damit meine, hatte Leslie nachgefragt. »Ihr Sicherheitsmann. Seit 9/11 sind neue Leute im Secret Service. Sie wissen schon«, hatte sie mit verschwörerischem Blick geantwortet. »Im Weißen Haus wird schlimmer getratscht als auf dem Kongress der Waschweiber. Frank gehört zur alten Garde. Aus ihm bringt keiner was raus. Nehmen Sie ihn mit, wenn es nach New York geht oder sonst wohin.« Frank Sureman maß gut ein Meter achtzig, hatte dunkelbraune Haut, einen athletischen Körper, den er mit wippendem Gang in Bewegung setzte. Sein kahl rasierter Schädel glänzte im Wettstreit mit seinen wachen, haselnussbraunen Augen. Ein dünner Schnauz bog an den Mundwinkeln in einen kurzen, schwarzen, spitz gehaltenen Kinnbart ab. Leslie glaubte Gordon aus Spin City vor sich zu haben, wäre da nicht der Wulst unter der linken Schulter gewesen, wo die 9-mm-Glock Police Special 283
locker im Halfter steckte. Im Ganzen gesehen wirkte Sureman sehr präsent, hart, professionell und war trotzdem angenehm im Umgang. Doktor Betason war ein untersetzter Gentleman, wohl Mitte fünfzig, jüdisch. Volles, grau meliertes Haar, das in Strähnen in die hohe Denkerstirn fiel, gab seinem Kopf eine heldenhafte Dimension, doch sein glatt rasiertes, rosiges Gesicht war freundlich, konstatierte Leslie, und seine sanften Augen gaben Vertrauen ein. Er bot Leslie nicht die klassisch in schwarzem Leder gehaltene Couch an, sondern den ebenfalls schwarzen Lederdrehstuhl vor seinem Schreibtisch. Leslie schaute sich nach den gerahmten Diplomen an der Wand um, dann blickte sie suchend in seine Augen, die unternehmungslustig hinter Brillengläsern funkelten. »Sehen Sie«, begann er, ohne Platz zu nehmen. »Diese Tür hier führt in meine Garage, wo ich den alten Mercedes parke.« Leslie blickte verdutzt – sie sah keine Tür. Betason manipulierte lächelnd eine Stelle am Bücherregal. Ein Knauf kam zum Vorschein – mit einer breiten Schulter drückte er die als Büchergestell getarnte Tür auf. Leslie spähte durch den Spalt in einen dunklen Flur. »Die Garage liegt im Hinterhof, der sich zur 68th Street öffnet. Sehr praktisch. Ich kann diskret verschwinden, ohne dass die Patienten vorne im Foyer merken, dass ich da bin, wenn ich nicht da bin.« Er ließ einen geprusteten Lacher ab. Zu Betasons Überraschung stand Leslie auf, schritt brüsk durch die Geheimtür, dann den Gang entlang und nahm weiter hinten die Garage in Augenschein. Neben dem Mercedes Veteran stand eine schnittige Corvette und an die Hinterwand gequetscht ein Motorrad. Das Guckfenster im Kipptor gab einen guten Ausblick in den Hinterhof, aus dem eine enge, betonierte Ausfahrt auf die Querstraße hinausführte. 284
Leslie schürzte die Lippen, nickte kennerisch, kehrte um. Wieder im Büro, legte sie sich ohne viel Federlesen auf die Couch, obschon der Psychiater sie nicht dazu angehalten hatte. Ungerührt zog Betason einen Stuhl heran, setzte sich verkehrt darauf, die Beine um die Lehne winkelnd. »Ihre Assistentin hat mir den Sachverhalt geschildert. Sie sind mit dem Schrecken davongekommen …« »Ach, lassen wir das doch«, rief Leslie lebhaft dazwischen. »Wichtig ist nur eins, Doktor – dass niemand von meinem Besuch hier erfährt. Dass die First Lady beinahe von den Terroristen getroffen wurde, bleibt Staatsgeheimnis. Weiterhin, Doktor, brauche ich eine Behandlung von zwei Stunden. Sie haben nichts anderes zu tun, als mich hier rein und nach Ablauf der Zeit von hier wieder raus zu lassen.« Der Arzt nickte bedächtig, als wittere er eine Verschwörung größten Ausmaßes, in der ihm eine zentrale Rolle zukam. »Ich verstehe. Ich gebe Ihnen einen Schlüssel zur Tür hinten im Hof, Sie müssen ja auch wieder reinkommen.« Er kramte in seiner Tasche, produzierte ein Schlüsselbund, das er auf den Tisch legte. Leslie war ehrlich imponiert von Dr. Betasons raschem, ungezwungen praktischem Entgegenkommen. »Dann ist unser kleines Agreement klar?« »Ich setze mich wohl in die Nesseln, aber mein Auge sagt mir, dass Sie wissen, was Sie tun. Auf mich ist Verlass. Brauchen Sie sonst noch einen ärztlichen Rat?« Sein breites Grinsen war ansteckend. Leslie lächelte verschwörerisch: »Ich hasse unseren Hund.« »Barney? Den kennt die ganze Nation.« »Er knurrt mich an, als wäre ich eine Fremde«, spielte Leslie mit dem Feuer. »Das Höllenhundsyndrom«, erläuterte Doktor Betason gelassen. »Cerberus bewachte die Pforte zum Hades, das wissen 285
Sie. Nehmen wir an, Sie sind am 11. September durch die Vorhölle gegangen. Trümmerhagel, Schreie, Feuer und Tod ringsum, ein enormer seelischer Druck. Dabei blieb ein ganz bestimmter Vorfall unauslöschbar in Ihrem Gedächtnis. Gibt es so etwas?« Sie schüttelte den Kopf. »Egal, der Hund, der Ihnen zusetzt, kann auch ein symbolischer Cerberus sein. Ein Mensch, ein Gegenstand. Na schön. Posttraumatische Auswirkungen sind komplex. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich hasse die Hundeviecher auch wie die Pest und mir fehlt nichts, außer dem, das jedem gesunden Mann in meinem Alter ab und zu fehlt.« Er schenkte ihr ein so äußerst charmantes Lächeln, dass sie die Augen niederschlug. Was durchaus nicht bedeutete, sie ging auf die Anspielung ein. Schließlich war sie die First Lady und hatte die Würde des Weißen Hauses zu wahren. Aber sie schrieb sich die freimütige Bemerkung dieses überheblichen, jedoch offenbar äußerst patenten Kerls von einem Psychiater hinter die Ohren. »Übrigens, reine Routinefrage, nehmen Sie Medikamente?«, erkundigte er sich, sie intensiv über den Brillenrand musternd. Sie warf einen Seitenblick auf die Uhr, erhob sich, nahm den Schlüssel, den ihr der Arzt abgetrennt hatte. Dann blieb sie unschlüssig stehen. »Medikamente?«, wiederholte sie. »Na schön. Ich nehme Testosteron.« »Aha.« Er betrachtete sie mit neuem Interesse. »Hatten Sie das Interesse an Sex verloren?«, wollte er wissen, während er rasch eine Notiz auf einen Rezeptblock kritzelte. Leslie lächelte gnädig tolerant, wie es ihrem hohen Status zukam. »Nein, durchaus nicht, Dr. Betason. Mein sexuelles Verlangen ist stark geblieben. Ich nehme Testosteron schon seit langem. Um Ihrer Frage zuvorzukommen – mein Dad hat es mir geraten. Vermutlich wusste er, warum. Nehmen Sie auch etwas in dieser Richtung?« 286
Doktor Betason runzelte die Stirn, seine Lippen bewegten sich, als suchten sie nach einer passenden Replik. »Schön«, beschied Leslie lächelnd. »Das heißt dann wohl ja.« »Testosteron ist der Brennstoff der Liebe«, rettete sich Betason, leicht pikiert. »Die Sexualzentren im Gehirn des Mannes sind etwa doppelt so groß wie die entsprechenden Strukturen bei Frauen. Männer haben buchstäblich mehr Sex im Kopf als Frauen. Viele Frauen meinen allerdings, Testosteron sei ausschließlich ein männliches Hormon. Das ist ein weit verbreiteter Irrtum. Sinkt der Testosteronspiegel bei einer Frau unter ein bestimmtes Niveau, verliert sie völlig das Sexinteresse. Ihre Libido verkümmert. Ihr Dad, haben Sie gesagt, hat Ihnen …?« »Ja, er hatte die Weitsicht, mit mir darüber zu reden. Bis später dann«, nickte sie ihm zu, begab sich an die Geheimtür. »Und bitte vergessen Sie den Kaffee für Frank, meinen Sicherheitsmann, nicht. Milch, ohne Zucker.« Noch ein paar Minuten, nachdem sich die geheime Tür hinter der First Lady geschlossen hatte, blieb Dr. Betason an seinem Schreibtisch. Endlich warf er einen Blick auf die kleine, diskret kaschierte Wanduhr, stand auf, tat die paar Schritte zur Therapiecouch, streckte sich darauf aus und schloss die Augen. Noch geraume Zeit, nachdem er eingedöst war, lag ein feines, tolerantes Lächeln auf seinen urban kultivierten Zügen.
71 Im schummrigen Halblicht der Garage lehnte Leslie an die silbergraue Corvette, die muffige, ölgetränkte Luft wie Balsam einsaugend. Der Sportswagen war offen, auf dem Beifahrersitz lag eine Schachtel kubanische Zigarren. Leslie fühlte etwas in ihren Körper strömen, von dem sie nicht sagen konnte, ob das 287
rote Leder der Schalensitze oder ihr Testosterongeständnis die Ursache war, ob der verkommene Duft von Luxus sie betörte oder die bevorstehende Expedition ihre Sinne aufpeitschte. Ihre Hände zitterten jedenfalls nicht, als sie die Handtasche öffnete, die Perücke herauszog. Ein rascher Seitenblick, aber da war niemand, keine Schritte näherten sich, nur das dumpfe Rauschen des Verkehrs drang in den abgeschiedenen Garagenraum. Rasch setzte sie die Perücke auf, rückte sie zurecht. Der breite, drehbare Rückspiegel der Corvette zeigte eine völlig veränderte Frau. Zufrieden gestellt, mit flinken Händen, klebte sie sich schwarze Wimpern an, trug dunkles Rouge auf, knetete die Lippen gegeneinander und war bereit zum Ausrücken. Bevor sie in den hellen Hinterhof hinaus trat, zog sie ihr Jackett aus und setzte den modisch dunkel getönten D&G-Sonnenbogen auf. Nichts ahnend eiligen Schrittes um die Ecke in die 68th Street biegend, blieb ihr ein Schrei im Hals stecken. Ein hässliches, scharfkantiges Rohr schrammte an ihr vorbei, streifte ihre Schulter, hätte sie beinahe umgehauen. Zwei verdutzte Gesichter blickten unter hellblauen Helmen zu ihr auf. »Könnt ihr nicht besser aufpassen«, schimpfte sie. Die Arbeiter stammelten eine Entschuldigung, oben auf dem Lastwagen der Telefongesellschaft pfiff ein anderer Blauhelm bewundernd durch die Zähne, als wäre ihm Madonna persönlich erschienen. Ich sehe wohl aus wie ein Vamp! Wenn der Sureman jetzt hier aufkreuzt, erkennt der mich auch nicht wieder! Der M66-Bus, mit dem sie oft zur Westside gefahren war, rauschte an ihr vorbei. Alles kam ihr jetzt so vertraut vor, dass sie den ganzen Scheiß am liebsten hingeschmissen hätte. Warum tat sie das eigentlich alles? Der hellblaue klare Himmel, in dem sich ihr flehender Blick verlor, blieb ihr die Antwort schuldig. Leslie brauchte zehn Minuten, um zu Fuß an die Third Avenue zu gelangen. Dort brauste ihr der Mittagsverkehr auf fünf 288
Spuren entgegen. Sie überquerte die Avenue weiter unten an der 67th Street und stand wenig später vor dem Zeitungsstand. Die Post und die Times lagen auf hohen, mit Eisenbarren beschwerten Stapeln nebeneinander. Leslie überflog die Schlagzeilen, schaute sich so unauffällig wie aufmerksam um, betrat dann den Laden. Sie kaufte aus Verlegenheit Dentalkaugummi, während sie die Nummer wählte. Ben nahm sofort ab. Seine Stimme klang ihr wie daheim.
72 Erschöpft ließ sich die frisch gemünzte First Lady, jetzt wieder Leslie Palmer, in Bens mit Büchern, Zeitschriften und allerlei Krimskrams übersäten Junggesellenwohnung auf die Couch fallen. Ben hatte aufgeräumt, oder was er dafür hielt. Auf dem Flügel, der einen Drittel des Zimmers blockierte, grüßte ein Strauß roter Rosen aus einer zu kleinen Kristallvase. Der Champagner auf dem Salontisch war ein ebenso unübersehbares Signal seiner unverkennbaren Absichten wie sein herbes Parfum, das sie betörend umwehte, als er sich zu ihr setzte. Über den Hightech-Cinema-Display-Bildschirm liefen im Stummmodus Nachrichten. Offenbar ging es um die neuen Sicherheitsvorkehrungen auf den Flughäfen. Ben küsste sie zart hinters Ohr, auf den Haaransatz des Nackens, eben jenen sinnlichen Fleck zarter Haut, wo sich die ersten Härchen kräuselten. Er stachelte sie jedes Mal auf eine neue, berauschende Art auf. Doch sie riss sich los, entwand sich ihm. »Ben, heute können wir nicht. Wir müssen jetzt ernst miteinander reden. Ich stecke bis zum Hals im Dreck. Es zerreißt mich innerlich. Ich halte es kaum noch aus.« Sie stand auf, schritt das Zimmer ab. 289
»Niemand darf wissen, dass ich hier bin. Niemand! Versprich es mir. Nichts, was wir besprechen, verlässt diesen Raum – nichts, okay? Es geht um meinen Geheimauftrag. Darüber kann ich leider nicht sprechen. Du hast mich nicht getroffen, nicht gesehen. Ist das klar?« Ben hatte den Ernst der Lage begriffen – gesenkten Hauptes stellte er den Champagner in den Kühlschrank zurück. Als er zurückkam, sah er so ernst aus, wie das bei ihm überhaupt möglich war. »Leslie, ich hoffe nur, du siehst keine Gespenster. Geht es um diesen CIA-Typen? Um die E-Mails? Vielleicht solltest du dich da raushalten, was es auch …« »Hör auf, bitte! Du hast keine Ahnung, wirklich, keinen blassen Schimmer, glaub mir das.« »Gut, ich bin blöd, ich weiß nichts, aber ich weiß wenigstens, dass ich nicht weiß, was du vorhast. Also, was ist dein Plan?« »Ich muss wissen, mit wem Bronx E-Mails austauscht. Erinnerst du dich?« Ihre Stimme hatte einen dringenden, flehenden Tonfall. »Du hast mir erzählt, mit deinem Superprogramm könntest du den E-Mail-Verkehr zurückverfolgen. Stimmt doch?« Ben nickte unbehaglich. »Ich bin in Eile. Finde es heraus, bitte, ich muss wissen, von wem er Botschaften erhält, seine Bank, sein Konto. Geht doch, oder?« »Und das ist alles, bist du sicher? Kein bisschen mehr?« Ben wandte sich kopfschüttelnd ab. »Du kannst es machen, Ben. Du bringst das fertig. Ich brauche dich.« Sie umschlang ihn von hinten, massierte seinen muskulösen Bauch, die prallen Schenkel. Er drehte sich abrupt um. »Du spielst mit Feuer, Baby. Das ist brisant. Kriminell, genau genommen!« 290
Sie tat einen Schritt zurück, starrte ihn an. »Du hast doch Schiss! Kriminell, sagst du? Und was ist mit mir?« Ben hob beschwichtigend die Hände auf Schulterhöhe. »Okay, okay! Ich probiere es, ich mache alles für dich, das weißt du. Aber pass auf. Die beobachten dich. Was glaubst du denn, was die große Sache ist, die ganz große Gefahr?« Sie bewegte unschlüssig die Schultern. Er schaute auf ihren gesenkten Kopf, zog sie an sich. Sie schmolz geradezu in ihn hinein. »Das müssen wir eben ausfindig machen, Ben, darum geht es ja. Jetzt habe ich nicht mehr viel Zeit. Schick mir die Information an meine E-Mail-Adresse im Marinenachrichtendienst.« »Der steht nicht mehr, das Gebäude ist auch eingestürzt, nur Schutt da.« »Mein E-Mail funktioniert noch. Jetzt muss ich weg hier. Leider.« »Betrachten wir die Sache von einer andern Seite. Was, wenn du dich dem FBI anvertraust? Die können doch verdeckt nachforschen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab’s mir lange überlegt, Ben. Wenns nur um mich ginge, ja, sofort. Aber es steht mehr auf dem Spiel … Es ist furchtbar.« Nach einer Weile sprach sie gefasster, hinein in das betretene Schweigen, das sich zwischen ihnen breit gemacht hatte. »Die ganze Sache zerreißt mich innerlich. Hilf mir, bitte, willst du?« Sie brach ab, schlug die Hände vor das Gesicht. Jetzt schien Ben irgendwo etwas Stolz gefunden zu haben. »Gut, dann stehen wir also mutterseelenallein da gegen all die Mächtigen und obersten Ränge der Geheimdienste.« »Nein«, widersprach Leslie, frischen Mut schöpfend. »Wir sind nicht völlig auf uns allein angewiesen. Ich habe noch Verbündete, die mir helfen können. Leute, die das 291
Spionagebusiness kennen.« Mehr wollte sie Ben nicht verraten. Kenntnis nur soweit nötig, musste ihre Parole bleiben. Auch mit Ben. »Also was machen wir jetzt?« Er klang etwas wehleidig. »Ich muss rennen, Ben. Tut mir leid. Hab noch eine wichtige Verabredung.« Sprach’s, küsste ihn leidenschaftlich auf den Mund, stürzte ins Badezimmer, wo sie hastig wieder ihre perfekte Tarnung applizierte. Ben stand plötzlich grinsend in der Tür, salopp den Revolver in der Hand schlenkernd. Seine Pose schien einem alten Gangsterfilm mit Bogart und Cagney entliehen – auch die Sprache war danach. »Vergiss nicht dein Stück.« »Du bist ein Schatz. Bogey!« Sie steckte lächelnd die Waffe ein. »Übrigens, war alles in Ordnung in meiner Wohnung?« »Leslie, erinnerst du dich noch«, fragte er unten im Flur. Sie blieb stehen. »Diese codierten Meldungen: Wirtschaftsfakultät, Medizinische … Einschreibeschluss?« Sie nickte, mit großen Augen. »Ich habe … ich wollte es dir schon lange sagen …«, begann er stammelnd. »Ich hab die Sachen dem FBI geschickt, und …«, wieder machte er eine Pause. »Und? Wem noch?« »Also, dem Stellvertreter vom Antiterrorchef im FBI …« Sie fuhr ihm in die Rede. »Zur Sache, Ben – verdammt, ich muss los!« »Ja, der hat mich dann angerufen und sich bedankt und …« »Und? Was sagten die?« »Ob ich sonst noch Informationen hätte. Da hab ich natürlich nein gesagt.« »Bist du ganz sicher?« 292
»Da kannst du Gift drauf nehmen. Du kannst dich auf mich verlassen.« »Mann, das hoffe ich wirklich.« Sie sprach jetzt bedrohlich langsam. »Und wen hast du sonst noch alles informiert?« »Nun, ich dachte, die CIA …!« »Shit, Ben, du hast die Sachen der CIA geschickt? Wem denn dort, zum Teufel!« Sie schaute ihn sprachlos an. »An den Direktor der CIA hab ich das adressiert. Der kann sicher was damit in Bewegung setzen, sagte ich mir … Von denen hat sich allerdings keiner gemeldet.« »Wenn das nur gut geht«, stöhnte sie, »ich kann’s kaum fassen.« »Wir waren doch auf der richtigen Spur, Baby«, raunte Ben, geradezu flehend. Draußen küssten sie sich sittsam, schwenkten nach altem Hollywood-Brauch zweimal die Wangen aneinander vorbei, dann pflanzte ihr Ben noch einen emotionellen Tupfer auf die schön geschwungenen Lippen. Oben auf den Stufen vor dem Haus stehend, schaute er zu, wie sie an der Ecke in ein Taxi stieg. Sie blickte sich nicht nach ihm um, auch nicht durch das Rückfenster des Taxis. Was hinter mir liegt, liegt hinter mir. Jetzt gilt nur eins – vorwärts! Sie schloss die Augen – wie vor dem Todessprung von einem der Zwillingstürme.
73 Die TV-Stationen hatten ihre zweite Garnitur gesandt. Nachtredakteur Bob Marks von CBS hatte sich im Vortragssaal mit der gewölbten Holzdiele in einen Stuhl gelegt, den er unter 293
ein Gemälde irgendeines Ikons der Bildungswelt platziert hatte. Er rückte seine Sprechgarnitur zurecht. »Hörst du mich?« Anstatt zu antworten, hob der Kameramann den Daumen. »Zuerst machst du eine Totale mit der Menge, dann zoomst du auf sie, wenn sie zu reden anfängt. Vorne links sitzen zwei Senatoren, schnapp sie dir, wenn es Applaus gibt.« »Alles klar«, antwortete der Kameramann, doch Bob wusste, dass nie alles klar war. Immer gab es Überraschungen, vor allem, wenn der Präsident sich verhaspelte oder plötzlich eine unerwartete Ankündigung machte oder einfach stumm und hilflos da hockte, wie in diesem Klassenzimmer in Florida, als ihm vor versammelten Kindern die Nachricht von der Attacke auf die World-Trade-Center-Türme ins Ohr geflüstert wurde. In solchen Augenblicken war die Schlagfertigkeit des Reporters gefragt. Die bieder anmutende First Lady, brave Schulmeisterin und korrekte Bibliotheksmaus, hingegen war nur beschränkt nachrichtentauglich. Meistens gelangten ihre Auftritte gar nicht in die Nachrichtensendungen. Inzwischen hatte der Bibliotheksdirektor am Rednerpult mit weit ausholender Armbewegung zu reden begonnen. »Ladies and Gentlemen, wir sind stolz, diesen wundervollen, dynamischen Gast heute hier willkommen heißen zu dürfen. Ladies and Gentlemen – the First Lady of the United States.« Applaus brandete auf. Die Präsidentengattin kam gemessenen Schrittes heran, den Kopf leicht geneigt, die Ellenbogen typischerweise an den Körper gedrückt, als müsse sie das Kleid am Verrutschen hindern, die Hände auf Busenhöhe halb geöffnet. Bob raunte ins Mikrofon: »Das Kleid, hast du ihr Kleid?« Sie wirkte sehr adrett, fast ein bisschen aufgedonnert, eine schicke Frisur, zweifellos ein neuer Stil, der eher für Downtown 294
Manhattan passte, schien Bob auszumachen. Er ertappte sich beim dümmlichen Gedanken, dass Downtown Manhattan momentan alles andere als schick daherkam. »Ladies and Gentlemen – es ist für mich eine besondere Ehre und Freude, heute vor diesem großartigen Publikum sprechen zu dürfen …« Bob wandte den Kopf, schickte sein Gähnen gegen die anonyme Wand. Dann kramte er raschelnd das Referat hervor, was ihm den missbilligenden Paukerblick einer älteren bebrillten Lady, sicher eine strenge Dorflehrerin, einbrachte. »… Unsere Nation, wir alle stehen vor einer gewaltigen Bewährungsprobe und unsere Gedanken sind in diesen Stunden bei den Angehörigen, die ihre Liebsten bei diesem schrecklichen, hinterhältigen Anschlag verloren haben …« »Das Publikum!«, flüsterte Bob ins Mikrofon. Die Kamera schwenkte auf die ernsten Gesichter, fand ein älteres Ehepaar, das sich die Tränen aus den Augen wischte. »Gut gemacht«, lobte Bob. Er löste den Blick von dem kleinen Fernsehmonitor zu seinen Füßen. »… Trotz Schmerz, trotz Schock und ich würde sagen, trotz der unsäglichen Wut, die uns erfasst, gilt es, heute und in der kommenden schweren Zeit besonnen zu bleiben …« Bob suchte stirnrunzelnd den Text im abgegebenen Referat, fand die Stelle nicht. »… unseren Kindern, ich habe selber zwei, die mir auch Sorgen bereiten, der Jugend sind wir es schuldig, in der Krise Haltung vorzuleben und Vorbild zu sein …« »Sie spricht frei«, staunte Bob, während die First Lady den Kopf leicht nach links wandte, als spräche sie geradewegs zu ihm. Der offene Kragen ihrer rotviolett glänzenden Bluse brachte ihren schönen Hals zur Geltung, als sie sagte: »Die Medien müssen aufmerksam sein, erfahren, was passiert ist und 295
darüber berichten. Ihre Verantwortung ist groß. Unser großer amerikanischer Dichter, Mark Twain, er lebte von 1835 bis 1910, sagte, Tatsachen muss man kennen, bevor man sie verdrehen kann.« Helles Gelächter, dem die Schadenfreude anzumerken war, brach aus. »Sie redet zu dir, Bob, pass auf«, ulkte der Kameramann. Doch Bob fühlte einen leichten Stich im Herzen. Was will sie sagen? »Trotz der furchtbaren Tragödie, die uns verunsichert, Angst einflößt, meine Damen und Herren, dürfen wir das Bad nicht mit dem Kind ausschütten, sondern müssen uns fragen, wie konnte es dazu kommen, dass unserem Land so eine Katastrophe widerfahren ist. Vielleicht erinnern wir uns an das große Dichterwort: Man vergisst vielleicht, wo man die Friedenspfeife vergraben hat, aber man vergisst niemals, wo das Beil liegt.« Sehr gefasst griff sie nach dem Glas, nahm ruhig einen Schluck Wasser, schlug die Augen auf und schaute lächelnd um sich. Das Bad mit dem Kind ausschütten … »Hey, hast du den Lapsus im Bild? Die sprichwörtliche Redensart lautet doch gerade umgekehrt. Das Kind mit dem Bad ausschütten, was so viel heißt wie übertrieben reagieren. Ein Schnitzer wie ihn sonst nur ihr Alter macht«, höhnte Bob leise. Er äugte geduckt zur bebrillten Lady, als fürchte er sich vor ihrem strafenden Blick. Der Kameramann hatte auf die beiden Senatoren geschwenkt, deren Stirnrunzeln eingefangen. »Mark Twain, dessen Lektüre meine Stiftung fördert, meinte leider zu Recht, dass Erziehung organisierte Verteidigung der Erwachsenen gegen die Jugend ist. Ich setzte mich dafür ein, dass Kinder durch Lesen ihre eigene Meinung und Ansichten bilden können und rufe Sie auf, lasst der Phantasie freien Lauf, auch wenn sie Ihnen unheimlich erscheint.« 296
Bob schüttelte verwundert den Kopf. Die Frau sprach frei von der Leber weg, völlig anders als im gedruckten Manuskript. »Lassen Sie mich noch einen Satz von Mark Twain zitieren: ›Der Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem beinahe richtigen ist derselbe Unterschied wie zwischen dem Blitz und einem Glühwürmchen.‹ Also was ist richtig und was falsch? Oft ist der richtige Anschein falsch, und der falsche Eindruck richtig. Und jeder ist ein Mond und hat eine dunkle Seite, die er niemandem zeigt. Lesen ist Erziehung zum Freisein, zur kritischen Analyse. Manchmal, wenn ich die Reden unserer Politiker höre, frage ich mich, haben die das richtige Wort verloren? Meine Damen und Herren, wir sind es der Jugend schuldig, die Messlatte der geistigen Leistung hoch aufzulegen. Man sagt mir nach, ich hätte ein ›Mondgesicht.‹« Befreiendes Lachen löste das latente Unwohlsein im Saal. Die Kamera schwenkte auf das Publikum. »Mag sein. Aber wo ist meine dunkle Seite?« Sie wartete ab. Erst als Mäuschenstille das Gemurmel ablöste, fuhr sie fort. »Meine dunkle Seite ist mein Unfall, als ich siebzehn war. Damals 1973, am 6. November in meiner Heimatstadt, Midtown, in West Texas.« »Hey, das ist sensationell, voll drauf!«, raunte Bob ins Mikrofon. Diesmal traf ihn der böse Blick der empörten Nachbarin wie ein Giftpfeil ins Auge. »Ich habe lange die Geschichte als mein Geheimnis bewahrt, aber vor der Tragödie, die uns am 11. September heimgesucht hat, verblasst mein kleines, persönliches Drama. Jetzt ist es Zeit, darüber zu reden.« Raunen im Publikum, Köpfe wandten sich einander zu, als wollten sie das eben fassungslos Gehörte im Gesicht des Nachbarn bestätigt sehen.
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»Michael, mein Schuldfreund aus dem College, und ich, wir hatten in dieser Nacht getrunken – es war eine dieser unzähligen, wilden Partys, wo wir manchmal auch kifften …« Wieder Raunen und Gemurmel. »Ich setzte mich ans Steuer seines Wagens, wir fuhren aus der Stadt hinaus, wir wollten weit draußen nach einer abgelegenen Stelle Ausschau halten. Wir waren Kids, die glaubten, schon alles zu wissen. Ich fuhr schnell, zu schnell, unbekümmert. Wir schwatzten, blödelten, knutschten. Dann plötzlich eine Kurve. Es war Nacht, blasser Mondschein. Auf ein Mal schossen die grellen Lichter des Tanklastwagens auf mich zu, aus dem Nichts kam das Ungetüm in die Biegung, voll auf mich zu. Ich riss das Lenkrad herum, es reichte nicht ganz, der Laster erwischte mich am Heck, Metall kreischte, warf uns über die Böschung. Der Wagen überschlug sich mehrmals. Ich schrie, hielt mich fest. Endlich bewegte sich nichts mehr. Der Motor lief noch, es knisterte unheimlich, roch nach Benzin. Wie ich es schaffte, heraus zu kommen, weiß ich nicht mehr. Michael war nirgends zu sehen. Ich rief und schrie. Rannte zur Straße hoch. Nach einer Ewigkeit ratterte ein Bus heran. Sie fanden Michael unter dem Wagen. Tot.« Sie schaute ins Publikum. Kein Laut, man hätte eine Stecknadel zu Boden fallen hören können. Die Kamera hatte die First Lady voll im Bild. »Mannomann, das sind Neuigkeiten! Donnerwetter!« keuchte Bob und überlegte, wie schnell sie auf Sendung gehen könnten. Vier andere Fernsehstationen hatten ihre Teams im Saal. Er las aus den Gesichtern der Kollegen und Kolleginnen, dass sie genau die gleichen Überlegungen anstellten. Das Rennen um die Breaking News, um den Scoop, war im Gang. Die First Lady sprach jetzt leiser, noch eindringlicher. »Ich war schuld an seinem Tod. Ich habe nicht aufgepasst. Ich hätte den Unfall verhindern können. Michael würde noch leben.« 298
Erhobenen Hauptes fragte sie das betäubte Publikum: »Wo haben Sie Ihre dunklen Seiten, meine Damen und Herren? Wollen wir der helle Blitz oder das unscheinbare Glühwürmchen sein, wenn wir mit unseren Kinder reden? Meine zwei Kinder, meine Damen und Herren, sind wie die meisten Kinder in diesem Land – hoffnungsvoll und bereit, etwas zu vollbringen. Sie glauben an die Wahrhaftigkeit. Unterstützen wir sie in diesem positiven Glauben an die unbegrenzten Möglichkeiten. Gott beschütze Amerika, Gott beschütze unsere Kinder! Ich danke Ihnen.« Der Applaus wollte kein Ende nehmen. Die vorderen Reihen erhoben sich, zögernd auch die Senatoren. Der Direktor schwang sich mit einem prächtigen Blumenstrauß aufs Podium, seine Dankesworte gingen im tosenden Beifall unter. Die First Lady lächelte huldvoll, hielt den Kopf in typischer Haltung leicht zur Seite geneigt. Sie hat tatsächlich ein Mondgesicht, dachte Bob und rannte hinaus zum Sendewagen. Wenn alles klappte, schaffte die sensationelle Rede der First Lady es noch in die 10-UhrNachrichten.
74 Früh am nächsten Morgen brachte Rosa mit bewunderndem Blick aus dunklen Augen die Zeitungen. Leslie hatten die ganze Nacht Zweifel geplagt, ob es richtig gewesen war, mit ihrer Rede Aufsehen zu erregen. Doch schon die Fernsehkommentare vor Mitternacht und dann die morgendlichen Talk Shows stellten die First Lady in ein vorteilhaftes Licht. Die Washington Post im Arm sank Leslie auf die Chaiselongue, ließ das Blatt aber gleich auf den Teppich gleiten und schloss die Augen. Ich muss zur Tat schreiten. Die Uhr tickt. Anfangen, schon, ja. Aber wo, wie? 299
Abrupt stand sie auf, schritt unschlüssig das Zimmer ab. Ihr Plan nahm immer deutlicher Gestalt an, aber erst musste sie Dampf ablassen. Sie ging ins Obergeschoss, wo im Fitnessraum ein Laufband ihren Bewegungsdrang zu stillen versprach. Oben angelangt, öffnete sie die erste Tür, stutzte. Statt auf HightechFitnessgeräte blickte sie auf eine bequeme Liege in einem schummrigen, rosa tapezierten Raum mit dicken Vorhängen vor dem einzigen Fenster. Ein heißes, unbändiges Verlangen kam sie an. Das fast hörbare Sirren fleischlicher Begierde ließ sie auf die Liege sinken, die Beine leicht spreizen. Der protokollgerechte Rock verhinderte, dass sie ihre Finger richtig spürte, doch schon die Berührung durch den Stoff hindurch ließ sie erschauern. Wenn nur Ben hier wäre! Soll ich ihn anrufen? Da sah sie den verchromten Kleenex-Behälter auf dem kleinen Glastischchen, zog ein Tüchlein heraus. Ein kleines rosarotes Mobiltelefon rutschte hinter dem Behälter hervor. Wie vergessen lag es da. Sie griff es sich, drückte die Ruftaste und sah die zuletzt gewählte Nummer. Versehentlich drückte sie erneut dieselbe Taste, die stellte eine Verbindung her. Hektisch versuchte sie, den Vorgang rückgängig zu machen, da kam schon eine angenehm tiefe männliche Stimme: »Zuckerbrot? Suchst du mich?« Erschrocken wich sie zurück. »Was?« »Sehen wir uns, ich bin es, deine Peitsche?« Endlich fand sie die Off-Taste, aber zu spät. Irgendwo hatte die Nummer zweimal geläutet, und einer hatte abgenommen. Peitsche? Zuckerbrot? Bin ich verrückt geworden? Sinnlos, Mädchen! Sie stand entschlossen auf. Die Tapetentür hätte sie beinahe übersehen, wäre dort auf Augenhöhe nicht eine fette, träge Fliege herumgekrabbelt. Als Leslie näher hinschaute, pochte ihr Herz plötzlich lauter. Eine Geheimtür?! Sie ging darauf zu, stieß gegen die Wand – die gab nach. Mattes Licht 300
ging automatisch an. Es war ein rötlich schimmerndes Boudoir, das sich ihren weit geöffneten Augen auftat. Ein Liebesnest! Das breite Bett, die Spiegel, die halb offene Tür zum Bad. Die Handtücher … Da stand der junge, schlanke Mann vor ihr. »Hast du mich gerufen, Zuckerbrot?« Leslie starrte ihn sprachlos an. Was erlaubt sich der freche Kerl? Wie kommt der hier rein? Er lächelte, kam näher. Ganz nahe. Er duftete herb. Seine Hand suchte die ihre und – es durfte nicht wahr sein – drückte sie an seinen Schritt, wo sie die Wölbung, die Härte spürte. Erschrocken wich sie zurück. Er zog verwundert die Brauen hoch. Bei Leslie fiel der Groschen. Sie lächelte: »Nicht jetzt.« Heftig schüttelte sie den Kopf, dann griff sie sich geistesgegenwärtig an die Stirn, als hätte sie wieder diese notorische, alles platt und schlaff machende Migräne. Hatte die First Lady einen Liebhaber? Mitten im Weißen Haus? Wer ist der Typ? »Ich – äh – ich muss zurück«, stammelte sie, war draußen im Flur, rannte die Treppe hinunter in den Living Room, warf sich erschöpft in den Ohrensessel. Fassungslos starrte sie auf das rosa Telefon, das ihre heiße Hand immer noch umklammert hielt. Unter Gewählte Nummern leuchtete der Name auf: Ted! Ted? Da summte das Telefon. Wie in Zeitlupe schlich sie sich ahnungsvoll an den Apparat heran, hob ab. »Ein Anruf für Sie, Madam?« Es war die Telefonistin mit dem New-York-Akzent. »Wer ist es?« »Ihre Tochter, Madam. Sie kam vorher über die direkte Nummer. Sie waren beschäftigt.« 301
Leslies Gedanken rasten. Was soll ich sagen? Wird sie es merken? »Madam?« »Danke.« Leslie drückte die laste, sagte vorsichtig: »Hello?« »Wer zum Teufel sind Sie? Was verdammt noch Mal machen Sie in meinem Haus?«, dröhnte eine aufgebrachte Stimme an ihr Ohr, drang wie ein Dolchstoß in Leslies Herz. Verschlug ihr die Sprache. Wie betäubt starrte sie auf den Hörer, als flöge ihr als Nächstes ein hässliches Gespenst ins Gesicht. Es war ihre Stimme. Wie aus dem Grab. Kein Zweifel. Leslies Gedanken rasten. Wo blieb ihre Schlagfertigkeit? Was bedeutete dieser Anruf einer Toten? Warum hat sie sich als die Tochter angemeldet? Wie gelähmt verharrte sie, nahm nichts wahr. »Hallo? Ich bin’s! Deine Lieblingstochter. Hab dich auf dem falschen Bein erwischt, haha!«, kam die Stimme versöhnlicher durch die Leitung. »War bloß’n Witz fürs Tonband. Die Zentrale hört wie immer mit.« Witz fürs Tonband? Zentrale hört mit? Warum gibt sie sich als die Tochter aus? Diese Stimme hatte doch nicht den Tonfall einer Zwanzigjährigen … Leslie begriff schlagartig, dass sie mit niemand anderem als der First Lady Sarah Crawford sprach, versuchte angestrengt, auf das Spiel einzugehen, stammelte einen Kosenamen, etwas anderes fiel ihr nicht ein. »Ich muss dich sprechen.« Sie setzte sich, stieß den Atem aus, der wie ein Orkan über den Arbeitstisch fegte. Sie riss sich zusammen. »Okay, wann? Wo sind … Wo bist du? Komm, schau doch rein.« »Geht nicht«, widersprach die Stimme. »Bin am Wilson Boulevard in Arlington. Wir könnten uns bei Victorias Secret treffen. In einer Stunde?« »Wer ist sonst noch … Bist du allein?«
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»Ja, bin ich. Noch etwas, kannst du mir deinen Garnpullover bringen, den fliederfarbenen von Missoni, du weißt schon, geht das?« Leslie fiel es wie Schuppen von den Augen. Die Frau – die First Lady Sarah Crawford! – sprach verschleiert. Die Zentrale hört wie immer mit. Missoni Pullover … Sie sandte ihr eine Botschaft. Ein geheimes Treffen? »Okay, Darling«, sagte Leslie mit fester Stimme – entschlossen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. »Ich kann’s einrichten. Bis dann. Okay?« Die Stimme aus der Leitung klang unbekümmert. »Gut, hier sind keine Spatzen auf den Dächern. See you!« Keine Spatzen auf den Dächern? Spatzen, die es nicht von den Dächern pfeifen. Klar. Jetzt hatte sie’s im Griff. Niemand soll von unserm Treffen erfahren. Das ist’s! Wie ihr Vorbild Sarah legte Leslie Wert auf Stil. Auch im Stress verließ sie das Haus nicht ohne ein leichtes Make-up. Sie eilte ins Bad, trug Lippenstift, Rouge und mondsteinfarbenen Lidschatten auf. Dabei marterte sie ihr Gehirn. Wie war es möglich, dass die First Lady lebte? Warum marschiert sie nicht einfach ins Weiße Haus und schmeißt die Schwindlerin in hohem Bogen auf die Straße? Weiß der Präsident, dass sie lebt? Keine Spatzen auf den Dächern. Die First Lady hatte Diskretion signalisiert. Aber wenn es eine Falle ist? Plötzlich fühlte Leslie Panik aufkommen. Sie raste in das Schrankzimmer, schob Jeans und Jacken beiseite – tatsächlich, da hing er, der Missoni-Garnpullover. Sie schlüpfte in DesignerJeans, sah eine Papiertragtasche, stopfte den Pullover hinein, eilte zum Telefon und bestellte die Limousine. Die Zweifel holten sie ein. Wenn sie scheiterte, weil die First Lady sie als Schwindlerin entlarvte, was dann? Mission Impossible. Ihre Jungs müssten büßen, Bronx würde sie umbringen, genau wie er ihren Vater kaltblütig geschlachtet 303
hatte. Sollte sie Bronx benachrichtigen? Es gab nur eins – sie musste die First Lady daran hindern zu reden. Leslie Palmer durfte nicht auffliegen. Aber was sollte sie tun? Sie zum Schweigen bringen? Dazu brauchte sie eine Waffe. Unschlüssig tigerte sie im Zimmer hin und her, dann fasste sie den Entschluss – die First Lady musste als tot gelten. Eine Tote umbringen? Das kleinere Übel. Sie rannte in die Ankleide zurück, zog hastig an den Schubladen, wühlte unter Blusen, fand ihren kleinen Revolver mit dem Perlmuttgriff. In der Trommel steckten immer noch die sechs Patronen. Sie steckte sie in die Tragtasche unter den Pullover, als das Telefon im Living Room summte – unten stand die Limousine bereit.
75 Leslie saß wie auf Kohlen hinten im geräumigen Passagierraum des hohen, breiten Ford und überlegte immer noch, ob sie Bronx einweihen sollte. Schließlich verwarf sie den Gedanken als unnötig. Wie um das Maß voll zu machen, vibrierte ihr Handy aggressiv. Bronx! »Ich muss Sie sprechen.« Als hätte er ihr Dilemma telepathisch erahnt. »Bin unterwegs, kommen Sie zur Arlington Shopping Mall«, wies sie ihn barsch an. »Wann?« »Jetzt gleich«, schnappte sie, gab ihm noch den Treffpunkt durch. Sie fand die Idee gut, dass Bronx zur Stelle war, falls sie Hilfe brauchte. Andererseits wollte sie ihn auf ihrem eigenen Terrain sprechen … inmitten von heißen Strapsen, Slips und Push-Ups soll er sich doch winden wie der verkorkste Wurm, der er ist! 304
Leslie schritt vor den lockenden Auslagen mit den leicht bekleideten Schaufensterpuppen auf und ab. Durch das Glas fiel ihr wacher Blick auf den Rücken einer Frau, die an einem Billigtisch in bunten Slips wühlte. Könnte die First Lady sein, dachte sie, als eine Hand auf ihre Schulter tippte. Bronx grinste sie blöde an. Das Treffen sollte von kurzer Dauer sein. Ihr Quälgeist hatte allerdings keine Lust, Leslie ins rote Lingeriegeschäft zu folgen, sondern raunte ihr, stur auf dem Gehsteig stehen bleibend, zu: »Der Präsident nimmt an einem Empfang im Plaza Hotel in Manhattan teil. Sie werden ihn begleiten. Kommenden Sonntag.« Plaza, New York? »Was soll ich dort tun?«, flüsterte Leslie, obwohl sie die Antwort genau kannte, auch den Wortwechsel nur nutzte, um sich diskret umzuschauen. Es war eindeutig – Bronx hatte seine Schergen dabei. Sie hatte Leon, den Koloss mit dem Trümmerschädel, erspäht. Auch der Schiefäugige musste in der Nähe sein. Also blieb sie doppelt und dreifach auf der Hut. »Der Präsident wird dort zu Geschäftsleuten sprechen, um trotz der Anschläge auf das World Trade Center neue Investitionen flottzumachen. Sie begleiten ihn. Sie nehmen anscheinend an einem von Executive Woman organisierten Diskussions-Panel teil oder so was.« »Wo?« »Plaza Hotel. Ecke Central Park South, Fifth Avenue. Tag der Abrechnung.« »Abrechnung? Ich dachte, es geht um Investitionen.« Anstatt zu antworten, langte Bronx unter seine Lederjacke, holte eine weiße Handtasche hervor. »Nehmen Sie das hier. Diese Handtasche müssen Sie immer dabeihaben.« Leslie starrte darauf. »Was soll ich damit anfangen?« 305
Er trat breitbeinig vor sie, drückte ihr die Tasche gegen die Brust. »Diese Tasche hier ist meine Rückversicherung, beste Leslie. Sie ist das Erkennungszeichen. Mit der Tasche am Arm signalisieren Sie mir, dass Sie den Befehl ausführen. Klar?« Sie blickte in kalte, blaue Augen. »Sehe ich diese Tasche nicht an Ihrer Seite, wenn Sie mit dem Präsidenten das Plaza Hotel betreten, schließe ich daraus, dass Sie kneifen. Befehlsverweigerung. Dann ist Schluss für Ihre Jungen. Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?« Leslie stockte der Atem. Mechanisch strich sie über das feine Leder, spürte die Ausbuchtung. Sie war überrascht, wie fest ihre Stimme klang. »Was ist da drin?« Er erweiterte die Öffnung, hielt sie ihr unter die Augen. Leslie sah das blutrote Tuch, es fühlte sich fettig an, als sie es abtastete. Fühlte dann auch gleich den darin eingewickelten harten Gegenstand. Bronx blickte sie immer noch durchdringend an. »Die Waffe. Schussbereit.« Er trat nahe an sie heran, flüsterte ihr einen Satz ins Ohr, der sich in der blutleeren Kälte ihres Gesichts spiegelte. »Mit dem Revolver«, sagte er laut. »Sechs Schüsse. Alles weitere später. Bleiben Sie in Verbindung.« Mit einem kleinen, harten Stoß schob er sie von sich weg. »Meine Rückversicherung!«, wiederholte er und machte kurz kehrt. Eisiges Frösteln schüttelte sie. Sie wankte seitwärts, stützte sich gegen den Schaufensterrahmen. Als sie aufblickte, war Bronx verschwunden. Wieder einigermaßen sicher auf den Füßen, schlang sie die Tasche über die Schulter, eilte innerlich aufgewühlt durch die breite Glastür in die rosa getönte Boutique von Victorias Secret. Sie trat hinter die Frau, die sich immer noch an dem Tisch mit den herabgesetzten Slips und Strapsen amüsierte. »Suchen Sie vielleicht einen Missoni-Pullover?«, fragte sie leise. 306
Das Gesicht, das sich ihr zuwandte, zuckte verdutzt hin und her, als sähe es ein Gespenst vor sich. »Oh, verzeihen Sie, Verwechslung«, stammelte Leslie, schaute sich um. Eine dunkle Wollmütze bewegte sich schattenhaft zwischen einem kleinen Hain von Ständern mit Negligees. Leslie stach in die Richtung los. Die Mütze war verschwunden. »Suchen Sie einen Missoni?« Leslie fuhr herum – blickte in ihr eigenes Gesicht. Nein, das war kein Spiegelbild. Sie war’s, Sarah Crawford, die First Lady – und sie lächelte so ungezwungen, als stände sie auf dem gepflegten Rasen des Rosengartens hinterm Weißen Haus. »Hier können wir reden.« Leslie reagierte geschockt, alarmiert. »Ich glaube nicht!« Sie packte ihr Ebenbild am Arm. »Kommen Sie!« Der schiefäugige Chenny, der mit in die Stirn gedrücktem Hut an der Kasse vorbei schlenderte, passte definitiv nicht in diesen Laden. Der Arsch, der auf meinem Esstisch hockte! »Los raus, die andere Tür!« Es hatte leicht zu regnen begonnen. Die beiden Frauen sprinteten auf den Ford zu. »Rick Bronx, ein CIA-Agent steckt dahinter«, keuchte Leslie. Agent Sureman riss die Türe auf, sie plumpsten in den Fond. Leise in sein Telefon sprechend, startete Sureman den Motor. Leslies Atem kam stoßweise. »Hier sind wir sicher? Wo geht’s hin jetzt?« »Wir fahren in den Hafen.« »Okay. Niemand erkennt Sie«, flüsterte Leslie. »Sie sehen aus wie Michael Jackson.« 307
Die Frauen lachten. Leslie beugte sich nach vorne zum Fahrer. Warum fährt er nicht los? »Frank …« Der Satz blieb ihr im Hals stecken. Der Knall war fürchterlich. Glas splitterte. Sureman sackte zusammen. Weiter vorne sah Leslie den schwarzen Wagen. Er löste sich vom Randstein. Die bullige Schnauze hielt gerade auf sie zu. Die echte First Lady tastete nach der Türklinke, ein wilder Schrei entrang sich ihrer Kehle. »Raus!«, stöhnte sie. »Nein!« Leslie packte den eingerollten Schirm, beugte sich über die Sitzlehne und drückte die Metallspitze auf das Gaspedal, gleichzeitig riss sie den Schalthebel in den Rückwärtsgang. Der massige Ford schoss rückwärts, streifte laut knirschend einen geparkten Wagen, rumpelte schlenkernd auf die Kreuzung zu. Autos hupten wild. Ein Bus bremste kreischend. Die schwere Limousine krachte seitwärts in den Imbissstand an der Ecke. Kunden und Passanten stoben auseinander. Leslie ließ schnaufend Luft ab, überschaute das Chaos. Der Bus, der wie ein Riegel quer auf der Kreuzung stand, gab ihnen Schutz. Sie rannte um den Wagen herum, öffnete die Fahrertür, zuckte zusammen – ein schwarz-blutiges Einschussloch klaffte in Suremans Stirn, die Augen waren weit aufgerissen. Was tun? »Hilf mir!« Gemeinsam zerrten die Damen die Leiche hinter dem Lenkrad hervor auf die Straße hinaus. Dabei öffnete sich Suremans Lederjacke. Leslie sah sofort den Wulst in der Innentasche. Reflexartig griff sie danach, zog Papiere und die Dienstmarke heraus, drückte sie der First Lady in die Hand.
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»Da, nehmen Sie!«, kommandierte sie, warf sich hinters Steuer, legte den Gang ein. Der schwere Wagen zog schlitternd an. »Halt, sofort! Zur Polizei. Das ist Irrsinn!«, schrie die First Lady vom Rücksitz. »Hören Sie, sehr fiese Leute sind hinter uns her. Wenn Sie leben wollen, dann lassen Sie mich weiterfahren.« Leslie spürte einen frischen Adrenalinschub. Ruhe überkam sie, ihre Hand fand automatisch den Knopf für die Alarmlichter des Dienstwagens. »Schauen Sie mal nach, ob da irgendwo ein Schießeisen ist«, rief sie nach hinten. »Was?« »Hinter der Rückenlehne im Heckraum, eine Schusswaffe. Machen Sie schon. Da ist irgend ne Klappe oder so was.« »Wer sind diese Leute? Wir müssen den Präsidenten informieren. Wieso will man mich umbringen? Ich bin doch vollkommen inkognito.« »Fragen Sie mich bitte was, das ich weiß. Wir haben nur ein kleines Zeitfenster zur Verfügung.« Die nächsten Worte brüllte sie. »Wir müssen diese Leute stoppen.« »Das können wir nicht allein machen. Das FBI …« »Vergessen Sie das FBI, Bronx hat seine Spitzel überall.« »Ich verstehe überhaupt nicht, wovon Sie reden. Was tun wir jetzt?« »Zuerst mal einen kühlen Kopf bewahren. Was machen wir im Hafen?« »Gehen wir doch aufs Wasser«, empfahl Sarah, die sich mittlerweile gefasst hatte. »Ein Boot ist eine schlechte Idee. Da haben sie uns geschnappt, bevor der Motor richtig warm gelaufen ist.« 309
»Wer spricht denn von einem Boot?« Vor ihnen löste sich der Verkehr auf wie von magischer Hand gespalten. Leslie schaute perplex über die Schulter nach hinten. »Kein Boot, sagen Sie? Wollen Sie etwa schwimmen?« »Nehmen Sie die zweite links, dann den Fluss lang. Am Hafen vorbei.« Leslie warf ihr einen erstaunten Blick zu. Die First Lady riss die dunkle Sonnenbrille weg, streifte die modische Wollmütze ab, zog mit der freien Hand die Perücke vom Kopf. Sie zwängte sich akrobatisch durch die Sitzlücke, rutschte auf den Beifahrersitz. In der Hand hielt sie eine schwere Pistole. Leslie warf einen Seitenblick auf die Waffe. »Gut! Eine SIG Sauer, neun Millimeter.« »Hören Sie gut zu, Sie, wie Sie auch immer heißen, da wo wir jetzt hinkommen, bin ich die First Lady der Vereinigten Staaten. Ganz cool.« Sie erklärte ihr in knappen Worten, was bevorstand. Leslie sah im Rückspiegel den schwarzen Wagen. Er folgte in unverändertem Abstand. Die Verfolger würden heranpreschen, das Feuer eröffnen, sobald sie die Häuser hinter sich gelassen hätten. Sie drückte nervös die Handtasche in den Schoß, tastete nach dem harten Metall ihres Revolvers. »Okay, alles klar! Ich bin Leslie. Leslie Palmer. Anfang des Jahres …« »Ah, mir geht langsam ein Licht auf!« Die First Lady blickte verschwörerisch herüber, während Leslie die Wollmütze überzog und die Sonnenbrille aufsetzte. Die Verwandlung war perfekt. In wenigen Minuten war ihr Plan abgesprochen. Leslie hatte immer noch Suremans brutalen Kopfschuss vor Augen. »Vielleicht galt der Schuss Ihnen«, sagte sie, ohne den Blick vom breiten Rückspiegel abzuwenden. 310
»Weiß nicht.« Sarah Crawford schien unbeeindruckt. »Möglicherweise wollte der Schütze verhindern, dass wir uns treffen.« »Oder sie wollten den Wagen stoppen, uns dann abservieren.« Bei dieser Spekulation blieb es, als die Häuserzeile endete. Ein verlassenes Feld tat sich auf, die Straße verlor sich weiter vorne, hinter einer dichten, herbstlich bunten Baumgruppe. Ein rascher Blick in den Rückspiegel bestätigte Leslies Befürchtungen – die Verfolger schlossen auf. Der schmutzig dunkle Wagen setzte zum Überholen an, drängte gefährlich nahe an ihre Seite, hielt auf gleicher Höhe mit. Leslie sah undeutlich weiße Zähne in einem breiten, dunklen Gesicht. Ein Gewehrlauf schob sich durch das offene Seitenfenster. »Aufgepasst«, schrie sie. Sie drückte das Gaspedal durch, der Wagen schoss vorwärts. Die beiden Autos rasten jetzt Kühler an Kühler auf die Biegung zu. »Da vorne, nach links!«, kreischte Sarah. Leslie bremste abrupt, drehte ab, erwischte den andern Wagen am Heck – der schwenkte schleudernd aus, schoss über die Böschung hinaus. Leslie riss das Lenkrad rechtzeitig herum, kam mit kreischenden Rädern vor dem massiven Doppeltor zum Stehen. Ein Schild warnte: KEIN ZUTRITT, EIGENTUM DER REGIERUNG. Sie legte sich beidhändig auf die Hupe. Ein Marinefüsilier in voller Ausrüstung trat aus dem niedrigen Gebäude und öffnete das erste Tor der Schleuse. Leslie atmete tief durch. »Mannomann, war das knapp!« Dann ging alles so schnell, dass es wie Zeitlupe wirkte. Die First Lady richtete ihre Frisur zurecht, Leslie zog die Wollmütze tiefer in die Stirn. Durch die dunklen Brillengläser beobachtete
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sie, wie die echte First Lady ruhig ausstieg, die paar Schritte zum Empfangsschalter tat. »Hi, Sergeant«, grüßte sie, »wie geht’s«, abwechselnd beide Zeigefinger auf das elektronische Fingerprint-Gerät drückend. »Danke, Madam, ausgezeichnet – alles unter Kontrolle«, antwortete der Sergeant, dezent grinsend, während er das Resultat des Scanners checkte. »Sichere Reise, Madam!« Die Schleusentore schoben sich zur Seite. Als der Ford in das Gelände hinein rollte, blickte Leslie zurück. Alles schien in bester Ordnung. Der Sergeant meldete dem Hangarchef gerade telefonisch die plötzliche, unangekündigte Ankunft von Flotus. Eiligen Schritts durchquerten die beiden Frauen die hohe, düstere Halle des Flugzeughangars. Auf der gegenüberliegenden Seite traten sie in grelles vom Wasser reflektiertes Licht. Eine kleine Metalltreppe führte auf einen grauen Ponton hinunter, an dem ein Wasserflugzeug vertäut war. MARINE TWO las Leslie die Respekt heischende Schrift unter dem aufgemalten Siegel des Präsidenten der Vereinigten Staaten. E PLURIBUS UNUM stand über dem grimmigen Kopf des weißen Adlers, der mit einer Kralle dreizehn Pfeile, mit der anderen dreizehn Olivenzweige umklammerte. Könnten genauso gut sechsundzwanzig Pfeile sein! Der Hangarchef, der sich im Laufschritt hastig eine orangefarbene Jacke übergezogen hatte, eilte heran. Er machte ein Gesicht, als sei er gerade aus einem intensiven Schäferstündchen aufgeschreckt worden. Die First Lady stoppte ihn mit einer abweisenden Handbewegung. »Keine Eile, Tom«, rief sie, durch die Bordtür ins Innere kletternd. »Wir rufen Sie, wenn wir Hilfe brauchen.« Leslie betrachtete imponiert den weißen, bauchigen Rumpf mit der hohen Schwanzflosse. Er hing unter einem breiten, massiven 312
Flügel mit den beiden Motoren, der sich über den Rücken des Flugzeugs spannte. Zwei massive Kufen trugen das trotz seiner wuchtigen Masse elegant wirkende Wasserflugzeug. Zwei Taue hielten den imposanten Schulterdecker am Ponton fest. »Wow! Platz zum Ausstrecken!«, rief Leslie beeindruckt, als sie an Bord kletterte, ihre Tragtasche auf einen Sessel schmiss. Alles roch nach Luxus – der beige Teppich, die Mahagoniverkleidung, das blaue Leder. Impulsiv kickte sie ihre Schuhe in die Gegend. Optimistisch wie ein Teenager fühlte sie sich plötzlich!
76 »Und Sie können dieses Monstrum wirklich fliegen?«, staunte Leslie. Die First Lady saß bereits im Pilotensitz und studierte die Checkliste. Ab und zu drückte sie, Unverständliches murmelnd, Knöpfe am Flugmanagement System. »Ich bin aus Texas. Da können Frauen einiges. Rodeo reiten, schießen und … ich checke jetzt die Stromstärke des Aggregats … Achtung, der Motor links.« Sie drückte einen Knopf, blickte zum Flügel hoch, wo sich die Hightech-Luftschraube zu drehen begann. Stotternd lief der Motor unter der blitzblanken Titanverkleidung an, ging rasch in regelmäßiges Brummen über. »Wir haben alles an Bord. Wetterradar, GPS, Loran Navigationssystem«, erläuterte sie und wiederholte die Prozedur mit dem rechten Motor, als die grellorange Jacke im Laufschritt aus dem Hangar auftauchte. Der Rumpf vibrierte verhalten. »Jetzt teste ich die Motoren.«
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Leslie saß wie auf Kohlen. Jeden Moment mussten Marinefüsiliere die Maschine stürmen! Wie zur Bestätigung jaulte eine Sirene. Gelbe Blinklichter blitzten von irgendwoher. Die First Lady ließ die Maschinen dröhnen, bis sie 2500 Touren erreichten. »Jetzt!«, schrie sie in den Lärm. »Die Taue losmachen!« Leslie sprang über die Bordtreppe nach unten auf den Ponton, löste geschickt das erste Tau. Plötzlich stand der Hangarchef neben ihr. Er sprach in sein Funkgerät, brüllte ihr dann etwas zu, das Leslie nicht verstand. Ihre Wollmütze löste sich, mit beiden Händen fasste sie danach, rannte zum anderen Tau, zerrte es vom dicken schwarzen Pfosten. Sie hetzte zur Treppe zurück, kletterte hoch. Jemand packte sie am Arm. Der Mann trug eine Militäruniform, schüttelte brüllend den Kopf: »Security, Madam! Der Flugplan. Wir brauchen den Flugplan!« Leslie tastete nach dem roten Türschließknopf, fand ihn, als die Maschine schon anruckte. Leslie warf sich in die Kabine. Als sie sich wieder aufrappelte, fiel die Tür in die verankerte Fluglage. »Keine Angst«, grinste die First Lady. »Der Junge kommt nicht mit.« Sie schob die Gashebel nach vorn. Erst langsam, dann überraschend schneller glitt der große, weiße Vogel über den gleißenden Wasserspiegel, hob dann langsam elegant ab.
77 Leslie fühlte sich federleicht. Ob das mit dem Fliegen zusammenhing? Seit sie mit der First Lady im Flugzeug saß, hatte sich der dumpfe Druck auf ihren Magen in Luft aufgelöst. 314
»Sie sagten, keine Zeit verlieren? Übrigens, ich bin Sarah.« Leslie nickte, blieb dann eine Weile stumm. Die Ereignisse der letzten Stunden hatten ihr Innerstes erschüttert. Erst als sie aus dem Blick der First Lady die auf der Hand liegende Frage las, begann sie in kurzen Sätzen zu erzählen. Von Craig und Alex zuerst. Sarah Crawford unterbrach sie nicht. Was sie aus dem Mund ihrer Doppelgängerin vernahm, konnte sie kaum glauben. »Er hält sie als Geiseln. Sie sterben, wenn das Ultimatum am Sonntag abläuft«, presste Leslie abschließend hervor. »Unglaublich! Wo ist diese Folterkammer?« Leslie zuckte verzweifelt die Schultern. »Keine Ahnung, Sarah. Vielleicht in Brooklyn. Ja, ziemlich wahrscheinlich, aber ich sah ja die Jungen bloß über die Livecam.« »Hast du einen Mann?« Leslie blickte verblüfft herüber. »Ich meine, einen, der dir hilft?« »Ben. Ich habe Ben. Aber der darf nicht in diese Sache hineingezogen werden. Sonst stirbt er. Was machen wir in New York? Hast du einen Plan?« »Ich kenne jemanden in Manhattan.« Leslie war nicht überzeugt. Sie musste wieder die Initiative in die Hand nehmen. Diese kaltblütige Erpressung! Dem Schweinehund werd ich’s heimzahlen, den werd ich kaputt machen! »Mit gleicher Münze«, sagte sie laut. »Was sagst du da?« Sarah schaute herüber. »Mein Plan. E pluribus unum.« Sarah zog eine kleine Grimasse. »Ich kann kein Latein.« 315
»Alle für eins, oder alle für ein Ziel. Um das geht es. Mein Ziel steht fest.« Wohl eine halbe Stunde lang legte Leslie ihren Plan dar. Das stete Brummen der Motoren wirkte beruhigend. »Du willst also nach Duschanbe fliegen?«, fragte Sarah mit Bewunderung in der Stimme. Leslie nickte. Sie fühlte sich ungemein erleichtert. Endlich konnte sie etwas tun. Ihre Stimme war voller Überzeugung. »Es wird gelingen, das weiß ich.« Die zweimotorige Twin Otter brummte gleichmäßig die atlantische Küste entlang. Leslie schaute auf das Land hinunter. »Ich gehe drauf in dieser Rolle. Meine Söhne halten mich für tot, werden mich begraben. Es ist furchtbar!« Sie seufzte auf. »Wie komme ich nur da raus? Was soll ich tun? Meine Existenz ist offiziell ausgelöscht. Das ist das Furchtbare. Und dieser Bronx, an dem klebe ich, er lässt mich nicht los – alles ist nahtlos arrangiert. Mache ich auch nur den geringsten Fehler, schlachtet der Alex und Craig ab.« »Wir fliegen übrigens nach Kennedy«, informierte Sarah sachlich. Leslie lachte laut heraus: »Kein schlechter Witz. Und vorher drehen wir natürlich ein paar Schleifen über Manhattan!« Die First Lady blieb ernst. »Der Flugverkehr ist eingeschränkt und wird scharf kontrolliert. Momentan überwacht die Air Force jede Bewegung.« »Eben.« Leslie schaute besorgt in den Himmel, als käme jeden Augenblick ein Abfangjäger aus dem Äther geschossen. Prompt knisterte es im Funk. Eine Stimme sprach über Wetter, Wolken, Windstärke, Windrichtung … »Wer spricht da?« 316
»Kennedy International. Der automatische Wetterbericht. Übrigens, wir haben steifen Rückenwind. Es wird ein bisschen rütteln.« Leslie starrte sie ungläubig an. »Wir fliegen tatsächlich nach New York? Das gibt Ärger. Drehen Sie ab!« Die First Lady schüttelte den Kopf, sprach in ihr Mikrofon. »Foxtrott Lima Oscar Tango Uniform …« Die Luftverkehrskontrolle antwortete, Leslie verstand kein Wort. »Natürlich landen wir nicht in Kennedy, sondern in Rockaway, eine alte Marineluftbasis. Sie liegt zwischen dem Atlantik und der Jamaica Bay. Eine verlassene Gegend. Die Küstenwache unterhält dort eine kleine Station. Ich kenne die Jungs. Wir können da in aller Ruhe alles Weitere planen.« »Aber …« »Keine Sorge. Du fliegst mit einer Regierungsmaschine. Mein kleines Staatsgeheimnis. Inzwischen hat die Luftverkehrskontrolle meinen Transponder identifiziert – FLOTUS.« Leslie schüttelte frustriert den Kopf. »Großartig! Alle Welt weiß, dass wir kommen.« Die First Lady genoss die Situation, drehte an den Knöpfen für die Radiofrequenz. »Foxtrott Lima Oscar Tango Uniform …« Zu Leslie gewandt sagte sie: »Marine Two mit Flotus hat erste Priorität! Es besteht kein Unterschied zu einem Flug der Air Force One des Präsidenten. ATC hält den Flugplan und alles Drum und Dran aus Sicherheitsgründen streng geheim. Keine Angst. Die halten dicht.« Leslie war keineswegs beruhigt. »Die Dienste hören doch alles doppelt und dreifach ab. Dann weiß es auch Bronx, bevor wir landen, und ich bin aufgeschmissen. Du bringst meine Boys in Lebensgefahr!« 317
Die First Lady verneinte mit Kopfschütteln. »Die Regeln sind strikt. Also, beruhige dich. Ich habe das schon oft gemacht – Jerry erwartete mich manchmal dort.« Das Letztere klang so wehmütig, dass Leslie Sarahs Arm ergriff und sanft drückte – sie ließ aber augenblicklich los. Hier geht’s wirklich nicht um diesen Jerry Wer immer oder Was immer, liebe Sarah. Hier geht es um Alex und Craig. Hier, Madam First Lady, hier geht’s um uns!
78 In der auffällig schwach bevölkerten Abflughalle des Reagan National Airport in Washington, D.C. kniff Bronx die Lippen zusammen, maulte missmutig in sein Handy. Ein Räuspern hallte zurück, dann beschrieb eine unsichere Stimme den Stützpunkt, von dem MARINE TWO abgeflogen war. Bronx gefiel ganz und gar nicht, was er da gerade von seinem Kontakt gehört hatte – seine Männer hatten das Signal des Wasserflugzeugs verloren! »Die fliegt die Küste hoch, Sir. Da haben wir kein Netz.« »Wie lange braucht sie bis New York?« »Die Maschine ist eine DHC-6 Twin Otter, zwei starke TurboProp-Motoren«, berichtete der Informant. »Bei diesem Rückenwind schätze ich, sie macht’s in etwa neunzig Minuten.« Sie wird wieder auftauchen, hat keine andere Wahl, entschied Bronx. Schließlich muss sie ja landen. Sein Flug – 2178 der US Airways nach New York – wurde aufgerufen. Bronx schlenderte zum Gate, suchte in seinem Telefon die abgespeicherte Nummer des New York Air Traffic Control Center. In der fast leeren Maschine setzte er sich in die vorderste Reihe, lächelte der ernst drein blickenden Stewardess aufmunternd zu, hielt das Gerät ans Ohr. 318
»Susan? Rick hier … Nein, ich bin unterwegs nach La Guardia. Hör mal, es gibt da einen Flug – eine Twin Otter … das Kennzeichen? Nein. Sag mal, wo wassern solche Kisten im Raum New York? Okay, ruf mich zurück. Wie? Wirklich? Bist du wieder zu haben?« Er lachte. »Wusste ich nicht. Wir verabreden uns mal, aber besorg mir die Info, es ist wichtig, Sweetheart.« Leicht genervt auf den Start wartend, steckte er das Mobiltelefon in die Brusttasche. Reine Zeitverschwendung, diese Fliegerei, murmelte er sich selber zu, zog den Apparat wieder hervor, tippte erneut auf die Schnellwahl für Frank Sureman. Eintönig vibrierte der Summton im Ohr – zrrrr zrrrr zrrrr … endlos … »Wir starten, Sir«, lächelte die Stewardess, diskret auf Bronx’ Telefon deutend. Er schüttelte irritiert den Kopf, lehnte sich zurück, schloss die Augen. Was führte die Palmer im Schild? Er dachte an ihre Jungs, die Sonnyboys in der nackten Bootsschale. Der Pegelstand musste bald 50 Prozent Füllmenge erreichen … Was die Palmer auch immer vorhatte, sie konnte ihm nicht entwischen. Sein Plan war todsicher! Das Verhängnis hängt wie ein blankes Schwert über ihren Köpfen … ja, wie das Schwert dieses korrupten Griechen, dieses … eh …? Egal … erbarmungslos wird sie fallen, die scharfe Klinge … wenn sie nicht pariert, die Marinemieze … ja, Damokles war das – Damokles hieß der alte Grieche … wollte einfach nicht krallen, dass Gefahr überall lauert … die Palmer denkt besser jede Minute dran … an das seidenfadendünne … Häme verzog seinen Mund, er nickte ein, noch bevor die Maschine über die Startbahn donnerte und ihm Mama Amira erschien – mit lieblichem Antlitz unerschrocken unter einem scharf gleißenden Schwert wandelnd, beugte sie sich jetzt zu ihm nieder, umarmte ihn innig, während er über ihre Schulter zur drohenden Waffe hinauf starrte … 319
79 Leslie hatte allmählich ihre Ruhe wiedergefunden, konnte es aber nicht lassen, besorgt den Himmel abzusuchen, ob Kampfjets auftauchten, die nach 9/11 regelmäßig im Luftraum der Ostküste operierten, um unerlaubten Flugverkehr abzufangen. Doch der Flug verlief ohne Zwischenfall. Über den weiten Stränden New Jerseys wurde Leslie gesprächig. »Sarah, warum bist du eigentlich nicht ins Weiße Haus zurückgekehrt?« »Warum denn? Es gab mich ja nicht mehr. Stell dir das mal vor! Grotesk, nicht? Ich überlebe die schlimmste Katastrophe aller Zeiten, um festzustellen, dass ich aufgehört habe zu existieren. Eine andere Dame marschiert frisch-fröhlich-frech als First Lady ins Weiße Haus! Ein ziemlicher Schock, etwa nicht? Jerry und ich mussten diese Wende erst mal verdauen. Ich verdaue immer noch.« »Du kennst Jerry schon lange?« »Eine alte Liebe. Offenbar kennst du ja mein Jugendtrauma vom Unfall in Midtown. Brillant, Leslie, wirklich – das war eine richtige Star Performance.« Der ironische Unterton war kaum zu überhören. Sarah hatte MARINE TWO auf Autopilot gestellt, lehnte sich zurück. »Mein Begleiter, der damals beim Autounfall ums Leben kam, hatte einen älteren Bruder. Der war meine große Liebe, aber er zog es vor, einer blöden blonden Zicke nach New York hinterher zu schwänzeln. Anwalt. Keine Kinder. Prompt kam’s zur Scheidung. Eines Tages traf ich meine Jugendliebe zufällig bei einem Baseballmatch in Atlanta. Wir sahen ein, dass die Faszination für einander – trotz der langen Zeit, oder vielleicht grade deswegen – stärker war als je. Ich musste eine 320
Entscheidung treffen, verstehst du? Hätte ich Jerry nein gesagt, wäre ich über kurz oder lang draufgegangen. Meine Ehe bot mir das alles nicht, was Jerry mir gab. Er lehrte mich fliegen, es war megaromantisch. Die geheimen Treffen, prickelnd aufregend. Dann dieser verfluchte Tag, der alles ruinierte.« »Ist er …?« »Ja, oder nein – Jerry und ich überlebten, wie durch ein Wunder. Wir krochen aus den Trümmern, es war finstere Nacht, wir hatten Glück im Unglück. Wir lagen in einem gewaltigen Loch, über uns Beton, Rauch, Gestank, überall dieser schreckliche bleigraue Staub. Es war unglaublich, meine Golfschläger … Der tote Feuerwehrmann, was soll’s, als wir aus den Trümmern krochen, sahen wir aus wie Marsmenschen. Unkenntlich, geschrumpft, grau, die Kleidung in Fetzen. Wir warteten auf den Krankenwagen. Meine Glieder schmerzten, Prellungen, zerschürfte Haut, aber meine Knochen waren ganz. Jerry ging es schlechter. Er nahm meine Hand und sagte: ›Komm, wir gehen.‹« »Wohin?« »Das fragte ich ihn auch. Er zog mich einfach am Arm von der Hilfsstelle weg. Niemand scherte sich darum. Wir gelangten nicht weit vom Ground Zero zum Yachthafen. Da dümpelte sein Boot, die Cloud Seven, friedlich vertäut. Zwei Kabinen, Küche, wir blieben einfach an Bord.« »Dann hast du den Präsidenten angerufen …« Sarah schüttelte den Kopf. »Das war natürlich mein erster Gedanke. Er musste doch wissen, dass ich lebte. Nur, mein Mobiltelefon war futsch. Jerry hatte seins oben vergessen. Und dann … komisch, weißt du … dass Jerry und ich überlebt hatten, erschien mir plötzlich als ein gütiger Wink des Schicksals. Jedenfalls wollten wir nicht gleich in den alten Trott zurückfallen.« »Das habt ihr beschlossen?« 321
»Ja und nein. Jerry hatte eine innere Verletzung. Der Sturz. Leberriss oder ähnlich. Ich musste ihn ins Krankenhaus fahren. Da …« Sie brach ab, senkte den Kopf. Die Otter dröhnte verlässlich auf Kurs. Sarah blickte dunkel auf. »Er starb. Kurz nach der Einlieferung.« Leslie fuhr mit der Hand an den Mund. »O mein Gott! Furchtbar!« Eine Böe rüttelte an der Maschine, sie sackte kurz ab, Sarah korrigierte die Höhe. Wieder traten ihr die schrecklichen Bilder mit aller Deutlichkeit vor Augen … … sie hatte keine Ahnung gehabt, wie lange sie nach dem Fall in die Tiefe des South Towers bewusstlos gewesen war. Ein steter Tropfen auf ihre Beine weckte sie. Als sie verwirrt danach tastete, fühlte sie eine warme, schmierige Masse. Blut! Sie riss die Augen auf. Schräg über ihrem Kopf drohte ein schwarzer Betontrümmer wie eine harmlose Markise. Es war nachtschwarz, nur von der Seite her drang schwacher Schein durch irgendwelche Ritzen. Der Körper neben ihr regte sich. Jerry! Sie riefen, schrien sich heiser. Keine Antwort. Vereinzelt zischten Feuerbälle herunter, erloschen oder ein Windstoß trug sie fort. Dann entdeckten sie die Spalte, durch die mattes Licht schimmerte. Jerry begann, ihr enges Verlies mit seinem Feuerzeug systematisch auszuleuchten. Er meinte, sie seien mit der Treppe ins Parkhaus abgestürzt, Wagendächer oder Heizkessel hätten den Fall gedämpft. O Gott, all die Toten, dachte Sarah. Grauenvoll. Riecht’s hier nicht nach Benzin? »Öl, Jerry – hier tropft Öl runter«, rief sie, als der Strahl einer Stablampe aufblitzte. »Der ist tot, erdrückt«, keuchte Jerry. Jetzt sah Sarah, wie er sich mit einer Hand die Seite hielt, als ob er einen stechenden Schmerz dämpfen wollte.
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»Ein Polizist, ich habe ihm die Wasserflasche abgenommen. Neben ihm liegt einer von der Feuerwehr – auch tot. Da, sein Pickel.« Sie konnten damit nichts ausrichten. Die Betonplatte in der Bresche war zu hart. Zudem hatte Jerry nicht genug Platz, die Spitzhacke zu schwingen. Alles hoffnungslos. Keine Stimmen, keine Suchtrupps. Nichts. »Der Polizist muss ein Funkgerät haben«, wagte Sarah zu hoffen. Sie fanden keins. Jerry hatte einen Geistesblitz – offenbar hatte ihn die extreme Lage erfinderisch gemacht. Er wies Sarah an, das Öl in die Aluminiumwasserflasche zu träufeln. Es nahm kein Ende. Tropf, tropf, tropf … unterdessen hatte Jerry vom Rücken des toten Feuerwehrmanns den Sauerstoffbehälter samt Schlauch für das Atemschutzgerät abgehalftert. Ais sie ihn fragte, was er vorhabe, stöhnte er, sich die Seite haltend: »Sprengladung basteln. Hilf mir.« Sie wuchteten den Sauerstoffzylinder an die Bresche. Jerry verkeilte die mit Öl gefüllte Aluminiumflasche im Betonschlitz. Sarah improvisierte mit Hilfe des Golfsacks einen Schutzwall hinter jenem toten Frauenkörper, der vermutlich ihren Fall gedämpft hatte. Den Schlauch des Atemschutzgeräts drückte Jerry in die Flaschenöffnung. Die nächsten Bewegungen mussten schnell ablaufen: Er öffnete den Sauerstoffhahn, kroch mühsam zurück. Den Golfsack als Unterlage anwendend, umklammerte er die Dienstwaffe des Cops mit beiden Händen und legte auf die Aluminiumflasche an. Sarah richtete von hinten her den Lichtstrahl über die Glock Police Special. Jerry suchte angestrengt Korn und Visier auszurichten. Er hielt den Atem an, zog langsam und sorgfältig mit dem rechten Zeigefinger durch. Ein furchtbarer Knall – nein ein infernalisches Donnern schlug ihnen ins Gesicht, der Hitzeschwall sengte an den Haaren, Geröll und Schutt prasselten auf sie nieder. Sarah war sicher, die 323
Betonschräge über ihnen würde einstürzen, sie endgültig lebendig begraben. Als sich der beißende Qualm verzogen hatte, war die schmale Bresche verschwunden. Offenbar hatte die improvisierte Sprengung das Gegenteil bewirkt – alles hermetisch dicht gemacht. Trotzdem gaben sie nicht auf. Mit Spitzhacke und Golfschlägern bearbeiteten sie hektisch das lose Gestein. Und siehe da – Erfolg. Der Schutt, der den aufgesprengten Ausstieg wieder verschüttet hatte, gab nach. Sie krampften, schlugen, kratzten wie die Wahnsinnigen. Irgendwann war das Loch groß genug, und sie standen draußen … mit Schürfungen und Prellungen geschunden, aber im Freien! Sie lebten … … das Rütteln der Windböen hatte aufgehört. Sarah gab dem Autopilot die neue Flughöhe ein, lehnte sich entspannt zurück. Jetzt beflügelte Leidenschaft ihre Worte. »Wir hatten zusammengehalten, liebten uns auf dem engen Boot, es war wie vor zwanzig Jahren. Heimlich ging ich in seine Wohnung, oben in der Upper East Side, um Sachen zu holen. Na, dann merkten wir, dass eine andere First Lady meinen Platz eingenommen hatte. Glaub mir, Mädchen, das brachte mich etwas außer Fassung. So was muss einem erst mal passieren! Der Schock nach dem Schock. Dann, als Jerry starb, was sollte ich allein tun? Es war die sensationelle Rede, die du in der Kongressbibliothek gehalten hast, die mich schließlich bewog, heimlich Kontakt mit dir aufzunehmen. Ich spürte aus deinen Worten eine Botschaft heraus und vermutete, wer du sein könntest. Vor allem wollte ich wissen, was da hinterhältig gespielt wurde. Wer hat sich erdreist, sich in mein Nest zu setzen, verstehst du?« »Ich an deiner Stelle hätte sofort den Präsidenten alarmiert.« »Ja, schon. Ich war drauf und dran, genau das zu tun. Aber etwas hielt mich zurück.« 324
»Und warum hast du gezögert?« »Nun, das war komisch. Irgendwie glaubte ich selber, du bist ich. Verrückt, was? Kein Mensch stellte doch deinen kleinen Stunt in Frage. Und ich fragte mich, warum? Mein Mann müsste eigentlich dahinterkommen, dass du eine ausgekochte Schwindlerin bist.« »Wir haben nicht miteinander geschlafen«, versicherte Leslie und musste plötzlich über den eigenen Ernst lachen. Sarah stimmte ein. »Na, kein Wunder, Kind! Mit mir hat er es seit langem nicht mehr gemacht. Wir lebten uns auseinander. Es begann schon im Wahlkampf vor einem Jahr. Da war er in diese Abgeordnete aus San Francisco vernarrt, wollte sie sogar als Vize auf das Wahlkampfticket setzen. Später hat er sich in die Sicherheitsberaterin verguckt. Sie spielte ihm auf dem Klavier vor und wer weiß wo sonst noch. Vielleicht geigt die auch gut – ich weiß, das ist gehässig von mir, aber versetz dich bitte in meine Lage. Unsere Ehe war nur noch gespielt – der Kinder wegen und natürlich …« »Der Präsident braucht eine intakte Ehe.« »Richtig, unser Image war perfekt.« Sarah griff in die Handtasche, als sei ihr plötzlich ein Gedanke gekommen. Sie reichte Leslie ein Bündel Papiere. »Hier – deine Dokumente. Aus Suremans Jackentasche!« »Danke!« Leslie nahm das Paket, spürte als Erstes das harte Leder der Dienstmarke zwischen den Fingern. United States Secret Service war in die goldene Sternenplakette eingraviert, darunter: FRANK SUREMAN, und sein Bild. Auf einem hellblauen Blatt stand: JAMES J. ROWLING TRAINING CENTER (JJRTC). Der Text bescheinigte Frank Sureman die Absolvierung eines Kurses in Kryptografie … Dann ein herausgerissener Zeitungsartikel über die Rede der First Lady in der 325
Kongressbibliothek. Das gefaltete bräunliche Blatt öffnete Leslie zuletzt. Sie stöhnte dumpf auf. »O nein!« »Was ist?« Den Totenkopf? Den hat Donny gemacht. Wir werden die Schweine treffen. Lustige Witwe … »Diese … der Kartenausschnitt … hier«, begann Leslie abgehackt, »das ist der Plan.« »Welcher Plan?« »Tora Bora. Ich habe ihn dem Präsidenten aus dem Treaty Room holen müssen. Der Totenkopf, hier, schau.« »Geheimpapier«, beschied Sarah sachverständig nach kurzer Inspektion. »Die Klassifizierung ist unten links vermerkt. Der Code bedeutet streng geheim.« »Streng geheim? Dachte ich mir schon. Ich glaube, die Angriffsziele sind darauf eingetragen. Das hier, Sarah … das ist Dynamit!« »Du glaubst, Sureman ist ein Doppelagent? Eins ist jedenfalls sonnenklar, Leslie. Für Suremans Augen ist dieses Dokument mit der sehr hohen Freigabestufe todsicher nicht bestimmt, und schon gar nicht für seine Jackentasche. Wie siehst du das?« »Ja«, sagte Leslie kaum hörbar. Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Im Krankenhaus, auf dem Transport, im sicheren Haus. Immer besprach sich Sureman mit Bronx. Die steckten doch immer die Köpfe zusammen, oder? »Der spionierte für jemanden. Vermutlich steckte der mit dem CIA Bronx unter einer Decke. Stell dir vor. Ein Maulwurf im Weißen Haus, im Secret Service! Durch ihn kennt Bronx alle Termine des Präsidenten, ist über alle Sicherheitsanordnungen im Bild, kennt jeden Schritt der First Lady.« Sie schwiegen, hingen ein paar Dutzend Herzschläge lang ihren Gedanken nach. Aber was konnten sie schon machen? Gab
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es denn überhaupt Beweise gegen Bronx – irgendwas Handfestes? »Halbzeit«, informierte die präsidiale Pilotin schließlich routinemäßig. Dann: »Du, Leslie, kannst du mir ein Soda aus der Bordküche holen? Party time, Kind! Hier geht die Post ab!« Die Frauen brachen in befreiendes Gelächter aus. Leslie schlängelte sich aus dem Copilotensitz. Sie hatte ihr bestes Noel-Coward-Gesicht aufgesetzt. »Bin total drin, Kind – solange’s nicht die Flaschenpost ist!«
80 Die Otter flog jetzt auf achttausend Fuß den Küstenstreifen entlang. Man sah deutlich die fein gekräuselte weiße Linie der brechenden Wellen, die sich auf die sonnenbestrahlten braungrauen Strände warfen. Leslie brachte auf einem Tablett Hot Dogs und Colas. »Die Küche ist perfekt eingerichtet«, lobte sie, als sie in den Sitz zurück fand. Sarah lächelte wehmütig. »Jerry liebte Hot Dogs über alles.« Als Leslie in die Wurst biss, sagte sie unverblümt: »Weißt du, ich fühle mich sexy, bin scharf ohne Ende.« Sarah lachte und rückte das Mundstück des Mikrofons zurecht. »Wie alt ist dein Lover?« »Ben? Frag nicht. Im Restaurant platzte neulich eine Frau voller Entrüstung heraus: ›Um Gottes willen, diese Frau ist zwanzig Jahre älter als ihr Freund.‹ Eigentlich war ich stolz, denn ich bin fast dreißig Jahre älter. Ben ist einfach eine Wucht. Es hat mich umgehauen, Ben zu treffen, jede Nacht hatte ich zwei Orgasmen. Es war wie beim ersten Mal.« »Wissen deine Kinder Bescheid?«
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»Ich glaube schon. Die Jungen sagen nicht viel, ich denke, sie finden es cool. Jennifer fände die Vorstellung, dass ich mir einen jungen Lover angelacht habe, hingegen widerlich, aber ich pfeife darauf. Und du?« »Wieso fragst du?« »Ich schlief in deinem Bett, hab mich umgeschaut.« »Sexuelle Energie ist ein Teil meines Wesens. Das hängt doch nicht vom Alter ab. Es ist einfach menschlich. Eine Zeit lang hatte ich nur noch Sex mit mir selbst.« Leslie nickte wortlos. Das stete Brummen der Motoren kitzelte ihre Neugier. Sie dachte an das rosarote Handy, sagte beiläufig: »Dann ist dir Ted in den Schoß gefallen.« Sarah warf ihr einen alarmierten Blick zu. »Du hast ihn doch nicht etwa auch …?« Leslie schüttelte lachend den Kopf. »Schau, mein Weg war vorgezeichnet«, sinnierte die First Lady. »Im Weißen Haus habe ich eine Rolle zu spielen, Gesellschaften zu geben, all diese Empfänge, viele Bekannte, aber Sex? Sex war wie ein schöner Traum, an den ich mich erinnerte. Aber ich wollte verdammt noch mal nicht im Hause rumsitzen und trauern.« »Lief etwas mit Ted?« »Klar. Die erstaunlichsten Dinge passieren aus heiterem Himmel. Ich will lustvoll sein – mich selbst bewusst ausleben.« »Und der Präsident? Wie bringst du zwei Männer unter einen Hut?« »Es sind drei. Jerry war meine große Liebe.« Sie seufzte, dass knisterndes Rauschen Leslies Ohr füllte. »Alle Achtung. Macht dir Ehebruch nichts aus?« »Mein Mann ist viel zu beschäftigt. Wenn er mich will, ist es Horror pur. Ich liege im Bett, bin am Eindämmern, er kommt von der Lagebesprechung zurück, ich spüre diese Hand. Von 328
Vorspiel keine Ahnung. Ein Kuss und rein, denkt er. Mission accomplished.« Leslie krümmte sich vor Lachen. »Sex ist die pure Freude. Ted und ich, wir sind eine heiße Nummer im Bett. Es geht nicht um Ehebruch, es geht um EheUnterbruch.« Leslie schüttelte sich erneut vor Lachen. Sie spürte eine innige Verbundenheit mit dieser Frau. War es Zufall oder Fügung, dass sie ihre Doppelgängerin wurde? »Weißt du«, stimmte sie zu, »viele können eben schwer akzeptieren, dass wir in unserem Alter auch noch sexuell aktiv sind. Warum sollte ich dieses heiße Verlangen spüren, wenn mein Körper dazu zu alt wäre?« »Klar«, platzte Sarah lachend heraus. »Ich brauche Sex wie Essen. Wahrscheinlich eine Reaktion auf meine konservativen Eltern. Ich schlief nie nur mit einem Guy.« »Ich tue es noch! Das macht mich stark«, trumpfte Leslie auf. »Wir sind in unserer Welt, der Rest ist uns egal.« Sarah kam auf Touren. »Mit Ted lief es so, weißt du. Unsere Blicke trafen sich. Immer wieder. Du spürst es ja, wenn einer dich wirklich haben will. Also ließ ich ihn unter einem Vorwand rufen. Ich bebte vor Aufregung. Was für eine Dummheit habe ich begangen? Dann spazierte er durch die Tür: ein großer, schöner Mann. Er kam einfach auf mich zu, schmiegte sich an … Mit ihm ins Bett zu steigen, dieses Gefühl – einmalig. Mein Körper erwachte zum Leben.« »Weiter?« »Nichts weiter. Mit Ted kann ich dirty talking machen, das Obszöne auskosten, er hält mich jung, Jerry – äh – Jerry hat, ich meine hatte Stil, regt mich an, ist eine andere geistige Welt, und als Liebhaber ist er … war er fantastisch. Jetzt reden wir von dir und … Ben?« 329
»Was soll ich sagen? Ich komme intensiver und länger heute als vor zwanzig Jahren.« Foxtrott, Lima, Tango … unterbrach der Bordfunk das Geplänkel. Sarah bestätigte kurz die Meldung, wandte sich Leslie zu. »Meine Freunde nennen mich auch Franny!« »Gefällt mir, Franny. Nennt dich dein Mann Franny?« »Der? Ach, der nennt mich, als wäre ich sein Pferd oder Lastwagen – Lorry. Furchtbar. Franny kommt aus dem Italienischen, von ›Franella‹. Weißt du, was es heißt?« Sie lächelte verschmitzt. »Franella ist Slang, ziemlich anrüchig, heißt Flirt! Aber richtig ran!« Leslie schlug sich die Handfläche auf den Oberschenkel. »Super, dein Mittelname ist Flirt. Du bist ja schlimm!« Sarah wies mit einer Hand nach vorn. »Die beiden alten Lastwagen da – im Wasser neben den verfallenen Hangars? Weiter vorne in der Bucht werd ich wassern.« »Sieht ziemlich erbärmlich aus«, staunte Leslie mit weit offenen Augen. Sarah war wieder ganz der Chefpilot. »Bist du angeschnallt? Mit solchen Flugzeugen braust übrigens der Nationale Wetterdienst über die Everglades, um Paarungen von Wassertieren zu beobachten. Ideal, um die Flüsse abzusuchen, von Teich zu Teich zu springen, und so weiter.« Leslie lachte über den Einfall. »Von wegen Seitensprünge! Wo bist du denn damit überall rumgegondelt?« »Florida Keys, auch in Texas, unten am Golf. Das Wasserflugzeug gab mir alles – Freiheit, Abenteuer, Abschalten.« Sie seufzte wieder. »Nur fliegen ist schöner«, lachte Leslie. »Von deinen Eskapaden hat die Öffentlichkeit nie etwas erfahren, hab ich Recht?«
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»Nein, wie gesagt, mein und Jerrys Geheimnis. Stell dir vor, man hielt uns überall, wo wir hinkamen, für den Nationalen Wetterdienst.« Dann kam ein breites warmes Lachen, das die Nation noch nie gehört oder gesehen hatte. Ein Lachen, das Leslie liebkoste wie eine Sommerbrise aus dem Süden. Ein Lachen aus Amerika, wie Amerika nie wieder sein würde.
81 Die Bucht lag tiefblau unter ihnen. Ein Silberstreifen zog sich zur Mündung hin, wo die Brecher des Atlantiks weiße Schaumkronen aufwarfen. Sarah legte die Otter in die Kurve, senkte die Nase – in stetem Sinkflug näherten sie sich der Oberfläche. Leslie zog die Wollmütze über den vollen Haarschwall, richtete die Sonnenbrille. Ein Schwarm grauer Vögel scheuchte flatternd auf, die Kufen der Maschine furchten den blauen Teppich, ein Wasserschweif sprühte glitzernd auf. Männer in Overalls eilten im Laufschritt aus dem Hangar, während die First Lady abdrehte und auf die Landestelle zuhielt. Einer dirigierte Sarah mit klaren Handzeichen auf die Stelle mit dem unter Wasser platzierten Schienenwagen. Die Motoren liefen aus, eine Winde kreischte auf, begann die Otter über die Rampe auf den gelb markierten Kreis des Betonplatzes zu ziehen. Lächelnd öffnete First Lady Sarah die Tür – unter bewundernden Blicken der Bodenmannschaft stiegen die beiden Damen trockenen Fußes aus. Leslie erkannte die Abzeichen der Küstenwache an den Outfits des Landeteams. »Willkommen in Rockaway, Madam«, grüßte der in Halbschuhen und Uniform eines Captains respektvoll, erkundigte sich dann nach dem Flug und ob ein Rückflug 331
geplant sei. Sarah wechselte ein paar Worte wie mit einem alten Bekannten, schritt dann auf einen frisch gewaschen glänzenden, dunkelgrünen Jeep Cherokee zu, wo Leslie schon wartete. »Wir nehmen die Flatbush Avenue zum Long Island Expressway«, informierte die First Lady, als sie sich ans Lenkrad setzte, den großen Jeep über die Piste zur Straße hinauf fuhr. »Die 495 führt bis zur Queensborough Bridge. Von hier bis Manhattan sind es knapp zwanzig Meilen. Sollten wir in einer halben Stunde schaffen.« Leslie blickte zurück zum Hangar, zur Maschine. »Hätte ich dir nicht zugetraut. Wer weiß von deinen Eskapaden nach New York?« »Mein Mann«, grinste Sarah. »Er und seine Stabsfritzen glauben, dass ich in der City Geld für Gemeinnütziges zusammenkratze. Nur in New York hat es Kohle. Du kennst ja meine Stiftung.« Sie lachte übermütig. »Dann bist du am 11. September auch hier gelandet, um dann Jerry im WTC zu treffen?« Sie nickte. »Wir wollten früh in seinen Country Club Golf spielen gehen.« »Und wer ist zurückgeflogen?« »Was glaubst du?« Leslie zuckte die Schultern. »Jemand muss die Kiste ja zurückgeflogen haben.« »Mein Fluglehrer flog an diesem Tag mit nach New York. Für mich ein gutes Flugtraining. Dann brachte er die Kiste, die zufällig MARINE TWO heißt, zurück.« »Pardon«, lachte Leslie.
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»Vergiss bloß deine Rolle nicht. Du bist heute am Steuerknüppel nach New York geflogen. Und es geht um Leben und Tod.« »Ich weiß, Sarah, deshalb fliege ich heute noch nach Duschanbe.« Diese Bekanntgabe fing einen überraschten Blick ein. Die First Lady nahm den Faden auf. »In Duschanbe wohnt seine Mutter, ja, stimmt doch?«, fragte die First Lady. Leslie nickte und stellte sich die nächsten paar Stunden vor. Als ein Helikopter im Tiefflug über die Straße brauste, zuckte sie in den Augenblick zurück. »Am Sonntag muss ich spätestens um zwölf Uhr mittags im Plaza Hotel sein, keine Minute später.« »Plaza Hotel? Was haben wir denn in dem alten Nobelschuppen verloren?«, fragte die First Lady irritiert. Leslie schrie auf. »Pass auf!« Die Furcht einflößende Straßensperre auf der Fiatbush Avenue bestand aus einem halben Dutzend wild blinkender Polizeifahrzeuge. Zwei SWAT-Helikopter kreisten hell knatternd über der Stelle. Ein Mann mit Sonnenbrille stand breitbeinig mitten auf der Straße, sein Rockstoß flatterte im Wind. »Was zum Teufel soll das bedeuten?« Sarah bremste ab, ließ den Jeep ausrollen. Der gut gebaute Mann kam ans Seitenfenster. »Bill Baker, FBI«, rapportierte er, eine Handkante schneidig an die Stirn legend. »Good Afternoon, Madam.« Sarah gab sich ungehalten. »Was ist hier los?« »Wir sind eine CTU«, erklärte Baker. »Eine zusammengewürfelte Truppe von FBI, CIA und NYC Police. Wir checken die Flughafenzufahrten. Wir haben von der 333
Schießerei in Washington gehört. Können wir Ihnen ein paar Fragen stellen, wenn Sie erlauben?« »Das kann warten, Sir. Wir sind verabredet.« Bill Baker nickte verständnisvoll, um gleich zu ergänzen: »Madam, Ihr Gatte, der Präsident möchte Sie sprechen.« Er winkte nach hinten. Eine Frau löste sich aus der Gruppe, näherte sich – einen Walkie-Talkie-Funksprecher ans Ohr gepresst, mit der anderen Hand das freie Ohr gegen den Lärm abschirmend. Sie trug eine schwarze Polizeijacke. Der nachtblauen Schildmütze gelang es nicht, ihr volles, schwarzes Haar zu zäumen. »Mein Gott, das ist Jennifer!«, flüsterte Leslie. »Jennifer?« Leslie zog die Wollmütze tiefer in die Stirn. »Meine Tochter.« »Okay, Mr. Baker, geben Sie her.« Das klobige Walkie-Talkie wechselte die Hand von der Frau über Baker zur First Lady. »Hi, Buddy«, rief Sarah in die Sprechmuschel, sich verschmitzt zu Leslie umwendend. Eine tiefe Stimme sagte: »Darling, was machst du für Geschichten? Ist alles in Ordnung?« Hundebellen im Hintergrund. »Alles okay. Kein Problem. Hast du Barney da? Wo bist du?« Er redete auf sie ein. Leslie hörte nur Bruchstücke. »… Heute Abend zum Dinner … Bleib dieser verfluchten City fern, Darling …« Sarah deckte das Gerät mit der Hand ab, flüsterte: »Leslie, das ist genial!« Dann sprach sie wieder mit dem Präsidenten.
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»Wir sehen uns, ich bin froh, wenn du in der Nähe bist. Ruf mich auf meinem Handy an … Es war ausgeschaltet, okay. Wir sehen uns, Sweetie.« »Was ist genial? Was wird gespielt?«, flüsterte Leslie. Sie lugte verdeckt auf Jennifer, die sich gerade einen Riegel Kaugummi in den Mund schob. »Ich übernehme – genial, nicht? Jetzt kannst du in aller Ruhe nach Manhattan und ab nach … na, du weißt schon.« Bei diesen Worten blinzelte Sarah verstohlen in Richtung Jennifer. Der vertrauliche Ton erwärmte Leslie von neuem. Sie legte eine Hand auf Sarahs Schulter. »Wir halten zusammen.« Die First Lady salutierte, verschwörerisch grinsend. Sie machte Anstalten auszusteigen. Die Rückversicherung! Leslie hielt sie am Arm fest. »Moment, nimm deine Tasche! Hier.« Die First Lady blickte verdutzt, dann griff sie sich die weiße Fendi-Tasche, klemmte sie unter den Arm. »Ist was damit?« Leslie nickte kurz. Der FBI-Mann drehte sich nach ihnen um. Sie senkte die Stimme. »Nimm sie einfach. Ich erklär’s dir später. Lass sie nicht aus der Hand! Das ist wichtig. Lebenswichtig!« »Okay … Keine Sorge, ist ja meine Tasche.« Sarah gab sich einen Ruck, stieg aus. Sie sagte etwas zu Bill Baker, der Jennifer zu sich winkte. Nach kurzem Wortwechsel kam Jennifer energischen Schritts auf den Cherokee zu. Leslie erstarrte, blickte steifnackig geradeaus. »Ich fahre Sie, okay?«, informierte die Uniformierte, setzte sich hinter das Lenkrad, warf Leslie einen schrägen Blick zu. »Ich bin Jennifer.« Kein Muskel zuckte in Leslies von der Wollmütze kaschiertem Profil. Welch schauspielerische Aufgabe! Frei nach Brecht – die 335
gute Mutter, die die eigene Tochter düpiert, um das Leben ihrer Söhne zu retten! Und trotzdem schien ihr plötzlich nichts leichter – sie blieb stimmlich einfach bei einer mokanten Version ihrer First-Lady-Darstellung, gab in kühlem, spöttischem Ton das Fahrziel an. »Third Avenue und 72nd Street. Und etwas zügig, bitte, wenn’s passt!«
82 Als Bill Baker später am Rand der Fiatbush Avenue den Befehl zum Abbruch des Roadblocks gab, sein FBI-Jackett auf den Hintersitz des Chevy Blazer warf, trat Ken Cooper mit einer halb langen, dünnen Zigarre im Mundwinkel heran. Er legte dem Kollegen eine schwere Pranke auf die Schulter. »Du wolltest noch was bereden, Bill? Steigen wir ein?« Sie stiegen auf die Vordersitze. Ken rauchte weiter, Bill ließ den Motor im Leerlauf die Lüftung speisen. »Es geht um sie«, begann Baker, mit dem Kinn nach vorne deutend, wo die Wagen mit der First Lady gerade verschwunden waren. »Neulich hatte ich mich vor POTUS wie ein Idiot aufgeführt. Also, ich fragte ihn nach seiner Frau, ob sie …« »Fremd geht?«, fiel ihm Cooper ins Wort. »Nicht gerade so, aber ähnlich – anyway, das Meeting war ein Vollfiasko.« »Aber wie ich dich kenne, hattest du einen Riecher? Ist doch so?« Baker nickte bedächtig. »Nur so ein kleines Magenknurren, dass irgendwas nicht stimmt bei FLOTUS. Was würdest du an meiner Stelle tun?« 336
Cooper zuckte erwartungsgemäß die Achseln. »Hast du irgendwelche Indizien?« »Ja, da ist einmal ihre Rede. Irgendwann sagte sie, hör gut zu: ›Trotz der furchtbaren Tragödie dürfen wir das Bad nicht mit dem Kind ausschütten.‹ Dämmert dir was?« »Klar, das heißt doch ›das Kind mit dem Bad ausschütten‹, nicht umgekehrt.« »Eben. Was wollte sie mit dieser Verdrehung sagen? Sie ist gebildet, sie zitiert solche Redensarten nicht einfach falsch.« »Vielleicht doch«, gab Cooper zu bedenken. »In ihrer Rede sagte sie auch noch – warte«, Baker blickte auf sein Notizbuch, »da, sie sagte: ›Oft ist der richtige Anschein falsch, und der falsche Eindruck richtig‹. Was meint sie damit?« »Eine abgedroschene Redewendung, nichts weiter«, befand Cooper desinteressiert. Baker blieb stur am Ball. »Eine Plattitüde? Ich glaube nicht. Und dann dies: Sie outete sich als Schuldige in diesem Teenagerautounfall, wo ihr Freund getötet wurde. Sie erzählte dem staunenden Publikum von einem Ausweichmanöver, weil ein Tanklaster auf sie zugeschossen kam … aber nach unseren alten FBI-Akten hatte sie damals ein Stoppsignal durchfahren und den Wagen des Freundes, eine Chevy Convair mit dieser typisch gerundeten Karosserie, frontal gerammt. Warum erzählt sie etwas komplett anderes, wenn sie sich nun schon mal outet?« Ken schien an dieser Frage zu kauen, zog an seiner Zigarre, blies den Rauch ins beige getrimmte Wagendach. »Keine Ahnung«, bekannte er schließlich. »Na schön, und was machst du jetzt?« Bill Baker schaute listig herüber. Um seine Mundwinkel zuckte es verschmitzt. »Nehmen wir an, jemand setzt die First Lady unter Druck, aus irgendeinem Grund, einverstanden?« 337
»Okay«, nickte Cooper. »Was braucht dieser Jemand, wenn er ihr irgendwas, irgendwo antun will, immer angenommen, dass dies sein Plan ist. Was braucht er?« Cooper schob den Glimmstumpen mit der Zunge in den andern Mundwinkel. »Nun, er muss ihren Tagesablauf kennen, die Termine und so weiter. Meinst du das?«. »Faust aufs Auge, Meister. Bingo!« »Ich verstehe trotzdem nicht, worauf du hinaus willst.« Cooper blickte ostentativ auf seine flache Chrono Swatch. Baker lächelte triumphierend. »Ich habe ein paar fiktive Termine in ihren Kalender einfügen lassen. Zum Beispiel die Teilnahme des Präsidentenpaares an einem Business Power Lunch im Plaza Hotel vom kommenden Sonntag, dann …« Cooper schürzte geringschätzig die Lippen. »Bill Clinton pflegte sich im Plaza Hotel unter den Schönen des Showbusiness zu tummeln, der jetzige Präsident wird dort nie einen Fuß hinsetzen.« »Stimmt, aber vielleicht weiß unser Jemand das nicht oder nimmt an, wegen 9/11 ist jetzt alles anders, was ja stimmt.« »Meinetwegen. Du meinst, dein Mister X versucht dann, im Plaza an die First Lady ranzukommen?« Diesmal war es Baker, der die Schultern zuckte. »Ich weiß ehrlich nicht, was da laufen könnte. Aber ich habe die übliche Überwachung angeordnet. Zudem wird alles abgehört, was aus dem Weißen Haus rausgeht.« Cooper schien nicht gerade begeistert. Aber immerhin waren er und Baker schon ein paar Mal zusammen, wie man im Volksmund sagt, um den Maulbeerbusch gerannt. »Wie kann ich dir helfen, Bill?« 338
»Halt die Augen offen und gib mir persönlich Bescheid, wenn dir etwas auffällt.« Cooper wandte sich Baker zu. Der Name Bronx lag ihm auf der Zunge. Brennend gern hätte er ihm die Sache vom mysteriösen Tod des CBP-Agenten Howard Young erzählt, doch er hielt sich gerade noch zurück. Baker spürte, etwas lag in der Luft. »Was ist?« »Einverstanden«, wich Cooper aus. »Ich halte die Augen offen.« »Und den Arsch zu«, grinste Baker, worauf die beiden Kämpen wieherten, dass die alten Narben nur so juckten. Cooper überflog immer noch seine geistigen Notizen – Bronx war dieser Tage ein Held in der Terrorbekämpfung. Der verdiente Afghanistan-Feldagent hatte einen der wichtigsten Köpfe unschädlich gemacht – Abdullah Azzam in Peschawar. Obschon der Hit Jahre zurück lag, hatte er seither in der CIA den Status eines Unberührbaren. Was sollte der schon mit der harmlosen First Lady am Hut haben? »Okay«, meinte Baker gedehnt. Er öffnete das Schiebedach und alle Seitenfenster, was Cooper richtig als Wink mit dem Zaunpfahl interpretierte. »Ich halte dich auf dem Laufenden, Billyboy«, sagte er so kollegial wie unverbindlich. »See you later, Alligator!« Er versetzte dem Kumpel einen freundschaftlichen Hieb auf den muskulösen Oberarm, stieg grinsend aus. Noch breiter grinsend folgte Baker der ihm zugeeigneten Rolle in diesem patriarchischen Verbrüderungsritual, indem er bereitwillig die weltbekannte Replik von Bill Haley und seinen Kometen zitierte: »In a while, Crocodile!«
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83 Die Tür zu ihrem Apartment war nur angelehnt. Misstrauisch tat Leslie ein paar vorsichtige Schritte in den Korridor. »Hallo? Ist da jemand?« Im Wohnzimmer war das Licht an. Auf dem Tisch lag ein umgekippter Pappbecher neben den schmierigen Resten einer Pizza. Sie winkte Jennifer herein, suchte mit den Augen nach dem Computer mit den Daten über Tadschikistan. Zuerst sah sie die Turnschuhe, die Beine, dann das Blut. Sie schrie auf. Jennifer stürzte herein. »Um Gottes willen. Wer ist das?« Der Mann lag in einer vom Teppich aufgesogenen Blutlache. Die Kehle war durchgeschnitten. Von Ohr zu Ohr – ein furchtbarer Anblick. »Ben! O Ben, mein Gott!« Jennifer zog das Funkgerät aus der Tasche. »Nein, stopp! Tu das nicht!« Leslie riss die Wollmütze vom Kopf, die Brille flog weg. »Jennifer, ich bin’s!« Jennifer rang verdutzt nach Worten. »Um Himmels willen, Mama – Du?« Leslie holte die Flasche Cognac aus dem Schrank, setzte zwei kurze, dickwandige Gläser auf den Tisch, ließ sich auf einen Stuhl fallen. Wie in Trance zog auch Jennifer einen Stuhl heran. »Nimm!« Leslie hielt ihr ein randvoll gefülltes Glas hin, leerte das ihre in einem Zug. Sie ächzte auf. Dann begann sie mit ihrer Erzählung, ließ kein Detail aus. Die Zeit schien still zu stehen. Jennifer lauschte angespannt mit halb offenem Mund, nippte ab und zu am Cognac.
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»Und jetzt haben sie Ben umgebracht«, schloss Leslie, ging langsam ins Schlafzimmer, fand ihren Computer, den sie unter der Bettdecke versteckt hatte. »Warum haben sie Ben umgebracht? Was wusste er denn schon, dass er dafür sterben musste?« Während Jennifer sich umschaute, legte Leslie den aufgeklappten Laptop auf den Tisch. »Vielleicht ist’s das hier. Schau, da, Ben hatte diese E-Mail am 10. September abends abgeschickt.« Jennifer beugte sich vor und las vor: »HOWDY, SWEETIE, DIE FAKULTÄTEN SIND GEBÄUDE. WELCHES SIND DIE WAHRZEICHEN DER CITY? DIE TWIN TOWERS. EINSCHREIBESCHLUSS 11. SEPTEMBER. SOLL MORGEN ETWAS PASSIEREN? ICH LIEBE DICH, BEN.« Sie schwiegen, zutiefst betroffen. »Mom, ich muss die Cops rufen«, entschied Jennifer. »Weißt du, Jenny, Ben war mein Ein und Alles. Zärtlich, gescheit. Ich bin einfallsreicher als früher. Wir lachten viel, alles war spielerisch. Er war einfach eine Wucht, ein Goldschatz.« »Mmm, sag mal, dieser Rick Bronx, was hast du mit ihm vor?« Leslie wollte Jennifer auf keinen Fall mit ihren Plänen belasten, begann vorsichtig. »Ich habe seine Gebärden studiert. Er verbirgt ein seltenes Syndrom. Inzuchtlatenz nennen wir das – ein außergewöhnlich enges, intimes Verhältnis zu seiner Mutter.« »Und das siehst du an seinem Körper?« »Die Mutterfixierung hat mit dem Geschlechtlichen zu tun. Wo der Sohn herkam, dahin will er zurück. Inter faeces et urinam nascimur. Die Stelle zieht ihn an.« »Zurück in den Mutterleib?« 341
»Seine Mutter ist ihm heilig. Sie ist seine Religion. Er lässt nichts auf sie kommen. Ein fundamental inniges Verhältnis, inniger als das der fanatischsten Muslime zu ihrem Propheten.« »Ganz schön pervers.« »Aber nützlich.« Jennifer schaute ihre Mutter fragend an. »Was meinst du damit? Du weißt doch – ich bin da für dich.« »Dann finde heraus, wo Craig und Alex sind, bitte. Sonst nichts.« »Du sagtest doch, es war ein Haus am Wasser. Ein Lagerhaus etwa?« »Nein … Halt, doch!« Plötzlich hatte Leslie das grelle Schild vor Augen. »Public Storage stand da«, platzte sie erleichtert heraus. »Immerhin etwas. Es gibt einige davon. Gute Tarnung.« Jennifer machte rasch eine Notiz. Leslie packte das Nötigste in einen Handkoffer – Computer, Telefon, Kreditkarten, Pass. Viel mehr brauchte sie nicht. Ihre Navy Intelligence Service Badge hielt sie abwägend in der Hand, steckte das Handschild schließlich ein. »Ich nehme den Wagen. Bis übermorgen, Jenny.« Sie küssten sich. Jennifer steckte ihr noch die Karte mit ihrer direkten Nummer zu. »Du willst mir nicht anvertrauen, was du vorhast?« Leslie hob beschwörend die Hände. »Vertrau mir, Liebling. Alles zu seiner Zeit.« Sie ging wortlos hinaus. Würde sie Jennifer je wiedersehen? Von schweren Gedanken bedrückt, stieg sie in den Wagen, steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Die Seitentür war plötzlich offen, Rick Bronx auf dem Beifahrersitz. Jäh hatte sie den physischen Beweis, wie gefährlich dieser Mann war. Sie war instinktiv ausgewichen, ihre linke Hand berührte das 342
Ablagefach, spürte die Neunmillimeter, die Sarah dort verstaut hatte. Gute Sarah! »Wie geht’s?«, raunte Bronx, sein Opfer scharf musternd. »Ich nahm an, Sie hier zu finden.« »Was wollen Sie, Bronx, einen Orden?« »Ihr Auftrag, Leslie!« »Schießen Sie los, aber passen Sie auf Ihre Füße auf.« »Das Wasser steigt, Ihre Söhne lieben Sie.« Sie fauchte ihn an: »Zur Sache!« »City Hall, am Sonntag, der Präsident ehrt dort Feuerwehrleute, Cops, den Bürgermeister. Sie werden …« »Das Plaza ist nicht die City Hall …« »Der Plan ist geändert. Sie gehen an der Seite des Präsidenten zur City Hall.« »Okay, wenn Sie’s sagen. Ich werde dort sein. Und wie schlagen Sie vor, machen wir das, Sie Verschwörungsgenie?« Ihre Frage war nicht weniger als ein giftiges Zischen. »Die Feier findet vor der City Hall im Freien auf einer Tribüne statt. Sie machen es vor aller Augen, vor laufenden TVKameras, sobald die Zeremonie beginnt. Zaudern Sie nicht! Mit dem Revolver. Ganz cool feuern Sie auf den Präsidenten. Sie schießen die Trommel leer, in seinen Körper.« Leslie gab sich theatralisch lässig. »Wirklich? Nicht in die Luft? Schön, Bronx, auf mich können Sie sich verlassen. Ich war mal Souffleuse in ›Die Letzte Vorstellung‹, wo Booth Lincoln erschießt. Reagan und Hinckley kenn ich auch. Kennedy, Ruby, Oswald … sonst noch was?« Bronx kassierte ihre Boshaftigkeiten, ohne mit der Wimper zu zucken. »Tut mir leid wegen der Jungen, Mädchen. Die sind unsere Garantie, damit Sie genau das tun, was wir wollen.« 343
Leslie fühlte eine eigenartige Erregung. Sie wusste, das hier, das war jetzt der Fight. Ich bin jetzt mittendrin. Also so fühlt sich das an! »Das Wasser steigt, Ms. Palmer. Ich kann es nur stoppen, wenn Sie alles erledigt haben. Klar?« Leslie zwinkerte schnippisch. »Was Sie nicht sagen. Wissen Sie was, Bronx? Sie sind ein skrupelloses Schwein. Und saudumm dazu. Raus jetzt!« Die Neunmillimeter saß matt glänzend in ihrer Hand. Das satte metallene Geräusch, als der Verschluss zuschnappte, ließ Bronx zurückschrecken. Er hob die Hände defensiv. »Okay, okay, gehe ja schon. Denken Sie an den Pegelstand.« »Ja, richtig, der Pegelstand«, schrie Leslie. »Das hätt ich fast vergessen.« Bronx bugsierte sich vorsichtig rückwärts aus dem Wagen. Leslie hob die Waffe etwas an. »Pass bloß auf, dass dir das Blut nicht in den Hals pegelt!« Der CIA-Mann strauchelte, fand die Balance, machte sich geduckt davon. Sirenen heulten heran. Das mussten die Cops sein, die Jennifer alarmiert hatte. Leslie fuhr scharf an, lenkte den Cherokee in Richtung Kennedy International. Jenseits der Triborough Bridge schaltete sie das Blaulicht ein und machte die verlorene Zeit spielend wieder gut. Am Terminal 4 ließ sie den Wagen auf der Vorfahrt stehen. Die Neunmillimeter verstaute sie im Handgepäck. Dann holte sie ihr Ticket, steuerte auf den Sicherheitscheck zu. Die Kontrollen waren massiv verschärft worden. Sie erkannte einen höheren Beamten des Grenzschutzes CBP. »Sir – Leslie Palmer.« Sie zückte ihr Erkennungsschild. »Navy Intelligence, Sir. Würden Sie mich bitte diskret zur Maschine begleiten?«
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Der groß gewachsene, jugendlich wirkende Mann blickte skeptisch über den Rand seiner Brille. Sie zeigte ihm das Ticket nach München. Er führte wortlos sein Gerät zum Mund, hielt die Hand schützend davor. Nach einer Weile hörte Leslie: »Check. Sie heißt Leslie Palmer, Navy.« Es dauerte. Leslie bemerkte die Veränderungen im Airport. Lange Warteschlangen bildeten sich vor den Handgepäckkontrollen. Soldaten der Army patrouillierten mit umgehängten Maschinenpistolen. Das Walkie-Talkie knisterte. »Sie wollen den Sicherheitscode«, sagte der CBP-Mann mit entschuldigendem Brauenheben. »Odessa«, antwortete Leslie prompt. Ihre Geburtsstadt. Der Mann redete wieder mit der Zentrale, dann beschied er freundlich lächelnd: »Ist in Ordnung, kommen Sie.« Er wählte einen speziellen Durchgang zu einem Elektrowagenpark. Gemeinsam fuhren sie auf dem geräuschlosen Gefährt durch die langen Korridore und Seitengänge, die Leslie noch nie gesehen hatte, zum Flugsteig der Lufthansa 404. »Guten Flug«, wünschte der Begleiter. »Und nichts für ungut für die Fragerei. Verdammte Terroristen!« »Kein Problem. Deswegen bin ich unterwegs.« Leslie projizierte ihr charmantestes Lächeln. Schließlich hatte er sie mitsamt Handgepäck und Neunmillimeter an den Kontrollen vorbei geschleust. »Viel Glück, Madam!« Er winkte ihr lächelnd nach. Sie belohnte ihn mit einem extra Haarschwenker. Glück? Das kann ich wahrlich brauchen, junger Mann!
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84 Vorn im Bug der modern aufgemöbelten 747, in der Business Class, wurde Leslie ein Fensterplatz angewiesen. Sie schloss die Augen, während die Maschine dröhnend an Höhe gewann. Spike … sie musste ihn noch mal anrufen, einfach um danke schön zu sagen. Sie zog das Bordtelefon aus der beigen Plastikwiege, wählte die Nummer. Er meldete sich sofort. »Hi, Spike. Ich bin unterwegs … Wohin? Nach München.« »Hast du meine Textnachricht erhalten?« »Deswegen rufe ich an. Um sicher zu sein. Du schickst also deine Maschine nach München?« »Weißt du, den Piloten schadet ein bisschen Flugtraining nicht. Sonst hängen die hier sowieso bloß rum.« »Was machst du denn in Zürich?« »Geschäftlich. Prüfe die Übernahme eines Grandhotels. Da dachte ich, wenn ich dich schon nicht sehe, schicke ich wenigstens meine Maschine.« »Du bist einmalig. Du könntest aber mitkommen.« »Tadschikistan? Eigentlich schon. Ist mir nicht unbekannt. Aber leider geht’s nicht im Augenblick.« »Schade.« »Hör zu, Leslie, ich gebe dir die Handynummer des Piloten. Falls du ihn am Gate verpasst, oder was immer sonst.« »Okay.« Was heißt was immer sonst? Leslie lauschte und notierte. Rein impulsiv fragte sie: »Und wie lange bleibst du in Zürich?« »Ach, die Erbsenzähler brauchen noch ein paar Tage, um die Due Diligence zu beenden. Man kann’s übrigens ganz gut aushalten in dieser Stadt.« 346
»Spike, was würde ich machen ohne dich? Wie spät ist es dort? … Was! O, das tut mir aber leid.« Sie verabschiedete sich, schob das Gerät in die Halterung zurück. »Die Speisekarte, Madam«, lächelte der Steward. »Danke, wecken Sie mich zum Frühstück.« »Gerne. Darf ich Sie jetzt flach legen?« »Wie bitte? Ach so.« Beide lächelten, während er ihren Sitz mit ein paar gekonnten Griffen in die Schlafstellung brachte. Bevor sie einschlummerte, wanderten ihre Gedanken planlos. Craigs und Alex’ Blicke aus diesem schrecklichen Käfig brannten in ihrer Seele. Sie sah ihr Ziel klar vor Augen: Rick Bronx, wie er zappelte und jammerte, als er im Käfig untertauchte, ihre Söhne, die sie auf den Armen trugen, die First Lady strahlend mit Champagner ihre neue Freundschaft besiegelte. Champagner? War da etwas, das sie beunruhigte? Sie schüttelte den nagenden Gedanken ab, richtete ihre Gedanken nach vorne. Duschanbe? Sie stellte sich einen heruntergekommenen Flughafen aus der Zeit der alten Sowjetunion vor, Nick Negroponte, der Verteidigungsattaché, der sie in der verlotterten Halle mit seinem Wollschal erwartete. Fuhr er noch den weißen Range Rover, mit dem er vor einem Jahr im englischen Cheltenham zur bilateralen Nachrichtenkonferenz aufkreuzte und dauernd an seiner Tabakpfeife saugte, ob die nun brannte oder nicht? Ein Schmunzeln huschte über ihr Gesicht, dann schlief sie ein.
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85 Die zwei Hotchkiss-Triebwerke des Privatjets der Spike Corporation rauschten gleichmäßig. Leslie saß vorn im Copilotensitz und blickte auf das überwältigende Panorama unter ihnen, bis an den fernen Horizont. »Bosporus und Dardanellen«, informierte sie der Captain, der sie in München gleich am Fingerdock abgefangen hatte. Der zweite Offizier reichte ihr eine Wasserflasche über die Schulter. »In einer Stunde beginnen wir den Sinkflug«, sagte er. Zu fast genau derselben Zeit in New York lauschte Rick Bronx mit zunehmendem Ärger dem Bericht Ahmeds. Mitternacht vorbei, Regen peitschte gegen die breiten Fenster des Hauses an der Brooklyn Waterfront. »Ihr habt sie also verloren. Superleistung!« »Sie checkte in JFK nicht am Schalter ein«, rechtfertigte sich die Stimme am andern Ende. »Sie verschwand mit einem Flughafenbeamten. Wir mussten uns bedeckt halten. Dieser Tage sind Araber suspekt wie Ratten.« »Verdammt!« Bronx knallte wütend den Hörer auf das Gerät. Sein Blick ruhte auf dem breiten Monitor. Wasserpegel 50 Prozent, gab die Einblendung an. Was machten die Kerle. Freiübungen? Tatsächlich! Alex und Craig dehnten und streckten mit verschlungenen Händen ihre Arme. Die Burschen haben Mumm, gestand er sich widerwillig ein. Auch die E-Mail aus Afghanistan trug wenig zur Besänftigung seiner üblen Laune bei. Der CIA-Agent antwortete mit der Durchgabe der Koordinaten eines Planquadrats, eine auf der Landkarte definierte Fläche. Eine harmlos erscheinende Mitteilung, die ein Angriffsziel für die Marschflugkörper designierte – im Tora-Bora-Massiv. Bronx zweifelte nicht am strategischen Charakter des Ziels. Vermutlich die 348
Kommandobunker. Was ihn ärgerte, war die Verteilung der Nachricht innerhalb der CIA. Sie ging primär an den CIAOperationschef. Rick als Chef Middle East Desk erhielt mit zeitlicher Verspätung lediglich eine Kopie – also waren ihm die Hände gebunden. Zweifellos lag die Message mit den Zielangaben bereits im CENTCOM der Streitkräfte in Florida. Er überlegte, dann griff er zum Mobiltelefon, tippte eine SMS ein: TELEGRAMM KANN JEDEN AUGENBLICK IM BEKANNTEN HOTEL ZUM ROTEN FELSEN ANKOMMEN. Bronx drückte auf Senden. Im Kommandobunker des Tora-Bora-Massivs summte ein Mobiltelefon, das auf einem Magazin des New Yorker lag – ein, zwei Mal. Steve Quinn befand sich allein in der grünen Kammer. Er ging zur Tür, schaute hinaus in den leeren Gewölbeflur. Dann schlich er auf leisen Sohlen zum Tisch zurück, drückte auf die Menütaste. Die Nachricht leuchtete auf. Quinn war dabei, sie zu lesen, als er Schritte hörte. Er drückte auf Zurück, sah den Absender: Rick. Rick? Schau in den Kontakten nach. Er gab hektisch R ein, Rick Bronx. Bingo! Die Nummer begann mit 1971 … für USA. Als Al-Zahiri eintrat, lümmelte Quinn sich gelangweilt auf den Kissen. Im Geist wiederholte er die Nummer, bis er sie im Schlaf aufsagen konnte. Plötzlich herrschte hektische Aufbruchstimmung im Bunker. Nur eine knappe halbe Stunde, nachdem Al-Zahiri ebenfalls die Meldung auf seinem Mobiltelefon gesehen hatte, schlängelte sich eine Kolonne von Geländewagen die steile Bergstraße hinunter. Im Hauptquartier des Bundessicherheitsdienstes NSA in Fort Meade, wo Rick Bronx ironischerweise seine Ausbildung als Nachrichtenmann begonnen hatte, spuckte ein Main-Frame 349
Computer die Stichwörter roter Felsen aus. Die abgefangene Nachricht blieb auf einem Stapel ausgedruckter Nachrichten liegen. Erst am folgenden Morgen würde eine Soldatin der Nachrichtenabteilung ihrem Chef den entsprechenden Wisch mit einem salopp stolzen Schlenker unterbreiten.
86 Nick Negroponte stand nicht in der Halle des DuschanbeFlughafens. Mit seinem hellbraun gemusterten Wollschal und der legendären Tabakpfeife wartete er grinsend unten an der Flugzeugtreppe. Sein blonder Schopf wehte im Wind. Leslie stieg hinunter und umarmte ihn. »Nick, bin ich froh, dass du hier bist!« Sie schaute sich um. »Schön, wild, aber am Ende der Welt.« »Wenn du mich damit meinst, habe ich nichts dagegen«, grinste er, griff sich ihren Handkoffer und schritt voran, auf einen weißen Helikopter zu. »Ich habe deine Nachricht durchdacht. Wir machen kurzen Prozess. Du willst ja heute Abend zurückfliegen. Leider.« Er legte einen Arm zärtlich um sie. »Geht nicht anders, Nick. Wo gehen wir hin? Ich habe ein Zimmer im Sovesto reserviert.« »Das brauchst du nicht. Wir holen uns die Frau – und ab!« Sie schaute ihn bewundernd an. »Es geht eben nichts über militärisches Denken!«, schmeichelte sie. »Eine Rettungsmaschine?« fragte sie den Helikopterpiloten, der sie begrüßte. »Swiss registration«, intonierte der schneidige Flieger im besten Englisch. »Die fliegen für den Aga Khan. Der will nur Piloten aus der 350
Schweiz«, erklärte Nick. »Schau, auf der Schwanzflosse siehst du den diagonalen roten Streifen im grünen Feld. Die ismaelische Flagge. Die Flugzeuge sind aber ausnahmslos in der neutralen Schweiz registriert, damit sie in alle benachbarten Länder fliegen können.« »Aga Khan?« Sie betrachtete staunend den Hubschrauber – eine nagelneue Agusta AB 139. Nick nickte bestätigend. Der Pilot ergänzte: »Seine Exzellenz finanziert Hilfsprojekte im Pamir-Hochland.« »Spike macht mit ihm Immobiliengeschäfte«, meldete sich der Jetpilot, der ihnen gefolgt war. Leslie kam zur Sache. »Hör mal, Nick. Ich habe ein Problem. Die CIA.« Er lachte. »Da bist du nicht die Einzige.« »Wirklich. Doch im Ernst …« Sie nahm ihn zur Seite. »Wenn der CIA-Mensch hier vor Ort erfährt, dass wir Amira …« »Keine Bange, Leslie.« »Die haben Scheiße gebaut«, warf der Schweizer ein, der etwas von ihrem Wortwechsel aufgeschnappt hatte. Nick beeilte sich zu erklären: »Sein Boss, der Aga Khan, tut auch viel für die Sicherheit des Landes. Grenzschutz, Kampf gegen Drogenschmuggel. Da fließen beträchtliche Summen. Die CIA-Büffel durchsuchten seine Büros hier in der Stadt.« »Warum?« »Die glaubten doch tatsächlich, er mache Terrorismusfinanzierung. Stell dir vor! Ich musste ganz schön die Wogen glätten. Der Stationsleiter ist nicht meine Wellenlänge. Ich habe gar nichts dagegen, diesem Deppen eins auszuwischen. Übrigens sitzt er gerade in einer Konferenz in Almati.« »Und er?« Sie deutete auf den Kopterpiloten. »Unser Hans fliegt und hat nichts gesehen. Der ist schlau und neutral, nicht wahr?« 351
Der Angesprochene grinste geschmeichelt. »Seit zweihundert Jahren! Der Aga lässt Sie übrigens grüßen!« »Wie das? Warum mich?« »Es gibt scheinbar nicht viele Palmer, die Lausejungen sind und im gleichen Schweizer Nobelinternat wie seine Söhne mit Härte auf ihre Zukunft als globale Elite gedrillt werden. Er hatte routinemäßig Ihre Personalien abgeklärt.« Leslies Antlitz verdüsterte sich. »Ich habe Hans eingeweiht«, schob Nick rasch ein. Der Pilot machte ein besorgtes Gesicht. »Habe ich etwas Dummes gesagt? Tut mir leid.« »Nein, Craig und Alex, meine Zwillingssöhne, stecken in der Patsche. Es ist schlimm. Ich kann nicht darüber reden. Aber deshalb bin ich ja hier. Diese Amira muss unbedingt morgen in New York sein. Glauben Sie mir! Bitte richten Sie Seiner Exzellenz aus, wie sehr ich seine Hilfe schätze.« Eine Weile schwiegen alle betreten. »Na, dann los!«, schrie Nick in den Lärm eines abdrehenden Jets.
87 Nick hatte einen einfachen Plan. Er informierte Leslie über den Tagesablauf der Zielperson, wie er Rick Bronx’ Mutter Amira nannte. »Sie fährt um die Mittagszeit ins Hotel Sovesto, trinkt in der Halle Tee. Meistens trifft sie dort einen von der CIA. Anschließend radelt sie zur Poststelle. Von dort nach Hause, etwa zwei Kilometer. Oft kauft sie unterwegs ein. Vor allem Katzenfutter.« »Wohnt sie in einem Mietblock?« 352
»Nein, sie hat sich eine kleine Datscha am Stadtausgang gekauft. Dort lebt sie mit ihren Viechern.« Er schaute auf die Uhr. »Wir warten im Haus. Alles andere überlasse mir.« Hans hatte den Landeplatz erkundet. Der Agusta-Schrauber setzte sanft in der Wiese auf. Sie sprangen ab, während die Rotoren ausliefen. Die Annäherung von hinten ans Haus schien Leslie ideal – sie konnten von der Straße her nicht eingesehen werden. Die Türe zum Hinterhof wies eine Katzenklappe auf. Nick steckte den Arm hinein, zog den Riegel zurück. Sie standen in der Küche. Leslie ging zielstrebig ins Wohnzimmer. Auf der Anrichte lagen Umschläge in einem flachen, geflochtenen Korb. Sie wühlte, fand den Brief. Es war derselbe, den sie in Bronx’ Wagen gesehen hatte. Und derselbe Tippfehler im Absender: Braodway. Sie zog den Brief heraus: »… in den nächsten Tagen wird etwas Großes passieren. Die ganze Welt wird erstarren. Wir werden den Westen meistern, wie Du mir immer gesagt hast. Ich habe Vorbereitungen getroffen. Du kannst stolz auf mich sein. Wie immer liegt ein Scheck bei. Sag keiner Menschenseele ein Sterbenswörtchen, und am besten verbrennst Du diesen Brief – nur nicht den Scheck! Dein Dich in ewiger Liebe verehrender Adil.« Adil? Vermutlich der Kosename, sagte sich Leslie, weiter um sich herum suchend. In der Ecke auf dem kleinen Schachtisch stand eine Bernsteinschatulle. Schmuck? Sie öffnete den Deckel mit dem Schlüsselchen, das unter der Schatulle lag. Tatsächlich schimmerten ihr Ohrringe golden entgegen, ein Berg Goldmünzen dazu und darunter – beinahe hätte sie es übersehen – goldene Lettern auf … einem Pass! Amiras Pass! Leslie klaubte das dunkelblaue Büchlein unter Münzenklirren heraus und – Bingo! – eine US Greencard kam zum Vorschein. Leslie fasste die Karte gerade näher ins Auge, als draußen 353
Motorenlärm anschwoll, nach ein paar Augenblicken erstarb. Eine Autotür klackte, eine zweite. Hastig steckte sie Brief und Dokumente in die Jeans, trat vom Fenster weg. Nick kam mit dem Finger an den Lippen ins Zimmer. »Ein Typ hat sie nach Hause chauffiert. Er kommt mit ihr ins Haus.« Er rieb sich die Fäuste. Leslie brachte sich an der Tür zum Wohnzimmer in Position. »Soll ich Hans rufen?«, flüsterte sie. Nick schüttelte den Kopf, tappte leise in den Flur. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Aufgeräumte Stimmen. Der Fahrer, der das Fahrrad von der Pritsche heruntergeholt hatte, trat hinter Amira ins Haus. Der Flur lag im Halbdunkeln. Lüstern grunzend krallte der Mann eine Hand wollüstig in ihren prallen Hintern. »Mmmm, jaa«, muckte die Frau auf, tat einen Schritt hinüber zum Lichtschalter. In diesem Augenblick flog die Katze durch die Luft, direkt an den Kopf des Mannes. Das Tier fauchte auf, zuckte weg. Der Kerl blutete von Kratzern im Gesicht, war trotzdem nicht auf den Kopf gefallen. Ein Tadschike von echtem Schrot und Korn ließ sich nicht so schnell überrumpeln, wie Nick erfahren musste, als er mit der Bratpfanne ausholte, um sie dem Kerl über den Schädel zu hauen. Blitzschnell unterlief der Tadschike den Schlag, hatte den Amerikaner schon an der Gurgel. Mit starken Händen würgte er Nick, dabei wüste Beschimpfungen ausstoßend. Amira, vom ersten Schrecken erholt, griff geistesgegenwärtig ein Küchenmesser. Den günstigen Moment abwartend, hielt sie es zum entscheidenden Stoß in Nicks Rücken bereit. Alles lief in Sekundenschnelle ab. Leslie blieb keine Wahl. Sie zog ihre SIG Sauer, packte mit festem Klammergriff der rechten Hand den kantigen Lauf, sprang vor und hieb dem Tadschiken die Pistole auf die nur von 354
einem karierten Hemd geschützte Schulter. Das harte Metall der Waffe traf genau die empfindliche Stelle am Schlüsselbein, dort wo die Halsschlagader emporstieg. Der Körper des Mannes erschlaffte, sackte stöhnend auf den harten, kalten Fußboden. Amira kam nicht mehr dazu zuzustoßen. Mit einem gut gezielten Handkantenschlag schlug Nick ihr das Messer aus der Faust, drehte ihr die Arme brutal auf den Rücken, drückte sie auf den Küchentisch nieder. Leslie hielt Nick die offene Erste-Hilfe-Box entgegen. Seine Stimme war ein einziger heller Kommandoton. »Die Spritze!« Leslie hatte die Handhabung schon im Hubschrauber geübt. Aber ihre Hand zitterte. Und da geschah es. Die Frau schnellte den Kopf nach vorn, biss sie in den Handrücken. Leslie schrie auf, fluchte. Die Spritze lag zerbrochen am Boden. Nick kommandierte: »Nimm die Box, renn zum Kopter.« Nick packte Amira brutal am Schopf, hob den Kopf an, knallte ihre Stirn heftig auf die harte Tischplatte. Bewusstlos sank sie zusammen. Nick sah die Vorhangkordel, riss sie runter, band Amira die Arme auf den Rücken fest. Ein paar Katzen schlichen miauend heran, ein Hund bellte. Nick leerte die Körner aus dem Futtersack in den Napf. Dann lud er die reglose Frau ächzend auf seine Schultern. Bevor er ins Freie trat, spähte er um sich. Kein Mensch in Sicht. Vorsichtig überquerte er den Hinterhof, verfiel dann in einen schwerfälligen Trab und erreichte endlich keuchend den Hubschrauber. Die Rotoren drehten sich schon. Hans zog die Frau hoch, fiel in den Kontrollsitz zurück. Nick schloss die Luke. Der Schrauber hob leicht und elegant ab. Nick rang grinsend nach Atem. »Selten geht’s nach Plan.« 355
Selbst in ramponiertem Zustand war Amira noch eine elegante Erscheinung. Sie trug einen knöchellangen satingrünen Rock, der nach Art der Beduinen oben freimütig dekolletiert war; ein bestickter Gürtel mit Stoffknospe umschlang die Taille, ihr Wohlstandsbäuchlein diskret definierend; ein transparenter schwarzer Designerschleier mit in Gold gestickten Yves-StLaurent-Initialen verhüllte knapp ein blasses Gesicht mit kräftigen schwarzen Brauen. An einem Arm klirrten dünne, verzierte Goldringe, das andere Handgelenk zierte eine Schmuckuhr aus Gold und ein mit schwarzen Edelsteinen durchsetztes Armband. Leslie reichte Nick die Erste-Hilfe-Box. Diesmal konnten sie der Frau das Beruhigungsmittel widerstandslos einspritzen. »Am besten fliegen Sie sofort weiter«, empfahl Hans, über dem Flugplatz kurvend. »Je schneller Sie das Land verlassen, desto besser.« Er setzte auf der vom Kontrollturm abgewandten Seite des Jets ab. Sie stiegen um. Hätte jemand im Kontrollturm sich die Mühe gemacht, die Szene näher zu betrachten, wäre ihm kaum etwas Außergewöhnliches aufgefallen. Ein Beobachter hätte zwei Männer gesehen, die eine schwächliche Frau aus dem bekannten Rettungshelikopter mit der rotweißen Flagge am Bug in die andere Maschine hinüber geleiteten – eine humanitäre Hilfsaktion. Reine Routine. Minuten später erhielt der Jet der Spike Corporation die Startgenehmigung. Dröhnend stieg er in den sich verdüsternden Himmel über Tadschikistan.
88 In Washington war noch lange Tag. Bill Baker rieb sich die Augen, massierte sein Kinn, schaute zum Fenster hinaus auf das 356
vertraut langweilige Bild von bräunlichen Häuserfronten, spiegelnden Fenstern und Baumwipfeln. Er begriff, dass er ein Dilemma hatte. Sein Blick, geübt, in die Weite zu schweifen, klare Horizonte auszumachen, nahm nichts Konkretes wahr, registrierte im beschränkten Blickfeld über der Pennsylvania Avenue einzig das helle Blau des wolkenlosen Himmels. Dieses Blau erinnerte ihn für einen winzigen Augenblick wehmütig an die Insel, wo er an seinem Segelboot, das wohl nie fertig werden würde, bastelte und werkelte. 9/11 hatte die Chance eines Urlaubs auf Turks & Caicos mit Vollendung seines Werks wohl in weite Ferne gerückt. Wie schon oft in seiner Laufbahn musste er sich ein Mal mehr dem eigenartigen Phänomen beugen, dass ab und zu ein falscher Entschluss zur richtigen Lösung führte. Baker hatte denn auch gelernt, sich pragmatisch und rasch neu auszurichten, statt die Richtigkeit einer getroffenen Annahme, auch wenn sie analytisch zwingend Sinn ergab, durch alle Böden hindurch beweisen zu wollen. Man verlor dabei nur den Blick fürs Ganze und lief Gefahr, Chancen, die aus einer neuen Lage flossen, reihenweise zu verpassen. Der Weg, der ihn in jener Nacht zum Präsidenten ins Oval Office geführt hatte, war unter diesem Aspekt bestimmt der falsche gewesen. Immer noch schauderte ihm, wenn er an das linkisch eingeleitete, peinlich verlaufene Gespräch dachte. Wie konnte er nur so naiv gewesen sein zu glauben, der Mann im Weißen Haus würde sogleich die nebulösen Vermutungen eines Subalternen über die First Lady aufgreifen, ihm vertrauensvoll carte blanche geben, seine nicht mehr über allen Verdacht erhabene Angetraute zu bespitzeln … Baker schüttelte sich, von der eigenen Dummheit angewidert. Die Blamage hatte ihm natürlich kein Geringerer als sein Direktor eingebrockt, und Baker war nicht willens, das einfach zu schlucken. Ganz und gar nicht! So viel Tiefgang hatte seine Loyalität denn auch wieder nicht. 357
Aber eben jene demütigende Szene im Oval Office hatte ihn angestachelt, die Scharte auszuwetzen – seither hatte er sich gedanklich an die Fersen der First Lady geheftet. Zunächst ohne Erfolg, bis er sich dem alten Hasen Ken Cooper anvertraut hatte, der zu seiner Enttäuschung völlig desinteressiert reagiert hatte – bis gestern, als er ihm überraschend berichten konnte, was seine niedlichen Hightechspielzeuge aus der Luft erspäht hatten: Howard Young und Rick Bronx! Die Polizeiakten des Mordfalles Young hatte wenig später ein Eilbote auf Bakers Tisch geklatscht. Noch am selben Abend hatte er sich intensiv darin vertieft, ohne allerdings nur einen Zoll weiterzukommen. Einer einzigen Spur, dünn wie ein Seidenfaden, wollte er noch nachgehen, wartete gespannt auf den Rückruf aus dem bloß ein paar Häuserblocks entfernten CBP Headquarter, 1300 Pennsylvania Avenue. Auch der zugegeben interessante Verdacht, den der MossadAgent Avi Leumi ziemlich dick im streng vertraulichen Memo auftrug, schien Baker eine zwiespältige Sache. War Bronx denn am Tatort im Bennet-Park gewesen? Ein CIA-Wagen hatte dort gestanden, richtig. Aber wer hatte den gefahren? War Young schon tot gewesen, als der CIA-Mann dort eintraf, kam Bronx nachträglich dazu? Beweisen, dass Bronx mit dem Mord etwas zu tun hatte, ließ sich nicht. Alles nur Indizien, die gegen eine Legende wie Bronx in der CIA vermutlich ebenso ernst genommen würden wie einer der zahlreichen frechen Witze über den Präsidenten der USA. Ein CIA-Agent kann jede Menge Gründe haben, verdeckt vorzugehen, irgendwohin zu fahren, einen Todesfall geheim zu halten, und nur die CIA selbst hatte die Macht, die Motive ihrer Topagenten zu hinterfragen. Er, Baker, hatte diese Befugnis bestimmt nicht. Verdrossen blickte er auf das Memo. Der Mossad hatte herausbekommen, dass Bronx offenbar in New York eine Operation leitete, anders konnte er sich nicht erklären, dass der 358
CIA-Agent in Brooklyn eine Wohnung bezog und sich mit dieser Frau traf, dieser Leslie Palmer. Aber eben. Die war Marinenachrichtendienst. Warum sollte Bronx sie nicht treffen? Der Mossad-Agent hatte Palmer bis zum Tag der 9/11Katastrophe gelegentlich beschattet, ohne Brauchbares festzustellen, außer dass sie einen jungen Liebhaber frequentierte. Klar war Sex ein Verdachtsgrund, zugegeben, vor allem, wenn dieser Ben Heller an sensitiver Spionagesoftware arbeitete. Aber was hatte Bronx damit zu tun? Bill Baker war am Ende einer Sackgasse angelangt. Also doch ein Holzweg. Aber etwas nagte hartnäckig in ihm weiter. Da war die verblüffende Aussage von Martin Wagner, Departementdirektor Navy Intelligence, der gemäß Mossad festgestellt hatte, dass Leslie Palmer sich am Tag der Katastrophe kurz vor neun Uhr im South Tower aufgehalten hatte. Ein Mitarbeiter namens Shelley konnte diese Information bestätigen. Seither galt sie als vermisst. Opfer von 9/11. Nur laut Wagner hatte sich nach 9/11 jemand in den sicheren Navy Intelligence Server mit der Passwortkombination der Palmer eingeloggt. Zwei oder drei Mal. Dabei hatte die Person vertrauliche Daten heruntergeladen, auf die nur Personen mit einer bestimmten Sicherheitsfreigabe Zugriff haben. Palmer selbst zum Beispiel. Lebte sie noch? Wenn sie untergetaucht war, hatte sie einen bestimmten Grund? Wo passte ein Typ wie Bronx da ins Bild? Baker spürte es intuitiv – die Palmer war die Schlüsselfigur! Bill Baker musste aufpassen, nicht in das nächste Fettnäpfchen zu treten. Sollte die Palmer, immerhin im Dienst der Navy Intelligence, auch für die CIA arbeiten, würde ihre Enttarnung durch einen übereifrigen Mister Baker nicht nur eine brisante Affäre auslösen, wovor man im Spionagebusiness mehr zitterte als der Teufel vorm Weihwasser, sondern könnte auch Justizbehinderung darstellen und mit einer schmählichen
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Verurteilung enden. Also Finger weg! Sollen die im CIA doch selber nach dem eigenen Mist schauen. Das Summen des Telefons unterbrach seine Gedanken. »Mister Baker? Hier Gwen Gates, Customs and Border Protection. Sie wollten mit mir über Howards … über den Mordfall Howard Young sprechen?« Eine angenehme Stimme, die seine Sinne augenblicklich schärfte. »Ja, Bill hier, danke für den Rückruf, Gwen. Sie waren Howards Sekretärin?« »Nein, wir sind ein Schreibpool hier … ich habe in letzter Zeit, ich meine, vor diesem schrecklichen … für ihn ein paar Mal Sachen erledigt.« »Kannten Sie ihn näher, Gwen?« »Nein, nur, ich merkte schon, dass er mich den andern vorzog, ich war die Neue, und wir stehen … ich meine standen beide auf Mac Computer, Sie verstehen, und dann fanden wir noch heraus, dass wir beide Inline-Skating mögen, das hat uns schon irgendwie näher gebracht, aber nicht …« »Keine intimere Beziehung wollen Sie sagen?« Sie lachte leise auf. »Genau. Wir waren rasch gute Freunde geworden. No sex, Sir!« Der FBI-Deputy stellte sich eine blonde Gwendolyn mit einem breiten Lachen aus rotem Mund mit blendend weißen Zähnen vor und bereute, dass er weder zur verschworenen MacGemeinschaft gehörte noch mit Rollschuhlaufen imponieren konnte. »Mmm«, machte er unverbindlich. »Also, Gwen, am Tag seiner Ermordung, haben Sie da Howard noch gesehen?« Ihre Stimme nahm einen dunklen Klang an. »Ja, Sir. Er hatte eine Besprechung auswärts und hatte diesen Umschlag auf dem 360
Schreibtisch liegen gelassen. Genauer gesagt, eine Zeitung lag darüber, aber die gelbe Farbe stach mir ins Auge.« »Was haben Sie gemacht?« »Nun, ich habe reingeguckt, gleich den farbigen Reiter bemerkt. Hellgrün, für Sachen der Nachrichtenabteilung.« »Und dann?« »Nun … äh … soll ich es Ihnen erklären? Haben Sie Zeit für einen Kaffee?« Bill Bakers Geistesgegenwart ließ ihn bei Frauen im entscheidenden Moment meistens im Stich. Auch jetzt. Kaffeetrinken? Dazu hatte der Deputy Director des FBI nun wirklich keine Zeit! »Ja, bitte, was haben Sie dann gemacht?«, sagte er geschäftsmäßig, und prompt hatte Ms. Gates Stimme den erfrischenden Unterton von Frivolität verloren. »Ich hab das Aktenstück kopiert und in die Ablage gelegt. Howard wusste vermutlich nicht, dass Dossiers, die man außer Haus gibt, eben registriert und kopiert werden müssen. Für das ist unsereiner verantwortlich.« »Aha! Und hat Mister Young davon gewusst? Was hat er gesagt, wo er mit dem Dossier hinging?« »Leider habe ich ihn dann nicht mehr gesehen.« Einen Moment blieb es still in der Leitung. Baker schien, als schnäuze sich die junge Frau. »Also wusste er nicht, dass Sie das Aktenstück gesehen und ihn vor einem Fehler bewahrt haben?« »Nein«, verneinte sie mit festerer Stimme. »Ich hatte woanders zu tun, und plötzlich war Howard weg. Wollen Sie das Dossier?« Baker zog den Atem ein. Warum hatte er nicht gleich daran gedacht? Zum Kaffee? Klar. Sie musste hübsch sein, diese Gwen. 361
Als er nicht gleich antwortete, sagte sie: »Ich lasse es rüberschicken. Dauert nicht lange.« Baker verfiel ins Stammeln. »Gut … äh … ja, und wir bleiben im Kontakt.« »Sie sprechen dann am besten mit meinem Chef«, sagte sie kühl. Offenbar wollte die Gute nichts mehr von ihm wissen. Chance verpasst! Draußen über der Pennsylvania Avenue verdeckte eine gute halbe Stunde später eine Schönwetterwolke die Sonne. Der Schatten, den das grazile Segelbootmodell vom Tisch auf die Nachrichtenblätter des CBP geworfen hatte, verblasste. Desto kräftiger, ja geradezu markant leuchteten dafür die arabischen Namen vom Papier auf. Baker las noch mal alles sorgfältig durch, checkte die einschlägige 9/11-Datenbank, stand auf und rief mit der sicheren Verbindung des speziellen Festnetztelefons seinen bewährten Freund vieler Jahre an – zurzeit die einzige Person im Bienenstock Washington, mit dem er sich über die Dienstprotokollvorschriften hinweg über alles unterhalten konnte. »Es sind die Namen der Flugzeugentführer von American Airlines 11 und der Boeing 767, die in den Südturm raste. Howard hatte diese Information herausgeschmuggelt und zu seinem Treffen im Wald in Maryland mitgenommen.« »Wahnsinn – dann war er ganz nahe dran«, sagte Ken Cooper. »Er hat sich vertrauensvoll an Bronx gewandt, aber warum Bronx?« »Weiß nicht, angenommen, es war Bronx, den er traf, und Bronx hat Howard Young umgebracht, als er begriff, was der CBP-Agent entdeckt hatte … dann …« Baker spürte durch die Leitung, wie der Schlag dieser Information Cooper traf. Er goss rasch mehr Treibstoff nach. »… dann wäre Bronx in der Planung von 9/11 involviert gewesen. Deine CIA, Ken!« 362
»Es waren die Selbstmordpiloten.« »Ich weiß, Ken. Was machen wir?« »Angenommen, dein Verdacht stimmt«, sagte Cooper in ruhigem Ton, »wäre Bronx ein Doppelagent der AQ. Beweisen können wir trotzdem nichts.« Baker hatte lange genug in trüben Wassern gefischt, um zu merken, wenn was am Köder nibbelte. »Da ist noch eine Spur, der ich bisher nicht nachgegangen bin.« »Komm schon, lass die Katze aus dem Sack!« »Ein Hacker hat uns knapp vor 9/11 Informationen geschickt, die sich nachträglich als höchst relevant, um nicht zu sagen brisant erwiesen haben. Er hat E-Mails abgefangen. Wir können herausfinden, wen er gehackt hat. Das bringt uns vielleicht weiter.« Coopers Stimme barst geradezu vor Ungeduld. »Name? Hast du einen Namen?« »Ben Heller. Er hat uns die Daten per FedEx zukommen lassen, wahrscheinlich, um sich abzusichern. Ich habe seine Adresse. Und – halt dich fest, Ken!« Trotz der prickelnden Neugier zog Cooper es vor, stumm – allerdings prägnant stumm – zu bleiben, während Baker weiterschaufelte. »Wir konnten anhand seiner genauen Daten den Computer eruieren, den er zum Hacking benutzt hat. Er gehört einer gewissen Leslie Palmer, Marinenachrichtendienst.« »Spannend … Palmer …« »Finde ich auch«, stimmte Baker zu und fasste in derselben Sekunde seinen Entschluss. Coopers Ton verriet Baker, dass sie beide nun endlich von der gleichen Notenseite sangen. »Gut, hör mal, Bill, am besten treffen wir uns. Morgen in Manhattan, gegen zehn? Ich habe sowieso noch in New York zu tun. Kannst du dir vorstellen, dass es verdammt schwieriger ist, 363
eine dienststellenübergreifende CTU aufzubauen, als den Präsidenten zum Dinner mit Fidel Castro einzuladen? Unglaublich, diese Rivalitäten. Also, bis morgen!« Baker wollte schon auflegen, als Coopers Stimme ihm noch mal ins Ohr schallte. »Bill? Wir lassen den Mossad ran. Avi Leumi scheint noch eine Rechnung mit diesem Bronx offen zu haben. Kommt mir zupass. Mal andersrum. Soll der sich doch die Finger verbrennen.« Er lachte auf, dann war die Leitung tot. Bill Baker dachte nicht daran. Er ließ Leslie Palmer noch in der gleichen Stunde dringend zur Fahndung ausschreiben. Soll sie erklären, warum sie abgetaucht ist, weshalb sie im Server des Marinenachrichtendienstes herumschnüffelt, aus welchem Grund sie einem notorischen Hacker ihre Plattform für heiklen Datenaustausch zur Verfügung stellt, warum sie diesen CIABronx trifft. Baker war überzeugt, richtig zu handeln. Zum Teufel mit seinen Befürchtungen, eine möglich CIA-Agentin zu enttarnen … Was scherten ihn die hinterhältigen CoverupSpezialisten von Langley … Ihm entfuhr ein Seufzer der Genugtuung. Schon am nächsten Morgen würden alle Polizei- und Grenzschutzstellen landesweit das FBI-All-Points-Bulletin mit dem Bild der verdächtigen Ms. Palmer auf ihren Bildschirmen beäugen können! Wäre ja noch schöner – ’nem alten Hasen wie ihm die Strickwolle über die Augen ziehen zu wollen! Verdammt noch mal, Gwendolyn Gates, so wie ich drauf bin, hättest du noch als Oma vor deinen Enkelkindern über die Kaffeepause mit mir geprahlt!
89 »Spike, wir haben ein Problem.« Es blieb still im Äther. 364
»Spike, die Frau muss dringend nach Amerika«, drängte Leslie genervt. »Ärztliche Hilfe. Spezialbehandlung.« Immer noch keine Antwort. »Spike, es ist ernst. Mit den Linienflügen schaffe ich … schaffen wir es nicht. Spike, fliegst du uns hin, können deine Piloten mich … Spike … Ich …« »Leslie. Ich glaube dir kein Wort«, hörte sie endlich seine besonnene Stimme. »In Europa gibt es ein Haufen ausgezeichneter Spezialisten. Gerade Zürich hat den besten Ruf in der Spitzenmedizin. Aber du hörst dich verzweifelt an – ehrlich verzweifelt. Mir ist egal, was der Grund ist. Hat es mit deinem Verschwinden nach 9/11 zu tun? Egal. Ich spüre deine Not. Gib mir den Piloten.« »Er will Sie sprechen«, stammelte Leslie zum Captain, auf die Kopfhörer deutend. Dieser hörte Spike konzentriert zu, schaute ein paar Mal kurz auf Leslie. Nickte. »Gut, ich sag es ihr. Gute Nacht, Sir. Over.« Sie landeten in Düsseldorf zum Auftanken. Lange nach Mitternacht hob der Jet nach New York Teterboro ab. Als der Copilot Leslie Palmer im brandneuen luxuriösen Privatjet einen trockenen Wodka Martini, in der eine fingerdicke Kaper schwamm, servierte, während unter ihnen die Lichter der englischen Kanalküste durch die klare Nacht empor schimmerten, schlug im Living Room im zweiten Stock des Weißen Hauses die alte golden glänzende Standuhr, die schon Lincoln die Stunden geschlagen hatte – zehn Mal in hellen Tönen. »Du bist auch viel ernsthafter geworden. Früher warst du immer ein lustiger Mensch«, begann Sarah Crawford, First Lady der Vereinigten Staaten, zaghaft das Gespräch, mit der Gabel in der Pastete stochernd. »Du solltest nicht immer Arbeit nach Hause nehmen. Kein Wunder, du bist erschöpft.« 365
Der Etagenkoch hatte nebenan im privaten Esszimmer noch ein einfaches Abendessen aus Suppe, Gemüseterrine und Red Snapper Filets zubereitet. Der Präsident kaute langsam an einem Stück Brot, blieb stumm. Sarah setzte versöhnlich nach. »Wollen wir uns nachher das Baseballspiel ansehen?« »Spielen die schon wieder in New York? Die Körper unserer 9/11-Helden und -Märtyrer sind knapp in der Erde …« »Ich nehme an, das Leben geht weiter«, meinte seine Gattin mit einem aufmunternden Lächeln. »Mmm. Hab wirklich keine Lust dazu, der Match ist ohnehin fast zu Ende. Hast du schon Pläne für den Geburtstag der Mädchen?« Bei diesen Worten schaute er sie prüfend an. Den 15. November hatte er sich strikt frei gehalten – war jetzt auf ihre Reaktion gespannt. »Warum fragst du? Ist doch noch zu früh, sich darüber Gedanken zu machen.« »November kommt schnell. Ziemlich viel wird los sein. Putin kommt nach Washington, Chirac besucht Ground Zero. Die Blairs, warte mal, ja, mit ihnen könnten wir auf die Ranch. Oder besser mit Putin. Der liebt es in der Gegend herumzuballern – aus seiner aktiven Zeit. Was meinst du?« »Hey, ich bin nicht deine Beraterin, sondern deine Ehefrau. Und mein Geburtstag? Wir könnten wieder Mal zusammen allein sein und wandern gehen. Übrigens, ich werde den Chef Patissier entlassen.« »Warum?«, fragte er bestürzt. »Magst du seine Geburtstagstorten nicht?« Er lachte gekünstelt und dachte an Bill Baker, der ihm den Wurm ins Ohr gesetzt hatte, dass mit
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Sarah etwas nicht stimmte. Begann sie auszurasten, Personal zu feuern? »Ach, nein, ich mag den Franzosen nicht. Er jammert ständig über die schäbige Bezahlung und … er ist arrogant.« »Aha, und hast du daran gedacht, dass meine Mutter zu Besuch kommt? Sie hält große Stücke auf den Chef.« »Ich sehe den Zusammenhang nicht. Sag nicht, sie kommt an meinem Geburtstag wie letztes Jahr. Das fehlte gerade noch! Zudem entscheide ich, nicht sie.« Geziert betupfte sie den Mund mit der weißen Serviette. Gutes Gedächtnis für familiäre Dispute, sinnierte er leicht pikiert. »Ich meinte nur, in deinem Zustand, du weißt, wir haben darüber ja gesprochen.« Worüber haben sie denn gesprochen, überlegte die First Lady. »Ja, ich weiß, das war vor ein paar Tagen«, gab sie schroff zurück. »Mir geht es gut. Ich brauche keine Seelentrösterin.« Sie schob den Teller weg, stand abrupt auf. »Ich gehe duschen. Komm doch auch!« Letzteres sagte sie mit einer gewissen Zweideutigkeit in der Stimme, die dem Präsident völlig entging. Baker hat Recht, dachte er. Sie hat sich verändert. Er wollte sie nach der Therapie fragen, aber da war sie schon im großen Schlafzimmer verschwunden. Wollte sie wieder das Bett mit ihm teilen? Unbehagen machte sich in ihm breit. Er schritt unschlüssig in den Living Room hinüber und sank in den bequemen Ohrensessel vor dem Fernseher. Eine Nachrichtensendung lief eintönig über den enormen neuen Flachbildschirm. Er schloss die Augen, döste rasch weg. Als er nach einer Weile aufschreckte und sich umschaute, stand sie splitternackt vor ihm. Die breiten Hüften, die schön geformten Beine mit den kräftigen Oberschenkeln, ein vertrautes Bild. Was zum Teufel hatte Bill Baker gemeint? Sie 367
strich sich mit der flachen Hand über den Bauch mit der blassen Kaiserschnittnarbe. »Weißt du überhaupt noch, wie ich aussehe?«, fragte sie anzüglich, drehte sich keck um, tänzelte wippend ins Schlafzimmer zurück. »Hast du Bescheid über deine Blutwerte erhalten?«, rief sie aus dem Bad. »Hab ich«, gab er zurück und staunte, dass sie sich daran erinnerte. »Bilderbuch-Blutdruck, Cholesterin wieder normal.« Er stand auf und beschloss, am Morgen Baker anzurufen. Der Kerl sah Gespenster. Er schlich auf Zehenspitzen ins eheliche Schlafzimmer. Das Telefon summte – der Verteidigungsminister. »Fündig geworden, Ron? Und wie geht’s deiner Liebsten?«, fragte der Präsident und setzte sich auf die Bettkante. Ein Fuß spielte mit dem Slipper aus beige Seidentuch – hob ihn an, ließ ihn rotieren, dann fallen. Durch die weit offene Tür des großen Badezimmers schaute er der First Lady der Nation zu, seiner kampferprobten Ehefrau und Partnerin. Völlig entkleidet, war Sarah dabei, sich auf das Ritual der Paarung mit dem mächtigsten Mann der Welt vorzubereiten … »Prächtig, prächtig«, dröhnte der Secretary of Defense. »Ich wollte nur berichten, wir haben eventuell den Schweinehund ausfindig gemacht.« »Endlich eine gute Nachricht. Sonst noch was?« »Ja. Die CIA hat Zielkoordinaten.« »Warum immer die CIA, Ron?« Der mächtigste Ehemann der Welt schob den rechten großen Zeh in den linken Pantoffel, hob ihn vorsichtig an. Im Badezimmer hatte Sarah sich geschickt so vor dem breiten Handbecken aus rosa Marmor postiert, dass nur ungefähr ein Drittel ihres Beckens durch die Tür sichtbar war. 368
»Wir sind nahe dran, Mister President. Die Trägergruppe hat die geheimen Zieldaten. Wenn Sie den Befehl geben, bomben wir sie aus!« Der Slipper rutschte weg. »Sie waren schon immer ein sonniger Bursche mit optimistischen Prognosen, Ron. Wo liegen unsere Dampfer?« Der Präsident, nun mit beiden Füßen nach dem Slipper angelnd, hatte Mühe zu hören, was der Secretary antwortete. Inzwischen hatte die First Lady schon etwas mehr von ihrem immer noch wohlgeformten Hintern seinen Blicken preisgegeben. »Gut. Bekannt, Ron. Kommen Sie zum Frühstück. Ich will die genauen Einzelheiten.« Des Präsidenten Stimme hatte jetzt einen stählern autoritären Klang, der allerdings teilweise gespielt war, denn Sarah war gerade in die geräumige, rosa gekachelte Duschecke getreten, ohne die milchgläserne Tür hinter sich zu schließen. Jetzt drehte sie versuchsweise das Wasser an, fand schließlich die angenehmste Temperatur und begann sich einzuseifen. Beim Paarungsritual des Ersten Paares der Nation war dies eigentlich das Zeichen für ihn, sich zu ihr zu gesellen. »Dick hat heute Mitternacht ein Briefing anberaumt«, drang des Verteidigungsministers Stimme ins eheliche Gemach, gefolgt von einem Rauschen, als schlüge das Meer an den wolkenbeschatteten Strand von Oman. »Ich komme noch rüber. Vielleicht sehen wir uns im Situation Room. Habe eben mit dem Kommandanten der Trägerflotte 8 im Golf gesprochen.« »Verdammt«, zischte der Präsident und knöpfte seine Hose wieder zu. »Okay, Ron, ich rufe gleich zurück.« Die widerspenstigen Slipper unwirsch zur Seite kickend, erhob er sich. Noch im Gehen schnallte er den Gürtel enger, eilte in den Treaty Room zurück. »Wo bist du, Liebling«, hörte er seine Frau locken. 369
»Kommst du endlich?« Aber er war schon auf den Flur und rückwärts zum Lift getreten. »Später, Honey, gib mir zehn Minuten«, rief er, sie ihrem Schicksal überlassend – war ehrlich gesagt im Innersten froh darüber. Als er im Lift nach unten fuhr, legte Sarah ihr Handy auf den Nachttisch, überlegte, wo Leslie Palmer sich in diesem Augenblick befinden könnte. Dann holte sie seufzend den Vibrator aus dem Badezimmerschrank und legte ihn neben das Telefon. Welches Gerät wohl in dieser Nacht zuerst vibriert?, fragte sie sich belustigt. Mit der Rechten versonnen den Lustkopf des Vibrators kosend, glitt Sarahs Linke, obschon etwas zerstreut, über ihre nach Lavendel duftenden Schenkel … aber es gelang ihr einfach nicht, richtig in Stimmung zu kommen. Sie zog das leichte Daunendeckbett bis über die Brüste hoch und blickte zur blendend weißen Decke empor … … die weiße Tasche kam ihr in den Sinn. Sie blinzelte in Richtung des Ankleideraums, wo das Prachtstück vermutlich achtlos am Boden lag, war aber zu bequem, sich darum zu kümmern. Nur ein paar Stunden später – in Afghanistan stand die Sonne bereits im Zenit – schlugen einundzwanzig von der USS Gonzales abgefeuerte Tomahawk-Marschflugkörper mit bunkerbrechenden Sprengköpfen im Tora-Bora-Massiv ein, zertrümmerten mit furchtbarer Wucht das ausgeklügelte Labyrinth der unterirdischen Anlage. Der halbe Berg fuhr donnernd ins Tal nieder – doch der Kopf, den die Tomahawks spalten sollten, war bereits in die Sicherheit des weiten Landes entwichen. Al-Zahiri, Bassan und ihr verehrter Führer Osama waren zu diesem Zeitpunkt über alle Berge, auf dem Weg in den sicheren HQ B, neunzig Kilometer im Südosten. Den Fotoreporter Quinn 370
hatten die Saudis aus kühlem Kalkül in ihr neues Hauptquartier mitgenommen. Nicht etwa weil der langbärtige Anführer Bedauern mit dem Amerikaner gehabt hätte – keineswegs. Doch auf der Waagschale des Verhandlungspokers, wenn es um den Austausch von Gefangenen ging, konnte ein Yankee wie Quinn sein Gewicht in Gold wert sein …
90 Leslie Palmer saß allein im funkelnagelneuen Flugzeug. Eine Gulfstream, ein hübsches Ding, innen ganz Mahagoni, Leder und Kristall. Sie lehnte sich im breiten multifunktionalen Sessel bequem zurück, legte ihre Beine auf das weiche, gegenüberliegende Polster, hielt die Anleitung des Bordtelefons in der Hand. Paul Engl, der zweite Offizier, hatte ihr einen Gin Tonic auf das spiegelblank polierte Edelholztischchen gestellt und sie über die voraussichtliche Ankunftszeit in Teterboro informiert. Leslie spähte durch das Kabinenfenster in den Nachthimmel – kein Sternenfunkeln sah das Auge, nur Schwärze, auch dort, wo sie Land vermutete, einzig das Positionslicht der Maschine warf einen regelmäßigen, ein sicheres Gefühl vermittelnden Lichtblitz in die Finsternis irgendwo über dem Nordwesten Europas. Teterboro, so um 1919 von Mister Walter C. Teter eingeweiht, war der älteste Flughafen im Raum New Yorks und diente seither der Privatfliegerei, General Aviation. Spike hatte seine Gulfstream, wie Paul berichtete, in Bermuda registriert. So stand die schnittige Maschine in ihrem Hangarplatz in Teterboro für allerart Aufträge jederzeit bereit. Auf diesem Flug lag die gekidnappte Amira im Heck auf einer Liege festgeschnallt, so dass Leslie, wenn sie sich aufrichtete, ihre Geisel im Blickfeld hatte. Der Steward breitete gerade mit 371
grimmiger Miene eine Decke über die Frau, bettete ihren Kopf nicht gerade sanft auf ein Kissen. Mit einer Hand führte Leslie das Glas an die Lippen, nippte am Drink und tippte mit dem Zeigefinger sorgfältig die Nummer in die Tastatur des schmalen Handgeräts. Es summte drei Mal. »Hallo?« »Sarah! Ich bin’s Leslie!« »Oh, hi! Gut, dass du anrufst. Alles gut gelaufen?« Leslie gab ihr in knappen Worten – sie wolle nicht zu lange in der Leitung bleiben – einen möglichst präzisen Situationsbericht, informierte über Flugnummer und Ankunftszeit, senkte dann die Stimme. »Hast du alles notiert? … Gut. Bitte hör gut zu, Sarah. Es geht um diese Amira. Ich brauche deine Hilfe. Ich will keine Schwierigkeiten bei der Einreise, verstehst du? … Okay, Ich gebe dir ihre Passdaten durch. Bereit?« Leslie hielt den aufgeschlagenen Pass mit dem Gin-Glas auf der Stelle. »Sie heißt Amira al Raisi, so steht es auch auf der Greencard, ich buchstabiere …« »Sie hat eine Greencard?« »Ja, vermutlich schon ungültig. Ihr Ehemann war Amerikaner. Sie hat auch einen Pass, ausgestellt in Duschanbe, am … warte …« Nachdem sie zur Kontrolle alles wiederholt hatte, sagte Sarah: »Keine Sorge, Leslie, ich veranlasse, dass dich jemand vom Grenzschutz empfängt. Wer macht das Handling der Maschine?« »Handling?« »Die Abfertigung.«
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Der Copilot stand in der Bordküche und hantierte mit einem Serviertablett. Sie winkte ihn zu sich. »Morgen um zwölf, Sarah, steht der Termin noch?« »Wie es aussieht, gehen wir nach Manhattan zum Medal Day in der City Hall …« »Sekunde, Sarah.« Leslie flüsterte Paul Engl die Frage nach der Abfertigung ins Ohr, als er sich über den Tisch beugte und den Räucherlachsteller hinüberreichte. »Jet Aviation«, antwortete er und zog sich diskret zurück. »Leslie? Ich hab’s gehört. Wie kommst du in die City?« »Pass auf, Sarah, City Hall Plaza hast du gesagt … der Medal Day hat doch im Sommer stattgefunden?« »Keine Ahnung, es ist, warte … äh … ein Memorial Service. Mein Mann soll eine Gedenkrede halten. Wolltest du mir noch was sagen?« Leslie stand für Sekundenbruchteile das Herz still. Sie rang nach Atem. City Hall. Sollte sie wirklich dort die ruchlose Tat vollbringen? »Leslie, ist alles okay?« »Wie bitte? Was meinst du …?« Die weiße Fendi-Tasche! Das Erkennungszeichen für Bronx. Leslie überlegte fieberhaft, ob sie Sarah warnen sollte, die Tasche auf jeden Fall zu tragen. »Sarah, ich … äh … muss meinen Weg gehen«, wich sie aus. »Was ist dein Plan, brauchst du Hilfe?« Leslie richtete sich auf, zu Amira spähend antwortete sie leise: »Nein … doch, halte dicht. Der Secret Service oder die Polizei, sie dürfen nichts über meine Söhne erfahren, die ganze Sache muss total unter uns bleiben …«
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»Keine Sorge. Ruf mich an, wenn du mich brauchst – ich habe Macht, kann einiges bewegen. Zusammen haben wir ganz schön Schlagkraft.« Leslie beendete das Gespräch mit einem Seufzer der Erleichterung. Ein Stein war ihr vom Herzen gefallen. Hätte gerade noch gefehlt, wenn Polizei und Geheimdienste eingefahren wären … Sie rechnete den Zeitplan durch. Morgen um zwölf Uhr lief das Ultimatum ab. Sie war entschlossen, den Job zu erledigen. City Hall! Ihre Söhne würde sie nicht enttäuschen. Nie und nimmer. Lieber sterben, als sie im Stich lassen! Bronx wird sich wundern, was Leslie Palmer fertig bringt. Sie kaute am Lachs, erklärte sich mit dem zurückgekommenen kanadischen Steward völlig d’accord, dass zu den BärlauchRavioli und den darauf folgenden Scaloppini al Limone ein kalifornischer Merlot die harmonische Abrundung ausmache. Nach der Mousse au Chocolat nahm Unterstaatsanwalt Chuck Browne sogleich ab, als hätte er auf den Anruf gewartet. »Leslie Palmer hier, erinnern Sie sich an mich?« Sekundenlang blieb die Leitung still. Wird er auflegen? »Palmer …«, drängte sie, »rufe aus dem Flugzeug an …« »Natürlich, ja, leider war der Anlass unserer Begegnung sehr traurig. Kann ich etwas für Sie tun? Bin eben gerade zur Tür hereingekommen.« In Manhattan war die Nacht noch jung. »Sie hatten doch diese Lederjacke getragen, damals in Vaters Haus, mit dieser Aufschrift … Pleasure … und noch was … fahren Sie Motorrad?« »Ja, wieso?« »Kennen Sie einen Arzt namens Nassim? Er arbeitet im …« »Kenn ich gut, ein Clubkamerad. Der mit dem kaputten Bein. Er gehört zu uns Pleasure Cruise Riders.« 374
Leslie verschluckte sich vor Aufregung, trank hastig Wasser, atmete durch. »Ich möchte ihn … könnte er mich anrufen …?« Chuck Browne räusperte sich. Aber Leslie war schneller: »Nein, noch besser«, sagte sie. »Ich muss ihn unbedingt treffen, morgen früh …« Sie hätte sich ohrfeigen können, wie sie unkontrolliert daher schwafelte. Dem Unterstaatsanwalt war die Dringlichkeit in ihrer Stimme nicht entgangen. »Wo landen Sie, Ms. Palmer? Wenn Sie wollen, hole ich Sie ab – wenn nötig mit Blaulicht. Bin immer noch Unterstaatsanwalt.« Sie konnte ihn förmlich grinsen sehen. »Und Nassim, den hol ich für Sie aus den Federn. Was soll ich ihm sagen?« »Sagen Sie bloß, ich sei die Frau, die er am 11. September auf seiner Honda in Sicherheit gebracht hat. Wird schon begreifen … Und noch etwas, Chuck …« Der Einfall war ihr wie aus dem Firmament in den Schoß gepurzelt. »Ja?« »Einen großen Wagen? Geht das? Und möglichst viele Leute auf Motorrädern, ihre Pleasure Riders …?« Sie hielt den Atem an, als erwarte sie ein Sperrfeuer von kritischen Fragen. Aber Chuck Browne fasste sich kurz. »Sie haben’s!« Völlig erleichtert gab sie ihm die genauen Angaben über die Landung von Mr. Steinbergs Gulfstream VA-SPK in Teterboro durch. Wenig später geleitete sie der Steward in die Schlafkabine, reichte ihr einen lila Bademantel mit Spikes Initialen. Das heiße Wasser aus der kräftigen Dusche auf rund zwanzigtausend Fuß Flughöhe ließ sie abwechselnd erschauern und nach Atem japsen, so herrlich prickelte ihr Körper. Sie fühlte eine seltsame Woge der Erregung in sich emporsteigen. Ihr standen in den nächsten Stunden unglaubliche Dinge bevor – es ging um Triumph oder Niederlage. Sie war erregt, fühlte sich plötzlich fast schmerzhaft lebendig. Noch nie hatte sie in einer Situation 375
von Stress eine so unwiderstehliche sexuelle Lust empfunden – ganz als ob es das letzte Mal wäre, dass ihr höchster Genuss beschieden würde. Sie trocknete sich ab, schlang den Bademantel um die Schulter und legte sich auf das Bett. Nachdem sie das Licht abgedämmert hatte, schloss sie die Augen und begann sich zu berühren, sanft, härter, mit Bildern lustvollster Momente vor Augen … Ben … und als sie an ihn dachte, seine Worte hörte, seine Umarmungen fühlte, wuchs ihre Erregung, wuchs immer süßer, dann – ihre Hände waren jetzt überall – explodierte der Vulkan in ihr. Ein kleiner, spitzer Schrei, dann lag sie wimmernd da, die Knie hoch angezogen – wie ein Baby. Um ein Haar hätte sie noch den Daumen in den Mund geschoben, war schon eingeschlafen, bevor sie sich erinnerte, dass sie Jennifer anrufen wollte, dass sie keine Chance hatte, dass … alles einfach … nie … wieder …
91 Der grollende Himmel über Afghanistan rettete Fotoreporter Steve Quinns geschundene Haut und Seele. Die sich mühsam die Bergstraße entlang schlängelnde Kolonne war gegen Abend in den heftigen Sturm geraten, der orkanartig über die garstige Ebene am Ende der Schlucht fegte. Die Fahrzeuge drohten im Sand zu versinken. Der Kolonnenchef befahl Halt, alle Hände waren plötzlich gefragt. Böen rissen Wagenplanen weg. Kaum erkennbare vermummte Gesichter und Körper stemmten sich gegen den peitschenden Sturm. Gepäckstücke und Munitionskisten drohten weg zu fliegen. Das Flussbett hatte Quinn noch durch eine Ritze in der Plane ausgemacht, bevor die dichte beißende dunkle Sturmwand jede Sicht verhüllte.
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Ein paar Hütten, oder was davon übrig geblieben war, gewährten prekären Schutz. Die Laster manövrierten mühsam in die zerschossenen, abgebrannten Ruinen. Ein Geisterdorf. Irgendwo musste eine umkämpfte Brücke gelegen haben, überlegte Quinn taktisch folgerichtig. Salim stand plötzlich neben ihm. Sich an der Ladebrücke festklammernd, schrie er: »Da unten liegt die Furt!« »Was geht da vor?«, schrie Quinn zurück. »Marschhalt! Ladung sichern! Dort, das Seil, fass!« Sie mühten sich ab. Plötzlich war Salim außer Sicht. Quinn verlor den Halt, als er nach einem Benzinkanister angelte. Oder hatte er den Griff absichtlich verloren? Der Sturm packte ihn, stieß ihn über den harten Grund, Quinn suchte Stand, ruderte mit den Armen, die Windstöße folgten dicht aufeinander. Das weite Gewand fasste den Wind wie ein volles Segel. Plötzlich sah Quinn nichts mehr. Keine Wagen. Keine schwarzen Mauern oder Umrisse von schräg ankämpfenden Gestalten. Er ließ sich vom Wind tragen, strauchelte, fing sich auf und landete plötzlich in nassem Kies. Wasser. Der Fluss. Die Furt. Er kämpfte sich hoch, kauerte im Schutze eines plattenförmigen Steins nieder. Die Orientierung hatte er längst verloren. Zurück? Wohin? Dieser Flusslauf war gute Nachricht. Wasser fließt abwärts, ins Meer. Also nix wie los, dem Wasser folgen! Gegen den Stein gelehnt, spähte er auf und ab. Die Strömung trieb nur schwach. Dann entschied Quinn doch, gegen den Strom zu laufen. Wenn sie ihn suchten, dann sicher flussabwärts. Langsam, geduckt, pirschte er den Rand des steinigen Flussbetts hinauf. Sein Entscheid musste gut sein. Der Wind blies ihm kameradschaftlich in den Rücken, trieb ihn vorwärts … Er stapfte in die Nacht hinein, immer aufwärts, watete, kletterte, schürfte sich, tastete nach Halt, immer weiter. Stunden waren verstrichen. Seine Uhr hatten sie ihm sowieso längst 377
abgeknöpft. Erschöpft legte er sich schließlich nieder. Jetzt lag er neben einem Felsbrocken auf einem topfebenen Stück Boden über dem rauschenden Wasser. Allein und verloren! Zu Tode erschöpft. Als er erwachte, blinzelte er in ein halbes Dutzend Gewehrläufe. Die Männer, die über die Gewehrläufe hinweg auf ihn nieder schauten, trugen die traditionelle Kleidung der Gotteskrieger: weite Hosen, lange Wolljacken, Lederkappen, Stiefel. Die bärtigen Gesichter blickten grimmig drein. Einer versetzte ihm einen Tritt, fragte auf Arabisch, wer er sei. Taliban! Ließ ihn die Pechsträhne denn nie los? Er sagte nichts. Was machte es jetzt noch für einen Sinn? Die Männer steckten die Köpfe zusammen, murmelten. Die Blicke, die sie ihm zuwarfen, verhießen nichts Gutes. »Bringt ihn auf den Wagen. Gebt ihm Wasser«, befahl einer, plötzlich im reinsten Tonfall eines New York City Cops. Quinn richtete sich überrascht auf. »Ich bin Amerikaner«, stieß er hervor, »auf der Flucht …« Die Männer betrachteten ihn misstrauisch, die Waffen schussbereit im Anschlag. Ihre Blicke schweiften über seinen langen Bart, das graue Gewand, die weite Jacke. »Wo kommst du her?« »Steve Quinn, Fotoreporter beim New Yorker Magazin, bin geflohen. Sie müssen sofort das Hauptquartier warnen.« »Wovon sabbelst du, Mann?« Dass diese wilden Krieger in Wirklichkeit eine Einheit der US Special Forces bildeten, war höchstens ihrer Sprache anzumerken. Sie führten ihn zu einem Schweizer Militärgeländefahrzeug in sandbraunen Farben mit langer Ladebrücke. Der Chef des Sonderkommandos war Major Brad Freelander. Er studierte eine mit Plastikfolie verklebte Landkarte.
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»Wir müssen alles abchecken, Sir. Wo am Fluss, sagten Sie, hat der Konvoi Marschhalt gemacht?« Quinn schüttelte den Kopf. Er hatte nicht den Dunst einer Ahnung, wo sie aufgebrochen waren, welche Route sie zum Fluss geführt hatte. »Ich saß hinten im finsteren Truck, bis der Sturm losbrach.« Einer der Soldaten prüfte ein GPS-Gerät. »Geben Sie die Meldung mit Ihrem Satellitentelefon durch, Major«, insistierte Quinn. »Der Verräter heißt Bronx. Ein Amerikaner. Ich habe seine SMS mit eigenen Augen gesehen.« »Das soll ich durchgeben? Was stand in der Message?« »Verschleierter Hinweis auf den Angriff auf die Festung.« »Mmm, ein Amerikaner, sind Sie sicher?« Die Vorstellung eines Verräters aus den eigenen Reihen ging dem Major sichtbar gegen den Strich. Quinn nickte. Allmählich verlor er die Geduld. »Natürlich, und jetzt bringen Sie mich bitte so rasch wie möglich in Sicherheit. Ich muss nach New York zurück.« Die zwei Soldaten, die auf der Sitzbank mit einem Blechlöffel Fleisch aus einer Konservendose schaufelten, grinsten durch ihre Talibanbärte. »New York, würde mir auch gerade in den Kram passen …« »Hören Sie«, entschied der Major, »wir haben unsere Procedures. Sie müssen zunächst mal zum Debriefing auf den Stützpunkt. Die Abwehrspezialisten vom Army-Geheimdienst DIA werden Sie in die Mangel nehmen. Wir sind nicht zuständig für Ihre Story. Uns interessieren Ziele, Sir, verstanden? Wenn Sie uns wenigstens sagen könnten, wo die Fahrzeugkolonne ungefähr stecken geblieben ist? Wie lange sind Sie von dort den Fluss hoch marschiert?« Quinn zuckte resigniert die Achseln. Der Major ließ die Luft ab wie ein pfeifendes Sicherheitsventil. »Keinen blassen Dunst,
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was? Sonderbar!« Frustriert warf er die Karte auf die hart gepolsterte Sitzbank. Quinn spähte unter der Plane hervor skeptisch zum schwarz verhängten Himmel hoch. »Kein Flugwetter, Major. Ihre Air Force kann ohnehin nichts ausrichten. Aber mit diesem Telefon kommen Sie nach Washington durch. Warum tun Sie nichts?« »Operating Procedures, Sir. Wir haben einen Kampfauftrag. Das SatPhone ist strikt für Flugeinsätze reserviert – für Zielrahmung, nicht zum Kaffeeklatsch. Tut mir leid.« »Aber hier liegt eine Ausnahmesituation vor, Major«, bohrte Quinn verzweifelt weiter. »Dieser Bronx verrät den Terroristen die Angriffsziele, die Koordinaten der Bombenangriffe …« »Scheint mir sehr fragwürdig, Mann, was Sie mir da auftischen. Aber wie gesagt, auf dem Stützpunkt, die Typen von der Army Intelligence, die werden schon wissen, was mit Ihnen anzufangen ist. Wir haben schon genug am Hals, Sie bloß lebend da hinzukriegen, glauben Sie mir.« Er rief seine Männer zusammen – über eine Karte gebeugt besprachen sie das Vorgehen. Ein paar Minuten später rumpelten die zwei Geländewagen auf die Dreckpiste zurück, verloren sich rasch im blassen Blaugrau der vom Sturm gereinigten Ebene.
92 Rick Bronx’ missmutige Miene verhieß den Männern im Raum, die sich zu einem dringend einberufenen Briefing eingefunden hatten, nichts Gutes. Dunklen, schweren Auges starrte der Boss sie an, als wüsste er nicht recht, was mit ihnen anzufangen. Weil die Stahljalousien des als Public Storage getarnten Sonderstützpunkts am Wasser das Tageslicht hermetisch 380
ausschlossen, brannten die Neonröhren und ließen die Gesichter der Befehlsempfänger fahl und verzerrt erscheinen. Scheich Khalid hatte wie ein inspizierender General in der Ecke Aufstellung genommen, nur dass ihn außer Befehlsgewalt rein gar nichts mit einem militärischen Führer verband. Khalid lebte im Rollstuhl – die Beine unter einer tief hängenden, verschlissenen Pferdedecke, machte er einen ramponierten Eindruck. Die New-York-Bullen hätten ihn vor Jahren zum Krüppel geschossen, erzählte er. Bronx glaubte ihm höchstens die Hälfte seiner Story, wenn überhaupt. Sie hätten an einem Wintermorgen eine Bank in Queens ausgenommen. Kurz vor Schalteröffnung hätten sie einem völlig verdatterten Clerk am Hintereingang die Schlüssel abgenötigt, den Tresor geplündert, der Jammergestalt mit der Pistole eins übergezogen. Reibungslos sei alles verlaufen, wären Khalids vermummte Komplizen nicht mit der Tasche voll Banknoten in den DHLKurier reingelaufen, der gerade nebenan vor dem Coffeeshop parkte. Der braun Uniformierte schlug Alarm. Am Steuer des Fluchtwagens sei er durch eine Straßensperre gerast, erzählte Khalid, hoch im Bogen über eine Rampe hinaus geflogen, auf die Trasse der Subway gekracht, dann über das Geleise auf die Avenue zurückgerattert, als ein schießwütiger Cop an der Kreuzung das Feuer eröffnet habe … Die Kugel habe ihn in den Rücken getroffen, erzählte Khalid, seine Beine augenblicklich gelähmt, trotzdem sei ihm gelungen … und so weiter … jedenfalls war Scheich Khalid damals, nach dem Bankraub (falls der überhaupt stattgefunden hatte) mit Hilfe seiner Kumpanen und der Beute entkommen … Je länger Bronx die Gestalten im Raum betrachtete, desto weniger verstand er die Welt. Vor Tagen, am 11. September, hatten naiv liebenswürdige Kerle von Arabern eine ebenso kühne wie grandiose und an die ganze Welt adressierte Tat vollbracht. Das Schicksal des gesamten Globus hatte auf dem Spiel gestanden. Der Große Plan hatte unter keinen Umständen 381
scheitern dürfen … Und dennoch … Bronx fixierte Ahmed, den Stingerschützen – ein harmlos anmutender Kerl. Wie die andern mit ihren freundlichen Alltagsgesichtern eigentlich auch. Keine Ledernacken, keine hoch trainierten eingespielten Kommandos … Und diese ulkige Figur im Rollstuhl wollte diese operative Superleistung geleitet haben? Ein Affront ihm gegenüber, dachte Bronx. Er, Bronx, war doch der Drillmaster gewesen, der Trouble Shooter, der die Ecken und Kanten ausbügelte, Schwachstellen identifizierte, die Männer einigermaßen auf Trab hielt … sie anspornte, wie heute … Wie Amateure waren sie ans Werk gegangen. Bronx schüttelte den Kopf. Nur Allah konnte sie durch all die Klippen und dummen Fehler hinweg geleitet haben. Da war zum Beispiel der Typ, den sie in Florida wegen Verstoß gegen die Immigrationsvorschriften verhaftet hatten. Dann war einer der Entführer von AA 11 drei Mal der Verkehrspolizei wegen zu schnellen Fahrens in die Fänge geraten. Nichts geschah denen! Die Typen hatten sich auch sonst auffällig aufgeführt, alberten mit Frauen herum, prahlten in einer Bar, sie seien Piloten. Bronx hatte intervenieren müssen, die Logistiker und Betreuer zusammengerufen, ähnlich wie hier und jetzt in diesem drögen Raum. Aber was fruchtete all das? Nichts. In Boston war die Gruppe von weit her so knapp an den Flughafen gelangt, dass sie um ein Haar die Maschine, die sie entführen wollten, nur noch im Laufschritt erreichen konnten. Wie sollte er das verstehen? Diese Typen passten bei weitem nicht in sein Muster einer hart trainierten Elitetruppe, die unauffällig bleibt, die Zeiten sorgfältig berechnet, das Aussehen verändert, keine Rotlichter überfährt, Reserven einbaut … … Bronx hatte sich seine eigene Erklärung bereitgelegt. Die Helden mussten in Kauf genommen haben, dass sie die Maschine in Boston nicht schafften, in Florida von der Polizei festgehalten und eingesperrt würden, weil sie insgeheim hofften, Allah würde ihnen einen Stein in den Weg legen und sie von der 382
Ausführung dieser furchtbaren Tat dispensieren. Sie wollten nicht sterben! So muss es gewesen sein, dachte Bronx – und als sie dann schließlich doch noch in die Maschinen gelangten, erblickten sie darin das Zeichen, dass sie tatsächlich auserwählt waren, sich zu opfern … Bronx räusperte sich. Er musste mit den Leuten fertig werden, die sie ihm gaben, auch jetzt, in der Schlussphase der Operation Cinderella. Irgendwie spürte er im Hinterkopf den Splitter einer hartnäckig bösen Ahnung, dass etwas in der Luft lag, an das er nicht gedacht hatte. »Leute, es geht hier um eine militärische Operation. Damit das klar ist. Haltet euch den hohen Zweck unserer Sache jederzeit vor Augen. Der Westen hat uns lange gemeistert, jetzt sind wir dran, den Westen zu meistern.« Er musste die Kerle anspornen. »Der Auftrag zählt, sonst nichts. Macht euch klar, worum es geht. Bis jetzt ist alles nach Plan gelaufen, fast zu einfach, die Schwierigkeiten kommen meistens unerwartet. Die Werte müssen wir ändern. Ich kämpfe nicht für die Sache der Religion, sondern für die Gerechtigkeit, und meine Losung ist Auftragserfüllung. Der Feind ist überall, seit 9/11 ist er wachgerüttelt, noch desorganisiert, aber wie ein wundes Raubtier unberechenbar.« Scheich Khalid hustete röchelnd, als wolle er einen Einwand formulieren. »Also seid auf der Hut. Ich bin nicht überglücklich über Tausende von Toten, aber die Sprache des Kriegs ist Opfer.« »Die Sprache des Kriegs ist Opfer«, rief der Scheich aus. »Das ist gut!« Bronx zeigte belustigt mit dem Finger auf ihn. »Ich erwarte von jedem volle Disziplin, mehr noch – die Bereitschaft zu töten und den Willen zu sterben. Ahmed?« 383
»Ja, Bruder?« »Du bist schlaff geworden, wie die anderen auch. Merkt euch, nicht Allah leitet diese Operation. Ich bin es, Rick Bronx, und wenn einer nur den kleinsten Fehler macht, bringe ich ihn eigenhändig um.« Er zog seine Pistole, machte eine Ladebewegung, schwenkte den Lauf vor ihren Gesichtern. Khalid knurrte Zustimmung, drehte den Rollstuhl mit flinken Armbewegungen an die Männer heran. Die Einschüchterung saß. Im Raum war es so still, dass man eine Maus hätte schniefen hören können. »Was machen Sie mit den Jungen, Bronx?«, krächzte Scheich Khalid plötzlich. Bevor Bronx antworten konnte, winkte Khalid ihn spastisch zu sich, heischte gebärdenreich, dass er sein Ohr nahe an seinen Mund legen solle. Die versammelten Männer stießen endlich erleichtert Luft aus. Bronx beugte sich vor, klemmte mit der Hand die Nase zu, als fürchte er, vom schlechten Geruch des ihm zuflüsternden Scheichs betäubt zu werden. »Sie, Bronx, werden sie töten. Beide!«
93 In ihrem düsteren, fensterlosen, zu zwei Dritteln mit schmutzdunklem Wasser gefüllten Gefängnis arbeiteten Craig und Alexander Palmer fieberhaft an ihrem Plan. In der Ankunftshalle von Kennedy International hatten sie an jenem Nachmittag nach der Landung von Swissair 100 den schwarz uniformierten Mann sogleich ausgemacht, der an der Gitterschranke in einer Reihe von Chauffeuren stand, die alle ihre Schilder in die Luft streckten, um sich ihren Kunden, die mit suchenden Augen in die Halle strömten, bemerkbar zu 384
machen. Craig entdeckte das Schild zuerst: C & A PALMER stand mit blauem Tintenstift auf der Tafel des Limousinenservice. Sie hielten auf den uniformierten Mann zu und gaben sich zu erkennen. Der Driver gab sich derb herzlich. »Hi, ich bin Johnny. Welcome to New York! Ihre Mama lässt Sie grüßen, ich fahre Sie zu ihrer Wohnung an der 72nd Street. Mein Wagen steht draußen im Parking.« Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte er Alex den Rollkoffer abgenommen. Ahnungslos waren sie ihm gefolgt – schließlich hatte Mom ja immer einen Wagen zum Airport geschickt. Alles normal. Die Limousine fanden sie nach kurzem Marsch durch die kahlen Gänge des Parkhauses. Im Untergeschoss stand sie blitzblank poliert neben einem wuchtigen Van mit schwarz getönten Scheiben. Johnny öffnete aus Abstand den Kofferraum, half bereitwillig, das Gepäck verstauen. Beflissen die Tür öffnend, machte er eine höflich einladende Gebärde, wie New Yorker das von ihrem Fahrer erwarten. Dann war alles blitzschnell abgelaufen. Die Kidnapper hatten die Überraschung auf ihrer Seite. Zwei Kerle waren plötzlich aufgetaucht. Der Angriff war massiv, einschüchternd, erstickte jeden Widerstand im Keim. Sie würgten Alex und Craig hart mit dem Arm um den Hals, stießen ihnen simultan die Knie brutal in den Rücken – so landeten die völlig Überrumpelten hart im Laderaum des Transporters. Die Seitentür knallte zu. Die beiden Männer knieten sich in die Rücken der Jungen, drückten die Köpfe brutal in die raue Bodenmatte, wanden die Arme nach hinten, zwangen ihnen Handschellen auf und – der Van rollte bereits langsam zur Ausfahrt – knebelten sie mit breitem, braunem, mehrfach um den Kopf geschlungenem Klebeband – so schnell wie professionell. Ihr Gefängnis musste ein Bootshaus gewesen sein. Zunächst, bevor der Wasserpegel höher stieg, konnten sie den Bootsteg gut 385
ausmachen, wie auch das Eisentor, das den Raum hermetisch abdichtete und sich offenbar zum Wasser hin öffnen ließ. East River, Hudson? Long Island Sound? Alex studierte die Funktionsweise. Das Tor ließ sich vertikal hoch ziehen, wie ein Schieber. Von wo aus ließ es sich steuern? Gegenüber führte eine an der Mauer befestigte Eisenleiter von der einzigen Tür oben am Deckenrand zum Steg hinunter. Aus einer mit einem Drahtgitter geschützten Lampe an der Decke strahlte grelles Licht in den tristen Raum. Daneben hing eine offenbar seit längerem nicht mehr benutzte Hebevorrichtung. Sie bestand aus zwei horizontalen, rostigen Eisenträgern, die mit einem Stahlseil, das über zwei an der Decke montierten Rollen führte, herunter gelassen werden konnten. Lange, mit Algengrün überzogene Stoffschlaufen hatten einst dazu gedient, den Bootsrumpf zu umgürten und aufs Trockene hochzuziehen. Auf der dem Bootsteg gegenüberliegenden Wand, ungefähr drei Fuß über dem gemauerten Boden, entdeckte Alex das dicke Rohr – der Wassereinlass. Die Kidnapper hatten ihre Geiseln auf einen flachen, weißen Yacht Tender ausgesetzt, der mit einem starken Tau an der Eisenleiter vertäut war. Die Glasfaserschale des Dingy maß etwa elf Fuß in der Länge, der Innenraum zwischen den torpedoförmigen Rumpfwänden knapp einen Meter. Die Sitzbank fehlte ebenso wie das Cockpit, so dass die Jungen ausgestreckt knapp nebeneinander liegen konnten. Ein paar Wolldecken bildeten die einzige Ausstattung des auf die Schale reduzierten Beiboots. Am oberen Ende der Leiter befand sich der Zugang zum Überwachungsraum. Zwei Mal am Tag ging dort die Tür metallisch knarrend auf, einer der Wächter gab ihnen das Zeichen. Dann durften sie die Leiter hochklettern und im fensterlosen Raum das Essen einnehmen. Craig merkte sich die technische Ausstattung des Wachraums: eine Videokamerasteuerung mit Kontrollmonitor, diverse Schalter und die 386
Lautsprecheranlage, um sie im Wassertank (wie sie ihr Verlies nannten) ansprechen zu können. Es gab in der anderen Ecke einen Spültrog, den Mikrowellenherd auf einem Blechtisch, ein Kajütenbett mit zwei nackten Pritschen. Hinter einer Tür, die nicht bis zum Fußboden reichte, lag die Toilette mit Waschbecken. An der Decke spendeten drei schmutzige, gebündelte Neonröhren deprimierend fades Licht. Mehr als zwei Bewacher schienen nicht nötig, um auf sie aufzupassen. Craig hatte herausgefunden, dass meistens nur einer von denen oben saß – er war sich sicher, dass in den frühen Morgenstunden vermutlich gar keiner mehr Wache schob. Nur wenn sie ihnen oben das Essen brachten, passten zwei auf – meistens der Hagere mit den Schlitzaugen und der dicke schwarze Wüstling mit dem brutalen Gesicht. »Wir müssen alles perfekt vorbereiten, nichts dem Zufall überlassen«, flüsterte Craig, während er aufstand und eine Wolldecke an beiden Zipfeln mit den Armen weit in der Luft ausbreitete, als wolle er die Decke falten. Dabei rappte er lautstark in einem fort: »Wir hängen euch an den Eiern auf und schlagen mit dem Hammer drauf. Wir hängen euch …« Alex streifte schnell Hosen und Hemd ab, glitt bäuchlings über den runden Rand des Dingy ins Wasser, fasste Luft und tauchte ab. Die Kamera, die in wasserdichtem Gehäuse an der Decke in enger Blickschneise hin und her schwenkte, konnte den Taucher hinter Craigs Wolldecke nicht erfassen. Das starke Halogendeckenlicht schimmerte auf den bereits mannshoch überfluteten Steg. Alex entdeckte den Knopf, der vermutlich die Eisentür betätigte. Er drückte auf open – nichts bewegte sich. Auch der Schalter für die Hebevorrichtung bewirkte nichts. Alle elektrischen Schalter, auch die gegen Nässe isolierten, schienen deaktiviert. Alex tauchte auf, schnappte im Schutz der Tenderschale vorsichtig nach Luft. Er gab Craig ein Zeichen, tauchte wieder ab. 387
Diesmal untersuchte er den Wassereintritt. Alex tastete das Rohr vom Durchmesser seines Unterarms ab, suchte erfolglos nach einem Schieber, um den Zufluss zu unterbrechen. Seine Lungen hämmerten, schmerzten, als er abdrehte, um auf der Seite des Stegs im Schutz des Dingy an die Luft zu kommen. Da stach ihm ein schwarzer Fleck ins Auge – wie ein Schatten klebte etwas am Boden nahe der Eisentür. Er stieß heftig mit den Beinen von der Wand ab, machte ein paar kräftige Züge auf die Stelle zu. Alex’ Lungen wollten schier bersten, sein Rettungstauchertraining im Genfer See half ihm jetzt durchzuhalten. Er fühlte nach dem schwarzen Ding, packte es, riss es los – ein kantiger Gegenstand, der dort unter einem Algenmantel gelegen hatte. Sekunden später tauchte er auf, schnappte ächzend nach Luft. Einen Augenblick verharrten die Boys mucksmäuschenstill, schielten nach oben zur Tür des Wachraums. Ruhe. Craig schüttelte wieder eine Decke aus, hielt sie wie einen Vorhang hoch, begann danach, sie ordentlich wie ein Rekrut nach allen Regeln der Kunst zusammenzulegen, als käme demnächst der Sergeant zur Inspektion vorbei. Alex lag erschöpft auf den Planken. Am ganzen Körper zitternd rieb er sich mit der Decke warm, zog dann die Kleider an. Die Jungs schauten sich den geborgenen Fund an – ein massives Winkeleisen mit Schraubenlöchern und abgeschrägten, fast messerscharfen Enden. Die im rechten Winkel zueinander stehenden Schenkel waren über einen halben Meter lang. Craig wischte die Algen ab, fuhr prüfend mit dem Daumen über die schmale Kante, pfiff durch die Zähne und versteckte das Werkzeug – oder war es eine Waffe? – unter den Decken. Ihr Plan nahm langsam, aber sicher Gestalt an. »Wir hängen euch an den Eiern auf …« Das grimmige Skandieren wüster Schimpftiraden peitschte sie auf. Nur nicht verzagen! 388
»Wir kommen hier raus, Alex!«, flüsterte Craig dem Bruder zu. »Da kannst du Gift drauf nehmen!« Er konnte kaum warten, dieser Bande heimzuzahlen, was sie ihm in Paul Merciers Chalet angetan hatte. Am Abend, nach dem Essen, als sie über die Leiter hinunter ins Boot zurück kletterten, gelang es Alex, den heimlich platt gedrückten Blechlöffel mit Brachialgewalt in die untere Fuge des Türrahmens zu schieben. Die Wächter agierten sorglos, ihrer Sache sicher, wie es schien. Sich mit dem Dicken unterhaltend, knallte der mit dem schiefen Gesicht die Tür achtlos zu, musste allerdings kräftig nachziehen, als der Riegel nicht gleich ins Schloss fiel. Genau wie Alex hoffte, hatte sich zwischen der Eisentür und der Betonfuge des Rahmens, dort wo der Löffel sperrte, eine Spalte aufgetan. Die Zwillinge grinsten sich an. Alex brauchte keine Worte, Craig wusste, was er sagen wollte: Ja, Brüderchen, mit kleinen Mitteln Großes zu erreichen … sie wanden sich in lautlos unterdrückter Heiterkeit.
94 Sie werden sie töten, Bronx. Beide. Die Worte des Scheichs hallten in seinem Schädel nach. Bronx erhob sich, schnaufte tief ein, schaute streng auf, machte dann eine gebieterische Geste. »Leon!« Der dicke Schwarze mit dem Trümmerschädel zuckte zusammen. »Boss?« »Wenn Cinderella ihren Job erledigt hat, müssen die Boys verschwinden«, befahl Bronx ohne Anzeichen der geringsten Gefühlsregung. Er senkte sein kantiges Gesicht und bedachte die Gruppe mit eisigem Blick unter buschigen Brauen, bevor er den Satz 389
vollendete: »Ich werde dir sagen, wann es so weit ist, dann kümmerst du dich um die beiden Muttersöhnchen. Ohne Spuren, verstanden?« Der Schwarze grinste hämisch, seine Mundwinkel zuckten. »Klar, Boss. Keine Sorge. Der Fleischwolf ist frisch geölt.« Grinsend fügte er an: »Fischfutter, Boss.« »Gut. Die anderen wissen, was zu tun ist. Wegtreten!« Das letzte Wort schrie er heraus, hob bedrohlich die Knarre, dass die beiden aus dem Raum stürzten, ganz als sei der Leibhaftige hinter ihnen her. Bronx starrte auf die gekrümmte Figur des Scheichs – den verzottelten Langbart, die fein gearbeitete Lederkappe auf dem großen kahlen Kopf. Aus den markanten Zügen las Bronx einen durch nichts zu beugenden Willen. Die lebhafte Mundpartie, die funkelnden Augen schienen bestrebt, all die körperlichen Unzulänglichkeiten des Alten wild entschlossen wettzumachen. Auch seine feste Stimme, die er jetzt gefährlich senkte, strafte jeden Lügen, der an der brutalen Entschlossenheit Khalids irgendwelche Zweifel hegte. »Morgen um zwölf läuft das Ultimatum ab, Bronx. Auch für Sie. Der Plan muss ausgeführt werden. Wenn er misslingt, halten Sie den Kopf hin, Bronx. Was sehen Sie vor, wenn die Frau nicht auf ihn schießt?« Bronx hielt sich an seine bilderreiche Phantasie. Was immer er sich vorstellen konnte, schien ihm erreichbar. Er sah im Geist die Hand der First Lady, wie sie in die weiße Tasche griff, den Revolver hervorzog … Er gab sich einen Ruck. »Sie wird schießen, Scheich. Und sollte trotzdem etwas schieflaufen, habe ich ihre Handtasche präpariert.« Der Scheich beugte sich erregt vor, dass Bronx schon hoffte, er würde vornüber auf den geröteten Zinken von einer
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Rübennase fallen. »Was beim Satan soll eine Damenhandtasche bewirken?« »Ein Meisterwerk der Zerstörungstechnik, Khalid. Blitze werden zucken – im Umkreis des Präsidenten alles töten. Der Zünder ist auf 12:30 mittags eingestellt. Wenn Cinderella es bis dahin nicht schafft, besorgt die Tasche den Rest, Sie verstehen mich.« Khalid rümpfte die Nase, schürzte hässlich den Mund. Ein untrügliches Zeichen, dass er den Plan missbilligte, wie überhaupt alle Pläne, die nicht auf seinem eigenen Mist gewachsen waren. Bronx erläuterte jetzt noch einmal den gesamten Ablauf. Danach kamen sie auf die Sicherheit des Gebäudes zu sprechen, erörterten die Evakuation, die zwecks Spurentilgung nötig sein würde, wenn Operation Cinderella gelaufen war – jetzt, am Sonntag, in weniger als sechzehn Stunden!
95 Craig und Alex Palmer warteten bis in die frühen Morgenstunden. Ungefähr um drei kletterte Craig die Sprossen hoch, donnerte mit der Faust an die Tür, als müsse er dringend austreten. Das Gepolter hätte den tumbsten Wächter aus dem tiefsten Schlafdelirium gerissen, hätte sich einer im Raum aufgehalten. Sie hielten angespannt den Atem an, lauschten. Keine Schritte. Auch nach Minuten regte sich zu Craigs Erleichterung nichts. Kein Türenknallen, alles blieb still. Schließlich manövrierte Alex wie geplant den Tender unter die Hebevorrichtung, angelte mit dem Winkeleisen nach der algenbedeckten Stoffschlaufe – ein heikles Manöver. Das Dingy schaukelte, Alex musste um guten Stand ringen. Die Schlaufe, als er sie endlich eingefangen hatte, entwischte ihm wieder, weil 391
er das Boot mit seinen Bewegungen übers Wasser schob. Hatte er schließlich das Band gefasst und zum Kameragehäuse geführt, um es darüber zu legen, damit die Linse zugedeckt blieb, glitt das blöde Stück immer wieder ab. Was anfänglich wie ein leichtes Unterfangen ausgesehen hatte, erwies sich als äußerst tückisch, praktisch unausführbar, vor allem weil das glatte Gehäuse keinen Widerstand bot, um die Schlaufe daran zu befestigen. Die Zeit zerrann. Craig entschied, es sei sinnlos, weiter zu experimentieren. Eile tat not! Hatten sie Pech, tauchte einer der verhassten Schergen doch noch auf, oder – was Craig am meisten beunruhigte – irgendwo im Gebäude stand noch ein anderer Überwachungsmonitor. Was die beiden Jungen dann fertig brachten, grenzte an ein zirkusreifes Akrobatenstück. Alex kletterte auf Craigs Schultern – dank der Eisenleiter nicht allzu schwierig. Dann stemmte sich Alex mit den Armen gegen die Decke und bewegte sich ausgreifend von der Wand weg. Unten stabilisierte der Auftrieb einigermaßen das Dingy, oben hielt Alex kräftig dagegen – aber der Balanceakt funktionierte nur so lange, wie sie sich starr in der Vertikale zu halten vermochten. Sollten sie in Schieflage geraten, würde der Tender nachgeben und die Jungen der Länge nach ins Wasser platschen lassen. Zentimeter um Zentimeter arbeiteten sie sich an das Gehäuse heran. Alex hielt den Atem an, Craig kämpfte ums Gleichgewicht. Aber es war wie der Bau eines Kartenhauses. Eine falsche Bewegung – und wumm war’s aus! Scheich Khalid hatte sich von seinen zwei Bodyguards längst in die Tiefgarage zu dem unauffällig grauen Lieferwagen mit der Rollstuhlrampe führen lassen. Im Briefingraum im Nordteil des Gebäudes drehte sich Bronx auf die andere Seite, zog die Decke über den Kopf. Auf der Couch lag er nicht bequem – jede halbe 392
Stunde schreckte er hoch aus unruhigem Schlaf. Gesichter leuchteten auf, Leslie Palmer mit brennendem Haarschopf, aus einer Höhle winkte der Bärtige, der alte Palmer lag ausgestreckt auf dem Fußboden, Blut quoll über die weiße Mähne, oder war es Howard Young, dem da die Axt im gespaltenen Schädel steckte? Auf einem Boot schaukelten zwei Mädchen, die eine winkte mit einem roten Bündel … die roten Papiere … Charles Palmers Aufzeichnungen aus der Schublade im Schlafzimmer … und jetzt schwammen zwei kräftige Jungen heran, stemmten sich über den Bootsrand hoch … Bronx war plötzlich hellwach, warf die Decke zurück, sprang auf. Die Palmer Boys! Er suchte nach dem Lichtschalter, dann öffnete er den Kühlschrank, nahm die Wasserflasche heraus. Vom Regal angelte er eine Dose Aspirin, schüttete einen Haufen Tabletten in die hohle Hand, kippte die geballte Ladung runter, goss gierig Wasser nach … »Reich mir die Decke hoch«, keuchte Alex, nur noch eine Armbreite von der Kamera entfernt. Craig hatte den abgerissenen Wolldeckenfetzen in den Gürtel gesteckt. Vorsichtig griff er danach, mit dem anderen Arm unstet balancierend. So wie er ihn hochhielt, fühlte er zu seinem Schrecken das Abdriften des Tenders. »Beeil dich!«, schrie er, doch Alex’ hastige Vorwärtsbewegung machte die Sache nur noch schlimmer. »Bist du so weit?«, rief er. »Ich, ich …« Das Boot schien sich unter seinen Füßen zu verlieren – zunächst langsam, Craig wehrte sich vergeblich dagegen, dann plötzlich war’s passiert. Er kippte, fiel. Der Tender schwappte weg, prallte gegen die Wand. Wo war Alex? Als Craig wieder auftauchte, sah er ihn. Der Teufelskerl baumelte an der Decke, umschlang das Gehäuse, zappelte mit den Beinen, was machte er? Craig fasste nach dem Boot. Da sah er es. Alex hatte die Kamera verhüllt. Die Decke umschlang sie, schottete sie ab. Große Akrobatik, Christo hätte seine wahre Freude daran gehabt … Alex ließ sich fallen. 393
»Los, das Eisen«, keuchte er, auftauchend. »Jetzt keine Zeit verlieren.« Sie vertäuten das Boot an der Leiter. Alex kletterte mit dem Winkeleisen hoch, bis er die untere Türkante erreicht hatte. Angespannt keuchend hielt Craig sich dicht hinter dem Bruder bereit …
96 Ächzend wandte sich Bronx der schwarzen Mattscheibe des Monitors zu, der mit der Kamera im Bootshaus verbunden war. Bootshaus, krächzte er in die Stille. Ersäufungskammer! Wo stand das Wasser? Wie viel Uhr war es eigentlich? Wenn er nur Haie hätte, die er am Ende einlaufen lassen könnte. Fischfutter! Na, schauen wir mal … Ganz allein im schäbigen Technoraum vor dem kleinen Überwachungsmonitor war er drauf und dran, langsam die Fassung zu verlieren. Nichts schien zu laufen! Er fluchte obszönes Zeug. Die Ursache lag im schwarzen Bildschirm – der verdammte Monitor war tot. Kein Bild der Boys, wie sie ihrem Verhängnis näher kamen, kitzelte seine sadistischen Triebe. Oder stammte diese Erregung am Ende von einem schwächlichen Mitgefühl, das sich ihm subversiv unter die Haut geschlichen hatte? Sie werden sie töten, Bronx. Beide. Was mischte sich der arrogante Krüppel in seine Geschäfte? Der Ehrgeiz flüsterte ihm ein, Khalids Anordnung zu sabotieren, die Jungen, wenn alles vorbei war, einfach laufen zu lassen. Diese innere Unsicherheit machte ihn nur noch rasender. Er hämmerte frustriert mit den Fäusten auf das Gehäuse, hackte wahllos mit den Fingern in die Tasten. Vergeblich. Seine Idioten hatten die Kamera abgestellt. Wo blieben die Schlappschwänze, verdammt noch mal? 394
Frustriert schleppte er den müden Körper zur Tür, schrie in die Halle hinaus. »Ahmed … Scheiße!« Im Wasserkerker zwängte Alex Palmer das abgeschrägte Ende des Winkeleisens in den vom Esslöffel ausgesparten Spalt, wuchtete es tiefer hinein, die Tür gab an dieser Stelle nach. Der eingerammte Schenkel des Eisens ragte jetzt im spitzen Winkel heraus, den anderen Schenkel umfasste Craig mit beiden Händen, prüfte den Halt, indem er kräftig nach unten zog. Er nickte Alex zu – jetzt kam’s drauf an. Vom Bruder gestützt kletterte Alex auf die oberste Sprosse, drehte sich dort leicht ab, das Winkeleisen fixierend. Der Plan konnte nur funktionieren, wenn ihnen gelang, maximale Hebelwirkung auf das eiserne Türblatt zu erzeugen. Alex glaubte fest, es würde klappen. »Bereit«, keuchte er. »Eins, zwei, los!«, schrie Craig. Alex stieß von der Sprosse ab, landete mit beiden Füßen genau auf dem schräg ausladenden Schenkel des angewinkelten Eisens. Von der Schwerkraft vervielfacht wuchtete sein ganzes Körpergewicht auf den Hebelarm hinunter – er stürzte weiter, über den geduckten Craig hinaus, in die Tiefe – lautes Knirschen, ein dumpfer Knall, das Eisen schnellte, Craigs Kopf nur um Zentimeter verfehlend, weg – die Tür stand offen, die wuchtige Hebelkraft hatte den Riegel aus dem Schloss gerissen. Minuten später standen die Helden triefend im Wachraum. Alex deutete auf ein altertümlich aussehendes Schaltbrett. »Da, das muss das Tor sein!« Er betätigte einen Drehschalter. Irgendwo begann eine Winde zu winseln – Musik in ihren Ohren. Da sahen sie es. Langsam hob sich der schwere Schieber über die seitlichen Schienen nach oben. Das Bootshaus öffnete sich. Je weiter sich unten die 395
Öffnung auftat, desto deutlicher war das rasche Abfluten des Wassers zu erkennen. Die Zwillinge umarmten sich, lachten befreit. Fasziniert kauerten sie an der Kante über der Leiter, schauten zu, wie das Wasser gurgelnd nach draußen strömte. Der Schieber hatte die Endposition erreicht, aus der Ferne glitzerten Lichter. Keine Zeit, sich lange zu verschnaufen – die Freiheit winkte! »Los, ins Boot, und weg sind wir«, rief Craig voll neuer Energie. Den Körper abdrehend, setzte er den Fuß auf die oberste Sprosse. Eine schneidende Stimme fuhr ihnen in die Glieder. »Würde euch so passen, was?« Den Mann, der im Wachraum stand und die Pistole auf Alex richtete, hatten sie noch nie gesehen. Aber sein kantiges, hartes, von Zorn gerötetes Gesicht ließ nicht den geringsten Zweifel offen – dieser Typ hier mit dem eisigen Blick, der war ein anderes Kaliber, zu allem entschlossen. »Los, an die Wand mit euch … Leon!« Mit ein paar Sätzen war Leon grinsend am Mann – der Totschläger sauste ein paar Mal nieder. Zwei wohl gezielte Hiebe auf die Hinterköpfe und die Boys sackten zusammen. »Weg mit diesen verpissten Muttersöhnchen!«, brüllte Bronx. »Runter in den Keller! Solche Mätzchen machen die garantiert nie wieder!« »Nie wieder, Boss«, wiederholte Leon böse.
97 Im leichten Nieselregen rollte der Jet der Spike Corporation zum Standplatz vor dem Jet Aviation Terminal. Sonntagmorgen früh 396
herrschte in Teterboro noch eine beschauliche Trägheit, als ob keiner den angebrochenen Tag richtig in Angriff nehmen mochte. Der Steward klappte die Bordtreppe aus und wartete, bis schließlich ein Kleinbus heranfuhr, um die Passagiere über die kurze Distanz bis zur Ankunftshalle zu führen. Eile war nicht geboten. Leslie spähte hinaus. Wo blieb der CBP-Mann mit dem Visum? Amira stand reglos in stolzer Haltung im Gang, die schwarzen Augen funkelten hinter dem feinen, engmaschigen Schleier. »Sie werden erwartet«, verkündete Paul Engl und stieg hinter den beiden Frauen die Bordtreppe hinunter. An der automatischen Glasschiebetür der Ankunftshalle erwartete sie warm lächelnd die Beamtin vom Grenzschutz. Leslie atmete erleichtert auf. »Willkommen in New York«, grüßte die Beamtin unverbindlich, zog Leslie dann gleich zur Seite. »Ms. Palmer? Ich bin Selma, CBP, im Auftrag der First Lady habe ich das Visum mitgebracht.« Sie zog das Dokument rasch aus einer Schultertasche mit Reißverschluss. »Macht diese Amira etwa Probleme?« Leslie kam erst jetzt dazu, zu antworten. »Freut mich, Selma, vielen Dank. Nein, alles in Ordnung – bis jetzt.« »Gut, ich habe die Passkontrolle informiert. Ms. al Raisi kann mit dem Besuchervisum einreisen. Kann ich sonst noch etwas tun für Sie?« »Nein danke, Selma. Ich werde abgeholt. Sie sind wunderbar, werde es der First Lady erzählen.« »Meine Pflicht, Madam.« Als sie dies mit einem Lächeln sagte, war die kleine Gruppe, Amira in der Mitte vorwärts schleusend, ebenfalls an die Passkontrolle getreten. Die Inspektion der Pässe und des Visums dauerte kaum eine Minute. Der Stempel klickte zweimal. »Viel Spaß in New York«, wünschte die Beamtin. Heute sind Frauen 397
im Job, wenn das kein gutes Omen ist, sagte sich Leslie, als sie dicht hinter Amira durch den Clubraum in die Vorhalle ging. Tatsächlich war es wieder eine Frau, die in diesem Moment auf sie zukam. Nur verhießen weder ihre matronenhafte Gestalt in der Uniform eines Police Officers Gutes, noch der ängstlich strenge Blick aus ihren Kugelaugen. Ebenso wenig passte die hinter ihr unüberwindbar postierte Gruppe von vier grimmig dreinblickenden Polizisten in das Bild eines freudigen Willkommens. »Ms. Palmer? Sie sind verhaftet. Kommen Sie mit«, sagte die Polizistin. Im gleichen Augenblick traten ihre Kollegen vor und trennten Leslie von der Gruppe – von Amira! »Moment, das muss ein Irrtum sein!«, protestierte Leslie, unfähig, sich aus dem Klammergriff der Cops zu befreien. Die Matrone schwenkte einen Wisch vor Leslies Gesicht. »Ein Irrtum? Das sagen alle, Madam. Hier, Haftbefehl vom FBI. Tut mir leid!« Entgeistert blieb Leslie stehen, starrte auf das FBI All-PointsBulletin mit ihrem Konterfei. Wo blieben die andern? Jemand musste ihr helfen! Draußen leuchtete der hellgrüne Rock Amiras kurz auf – Uniformierte führten sie weg. Ist dies schon das Ende? Alles umsonst gewesen? »Kommen Sie«, sagte die Polizistin, jetzt eine Spur freundlicher, sich dabei mit Leslie durch die Drehtür auf den Parkplatz hinaus schiebend. Die paar Fahrzeuge standen etwas abseits auf den für die Port Authority reservierten Parkfeldern. Ein geparkter Bus schirmte den Tross aus vier bulligen SUVs mit schwarz getönten Scheiben vor neugierigen Blicken ab. Zwei schwarzweiße NewJersey-Streifenwagen warteten mit laufendem Motor vorn an der Straße. 398
»Mein Gott, das war knapp!«, rief eine bildhübsche Uniformierte. Nervös fuhr sie mit der Hand durch ihr seidig glänzendes schwarzes Haar. Ihre Erscheinung ließ Leslies Herz höher schlagen – die da auf sie zukam, war niemand anderes als Jennifer! Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Eine kräftige Hand schob sie zum vordersten Wagen, während Jennifer einen Schein unterzeichnete und die New-Jersey-Polizeikräfte entließ. Dann saß ihre Tochter neben ihr auf dem hellgrauen Polster des geräumigen Van und sprudelte los. »Mein Gott, Mom, ich sah zufällig das FBI APB, das konnte doch nicht wahr sein! Zum Glück hast du mir die Ankunftszeit mitgeteilt … konnte gerade noch alles organisieren … huh … Nicht auszudenken, Mom, wenn sie dich in der City aufgegriffen hätten!« Die Frauen umarmten sich schweigend, klammerten sich förmlich aneinander fest, bis Leslie plötzlich aufschreckte. »Amira!« »Amira al Raisi steht unter meiner Kontrolle«, meldete sich eine angenehme Stimme aus dem Fond. »Da drüben im anderen Wagen.« Leslie fuhr herum. Unterstaatsanwalt Chuck Browne lächelte unbefangen zurück. Nun war es an Jennifer, der perplexen Mutter alles zu erklären. »Ich rief Chuck an, wen denn sonst?« »Du kennst ihn?« »Natürlich. Du hast mir ja seine Nummer gegeben, du weißt schon, dann habe ich ihn getroffen. Zusammen gingen wir zu Charles’ Beerdigung.« »Wie war’s?« »Viele Leute, Mom, feierlich und würdig. Nun, ich wollte ohnehin mit Chuck die kriminalpolizeilichen Erkenntnisse
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besprechen, du warst ja unauffindbar … eins gab dann das andere, Chuck stellte mich Nassim vor …« »Oh, Nassim? Der sexy Chirurg?« »Sag mir jetzt nur nicht Kleine Welt, Les. Du hast mich doch zu Chuck geführt.« »Leute, können wir fahren?« Der das fragte, drehte sich hinter dem Lenkrad herum und schaute Leslie direkt in die Augen. »Howdy, stecken Sie wieder mal in der Patsche? Zum Glück sind die harten Männer zur Stelle …« Leslie fühlte, wie sie rot anlief. »Ja, fahren Sie, Nassim«, sagte sie nur. Nur weg von hier. »Was weiß er?«, flüsterte sie dann Jennifer zu. »Wir kennen uns, Les«, gestand die Tochter errötend. »Nassim war auch dabei, als ich mit Chuck noch mal in Großvaters Arbeitszimmer nach Spuren suchte.« Die vier Wagen näherten sich der Auffahrt zur George Washington Bridge. Von Süden her avancierte ein lieblich blauer Himmel über den nach Norden hin diesigen Hudson. »Dort fanden wir an einem Whiskeyglas einen Fingerabdruck. Bronx! Wir nehmen an, dass er das Glas angefasst hatte, um es zu verschieben, als er sich die Karaffe griff. Er muss Charles danach zurück in die Halle gefolgt sein, wo er dann zuschlug. Aber die Pointe kommt noch. Oben im Schlafzimmer gab es ziemlich viel Haar auf dem Teppich neben dem Bett, im Bad und vor den Schränken … Charles’ Haare, richtig. Wir ließen sie alle auf DNA untersuchen. Auch von dir, Leslie, gab es Haarspuren.« Ungeduldig spähte Leslie nach vorn. Über der sechsspurigen Fahrbahn schoben sich die mächtigen Brückenpfeiler heran. »Beinahe hätten wir ein Haar übersehen, Les.« »Bronx?«
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»Genau. In der Schublade an den Wollsocken hing es. Seine DNA ist eindeutig. Er war unzweifelhaft am Tatort.« Alles schön und gut, wollte Leslie antworten. Aber ihre Gedanken kreisten um andere Schwerpunkte. Der entscheidende Tatort war Brooklyn Bridge. Es war jetzt halb zehn Uhr. In zweieinhalb Stunden würde sie die Gewichte auf der Waagschale eindeutig zu ihren Gunsten verschieben. Chuck Browne gab den andern zwei Wagen über WalkieTalkie-Sprechfunk das Fahrtziel in Lower Manhattan durch: Duane Street, Nähe City Hall. Der östliche Teil der Duane Street unweit der Brooklyn Bridge bot sich an diesem Sonntagmorgen fast menschenleer dar. Freie Parkfelder reihten sich die ganze Länge entlang aneinander, so dass die drei schwarzen Wagen hintereinander vor dem roten Backsteingebäude zum Stehen kamen. Am offenen Heck des Van versammelte sich die Gruppe. »Long Bill«, stellte Chuck Browne vor. »Er stellt uns seinen Fleischverpackungsbetrieb als Stützpunkt zur Verfügung – 33rd Street, hier ist der genaue Standort.« Er drückte Leslie unter zustimmendem Gemurmel der anderen eine Lageskizze in die Hand. »Ronnie, unser Hobbyabhörspezialist, hat seine Ausrüstung dabei. Er operiert aus Wagen zwei – das ist der Grand Cherokee da. Und Martin Luther hat ein paar Dinge dabei, falls es brenzlig wird. Er bewacht die Frau im hintersten Wagen.« In Leslies Stimme schwang Skepsis mit. »Und wer ist sie?« Die Schwangere mit dem Rotschopf antwortete gleich selber: »Sandy. Zuständig für Catering.« Es dauerte nicht lange, bis Dröhnen die Straßenschlucht herauf schallte. Im Schwarm brausten weitere Mitglieder und Freunde der Pleasure Cruise Riders heran – Leslie schätzte gut zwei 401
Dutzend. Diese recht eindrucksvolle Streitmacht stellte ihre Boliden auf der andern Seite der Kreuzung vor einem Zeitungsstand neben Sprechzellen auf. »Der Plan ist gut«, lobte Browne. »Geiselaustausch zwölf Uhr auf der Brooklyn Bridge. Genial.« »Mir schwant trotzdem Böses«, warnte Nassim. »Dieser Bronx ist mit allen Wassern gewaschen. Leslie braucht eine fallback position, eine strategische Ausweichposition, falls er sie austricksen will.« »Das wird er bestimmt versuchen«, stimmte Leslie bei. »Genau. Aber du, Leslie, du bist doch Verwandlungskünstlerin, spielst Rollen. Also, ich meine …« Leslie fiel ihm ins Wort, »Ich könnte die Amira mimen und als Bronx’ Mutter über die Brücke laufen?« »Ja, so was, ungefähr«, grinste Nassim. Browne murmelte zustimmend. Sandy strich sich nachdenklich über den Bauch, fixierte Leslies Gesicht. Aber diese schien nicht überzeugt. »Ich weiß nicht«, zweifelte sie. »Wichtig ist, dass wir Etappen machen.« Die Männer schauten einander stirnrunzelnd an. »Doch, ich meine, die gute alte Brooklyn Bridge hat zwei Pfeiler. Also, hier Duane Street, das ist unsere Basis – Etappe eins. Dann, uns am nächsten, am Manhattan-Pfeiler, stellen wir uns zum Gefangenenaustausch auf- Etappe zwei. Ist etwas noch unklar?« Die Männer nickten grinsend. »Etappe drei ist der andere Pfeiler, auf der Brooklyn-Seite. Chuck, Long Bill, Ronnie, ihr haltet euch bereit, zum zweiten Pfeiler vorzustoßen. Mit all dem Zeugs und Klimbim, das ihr dabeihabt.«
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»Und was macht dieser kleine Junge hier?«, wollte Nassim zwinkernd wissen, während er aus einem Streifen Tabletten herausdrückte. Leslie blieb fokussiert. »Du, Nassim, du folgst mir auf den Fersen, wo immer ich sein mag, du hältst die Verbindung zur Basis offen.« Die Männer gaben vor, an dem Gehörten zu kauen, aber natürlich war nicht daran zu rütteln. Diese Frau wusste, was sie wollte, und kommandieren konnte sie wahrlich auch! »Ich mache dein Gesicht«, unterbrach Sandy die momentane Stille. Als Leslie verwundert aufblickte, erläuterte Chuck: »Catering umfasst bei ihr alles – na, sagen wir fast alles. Sandy ist zwischendurch als Visagistin tätig. Hast du Zeugs dabei, Sandy?« »Hab’s mir schon überlegt. Die paar Klamotten, die ich noch brauche, sind rasch zur Stelle. Eine halbe Stunde, okay?« Die Frage war an Leslie gerichtet, die enthusiastisch bejahte. Hier bin ich so mir nichts, dir nichts in ein richtiges Traumteam geraten! Und diese Leute bleiben diskret – keine Fragen, wieso Bronx Craig und Alex gefangen hält. Für die ist Bronx ein Killer, das genügt. Möglich, dass Nassim ein bisschen spinnt, manchmal großspurig eins und eins addiert, aber der Junge lässt sich nichts anmerken. Super! »Dann rufe ich jetzt an, einverstanden?« »Moment«, warf Chuck Browne ein. »Lass mich erst sehen, ob Jennifer auf ihrem Posten ist.« Jennifer hatte über ihre Quellen einige Gebäude, die mit der Beschreibung des Public-Storage-Lagerhauses an der Brooklyn Waterfront übereinstimmten, ausfindig gemacht. Vom FBI hatte sie außerdem in Erfahrung gebracht, dass der Mossad Telefongespräche abgehört hatte, ohne dass allerdings gelang, einen Standort zuverlässig zu peilen. Die Anrufe kamen immer von derselben Nummer – eine die nur der Secret Service vergab. 403
Vermutlich Agent Frank Sureman, spekulierte sie. Tote Nummer, was, Frank?, ertappte sie sich schockiert bei diesem nicht gerade versöhnlichen Gedanken.
98 Dem Treppenaufgang zur New York City Hall hatten Angestellte am Morgen eine breite Holzbühne angefügt und darauf zwei Blöcke von je einem Dutzend Stuhlreihen für die Ehrengäste montiert. Weiter vorne an der Tribüne flankierten vier Fahnen das Rednerpult – schlaff hingen in der Windstille des schönen Vormittags die Stars-and-Stripes, neben der Fahne der City of New York, und auf der andern Seite des mit dem Siegel des Bürgermeisters geschmückten Podiums die blauen Fahnentücher von New York City Feuerwehr und Polizei – den Hauptakteuren dieser Gedenkfeier. Eine Checkliste in der Hand kontrollierte Sergeant-at-Arms Perez emsig die Sitzordnung, rückte am vorderen Rand der Tribüne die vier Allwettersessel für das Präsidentenpaar, den Bürgermeister und seine Begleitung zurecht. Grün uniformierte Putzequipen wienerten die Holzplanken, fegten die Steinfliesen des breiten Haupteingangs. Eine Wasser sprühende Bürstenmaschine schrubbte den Asphalt der City Hall Plaza, die gegenüber der Tribüne in einen lichten Park überging. Über vierbeinige Böcke gelegte hellblaue Latten mit der Aufschrift Police Line grenzten die vom Broadway her zugängliche Besuchersektion ab. Dort hatte die zweite Leiterkompanie des NYFD einen schweren, feuerroten Laster am Gehsteig geparkt. Mit über dreiundzwanzig Metern Länge überragte die imposante, voll ausgefahrene Drehleiter deutlich die kleine Kuppel der City Hall – das Fahrgestell glänzte, der Chrom war 404
auf Hochglanz poliert, dazwischen spannte sich das Sternenbanner über Farbporträts der bei 9/11 gefallenen New Yorker Feuerwehrmänner. Weiter hinten im Park versammelte sich in kleinen Gruppen die Blaskapelle der Polizei. Die feierlich Uniformierten standen neben ihren in Koffern verstauten Instrumenten: Blasse, braune, schwarze Gesichter frei gemischt, vertrieben sie sich die Zeit, rauchten, lachten leise, warteten wie Soldaten vor einem Einsatz. Die Stimmung war gedämpft, jedenfalls schien es Avi Leumi so, der hinter dem hellblonden Bassisten, dessen breiter Körper in geschwungener Eleganz seinem Instrument kaum nachstand, lässig auf einer Parkbank saß, ein Bein über das andere geschlagen, die Ellbogen über die Rücklehne drapiert, mit den Fingerspitzen auf eine spiegelblank polierte, auf ihrem Koffer stehende Basstrompete trommelnd … »Für wen spielt ihr eigentlich heute«, fragte der MossadAgent, ohne den Blick durch die Polizeimusiker hindurch von dem einzigen Gesicht abzuwenden, das ihn an diesem Morgen interessierte. »Oh, Mann, stellen Sie Fragen!«, antwortete die afroamerikanische Polizistin, während sie ihr kostbares Instrument Leumis gespielt dummdreisten Fingern entzog. »Für die Mutigsten New Yorks?«, sagte er zu niemandem speziell. »Oder vielleicht für unseren frischgebackenen Präsidenten?« Er stand auf – gerade als Rick Bronx auf dem schmalen asphaltierten Fußweg an niedrigen Sträuchern vorbei nach vorne zur Besucherabteilung schlenderte, an den blauen Absperrbarrikaden stehen blieb. Vor ihm stand wie seit zweihundert Jahren das älteste Rathaus der Vereinigten Staaten, zwei Stockwerke hoch, mit dem Säulenportal über der breiten Treppe, dem
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schlanken Turm und jener so ehrwürdigen wie schön geformten Kuppel, die der Harvard University als Vorbild gediente hatte. Ein höherer Polizeioffizier, erkennbar am weißen Uniformhemd und den breiten, goldgelben Schulterklappen, schritt über die paar Stufen der Tribüne auf einen Zivilisten zu. Die beiden begrüßten sich mit Handschlag, gesellten sich dann zu einem Dritten, der ihnen den Rücken zukehrte. Hätte sich dieser Letztere auch nur einen kurzen Augenblick lang umgedreht, wäre Bronx sicher sofort das markante Gesicht des CIAKollegen Ken Cooper aus Science & Technology aufgefallen. Aber der Polizeioffizier und die zwei in dunkelblaue Anzüge gekleideten Männer joggten schon locker die langen, breiten Stufen zum Haupteingang hinauf, in die Empfangshalle, stiegen dann die geschwungene breite Treppe unter dem leicht hin und her schwingenden Calder Mobile vorbei, hinauf in den ersten Stock, ins Büro des Bürgermeisters von New York City im Westflügel. Unterdes suchte Bronx geübten Auges vergeblich nach diskret postierten Sicherheitsposten, konstatierte die Abwesenheit des Pulks von schwarzen Secret-Service-Wagen, die eigentlich bereits klar erkennbar zur Stelle sein müssten. Sein Blick schweifte über die Dächer, an die Straßenecken, zu den TVSendungswagen – die Fernsehstationen zumindest bestätigten ihm das vertraute Bild von Hektik und Positionsgerangel im Vorfeld eines präsidialen Auftritts. Wie immer hatte der verschlagene Taktiker Bronx einen letzten Trumpf im Ärmel. Die weiße Fendi-Tasche, die er Leslie vor Victorias Secret zugesteckt hatte, war in der Tat ein Meisterstück der Sprengstofftechnik. Ihn brauchte niemand etwas zu lehren. Scheich Khalid würde sich wundern! Die Innenseiten waren mit Schichten von feinstem SemtexSprengstoff ausgekleidet. Sollte die Palmer versagen, würde er die Ladung mit einem Anruf von seinem Handy zur Explosion bringen … Es ging eben nichts über wohl durchdachte 406
Antizipation – oder, wie es im Branchenjargon hieß, vorbehaltene Entschlüsse. In knapp zwei Stunden würde hier die Gedenkfeier beginnen. Sein Blick fixierte die vier Sessel hinter dem Rednerpult … Bronx stellte sich die Palmer alias First Lady der Vereinigten Staaten vor – Cinderella … aus der Asche der Türme zur First Lady aufgestiegen … Cincinnati im Jargon des Secret Service … mit der obligaten weißen Fendi-Tasche … wie sie mitten in der Zeremonie aufsteht, die Handtasche nach vorne zieht … jetzt öffnet sie sie … der Präsident schaut überrascht hoch … sie zieht den Revolver heraus, hebt ihn an … ein Aufschrei aus der Besuchermenge … Bronx schaute sich hämisch fasziniert um, stellte sich das Entsetzen der Menge vor, sah aber nur die Polizeimusiker ihre Instrumente auspacken … und dann drückt sie ab, und noch mal … die Kugeln treffen den Präsidenten aus nächster Nähe in den Kopf, ins Herz … Secret-Service-Agenten werfen die First Lady zu Boden … zu spät. Ein einziger, geller, vielstimmiger Aufschrei der Menge – dann Totenstille … Ein Knall zerriss die Luft, Bronx fuhr zusammen. Wer hat geschossen? »Sir? Würden Sie bitte zurücktreten!« Der Cop schaute ihn mit einem sonderbar forschenden Blick an – für einen Moment meinte Bronx, ins Gesicht von Howard Young zu starren. »Äh … sicher, Officer. Wo kam der Knall her?« Bronx trat zur Seite. Die Musiker blickten zur Straße hinüber … es war ein Motorrad gewesen, das mit einer Fehlzündung an den ohnehin schon strapazierten Nerven der Leute zerrte – jetzt dröhnend über die Park Row in Richtung Brooklyn Bridge davondonnerte, als sei dem Fahrer mit dem knallroten Integralhelm die Störung selber peinlich. 407
Bronx hasste diese souverän unbekümmerten Motorradfahrer, wie jenen Arzt, der die Palmer im Trümmerhagel wie eine Stoffpuppe über seine Maschine drapiert hatte – hatte der nicht auch einen roten Helm getragen? Er verabscheute Biker, Skater – alle diese mobilen Freiheitsindividualisten. Besser nicht auffallen! Bronx beschloss, sich einen besseren Blickwinkel zu verschaffen. Er setzte zu einem leichten Trab an, seine Gestalt zerfloss im Mischbild von Bäumen, Musikern, Sträuchern und Passanten. Avi Leumi war Bronx wie ein Schatten gefolgt. Er hielt sich eine Pendlerzeitung, die er aus einer Abfalltonne des karitativen Ready, Willing and Able Programms für saubere Straßen gefischt hatte, vors Gesicht, lehnte sich an den Drehleiterwagen der Zweiten Kompanie. Dieser Bronx interessiert sich für das Sicherheitskonzept! Dann war der plötzlich wie von der Erde verschluckt. Fluchend rannte Leumi nach vorn, um die Vorderseite des Drehleiterwagens herum. Er spähte über den Broadway, suchte den Park ab, wieder den Gehsteig – da! Gerade tauchte Bronx in einen Wagen. Die Räder drehten durch … Weg! Verärgert wählte der Mossad-Agent die Nummer von Ken Cooper … … fast im gleichen Augenblick vibrierte das Handy in Bronx’ Jackentasche. Leslie Palmer. Endlich meldete sich diese Nervensäge! »Yeah«, knurrte er, professionell verhalten.
99 Es war halb elf Uhr am Sonntagmorgen, als Leslie die verhasste Nummer wählte. Bronx’ kiesiges Yeah tönte ihr sofort laut und 408
deutlich ins Ohr. »Wo stecken Sie, verdammt noch mal?! Wollen Sie wirklich, dass Ihre Jungen verrecken?« Leslie sagte nichts. »Hören Sie, Leslie, ich weiß, der Ort ist geändert. Sie gehen mit dem Präsidenten zum Medal Day in die City Hall. Alles bleibt wie besprochen …« Sie fiel ihm ins Wort. »Weiß ich, Bronx. Die Zeremonie wird über die Bühne gehen. Ich werde alles beobachten und genau das tun, was von mir erwartet wird.« Sie schaltete ihr Handy auf Lautsprecher. »Gut … äh … Moment! Stimmt etwas nicht? Habe ich etwas missverstanden?« In diesem Augenblick drehte Amira mit einem Ruck den Kopf zu Leslies Hand, die das Telefon umfasste, schrie Unverständliches ins Gerät. »Hamla salîbiyya yahûdiyya jadîda!« »Was hast du gesagt, du alte Hexe? Was? Was soll das heißen?« Leslie griff nach dem Stellmesser, ließ die Klinge schnellen. Amira schwieg, Triumph glänzte in ihren Augen. »Wer … hat das … gesagt?«, kam es stockend aus dem Lautsprecher. »Deine Mutter, Bronx. Sie ist in meiner Gewalt. Ich habe den Spieß umgedreht, oder?« Die Antwort kam sofort. »Ich glaube Ihnen kein Wort. Warum verkaufen Sie mir nicht gleich die Brooklyn Bridge, ha?« »Moment!« Seine Masche ging ihr echt auf die Nerven. Martin Luther steckte ihr mit viel sagendem Blick einen Zettel zu, auf dem die Übersetzung des arabischen Ausrufs hingekritzelt war. 409
»Danke … Bronx, hör zu, deine liebe Mutter hat dir zugerufen ›Dschihad ist die einzige Lösung!‹ Sie hat dich als Doppelagent der al Qaida entlarvt. Amira, sag es ihm noch mal – auf Englisch!« Leslie hielt der Frau das Handy vor den verschleierten Mund. »Adil, ich bin’s, deine Mama!« Bronx’ Gesichtszüge entgleisten und sein Magen zog sich zusammen. »Die Amerikanerin hat mich entführt, aus meinem Haus, jetzt bin ich hier in dieser gottlosen Stadt … möge Allah … hamla salîbiyya …« Leslie drückte ihr kalt die Klinge an die Gurgel. »Noch ein Wort, Schlampe, und du bist Geschichte!« Die Frau gurgelte, stöhnte auf. Ein Schrei schallte hohl aus dem Lautsprecher. »Leslie, stopp! Bitte! Es war doch harmlos.« »Aha, das soll plötzlich harmlos sein! Ich sage dir, was die einzige Lösung ist, Bronx. Ich schneide deiner lieben Mami jetzt ein Öhrchen ab, dann das andere, danach kommt ihr reizendes Näschen an die Reihe, das haarige Kinn überspringe ich und gehe direkt zu den …« »Aufhören!«, schrie Bronx. »Ach, Bronx, guter Junge, flehst du? Verlierst du etwa die Fassung? Sieh mal einer an.« »Okay, was wollen Sie?« »Hör gut zu, Bronx. Wir tauschen die Gefangenen. Ich gebe dir zehn Minuten, um alles mit deinen Leuten abzustimmen.« Bronx schien mit einem Anfall von Keuchhusten zu kämpfen. Dann: »Leslie, ich brauche mehr Zeit, bevor ich zusagen kann.« »Hast du nicht. Entweder du steigst ein, oder deine Mutter steigt aus. Kommt dir das bekannt vor, oder etwa nicht? Zehn 410
Minuten. Ich rufe wieder an. Du nimmst dann hübsch schnell ab und ich gebe dir Anweisungen für den Austausch.« Amira freundlich zuzwinkernd, schaltete sie ab. Im Lagerhaus an der Brooklyn Waterfront trat Bronx mit verkniffenen Lippen vor seine Männer. Nur mühsam brachte er hervor, was ihm Cinderella eben diktiert hatte. Geiselaustausch! Er musste sein Gesicht wahren. Klein beigeben kam nicht in Frage. Die Blicke seiner Leute verhießen nichts Gutes. Sie warteten doch nur genüsslich darauf, dass ihrem unfehlbaren, knallharten Boss ein Patzer passierte … »Leon, Chenny … hört gut zu. Hier ist mein Plan. Wir schicken nicht Craig und Alex über die Brücke, sondern zwei, die aussehen wie sie, kapiert?« Der Fettkloß rieb sich unsicher das Kinn. »Wie sollen wir das verstehen, Boss?« Sich zusammenreißend erläuterte Bronx ruhig: »Ein Trick, Dummkopf! Wir tauschen nicht Alex und Craig Palmer aus, sondern zwei Typen, die als Alex und Craig durchgehen, schnallst du’s jetzt endlich, verdammt?« Leon nickte. »Okay, Boss, also zwei ähnliche Kerle, gleiche Klamotten, Größe … ziemlich schwierig.« »Nimm hier das Foto.« Der Schiefäugige war schneller. Er schnappte sich das Bild der Palmer Boys, meinte salopp: »Ich weiß, wo sich solche Typen rumtreiben, Boss. Los, Leon, wir zischen ab.« »Halt! Gebt euch verdammt noch mal Mühe. Ich zahle jedem, der mitmacht, hundert Piepen, oder meinetwegen auch zweihundert.« »Und was sollen wir ihnen erklären, Boss?« Bronx warf ungeduldig die Hände hoch. »Sagt einfach, wir drehen einen Film, brauchen Statisten, das zieht immer. Sie 411
müssen nur über die Brooklyn Bridge laufen. Ruft mich an, wenn ihr so weit seid. Ich will die Burschen begutachten. Los jetzt, verliert mal das Blei aus euren Ärschen!« »Geiler Trick, Boss«, grinste der Schiefäugige, salopp einen Finger an den Rand des Mützenschirms legend. Kaum hatten die beiden den Raum verlassen, rief Leslie zurück. »Bronx, hörst du mich? Jetzt gebe ich dir meine Anweisungen. Du befolgst sie ohne die geringste Abweichung, verstanden? Natürlich nur, wenn du deine liebe Mama in diesem Leben jemals wieder in die Arme schließen willst – ist das klar?« »Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, knirschte Bronx. »Heute Punkt zwölf Uhr auf der Brooklyn Bridge. Genau in der Mitte. Ihre Mutter kommt von Manhattan, meine Söhne Alex und Craig von Brooklyn her. Genau um zwölf marschieren die Gefangenen unter den Pfeilern los über die Brücke. Wir checken die Uhren. Es ist jetzt genau elf Uhr sechzehn.« Bronx überlegte. Die Pfeiler standen etwa fünfhundert Meter auseinander. Es war für Leslie Palmer auf diese Distanz schwierig, die Gesichter ihrer Söhne zu erkennen. Sonnenbrillen, Mützen mussten sie tragen … »Die Zeit, Bronx? Was zeigt deine Billigplastikuhr an – 11:16?« »Ja, 11:16.« »Und noch etwas, Bronx. Für den Fall, dass du eine krumme Tour versuchst, habe ich ein AR-15-Scharfschützengewehr in Stellung, das Fadenkreuz genau auf den rabenschwarzen Hinterkopf deiner Frau Mutter ausgerichtet. Kaliber .23, Hohlgeschoss. Der Kopf platzt wie eine Wassermelone. Hast du mich verstanden?« »Ja … Verstanden, du, du dreckiges …«
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»Klappe, Bronx! Jetzt bin ich dran. Wie hast du mir doch so schön gedroht? ›Wenn Sie den Job verbocken, Leslie, sind Ihre Jungen kalt und tot.‹ Also, genau dasselbe, haargenau dasselbe, gilt jetzt für deine gute alte Mama und nicht mal aus Alabama, du elende Jammergestalt! Sag mir jetzt laut und deutlich: ›Ich habe verstanden!‹« Ein paar schwere Herzschläge lang blieb die Verbindung stumm. Dann keuchte er: »Kapiert, Leslie!« »Nein, hast du nicht. Du sagst nicht ›Kapiert‹, du sagst ›Ich habe verstanden‹.« »Ich habe verstanden«, kam es dumpf zurück. Bevor sie die Leitung kappte, sagte sie mit fester Stimme: »Irgendeine krumme Tour, Bronx, und deine Mutter wird erschossen. Das Gleiche gilt, wenn du meinen Söhnen auch nur ein Härchen krümmst. Damit wir uns verstehen. Weder deine fiesen Schergen noch meine Leute werden die Brücke betreten. Nur die Geiseln. Auch keine Polizei. Denk an meinen Scharfschützen! Und an den Hinterkopf deiner Mutter. Und vergiss die Wassermelone nicht.« Die Verbindung war weg. Bronx drückte die Handeinheit in der Faust zusammen, dass seine Knöchel weiß anliefen. In der Duane Street warf Nassim Leslie einen bewundernden Blick zu. Auf sein unrasiertes Gesicht schlich sich ein anerkennendes Lächeln, etwas wie Zärtlichkeit kam in seine rauchige Stimme. »Wo wollen Sie den Scharfschützen postieren?« Leslie machte ein stummes Zeichen mit dem Kopf, stieg dann aus. 11:20. Im Lagerhaus summte blinkend der graue Tischapparat. Bronx löste sich aus seiner Erstarrung. Die schleimige Stimme
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von Scheich Khalid war unverkennbar. Bronx brauste sofort auf. »Sind Sie verrückt, hier anzurufen!« »Schnauze, Bronx! Es ist die Landlinie. Wir halten uns kurz. Wie ist die Lage?« Bronx zögerte. Khalid bohrte unerbittlich. »Gibt es Schwierigkeiten? Mein sechster Sinn sagt mir, irgendwas läuft nicht rund.« Bronx wand sich wie ein Aal am Haken. »Nun, ja, etwas Unerwartetes, kleines Flimmern auf dem Schirm, ich … wir bügeln das aus …« Der Scheich schnitt ihm scharf die Rede ab. »Was soll der Quatsch? Was ist passiert? Hast du die Hosen voll, oder was?« »Cinderella hat meine Mutter als Geisel genommen, weiß nicht, wie sie das fertig gebracht … aber kein Zweifel … jetzt will sie einen Geiselaustausch – ihre Söhne gegen meine Mutter.« Khalid schien sich förmlich in Schadenfreude zu suhlen. »Cinderella, diese miese Braut, die setzt dir ganz schön zu, Bronx, was? Was hast du jetzt vor?« Bronx suchte nach Worten, nach einem Ausweg. Sollte er den Trick verraten? Bevor er die Sprache fand, dröhnte ihm der Scheich wortreich in die Ohren. »Die beiden Boys sind wertvoller als deine Mutter, Bronx. Hast du mich verstanden?« Bronx schluckte. »Was ist denn dem großen Spionagemeister passiert?«, spottete Khalid. »Der Geiselaustausch findet nicht statt, ist das klar? Das befehle ich. Vermutlich ist das sowieso nur eine miese Finte. Wer auch immer dahinter steckt, gaukelt dir etwas vor. Hörst du mich?« Bronx stieß ein giftiges Knurren aus. 414
»Operation Cinderella ist dein Baby, Bronx. Also, du ziehst die Sache bis zum bitteren Ende durch. Keine Rücksicht auf Verluste. Wie sagtest du so schön? ›Die Sprache des Kriegs ist Opfer.‹ Eben! Tut mir leid, Bronx. Diese militärische Operation duldet keine Rührseligkeiten.« Bevor Bronx noch etwas sagen konnte, hatte der Scheich aufgelegt.
100 Während sich der Bürgermeister im Westflügel der New York City Hall abmühte, seiner Rede den letzten Schliff zu geben, wobei die Sicherheitsbedenken, die ihm der FBI-Deputy vorgetragen hatte, seine Gedanken abdriften ließen, stiegen unten auf der City Hall Plaza Bill Baker und Ken Cooper in den mobilen Kommandoposten der New York City Police. Der weiße, fensterlose Bus stand hinter dem Drehleiterwagen der Zweiten Kompanie geparkt. »Auf der Leiche von Secret-Service-Agent Sureman wurde ein geheimer Einsatzplan gefunden«, fasste Cooper die Ergebnisse zusammen. »Meine Mitarbeiterin hat ihn sichergestellt. Wir nehmen an, Frank Sureman hatte ihn gestohlen und versucht, ihn seinem Kontakt zuzuspielen.« Baker meldete sich. »Nein, ich denke, er hatte ihm die Zieldaten bereits telefonisch übermittelt, darauf haben sie ihn unschädlich gemacht.« »Der Schuss könnte aber auch der First Lady oder ihrer Begleiterin gegolten haben«, forschte Cooper weiter. »Wissen wir überhaupt, wer die andere Frau am Tatort war? Haben wir ein Bild?« »Nur eine dürftige Beschreibung – schwarze Kleidung, Sonnenbrille, nicht viel Brauchbares. Wir haben dafür das 415
Anrufregister des Mobiltelefons von Frank Sureman sichergestellt – allerdings leer, bis auf einen Kontakt. Wir haben die Nummer zu peilen versucht.« Der Polizeioffizier mit den breiten gelben Schulterklappen eines Captain schaute auf seinen Chronometer. »Meine Leute stehen bereit. Zwei SWAT-Teams verstärken die Mob-ControlEinheiten. Befürchten Sie einen Anschlag auf den Präsidenten? Habe ich richtig verstanden?« Cooper nickte. »Avi Leumi vom Mossad ist von der Idee besessen, dass Bronx als Doppelagent dahintersteckt.« Baker war ganz Ohr. »Und wie kam der Mossad ihm auf die Spur?« »Ich glaube, das hat mit einer früheren Begegnung während eines operativen Einsatzes im Jemen zu tun. Persönliche Sache. Leumi ist hartnäckig, es ließ ihm keine Ruhe, dann wollte es der Zufall, dass er mir half, den Mordfall Howard Young mit Luftaufnahmen zu untersuchen. Es scheint, dass Bronx genau den Wagen fuhr, den die UAV-Kamera am Tatort fotografiert hat.« »Bronx ist eine Legende in Langley, Ken. Angenommen, er ist der Verräter, den Secret-Service-Agent Sureman mit Zieldaten bedient hat, dann ist Leslie Palmer seine Komplizin«, folgerte Baker. Coopers Schulterzucken signalisierte nur bedingte Zustimmung. »Leumi hat Bronx heute Morgen vor der City Hall gesichtet. Was treibt ihn da herum außer geheime Erkundungen, verbotene Kontakte vielleicht? Ich will, dass sämtliche Funksignale hier in der Umgebung überwacht werden.« »Elektronische Ermittlung ist bei uns hier im mobilen Kommandoposten integriert«, bestätigte der Captain. »Was bisher passiert ist, hat uns ganz schön aus den Latschen gehauen, Sir. Mag uns der Himmel vor Ähnlichem mehr bewahren!« 416
Baker nickte zustimmend. Die Männer waren sich einig. Es ging nur noch darum, wer es dem Bürgermeister beibrachte, die Zeremonie abzusagen. »Der Secret Service hat die Entscheidung bereits gefällt, Ken. Der Präsident kommt definitiv nicht zur Feier in die City Hall.« »Dann werde ich dem Mayor Ihre Entscheidung überbringen«, erbot sich der Polizeioffizier. Cooper erlaubte sich ein Lächeln. »Nett von Ihnen, Sir. Sie tragen Uniform. Soweit ich weiß, hat der Bürgermeister noch nie versucht, einen Mann in Uniform zu verprügeln.«
101 Fast in Sichtweite der City Hall blieb Bronx stehen, legte eine Hand auf das kalte Geländer. Vor vielen Jahren hatte er an dieser Stelle auf der Brooklyn Bridge die dicken Stahltrosse bestaunt, die dort ihren Anfang nahmen, sich gewaltig über die hohen Pfeiler hinweg spannten. Sein Vater hatte ihm in seiner praktischen Art das Prinzip dieser weltbekannten Hängebrücke erklärt. »An den Stahlseilen hängt das ganze Deck der Brücke. Der Ingenieur musste die Belastung unerhört präzise kalkulieren, und das vor hundertfünfzig Jahren. Der Mann hatte Mut und Weitsicht.« Dieser Satz war haften geblieben, er erinnerte sich daran, als hätte er ihn gestern gehört. Eine brennende Sehnsucht nach den guten Zeiten seiner Jugend erfüllte ihn schmerzlich, als er mit dem Blick den Stahlseilen und Netzmaschen folgend zum breiten sandsteinfarbenen Turm emporschaute, über den die dicken Stahltrosse an drei Stellen die Last an Widerlager verteilten. Damals hatte er im Glauben an die unbegrenzten Möglichkeiten Amerikas voller Stolz und Zuversicht staunend 417
neben seinem Vater gestanden. Die Brücke war ihm ein Symbol für eine neue bessere Welt gewesen, für Abenteuer, für eine glamouröse Karriere anstelle trister Plackerei. Der Einzug in die feine Gesellschaft Amerikas hatte ihm bevorgestanden … Träume, Träume, alles Träume! Die hohen Pylone wirkten unerschütterlich majestätisch, verströmten festes Vertrauen in die Fundamente – nicht bloß der Brücke, nein in die Grundfesten Amerikas, als gäbe es keinen Ground Zero in Sichtweite nebenan. Dieses Land, schwante Bronx, ließ sich nicht unterkriegen – gegen die optimistische Stimmung, die einen auf Schritt und Tritt umfing, war schwer anzukämpfen. Die zwei schlanken Bogen für den Durchlass des Fahrdecks wirkten wie gewaltige Kirchenfenster im neugotischen Stil, verliehen der massiven achtzig Meter hohen Konstruktion eine lässige Eleganz. Licht durchströmte die funktionale Struktur, eine metaphysische Urkraft ging von ihr aus – dem Blick öffnete sich der Himmel über der Skyline Manhattans. Der Charme, den die Brooklyn Bridge verströmte, die Sehnsucht nach Aufbruch und weiten Horizonten, das alles erfuhr in diesen Tagen allerdings schwere Dämpfer. In der Silhouette der mächtigen Metropole fehlten jetzt die Zwillingstürme. Als hätten sie nie da gestanden! Eine unfassbare beklemmende Lücke klaffte, und immer noch stiegen aus den Trümmern von Ground Zero Rauchschwaden hoch. Jennifer hatte ihren mobilen Kommandoposten auf der andern Seite der Brücke in Brooklyn neben der High Street Subway Station aufgebaut. Sie saß im Heck eines Army Commando Humvee, das Mobiltelefon unschlüssig in der Hand. Sollte sie jetzt anrufen? Zwischen ihr und Ken und dem FBI-Deputy Baker hatte sich in den vergangenen Stunden rasch ein Teamgeist entwickelt. 418
Man verstand sich. Die schweren Verdachtsmomente gegen Bronx hatten schließlich auch den Skeptiker Cooper überzeugt. Bill Baker hatte gute Arbeit geleistet – professionell beharrlich war er den spärlichen Spuren nachgegangen, hatte die Ressourcen seiner Spezialisten im FBI voll ausgenützt. »Wir haben die Nummer auf Suremans Handy gefunden und konnten eine Empfangsstation peilen«, hatte Baker berichtet. »Ein als Public Storage getarntes, von der CIA früher benutztes Security House in Brooklyn. Ein SWAT-Team, verstärkt mit einer Pionierkompanie der Army, hat in der Zwischenzeit in der Nähe eine Bereitschaftsstellung bezogen.« Der Kommandant der Pioniereinheit reichte Jennifer einen Pappbecher Kaffee und legte dann einen Gebäudeplan auf den Kartentisch. »Das Haus ist voller Altlasten«, erklärte er. »Tonnenweise Fässer und Container im Keller. Von den Richtmikrofonen hörten wir schwammige Stimmen. Ich schätze, ein Dutzend Leute hält sich im Gebäude auf.« »Es geht um die beiden Jungen. Ihnen darf kein Haar gekrümmt werden.« »Sind Sie sicher, dass die Boys im Gebäude sind?« »Nein, aber wir werden es in der nächsten halben Stunde wissen.« Jennifer saß wie auf Kohlen. Baker hatte ihr mit seinen Fragen zugesetzt. Wo befand sich Leslie Palmer? Hat man sie schon befragt? Sie war ihm mit der Erklärung ausgewichen, die Frau sei im Gewahrsam des zuständigen Unterstaatsanwalts. Was ungefähr stimmte. Sie musste die Männer auf jeden Fall auf Bronx hetzen. »Ein Wagen verlässt das Gebäude. Vier Personen. Was machen wir?«, tönte es aus dem Lautsprecher des Funkgeräts.
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»Machen Sie mich mit den Einzelheiten vertraut, Sergeant«, verlangte der Kommandant »Dunkelgrüner Dodge Van, 6778 XML, New York.« »Durchlassen, nicht verfolgen, weiter beobachten«, befahl der Commander auf eine unmissverständliche Geste von Jennifer. Es war 11.45 Uhr. »Das Zielobjekt fährt die Jungen zum Treffpunkt«, sagte Jennifer und stieg aus. Sie schritt zur Gruppe der Motorradfahrer hinüber, um sich mit Nassim zu besprechen. Minuten später fuhr der Dogde an die Auffahrt zur Brücke, stoppte plötzlich. Männer sprangen aus dem Wagen, überquerten die Fahrbahn und rannten an die Treppe zum Fußgängerweg der Brücke. Nassim gab seinen Kumpels das Zeichen. Die Motoren heulten auf, in lockerer Formation dröhnte das Dutzend schwerer Maschinen in Richtung Auffahrt weg. Auf der Mitte der Brücke hatten sie den Van eingeholt, umzingelt, zwangen den Fahrer auf der anderen Seite der Brücke in die Duane Street abzubiegen, wo ein halbes Dutzend ihrer Kumpanen bereitstand.
102 Hatte sich die grandiose Tat gelohnt? Bronx gab sich einen Ruck. Seine Uhr zeigte 11:58. Ohne zurückzublicken, gab er ein Handzeichen und marschierte über die Holzplanken des Fußund Fahrradwegs auf den Pfeiler der Brooklyn-Seite los. Er schritt in der Mitte, dachte nicht im Traum daran, seine Mutter zu opfern, setzte auf der gelben Trennlinie stur einen schweren Fuß vor den andern. Hinter ihm folgten die beiden schlaksigen jungen Männer, die ihre Rolle als Statisten so ernst nahmen, dass man sie leicht für die Stars der neuen aktionsgeladenen TV-
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Serie hätte halten können. Leon, wie immer mit verknautschtem Hut, war wie abgesprochen zurück geblieben. Dieser Arsch, sinnierte Bronx grimmig im Takt seiner Schritte, dieser Arsch von einem Scheich hatte wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank, wenn er glaubte, er könne ihm die tiefste, die intimste aller Beziehungen zerstören. Alles musste anschließend sehr schnell ablaufen – Leon mit seiner kolossalen Masse und zwei Knarren in den Schulterhalftern sollte den Rückzug decken. Wie an allen anderen Tagen zogen Scharen von Touristen bei jedem Wetter über die berühmte Brücke. Sie fotografierten, staunten, Radler zirkelten rücksichtsvoll um sie herum. Die vielen Leute passten gut in Bronx’ Plan. Wenn es losging, würden die für die nötige Verwirrung sorgen. Monoton rauschte auf beiden Seiten unter ihnen der dichte Verkehr, mehr als hunderttausend Autos jeden Tag. Je näher Bronx an den Turm kam, desto klarer sah er seine Mission. Nostalgische Erinnerungen wichen harter Realität, Emotionen beugten sich wirksamer Taktik. Operation Cinderella durfte nicht scheitern, nicht im letzten Moment. Für wen hielt sich die Palmer denn? Meinte diese Zicke tatsächlich, sie könne Rick Bronx, den Krieger Allahs, von seinem hehren Ziel der gerechten Sache abbringen? Eine Aussichtsplattform führte auf beiden Seiten vom Fußund Fahrradweg um die Pfeiler herum. Auf Bronzetafeln, die am doppelten Eisengeländer angebracht waren, gaben Inschriften und Reliefs Auskunft über die Baugeschichte der am 24. Mai 1883 eröffneten Brücke. 11:59. Bronx verharrte auf der südlichen Plattform am Geländer stehend, starrte ins Wasser des East River hinunter. Ein weißes Ausflugsboot, von der Südspitze Manhattans herkommend, drehte ab. 421
»Die New Yorker hatten dem Ingenieur nicht geglaubt, dass die Brücke halten würde«, hatte Vater gewusst, als sie an dieser Stelle über das Wasser blickend in der Ferne nach der Freiheitsstatute spähten. Er hatte dem staunenden Adil erzählt, dass die Konstrukteure zum Beweis der Tragkraft zuerst einundzwanzig Elefanten eines Zirkus über die Brücke getrieben hatten. Bewiesen hatte das gar nichts, aber es machte eine gute Show – damals, als Amerika noch ein Teenager war. Bronx drückte den beiden jungen Männern einen Hundertdollarschein in die Hand, gab ihnen letzte Anweisungen: »Ruhig geradeaus, nicht stehen bleiben, bis zum andern Pfeiler. Die Kameras laufen.« 12:00. Auf der Manhattan-Seite setzte sich die elegante Gestalt im langen, grünen Rock in Bewegung. Sie trat unter den Bögen hervor, begann den Gang über das rund 500 Meter lange, zwischen die Türme gehängte Deck – der Geiselaustausch hatte begonnen. Gegenüber, auf der Brooklyn-Seite, stieß Bronx die beiden Jungen unsanft in die Seite. »Los jetzt! Haut ab! Zeit ist Geld, ihr haltet die ganze Produktion auf!« Er riss den Kleinfeldstecher hoch, sah sie sofort. Unverkennbar. Zwischen bunt gekleideten Spaziergängern kam sie daher. Wie stolz ihre Haltung war! Ihr typisch schleppender Gang, die mollige Figur, der wie immer aparte Schleier … Amira! Mutter! Bronx’ Herz schlug schneller. Er senkte das Fernglas, wartete ungeduldig. Seine Mama, sein Ein und Alles auf dieser Welt! Sie lief ihm entgegen, in seine Arme, nur Augenblicke entfernt, hier auf der Brooklyn Bridge, auf der Brücke aller Sehnsüchte … Unterdessen beobachtete Leslie aufmerksam die beiden Männer, die ihr über die Brücke entgegenkamen. Sie trugen ihre üblichen schlabberigen Klamotten, Mützen auf dem Kopf, 422
Sonnenbrillen … Leslie studierte ihren Gang, die Armbewegungen, die Kopfhaltung … die Gebärde des Auf- und Wegschauens … und wusste Bescheid. Trotz der todernsten Situation stahl sich ein Lächeln in ihre Züge – gute, schlaksige Jungs, die beiden da. Aber Craig und Alex? Wenn die Craig und Alex sind, bin ich tatsächlich Amira …
103 Für Leslie bestand nicht der geringste Zweifel. Die beiden Männer, die Bronx losgeschickt hatte und die jetzt lässig über das Brückendeck schlenderten, waren nie und niemals ihre Söhne. Schlechte Doubles. Gott sei Dank hatte sie auf Chuck gehört. Sie biss sich auf die Lippen. Jetzt war Kampf angesagt. Bronx schien es eine Ewigkeit zu dauern, bis die Gefangenen sich kreuzten, seine Mutter endlich, endlich immer näher auf seine Seite kam. Er breitete überglücklich die Arme aus, als die elegante Frau in ihrem leuchtend grünen knöchellangen Rock, dem schwarzen Schleier noch gut zehn Meter entfernt war. »Mama!« Sie hob mit einer grazilen Bewegung den feinen schwarzen Schleier. Bronx starrte wie betäubt ins Gesicht von Leslie Palmer. »Schweinehund!«, zischte sie. »Da rüber!« Die schwere Pistole in ihrer Hand erstickte jeden Widerstand im Keim. Bronx gehorchte augenblicklich. »Und jetzt bringst du meine Söhne her. Sonst bleibt nicht viel übrig im Gesicht deiner Mutter … oder in deinem. Ich gebe dir eine Viertelstunde! Dann beginnen wir mit dem Abschneiden ihrer Gliedmaßen … wir filettieren sie einfach.« 423
Die Worte trafen Bronx wie Messerstiche, sein Körper wand sich vor Schmerz und Wut, als hätte sie ihm einen glühenden Stab in den After gerammt. Aber er tat, was sie verlangte. Punkthaargenau diesmal. Er telefonierte zähneknirschend. Sein wutentbranntes Gesicht glühte rot. Giftige Blicke trafen Leslie. Gelassen stand sie vor ihm, schirmte sein Blickfeld ab, hatte die Lage unter Kontrolle. Chuck Browne, der ihr gefolgt war, hatte alles mitbekommen und die Gruppe, die unter dem anderen Pfeiler in der Etappe zwei abwartete, herbeikommandiert. Von all dem nahm Bronx nichts wahr. In seiner Welt umgab ihn ein böses Rauschen, eine drohende Finsternis, die langsam auf ihn eindrang, ihn zu umfangen. Bronx’ Welt war Chaos …
104 Es dauerte … das waren die längsten Minuten im Leben von Leslie Palmer. Auf der südlichen Plattform des Brooklyn-Pfeilers klammerte sich Bronx ans Geländer. Chuck Browne, der Unterstaatsanwalt, stand dicht neben ihm, den Lauf seiner Glock Police Special unmissverständlich in Bronx’ Nierengegend gedrückt. Ronnie, ein ConEdison-Helm auf dem Kopf, gab gegenüber auf der nördlichen Plattform des Pfeilers vor, dort Instandhaltungsarbeiten auszuführen. Ein grellgelber Kegel mit der Aufschrift KEEP OUT hielt Passanten fern. Long Bill warf ein wachsames Auge auf Amira, die in ihrem grünen, langen Kleid, den Schleier vor dem Gesicht, mit steif gehaltenem Rücken unbeweglich in der Pfeilernische stand und den East River hinauf stierte. Knapp zwanzig Meter trennten sie von ihrem Sohn auf der andern Seite des mächtigen Pfeilers. 424
Breitbeinig stand Leslie wie ein menschlicher Verkehrsteiler in der Mitte des Fuß- und Fahrradwegs. Die schwarze Stofftasche fest unter einen Arm geklemmt, das Handy in der Hand, überwachte sie angespannt das Aktionsfeld. Sie fühlte sich wohl unter dem Schleier. Niemand brauchte ihr Gesicht zu erkennen, schon gar nicht die beiden Cops, die gemächlich auf ihrem Patrouillengang an ihr vorbeischlenderten. Jennifer rief an, die Boys seien auf dem Weg. Leslies Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Wird’s jetzt endlich klappen? Auch Bronx’ Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Wie ein gestelltes Tier suchte er krampfhaft nach einem Ausweg aus der völlig verfahrenen Lage. Leon muss doch was mitbekommen haben. Hat er den Fahrer des Vans alarmiert? Wo stecken die beiden? Er konnte auch die gegenüberliegende Plattform, etwa fünfundzwanzig Meter entfernt, nicht einsehen. Dumpf schnaubend tat er einen Schritt zur Seite, doch Chuck Brownes harter Druck mit der Laufmündung ließ ihn sogleich steif stehen bleiben. Immerhin hatte er sich leicht verschieben können, so dass der lästige Bursche neben ihm nicht mehr völlig von seinem Körper abgedeckt war … Im Humvee-Kommandowagen gab Jennifer dem SWAT Team den Einsatzbefehl. Gebäude stürmen, Beweismaterial sicherstellen! Der Commander der Pioniereinheit ließ seine Leute mit dem schweren Gerät vorrücken. Da kamen sie. Leslie hatte diesmal nicht die geringsten Zweifel. Alex und Craig! Sie musste sich beherrschen, nicht loszurennen, ihnen zuzurufen. Ihr Mutterherz schlug höher. Patente Kerle, ihre Boys. Wie sie aufrecht daherkamen, der geschmeidig lässige Gang, als gehöre die Welt ihnen. Überhaupt keinen geknickten Eindruck machten sie. Leslie konnte den Blick nicht von ihren Gesichtern abwen425
den – und vergaß dabei völlig, die Leute um die Jungen herum kritisch zu erfassen. Als sie endlich den Fleischkloß mit dem platten Hut entdeckte, war es zu spät. Am Geländer stehend hob Leon wie in Zeitlupe den Arm mit der silbern glänzenden Waffe, zielte. Leslie kreischte auf. Der Knall zerriss die Luft. Chuck Browne sackte zusammen. Die Leute stoben auseinander, rannten, schrien. Wo bleiben die Boys? Leslie sah sie nicht mehr. Furchtbar! Sekundenschnell war der Fleischige herangesprungen, hatte Bronx seine zweite Waffe zugeworfen. Bronx fühlte den Adrenalinschub. Jetzt war Kampf. Sein Terrain. Sie waren in der Minderheit. Zweifellos hatte Leslie ihre Leute auf der andern Plattform versammelt. Rasch handeln jetzt – einschüchternd, brutal musste der Angriff sein. Er gab Leon das Zeichen für linksherum, er machte sich bereit, von rechts um den Pfeiler herum anzugreifen. Leslie hatte immer mit Waffen umzugehen gewusst. Doch es war etwas ganz anderes, auf Menschen zu schießen. Selbst in Notwehr wie jetzt. Long Bill deckte die rechte Flanke … Wenn Bronx von beiden Seiten gleichzeitig angriff … Leslie kam nicht dazu, einen Plan zu entwickeln. Schüsse krachten, Steinsplitter spritzten weg. Leslie sprang aus der Deckung, feuerte beidhändig aus der Kauerstellung. Bronx tauchte ab, schoss, an die Mauer gedrückt, zurück. Der Schusswechsel wiederholte sich mehrmals. Leslies grünes Kleid wirkte als perfekte Zielscheibe, behinderte ihre Beweglichkeit, während Bronx schneller handelte, kaum ein gutes Ziel bot. So konnte es nicht weitergehen. Sie musste die Initiative ergreifen. 426
»Bronx!«, schrie sie. »Gib auf! Dafür, dass du Amerika so verabscheust, kennst du uns nicht besonders gut. Was immer du auch tun willst, du kannst hier nicht gewinnen. Deine Mutter …« Ein Trommelfeuer verschlug ihr die Sprache. Auf der anderen Seite stapfte Leon feuernd voran. Der ConEdison-Mann kauerte wie verdattert ans Geländer gedrückt. Der Fleischkloß grinste, schwenkte die Pistole auf die kümmerliche Gestalt. Ein dumpfer Knall. Stille. »Es hat ihn erwischt«, rief Long Bill. Es war Ronnie, der blitzschnell seinen schweren Revolver gezogen, Leon mitten ins Gesicht getroffen hatte. »Ronnie?«, fragte Leslie, den Rücken hart an die Wand gedrückt, die Waffe vor dem Gesicht. »Nein … Wir müssen Chuck holen, Les, gib mir Feuerschutz!« »Bronx! Hör zu! Amira, deine Mutter …«, schrie Leslie, wagte sich vor. Der Schuss schlug über ihrem Kopf in den Granit. Was blieb ihr anders übrig? Leslie packte Amira, die wie angewurzelt an die Mauer geklebt geradeaus starrte, am identisch grünen Rock. Sie riss ihr den Schleier vom Kopf, schob sie an die Ecke. »Ruf ihm was zu, los, irgendwas!« Amira schüttelte den Kopf. »Bronx – Amira!«, schrie Leslie. »Ich komme mit Amira raus … hast du verstanden?« Sie schubste die Frau vorwärts. Bronx drängte auf die Entscheidung. Er musste die Palmer jetzt ausschalten. Sie kannte sein Gesicht, wusste alles …
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Alle seine Muskeln waren zum Zerreißen gespannt. Er hob die Waffe an, spähte vorsichtig über die Kante. Kampfdrill. Da tauchte sie auf. Einen grünen Fleck vor Augen feuerte Bronx reflexartig, sie wankte – gut! – er drückte ab, nochmals, schoss das Magazin auf den zuckenden Körper leer. Die hart Getroffene torkelte rückwärts, fiel gegen das Geländer, die Augen starr geweitet, Blut quoll aus dem Mund über den schönen Busen, das grüne Kleid … »Hure«, keuchte Bronx. Da erkannte er das Gesicht. Die Waffe im Anschlag trat Leslie Palmer in voller Größe hinter dem Pfeiler hervor, blieb über der Leiche stehen. »Du hast deine eigene Mutter umgebracht, Bronx!«, konstatierte sie lakonisch. »Neiiin!« Bronx’ furchtbarer Schrei schien durch ganz Manhattan zu echoen. Er wankte vorwärts, warf sich zu Boden, über die Tote. Er stammelte, wimmerte, strich über ihr Gesicht, bedeckte das Antlitz der Mutter mit Küssen … Unterstaatsanwalt Browne rappelte sich mühsam hoch. Die Kugel aus Leons Waffe steckte in seinem Oberarm – er blutete stark. Long Bill leistete Erste Hilfe – von Manhattan her donnerten Motorräder heran. Von der Brooklyn-Seite kamen Uniformierte im Laufschritt, die Waffen gezogen, allen voran Jennifer. »Les! Les!«, rief sie, doch die Mutter wich nicht von der Stelle, hielt Alex und Craig zitternd, schluchzend umschlungen – der Schock saß ihr tief in den Knochen. Doch jetzt … jetzt wurde alles gut. Nassim drückte Browne den Verband auf. »Musst du immer in der Schusslinie stehen, alter Knabe?« Er setzte ihm eine Spritze an. 428
»Tut’n bisschen weh. Fall mir nicht gleich in Ohnmacht.« »Was hat er? Ist es schlimm?«, wollte Ronnie wissen, unschlüssig den ConEdison-Helm in seiner Hand drehend. Dann fragte er, mit besorgtem Blick zum mausetot auf den Holzplanken grotesk verrenkten Körper Leons deutend: »War doch Notwehr, oder?« »Keine Bange, Ronnie«, beruhigte der Arzt, »ich beantrage für dich die New-York-City-Tapferkeitsmedaille. Hilf mir vorher noch, Chuck aufzusatteln.« Sanitäter mit einer Rollbahre eilten im Laufschritt heran. »Wo ist er?«, wiederholte Jennifer. »Wo ist Bronx, Mom?« Leslie löste sich, blickte wie benommen aus ihrer Verkleidung heraus, ganz als habe sie die Rolle der Amira schlafwandelnd gespielt. »Bronx? Habt ihr ihn nicht? Nein …!« Long Bill streckte den Arm aus. »Da!« Alle Köpfe drehten sich. In der allgemeinen Aufregung hatte Bronx sich über das Geländer gedrückt. Jetzt kletterte er durch das Gestänge, über die Stahlträger, an den äußersten Rand des Brückendecks. »Stopp! Polizei! Kommen Sie sofort zurück!« Jennifer zog ihre Pistole. Zwei Polizisten flankten über das Geländer und näherten sich balancierend Bronx, der jetzt aufrecht stand, mit leerem Blick herüberstarrte. »Lass ihn, Jennifer, der geht nirgends hin«, bat Leslie leise, mit sanfter Stimme. »Wo soll der wohl jetzt noch hin?« Sie sah, wie Bronx in starrer Haltung, mit furchtbar verzerrtem Antlitz sein Mobiltelefon ans Ohr hielt. Ein groteskes Bild. Der Verräter am Abgrund. Avi Leumi sprach, Bronx hörte mit versteinerter Miene zu. »Was ist schiefgelaufen, Bronx? Sie waren der beste Agent, den die CIA je hatte. Warum hassen Sie Ihr Land? Antworten 429
Sie! Ich habe Sie im Jemen gesehen, Sie erinnern sich. Einsatzplanung. Für den Anschlag auf die USS Cole. Da bin ich heute sicher. Sie sind verdammt gut, Bronx. Warum tun Sie das alles? Wo befinden Sie sich eigentlich, physisch? Kommen Sie zur City Hall, dann unterhalten wir uns, wie es weitergeht. Bronx? Warum verraten Sie Amerika? Bronx …« Leslie stieg es eiskalt in den Hals. Bronx breitete die Arme aus, als wolle er sich ergeben. Mit starrem, nach oben gerichtetem Blick stieß er mit den Füßen von der Kante ab, ließ sich fallen. Rückwärts, lautlos, kippte er der Länge nach ab, fiel, scheinbar langsam, lautlos in die Tiefe. Leslie rannte zum Rand der Aussichtsplattform, beugte sich über das Geländer. Der Körper schwankte, drehte sich, es schien ewig zu dauern, dann klatschte er, nein, prallte hart gegen die zementharte Oberfläche des East River. Nassim steckte sich ein lachsfarbenes Zigarillo zwischen die Lippen, gab sich Feuer. »Das überlebt er nicht«, konstatierte er trocken. Ein Boot der Küstenwache kurvte mit Sirenengeheul heran. »Geben Sie mir auch eine!« Er reichte ihr ein Zigarillo, gab Feuer. Sie inhalierte tief, verschluckte sich, hustete – der raue Schmerz tief in der Brust tat gut. Sie lebte. Bronx war erledigt, aus ihrem Leben verschwunden. Eine grausamere Strafe hätte ihn kaum treffen können. Er hatte sich selbst gerichtet! Wie passend! Sie atmete durch, blies Nassim Rauch über die Schulter, deutete auf seine Füße. »Was haben Sie eigentlich – da?« »Ach, nichts – mein blödes Bein macht wieder Zicken.« »Was tun Sie dagegen?« »Schlucke Medis. Painkiller. Was sonst?« 430
»Versuchen Sie’s mal mit einem höheren Absatz. Sie borgen.« Nassims hellblaue Augen weiteten sich. »Borgen?« »Ja, Sie borgen Milde, damit es weniger wehtut, wenn Sie abtreten. Ich sehe das an Ihrer zaghaften Bewegung. Sie schonen das Bein. Was Sie brauchen, sind ein paar Zentimeter höhere Absätze – links.« »Schonung borgen! Das gefällt mir. Das spricht mich an.« Der Arzt warf die Kippe weg, trat ein paar Mal probeweise ab. Er blickte auf. »Sie haben eine wunderbare Tochter«, kam es unvermittelt. Jemand rief herüber, man suche nach der Leiche. Egal. »Wir gehen alle zurück in die Duane Street«, rief Leslie in die Runde. Sie hakte ihre Boys unter. »Jennifer? Kommst du auch?« Mutter und Söhne marschierten beschwingt davon. Jennifer telefonierte noch, gestikulierte erklärend hinter ihrer Familie drein, sie habe nur noch eine Kleinigkeit zu erledigen. Die Pionierkompanie hatte das Lagerhaus vor ein paar Minuten gestürmt. Der Commander erwartete Jennifer dort in der Halle. Seine Männer hatten die Schachtel mit den roten Papieren von Charles Palmer gefunden. Ein schneidiger Leutnant der NYCP eskortierte die Gruppe durch die massive Polizeisperre am westlichen Brückenaufgang in Manhattan. Ein Durcheinander von schweren Fahrzeugen, Streifenwagen, furchterregende SWAT-Teams in schwarzen Helmen und bauchigen Panzerwesten projizierten ein Bild totaler Alarmbereitschaft. TV-Aufnahmewagen richteten ihre Parabolantennen, Reporterteams drängten sich vor. Leslie zog den Schleier tiefer, die Boys schoben die Mützen ins Gesicht. Als sie die Duane Street fast erreicht hatten, zeigte ihr vibrierendes Handy einen Anruf der First Lady an. Leslie antwortete einsilbig, ja, die Söhne seien bei ihr und in Sicherheit. 431
»Es ist vorüber, Sarah. Alles ist gut. Können wir uns treffen? Wo bist du?« »Noch in der City. Wir sind nicht zum Gottesdienst gegangen. Ich sagte meinem werten Gatten einfach, noch nie in der Geschichte habe sich ein Präsident der Vereinigten Staaten in die Niederungen der New York City Hall hinunter begeben.« »Wie bitte? Er hat das akzeptiert?« »Nein, natürlich nicht. Er behauptete, Abraham Lincoln sei mal da gewesen – in 1861 oder so. Ich habe ihm gesagt, wir alle wissen ja, was Lincoln dann passiert ist. Er konterte, ich sei seine Ehefrau, nicht seine Sicherheitsberaterin. Als ob mir das nicht schon seit langem klar wäre.« »Und verzichtete dann trotzdem? Typisch!« »Du sagst es … Weißt du, warum?« »Aus Sicherheitsgründen?« Leslie konnte sich Sarahs lebhaftes Kopfschütteln ausmalen. »Cherchez la femme – vergib mir mein Französisch. Diese … na, du weißt schon, hat ihn nach Camp David verschleppt … am liebsten hätte ich ihr mit der weißen Handtasche eins übergezogen …« »Handtasche?« Eine Weile blieb die Verbindung stumm. Dann die First Lady: »Ich wusste, du hattest keine Ahnung.« »Doch, doch, der Revolver steckte drin, im roten, schmierigen Tuch …« Die Pleasure Cruise Riders hatten um die drei Fahrzeuge einen Pulk gebildet, der die Gaffer fernhielt. Leslie winkte den Männern lächelnd zu, als sie und die Boys sich durch die Maschinen zu den Wagen schlängelten.
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Sarah klang todernst. »Weißt du noch, wo du diese FendiTasche herhattest?« »Moment … Victoria’s Secret … Ja, klar! Von Bronx!« »Mir kam die Sache suspekt vor, Leslie. Bin ja auch nicht von gestern. Was sollte ich mit der blöden Tasche anfangen, nicht zu reden von der Knarre.« »Und?« »Sollte ich sie auf den Flohmarkt bringen?« Sie lachte über den Einfall. »Nein, im Ernst, bei Nacht und Nebel ließ ich mich gestern noch zur Arlington Memorial Bridge chauffieren. Dort schmiss ich die mit Kieselsteinen aus dem Rosengarten gefüllte Scheißtasche mitsamt der Waffe in die Fluten des Potomac. Ah, das tat gut. Nur keine Erinnerungsstücke herumliegen lassen.« »Genial, Sarah! Und der Präsident? Hast du ihm davon erzählt?« »Ach, der? Weiß von nichts. Ist der etwa nicht in Camp David in heiße Fragen der Nationalen Sicherheit verwickelt?« Das herzhafte Lachen tat Leslie wohl. Sie vereinbarten, sich am späten Nachmittag zu treffen. Den Treffpunkt würde Leslie noch durchgeben. Vorerst wollte sie mit ihren Söhnen und den Getreuen nach Brooklyn in die sichere Zuflucht von Vaters Haus. Dort würde sich auch Jennifer einfinden. Mit Nassim? Dem modernen Ritter hoch zu stählernem Ross? Mit einem aufgestockten Stiefel? Sie kicherte. Wie sagte der gute alte Shakespeare doch so treffend? Die ganze Welt ist eine Bühne, und all die Männer und die Frauen nur Komödianten … Na, gab es denn überhaupt etwas Schöneres als die Bretter, die die Welt bedeuten?
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105 »Diese Synxx-Software war genial«, meinte Cooper, als ihre Maschine von La Guardia abgehoben hatte. »Sie erlaubte die Ausforschung fremder Computer, ohne dass der Ausgeforschte etwas davon merkte. Was Ben Heller nicht ahnte, nicht wissen konnte, war die Tatsache, dass die von ihm verwendete Software, weil sie sich im Versuchsstadium befand, einen Code enthielt, der den Rückschluss auf alle ausgeforschten Computer ermöglichte. Weißt du, was das Dumme an der Sache ist?« Baker verneinte mit fast unmerklicher Kopfbewegung. »Bronx hatte das auch kapiert. Seine Festplatten, die wir gefunden haben, sind praktisch leer.« Ken Cooper blickte stumm auf die Südspitze Manhattans. Die Brooklyn Bridge zog unten vorbei, die Bucht mit der eleganten Verrazzano-Hängebrücke schob sich glitzernd heran. »Was schieflaufen konnte, Ken, ist schiefgelaufen«, murrte Baker resigniert. »Aber ich bleibe dabei, etwas stimmte nicht mit der First Lady.« »Du lässt nicht locker, was soll denn da gewesen sein?« »Was hatte sie zum Beispiel in New York verloren? Frank Sureman vom Secret Service, der sie aus 9/11 gerettet hat, ist tot. Wir können ihn nicht mehr fragen, was sich abgespielt hat. Dann ihre Rede in der Kongressbibliothek. Wir haben die Videoaufzeichnungen der Rede verglichen.« »Womit?« »Mit Bildern von Leslie Palmer.« »Warum ausgerechnet mit der?« »Palmer war Anfang des Jahres im Weißen Haus, man hat sie als Double in Betracht gezogen. Die Ähnlichkeit mit der First
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Lady ist verblüffend. Ich würde nicht die Hand ins Feuer legen, dass First Lady Sarah Crawford die Rede gehalten hat.« »Warum sollte sie ihr Double vorschieben?« »Frag mich etwas, das ich weiß, Ken.« »Du hast mir doch gesagt, die Palmer sei seit 9/11 vermisst.« »Eben, sie hat ihr Verschwinden genial geplant. Die letzte Nachricht von ihr an ihr Office stammte aus dem Südturm wenige Minuten vor dem zweiten Einschlag. Im Büro nahm man an, sie sei ein tragisches Opfer von 9/11 geworden, bis später dann jemand mit ihrem Passwort in die Datenbank des Marinenachrichtendiensts eingedrungen war. Konnte eigentlich nur sie selber gewesen sein. Ich nahm an, sie sei abgetaucht, um für Bronx von der CIA zu arbeiten – deshalb ließ ich sie zur Festnahme ausschreiben. CIA-Leute haben sie in Teterboro abgefangen.« Über diese Verhaftung war Cooper bereits von Jennifer informiert worden. Seine Schulterbewegung markierte Akzeptanz mehr als Billigung. »Ich weiß nicht, Mann. Du solltest dir nicht den Kopf drüber zerbrechen. Okay, ich gebe dir Recht, Mrs. Crawford ist als Präsidentengattin möglicherweise etwas seltsame Wege gegangen, aber ich glaube, diese Phase ist vorbei. Wenn sie in New York eine Affäre hatte, dann ist diese vermutlich mit den Türmen zu Asche geworden. Was meinst du?« »Wir werden das wohl nie erfahren«, grollte Baker. »Leslie Palmer wäre die Einzige, die über Bronx aussagen könnte, wenn sie wollte. Wenn nicht …« Bill machte eine Gebärde des Rätselhaften. »Wir brauchen mehr Leute mit Phantasie!«, konterte Cooper. »Warum überlassen wir den Arabern die grandiosen Ideen? Wir müssen die Nachrichtenfunktionen aller Dienste straffen und koordinieren. Aber mehr praktisch, Bill, was hast du jetzt vor?« 435
»Nach Weihnachten geh ich in Pension, ab nach Kalifornien. Du?« »Ich will noch ein paar Terroristen erledigen. Vermutlich gehe ich nach London. Die Briten meinen, ich soll ihre Terrorbekämpfungseinheit coachen.« »Die Engländer sind nicht zimperlich – im Operativen ’ne Klasse besser als wir. Wir krallen die Terroristen einfach nicht, Ken. Wir sind eben zu naiv.« Lange blieben die Männer in Gedanken versunken. Unter ihnen zog langsam die atlantische Küstenlandschaft dahin. Cooper schien es, als schwebe er ein paar tausend Fuß höher als die Maschine, in der sie saßen – weit blickte er hinaus über das Land der Freien, das Heim der Tapferen. Wie lange noch? »Was?«, fuhr Baker hoch. »Was sagst du?« »Ich? Hab ich was gesagt?« »Bin wohl ’n bisschen eingenickt«, grinste der Kumpel. »Hab geträumt, du hast ›wie lange noch‹ gesagt.« »Träum weiter«, lächelte Cooper neutral. Für den Rest des kurzen Flugs zurück nach Washington wechselten sie nur noch wenige Worte. Ein paar Stunden später spazierten die zwei Frauen im Gleichschritt bedächtig über den fein geschnittenen Rasen, an niederen, zerstreut in das weiche Grün eingelassenen Grabsteinen vorbei. Wärmende Sonnenstrahlen fielen in ihre geraden, gut trainierten Rücken – die wohlgeformten strumpflosen Beine leuchteten diskret einladend unter den dunklen Röcken hervor. »Du wolltest mir etwas Wichtiges mitteilen«, wollte Sarah plötzlich in spitzem Tonfall wissen. »Warum ausgerechnet auf einem Friedhof?« 436
Unter einer Gruppe alter Weiden blieb Leslie vor einem Stein aus rötlichem, rauem Granit stehen. Draußen vor dem Green Wood Cemetery in Brooklyn blinkten die Lichter auf dem halben Dutzend schwarzer Limousinen der First-Lady-Eskorte. Secret-Service-Agenten in dunklen Sonnenbrillen, Minifunkgeräte im Griff, bewachten mit kompromisslos abweisenden Mienen den Zugang zwischen dem Säulengittertor. »Hier liegt unser Vater begraben«, sagte Leslie. Sarah Crawford las die Schrift in stolz erhöhten Goldbuchstaben: CHARLES W. PALMER 1941 – 2001. »Dein Vater. Tut mir so leid, Leslie.« Leslie nahm ihre Sonnenbrille ab. Schwarzes, seidiges Perückenhaar fiel weich auf die Schultern. »Unser beider Vater, Sarah«, korrigierte sie leise. Sarah blickte verdutzt in Leslies glänzende Augen. »Auf was willst du hinaus? Ich kenne meinen Vater.« »Du kennst den Mann deiner Mutter«, entgegnete Leslie in weichem Flüsterton. »Aber sie ist nicht deine Mutter, Sarah.« Die First Lady schien langsam die Geduld zu verlieren. Breitbeinig postierte sie sich vor ihre Doppelgängerin. »Willst du mich auf den Arm nehmen?« Leslie fasste nach Sarahs Hand. Ihre Stimme war seltsam weich geworden. »Die, von der du glaubst, sie sei deine Mutter, hatte in jener Nacht, am 4. November, als du auf die Welt kamst, eine Totgeburt. Kurz vorher hatte im Operationssaal nebenan eine Frau Zwillinge geboren, zwei Mädchen – und starb an der Kaiserschnittoperation.« Sarah mit sich ziehend trat Leslie näher ans Grab, legte liebevoll eine Hand auf den kalten Stein. 437
»Aus Verzweiflung über die Totgeburt hat Charles eines der beiden Mädchen der andern Frau an die Brust gelegt. Das Baby warst du, Sarah.« Leslie hielt ein paar Herzschläge lang inne. »Das andere Zwillingsmädchen, das …« »Das warst du?« Leslie nickte, erzählte rasch, was dann geschah. »Es war eine stürmische Nacht. Der leitende Gynäkologe kam von auswärts. Er schaffte es erst ins Spital, als alles gelaufen war.« Sarah gestikulierte verwirrt. »Das kann ich nicht glauben. Das geht doch nicht, Leslie! Die Totgeburt, der Tausch mit dem Mädchen, darüber muss es doch Dokumente geben, oder etwa nicht?« »Eben nicht. Charles hat es so arrangiert, dass niemand davon erfuhr. Außer Melissa, die assistierende Krankenschwester.« »Na, siehst du, die muss den Vorfall doch gemeldet haben.« »Melissa hat mich angenommen und kurz darauf Vater geheiratet. Ich bin im Glauben aufgewachsen, sie sei meine Mama.« Sarah schüttelte ungläubig den Kopf. »Sie hat dir nie etwas erzählt?« »Nein. Vermutlich wollte sie, aber sie kam früh um – in einem Verkehrsunfall. Ich war damals erst zehn. Sie hat ihr Geheimnis mit ins Grab genommen.« »Wie soll ich das alles glauben?« Sarahs Stimme drückte ernste Zweifel – und beginnende Verzweiflung – aus. »Am Grab meines, unseres Vater sage ich dir die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, Sarah. Unsere Mutter hieß Fabienne. Sie war hinreißend schön. Französin. Sie war schwanger von Charles mit den Zwillingen, uns beiden.« Die Frauen starrten schweigend auf den Grabstein, als hofften sie auf ein Zeichen der Bestätigung. 438
Leslie öffnete ihre weinrote Designer-Handtasche, klaubte ein Pack roter Papiere hervor. »Hier. Die Beweise.« Völlig außer Fassung piekte Sarah mit der Schuhspitze gegen den Grabstein. »Und er? Er hat dir auch nichts erzählt?« »Doch, natürlich. Allerdings erst, als er von meinem Auftrag erfuhr. Die ganze Sache muss ihn enorm beschäftigt haben. Wir sprachen lange über jene Nacht im Spital von Odessa. Dann versprach er mir diese Beweise, kam aber nicht mehr dazu.« Leslies letzte Worte gingen in Schluchzen über. Sie wischte sich die Tränen von der Wange. »Wir fanden die Papiere, die er mir zeigen wollte, in Bronx’ Sachen. Ich habe heute alles durchgesehen – und erfuhr sein letztes Geheimnis, dass du das andere Baby warst! Vater hat die DNS sichergestellt. Du bist wirklich meine Zwillingsschwester, Sarah.« »Wer weiß noch davon?« Letzteres kam in erhöhter Stimmlage, die Besorgnis ausdrückte. »Niemand. Nur du und ich … und er.« Leslie legte ihre Hand auf die Kante des Grabsteins. »Du kannst natürlich jederzeit den DNS-Test machen und mit meinem vergleichen …« »Nein, ich glaube dir«, fiel die First Lady ihr ins Wort. »Willst du die Papiere?« Die First Lady schüttelte den Kopf. »Besser nicht. Wir sollten sie verbrennen. Schau, dort drüben!« Leslie folgte der Richtung von Sarahs ausgestreckter Hand und sah den brennenden Holzstoß des Friedhofgärtners. Flammen züngelten aus einer ummauerten Feuerstelle. Sie gingen näher heran. Äste knisterten. Das Feuer loderte, reichlich genährt von dürrem Geäst. »Sollen wir?«, fragte Sarah, und als Leslie nickte, warf sie die Blätter – eins nach dem andern – in die Flammen.
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Die schönen Frauen schlenderten zurück. Ihr Gang hatte etwas Beschwingtes. Am Grab von Charles W. Palmer blieben sie umschlungen stehen. Wenig später setzte sich der Wagenkonvoi der First Lady ruppig und mit dem gewohnten Wirbel von Rotblaulicht in Bewegung. Als Leslie in den Mietwagen stieg, wusste sie, was sie zu tun hatte …
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Epilog Über Le Milieu de la Fin hatten sich Dunstschwaden gelegt. »Wie kam es, dass du dich wieder mit Steve getroffen hast?«, fragte ich Leslie Palmer. Steve Quinn schob ein Holzscheit nach, ergriff das Wort. »Die Redaktion holte mich mit ihrem Jet aus Doha in Qatar zurück, und dann, in der City … Nun, die Wahrheit ist, ich hatte schon damals beim Interview ein Auge auf Leslie geworfen. Als ich nun geschunden wie ein Hund und hirngewaschen wie ein sprechender Papagei zurückkam, dachte ich, diese Frau könnte mich am ehesten resozialisieren. Du weißt ja, wie das herausgekommen wäre, hätte ich mich an CIA oder FBI gewandt … Ich wäre wie einer der üblichen Verdächtigen behandelt worden. Also … wir kamen dann bald überein, die Geschichte für uns aufzuarbeiten, weit weg von allem.« »Er hatte mir eine Nachricht in Vaters Haus hinterlassen«, ergänzte Leslie. »Wir beschlossen dann ziemlich schnell, nach Europa zu gehen. Übrigens hat das FBI den Haftbefehl gegen mich bis heute nicht aufgehoben. Über Kanada gelangten wir hierher.« »Warum hierher«, warf ich ein, »in diese wilde Gegend?« »Meine Mutter, Fabienne, war Französin«, erinnerte sie mich. »Charles hatte genaue Aufzeichnungen über ihre Herkunft und Familie hinterlassen. Steve und ich fanden heraus, wo sich der elterliche Hof befand, auf dem Fabienne als Mädchen aufwuchs, bis sie etwa vierzehn war. Es ist dieser Hof hier. La Noire Maison, im Tal von Le Milieu de la Fin, und am Ende sind wir jetzt hier angelangt.« Die letzten Worte sagte sie leise, schaute mich lange an.
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»Nicht weit von hier heißt ein Ort Les Enfers«, trug ich, um die Spannung etwas zu lockern, plaudernd bei. »Die Gegend trieft förmlich von schicksalhafter Symbolik.« Steve griff mein kleines Wortspiel mit einer Handbewegung auf. »Ja, ich weiß, durch die Höllen, da sind wir auch durchgegangen. Aber wir bereuen nichts.« »Da wäre noch eine Frage, die mich beschäftigt, Steve. Die Telefonnummer von Bronx, die du vom Handy von diesem … Bassan … im Tora-Bora-Bunker heimlich abgelesen hast, die war doch brisant. Ich meine, die Amerikaner …« Steve fuhr mit einer resignierten Geste dazwischen. »Ich hab es aufgegeben. Die Vernehmungsbeamten vom militärischen Geheimdienst DIA verloren jedes Interesse, als sie begriffen, dass ich nichts zum Aufspüren des Chefterroristen beitragen konnte. Die misstrauten mir sowieso.« »Und die First Lady? Hast du noch Kontakt zu ihr, Leslie?« »Ja, sicher. Sarah ist die Vierte im Geheimbund. Sie weiß auch alles. Ist logisch. Einmal im Jahr besucht sie offiziell unsere Hauptstadt, dann sehen wir uns ein paar Tage.« »Und Alex und Craig, besuchen sie euch? Und Jennifer?« Die Boys lebten in den Vereinigten Staaten. Mehr wollte sie nicht verraten. Jennifer hingegen, erzählte sie mit vor Begeisterung leuchtenden Augen, lebte mit dem schönen, schon seit langem nicht mehr humpelnden Nassim zusammen. »Die haben auch zwei Jungen.« »Darf man mal raten?« Über das ganze Gesicht strahlend nickte sie enthusiastisch – ja, Zwillinge. Warum ausgerechnet mir die Ehre zuteil wurde, ihre Geschichte zu erfahren, blieb mir allerdings immer noch rätselhaft. Steve gab sich Mühe, meine Verständnislücke zu erhellen. 442
»Ich glaube, Leslie hatte in jener Nacht, als sie im Fluss verunglückte, mit dem Leben abgeschlossen«, vertraute er mir an, als wir uns vor dem ehrwürdigen alten Landhaus die Beine vertraten. »Dass du sie im letzten Moment gerettet hast, sah sie als eine Art Zugabe des Schicksals, eine Auszeit, die ihr der Himmel noch einmal bescherte.« Völlig außer Fassung fragte ich: »Du meinst, sie ist … Sie war …?« Steve nickte. »Ein halbes Jahr noch, vielleicht auch weniger, sagen die Arzte, alles Spezialisten.« »Nein, das ist zu grausam«, wehrte ich mich gegen das Unfassbare. »Ich hatte keine Ahnung, man sieht ihr doch überhaupt nichts an …« Drei Monate später starb Leslie Palmer an den Folgen der unheilbaren Krankheit. Steve Quinn lebt beim Schreiben dieser Zeilen immer noch auf La Noire Maison.
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Personenverzeichnis Leslie Palmer Craig und Alex Palmer Charles W. Palmer Ben Heller Paul Mercier Rick Bronx Amira al Raisi Leon und Chenny Howard Young Fabienne Melissa Dr. Kirkhoff Ferguson Spike Steinberg Nick Negroponte Martin Wagner Shelley Chuck Browne Nassim Luther, Long Bill, Ronnie Der US-Präsident Sarah Crawford Rosa Falhony Jonathan Betason Jerry Mosely jr. Tommy Fisher
Bewegungspsychologin im USMarinenachrichtendienst (Navy Intelligence) ihre Zwillingssöhne ihr Vater, Arzt ihr Geliebter, SpionageSoftwarespezialist Chaletbesitzer in Gstaad CIA-Agent, Departement »Verdeckte Nachrichtenbeschaffung« seine Mutter in Duschanbe seine Gehilfen Agent im Zoll- und Grenzschutz (Customs and Border Protection, CBP) Mutter von Zwillingen Operationsschwester Oberarzt in der Gynäkologie Stationsarzt Immobilienmakler, Flugzeugbesitzer US-Militärattaché in Duschanbe Amtsdirektor USMarinenachrichtendienst sein Analyst Unterstaatsanwalt in Brooklyn Chirurg, Chef der Pleasure Cruise Riders Angehörige der Pleasure Cruise Riders auch Potus genannt First Lady der USA (auch Flotus genannt) ihre persönliche Assistentin (PA) ihr Psychiater ihr Anwalt im World Trade Center Hausmanager im South Tower 444
Mosimann Frank Sureman Greg Dexter Tenson Ken Cooper Jennifer Bill Baker Avi Leumi »Donny« Steve Quinn AQ Azzam Abdullah Al Zahiri Bassan Ahmed Scheich Khalid Brad Freelander
Küchenchef im Weißen Haus Secret-Service-Agent im Weißen Haus Justizminister (Attorney General) von Texas Direktor der CIA CIA-Legende, Chef des Departements »Forschung und Entwicklung der CIA« seine Mitarbeiterin (heimliche Tochter von Leslie Palmer) Stellvertreter des Chefs des FBI Agent des Mossad Spitzname für den Verteidigungsminister Fotoreporter für den New Yorker Abkürzung für al Qaida Begründer der AQ (ermordet) Operationschef (OC) der AQ in Afghanistan Gefolgsmann von al Zahiri Stinger-Schütze, später Gehilfe von Chef der AQ-Zelle in New York City Major US Special Forces
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