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Kriminalroman
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„DRINGEND! SOFORT IN ANGRIFF NEHMEN!“ steht auf dem A...
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Kriminalroman
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„DRINGEND! SOFORT IN ANGRIFF NEHMEN!“ steht auf dem Aktendeckel, den Leutnant Kreutzer von der Kriminalpolizei in seinem Büro vorfindet. Mit dem spärlichen Bericht – junge Lehrerin entdeckt gegen 22 Uhr kurz vor dem Ortseingang Philippsthal einen schwerverletzten Radfahrer, Auskunft über den Hergang des Unfalls kann der Verunglückte nicht geben – und den Ergebnissen der Spurenauswertung ausgerüstet, beginnt er die Fahndung nach einem zweifarbigen Wartburg, dessen Fahrer den Unfall verursachte und danach flüchtete. Aber offenbar ist es einfacher, die berühmte Stecknadel im Heuhaufen als diesen Wagen im Bezirk Potsdam zu finden. Zu seiner Überraschung bemerkt Kreutzer den Unfallwagen in der Garage des bekannten Arztes Doktor Nikolai. Sollte ein Arzt Fahrerflucht begangen haben? Welches ungewöhnliche Motiv könnte ihn dazu veranlassen? Nikolais Verhalten bei der Vernehmung läßt ihn in der Tat verdächtig scheinen. Sein Alibi erscheint Leutnant Kreutzer anfechtbar. Bei der weiteren Ermittlung kommen dann auch eine Reihe bemerkenswerter Fakten ans Licht, die neue Zusammenhänge schaffen, alte rechtfertigen und im übrigen die Lösung herbeiführen.
Heiner Rank
Nebelnacht __________________________________________
Verlag Das Neue Berlin
1. Ein kalter Mond stand über der Flußniederung, in der undurchdringlich und schwer wie feuchte Watte der Bodennebel schwamm. Erlenbüsche und die kegelförmigen Kuppen einiger Heuschober hoben sich dunkel daraus hervor. Die Nacht war wolkenlos, und hinter den Dächern des Dorfes, das am Rande der Wiesen auf einer flachen Anhöhe lag, leuchtete der Himmel messinggelb vom Widerschein der nahen Großstadt. Eine Straße brach als helles Band aus dem Wald, tauchte in den Nebel des Flußtales und führte über einen von Pappeln flankierten Erddamm und eine Brücke dem Dorfe zu. An dem hölzernen Geländer der Brücke lehnte eine Frau. Sie trug einen hellen Mantel und ein grünes, mit weißen Punkten besetztes Kopftuch. Den Mantelkragen hatte sie hochgeschlagen und bis unter das Kinn zugeknöpft. Es war schon spät in der Nacht, und sie fror. Ihr Blick schweifte über das im fahlen Mondlicht träg wogende Nebelmeer, und dieser ungewöhnliche, gespenstische Anblick weckte in ihr das Bild einer fernen Vergangenheit, als diese sumpfige Niederung Grenzmark war zwischen den nach Osten drängenden Askaniern und den wendischen Slawen, um deren hölzerne Burgwälle erbitterte Kämpfe tobten. Mit einem energischen Kopfschütteln riß sie sich von ihren Wachträumen los und wandte sich dem Dorfe zu. Sie war jung, fast noch ein Mädchen, und hatte einen weichen, elastischen Gang. Schritt für Schritt, je weiter sie der sich neigenden Straße folgte, versank sie im Nebel. Das spielerische Rauschen, mit dem der kleine Fluß über das Wehr ging, verebbte und erstarb. Die Chaussee 7
begann sich in engen Kurven durch die morastigen Wiesen zu winden. Schilf und Erlenbüsche wuchsen schemenhaft am Rande des Weges auf, dürre Äste reckten ihre Krallen, und die bizarren Kugelköpfe der Weiden geisterten durch den Brodem. Ein leises Rascheln hier, da ein Tierruf, dumpf und klagend, dort ein glucksender Laut. Ganz gegen ihren Willen ging die Frau schneller und so geräuschlos wie möglich. Sie atmete flach und spürte, wie die uralte Furcht in ihr aufstieg, das Grauen vor der gestaltlosen, ungreifbaren Gefahr, der nackten Vernunft nicht zugänglich und ihrer spottend. Alle Willenskraft mußte sie aufbieten, die Panik niederzuhalten, nicht in wilder Hast kopflos davonzustürmen. Mit hart klopfendem Herzen, die Hände zu Fäusten geballt, hielt sie der Angst stand und nahm kürzere Schritte. Dunkelheit und Nebel waren so dicht, daß sie kaum noch den Erdboden vor sich erkennen konnte. Da trat ihr Fuß in splitterndes Glas. Sie zuckte zusammen, machte eine heftige Bewegung, stolperte über ein Gestänge. Es gab ein kratzendes, metallisches Geräusch. Vom Schienbein schoß wütender Schmerz herauf und zog ihr für Sekunden einen rötlichen, von Irrlichtern durchsprühten Schleier vor die Augen. Sie lag auf den Knien, unter ihren Händen die naßkalte Erde des Sommerweges. Als sie die zitternden Lider hob, bemerkte sie vor sich auf dem Boden eine dunkle Gestalt. Ein winselndes Stöhnen, qualvoll und erschreckend unecht, drang ihr entgegen. Sie wollte schreien, doch ihre Stimme versagte, und nur ein schluchzender Laut kam über ihre Lippen. Von eisigem Schrecken gelähmt, glaubte sie, eine Ewigkeit lang auf der feuchten Erde zu 8
hocken – unfähig, einen Gedanken zu fassen, unfähig, sich zu rühren. Dann plötzlich, mit einer nie empfundenen Intensität, nahm sie den Rauch glimmenden Kartoffelkrautes wahr, würzig und belebend. Die Erstarrung wich. Sie bewegte prüfend ihre Finger, drehte den Kopf, erhob sich und beugte sich vorsichtig über die reglose Gestalt. Es war ein Mann. Er lag seitlich auf der Erde, das Gesicht in den nassen Schmutz gedrückt. Seine Arme waren in unnatürlicher Weise um den Körper gedreht, als hätte ihn die Kraft eines Riesen zu Boden gefegt. Sie kniete nieder und drehte ihn auf den Rücken, wobei sie an ihren Händen eine klebrig-warme Flüssigkeit spürte. Der Kopf des Mannes fiel zurück, das Winseln ging in ein dumpfes Röcheln über. Rasch zog sie den Mantel aus, rollte ihn zu einer Art Kissen zusammen und schob es ihm unter den Nacken. Irgendwann einmal hatte sie gehört, daß ein Verletzter bei zu tief liegendem Kopf an seinem eigenen Blut ersticken kann. Dann schaute sie sich suchend um, tastete über den Boden, konnte aber außer einem zertrümmerten Fahrrad, über das sie gefallen war, nichts entdecken. So schnell, wie es der Nebel erlaubte, eilte sie ins Dorf. Wenig später stieß sie die Tür der Gastwirtschaft „Zu den vier Linden“ auf. Atemlos und mit wirrem Haar stürzte sie in den Schankraum. Ihre Hände waren blutig, und da sie beim Laufen versucht hatte, sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen, war auch ihr Gesicht blutig. Das grüne Kopftuch mit den weißen Punkten war heruntergerutscht und umschloß locker ihren Hals. Die Skatspieler am Stammtisch fuhren von den Stühlen auf, ließen die Karten sinken und starrten sie mit glasigen Augen an. Der Wirt wurde von ihrem Anblick so 9
aus der Fassung gebracht, daß er vergaß, den Zapfhahn zu schließen. Erst als ihm das Bier über die Hand und in den Hemdsärmel lief, fand er mit einem erschrockenen Fluch seine Geistesgegenwart wieder. Sie hatte den neben einer Kühlvitrine stehenden Telefonapparat erreicht und riß den Hörer von der Gabel. „Auf der Straße vor der Nuthebrücke liegt ein Schwerverletzter“, keuchte sie, „er verblutet. Es muß sofort ein Arzt kommen.“ „Wie denn – Sie meinen, ein Unfall?“ fragte der Wirt etwas töricht. Sie nickte. „Haben Sie sonst noch etwas gefunden?“ „Ja, ein zertrümmertes Fahrrad.“ „Dann ist es besser, Sie rufen erst die Polizei an“, sagte der Wirt, zog das Telefonbuch unter der Theke hervor, schlug es auf und fuhr mit seinem dicken, feuchten Finger eilig über die Seiten. „VP-Notruf, null eins eins.“ Ein Kreis von Neugierigen hatte sich indessen gebildet; sie standen schweigend, der Schreck hatte sie ernüchtert, und stierten interessiert oder auch teilnehmend auf die junge Frau. Sie begann zu wählen, doch ihre Hände waren so unsicher, daß sie immer wieder die Zahlen auf der Drehscheibe durcheinanderbrachte. Wortlos zog der Wirt den Apparat zu sich heran und stellte die Verbindung her. Dann gab er ihr den Hörer zurück, und sie begann, unzusammenhängend und in der Erregung sich verhaspelnd, herauszusprudeln, was sie erlebt hatte. Schon nach den ersten Sätzen unterbrach sie der Mann am anderen Ende der Leitung und stellte mit besonnener Stimme einfache, klar formulierte Fragen. Seine Ruhe schien suggestiv zu wirken. Ihre fahrigen Bewegungen ließen nach, und sie begann regelmäßiger zu atmen. 10
„Wie ist Ihr Name bitte?“ „Evelyn Schwarzhaupt.“ „Von wo rufen Sie an?“ „HO-Gaststätte Philippsthal.“ „Sie fanden einen schwerverletzten Mann auf der Straße nach Güterfelde?“ „Ja. Er ist bewußtlos und …“ „Danke. Schicken Sie nach dem VP-Posten in Ihrer Ortschaft. Wenn Sie einen Arzt in der Nähe haben, lassen Sie ihn rufen. Sie selbst kehren mit einigen Helfern so schnell wie möglich an die Unfallstelle zurück. Sperren Sie provisorisch die Straße, und sorgen Sie dafür, daß nichts verändert wird. Decken Sie den Verunglückten mit einer warmen Decke zu, bewegen Sie ihn aber nicht ohne ärztliche Anweisung. Ein Einsatzwagen des Unfallkommandos und ein Krankenwagen sind auf dem Wege zum Unfallort. Haben Sie noch Fragen?“ „Nein, alles verstanden“, flüsterte sie. Dann bemerkte sie das Blut an ihren Händen. Sie wurde bleich, der Hörer entglitt ihr, und mit dem Gefühl würgender Übelkeit sank sie auf einen Stuhl.
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2. Am folgenden Morgen, kurz vor acht Uhr, rollte ein steingrauer Trabant auf den Parkplatz an der Potsdamer Bauhofstraße. Die Luft war seidig, der Himmel von einem zarten Blau, und der vergoldete Atlas auf dem Dach des Alten Rathauses, der sich mit der Weltkugel auf seinem Rücken abmühte, glühte in der Sonne. Der Mann hinter dem Lenkrad, Leutnant der Kriminalpolizei Viktor Kreutzer, schwang sich von seinem Sitz und verriegelte die Türen. Sein Blick fiel auf den Ahornbaum neben dem Parkplatz, dessen Blätter über Nacht eine weinrote Färbung angenommen hatten. Sekundenlang starrte er hinüber und fühlte sich von der Schönheit der Natur ergriffen. Dann dehnte er seufzend die Brust, wandte sich um und schritt dem Hauptportal seiner Dienststelle zu. Kreutzer war etwas über dreißig Jahre alt, mittelgroß, von kräftiger Statur und hatte die breiten Schultern des aktiven Ringers. Auf dem massigen Kopf standen die dunkelblonden Haare borstig in die Höhe. Seine Augen unter den an der Nasenwurzel zusammengewachsenen Brauen waren grau; in Augenblicken der Gereiztheit konnten sie schnell kühl und unnachgiebig werden. Über dem festen Kinn mit einem Grübchen in der Mitte saß ein schmallippiger, fast eigensinnig anmutender Mund. Das Leben hatte Kreutzer in jungen Jahren nicht verwöhnt. Zusammen mit sechs Geschwistern war er unter jämmerlichen Verhältnissen aufgewachsen. Den Vater, einen Querkopf und Saufaus, hatte die Schnapsflasche das irdische Elend und zugleich Frau und Kinder vergessen lassen. Geld war so gut wie nie im Hause gewesen, und die Mutter hatte zusehen müssen, wie sie sich mit 12
ihren sieben Bälgern mehr schlecht als recht durchschlug. Sobald Viktor denken konnte, entwickelte sich in ihm eine unüberwindliche Abscheu gegen Schnaps und Zigaretten. Er haßte seinen nach Kneipe stinkenden Vater, der bei schwindendem Rausch zu Hause jeden prügelte, den er erwischen konnte. Doch Viktor lernte auch schon früh, sich zu behaupten. Seinen Platz in dem quietschenden Messingbett, den Anteil an den Mahlzeiten und später die Tischecke für die Schularbeiten mußte er gegen seine verwilderten, randalierenden Brüder und Schwestern zäh verteidigen. Er war kaum vierzehn Jahre alt, als er seine Lehre als Rohrschlosser in einem Babelsberger Lokomotivwerk begann. Zu dieser Zeit floh er aus dem häuslichen Durcheinander in die Ordnung und Geborgenheit einer Ringersportgemeinschaft. Von dort fand er schließlich den Weg zur FDJ, und vier Jahre danach, als er achtzehn Jahre alt war, trat er in die Volkspolizei ein. Er war ernst und verschlossen, lernte langsam und ließ nichts in seinen Schädel ohne gründliche Prüfung. Man konnte ihn nicht beschwatzen, und wer versuchte, seine zuweilen kleinlichen Einwände mit gewandtem Redeschwall zu überrennen, stieß auf eine Mauer des Mißtrauens. Im täglichen Umgang blieb er meist sachlich, er war nicht besonders umgänglich, wirkte dabei fast etwas zu kühl, und in Dingen, die er für wichtig hielt, konnte er von einer sehr unbequemen Hartnäckigkeit sein, was ihm schon mancher übel angekreidet hatte. Die meisten seiner Mitmenschen kamen ihm nicht ins Gehege; sie hatten die zuweilen schmerzliche Erfahrung gemacht, daß mit ihm nicht gut Kirschen essen war. Kreutzer hatte sein Arbeitszimmer erreicht. Es war ein kleiner, spärlich möblierter Raum. Zwei Schreibtische – der eine für seinen jüngeren Mitarbeiter –, ein Besucher13
stuhl, ein brauner Kleiderschrank und auf einem niedrigen Aktengestell ein graues, etwas blechern wirkendes Panzerschränkchen. An den Wänden hingen drei Landkarten – Republik, Bezirk, Kreis – und in schlichten Rahmen die farbigen Porträts zweier führender Politiker. Auf seinem fast leeren Schreibtisch entdeckte Kreutzer einen Aktendeckel, an dem oben ein Zettel befestigt war. Mit Rotstift hatte jemand gut lesbar darauf geschrieben: „Dringend! Sofort in Angriff nehmen. Grigo“. Grigo war die Abkürzung für Hauptmann Herbert Grigoleit, Abteilungsleiter und Kreutzers unmittelbarer Vorgesetzter. Kreutzer zog sich mit dem Fuß den Stuhl heran und setzte sich. Ohne den Mantel auszuziehen, begann er zu lesen. Kurz darauf betrat ein junger Mann geräuschvoll das Zimmer. Es war Kreutzers Assistent, Unterleutnant Dieter Arnold. Vierundzwanzig Jahre war er alt, überragte seinen Chef um Haupteslänge, hatte fünf Dienstjahre bei der Volkspolizei hinter sich und vor kurzem seinen zweiten Lehrgang mit überdurchschnittlichen Leistungen beendet. Kreutzer stand ihm mit zurückhaltendem Wohlwollen gegenüber, er schätzte Arnolds Fleiß und seine umsichtige Art, an ein Problem heranzugehen. Nicht ganz nach seinem Geschmack war ihm Arnolds lockeres Mundwerk und eine gewisse Respektlosigkeit, mit der er sich oft auch über ernste Fragen lustig machte. „Schönen guten Morgen!“ sagte Arnold gut gelaunt. Er hing seine Lederjacke auf einen Bügel und schloß die knarrende Schranktür. „Ein herrlicher Tag heute.“ „Morgen“, brummte Kreutzer, ohne aufzusehen, und winkte ihn heran. „Hier, sehen Sie mal. Schwerer Verkehrsunfall in der vergangenen Nacht.“ „Was haben wir denn damit zu tun?“ fragte Arnold 14
argwöhnisch. „Unfallflucht.“ „Ach so. Weiß Grigo schon Bescheid?“ Kreutzer deutete auf den Zettel, den er in den Falzrand seiner Schreibunterlage geschoben hatte. Arnold warf einen Blick darauf und seufzte, doch sein Chef verzog nur flüchtig den Mund zu einem halben Lächeln und vertiefte sich wieder in die Akte. Arnold trat um den Schreibtisch und beugte sich über Kreutzers Schulter. Nachdem er einige Minuten mitgelesen hatte, richtete er sich auf und schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. „Ich begreife nicht, was in diesen Schweinehunden vorgeht! Einen Menschen über den Haufen fahren und dann hilflos liegenlassen; soll er doch verrecken, Hauptsache ist, ich habe keinen Ärger. Ein Kerl, der so etwas fertigbringt, muß doch durch und durch ein Lump sein!“ Kreutzer blickte seinen Kollegen stirnrunzelnd an. „Wer sagt Ihnen denn, daß es ein Mann war? Unsere Aufgabe ist es, den Täter zu überführen, und dabei brauchen wir einen kühlen Kopf. Ich halte nicht sehr viel von der psychologischen Motivierung, weder gegen noch für den Verdächtigen, man kann da allzu leicht aufs Glatteis geraten. Beweisbare Tatsachen sind mir lieber, dabei gibt es keine Mogelei. Jeder halbwegs gerissene Halunke versteckt sich doch heutzutage hinter einem seelischen Defekt. Na, gut …“ Er winkte ab und schaute wieder in die Akte. „Wie ich hier lese, sind alle Tatortspuren der Kriminal-Technischen Untersuchungsstelle zugestellt worden. Rufen Sie bitte dort an, und fragen Sie, wann wir mit dem Ergebnis rechnen können. Solange wir nicht wenigstens wissen, was für ein Wagentyp den Unfall verursacht hat, können wir mit der Fahndung nicht be15
ginnen.“ Arnold suchte sich das Telefonverzeichnis und begann darin zu blättern. Kreutzer sagte, ohne aufzusehen: „Gehen Sie ’rüber ins Sekretariat, und lassen Sie sich die Verbindung herstellen. Die haben die Nummer im Kopf.“ Achselzuckend verschwand Arnold aus dem Zimmer. Nach einer knappen Viertelstunde kehrte er zurück. „Die Kriminal-Technische Untersuchungsstelle teilt mit, daß vor dreizehn Uhr keinesfalls mit dem Abschluß der Spurenauswertung zu rechnen ist. Wenn wir dringend das Ergebnis brauchen, können wir uns am frühen Nachmittag mündliche Auskunft holen. Der schriftliche Bericht wird erst gegen Abend fertig.“ „Mit wem haben Sie gesprochen?“ fragte Keutzer und schloß sein Taschenbuch, in dem er sich Notizen gemacht hatte. „Mit Doktor Fritsche.“ „Aha. Warum hat es so lange gedauert?“ „Ich habe noch im Krankenhaus angerufen und mich nach dem verletzten Radfahrer erkundigt. Er wurde in der Nacht operiert und ist noch immer bewußtlos. In etwa drei Stunden sollen wir wieder nachfragen, vielleicht können sie uns dann schon sagen, wann eine Vernehmung möglich ist.“ „Tüchtig, tüchtig“, sagte Kreutzer. „Dann wollen wir versuchen, uns erst einmal ein Bild von der Sache zu machen. Setzen Sie sich, ich werde Ihnen erzählen, was ich inzwischen aus der Akte erfahren habe.“ Arnold setzte sich hinter seinen Schreibtisch, und Kreutzer begann: „Gestern abend gegen zweiundzwanzig Uhr findet eine junge Lehrerin kurz vor dem Ortseingang Philippsthal einen schwerverletzten Radfahrer. Es ist der dreiundzwanzigjährige Traktorist Siegfried Laabs. Etwa 16
zwanzig Minuten später treffen Rettungswagen und Unfallkommando in Philippsthal ein. Der Arzt stellt bei dem Verletzten eine Fraktur des linken Oberschenkels, Rippenbrüche und innere Blutungen fest. Es läßt ihn in das Bezirkskrankenhaus überführen. Auskunft über die Ursache des Unfalls kann der Verunglückte nicht geben, da er sich in einer tiefen Ohnmacht befindet. Der Arzt schließt aus dem Zustand der Schürfwunden, daß sich der Unfall ungefähr eineinhalb bis zwei Stunden vorher ereignete, also zwischen acht und halb neun Uhr abends.“ „Es kommt mir etwas merkwürdig vor“, wandte Arnold ein, „daß der Mann zwei Stunden unbemerkt auf der Straße gelegen haben soll. Abends um neun Uhr sind doch noch eine Menge Leute unterwegs.“ „Es herrschte sehr starker Nebel“, sagte Kreutzer. Er erhob sich und trat an die Wandkarte des Kreisgebietes. Seine Hand deutete auf eine hellgrün schraffierte Fläche, durch die sich die blaue Ader eines Wasserlaufs zog. „Sehen Sie, hier am Rande der Nutheniederung befindet sich die Unfallstelle. Der Fluß wird dort von feuchten Wiesen gesäumt, über denen sich während rascher Abkühlungen, besonders bei Hochdruckwetter im Herbst, dichte Nebelfelder bilden. So auch gestern abend, nach dem sonnigen Tag. Die Strecke zwischen Philippsthal und Güterfelde ist keine Fernverkehrsstraße und wird relativ selten befahren. Der Verletzte lag am Straßenrand. Selbst wenn jemand vorbeigekommen ist, war es bei dem dichten Nebel leicht möglich, daß er den Mann gar nicht bemerkte.“ Arnold nickte. Kreutzer kehrte auf seinen Platz zurück und fuhr fort: „Bei der Spurensicherung suchte man mit Scheinwerfern und Handlampen einen hundert Meter langen Straßenab17
schnitt sorgfältig ab. Man fand ein zertrümmertes Fahrrad, die Bremsspur und die Reifenabdrücke eines Autos, verstreute Scherben vom Glas eines Scheinwerfers und die Reifenabdrücke des Fahrrades. Aus diesen Spuren und ihrer Lage zueinander ist der Unfall in großen Zügen so rekonstruiert worden: Der Radfahrer kam aus einem Feldweg etwa zweihundertundfünfzig Meter vor dem Ortseingang Philippsthal und bog auf die Straße ein. Sein Fahrrad war nicht beleuchtet. Es hat zwar eine Lichtanlage, die aber nicht funktionierte, weil das Kabel an zwei Stellen durchgerostet ist. Aus noch ungeklärten Gründen fuhr er nicht rechts, sondern mitten auf der Fahrbahn. In diesem Augenblick näherte sich von Philippsthal her ein Fahrzeug. Der Fahrer erkannte den Radfahrer zu spät. Er versuchte erst wenige Meter vor dem Zusammenprall nach rechts auszuweichen und geriet dabei mit dem rechten Vorder- und Hinterrad auf den Sommerweg. Der Wagen erfaßte mit dem linken Vorderkotflügel den Radfahrer und schleuderte ihn über die Motorhaube und den Sommerweg bis an den Rand des Straßengrabens. Nach dem Zusammenstoß trat der Fahrer scharf auf die Bremse, ließ den Wagen dann etwa zwanzig Meter rollen und raste plötzlich davon, ohne sich um den Verletzten zu kümmern. Aus den Spuren auf dem Sommerweg geht eindeutig hervor, daß der den Unfall verursachende Wagen nicht gehalten hat.“ Kreutzer stemmte die Hände gegen die Schreibtischkante und sah zu Arnold hinüber. „Soweit die Fakten“, sagte er. „Was können Sie damit anfangen?“ Arnold schnitt eine verzweifelte Grimasse. „Nichts. Nicht mal der Teufel könnte mit diesen armseligen Hinweisen weiterkommen. Wir müssen warten, ob die KTU etwas herausfindet. Und selbst dann stehen wir vor dem 18
Problem, eine Stecknadel im Heuhaufen zu finden, vorausgesetzt, daß wir im richtigen Heuhaufen suchen.“ Er verspürte ein heftiges Verlangen, sich eine Zigarette anzuzünden, aber da er wußte, mit welcher Inbrunst Kreutzer das Rauchen verabscheute, unterdrückte er es und knabberte statt dessen ein wenig am Daumennagel. „Düstere Perspektiven“, sagte Kreutzer. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Es ist jetzt kurz nach neun. Sehen wir uns mal die Unfallstelle an.“
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3. Der EMW fuhr über die Lange Brücke, die sich mit zwei breiten Fahrbahnen von der Innenstadt her über die Havel spannt. Im ruhigen Wasser bei der Dampferanlegestelle zogen Schwäne ihre Kreise, und an den betonierten Kais lagen die Motorschiffe der Weißen Flotte, der Ausflügler harrend, die in hellen Scharen mit Kindern, Fotoapparaten und dicken Provianttaschen heranrückten. Als sie aus der Stadt heraus waren, kurbelte Kreutzer das Fenster herunter. Der Geruch von Benzin, warmer Waldluft und frischem Heu wehte in den Wagen. Auf einem Getreideschlag ratterten die Mähdrescher und schleppten Staubschleier hinter sich her. Dunkelgrüne Kartoffeläcker, Landschaften mit Wiesen und Buschwerk, Kiefernwälder glitten vorüber. Nach einiger Zeit senkte sich die Straße in einen Wiesengrund, schwang unter einer Bahnlinie hindurch und führte auf das Dorf Philippsthal zu, dessen Schilfdächer sich unter die Kronen herbstbunter Bäume duckten. Dann waren sie in der weitläufigen Ortschaft, Gänse kreischten dem Auto entgegen, und der Mann am Lenkrad mußte aufpassen, daß er ihnen nicht über die angriffslustigen Hälse fuhr. Vor der Schule, einem roten Backsteinbau mit weißen Fenstern, stoppte der Wagen. Kreutzer und Arnold stiegen die Stufen zur Eingangstür hinauf und kamen in einen kühlen, halbdunklen Flur. An einer Tür war mit Reißnägeln ein Stück Karton befestigt, auf dem in Druckbuchstaben LEHRERZIMMER stand. Sie klopften und traten ein. Es war ein niedriger Raum mit Balkendecke und hellgetünchten Wänden. In einer Ecke lehnten 20
zusammengerollte Landkarten, die Dielen waren bedeckt mit Stapeln von Schulbüchern, und auf einem alten Bauernschrank hockten wie auf einer Galerie ausgestopfte Vögel. In der Nähe des Fensters standen zwei Schreibtische. An dem einen saß hinter Schulheften und farbigen Tintenfässern ein junger Mann. Er trug eine dickrandige Hornbrille, die kaum Halt auf seiner Stupsnase fand. Als er die beiden Männer erblickte, erhob er sich und schloß hastig die Knöpfe seines Flanellhemdes. „Wir möchten gern Fräulein Schwarzhaupt sprechen“, begann Kreutzer. „Sie unterrichtet doch hier, nicht wahr?“ „So ist es. Kommen Sie wegen des Unfalls gestern nacht?“ Kreutzer nickte. Der junge Mann dachte einen Moment nach. „Sie hat gerade Unterricht“, sagte er dann, „aber ich werde sie holen.“ „Vielen Dank!“ Der junge Mann winkte ab. „Bitte, nehmen Sie doch Platz.“ Er wies auf zwei Stühle, die neben der Tür standen, nahm einen Stoß Hefte vom Schreibtisch und verließ das Zimmer. Kreutzer setzte sich, Arnold trat an das geöffnete Fenster. Im Schulgarten blühten Malven, Astern und Gladiolen, und es gab auch Gemüse. An jedem der Beete steckte ein Schild, das Auskunft gab, welcher Klasse es gehörte. Die Sonne schien warm, es herrschte ländliche Stille. Nach kurzer Zeit hörte man Schritte auf dem Flur, dann trat Fräulein Schwarzhaupt in das Zimmer. Sie wirkte nicht mehr so gespenstisch wie am Abend zuvor. Eine weiße Bluse und ein sportliches Kostüm gaben ihr natürliche Frische; ihr Haar, das in lockeren Wellen bis 21
auf die Schultern fiel, schimmerte rötlich im Sonnenlicht. Die lebhaften Augen und einige Sommersprossen auf der Nase ließen sie noch jünger erscheinen, als sie war. Kreutzer stellte sich und seinen Kollegen vor und bat darum, an die Unfallstelle geführt zu werden. „Sehr gern“, sagte Fräulein Schwarzhaupt, „wenn ich Ihnen damit helfen kann.“ Sie trat an den Bauernschrank, öffnete die Doppeltür und nahm einen weißen Dederonanorak vom Bügel. Als sie auf die Dorfstraße hinaustraten, schob der Fahrer seine Zeitung unter die Sonnenblende und ließ den Motor anspringen. „Wie weit ist es zu Fuß?“ fragte Kreutzer. „Etwa fünf Minuten“, sagte sie. „Dann können wir laufen, einverstanden?“ Sie nickte. Er winkte zum Wagen hinüber, und das Brummen des Motors verstummte. Sie gingen die breite, von alten Lindenbäumen gesäumte Straße entlang. Hinter den Tüllgardinen tauchten Gesichter auf, und hin und wieder trat jemand in die niedrige Tür seines Hauses und musterte die Fremden mit ungenierten Blicken. „Wie kam es eigentlich“, begann Kreutzer, „daß Sie zu so später Stunde allein unterwegs waren?“ Fräulein Schwarzhaupt lächelte. Sie hatte die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, und das Seidenfutter ihres Rockes raschelte beim Gehen. „Ich habe mir angewöhnt, vor dem Schlafengehen einen Spaziergang zu machen.“ „Das ist bemerkenswert. Es gibt viele Frauen, die sich im Dunkeln fürchten, besonders in der freien Natur.“ „Nein, ich fürchte mich im allgemeinen nicht. Aber ich will gern zugeben, daß mir gestern abend etwas un22
heimlich zumute war. In dem dichten Nebel wirkte jeder Strauch und jedes Geräusch gespenstisch, und ich hatte eine Vorahnung von Gefahr, wenn es so etwas wie Ahnungen überhaupt gibt. Vielleicht war es auch nur pure Einbildung. Die Leute hier in der Gegend erzählen mit Vorliebe Spukgeschichten, und die Kinder bringen sie dann mit in die Schule. Ob man will oder nicht, ein wenig davon bleibt doch hängen.“ Sie zuckte die Schultern und sah ihre Begleiter forschend an. Ihr Mund verzog sich zu einem leichten, spöttischen Lächeln. Kreutzer unterdrückte die Versuchung, eine ironische Attacke wider den Aberglauben zu reiten. Es würde zu weit führen, sagte er sich und fragte statt dessen: „Wann gingen Sie von zu Hause fort?“ „Gegen halb zehn.“ „Dann waren Sie etwa eine halbe Stunde unterwegs, als Sie den Verletzten fanden?“ „Ja. Ich war bereits auf dem Rückweg.“ „Sie kamen von der Brücke, nicht wahr? Dann müßten Sie doch auf dem Hinweg auch an der Unfallstelle vorbeigekommen sein.“ „Nein, ich habe einen Rundgang gemacht, wie üblich. Ein Stückchen flußabwärts ist die Eisenbahnbrücke. Von dort bin ich gekommen, dann am Ufer entlang über die Straßenbrücke und zurück ins Dorf.“ Die Unfallstelle lag in einer Kurve. Schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite, befand sich die Einmündung des Feldweges, der am Rande eines gerodeten Kartoffelackers entlangführte. Noch immer glimmte das Krautfeuer, und der Rauch mischte sich mit dem Heuduft der Wiesen. Die Lehrerin setzte ihre Fußspitze in einen verblaßten 23
Kreidekreis in der Mitte der Fahrbahn und erklärte, dies sei der von den Unfallexperten ermittelte Punkt des Zusammenstoßes. Ein Kreuz, weiter am Rande, nahe dem Sommerweg, kennzeichnete die Stelle, an der das Fahrrad gelegen hatte. Etwa vier Meter davon entfernt, am Fuße einer Ulme, hatte sie den Verunglückten gefunden. „Ist Ihnen der Mann bekannt?“ fragte Kreutzer. „Er wohnt doch in Ihrer Gemeinde.“ „Ja, er heißt Siegfried Laabs. Ich kannte ihn vom Sehen, aber seinen Namen erfuhr ich erst gestern abend nach dem Unfall.“ „Was ist er von Beruf?“ „Traktorist auf dem MTS-Stützpunkt hier.“ „Können Sie sich denken, woher er kam, als er gestern abend von diesem Feldweg auf die Straße einbog?“ „Man erzählt, er hätte eine Freundin in Drewitz; das ist eine Siedlung, etwa acht Kilometer entfernt.“ Sie deutete in nördlicher Richtung über die Felder. „Er fährt jedenfalls des öfteren mit dem Motorrad dorthin.“ „Motorrad? Warum fuhr er denn gestern mit dem Fahrrad?“ „Das weiß ich nicht.“ „Hat er Eltern oder Verwandte im Dorf?“ „Nein. Wie ich hörte, kommt er aus der Gegend von Trebbin und hat ein Zimmer im Wohnheim der MTS.“ „Was ist Laabs für ein Mensch?“ „Ich kenne ihn, wie gesagt, kaum. Manchmal habe ich ihn mit seinen Freunden gesehen, wenn sie an Tanzabenden vor der Dorfgaststätte standen und mit den Mädchen alberten. Aber das machen wohl in diesem Alter die meisten Jungen.“ Kreutzer lächelte. „Kennen Sie einen seiner Freunde mit Namen?“ 24
„Ich glaube, mit dem Rudi Noak ist er öfter zusammen. Der ist auch Traktorist.“ „Begegnete Ihnen jemand auf Ihrem Spaziergang, oder haben Sie irgendein Fahrzeug gehört?“ „Nein, niemand. Auch ein Fahrzeug habe ich nicht gehört, wenn ich mich recht erinnere.“ „Tja“, sagte Kreutzer, „ich glaube, das wäre vorläufig alles, Fräulein Schwarzhaupt. Gehen wir zurück.“ Er warf noch einen letzten prüfenden Blick auf den Unfallort, und dann wandten sie sich dem Dorfe zu.
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4. Sie saßen in ihrem Wagen und fuhren zurück nach Potsdam, als Arnold sagte: „Wie wäre es, wenn wir jetzt dem Laabs einen Besuch abstatten? Am Telefon machen sie nur Ausflüchte, aber sind wir einmal da, können sie uns nicht so leicht abwimmeln.“ „Einverstanden“, erwiderte Kreutzer. „Also zum Krankenhaus.“ „Haupteingang Berliner Straße?“ fragte der Fahrer. „Natürlich, Sie wissen doch Bescheid.“ Die einzelnen Gebäude des Bezirkskrankenhauses verteilten sich über ein weitläufiges Gelände. Nach einer intensiven Beschäftigung mit Kreutzers Dienstausweis gestattete ihnen der Pförtner, daß sie mit dem Wagen hineinfahren durften. Auf verschlungenen Wegen ging es über mehrere Höfe, entlang an Baracken und efeubewachsenen Bauwerken preußischer Gotik, ehe sie durch eine enge Toreinfahrt auf einen Platz gelangten, der auf allen vier Seiten von hohen Häusern umschlossen war. Die Mitte wurde von einer Rasenfläche eingenommen, und darauf stand eine Bronzefigur, die ihre Arme dem Himmel entgegenstreckte. Viele Generationen hatten zu dieser Gesundheitsfabrik ihren Beitrag geleistet. Das Gebäude der Chirurgischen Klinik stammte aus der Bauhauszeit. Ein viereckig vorspringender Betonklotz bildete den Eingang, darüber erhob sich ein gläserner Schacht, in dem sich eine Treppe um das Fahrstuhlgestänge wand. Als Kreutzer und Arnold die Pendeltüren öffneten, schlug ihnen eine Mischung aus Desinfektion und Mittagessen entgegen. In der Anmeldung erfuhren sie, daß 26
der Chefarzt im dritten Stock, Zimmer 327, zu finden sei. Über die Wendeltreppe im Glasschacht stiegen sie nach oben. Chefarzt Dr. Eisenlieb empfing sie wohlwollend. Er war schon informiert, offensichtlich funktionierte das Nachrichtensystem einwandfrei. Er war ein großer, hagerer Mann mit spärlichem, exakt gescheiteltem Haar. Seine Erscheinung machte vom Kopf bis zur den Sohlen seiner weißen Schuhe einen so frischen, entschlackten, blütenreinen und bakterienfreien Eindruck, als sei er soeben dem Sterilisator entstiegen. Er hatte ein eigenartig nacktes Gesicht, in dem eine rechteckig geschliffene Brille blitzte, und dazu einen Zug von aristokratischer Unnahbarkeit in den Mundwinkeln. Sie wurden in das private Arbeitszimmer geführt. Dr. Eisenlieb bot ihnen Platz auf den Stühlen aus Aluminiumrohr an, die mit dunkelblauem Markisenstoff bespannt waren. Er öffnete eine Bernsteinkassette mit Zigaretten und reichte sie herum. Kreutzer lehnte dankend ab. Rauchen fördere Krebs und Kreislaufstörungen. Der Chefarzt starrte ihn sekundenlang irritiert an. Dann schlug er schwungvoll ein Bein über das andere, setzte Arnolds und seine Zigarette mit einem schweren Bernsteinfeuerzeug in Brand und sagte nach einem tiefen Lungenzug: „Gut und schön. Mit welchen Auskünften kann ich Ihnen also dienlich sein, meine Herren?“ Dabei ließ er den Rauch aus Mund und Nasenlöchern strömen. Kreutzer lehnte sich zurück. „Wir möchten gern mit dem Verunglückten sprechen, der in der letzten Nacht bei Ihnen eingeliefert wurde. Sein Name ist Siegfried Laabs.“ Dr. Eisenlieb machte ein besorgtes Gesicht. „Der Pati27
ent war bis vor kurzem bewußtlos. Er hat eine Oberschenkelfraktur, Rippenbrüche und Fleischwunden. Es mußte eine Bluttransfusion durchgeführt werden. Außerdem besteht der Verdacht einer Milzverletzung, so daß möglicherweise noch eine Operation nötig ist. Alles in allem befindet er sich in einem so bedenklichen Zustand, daß ich keinerlei zusätzliche Belastung, gleich welcher Art, gestatten darf.“ „Es handelt sich hier doch um die Aufklärung eines Verbrechens …“ Dr. Eisenlieb unterbrach mit einer abwehrenden Handbewegung. „Ich weiß, ich weiß! Ihre Aufgabe in allen Ehren, meine Herren, aber ich als Arzt bin in erster Linie für das Wohl des Patienten verantwortlich.“ Kreutzer schob ein wenig die Unterlippe vor. „Und unsere Aufgabe ist es in diesem Fall, zu verhindern, daß Sie mehr Kranke als unbedingt notwendig haben.“ Seine Stimme blieb ruhig, wenn sie auch etwas härter klang als gewöhnlich. „Herr Laabs ist das Opfer eines Verbrechers, der weder Verantwortung noch Gewissen hat. Es besteht die Gefahr, daß ein Mensch mit dieser rücksichtslosen Einstellung zum Leben der Mitmenschen jeden Augenblick neue Verbrechen begeht. Deshalb brauchen wir ohne Zeitverlust die Aussage.“ „Ich bitte Sie“, sagte Dr. Eisenlieb etwas betroffen, „es besteht keinerlei Anlaß, sich zu erregen! Es war lediglich meine Absicht, Sie darauf hinzuweisen, in welch einer ernsten Lage sich der Patient befindet. Wenn Sie allerdings der Meinung sind, daß eine Vernehmung unbedingt notwendig ist …“ Er brach ab und zuckte resignierend mit den Schultern. Dann drückte er auf einen Summer, und in Sekunden28
schnelle tauchte im Türrahmen ein Gesicht unter einer weißen Haube auf. „Oberschwester, wie steht es mit dem Unfall von letzter Nacht? Ist ein kurzes Gespräch möglich?“ „Der Patient ist im Augenblick bei Bewußtsein, Herr Chefarzt. Ob es allerdings zu empfehlen ist, schon jetzt Besuch zu gestatten …“ Die weiße Haube wiegte sich zweifelnd hin und her, verschwand aber auf einen Wink des Arztes hinter der sich lautlos schließenden Tür. „Ist bei der Untersuchung festgestellt worden“, fragte Kreutzer, „ob in einem organischen Leiden des Verunglückten, einem Schwächeanfall zum Beispiel, eine der Unfallursachen zu vermuten ist?“ Eisenlieb stieß mit einem knackenden Geräusch Rauch durch die Nase. „Schwächeanfall, das ist gut! Laabs, war, gelinde gesagt, voll wie ein Wurm in Spiritus. Drei Komma acht Promille. Organisch ist der Mann kerngesund. Rätselhaft bleibt allerdings, wie er sich mit dem Alkoholspiegel überhaupt auf dem Fahrrad halten konnte.“ „Tja“, sagte Kreutzer, „er hielt sich aber. Können wir jetzt mit ihm sprechen?“ „Bitte. Aber nur das Allernotwendigste und mit größter Schonung.“ Eisenlieb drückte seine Zigarette aus, führte sie über den Flur und öffnete die Tür zu einem kleinen, hellen Krankenzimmer. Auf einem hohen Bett lag der Verunglückte. Unter der gebräunten Haut war sein Gesicht von unnatürlicher Blässe. Er trug einen Kopfverband, aus dem ein Büschel dunkler Haare hervorsah, und rang sich beim Anblick der Männer mühsam ein Grinsen ab. 29
„Herr Laabs, hier sind zwei Herren von der Kriminalpolizei“, sagte der Chefarzt, „die Ihnen einige Fragen stellen wollen. Sprechen Sie sowenig wie möglich, nicken Sie nur mit dem Kopf.“ Kreutzer zog sich einen Stuhl heran und setzte sich dicht neben das Bett, so daß er dem Kranken in die Augen sehen konnte. „Sie waren gestern abend mit dem Fahrrad unterwegs. Kamen Sie aus Drewitz?“ Kopfnicken. „Um welche Zeit war das? Etwa zwanzig Uhr dreißig?“ Laabs dachte angestrengt nach. „Nee. So um halb neun bin ich aus Drewitz weg.“ Er sprach leise, war aber deutlich zu verstehen. „Warum waren Sie gestern mit dem Fahrrad unterwegs? Sie haben doch ein Motorrad?“ Siegfried Laabs zog die Augenbrauen zusammen. Sein Mund wurde klein und böse. „Das war Rudi, der Hund. Der hat mir die Kerze geklaut und die Luft aus den Reifen gelassen. Das hat er ja schon mal gemacht.“ „Aus welchem Grund?“ „Wegen Karin – die blöde Gans!“ „Wer ist denn Karin?“ „Seine Schwester.“ „Was haben Sie mit dem Mädchen zu tun?“ Laabs wurde sichtlich verlegen. Seine Finger zuckten auf der Bettdecke. Er schluckte heftig und sagte: „Na – die kriegt doch ein Kind.“ „Und Sie sind der Vater?“ Laabs schüttelte den Kopf. „Wieso denn? Davon ist noch gar nichts bewiesen. Die treibt sich mit jedem ’rum. 30
Deshalb habe ich ja Schluß gemacht.“ „Ach so“, sagte Kreutzer, „jetzt haben Sie also eine neue Freundin in Drewitz, und Karins Bruder ist darüber verärgert.“ Kopfnicken. „Wie heißt dieser Rudi mit Nachnamen?“ „Noak.“ „Das ist doch Ihr Freund?“ „Nicht mehr.“ „Halten Sie es für möglich, daß der Unfall ein Racheakt von Rudi ist?“ Laabs bekam runde Augen. Eine Falte bildete sich über seiner Nasenwurzel. Dann murmelte er: „Dem Schuft ist alles zuzutrauen.“ „Na schön. Wie lange fahren Sie mit dem Rad bis Philippsthal? Dreißig Minuten?“ „Ungefähr.“ „Dann muß der Unfall gegen einundzwanzig Uhr stattgefunden haben?“ Kopfnicken. „Sie fuhren ohne Licht?“ „Bloß über die Felder. War ja ’n ganz heller Mond, man hätte glatt Zeitung lesen können. Der Nebel kam ja erst kurz vorm Dorf, da, wo der Weg über de Wiesen führt.“ Dr. Eisenlieb lehnte mit auf dem Rücken verschränkten Armen am Türrahmen. „Nicht soviel sprechen!“ sagte er. Laabs warf ihm aus den Augenwinkeln einen unsicheren Blick zu und nickte. „Wie groß war die Sichtweite, als Sie im Nebel kurz vor Philippsthal vom Feldweg auf die Chaussee einbogen? Drei Meter?“ 31
Schulterzucken. „Hörten Sie ein Fahrzeug kommen?“ „Nö, eigentlich nicht. Ich habe ja gesungen.“ „Gesungen?“ Kreutzer zog die Stirn in Falten und blickte Arnold fragend an. „Bemerkten Sie nicht die Scheinwerfer?“ „Doch, aber da war es schon zu spät.“ „Sie wurden geblendet?“ Kopfnicken. „Erkannten Sie den Fahrzeugtyp?“ Kopfschütteln. „War es ein Lastwagen oder ein Personenwagen?“ „Eher ein PKW. Kam mir ziemlich klein vor.“ „Als Traktorist mußten Sie doch gehört haben, ob es ein Zweitakter oder ein Viertakter war?“ Schulterzucken. „Wieviel Scheinwerfer haben Sie gesehen?“ „Zwei.“ „Waren es nicht vier? Zwei weiße und zwei gelbe?“ Kopfschütteln. „Warum fuhren Sie nicht rechts, sondern mitten auf der Fahrbahn?“ Schulterzucken. „Sie waren betrunken, nicht wahr?“ Auf Stirn und Oberlippe des Patienten hatten sich kleine Schweißperlen gebildet. Seine Augenlider flackerten, und er begann heftiger zu atmen. „Hatten Sie getrunken, Herr Laabs?“ Das Gesicht des Kranken zuckte, eine fiebrige Röte überflammte es. Er schloß die Augen und wandte den Kopf ab. „Antworten Sie! Sie standen unter Alkohol und haben 32
den Verkehr gefährdet!“ „Schluß!“ sagte Dr. Eisenlieb scharf. „Hier ist ein Krankenhaus! Sie sehen doch, daß Sie ihn quälen. Kommen Sie später wieder!“ Kreutzer erhob sich mit einem Ruck. Er nahm den Stuhl und stellte ihn hart in die Ecke. Er war wütend auf sich selbst, daß er sich in seiner Abneigung gegen einen Säufer so hatte hinreißen lassen. Aber noch mehr ärgerte er sich über Eisenliebs Bemerkung. Dieser Mensch spielt sich auf, als müßte er die Menschenrechte verteidigen, dachte er. Der Abschied war frostig. Eisenlieb nickte knapp mit dem Kopf, die Brille blitzte, um seine blutleeren Lippen zuckte ein mokantes Lächeln. Kreutzer drehte sich abrupt um, Arnold sagte „Guten Tag“, machte eine leichte Verbeugung und folgte seinem Chef. Als sie im Wagen saßen, der in langsamer Fahrt den Weg zum Ausgang suchte, knurrte Kreutzer: „Ich könnte mich ohrfeigen! So etwas darf doch einfach nicht passieren, verdammt noch mal!“ Sein Gesicht war hochrot, und er stemmte die geballten Fäuste unter das Kinn. Arnold mußte ein Lächeln unterdrücken. Noch nie hatte er seinen Chef so erregt gesehen. Bisher war Kreutzer stets von kühler Sachlichkeit gewesen, und nur in seltenen Fällen, wenn sein Gesprächspartner sich zu stupid benahm oder hinter unsinnigen Behauptungen Schutz suchte, konnte er sarkastisch werden. Arnold hatte beinahe geglaubt, sein Chef sei gar nicht fähig, die Beherrschung zu verlieren. Im gewissen Sinne war er froh darüber, daß er sich geirrt hatte; dennoch begriff er nicht recht, weshalb er eigentlich so aus der Fassung geraten war. Hatte es an dem etwas eigenartigen Benehmen Dr. 33
Eisenliebs gelegen? Arnold konnte sich nicht überwinden, Kreutzer danach zu fragen, der mit finsterer Miene in seiner Ecke lehnte und an der Unterlippe nagte. Der Wagen hatte das Krankenhausgelände verlassen und schlich hinter einer Straßenbahn her, die alle paar hundert Meter anhielt. Vor ihnen keuchte ein windschiefer Lastwagen und blockierte die Überhollücke. Der Fahrer knurrte Verwünschungen und trommelte ungeduldig mit den Fingerspitzen auf das Lenkrad. Schließlich erreichten sie ihr Ziel, die Bezirksbehörde der Volkspolizei, ein historisches Gebäude aus Preußens Glanz und Gloria – unter den Fenstern Stuckgirlanden und auf dem Dachgesims in riesigen Marmorkübeln den versteinerten Kriegsplunder von Anno Tobak. Kreutzer und Arnold gingen in ihr Büro, doch es waren keine Meldungen für sie da. Also begaben sie sich in die Kantine zum Mittagessen. Heute gab es Hirschkeule mit Pfifferlingen und Kirschkompott. „Unser nächster Programmpunkt ist die KriminalTechnische Untersuchungsstelle“, sagte Kreutzer, als er seine Papierserviette zusammenknüllte und auf den Teller legte. „Sobald Sie Ihre Limonade ausgetrunken haben, setzen wir uns in Bewegung.“
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5. Die Kriminal-Technische Untersuchungsstelle befand sich im siebenten Stockwerk eines eben erst fertiggestellten Verwaltungshochhauses. Durch die große Empfangshalle flutete das Sonnenlicht, hinter der Glasfront wucherten exotische Grünpflanzen, und an einer der Seitenwände prangte ein endloses Mosaikbild. Kreutzer und Arnold durchquerten die Halle. Sie mußten unfreiwillig etwas Klettersport treiben, denn die Aufzüge waren noch nicht in Betrieb. Ziemlich außer Atem erreichten sie Dr. Fritsches Arbeitszimmer, in dem es intensiv nach Kalk und frischer Farbe roch. Doch der herrliche Blick über die Dächer der Altstadt und die wie gehämmertes Silber schimmernden Havelseen entschädigte sie reichlich für den beschwerlichen Aufstieg. Dr. Fritsche war ein rundlicher, quicklebendiger Mann von etwa fünfundvierzig Jahren. Er begrüßte seine Besucher mit natürlicher Herzlichkeit. Dann bat er sie, Platz zu nehmen, setzte sich selbst in seinen schwenkbaren Arbeitssessel und nahm einige mit Stichwörtern bedeckte Schreibmaschinenseiten zur Hand. „Sie kommen also, um nähere Einzelheiten zu erfahren. Gut, diese Ungeduld macht mir Freude. Gehen wir also gleich in medias res. Die Auswertung der Tatortspuren hat unser Kollektiv im wesentlichen abgeschlossen, die Ergebnisse sind nicht schlecht. Ich glaube, damit kann man etwas anfangen, wenn man nicht auf den Kopf gefallen ist.“ Er hatte die beweglichen Hände eines Puppenspielers und begleitete seine Rede mit temperamentvollen Gesten. Bald bildeten Daumen und Mittelfinger Kreise, bald 35
kehrten sich die Handflächen mit gespreizten Fingern nach außen, dann wieder drehten sich die Hände wie „Fähnchen auf dem Turme“. „Folgende Tatortspuren standen uns zur Verfügung: vier Reifenprofile, die sich in der feuchtweichen Erde des Sommerweges gut abgezeichnet hatten und von denen Gipsabgüsse vorliegen; die Bremsspur, aus der sich Radstand und Spurweite des Unfallfahrzeugs ergeben; das zertrümmerte Deckglas eines Autoscheinwerfers, dessen Teile auf der Fahrbahn verstreut waren, eingesammelt wurden und im Labor zusammengesetzt etwa zwei Drittel der Glasfläche ergaben; außerdem ein verformtes Fahrrad, von dem Reifenprofilabdrücke auf dem Feldweg gefunden wurden. An der linken Seite der Fahrradgabel befinden sich frische Schrammen und Lackspuren, die vom Kotflügel des Unfallwagens stammen. Es liegen auch Fotografien des Unfallortes vor, die eine Rekonstruktion des Geschehens erleichtern.“ Er raufte sich seine spärlichen aschblonden Haare, die an Schläfen und Hinterkopf Löckchen bildeten, schob sich mechanisch seine Pfeife in den Mundwinkel, warf sie aber, als er den scharfen Tabakgeschmack auf der Zunge spürte, mit einem mißmutigen Knurren in den Aschenbecher zurück. Dann sprang er auf und fuhr heftig gestikulierend fort: „Nun zu den Ergebnissen. Der Unfallwagen ist ein Wartburg Luxus 1000 in den Farben Anthrazit-Elfenbein, Baujahr neunzehnhundertvierundsechzig. Er ist mit Pneumantreifen ausgestattet, die noch zu achtzig Prozent erhalten sind. Daraus ergibt sich etwa eine Laufleistung von zehntausend Kilometern. Am vorderen linken Kotflügel, in der Höhe der Zierleiste, entstand ein Lackschaden, vermutlich wurde auch das Blech eingedrückt. Der linke Scheinwerfer ist ebenfalls beschä36
digt worden, das Glas wurde beim Anprall zerschmettert, und es liegt der Schluß nahe, daß dabei auch die verchromte Lampeneinfassung deformiert wurde. Das Fahrzeug hatte im Augenblick des Zusammenpralls mit dem Radfahrer eine Geschwindigkeit von mindestens fünfzig Kilometern in der Stunde.“ Kreutzer nickte anerkennend, schien aber noch nicht überzeugt. „Diese Fakten sind so präzis, daß sie beinahe unglaubhaft klingen“, sagte er. „Dürfen wir erfahren, wie Sie zu den Ergebnissen gelangt sind?“ Dr. Pritsche lächelte verständnisvoll. „Aber gewiß, das ist kein Geheimnis. Die Spurweite und der Radstand sagen uns eindeutig: es war ein Wartburg. Als der Fahrer sich nach dem Unfall zur Flucht entschlossen hatte, gab er heftig Gas. Die Vorderräder rauhten auf dem weichen Sommerweg den Boden auf, also Frontantrieb. Die Farbspuren an der Fahrradgabel waren Anthrazit-Elfenbein. Die chemische Analyse ergab, daß es sich um den in Eisenach verwendeten Originallack handelt. Alter etwa achtzehn Monate. Drittens: Das gefundene Scheinwerferglas wird nur bei Wartburg und Trabant verwendet. Trabant scheidet aber wegen der Spurweite aus.“ „Und wenn es nun ein älteres Fahrzeug war“, wandte Kreutzer ein, „das vor achtzehn Monaten in den Farben Anthrazit-Elfenbein lackiert wurde?“ Dr. Fritsche spreizte abwehrend die Finger. „Das ist sehr unwahrscheinlich. Wir fanden den original Kunstharzlack, der bei Zweitlackierungen kaum verwendet wird, weil den meisten Werkstätten die Arbeit damit zu schwierig ist. Sie benutzen lieber den schnelltrocknenden Nitrolack. Unter dem Lack war nur die Grundierung und winzige Metallspänchen vom Karosserieblech, aber keine 37
Spur einer anderen Farbe, die ja sonst zumindest in geringen Resten vorhanden sein müßte. Natürlich könnte man sagen, der Wagen hatte eben einen neuen Kotflügel. Aber wir sind anderer Meinung. Die Gesamterscheinung der vom Fahrzeug hinterlassenen Tatortspuren weist darauf hin, daß es sich um einen relativ neuen Wagen handelt. So haben zum Beispiel alle vier Reifen das gleiche Profil und den gleichen Abnutzungsgrad. Bekommt ein älterer Wagen neue Reifen, kauft man oft nur zwei oder auch drei und nimmt dann das Reserverad dazu. Die Reifen haben dann ein unterschiedliches Profil oder doch zumindest einen ungleichen Abnutzungsgrad. Auch das Scheinwerferglas gab uns einen Hinweis. Bei einem älteren Scheinwerfer finden Sie am äußeren und oft sogar am inneren Rand des Glases einen Schmutzring aus Öl, Staub, Putzmitteln und Rost. Wir haben die Scherben zusammengesetzt, aber der Schmutzring ist nur in schwachen Andeutungen vorhanden, seine Entstehung hat also erst begonnen.“ Mit einer eleganten Handbewegung, die sagen sollte: „Voilà, da haben Sie es“, ließ sich Dr. Fritsche in seinen Sessel fallen. Er griff zu seiner Pfeife, stocherte eine Weile darin herum und setzte sie in Brand. Dann sagte er: „Über den offiziellen Bericht hinaus möchte ich Ihnen noch einige Hinweise geben, die vielleicht nützlich sein können, falls Sie daran interessiert sind.“ „Aber selbstverständlich!“ sagten Kreutzer und Arnold wie aus einem Munde. „Aber bitte bedenken Sie, daß es sich nur um Vermutungen handelt. Also, die erste ist, daß wir es mit einem privaten Wagen zu tun haben. Begründung: Als Dienstwagen wird so gut wie nie ein Wartburg Luxus benutzt. 38
Mir ist jedenfalls noch nie einer begegnet, und ich komme viel herum. Luxus im Dienst läßt sich schwer begründen. Zweitens: Es ist ein gutgepflegtes Garagenfahrzeug. Begründung: Die von uns untersuchten Lacksplitter haben eine Wachsschicht und weisen nicht die geringsten Korrosionserscheinungen auf. Außerdem fanden wir ein Bruchstück der Zierleiste, das sich im Gepäckträger des Fahrrades verklemmt hatte. Auf der Innenseite dieses Stückchens Zierleiste ist keine Spur von Rost zu finden. Nun hat der Wagen aber nach unserem ‚Befund‘ schon einen Winter hinter sich. Hätte er die meiste Zeit davon im Freien gestanden, müßte sich unter der Zierleiste Rost gebildet haben, denn diese Stelle ist besonders gefährdet, weil sich dort das Wasser staut und sehr lange hält. Also hat der Wagen eine warme Garage, wo das Wasser auch unter den Zierleisten rasch abtrocknet. Ja, das wäre es.“ Sie unterhielten sich noch einige Minuten über das letzte Spiel des SC Potsdam und die Eigenarten von Kreutzers neuem Wagen. Dann erhob sich Kreutzer und sagte: „Vielen Dank, Doktor, Sie haben uns ein gutes Stück weitergebracht. Schicken Sie uns bitte den schriftlichen Bericht hinüber, sobald sie ihn fertig haben.“ Als sie die Treppe hinuntergingen, wandte er sich an Arnold. „Rufen Sie doch bitte in Philippsthal an, und erkundigen Sie sich nach diesem Rudi Noak. Ich möchte wissen, was er gestern abend zwischen neun und elf Uhr getrieben hat. Und dann machen Sie sich in der Kraftfahrzeugzulassungsstelle über die Zulassungskartei neunzehnhundertvierundsechzig her. Suchen Sie alle Wartburgs in unserer Farbe heraus und stellen Sie eine Liste der Eigentümer auf, mit Anschrift. Wollen wir auf unser Glück hoffen, daß der Täter in der näheren Umgebung wohnt. 39
Wenn nicht, haben wir für die nächsten Wochen ausgesorgt. Was glauben Sie wohl, wieviel Wartburgs in den Farben Anthrazit-Elfenbein in der ganzen Republik laufen?“ Arnold seufzte nur. Sie waren unterdessen durch die Glastüren ins Freie gelangt und gingen quer über ein mit Humuserde bedecktes Gelände, durch das sich ein Fußpfad schlängelte. Eine Grünanlage sollte hier entstehen. Rote Sandsteinplatten lagen gestapelt bereit, und viele Wacholder- und Rhododendronbüsche warteten in umwickelten Wurzelballen darauf, daß man sie verpflanzte. „Bitte, beachten Sie auch“, fuhr Kreutzer fort, „daß es sich um ein altes Fahrzeug mit neuer Karosserie handeln kann. Nehmen Sie diese Fälle auch in die Liste auf.“ „Gut“, sagte Arnold, „ich werde daran denken.“ Besonders glücklich schien er über seine Aufgabe nicht zu sein. Kreutzer bemerkte es, als er Arnold mit einem Seitenblick streifte. „Oder wollen Sie lieber meine Aufgabe übernehmen?“ fragte er. „Es sind alle Karosseriewerkstätten und Lackierereien in Potsdam und Umgebung abzuklappern.“ Arnold schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Aber ich wünsche Ihnen viel Erfolg.“ „Sehr aufmerksam. Sollte ich bis siebzehn Uhr nicht wieder in der Dienststelle sein, sehen wir uns morgen früh. Falls ich etwas finde, lasse ich sofort von mir hören. Bis dann also!“ Die beiden Männer trennten sich, jeder schon in Gedanken bei der bevorstehenden Arbeit.
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6. Am Mittag des nächsten Tages saß Kreutzer vorn neben dem Fahrer des Dienstwagens, hatte den rechten Ellbogen auf die Armlehne gestützt und rieb sich mißmutig das Kinn. Im Wagen war es warm, und irgendein Drähtchen zirpte boshaft hinter dem Armaturenbrett. Sie befanden sich auf einer Landstraße östlich der Bezirkshauptstadt und fuhren in Richtung Kleinmachnow, einer Waldsiedlung vor den Toren Berlins. Es war ein sonniger Tag, wolkenlos und farbenprächtig wie die vorangegangenen. Die Stare sammelten sich in lärmenden Scharen und wirbelten als schwarze Wolken über den blaßblauen Himmel. Kreutzer, vom Fahrer darauf aufmerksam gemacht, knurrte etwas Unverständliches. Er hatte im Augenblick keinen Sinn für die Schönheit des Herbstes, und die Geheimnisse des Vogelzuges mochten ihm gestohlen bleiben. Vollauf war er damit beschäftigt, seinen Ärger niederzuhalten und sich auf die nächsten drei Besuche einzustellen, die er in Kleinmachnow zu machen hatte. Seit er gestern die KTU verlassen hatte, schien es nicht weiterzugehen. Bis neun Uhr abends war er unterwegs gewesen, hatte alle nur erdenklichen Lackierereien und Karosseriewerkstätten abgegrast, war über Hinterhöfe gestolpert, hatte zahllose Treppen erklommen und an Dutzende von Türen geklopft. Immer wieder hatte er die gleichen, ermüdenden Fragen gestellt, und immer wieder war ihm mit Kopfschütteln oder ratlosem Schulterzucken geantwortet worden. Niemand wollte einen anthrazitelfenbeinfarbenen Wartburg mit einem Blechschaden am vorderen Kotflügel gesehen haben. 41
Heute morgen war er schon kurz nach sieben Uhr im Büro gewesen und hatte die Liste durchgesehen, die ihm von Arnold auf den Schreibtisch gelegt worden war. Dreiundsechzig Wartburgs in den Farben AnthrazitElfenbein mußten kontrolliert werden. Als dann Arnold gekommen war, hatten sie sich die Liste redlich geteilt und sich auf den Weg gemacht. Neunzehn Besuche lagen nun hinter ihm, das Ergebnis lautete Null Komma Null. Es war deprimierend. Der nächste auf der Liste war ein Dr. Egbert Nikolai, Kleinmachnow, Spanischer Weg 14. Sie fuhren über eine Brücke, danach einen Hügel hinauf und kurvten dann lange durch ein Labyrinth von Straßen, bis sie endlich den Spanischen Weg aufgespürt hatten. Es war ein großes weißes Haus mit einem Seitenflügel, einem graublauen, sanft abfallenden Schieferdach, schwarzen Dachbalken und hölzernen Fensterladen. An einer Seitenwand befand sich ein aus Steinquadern gesetzter Kamin, der sich nach oben verjüngte und von einer Haube aus Kupferblech überdacht wurde. Ein dunkelgrüner, kurzgeschorener Rasen umschloß das Haus und eine alte Rotbuche, deren Äste bis zur Erde reichten. Vor dem Haus blühten rosa Dahlien und die orangefarbenen Rispen der indischen Canna. Etwas zurückgesetzt, an der rechten Seite, war die Garage. Ein Fahrweg aus gelblichen Sandsteinplatten führte von der Toreinfahrt in weitem Bogen darauf zu. Die hölzernen, mit schmiedeeisernen Beschlägen verzierten Türflügel waren geöffnet. Kreutzer betrachtete einen Augenblick das Haus und den Garten und ging dann quer über den Rasen auf die Garage zu. Im Dämmerlicht schimmerte ein Wartburg. Sein Lack glänzte in den Farben Anthrazit und Elfenbein. Der Wagen stand mit dem Heck zur Tür. Kreutzer schob 42
sich an der Wand entlang und fuhr dann mit der Hand prüfend über den vorderen linken Kotflügel. Seine Augen hatten sich noch nicht von dem hellen Sonnenlicht auf das Halbdunkel eingestellt. Ein heißes Triumphgefühl durchströmte ihn. Seine Finger berührten eine rauhe, leicht unebene Stelle. Er beugte sich nieder und schnüffelte. Der Geruch frischer Farbe war deutlich wahrzunehmen. Nun sah er auch, daß die Spitze der Zierleiste fehlte, die gleich hinter dem Scheinwerfer begann. Er atmete tief ein, blieb einen Augenblick reglos stehen, wandte sich dann um und verließ die Garage. Er ging über die Terrasse, vorbei an einem Spalier voller Kletterrosen mit schweren, dunkelroten Blüten. An der Haustür, zu der einige flache Stufen hinaufführten, blitzte ein breites Messingschild mit der Aufschrift „Dr. med. Egbert Nikolai“. Darunter befand sich eine weiße Kunststofftafel, auf der die privaten Sprechstunden verzeichnet waren. Kreutzer läutete. Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür einen Spalt breit, und der Kopf einer älteren Frau lugte heraus. Sie musterte ihn mißtrauisch. „Ich möchte zu Doktor Nikolai.“ „Sprechstunde heute erst ab siebzehn Uhr.“ Ein Finger deutete auf die Tafel, und die Tür begann sich zu schließen. „Moment“, sagte Kreutzer. „Ich möchte Doktor Nikolai privat sprechen.“ „Der Herr Doktor ruht“, brummte die Alte unwillig. „Kommen Sie abends nach der Sprechstunde.“ Kreutzer zog seinen Dienstausweis heraus und streckte ihn der Frau entgegen. „Was ist das? Ohne Brille kann ich nicht lesen.“ 43
„Kriminalpolizei.“ Die Tür ging zu. In der nächsten Sekunde ging sie wieder auf, diesmal etwas weiter. „Was haben Sie gesagt? Kriminalpolizei?“ Die Nasenspitze war plötzlich weiß und die Augen kugelrund. „Kommen Sie ’rein. Ich werde nachsehen, ob er wach ist.“ Kreutzer trat ein. Sie gingen einen breiten Gang entlang, in dem ein schwacher Geruch nach Krankenhaus schwebte, vorbei an zwei weißlackierten Türen mit Milchglasscheiben. Am Ende des Ganges drückte die Alte eine Schiebetür auseinander, und sie gelangten in eine große Wohndiele, von der eine Treppe ins obere Stockwerk führte. Sie wies auf einen gepolsterten Stuhl. Kreutzer setzte sich. Hinter ihm klappte eine Tür, dann herrschte Stille. Kopfschüttelnd sah er sich um. Auf dem Parkettfußboden lag ein flauschiger, sandfarbener Teppich, die Wände waren mit genarbtem Lärchenholz getäfelt, und um den halben Raum lief ein Holzbord, auf dem Bücher, Vasen, Schallplatten, Zeitschriften und eine Menge kunstgewerblicher Gegenstände in anheimelnder Unordnung verteilt waren. In einer Ecke vor dem Fenster stand ein schwarzer Blüthner-Flügel. Er war aufgeklappt, und ein offenes Notenheft lehnte auf dem Brettchen über den Tasten. Nach einiger Zeit öffnete sich eine oben abgerundete Tür, deren Einfassung aus schmalen roten Ziegeln mit weißen Fugen bestand, und ein massiger, großer Mann trat in den Raum. Er war etwa Mitte Fünfzig. In seinem vom Schlaf rosig überhauchten Gesicht lief vom linken Ohrläppchen zum Kinn eine deutlich sichtbare Narbe, geradlinig, wie mit dem Säbel gezogen. Er trug kein Jac44
kett, und während er näher kam, schloß er seinen Hemdkragen und schob sich die Krawatte zurecht. Seine dunklen Augen, die unter buschigen Brauen hervorsahen, musterten Kreutzer unfreundlich. Zweifellos hatte er schlechte Laune, und er gab sich auch nicht die geringste Mühe, das zu verbergen. Kreutzer erhob sich von seinem Stuhl. „Herr Doktor Nikolai?“ Nikolai nickte und ging hinüber zum Kamin, vor dem sich ein breites, flaches Sofa und einige altmodische, mit buntem Chintz bezogene Sessel befanden. Nikolai ließ sich auf das Sofa sinken, wobei er geräuschvoll die Luft ausstieß. „Lassen Sie Ihre Entschuldigungen, und kommen Sie gleich zur Sache“, knurrte er. „Ich brauche mein bißchen Mittagsruhe dringend.“ Kreutzer bemühte sich, seine Gelassenheit zu bewahren. Er stellte sich vor und sagte dann: „Ich möchte Sie bitten, mir einige Fragen zu beantworten.“ Nikolai starrte ihn mit unbeweglichem Gesicht an und erwiderte nichts. „Ihr Wartburg hat am vorderen linken Kotflügel einen Blechschaden. Wie ist es dazu gekommen?“ begann Kreutzer. Nikolai runzelte die Stirn. „Woher wissen Sie das?“ „Ich habe ihn mir angesehen.“ „Waren Sie etwa ohne Erlaubnis in meiner Garage?“ fragte Dr. Nikolai beinahe gleichgültig. „Wir suchen einen Wagen, mit dem in der vorletzten Nacht ein schwerer Unfall verursacht wurde“, sagte Kreutzer. „Der Fahrer beging Unfallflucht. Ihre Garagentür stand offen. Ich ging hinein und fand den Wagen, den wir suchen. Andernfalls hätte ich Ihre kostbare Zeit gar nicht in Anspruch genommen.“ 45
Nikolai lehnte sich zurück und fixierte ihn scharf. „Ich verstehe nicht recht: Sie meinen, es wurde mit meinem Wagen ein Unfall verursacht?“ „Ja“, sagte Kreutzer und blickte ihm unverwandt in die Augen. Nikolai lachte. Es klang etwas gezwungen. „Das soll wohl ein schlechter Witz sein? Wer hat Ihnen denn dieses Märchen erzählt?“ „Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet“, sagte Kreutzer. Nikolai nahm die Hände aus den Taschen, öffnete die Kiste auf dem Rauchtisch, suchte sich eine Zigarre aus, biß die Spitze ab und setzte sie in Brand. Nachdem er einige dicke Qualmwolken ausgestoßen hatte, wandte er sich Kreutzer zu. „Nehmen Sie doch Platz.“ Kreutzer setzte sich in einen der Chintzsessel. „Nun wollen wir uns mal in Ruhe unterhalten, junger Mann.“ Nikolais Stimme hatte ihre Aggressivität verloren. „Es stimmt, mein Wagen bekam in der vorletzten Nacht eine Beule. Ich hatte Bereitschaftsdienst in der Poliklinik. Der Wagen stand auf dem Parkplatz. Als ich am Morgen nach Hause fahren wollte, entdeckte ich den Schaden. Ich vermutete, daß irgend jemand beim Parken auffuhr und dann still und heimlich verschwand, weil er nicht zahlen wollte und ihn offensichtlich niemand bemerkt hatte.“ Kreutzer war verblüfft, aber er ließ es sich nicht anmerken. Keinen Augenblick hatte er damit gerechnet, daß Nikolai ihn mit so einer simplen Antwort aus dem Konzept bringen könnte. „Von wann bis wann hatten Sie Bereitschaftsdienst?“ fragte er. 46
„Von achtzehn Uhr bis fünf Uhr morgen.“ „Sie haben während dieser Zeit die Poliklinik nicht verlassen?“ „Nein, es war nicht viel los. Ich hatte nur hin und wieder auf den Stationen zu tun.“ „Gibt es dafür Zeugen, daß Sie das Haus nicht verlassen haben? Ich stelle die Frage, um jeden Verdacht gegen Sie auszuschließen.“ „Verdacht? Zeugen?“ Nikolais Gesicht wurde eine Schattierung dunkler. „Das scheint mir doch reichlich unverschämt. Ich bin Chefarzt. Wollen Sie mir unterstellen, daß ich lüge?“ Kreutzer sah ihn unbeweglich an, preßte die Lippen zusammen und schwieg. Dr. Nikolai bemerkte diesen unbestechlichen und prüfenden Blick. Er streifte die Zigarrenasche in der Glasschale ab, fuhr mit der Zunge über die Lippen und sagte ruhiger: „Na schön. Zeugen werden sich finden lassen, soviel Sie wollen. Warum sollte ich Ihnen etwas vorschwindeln, wegen eines zerbeulten Kotflügels?“ „Es geht nicht um einen zerbeulten Kotflügel. Ein Mensch wurde schwer verletzt. Er schwebt noch immer in Lebensgefahr. Der Fahrer des Wagens ließ ihn hilflos auf der Straße liegen. Darauf steht Zuchthaus.“ „Was!“ fuhr Nikolai auf. Er strich sich mit der Hand über die Stirn. „Das habe ich nicht gewußt“, murmelte er tonlos, beugte sich vor, schraubte die Silberkappe von der Kristallflasche, goß sich einen Kognak ein und trank ihn auf einen Zug aus. Kreutzer hatte den Eindruck, daß Nikolais Hände nicht so ruhig waren, wie man es von einem Arzt erwarten sollte. Er sagte: „Der linke Scheinwerfer war auch be47
schädigt, nicht wahr?“ „Ja. Hat das eine besondere Bedeutung?“ Nikolai sprach leise und sah Kreutzer nicht an. Seine Augen starrten auf das leere Glas. „Ich wollte mir nur Gewißheit verschaffen.“ Kreutzer stand auf. „Darf ich Ihr Telefon benutzen?“ Der Arzt deutete auf einen Kacheltisch in der Nähe des Blumenfensters, auf dem sich das Telefon, Notizblöcke und ein Becher voller Bleistifte befanden. Kreutzer ging hinüber, nahm den Hörer auf und wählte. Als er die Stimme seiner Sekretärin hörte, sagte er: „Versuchen Sie, Arnold zu erreichen. Er soll die Fahndung abbrechen. Ja, so schnell wie möglich nach Kleinmachnow, Spanischer Weg vierzehn. Haben Sie? Gut, das ist vorläufig alles.“ Er legte auf und ging zu seinem Sessel zurück. Nikolai sah ihn interessiert an. „Wieso sind Sie so sicher“, fragte er, „daß Sie wirklich den richtigen Wagen gefunden haben? Ich habe Ihnen doch erklärt, daß er in dieser Nacht gar nicht benutzt wurde.“ Kreutzer schüttelte den Kopf. „Wir besitzen genaue Hinweise auf das Unfallfahrzeug. Ihr Wartburg ist der Unfallwagen, das ist so gut wie sicher. Natürlich werden wir noch eine gründliche technische Prüfung durchführen, die aber nach meiner Überzeugung nur die letzten Zweifel beseitigt.“ Nikolai schlug heftig mit der flachen Hand auf den Tisch. „Herr Leutnant! Wollen Sie endlich zur Kenntnis nehmen: Ich habe den Wagen in dieser Nacht nicht benutzt. Ich war in der Klinik.“ „Noch eine Frage“, sagte Kreutzer. „Wer fährt außer Ihnen den Wagen?“ 48
„Niemand. Ich habe nicht viel Zeit für private Liebhabereien, doch fahre ich sehr gern Auto. Der Wagen wird gehegt und gepflegt, ich lasse niemanden heran, außer den Mechaniker.“ „Sind Sie verheiratet?“ „Ja. Meine Frau hat ein schweres Nervenleiden, sie ist partiell gelähmt, scheut die Öffentlichkeit und hat seit Jahren praktisch nicht mehr ihr Schlafzimmer verlassen, geschweige denn den Wagen gefahren.“ „Haben Sie erwachsene Kinder?“ „Einen Sohn. Er hat sein eigenes Motorrad und besitzt außerdem noch nicht die Fahrerlaubnis für den Wagen“, antwortete Nikolai. „Kommen vielleicht irgendwelche Bekannte oder Mitarbeiter aus dem Krankenhaus in Frage?“ „Ausgeschlossen. Ich gebe die Wagenschlüssel nicht aus der Hand. Das zweite Paar ist in einer Kassette.“ Er schloß ein Schreibtischfach auf und nahm die Kassette heraus. Die Schlüssel waren da. „Gut“, sagte Kreutzer. „Wie kommt es, daß der Wagen so schnell repariert wurde?“ Nikolai zuckte mit den Schultern. „Ich sagte ja schon, daß mir der Wagen wertvoll ist. Als ich gestern morgen den Schaden entdeckte, habe ich mich natürlich sehr geärgert. Vormittags rief ich einen guten Bekannten an, der handwerklich recht geschickt ist und mir kleinere Reparaturen am Auto und im Hause erledigt. Er kam sofort und brachte die Sache in Ordnung. Bei Gelegenheit will er die Stelle in einer Werkstatt noch einmal lackieren lassen. Reparaturlack ist auf die Dauer nicht das Rechte.“ „Warum haben Sie den Vorfall nicht angezeigt?“ „Da ich es für einen Parkplatzschaden hielt und keine Möglichkeit sah, den Täter zu ermitteln, wollte ich mir 49
unnötige Scherereien mit der Polizei ersparen und machte deshalb keine Anzeige.“ „Sind Sie kaskoversichert?“ „Ja, gewiß.“ „Haben Sie der Versicherung den Unfall gemeldet?“ „Nein, noch nicht. Ich hatte es vor, bin aber noch nicht dazu gekommen. Außerdem beträgt der Schaden nur etwa einhundertfünfzig Mark.“ „Hm“, machte Kreutzer, „wie heißt der Helfer in der Not, der so schnell zur Hand war?“ „Kriewitz. Er wohnt in Stahnsdorf und ist der Schwager des Werkstattbesitzers, bei dem ich Kunde bin.“ „Würden Sie mir bitte seine Adresse nennen?“ „Siegbertstraße, die Nummer weiß ich nicht. Die Werkstatt heißt Hecht.“ Kreutzer nahm sein Notizbuch heraus und schrieb sich das auf. Dann fragte er: „Ist Kriewitz bei seinem Schwager angestellt?“ „Soviel ich weiß, nein.“ „Wissen Sie, wo er beschäftigt ist?“ „Er ist Invalidenrentner, herzleidend. Wenn Sie ihn sprechen wollen – ich glaube, er arbeitet heute bei meinem Nachbarn im Garten. Vorhin habe ich ihn gesehen.“ „Danke“, sagte Kreutzer. „Ihren Wagen müssen wir leider sicherstellen. Sie dürfen ihn im Augenblick nicht mehr benutzen. Bitte, haben Sie Verständnis dafür. Würden Sie so freundlich sein, die Papiere und den Zündschlüssel bereitzulegen? Der Wagen wird noch heute abgeholt.“ „Das ist ja eine schöne Schweinerei!“ fuhr Nikolai auf. Dann seufzte er, goß sich noch einen Kognak ein, stürzte ihn hinunter und stützte das Kinn schwer in beide Hände. „Wie lange wird das dauern?“ 50
„Ich denke, morgen können Sie ihn wiederhaben“, sagte Kreutzer. „Wollen Sie auch einen?“ fragte Nikolai und deutete auf die Karaffe. „Auslese, tadellose Sorte.“ „Nein danke, ich trinke nicht. Höchstens abends ein Bier.“ Nikolai warf ihm einen spöttischen Blick zu. „Lobenswerte Prinzipien. Sie halten mich für schuldig, wie?“ Kreutzers Gesicht wurde abweisend. „Als Besitzer des Unfallwagens richtet sich naturgemäß der Verdacht zuerst gegen Sie. Den endgültigen Beweis haben wir noch nicht.“ „Noch nicht“, sagte Nikolai höhnisch, „aber bald, nicht wahr?“ Kreutzer überhörte den Hohn. „Der Unfall ereignete sich bei Philippsthal“, sagte er ruhig. „Haben Sie Verwandte oder Freunde, die in dieser Richtung wohnen?“ „Philippsthal?“ Nikolai schob die Unterlippe vor und dachte einen Augenblick nach. „Ist das dieses Nest hinter Güterfelde? Nein, ich wüßte niemanden, der über diese Strecke zu erreichen wäre.“
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7. Waldemar Kriewitz war hager, hatte einen schmalen, hohen Kopf und ein gebräuntes, von scharfen Falten durchzogenes Gesicht. Sein aschblondes, an den Schläfen ergrautes Haar war in Wellen gelegt und sorgfältig gekämmt. Die schiefergrauen Augen standen ein wenig zu eng neben der großen, mit einem Knick nach vorn springenden Nase. Er trug ein weißes Turnhemd, olivgrüne Breeches und schwarze, gutsitzende Stiefel. Um seinen Hals hing ein dünnes Goldkettchen und daran ein winziger, kunstvoll aus Elfenbein geschnitzter Buddha. Kreutzer ging über den Rasen auf die Jasminhecke zu, schob sich durch eine Lücke und trat an den niedrigen Zaun, der Nikolais Garten vom Nachbargrundstück trennte. Er beugte sich hinüber und sagte: „Herr Kriewitz, könnte ich Sie einen Augenblick sprechen?“ Kriewitz stieß seinen Spaten in die Erde, griff nach einer Schachtel Zigaretten, die neben einer Bierflasche auf einem Feldstein lag, und kam mit fragendem Blick näher. Kreutzer zeigte ihm seinen Ausweis. Kriewitz sah darauf nieder, hob die Augenbrauen und sagte: „Ach so!“ Dann nahm er eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie mit dem Feuerzeug an, das er aus der Uhrentasche seiner Hose zog. „Doktor Nikolai sagte mir“, begann Kreutzer, „daß Sie gestern seinen Wagen in Ordnung gebracht haben. Ich möchte gern von Ihnen hören, wie es dazu kam.“ „Ist irgend etwas passiert, Herr Leutnant?“ fragte Kriewitz. Er hatte eine höfliche, nicht unsympathische Stimme mit einem ganz schwachen norddeutschen Ton52
fall. „Ja“, sagte Kreutzer, „Unfall.“ „Mein Gott! Der Doktor hat mir doch gesagt, es war ein Parkplatzschaden.“ Er schüttelte nachdenklich den Kopf. „Also gestern vormittag gegen neun Uhr erhielt ich einen Anruf von Doktor Nikolai, daß ich doch so bald wie möglich zu ihm kommen und seinen Wagen reparieren sollte. Ich fuhr her, es war so gegen zehn, halb elf inzwischen, besah mir den Schaden und brachte ihn in Ordnung. Nachmittags um fünf war ich fertig.“ „Erklärte Ihnen Doktor Nikolai, wann und wo der Schaden entstanden war?“ „Natürlich. Er sagte, der Wagen hätte die Nacht über auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus gestanden. Irgendein Idiot müßte in der Dunkelheit dagegen gefahren und dann abgehauen sein.“ „Sie haben nichts bemerkt, was dieser Darstellung widerspricht?“ Kriewitz machte ein überraschtes Gesicht. Er sog so heftig an seiner Zigarette, daß er hohle Wangen bekam. „Nein, gar nichts. Stimmt das denn nicht?“ „Der Schaden entstand bei einem Unfall auf der Landstraße kurz vor Philippsthal.“ Kriewitz machte ein bestürztes Gesicht. Er nahm die Zigarette aus dem Mund und stieß einen langen Pfiff aus. Dann sagte er: „So etwas hätte ich Doktor Nikolai niemals zugetraut. Wenn Sie es nicht sagen würden, Herr Leutnant …“ Kreutzer unterbrach ihn. „Wer benutzt denn sonst noch den Wagen?“ Kriewitz zupfte an seiner langen Nase. „Ich kann das noch gar nicht begreifen. Er läßt niemanden an den Wagen heran, hütet ihn wie seinen Augapfel. Vielleicht ist 53
das alles ein Irrtum. Jedenfalls kann ich mir nicht denken, daß er einen Fremden mit seinem Auto fahren läßt.“ „Es muß ja nicht ein Fremder gewesen sein. Vielleicht ein Familienangehöriger oder ein guter Freund?“ „Nicht, daß ich wüßte.“ Kriewitz ließ seine Zigarette fallen und trat sie mit der Stiefelspitze in den weichen Boden. „Die Frau ist schwer krank, die kann gar nicht mehr allein die Treppe ’runter, und der Sohn …“ Kriewitz machte eine nachdenkliche Pause, ließ seine Augen über die Blumenbeete schweifen und schob das flexible Goldarmband seiner Uhr hin und her. „Also, ich weiß wirklich nicht, der Dieter hat nur die Fahrerlaubnis für das Motorrad. Er will sie auch für PKW machen, aber der Vater hat was dagegen und rückt deswegen nicht das Geld heraus. Darum gibt es dauernd Streit.“ Kreutzer fragte: „Was ist denn der Sohn? Verdient er selbst kein Geld?“ „Er studiert an irgendeiner Hochschule in Potsdam und wohnt noch bei den Eltern.“ „Aha. Sie kennen also niemanden, der den Wagen schon einmal gefahren hat?“ Kriewitz lächelte und entblößte dabei zwei Reihen gelblicher, unregelmäßig stehender Zähne. „So wörtlich dürfen Sie das nicht nehmen, Herr Leutnant; Ich wollte damit nur sagen, daß der Doktor sehr pingelig mit seinem Wagen ist. Ich zum Beispiel habe ihn auch schon mal ein paar Meter gefahren. Aber nur, wenn ich den Wagen bei einer Reparatur überprüfen muß. Und dann weicht der Doktor kaum von meiner Seite und sagt hundertmal, ich solle bloß vorsichtig sein.“ Kreutzer war unzufrieden. Er hoffte, daß es ihm Kriewitz nicht anmerken würde. „Irgendwelche Spuren einer unbefugten Benutzung haben Sie an dem Wagen nicht 54
entdeckt?“ fragte er. Waldemar Kriewitz lachte und zündete sich eine frischt Zigarette an. „Unbefugte Benutzung? Nicht das Schwarze unterm Nagel. Wenn da irgendwas gewesen wäre, dann hätte es der Doktor schon dreimal vor mir entdeckt. Der bemerkt jeden Kratzer. Nein, nein. Wo, sagten Sie, ist der Unfall passiert?“ „Kurz vor Philippsthal. Das liegt auf der Strecke Güterfelde-Saarmund.“ „Ja, das kenne ich. Es ist doch …“ Er brach ab und sah hinüber zur Straße, von der ein grauer Pobeda mit einer Rotkreuzlampe auf dem Dach auf Nikolais Grundstück einbog und nahe der Haustür hielt. Nikolai kam aus dem Haus. Er trug einen gelblichen Sommermantel über dem Arm und machte ein verdrießliches Gesicht. Der Fahrer öffnete die Tür, und Nikolai setzte sich neben ihn auf die vordere Sitzbank. Der Wagen wendete, wobei die Kupplung einen hellen Glockenton von sich gab, und verließ den Garten. Kriewitz nickte. „Das ist vernünftig. Wer es sich leisten kann, sollte mit dem Dienstwagen fahren oder ein Taxi nehmen. Wie oft wird abends noch etwas getrunken, und wer bringt es schon fertig, den Wagen vor der Kneipe stehenzulassen und zu Fuß nach Hause zu gehen? Ich kenne keinen. Womöglich möchte man auch noch der Freundin imponieren – tja, man hat getrunken, man hat es eilig, wie leicht kann unter diesen Umständen ein Unfall passieren.“ Kreutzer sah auf den breiten Streifen dunkler Erde, den Kriewitz umgegraben hatte. Es war saubere Arbeit. Die Kanten schienen wie mit dem Lineal gezogen, und jedes Stückchen Unkraut und jeder Stein war aufgehoben 55
und in einer auf dem Kies stehenden Schubkarre gesammelt worden. Er sagte: „Saugen Sie sich das aus den Fingern, Herr Kriewitz, oder meinen Sie etwas Bestimmtes?“ „Nicht doch!“ Kriewitz machte eine abwehrende Handbewegung. „Ich sage das ganz allgemein. Man macht sich doch seine Gedanken. Zugegeben, der Doktor trinkt ganz gerne einen …“ Er rieb sich den Handrücken und sah dem dünnen Rauchfaden nach, der aus seinem Mundwinkel aufstieg und sich kräuselnd in der Luft auflöste. Kreutzer hatte das Gefühl, daß Kriewitz nicht so recht mit der Sprache heraus wollte. „Womöglich hat der Doktor auch eine Freundin?“ tippte er an. Kriewitz hörte auf, seinen Handrücken zu reiben. Er öffnete leicht den Mund und blinzelte Kreutzer mit einem etwas törichten Ausdruck an. „Wissen Sie denn etwas davon?“ „Ich weiß gar nichts. Aber Sie scheinen etwas zu wissen. Nun spielen Sie nicht länger Versteck mit mir, sondern erzählen Sie, was los ist. Er hat also eine Freundin!“ Kriewitz gefiel diese direkte Frage gar nicht. Man sah es ihm an. Er stülpte die Lippen vor und zurück, und seine Kinnmuskeln zuckten. „Ich möchte nicht, daß der Herr Doktor denkt … Also wenn Sie mir versprechen, ihm nicht zu sagen, woher Sie den Hinweis haben …“ Er zögerte. Kreutzer mußte lächeln. „Auf Wunsch werden bei der Kriminalpolizei Informationen vertraulich behandelt, das wissen Sie doch.“ „Also gut“, sagte Kriewitz seufzend, „ich will es Ihnen erzählen. Wenn ich auch nicht glaube, daß Sie damit etwas anfangen können. Der Herr Doktor war die ganze 56
Nacht in der Klinik. Aber es geht schließlich um ein gemeines Verbrechen, da muß man Freundschaft und Rücksichtnahme auf das Privatleben schon mal außer acht lassen.“ Kreutzer wappnete sich mit Geduld. Moralische Einleitungen bei Zeugenaussagen war er gewohnt. Kriewitz fuhr fort: „Ich sage Ihnen ehrlich, ich fühle mich nicht ganz, wohl dabei, aber früher oder später kommen Sie ja doch dahinter. Nun also, Sie haben recht, Doktor Nikolai hat ein Verhältnis.“ „Wie heißt die Dame?“ „Mit dem Namen kann ich leider nicht dienen.“ Kriewitz breitete bedauernd die Hände aus. „Es ist eine süße Blonde, vielleicht Mitte der Zwanzig.“ „Woher wissen Sie von der Geschichte?“ „Rein zufällig, wie das so geht. Ich hatte vor einigen Monaten in Wilhelmshorst zu tun. Mein Schwager ist Kaninchenzüchter, und ich sollte für ihn dort einen Chinchillabock abholen. Da habe ich Doktor Nikolais Wagen in einer Seitenstraße stehen sehen. Eine Viertelstunde später überholte er mich auf der Chaussee. Das blonde Mädchen saß neben ihm.“ „Das beweist doch noch gar nichts.“ „Na, ich weiß nicht, mir hat der eine Blick genügt“, erklärte Kriewitz. „Sie hatte den Arm um ihn gelegt und den Kopf an seine Schulter.“ Kreutzer kniff für eine Sekunde die Augen zusammen. Eine Idee hatte sich in seinem Gehirn geregt. „Sagen Sie mal, wo haben Sie den Wagen stehen sehen?“ fragte er. „In Wilhelmshorst.“ „Führt nicht die direkte Verbindung von Kleinmachnow nach Wilhelmshorst über Philippsthal?“ „Ja, genau. Die führt über Philippsthal.“ 57
8. Kreutzer trat an den dunkelgrauen EMW und öffnete die Tür. Arnold saß neben dem Fahrer. „Sie sind schon da, das ist ja ausgezeichnet.“ Arnold nickte. „Kurz nach Ihrem Anruf fragte ich im Büro, ob es etwas Neues gäbe, und da erfuhr ich die frohe Botschaft. Also schnappte ich mir den nächsten Bus, und da bin ich.“ Kreutzer rutschte auf den Rücksitz und informierte ihn über die Gespräche mit Nikolai und Kriewitz. Dann fragte er: „Haben Sie mit diesem Rudi Noack gesprochen?“ „Ja. Die Sache mit dieser Karin und dem Kind stimmt. Noak behauptet, Laabs wäre der Vater. Den Plattfuß am Motorrad und die geklaute Kerze gibt er zu. Er sagt, er hätte es aus Wut getan, denn Laabs wäre ein Schuft, weil er seine Schwester mit dem Kind sitzenließe. Für die Zeit des Unfalls hat er ein Alibi. Von zwanzig bis dreiundzwanzig Uhr spielte er Skat mit einigen Kumpels, die das bezeugen. Außerdem kann er nicht Auto fahren.“ „Schön, dann wäre das erledigt. Jetzt habe ich eine andere Sache für Sie. Fahren Sie bitte in die Poliklinik und versuchen Sie ein paar Zeugen aufzutreiben, die bestätigen können, daß Doktor Nikolai in der Tatnacht das Krankenhaus nicht verlassen hat. Besonders wichtig ist uns natürlich die Zeit zwischen zwanzig und zweiundzwanzig Uhr. Und vielleicht erfahren Sie auch etwas über seine Freundin. Ich habe mir sagen lassen, Krankenschwestern reden gern über dieses Thema. Aber seien Sie möglichst taktvoll. So, das wär’s. Ich spreche inzwischen mit Frau Nikolai. Wenn ihr fertig seid, kommt ihr wieder her.“ Er stieg aus, sie nickten sich zu, und der EMW fuhr 58
davon. Als er sich der Haustür näherte, wurde sie geöffnet, ohne daß er geklingelt hatte. Die Haushälterin steckte den Kopf heraus und funkelte ihn böse an. „Was wollen Sie schon wieder?“ „Falls Sie es erlauben, möchte ich mit Frau Nikolai sprechen.“ Die Antwort war ein höhnisches Räuspern. Wortlos ging sie vor ihm her durch die Wohndiele und die Treppe hinauf. Plötzlich blieb sie stehen, sah von oben auf ihn herab und sagte mit schartiger Stimme: „Sie ist eine hilflose und sehr kranke Frau. Das einzige, was sie noch besitzt, ist die Liebe zu ihrem Mann. Bitte, denken Sie daran, und seien Sie etwas rücksichtsvoll – wenn Sie das fertigbringen. Ich wäre Ihnen dankbar dafür. Wie Sie mit dem Herrn Chefarzt gesprochen haben …“ „Haben Sie an der Tür gehorcht?“ „Ich bin für alles hier verantwortlich“, sagte sie ohne Verlegenheit, „also muß ich wissen, was vorgeht.“ Sie drehte sich um und ging weiter. Vor einer Tür am Ende eines teppichbelegten Korridors machte sie halt. „Augenblick warten“, brummte sie über die Schulter und war verschwunden. Nach einer Minute kam sie zurück, winkte Kreutzer einzutreten, ging hinaus und schloß hinter ihm die Tür. Er stand in einem großen, hellen Zimmer, das Schlafund Wohnraum zugleich war. An einer Wand stand ein breites cremefarbenes Doppelbett, über das hellblaue Steppdecken gebreitet waren. Rechts und links davon befanden sich eingebaute Schränke mit Türen aus geschliffenem Spiegelglas. Ein zierlicher RokokoFrisiertisch neben der Tür war überfüllt mit Parfümflakons, Puderdosen, Cold-Cream-Tuben, silbernen Kämmen und Bürsten, Nagellackfläschchen in allen Farben, 59
Wimperntusche, Feilen und kleinen Scheren. Die andere Seite des Raumes nahm ein Sitzplatz ein. Sofa und Sessel waren mit gelber Seide bezogen und von lindgrünen Kissen übersät. Auf dem Tisch stand eine Obstschale und eine Vase mit zwei rosa Anthurienblüten. Über einem niedrigen Büchergestell zwischen Fenster und Balkontür schimmerte die Mattscheibe eines Fernsehers. Die Balkontür war geöffnet, und die Vorhänge bewegten sich leicht in der Zugluft. Kreutzer war zögernd stehengeblieben, er konnte niemanden entdecken. „Bitte, kommen Sie doch weiter“, rief eine helle, mädchenhafte Stimme. „Ich bin auf dem Balkon.“ Er ging durch das Zimmer und trat hinaus. Der hölzerne Balkon, auf dem rings um das Geländer Segeltuch gespannt war, wirkte wie das Sonnendeck eines Schiffes. Auf einer gepolsterten Rohrliege unter einem Sonnenschirm lag eine Frau, bis zur Taille mit einem leichten Wollplaid zugedeckt. Sie war klein und zart, hatte seidig glänzendes braunes Haar und sehr weiße, durchscheinende Haut. In ihren feingliedrigen Händen mit den langen dunkelroten Fingernägeln hielt sie ein Buch. Sie schien kaum älter als dreißig zu sein. Die großen grünlichen Augen hatten einen leicht mandelförmigen Schnitt und sprühten von Leben. „Nehmen Sie Platz, Herr Kreutzer“, sagte sie und wies auf einen Korbstuhl, der neben ihrer Liege stand. „Womit kann ich Ihnen helfen?“ „Nur einige Fragen, Frau Nikolai. Ich möchte Sie nicht lange belästigen. Vermutlich wissen Sie schon, worum es sich handelt.“ „Ja. Karla erzählte mir von Ihrem Gespräch mit meinem Mann. Manchmal benimmt sie sich ein wenig 60
barsch. Sie dürfen ihr das nicht übelnehmen. Sie ist eine so treue Seele. Ohne sie wüßten wir gar nicht, wie wir auskommen sollten.“ Sie machte eine Pause, schob ein Lesezeichen in das Buch und steckte es zwischen die Zeitschriften in einen Bastständer. Die Aquamarine in ihrem Goldarmband funkelten. „Übrigens, glauben Sie bitte nicht, daß Sie mich belästigen“, fuhr sie fort. „Ich bin sehr viel allein und freue mich über jeden Besuch, selbst wenn er dienstlich ist.“ „Vielen Dank, Sie sind sehr freundlich“, murmelte Kreutzer und fühlte sich hilflos wie ein Schuljunge. Die Frau verwirrte ihn. Sie war völlig anders, als er erwartet hatte, sah aus wie Greta Garbo in ihren besten Jahren und sprach mit angenehmer Stimme, in der nicht die geringste Spur von Enttäuschung oder Selbstmitleid zu finden war. Nur wenn man sehr genau hinsah, entdeckte man zwei dünne, vom Schmerz gezeichnete Linien, die sich von den Nasenflügeln zu den Winkeln ihres Mundes zogen. „Nehmen Sie eine Zigarette?“ fragte sie. „Nein, danke, ich …“ „Aber ein Glas Orangensaft werden Sie mir nicht abschlagen“, sagte sie lächelnd. „Ja, gerne“, sagte Kreutzer. Sie zog ein Tischchen auf Rädern heran und füllte aus einer verchromten Thermoskanne zwei Gläser. Er nahm das Glas entgegen, das sie ihm reichte, und nippte von der eiskalten Flüssigkeit. „Verzeihen Sie, Herr Kreutzer, wenn erst ich Ihnen eine Frage stelle. Gibt es nicht einen Paragraphen, der es den Ehepartnern erlaubt, die Aussage zu verweigern, wenn sie die Befürchtung haben, den anderen damit zu 61
belasten?“ Kreutzer war überrascht. Obwohl er sich nun mehr denn je in seiner Überzeugung bestärkt fühlte, auf der richtigen Spur zu sein, war ihm unbehaglich zumute. Er holte tief Luft und sagte: „Ja, es gibt einen solchen Paragraphen. Er gilt für den Fall, daß Sie als Zeugin vor Gericht stehen. Glauben Sie denn wirklich, Frau Nikolai, daß Sie Ihrem Mann mit einer Aussage belasten würden?“ „Nein, nein!“ Sie schüttelte heftig den Kopf. „Im Gegenteil, ich glaube, daß mein Mann zu einer solchen Niedertracht, einen verletzten Menschen hilflos seinem Schicksal zu überlassen, gar nicht fähig wäre. Meine Frage hat mit dem Unfall eigentlich nichts zu tun. Es gibt da gewisse …“, sie zog die Brauen zusammen und dachte einen Moment nach, „gewisse private Dinge, über die ich unter gar keinen Umständen sprechen werde.“ Mit einem etwas mühsamen Lächeln fuhr sie fort: „Sehen Sie, ich bin seit drei Jahren nur noch eine Art Schaufensterpuppe. Trotzdem ist mein Mann von einer rührenden Sorgfalt, kaum ein Tag vergeht, an dem er nicht an mich denkt: Blumen, Bücher, kleine Aufmerksamkeiten. Er umgibt mich mit so selbstloser Liebe, daß ich meine Krankheit fast vergesse und glücklich bin.“ Zum ersten Mal bemerkte Kreutzer in ihrer Stimme ein leichtes Zittern. Noch während er über eine taktvolle Antwort nachdachte, hatte sie sich wieder in der Gewalt und sagte ruhig: „Ich will ganz ehrlich sein. Er war vorhin bei mir und erzählte, welcher Verdacht gegen ihn besteht. Er hat mich gebeten, keine Aussage zu machen, mich aus der ganzen Sache herauszuhalten, jedes Gespräch mit der Polizei unter Hinweis auf meine Krankheit zu verweigern. Da ich aber weiß, daß sich dadurch der 62
Verdacht gegen ihn nur verdichten würde, habe ich mich entschlossen, doch mit Ihnen zu sprechen. Also, falls Sie meine persönliche Meinung hören wollen: Ich halte es für möglich, daß er die Klinik während der Nacht unbemerkt verlassen kann. Er bestreitet es mit aller Entschiedenheit. Und wenn er sagt, er hat es nicht getan, dann dürfen Sie ihm glauben, genau wie ich ihm glaube.“ Kreutzer schwieg und sah nachdenklich auf seine Schuhspitzen. „Kennen Sie jemand aus seiner näheren Umgebung, der den Wagen benutzt haben könnte?“ fragte er schließlich. Sie neigte den Kopf, griff dann, ohne hinzusehen, nach einer Emailledose auf dem Tisch, nahm eine Zigarette heraus und schob sie zwischen die Lippen. Kreutzer erhob sich, holte die Streichhölzer und gab ihr Feuer. Sie nickte ihm dankend zu und sagte: „Nein, ich wüßte niemanden. Aber irgend jemand muß ihn benutzt haben. Mein Mann war es nicht. Er ist Arzt, er läßt einen Verletzten nicht ohne Hilfe. Nein, ich möchte eher annehmen, daß ein paar Halbwüchsige den Wagen gestohlen und den Unfall verursacht haben. Man hört doch so viel von diesen Dingen.“ „Ja, das kommt vor“, gab Kreutzer zu. „Doch ich habe noch nie erlebt, daß solche Brüder das Fahrzeug an die Stelle zurückbringen, von der sie es entwendet haben. Das ist zu riskant und vor allem auch zu unbequem. Es sieht ganz so aus, als wollte der Täter vertuschen, daß der Wagen einen Unfall hatte. Daraus könnte man schließen, daß er zu den Personen gehört, die mit dem Wagen in Verbindung zu bringen sind. Andernfalls wäre es ihm doch egal gewesen, ob und wo man den Wagen findet.“ „Das ist seht scharfsinnig“, sagte sie und ließ den Zigarettenrauch langsam aus gespitzten Lippen hervor63
strömen. „Hoffentlich haben Sie Glück mit dieser Theorie.“ Kreutzer trank einen Schluck Orangensaft. „Wir werden tun, was in unseren Kräften steht“, sagte er. „Wußten Sie übrigens, daß sich der Unfall bei Philippsthal ereignete? Das ist die Straße, die von hier nach Wilhelmshorst führt.“ „Nein.“ Sie sah ihn entsetzt an und ließ sich langsam gegen die hochgestellte Rückenlehne sinken. Ihre Hand preßte ganz unbewußt die Aufschläge der Bluse zusammen. Dann senkte sie die langen Wimpern und flüsterte: „Ich verstehe nicht, was Sie damit sagen wollen.“ Kreutzer blickte auf die schwarzgebeizten Holzdielen zwischen seinen Füßen. Nikolai hatte also diesen Punkt aus seinem Bericht herausgelassen. Gewiß nicht ohne Grund, seine Frau schien nicht ganz ahnungslos zu sein. „Verbinden Sie etwas mit dem Namen Wilhelmshorst?“ fragte er behutsam. Sie richtete sich auf und öffnete die Augen, die sie für einige Sekunden geschlossen hatte. „Entschuldigen Sie bitte“, sagte sie mit klarer Stimme, „mir war für einen Augenblick nicht gut. Das kommt zuweilen vor und hängt mit meiner Krankheit zusammen. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Der Name Wilhelmshorst hat für mich keinerlei Bedeutung.“ Sie drückte die halbgerauchte Zigarette aus und leerte ihr Glas. Kreutzer wußte, daß sie nicht die Wahrheit sagte. Doch et entschloß sich, darüber hinwegzugehen und ihr alle quälenden und demütigenden Eingeständnisse zu ersparen. Den Namen der Freundin würde er auch von Nikolai erfahren können. „Nun, das ist ja auch ganz nebensächlich“, sagte er 64
nach einer Pause und erhob sich. Sie lächelte dankbar. Offensichtlich hatte sie ihn durchschaut. Unten vor dem Haus hielt ein Wagen. Autotüren schlugen. Nikolais laute Stimme war zu hören, sie klang ziemlich wütend. Dann polterten Schritte die Treppe hinauf und kamen über den Korridor näher. Die Tür zum Schlafzimmer wurde heftig aufgestoßen. Nikolai stürmte herein. Er hatte ein hochrotes Gesicht, seine Schläfenadern waren geschwollen, und die Augen unter den dichten Brauen funkelten bösartig. Wie ein gereizter Stier ging er auf Kreutzer los. „Hören Sie mal“, brüllte er, „ich verbitte mir diese unverschämten Schnüffeleien! Wenn Sie etwas wissen wollen, kommen Sie gefälligst zu mir, und lassen Sie die Klinik und meine Frau aus dem Spiel.“ Arnold tauchte mit betretenem Gesicht hinter ihm in der Balkontür auf und hob hilflos die Schultern. Nikolai fuhr zu ihm herum. „Dieser Jüngling steckt sich hinter das Pflegepersonal und versucht mir eine Grube zu schaufeln. Zur Rede gestellt, wird er unverschämt und faselt etwas von Überprüfung meines Alibis.“ Kreutzer sagte scharf: „Dieser Jüngling ist Unterleutnant Arnold, und er hatte von mir den Auftrag dazu. Durch unsere Untersuchungen der letzten Stunden sind wir zu der Ansicht gelangt, daß bestimmte Verdachtsmomente gegen Sie existieren. Wir haben uns deshalb entschlossen, die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens gegen Sie zu beantragen.“ „Ja, verflucht noch mal“, schrie Nikolai, „das ist mir völlig Wurscht! In der Klinik bin Ich der Chef und …“ 65
Er brach plötzlich ab. Sein Blick war auf seine Frau gefallen, die den Kopf schüttelte und ihn bittend ansah. Er schluckte mehrmals und lockerte seine Krawatte. Dann sagte er ruhiger: „Gehen wir in mein Zimmer. Ich möchte, daß wenigstens meine Frau von diesem Irrsinn verschont bleibt.“ Damit drehte er sich um und stapfte hinaus. Kreutzer reichte Frau Nikolai die Hand. Sie flüsterte, wobei sie ihn beschwörend ansah: „Bitte, behalten Sie die Nerven. Er meint es nicht so, er ist völlig überarbeitet.“ Nikolais Arbeitszimmer war ein kleiner, nüchtern eingerichteter Raum im Erdgeschoß. Ein Schreibtisch vor dem Fenster, ein weißer Metallschrank mit Glastüren, in dem medizinische Fachbücher und die Bände von Meyers Neuem Lexikon standen, eine lederbespannte Pritsche und drei weiße Holzstühle waren die ganze Ausstattung. An der Wand neben dem Schreibtisch hing ein Kunstdruckkalender, und über den Stühlen hingen drei kolorierte Kupferstiche aus der Struwelpeter-Ära, die zeigten, wie der clevere Onkel Doktor einen Simulanten kuriert, der sich auf Krücken hereinschleppt und beim Anblick einer Zahnzange mit erhobenen Händen davonläuft. Der Arzt ließ Kreutzer und Arnold eintreten, knallte die Tür zu, ging zum Schreibtisch und warf sich in seinen Arbeitssessel, daß es in den Fugen krachte. Er starrte einige Zeit mit bitterbösem Gesicht auf die Schreibgarnitur aus poliertem Granit. Plötzlich brüllte er: „Ich warte auf eine Entschuldigung! Glauben Sie vielleicht, daß ich mir diese Unverschämtheit einfach bieten lasse?“ „Wir können Sie auch zur Vernehmung in unsere Dienststelle vorladen!“ sagte Kreutzer ruhig. 66
Nikolai schnappte nach Luft. „Das ist doch …, ich …, die Rechte des Bürgers …“, keuchte er und ballte in hilfloser Wut die Fäuste. Kreutzer lachte trocken. „Gewiß, wir haben die Aufgabe, die Rechte der Staatsbürger zu schützen. Das heißt aber nicht, daß uns jeder beleidigen und an der Nase herumführen darf. Respekt beruht auf Gegenseitigkeit.“ Nikolai stützte den Kopf in die Fäuste. „Warum, zum Teufel, schnüffeln Sie hinter meinem Rücken? Das ist doch nicht fair.“ „So? Aber es ist fair, uns zu beschwindeln?“ hielt ihm Kreutzer vor. Nikolai lief rot an, erhob sich halb von seinem Sitz – und ließ sich mit einem Seufzer zurückfallen. „Ich bin mir keiner Schuld bewußt“, sagte er erschöpft. „Haben Sie eine Freundin in Wilhelmshorst?“ Nikolai war plötzlich wieder voll wütender Abwehrbereitschaft. „Wie haben Sie das herausgefunden? Weiß meine Frau etwa …“ Kreutzer schüttelte den Kopf. „Ihre Frau hat mir nichts gesagt.“ „Gott sei Dank! Ich begreife nur nicht, wie Sie das so schnell erfahren konnten. Niemand hat das bisher bemerkt …“ „Wie heißt Ihre Freundin?“ „Das geht Sie nichts an. Das ist meine ganz private Angelegenheit.“ „Sie irren sich. Wir fragen nicht aus Neugier. Der Weg von Kleinmachnow nach Wilhelmshorst führt über Philippsthal, das wissen Sie doch. Haben Sie uns deshalb diese Bekanntschaft verschwiegen?“ „Nein, zum Donnerwetter! Ich habe sie verschwiegen, weil ich mit dem Unfall nichts zu tun haben und weil ich 67
dem Mädchen und meiner Familie peinliches Geschwätz ersparen wollte.“ „Das war ein Fehler. Es ist bei uns nicht üblich, vertrauliche Mitteilungen breitzutreten. Wenn Sie uns nicht die Wahrheit sagen, müssen wir sie anderswo zu erfahren trachten, und dadurch wird es erst peinlich für Sie. Also zäumen Sie das Pferd nicht am Schwanz auf, versuchen Sie einmal, die Tatsachen mit klarem Kopf zu sehen. Es ist ein Verbrechen geschehen, wir müssen es aufklären. Sie stehen unter Tatverdacht. Da Sie beteuern, unschuldig zu sein, wäre es das klügste, uns ohne Vorbehalt zu unterstützen, damit der Schuldige schnell gefaßt wird und Sie von dem Verdacht befreit werden. Es ist in Ihrem eigenen Interesse, bitte verstehen Sie das doch!“ „Allerdings, ich bin ja kein Idiot, aber …“ „Dann nennen Sie uns den Namen Ihrer Freundin.“ „Das kann ich nicht! Sie hat sowenig wie ich mit dem Unfair zu tun, und ich werde sie nicht kompromittieren.“ „Wieso, ist sie verheiratet?“ Nikolai schwieg mit verbissenem Gesicht. „Gut“, sagte Kreutzer, „Genosse Arnold, was konnten Sie in der Poliklinik ermitteln?“ „Ich habe erfahren, daß Herr Doktor Nikolai zwischen zwanzig und zweiundzwanzig Uhr von niemandem gesehen wurde. Er erschien gegen zweiundzwanzig Uhr fünfzehn auf der Chirurgischen Station.“ „Das ist ja lächerlich“, knurrte Nikolai. „Ich war während der ganzen Zeit in meinem Zimmer und habe gelesen. Einen Kriminalroman, wenn Sie es genau wissen wollen.“ „Gab es sonst noch etwas, Genosse Arnold?“ „Ja. Es ist bekannt, daß Doktor Nikolai vor einigen Wochen während des Bereitschaftsdienstes für zwei oder 68
drei Stunden nicht im Hause war. Es soll dafür mehrere Zeugen geben, die ich aber noch nicht sprechen konnte.“ Kreutzer sah zu Nikolai hinüber, der mit einem eigensinnigen Ausdruck um den Mund aus dem Fenster starrte; er schien nicht bereit zu sein, zu sprechen oder auch nur sein Benehmen zu rechtfertigen. Kreutzer nickte Arnold zu, sie erhoben sich. „Gehen wir in die Klinik. Herr Doktor, wir dürfen uns verabschieden.“ Nikolai schnaufte. „Also gut, ich gebe den Namen preis. Aber ich sage Ihnen noch einmal, ich war an diesem Abend nicht in Wilhelmshorst. Ein Unbekannter muß ohne mein Wissen den Wagen benutzt haben, das ist die einzig mögliche Erklärung. Warum wollen Sie mir nicht glauben?“ „Ihr Verhalten macht es nicht gerade leicht, Ihnen zu glauben. Aber wir werden jeden Hinweis sorgfältig prüfen, auch den auf den Unbekannten.“ Nikolai schob den Sessel zurück, stand auf und trat ans Fenster. Er wandte den beiden den Rücken zu, bohrte die Hände in die Taschen und sagte leise und widerwillig: „Sie heißt Brigitte Alverdes.“
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9. Kreutzer ging über einen mit winzigen Mosaiksteinen gepflasterten Gartenweg auf eine alte Villa zu. Zehn Minuten zuvor hatte er Arnold und Dr. Nikolai in der Bezirksbehörde abgesetzt, wo ein Protokoll über Nikolais Aussage angefertigt und unterschrieben werden sollte. Trotz Nikolais Sträuben hatte Kreutzer darauf bestanden, diese Sache sofort zu erledigen, denn sie konnten dadurch verhindern, daß sich Nikolai eventuell mit Brigitte Alverdes in Verbindung setzte und ihre Aussage beeinflußte. Er trat in das Haus und gelangte durch eine Doppelschwingtür mit Griffen aus Messingrohr in einen runden, saalartigen Raum, der die Höhe von zwei Stockwerken einnahm. Eine Marmortreppe führte an der Wand entlang bis unter die Kuppeldecke, begleitet von ovalen Fenstern. Die ehemalige Garderobe unter dem Treppenbogen hatte man in einen Verschlag mit einer Tür und einem kleinen Schiebefenster verwandelt. In diesem Gewölbe saß ein alter Pförtner. Kreutzer fragte nach Fräulein Alverdes und erhielt freundliche Auskunft. Er fand sie im oberen Stockwerk hinter einer geschnitzten Eichenholztür, an der ein Schild mit folgender Aufschrift befestigt war: Institut für Ernährung Dr. J. Weintraut, Abteilungsleiter B. Alverdes, med.-techn. Assistentin Sie saß an einem großen Schreibtisch, auf dem in einem Drahtgestell Reagenzgläser mit Wattepfropfen standen. 70
Links neben ihr stand ein Mikroskop. Auf einer Schreibunterlage hatte sie zwei Stapel engbeschriebener Blätter. Sie verglich die Eintragungen und hakte sie mit Rotstift ab. Kreutzer schätzte sie auf mindestens fünfundzwanzig Jahre. Ihre diskret geschminkten Augen waren rauchblau, mit einem Stich ins Grünliche, und der Lidaufschlag, mit dem sie Kreutzer entgegensah, wirkte träge und zugleich verführerisch. Unter einem offenen weißen Kittel trug sie ein Pepitakostüm und eine hellgrüne Nylonbluse mit weißer Krause an Hals und Manschetten. Außer einem Ring mit einem prächtigen hellgrünen Stein an der linken Hand, der fast wie ein Brillant aussah, hatte sie keinen Schmuck. Kreutzer stellte sich vor und sagte, daß er sie in einer dringenden Angelegenheit sprechen müßte. Sie betrachtete ihn halb neugierig, halb amüsiert. „Kriminalpolizei? – Wie gruselig. Dann wollen wir in den Klubraum gehen, dort sitzt man bequem und ist ungestört.“ Sie stand auf. „Hier kann ich Ihnen nicht einmal einen vernünftigen Stuhl anbieten.“ Als sie ihren Kittel auszog und dabei die Schultern nach hinten reckte, konnte Kreutzer feststellen, daß es an ihrer Figur nichts auszusetzen gab. Sie schloß das Büro ab, und sie gingen nach unten in den Klubraum. Es war ein dunkles Zimmer mit hohen Fenstern, schwarzer Holztäfelung und einem riesigen Marmorkamin, dessen finstere, von Dämonhäuptern umkränzte Feueröffnung so kalt und tot aussah wie der Einstieg zur Unterwelt. In zwei tiefen schwarzen Ledersesseln mit hufeisenförmiger Lehne nahmen sie Platz. Brigitte Alverdes drehte sich nach hinten und knipste eine Stehlampe an, deren 71
sanftgelbes Licht dem Raum etwas von seiner steifen Unfreundlichkeit nahm. Dann lehnte sie sich zurück, legte die Unterarme auf die Sessellehne und schlug die Beine übereinander. Der knappe Rock rutschte nach oben und gab die Knie frei. Sie sah ihn wartend an, lächelte verhalten und wippte ein wenig mit dem Schuh. Es war ein schwarz und weiß geflochtener Pumps mit hohem Absatz, und Kreutzer dachte bei sich, daß dieses Mädchen für ihre Arbeit und wahrscheinlich auch für ihr Gehalt zu teuer und elegant angezogen war. Ob Nikolai dafür aufkam? Er schüttelte unwillig den Kopf, weil er sich bei einem Gedanken ertappte, den er für unerlaubt hielt. Fräulein Alverdes schien sein Kopfschütteln mißdeutet zu haben. „Gefällt Ihnen irgend etwas nicht?“ fragte sie. Das Lächeln um ihren rosafarbenen Mund, der für ihr Alter vielleicht schon zu erfahren war, verstärkte sich. „Nein“, sagte er, „ich mußte nur an etwas denken.“ Sie lachte. „Das kommt also auch bei der Polizei vor.“ Kreutzer verstand diese Anspielung nicht, und wenn doch, ließ er es jedenfalls nicht erkennen. „Es geht um Doktor Nikolais Wartburg“, begann er. „Sie sind mit Doktor Nikolai befreundet, nicht wahr?“ Sie zog die dünnen Augenbrauen in die Höhe. „Egbert? Das überrascht mich wirklich. Was hat er denn verbrochen?“ „Es handelt sich um Unfallflucht. Bitte beantworten Sie jetzt nur meine Fragen.“ „Ach du liebe Güte – seien Sie nur nicht so streng mit mir, sonst fange ich an zu weinen.“ Kreutzer lächelte mühsam. Er hatte nichts übrig für 72
diese Art Humor, fühlte sich herausgefordert und wußte, daß er nichts dagegen tun konnte. „Wie gut – hm – kennen Sie Doktor Nikolai?“ „Sehr gut. Wir lieben uns, wenn Sie das meinen.“ Er runzelte die Stirn. Dieses unverblümte Eingeständnis mißfiel ihm. „Haben Sie sich vorgestern abend gesehen?“ fragte er. Sie dachte einen Moment nach und ließ dabei ihre Fingerspitzen auf der Sessellehne entlang spazieren. „Vorgestern? – Das war Mittwoch. Nein, da haben wir uns nicht gesehen.“ „Seit wann sind Sie mit Doktor Nikolai bekannt?“ „Seit etwa zwei Jahren. Wir lernten uns auf einer Fahrt nach Dresden kennen. Er nahm mich in seinem Wagen mit.“ „Sie wohnen in Wilhelmshorst?“ Sie nickte. „Und Doktor Nikolai besucht Sie dort?“ „Hin und wieder. Meistens gehen wir aus, nach Berlin ins Theater oder zum Tanzen. Oft fahren wir auch nur spazieren.“ „Kommt es vor, daß er sie besucht, auch wenn er Nachtdienst in der Klinik hat?“ „Das glaube ich nicht. Manchmal sagt er wohl, daß er Bereitschaftsdienst hat, um seine Frau nicht zu beunruhigen.“ „Aber am Mittwochabend war er nicht bei Ihnen?“ „Das sagte ich doch schon. Was ist denn eigentlich daran so interessant?“ „Wo waren Sie an diesem Abend?“ „Gott, da muß ich erst mal überlegen. Vorgestern? – Da war ich zu Hause.“ „Den ganzen Abend?“ 73
„Ja. Fragen Sie doch meine Wirtin, wenn Sie mir nicht glauben. Die ist in der Partei.“ „Haben Sie eine Fahrerlaubnis?“ „Ja.“ „Dürfen Sie auch Doktor Nikolais Wagen fahren?“ „Selten. Er bildet sich ein, daß außer ihm kein Mensch richtig mit einem Auto umgehen kann. Sein ewiges Dazwischenreden macht mich ganz nervös, und deshalb fahre ich lieber gar nicht mehr. Das ist ihm auch nur recht.“ „Fahren Sie manchmal allein?“ Sie beugte sich vor und starrte ihn überrascht und fast ein wenig erschrocken an. Sie zog die Stirn in Falten und stützte das Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. Auf der blassen Haut ihrer Wangen glühten die dunkelroten Fingernägel wie Wundmale. Nachdenklich fragte sie: „Wie kommen Sie denn auf so etwas? Glauben Sie vielleicht, Egbert würde sein kostbares Auto aus der Hand geben?“ „Das ist doch keine Antwort“, sagte Kreutzer. Sie sah ihn wütend an. „Langsam machen Sie mit Spaß. Sherlock Holmes stellt tausend Fragen. Ein Quiznachmittag mit der Kriminalpolizei. Vielleicht könnten Sie sich doch entschließen, mir zu sagen, worum es eigentlich geht. Wer hat Fahrerflucht begangen? Oder erlaubt das Ihr Chef nicht?“ Kreutzer zwang sich zur Ruhe, obwohl er innerlich kochte. „Noch ein paar Minuten Geduld“, sagte er. „Ich möchte möglichst objektive Antworten. Wenn ich Ihnen alles sage, würden sie wahrscheinlich nicht so objektiv ausfallen.“ „Mit anderen Worten, Sie wollen mich in eine Falle 74
locken.“ „In die Falle locken!“ sagte er verächtlich. „Leben Sie auf dem Mond? Ich will die Wahrheit, weiter nichts. Außerdem geht es gar nicht um Sie.“ „Aber um einen Mann, der mir nahesteht. Soviel haben Sie ja schon verraten.“ „Stimmt es, daß Sie Doktor Nikolais Wartburg hin und wieder allein fahren?“ Sie seufzte und lehnte sich wieder zurück. „Vielleicht zwei- oder dreimal, seit wir uns kennen. In der letzten Zeit aber überhaupt nicht mehr. Ich sagte ja schon, warum.“ „Und wer fährt sonst noch den Wagen?“ „Sonst noch? – Niemand, soviel ich weiß. Fragen Sie doch Egbert selbst, der muß es ja schließlich wissen. Ich habe keine Ahnung.“ „Na schön, das genügt fürs erste.“ Kreutzer erzählte ihr mit wenigen Worten, was sich ereignet hatte. Dann ließ er sich ihre Adresse geben und verabschiedete sich. Sie begleitete ihn zur Haustür und sah ihm nach, bis er verschwunden war. Dann ging sie in ihr Büro zurück und summte gedankenverloren vor sich hin: „Was kann der Sigismund dafür, daß er so schön ist …“
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10. „Ja, das stimmt, am Mittwoch hatte Fräulein Alverdes Besuch. Ein Mann war bei ihr.“ Frau Overmann beugte sich nach vorn und hielt ihre Zigarette an die Streichholzflamme. Sie war eine große dunkelhaarige Frau von etwa fünfundvierzig Jahren. Auf ihrer Oberlippe schimmerte bläulicher Flaum. „Haben Sie diesen Mann gesehen?“ fragte Kreutzer. „Nein. Ich hörte nur seine Stimme. Fräulein Alverdes ist ein erwachsener Mensch. Was sie tut, ist ihre Sache. Es ist nicht meine Art, meinen Mitmenschen nachzuspionieren.“ „Könnten Sie sich denken, wer es gewesen ist?“ „Das schon. Es hörte sich an, als sei es Doktor Nikolai gewesen, mit dem Fräulein Alverdes befreundet ist.“ Kreutzer warf Arnold einen kurzen Blick zu. „Ist das nur eine Vermutung, oder sind Sie sicher, daß er es war?“ Frau Overmann legte ihre Zigarette in den Aschenbecher und strich sich mit beiden Händen glättend über die Haare. Sie hatte auffallend schöne Hände, die sie nun von. beiden Seiten dicht unter die Ohren gegen den Hals drückte, so daß sich die Fingerspitzen im Nacken berührten. Sie schüttelte langsam den Kopf. „Einen Eid könnte ich nicht darauf leisten. Ich habe Doktor Nikolai nur einige Male flüchtig gesehen, wenn er Fräulein Brigitte abholte. Wir haben auch einmal ein paar Worte miteinander gewechselt, aber das ist alles. Sie waren oben in Brigittes Zimmer. Der Mann sprach sehr laut, manchmal brüllte er sogar. Sie hatten Streit, jedenfalls hörte es sich so an. Ich hatte den Eindruck, daß er es 76
war. Aber da Sie sagen, Fräulein Brigitte bestreitet das, bin ich nun selbst im Zweifel.“ „War etwas von dem Streit zu verstehen?“ Frau Overmann hob die Schultern. „Einige Sätze ohne Zusammenhang. Einmal schrie er: ‚Ich kann das nicht mehr mit ansehen‘ oder so ähnlich, und Brigitte sagte sehr energisch, er solle sich nicht um Dinge kümmern, von denen er nichts verstünde. Es dauerte eine ganze Zeit, vielleicht zwanzig Minuten oder eine halbe Stunde, und sie waren ziemlich laut. Ich überlegte schon, ob ich nicht ’raufgehen und sie bitten sollte, etwas ruhiger zu sein. Es war nach acht Uhr, und der Junge sollte einschlafen. Aber dann wurde es plötzlich still. Ich sah noch einmal ins Kinderzimmer, er schlief schon. Jungs in dem Alter sind meistens unempfindlich gegen Lärm.“ „Worüber gestritten wurde, wissen Sie nicht?“ „Nein. Es interessierte mich nicht im geringsten.“ „Hörten Sie, wann der Mann fortging?“ „Ich hörte, daß irgendwann die Tür klappte. Um welche Zeit das war, kann ich beim besten Willen nicht sagen. Der Fernseher lief, und ich war mit meinen Gedanken ganz bei der Sendung.“ „Wissen Sie noch, wie die Sendung hieß?“ Frau Overmann zupfte an ihrer Unterlippe und blickte sinnend auf das Sandmännchen aus braunem Ton, das auf dem Fernseher stand. „Ein Stück mit der Annegret Golding, glaube ich, die sich in einen Marsmenschen verliebt – wie hieß das bloß …“ Sie stand auf und blätterte in den Zeitungen, die auf dem Ablagebrett unter dem Rauchtisch lagen. Sie schüttelte den Kopf. „Die Programmzeitung ist wieder einmal verschwunden. Peter nimmt sie immer mit 77
in sein Zimmer. Augenblick bitte, ich schaue bei ihm drüben mal nach.“ Sie ging hinaus, und dann war nebenan das Knarren einer Schranktür und das Rascheln von Papier zu hören. Kreutzer und Arnold schwiegen, sie sahen hinaus in den abendlichen Garten. Das Zimmer, in dem sie sich befanden, lag zu ebener Erde, und die Tür zur Terrasse war geöffnet. Zwei gelbe Gartenstühle und ein zusammengelegter Sonnenschirm lehnten an der niedrigen Mauer, die das Grundstück des Doppelhauses in zwei Hälften teilte. Hinter der Terrasse war ein Stück Rasen und eine Staudenrabatte zu sehen, in der Goldrute und fliederfarbene Winterastern blühten. Einige hohe, dunkelgrüne Tannen gaben mit ihren geschwungenen, bis zur Erde reichenden Ästen am Ende des Gartens Schutz vor neugierigen Blicken aus der Nachbarschaft. Vom Nebengrundstück kam das monotone Rauschen eines Rasensprengers herüber, und langsam drang der Geruch von frischgeschnittenem Gras und feuchter Erde ins Zimmer. Frau Overmann kehrte zurück, unter dem Arm die Programmzeitung. Sie legte sie vor Kreutzer auf den Tisch. „Es war ein Fernsehspiel und hieß ‚Kinder der Venus‘. Die Sendung lief von zwanzig Uhr bis einundzwanzig Uhr vierzig.“ „Es ist also durchaus möglich“, sagte Kreutzer, „daß der Mann vor einundzwanzig Uhr das Haus verließ.“ „Möglich ist es, aber es kann natürlich genausogut nach einundzwanzig Uhr gewesen sein“, erwiderte sie. „Bemerkten Sie ein Fahrzeug?“ „Sie meinen, ob der Mann damit wegfuhr?“ „Ja, das meine ich.“ Kreutzer versuchte möglichst gleichgültig auszusehen. 78
„Ich weiß es nicht mehr genau.“ Frau Overmann sah die beiden Männer an und lächelte entschuldigend. „Aber ich glaube, ich hörte vor dem Haus einen Motor anspringen, als er gegangen war.“ „Sie sahen nicht aus dem Fenster?“ „Nein. Die Vorhänge waren zugezogen. Ich saß auf dem Sofa und hatte mir eine Decke um die Füße gewickelt. Das Fernsehspiel machte mir Spaß. Warum sollte ich aufstehen und aus dem Fenster gaffen? Ich bin von Natur aus gar nicht neugierig. Darüber ärgerte sich mein Mann bis zur Weißglut. Er fand es unweiblich. Ich zeigte zuwenig Interesse für seine Affären, und er hielt das für Gleichgültigkeit. Ja, man macht eben viele Dummheiten im Leben. Entschuldigen Sie bitte …“ Sie seufzte und sah plötzlich sehr gealtert aus. Kreutzer und Arnold waren etwas betroffen, sie wußten nicht recht, was sie darauf erwidern sollten. Ein Schweigen entstand, Arnold fingerte an seinem Zigarettenetui herum, ließ es schließlich aufschnappen, bot Frau Overmann eine Zigarette an und gab ihr Feuer. Sie machte einige tiefe Züge, und allmählich kehrte in ihr Gesicht die freundlich-heitere Ruhe zurück. „Entschuldigen Sie bitte“, sagte sie noch einmal und lächelte. „Haben Sie sonst noch Fragen?“ Kreutzer nickte. „Welchen Eindruck haben Sie von Fräulein Alverdes?“ „Einen recht guten Eindruck. Fräulein Brigitte wohnt jetzt seit drei Jahren bei mir, und ich habe zum Beispiel noch nie bemerkt, daß sie unehrlich war. Im Gegenteil, zuweilen sagt sie so unverblümt, was sie denkt, daß es ihr von manchen Leuten übelgenommen wird. Ich versuche ihr dann klarzumachen, warum sie sich mit ihren allzu offenen Bemerkungen Feinde macht, aber sie will das 79
nicht einsehen. Es ist ihr Standpunkt, daß jeder, der sie fragt, die ungeschminkte Wahrheit zu hören bekommt. Wem das nicht passe, der möge ihr gestohlen bleiben, sie sei auf niemanden angewiesen. Sie ist ein ziemlich nüchterner Mensch, Herz und Gefühl, wie das früher bei jungen Mädchen üblich war, liegen ihr nicht. Sie will davon nichts wissen, und wenn einmal die Rede darauf kommt, wird sie ironisch und biegt das Gespräch rasch ab. Sie ist kritisch, und sie rechnet sich kühl ihren Vorteil aus und handelt auch danach. Das mag etwas hart klingen, dennoch halte ich sie für einen anständigen Kerl. Hier im Haus ist sie ordentlich, hält ihr Geld zusammen und ist immer hilfsbereit. Und warum sollte sie keinen Freund haben und sich ein wenig amüsieren? Wie schnell sind die Jugendjahre vorüber, dann verlangen Mann und Kinder ihr Recht, und für die Frau selbst bleibt kaum noch Zeit.“ Frau Overmann lehnte sich zurück und strich sich mit den Fingerspitzen über die Stirn. „Können Sie sich einen Grund denken, warum sie uns nicht die Wahrheit sagte?“ „Auf diese Frage kann ich Ihnen beim besten Willen nicht antworten. Ich weiß nicht, welche Gründe sie dafür haben mag. Mir ist die ganze Geschichte unverständlich.“ „Wären Sie bereit, Frau Overmann, uns noch ein wenig Zeit zu opfern? Ich möchte Sie zu einer Autofahrt einladen. Es dauert nicht länger als eine Stunde, und wir bringen sie natürlich wieder zurück. Sie würden mir einen großen Dienst erweisen.“ „Aber gern. Auf die eine Stunde soll es mir nicht ankommen, wenn ich Ihnen helfen kann. Worum handelt es sich?“ 80
„Ich möchte mir Gewißheit verschaffen, ob Doktor Nikolai wirklich hier war oder nicht. Die Einzelheiten erkläre ich Ihnen unterwegs.“ „Gut. Ich sage nur meinem Jungen Bescheid und ziehe mir einen Mantel an.“ Frau Overmann schloß die Tür zur Terrasse. Dann verschwand sie im Flur, und Kreutzer hörte sie „Peter! Peter!“ rufen. Kreutzer wandte sich an Arnold. „Für Sie habe ich noch etwas. Fragen Sie bitte bei den Leuten in der Nachbarschaft, ob jemand vorgestern abend ein Fahrzeug hier vor dem Hause gesehen hat und eventuell auch den dazugehörigen Mann. Vielleicht haben wir Glück.“ Zehn Minuten später steckte Frau Overmann den Kopf durch die Tür und sagte: „So, ich bin soweit.“ Kreutzer trat hinaus in den Flur. Die Tür zum Zimmer des Jungen stand offen, er warf einen Blick hinein. Von der Decke hingen alle Arten Flugzeugmodelle, vom Allwetterjäger bis zum Überschallbomber. Die obere Hälfte des Raumes war ein einziges Gewirr von Flügeln und silberglänzenden Rümpfen. An den Wänden waren mit Reißnägeln die Fotografien von Astronauten befestigt, farbig und schwarzweiß, mit und ohne Raumanzug, innerhalb und außerhalb der Kapsel. Frau Overmann stand vor dem Spiegel und strich sich ihre lackschwarzen Haare glatt. Kreutzer half ihr in den Mantel und mußte sich dabei auf die Zehenspitzen stellen. Als sie durch den Vorgarten zum Wagen gingen, kam ihnen Unterleutnant Arnold entgegen. Er zuckte die Schultern und machte ein resigniertes Gesicht. „Nichts. In zwei Fällen war niemand zu Hause, und die anderen Familien haben nichts gesehen und nichts gehört.“ 81
Kreutzer warf ihm einen betrübten Blick zu. Frau Overmann lächelte, dann stiegen sie in den Wagen. Der Motor sprang an, und der EMW rollte durch die stillen Straßen der Siedlung Wilhelmshorst, hinaus auf die Chaussee in Richtung Kleinmachnow.
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11. Kurz nach achtzehn Uhr, im letzten Licht des verblassenden Tages, trafen sie vor dem Hause Dr. Nikolais ein. Der beizende Geruch herbstlicher Laubfeuer lag in der stillen Luft, und zwischen den Kiefernstämmen schimmerte es gelb aus den Fenstern der weit verstreuten Häuser. Ein grüner Trabant und ein knallroter Skoda mit zuviel Chrom und zwei Antennen auf den hinteren Kotflügeln parkten vor dem Tor. Der überdachte Fahrradständer auf einem Betonviereck neben der Einfahrt stand voller Räder. Kreutzer ging mit Frau Overmann zur Haustür und läutete. Ein junges Mädchen in weißem Kittel öffnete. Sie trug eine Hornbrille und hatte tiefbraune Haut, gegen die sich ihre großen Zähne unnatürlich porzellanweiß abhoben. „Ich kann Sie heute nicht mehr vormerken. Die Sprechstunde ist um neunzehn Uhr beendet, und das Wartezimmer sitzt noch voller Patienten.“ Die Stimme raschelte wie trockenes Papier, von der Sonne ausgedörrt. „Doktor Nikolai kennt mich. Ich habe nur kurz mit ihm zu reden.“ Kreutzer schob das Mädchen zur Seite und trat in den Flur. Vor der Tür zum Wartezimmer blieb er stehen und sagte zu Frau Overmann, die ihm gefolgt war: „Bleiben Sie bitte hier drin, egal, was geschieht. Achten Sie nur auf die Stimme.“ Er machte die Tür auf und ließ sie hinein. „Melden Sie mich bitte an“, sagte er zu der Sprech83
stundenhilfe. „Mein Name ist Kreutzer. Sagen Sie dem Doktor, ich müßte ihn einen Augenblick sprechen.“ Das Mädchen wandte sich wortlos um und verschwand im Sprechzimmer. Einen Augenblick war Stille. Dann klirrte ein Instrument auf eine Glasplatte, und die Tür wurde aufgerissen. Nikolai stand auf der Schwelle. Er musterte Kreutzer mit einer Mischung aus Abscheu und Wut. „Was ist denn nun wieder?“ stöhnte er. „Sie sind ja von einer Hartnäckigkeit, um die Sie jeder Teppichhändler beneiden würde.“ Kreutzer runzelte die Stirn. „Halten Sie es ausgerechnet jetzt für angebracht, Witze zu machen?“ Nikolai zog seufzend die Tür hinter sich ins Schloß. „Also was wollen Sie?“ „Ich möchte jemandem Gelegenheit geben, Ihre Stimme zu hören.“ „Wie bitte?“ „Wir haben eine Zeugin gefunden, die glaubt, in der Tatnacht Ihre Stimme gehört zu haben, und zwar nicht im Krankenhaus. Da die Zeugin nicht ganz sicher ist, wollen wir eine Probe machen.“ Nikolai riß sich das Stethoskop vom Halse und schleuderte es zu Boden. Es fehlte nicht viel, und er hätte darauf herumgetrampelt. „Himmelherrgottnochmal“, brüllte er, „ich werde noch verrückt! Dieser Wahnsinn muß doch mal ein Ende haben. Wie oft soll ich noch erklären, daß ich die ganze Nacht in der Klinik war und nicht einen Schritt aus dem Hause ging? Auch der sturste Schädel sollte das begreifen können.“ „Ja“, sagte Kreutzer ungerührt, „das ist ungefähr der 84
richtige Tonfall. In der Tatnacht hörte die Zeugin einen Streit.“ Nikolai fuhr sich mit beiden Händen in die Haare und sank auf einen Stuhl, der neben einem Wandspiegel stand. „Was haben Sie eigentlich vor?“ keuchte er. „Wollen Sie mich mit Gewalt in die Nervenklinik bringen?“ „Wir müssen uns an die Fakten halten, Herr Doktor Nikolai. Wenn Sie nicht versucht hätten, uns hinters Licht zu führen, sähe die Sache wahrscheinlich anders aus. – Einen Moment bitte.“ Kreutzer ging ins Wartezimmer hinein und schloß die Tür hinter sich. „Haben Sie die Stimme wiedererkannt?“ fragte er Frau Overmann. Sie nickte. „Ich glaube schon. Die Klangfarbe oder überhaupt die Art zu sprechen ist dieselbe, wie sie der Mann vorgestern abend hatte.“ Kreutzer trat wieder in den Flur. „Frau Overmann, die Wirtin von Fräulein Alverdes, sagt mir eben, daß sie Ihre Stimme wiedererkannt zu haben glaubt, sie hätte sie vorgestern abend zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr im Zimmer von Fräulein Alverdes gehört. Was sagen Sie dazu?“ Nikolai preßte die Fäuste gegen die Stirn. „Nein, nein, nein!“ schrie er. „Das ist eine Verschwörung! Ich war nicht in Wilhelmshorst, ich habe an diesem Abend nicht mit Brigitte gesprochen, ich habe niemanden überfahren! Warum fragen Sie nicht Fräulein Alverdes?“ „Wir haben sie gefragt.“ „Na und?“ Nikolais Atem ging in schnellen, kurzen Stößen, und sein Gesicht war voll ängstlicher Spannung. „Was hat sie Ihnen gesagt?“ 85
„Sie hat bestritten, daß Sie dagewesen sind.“ Nikolais verkrampfte Züge lösten sich. „Na also! Was wollen Sie mehr? Genügt das nicht?“ „Nein, das genügt nicht. Frau Overmann sagt etwas anderes, und wir haben keinen Grund, ihr weniger zu glauben als Ihrer Freundin. Wenn Sie den Unfall verursacht haben, dann hatten Sie eineinhalb Tage Zeit, mit Fräulein Alverdes eine für Sie günstige Aussage zu verabreden. Sie steht Ihnen nahe und möchte Ihnen vielleicht einen Gefallen tun. Das wäre doch eine Möglichkeit. Warum aber sollte Frau Overmann, die völlig unbeteiligt ist, uns eine Lüge auftischen?“ „Theorien“, stöhnte Nikolai. „Das sind doch alles Theorien! Mit geistreichen Fragen kann ich auch aufwarten! Warum sollte ich so bestialisch sein und einen Schwerverletzten auf der Straße liegenlassen? Habe ich mir jemals etwas zuschulden kommen lassen, was diesen Verdacht rechtfertigt? Ich habe mit Doktor Eisenlieb telefoniert. Er sagte mir, es herrschte Nebel auf der Straße, der Radfahrer hatte kein Licht! Jedem hätte der Unfall passieren können, den Autofahrer trifft sicher nur ein kleinerer Teil der Schuld. Sind Sie in der Lage, mir ein halbwegs vernünftiges Motiv zu nennen, warum ich unter diesen Umständen Fahrerflucht begehen und mich in Teufels Küche bringen sollte.“ „Ich bin kein Psychologe“, sagte Kreutzer. „Aber ich glaube, jeder Mensch tut manchmal Dinge, besonders in Augenblicken der Gefahr, für die es keine logische Erklärung gibt.“ Nikolai starrte an Kreutzer vorbei auf die Tapete, deren Muster aus weißen und silbernen Streifen bestand. „Jeden Morgen um sechs bin ich in der Klinik“, sagte er fast tonlos. „Weil es nicht genug Mediziner gibt, ma86
che ich Nachtdienst, was ich in meinem Alter und nach meinen Dienstjahren bestimmt nicht mehr nötig hätte. Sehen Sie auf Ihre Uhr, es ist jetzt fast abends um sieben, und zwanzig Patienten warten noch. Jeden Tag zwölf Arbeitsstunden und mehr. Ich könnte, wie die meisten Leute, um diese Zeit auf dem Sofa liegen und die Zeitung lesen. Wenn es nur um das Geld ginge, würde ich auch mit acht Stunden auskommen. Und Sie kommen daher und bilden sich ein, dieser Nikolai läßt einen Menschen hilflos verrecken, fährt unbekümmert weiter, ach …“ Er winkte resignierend ab. „Was hat das alles für einen Sinn? Verhaften Sie mich doch, wenn Sie so sicher sind. Sperren Sie mich in eine ruhige Zelle, dann finde ich endlich mal Zeit, mich zu erholen.“ „Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Doktor“, sagte Kreutzer, „dürfen wir nicht die Nerven verlieren, selbst wenn wir gereizt werden. Guten Abend!“ Kreutzer ging schnell durch den Flur, über die Terrasse und den Plattenweg, hinaus zum Wagen. Er ließ Frau Overmann einsteigen und schlug heftig die Tür zu. Arnold sah ihn aus den Augenwinkeln an und dachte sich sein Teil. Die Rückfahrt verlief schweigsam. Sie setzten Frau Overmann vor ihrem Haus in Wilhelmshorst ab; Kreutzer bedankte sich für ihre Mühe. Der Fahrer wendete und jagte den Wagen zurück zur Bezirkshauptstadt. Endlich Feierabend, der Stall zog. Arnold hatte sich in Wilhelmshorst nach hinten zu seinem Chef gesetzt. Er sah aus dem Fenster, wühlte in seinen Taschen nach dem Zigarettenetui, wußte, daß er doch nicht rauchen würde, nagte statt dessen am Daumennagel und konnte seiner Unruhe nicht Herr werden. „Wie, zum Teufel, soll es nun weitergehen?“ platzte er 87
schließlich heraus. „Ob wir die Alverdes noch einmal vernehmen? Diese Dame hat uns nach Kräften beschwindelt, das können wir durch die Aussage von Frau Overmann beweisen.“ Kreutzer schüttelte energisch den Kopf. „Nein, gar nichts können wir ihr beweisen. Sie wird mit einer Ausrede kommen, vielleicht auch eine Kleinigkeit zugeben und uns dafür zehn neue Lügen aufbinden. Ich will Ihnen sagen, was ich denke: Wir können nicht wie die Narren von einem zum anderen laufen und ihm vorhalten, daß er uns das letzte Mal nicht die Wahrheit gesagt hat. Damit machen wir uns nur lächerlich und kommen keinen Schritt weiter. Nein, was wir brauchen, sind hieb- und stichfeste Beweise, um die es kein Herumreden gibt. Alle Fakten deuten auf Nikolai. Es ist bewiesen, daß Nikolais Wartburg der Unfallwagen ist. Er läßt niemanden damit fahren, es gibt keine Spuren einer unbefugten Benutzung und keinen noch so winzigen Hinweis auf den großen Unbekannten. Er fährt häufig die Strecke über Philippsthal, und er hat uns das verschwiegen, weil er die Alverdes nicht preisgeben wollte. Hier liegt auch ein durchaus denkbares Motiv für die Unfallflucht: Er mußte befürchten, daß die Untersuchung des Unfalls sein Verhältnis mit der Alverdes aufdeckt. Bis jetzt haben wir nur Zeugen, die ihrer Sache nicht ganz sicher sind. Aber wenn Nikolai am Mittwochabend von Kleinmachnow nach Wilhelmshorst und zurück gefahren ist, dann müßte es nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn es nicht wenigstens ein paar Leute gäbe, die ihn unterwegs gesehen haben. Diese Leute müssen wir finden, und wenn es uns sechs Paar Schuhe kostet.“ 88
„Glück hat auf die Dauer nur der Tüchtige“, brummte Arnold. „Der Weg führt über die Dörfer Güterfelde, Philippsthal, Saarmund und Beerendorf“, fuhr Kreutzer ungerührt fort. „In diesen Ortschaften werden wir uns systematisch auf die Suche machen, zuerst am besten in den Gaststätten, dort kommen die meisten Menschen zusammen, und dort wird auch am meisten geredet. Vielleicht hat Nikolai irgendwo angehalten, etwas getrunken oder ein paar Zigarren gekauft. Also, morgen früh machen wir uns an die Arbeit.“ „Vier Dörfer“, seufzte Arnold. „Nach Adam Riese und der märkischen Landordnung mindestens sechzehn Kneipen. Und das auf nüchternen Magen.“
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12. Die ganze Nacht und den Vormittag hindurch hatte es geregnet. Jetzt, gegen Mittag, perlten noch immer winzige Tropfen in grauen Schleiern vom Himmel, der sich bleifarben und trostlos über das Land dehnte, und auf den nassen Stoppelfeldern trieben sich die Saatkrähen umher. Kreutzer und Arnold waren auf dem Wege von Saarmund nach Beerendorf, dem letzten Ziel ihrer Hoffnungen. Der Asphalt glänzte schwarz, und in den kleinen Tümpeln neben der Straße neigten die Rohrkolben ihre rotbraunen Köpfe dem Wasser zu. Der Wagen überholte einen Traktor mit zwei Anhängern voll Kartoffeln, dann rollten sie mit dumpfem Poltern über das Kopfsteinpflaster ins Dorf. Etwas erhöht, hinter einem breiten Streifen aufgeweichter Erde und zwei Reihen alter Linden lag eine Gastwirtschaft. Es war ein Bauernhaus mit niedrigem, bemoostem Dach und kleinen Fenstern. Links neben der schmalen Tür hing eine Reklametafel, die einen Ratsherrn mit feistem Gesicht hinter seinem Bierglas zeigte. Kreutzer und Arnold stiegen aus dem Wagen und wateten auf den Eingang zu. Der Fahrer hatte eine Einladung kopfschüttelnd abgelehnt und aus seiner Aktentasche Brotbüchse und Thermosflasche hervorgezogen. Dicke Regentropfen klatschten ihnen aus dem Geäst der Lindenbäume auf Kopf und Schultern, als sie über eine breite Rinne aus Ziegelsteinen hüpften, in der das Wasser glucksend entlang eilte. In der Gaststube herrschte dämmriges Halbdunkel, und es roch dumpf nach kaltem Rauch, Bier und Landwirtschaft. In der Ecke neben einer Tür, aus der leises 90
Geschirrklappern drang, befand sich die Theke. Dort brannte eine Wandlampe, eine grüne Tüte auf einem Stück Messingrohr. Ihr Licht fiel auf die Zapfhähne und das Büfett aus dunkler Eiche, hinter dessen Glastüren drei Karnevalsmützen, eine Handvoll Konfetti und zwei leere Sektflaschen zu sehen waren. Rechts von der Theke stand ein weißgescheuerter Tisch, in dessen Mitte in einem Metallständer ein Kärtchen mit dem Wort „Stammtisch“ steckte. Kreutzer und Arnold gingen hinüber und ließen sich auf dem dunkelroten Plüschsofa nieder, das den Tisch von drei Seiten umgab und, kaum berührt, ein metallisches Quietschen von sich gab. Als hätte er auf dieses Zeichen gewartet, erschien in der Tür zur Küche ein junger Mann. Er mochte etwas über zwanzig Jahre alt sein. Seine semmelblonden Haare kräuselten sich in verfilzten Löckchen. Er gähnte, blinzelte und schlurfte in seinen Kamelhaarschuhen, deren hintere Kappen niedergetreten waren, langsam näher. „Tach“, quetschte er hervor. „Was solľs denn sein?“ „Ein Kännchen Kaffee“, sagte Kreutzer. „Was kann man bei Ihnen essen?“ „Nur Bockwurst da.“ „Mit Salat?“ „Weißbrot.“ Kreutzer verzog das Gesicht. „Danke. Dann nur den Kaffee.“ „Mir bringen Sie einen Grog“, sagte Arnold, „recht schön heiß, wenn’s geht. Ich bin in diesem Hundewetter halb erfroren.“ Der junge Mann beugte sich über den Tisch und knipste die Lampe an, die von der Decke herabhing. Sie war krinolinenförmig, aus verblaßter rosa Seide, und an ihrem unteren Rand baumelten an kurzen Fäden schwarze 91
Wollkugeln, von denen hier und da eine fehlte. Fünf Minuten vergingen. Das runde Gesicht eines Mädchens schob sich um den Türrahmen. Sie musterte die Gäste und verschwand, als es sich entdeckt sah. Nach weiteren fünf Minuten kam der junge Mann mit einem Tablett zurück, stellte klirrend das Kaffeegedeck ab, klatschte einen Pappdeckel auf den Tisch, setzte den Grog darauf und schlurfte hinter die Theke. Dort stand er einige Zeit unschlüssig und kam dann auf den Einfall, das Radio in Gang zu setzen. Die Stoffbespannung über dem Lautsprecher geriet ins Schwingen. Der niedrige Raum war plötzlich erfüllt vom rhythmischen Gebrüll einer Menschenmenge, und dazwischen heulte eine rostige Stimme dicht am Mikrophon sinnlose Silben. Kreutzer bedeutete dem Lockenkopf durch Schwenken der Arme, die musikalische Darbietung zu dämpfen, und winkte ihm, an den Tisch zu kommen. Er drehte leiser, schob sich hinter der Theke hervor und stopfte beim Gehen seinen ausgeleierten Pullover in die Hose. Kreutzer trank seinen Kaffee aus, stellte die Tasse zurück und sagte: „Setzen Sie sich doch bitte einen Augenblick zu uns. Wir hätten gern eine Auskunft von Ihnen.“ Der junge Mann stierte ihn verständnislos an. Schließlich ließ er sich zögernd nieder. „Es handelt sich um einen Wartburg, und zwar in der Farbe Anthrazit-Elfenbein, der am Mittwochabend zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr hier durch diese Ortschaft gekommen sein muß. Waren Sie um diese Zeit im Lokal anwesend?“ Der Lockenkopf nickte vorsichtig, doch in seinen wasserblauen Augen zeigte sich deutliches Befremden. „Haben Sie zufällig diesen Wagen bemerkt, oder hat vielleicht einer der Gäste davon gesprochen?“ 92
Der junge Mann zerrte an den zu langen Ärmeln seines Pullovers und sagte: „Bei uns is nischt. Wir ham gar keen Wartburg, wir ham ’nen Moskwitsch.“ Offensichtlich hatte er kein Wort begriffen. Kreutzer holte tief Luft und sah hilfesuchend zu Arnold hinüber. Aber der hatte sich abgewandt und bedeckte leise stöhnend die Augen mit der Hand. Kreutzer nahm einen neuen Anlauf. „Am Mittwochabend gab es bei Philippsthal einen Unfall, an dem ein Wartburg beteiligt war. Der Fahrer beging Unfallflucht. Wir haben herausgefunden, daß der Wagen zuvor hier durch Beerendorf gekommen sein muß. Nun suchen wir Zeugen, die diesen Wagen gesehen haben.“ In den Zügen des Lockenkopfes dämmerte Erinnerung auf, er nickte mit halbgeöffnetem Mund. „Dis war der Unfall, wo et den Radfahrer erwischt hat, nich? Davon habe ick jehört. Is der etwa dot?“ „Nein, schwer verletzt, aber er wird es überleben. – Nun, können Sie sich an Mittwoch abend erinnern? Haben Sie einen solchen Wartburg gesehen? Es ist auch denkbar, daß der Fahrer anhielt und in Ihrer Gastwirtschaft etwas kaufte, Zigarren vielleicht.“ „Sind Sie von de Kripo?“ „Ja.“ Der junge Mann musterte sie jetzt genauer, mit einer Mischung aus Hochachtung und Unsicherheit. „Was für ’ne Farbe soll der Wartburg jehabt haben?“ „Anthrazit-Elfenbein, unten hell, oben dunkel.“ „Und wann soll der hier durch jekommen sein?“ „Wir vermuten, gegen zwanzig Uhr fünfundvierzig, denn etwa um einundzwanzig Uhr geschah bei Philippsthal der Unfall. Der Wagen kam wahrscheinlich aus Wilhelmshorst und fuhr in Richtung Kleinmachnow. Wann 93
und auf welchem Wege er nach Wilhelmshorst kam, wissen wir nicht.“ Der junge Mann hatte aufmerksam zugehört, doch nun zuckte er die Schultern. „Nee, denn kann der det nich jewesen sein, den wir hier jesehen haben.“ „Wieso? War hier ein Wartburg?“ „Ja, det schon. Aber er kann’s ja nich jewesen sein.“ „Nicht so eilig. Erzählen Sie doch mal!“ Kreutzer und Arnold waren auf einmal ganz Ohr. „Wie Se meinen. Also an den Mittwoch abend war ’n Wartburg Luxus, genau wie Se jesagt haben, unten hell und oben dunkel, drüben bei Kranepuhl uff’n Hoff.“ „Um welche Zeit war das?“ fragte Kreutzer hastig. „Er kam so um halb achte, und gegen halber neun isser wieder weg.“ „Wissen Sie, in welche Richtung er fuhr?“ „Na klar. Nach Saarmund ’rüber. Wir haben ja über de Jardine jekiekt, weil Kranepuhl keen Menschen wat erzählt. Die sind wat Bess’ret, keene Ackerwanzen von de Jenossenschaft wie de meisten hier int Dorf. Und der kleene Dicke jiepert schon lange nach ’n Auto, und da dachten wir, jetzt hatta vielleicht een an de Angel …“ „Wat schreibťn der da?“ fragte der junge Mann plötzlich mißtrauisch und zeigte auf den Notizblock, den Arnold in der Hand hatte. „Nur ein paar Stichwörter, weil wir so ein schlechtes Gedächtnis haben“, sagte Arnold. „Ach so.“ Der Lockenkopf wirkte erleichtert. „Als Wirt muß man sich ’raushalten, verstehn Se, aus Rücksicht auf de Kundschaft.“ Der junge Mann legte die Unterarme breit auf den Tisch. Die Sache begann ihm Spaß zu machen. „Was sind das für Leute, diese Kranepuhls?“ fragte 94
Kreutzer. „Ville hör’n tut man von die nich. Der Mann is Erfinder, dis heißt, eigentlich Inschenör, aber er hat Patente auf ’ne Spinnmaschine oder so was, und dis bringt janz schön Moneten. Seine Frau brauch nich arbeeten jehn, ein Motorrad mit Beiwagen haben se, zwee kleene Töchter und ’n Köter und allerhand Viehzeug. Vor zehn Jahren haben se da drüben die Villa gekooft, die jehörte den Kafka, was der Mühlenbesitzer war, aber der is ja denn jetürmt.“ „Wissen Sie, wo Herr Kranepuhl arbeitet?“ „In ein Werk in Teltow. Jeden Morgen um halb sechs braust er auf seine MZ los wie ’ne heiße Kartoffel.“ „Ob er jetzt zu Hause ist?“ „Heute auf’n Sonnabend, da ist der Punkt elfn auf’n Hof. Wie der jeht und kommt, da können Se die Uhr nach stellen. Vorhin hatť er de Straße jefecht, denn haben se jejessen.“ Der junge Mann warf einen Blick auf die Uhr über der Theke. „Jetzt um eins, könn’ Sie Gift drauf nehm’, schlachtet der sein’ Sonntagsbraten.“ Kreutzer dankte dem jungen Mann für seine Auskünfte. Sie bezahlten ihre Zeche, gaben ein ordentliches Trinkgeld und brachen dann auf, dem Erfinder Kranepuhl einen Besuch abzustatten.
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13. Es war wirklich eine Villa. Sie mußte um die Jahrhundertwende erbaut worden sein und bestand vorwiegend aus Türmchen, Mauervorsprüngen und Erkern. Über die Fassade schwangen sich Rosenketten, die aus schräg gestellten Henkelkörbchen rieselten. Eine Freitreppe aus Rüdersdorfer Marmor führte aus dem Vorgarten in die Beletage. Auf den geschwungenen Balustraden standen Blumenkübel aus verwittertem Sandstein, und über der unbenutzten Prunktür mit bunten, bleiverglasten Scheiben war in einer Mauerwölbung eine vollbusige Dame aufgestellt, die aus einem Füllhorn die Tafelfreuden purzeln ließ: Früchte und Vögel, Schweinsköpfe, Würste und Fäßchen voller Wein. Darüber schwang sich im Halbkreis die Inschrift „VILLA KLOTHILDE“. Das Dach ruhte auf geschnitzten Balken, die sich schräg gegen das Mauerwerk abstützten, auf dem First reckten sich zwei Türmchen mit Wetterhähnchen und Blitzableitern in den regnerischen Himmel, und zwischen ihnen erhob sich der Mast einer Fernsehantenne, deren Kabel über die flaschengrünen Dachziegel in einer Giebelluke verschwand. Im Vorgarten, der von einem spitzen Eisengitter geschützt wurde, standen große, wie die Pudel gestutzte Eibenbäume und blaublühende Hortensiensträucher. Links vom Haus erstreckte sich eine kurze hohe Mauer, in die ein zweiflügeliges Holztor und eine kleine Pforte eingelassen waren. Die Mauerkrone war mit Glasscherben gespickt. Ein Klingelzug mit einem Porzellangriff lief die Wand hinauf und verschwand im Hof. Kreutzer zog. In der Ferne erklang ein Glockenspiel: 96
Bam-bam-bam-bim … Kein schöner Land … Sie hatten sich kaum von dieser Überraschung erholt, da wurde die Pforte geöffnet. Ein kleiner, rundlicher Mann in Knickerbockern, gelblichem Hemd und rosa Hosenträgern stand ihnen gegenüber. Er war etwa Mitte der Fünfzig, hatte ein blasses, rundes Gesicht, und seine blauen Äuglein zwischen den Fettpolstern huschten wieselflink von einem zum anderen. Auf dem Kopf trug er eine Baskenmütze. „Sie wünschen?“ sagte er mit tiefer Stimme, in der Würde und Selbstbewußtsein lagen. Kreutzer zeigte seinen Dienstausweis. „Wir möchten Herrn Kranepuhl sprechen. Es handelt sich um einige Fragen.“ Der Dicke zog das Kinn an, wobei sich drei Speckfalten über seinem Hals bildeten, und atmete mit rundem Mund wie ein Karpfen auf dem Trockenen. „Kranepuhl? Ganz recht, das bin ich. Aber ich wüßte nicht … Nun, kommen Sie erst einmal herein.“ Er trat zur Seite und ging dann voran. Die Tür schloß sich selbsttätig hinter ihnen. Ein Stück Profilstahl glitt geräuschlos in einer Laufschiene nach unten, und sein Gewicht zog die Tür in den Rahmen. Dann löste sich eine Sperre, ein Zahnrad knarrte, und das Stahlstück senkte sich um weitere zwei Zentimeter und schob sich durch eine Lasche. Die Tür war verriegelt. Im Hof herrschte mustergültige Ordnung, nichts lag umher. Der Boden war frisch geharkt, in einem sorgfältigen Zickzackmuster, und um den Stamm des Nußbaumes lag ein sternförmiges Ornament. Die flachen Stallgebäude, die den Hof umgaben, waren sauber verputzt, Türen und Fenster mit grüner Farbe gestrichen. Ein langhaariger, schwarzer Schäferhund mit weißer Brust, in dessen 97
Ahnenreihe ein Collie spuken mußte, lag in einer grünweißen Hundehütte, die Vorderpfoten über der Schwelle, und sah seinem Herrn und den Besuchern mit klugen Augen nach. Die Rückseite des Hauses unterschied sich durch nichts von den üblichen Gründerzeit-Bauernhäusern rings um Berlin, die vorne protzten und hinten nüchtern und häßlich auf die Bedürfnisse des Alltags eingerichtet waren. Vor der kahlen Hauswand stand eine Batterie Tonnen, in denen das Regenwasser gesammelt wurde. Als Kranepuhl vorüberkam, legte er das schwenkbare Rohr der Regengosse von der einen Tonne, die gerade gefüllt war, in die Kehlung der nächsten. Dann stiegen sie einige Treppen hinauf und gelangten in einen verglasten Vorbau, wo sich Kranepuhl der Holzschuhe entledigte und in seine Pampuschen schlüpfte. An einem Brett an der Wand hing mit dem Kopf nach unten ein Kaninchen. Das Fell war ihm eben über die Ohren gezogen worden, der nackte fleischfarbene Körper dampfte noch. In eine Schüssel tropfte Blut, und auf einem Teller neben dem Tranchiermesser lagen die Innereien. Kranepuhl wischte sich rasch an einem Tuch seine knubbeligen Hände ab, und dann traten sie in den Flur, der sich durch das ganze Haus bis zur Tür auf der Vorderseite erstreckte. Es duftete nach frischgebackenem Pflaumenkuchen, und durch die Scheiben der Fronttür fiel buntes Märchenlicht. Zwei kleine Mädchen in Dirndlkleidern hüpften die Treppe hinunter, blieben beim Anblick der Fremden stehen, machten einen verlegenen Knicks und huschten zurück ins obere Stockwerk. Kranepuhl nahm seine Baskenmütze ab, unter der eine 98
Glatze zum Vorschein kam, hing sie auf einen Haken an der Garderobe, streifte sich die Hemdärmel nach unten und öffnete dabei mit dem Ellenbogen eine Tür, die in das Wohnzimmer führte. „Bitte setzen Sie sich“, sagte er. „Ich komme sofort.“ In einer Ecke, in der eine rotbraune Couch und zwei Sessel mit Blickrichtung auf den Fernseher standen, nahmen Kreutzer und Arnold Platz. Gleich darauf trat Kranepuhl ins Zimmer, in einer Hausjoppe aus schwarzem Samt und silbernen Schnüren um Kragen und Ärmelaufschläge. Seine kurzen Finger pusselten noch an den Knöpfen der Jacke, als er sich auf der Couch niederließ. „Also, meine Herren“, sagte er etwas kurzatmig, „womit kann ich Ihnen dienen?“ Kreutzer sah ihn über einen Strauß roter Wachstulpen an, die auf dem Brett an der Stehlampe standen. „Vorgestern abend wurde ein Wartburg auf Ihrem Grundstück gesehen. Können Sie uns einige Auskünfte darüber geben?“ Kranepuhl zögerte keine Sekunde mit der Antwort. In seinem Gesicht zeigte sich keine Verlegenheit, höchstens eine Spur Verwunderung. „Aber gewiß. Ich will den Wagen kaufen. Das ist doch nicht ungesetzlich.“ „Durchaus nicht, Herr Kranepuhl. Aber wir hätten gern gewußt, von wem Sie ihn kaufen wollen?“ „Der Eigentümer ist ein Doktor Nikolai aus Kleinmachnow.“ „Donnerwetter!“ entfuhr es Arnold. Auch Kreutzer konnte seine Freude nicht ganz unterdrücken. „Bitte erzählen Sie uns das einmal der Reihe nach. 99
Woher kennen Sie Doktor Nikolai, und wie kam es zu seinem Besuch?“ Kranepuhl rückte unbehaglich hin und her. „Entschuldigen Sie“, sagte er, „ich verstehe das alles gar nicht. Ist denn etwas nicht in Ordnung?“ „Doktor Nikolais Wagen hatte einen Unfall.“ „Ach so, ich verstehe.“ Kranepuhls Ausdruck wurde besorgt. „Ist er stark beschädigt? Ich habe nämlich schon eine Anzahlung geleistet.“ „Nein, nur eine Schramme am Kotflügel. Aber ein Radfahrer wurde dabei schwer verletzt.“ Kranepuhl schlug die Augen nieder und schwieg. „Würden Sie uns bitte die Fragen beantworten?“ drängte Kreutzer. „Natürlich.“ Kranepuhl preßte den Daumen gegen die Wange und legte seinen dicken Zeigefinger unter die Nase. „Wir wollen schon seit einem Jahr einen Wagen kaufen. Die Kinder werden größer, und meiner Frau ist vom Arzt geraten worden, das Motorradfahren aufzugeben. Eigentlich sind wir nämlich Motorradwanderer, schon seit der Zeit vor dem Krieg.“ Er wies auf die Wände des Zimmers, die voller Fotografien hingen. Sie zeigten Herrn und Frau Kranepuhl mit ihrem Motorrad vor vielen Sehenswürdigkeiten Europas. Frau Kranepuhl überragte ihren Gatten um Haupteslänge. Ihr Gesicht war etwas hager, doch sie hatte strahlende Augen mit Lachfältchen und einen sympathischen Mund. Bunte Röcke, gestickte Blusen und flache Schuhe waren ihre bevorzugte Kleidung. Kranepuhl ließ den Blick stolz über die zahlreichen Zeugnisse seines Wanderfleißes gleiten und setzte dann 100
seinen Bericht fort. „Das Geld für den Wagen kam ganz plötzlich, meine Frau machte eine Erbschaft. Nun, Sie wissen ja, daß man noch ziemlich lange auf ein neues Auto warten muß. Deshalb sahen wir uns nach einem guten Gebrauchtwagen um. Und ungefähr vor vierzehn Tagen entdeckten wir in der ‚Märkischen Volksstimme‘ eine Anzeige, in der ein Wartburg, Baujahr 64, angeboten wurde. Wir schrieben sofort und hatten Erfolg. Nach etwa einer Woche rief uns ein gewisser Doktor Nikolai an. Er bezog sich auf die Anzeige und unser Schreiben, und wir verabredeten, daß er mich am Mittwochabend gegen neunzehn Uhr dreißig hier aufsuchen sollte, um den Wagen vorzustellen. Doktor Nikolai traf dann auch um neunzehn Uhr vierzig hier ein, ich sah mir den Wagen gründlich an, und nach etwa einer Stunde hatten wir uns geeinigt. Er fuhr dann wieder fort.“ Er strich sich mit einer kreisenden Bewegung über seinen weißen Haarkranz und holte aus der Tasche der Samtjacke einen ledernen Tabaksbeutel und eine genarbte Pfeife hervor, die er zu stopfen begann. „Erwähnten Sie nicht vorhin etwas von einer Anzahlung?“ fragte Kreutzer. Kranepuhl setzte die Pfeife in Brand, wedelte das Streichholz aus und warf es in einen kugelförmigen Aschenbecher, der auf einem Ständer neben der Couch stand. „Das ergab sich durch einen komischen Zufall“, sagte er und paffte mit prallen Wangen süßlich duftende Qualmwolken in die Luft. „Doktor Nikolai hatte den Wagen auf den Hof gefahren, und ich war gerade dabei, mir Motor, Bereifung und Karosserieboden zu besichtigen – das Fahrzeug ist übrigens tadellos in Ordnung und 101
ausgezeichnet gepflegt –, als es läutete. Ein jüngerer Mann mit einer Jawa war draußen und verlangte Doktor Nikolai zu sprechen. Er war vor Aufregung ganz rot im Gesicht, stürzte sich sofort auf den Doktor und redete mit hysterischer Stimme auf ihn ein. Er behauptete, Doktor Nikolai habe ihm den Wagen schon versprochen, er brauche ihn sehr dringend für seinen Beruf, faselte etwas von einer Konzession als Taxifahrer und daß er sich einen Fuhrbetrieb oder ähnliches aufbauen wolle und dergleichen mehr.“ „Wie reagierte Doktor Nikolai darauf?“ „Dem Doktor war dieser Auftritt äußerst peinlich, er sah zu mir herüber, schüttelte den Kopf und zuckte bedauernd die Schultern. Dem jungen Mann erklärte er, daß von einer Zusage gar nicht die Rede sein könnte, sie hätten zwar über den Verkauf des Wagens vor einigen Wochen schon einmal gesprochen, das sei aber ganz unverbindlich gewesen, und er habe den Eindruck gehabt, daß er – also dieser junge Mann – wohl interessiert sei, aber die benötigte Summe noch nicht zur Hand hätte. Im übrigen, sagte Doktor Nikolai, würde er gern wissen, wie der junge Mann dazu komme, ihn ausgerechnet hier und in diesem Augenblick zu überfallen. Darauf wurde der andere fast närrisch, ich fürchtete schon, er bekämpfte eine Art epileptischen Anfall. Er zappelte mit Händen und Füßen, stotterte und war dem Heulen nahe. Doktor Nikolai sei doch dabei, den Wagen zu verkaufen, jammerte er, das könne er aber mit ihm nicht machen, wo doch seine ganze Zukunft von diesem Wagen abhinge. Er sei in der Wohnung Doktor Nikolais in Kleinmachnow gewesen und habe dort erfahren, daß er nach Beerendorf zu einem Herrn Kranepuhl gefahren sei, der den Wagen kaufen wolle.“ 102
Kranepuhl betrachtete mit Mißfallen seine erloschene Pfeife, zündete sie wieder an und erzählte weiter. „Er riß den Reißverschluß seiner Lederkombination auf und zerrte einen Packen Geldscheine hervor, die er dem Doktor unter die Nase hielt. ‚Ich habe das Geld zusammen, fünftausend als Anzahlung‘, schrie er, ‚sofort bar auf die Hand, wenn Sie mir den Wagen zusagen. Ich zahle jeden Preis, den Sie verlangen, das spielt gar keine Rolle.‘ Vor Aufregung rutschte ihm sein Sturzhelm vom Kopf, er konnte ihn gerade noch fangen, stülpte ihn wieder auf, ließ dabei das Geld fallen und benahm sich überhaupt wie ein Verrückter. Doktor Nikolai beruhigte ihn, so gut es ging, und sagte, er solle ihn morgen in seiner Wohnung aufsuchen, dann wollten sie die Sache noch einmal ganz friedlich besprechen. Es sei ja noch gar nicht sicher, ob es mit mir zu einer Einigung komme. Mit dieser Erklärung gab sich der junge Mann zufrieden, sprang auf seine Jawa und brauste davon.“ Kreutzer hob leicht die rechte Hand, als wollte er den Redestrom Kranepuhls etwas bremsen, und sagte: „Ach, bitte, beschreiben Sie uns einmal Doktor Nikolai. Wie sah er aus?“ Der Ingenieur besann sich kurz und gab dann eine Personenbeschreibung, die auf Nikolai nicht zutraf. Kreutzer und Arnold blickten sich fragend an. „Ja, danke, das genügt uns“, sagte Kreutzer. „Wie kam es dazu, daß Sie eine Anzahlung machten?“ Kranepuhl zuckte die Schultern. „Wissen Sie, ich hatte nach diesem Zwischenfall ein merkwürdiges Gefühl. Doktor Nikolai schien irgendwie verändert, er war nicht mehr recht bei der Sache, machte ein nachdenkliches Gesicht. Es sah so aus, als hätte ihn 103
das Angebot des jungen Mannes doch beeindruckt. Nun, das gab mir zu denken. Der Wartburg ist ein Prachtexemplar; je länger ich ihn prüfte, um so deutlicher wurde mir das. Auch die Farbe gefiel mir ausgezeichnet. Ich wollte ihn mir nicht entgehen lassen, unter gar keinen Umständen. Seit einem Jahr lief ich hinter so einer Gelegenheit her. Und da dachte ich, was dieser Motorradfahrer kann, können wir ja auch. Ich hatte etwas Bargeld im Hause, weil ich wußte, daß bei derartigen Geschäften der Verkäufer gern einen Teil in bar nimmt. Viel war es nicht, runde dreitausend Mark. Kurz und gut, ich bot sie Doktor Nikolai als Anzahlung an. Wenn er sie nahm, war der Kauf so gut wie perfekt, er konnte dann seine Absicht nicht mehr ändern.“ Kranepuhl legte die heiße Pfeife in den Aschenbecher und setzte sich etwas bequemer zurecht. „Doktor Nikolai war etwas verwundert über mein Angebot, wie mir schien. Er wollte sich zunächst nicht darauf einlassen. Wir gingen ins Haus, tranken einen Kaffee und unterhielten uns ein wenig. Er erwähnte nebenbei, daß er noch eine schwere Nacht vor sich habe. Er hätte Bereitschaftsdienst in der Klinik und sei nur schnell gekommen, um die Verabredung einzuhalten. Deshalb könne er sich auch nicht lange aufhalten. Ich fragte ihn schließlich noch einmal, ob er nicht doch die Anzahlung nehmen wolle, und nach einigem Zögern schlug er dann ein. Er quittierte den Betrag und gab mir einen Briefumschlag mit seiner Anschrift, den er in der Brieftasche fand, als er nach einem Zettel suchte, auf dem er seine Adresse notieren wollte. Er wies mich dann darauf hin, daß etwa noch vier Wochen vergehen würden, bis ich den Wagen bekommen könnte. Er habe einen Wolga bestellt, der ihm in ungefähr einem Monat zugesagt sei. 104
Vorher wolle er noch verreisen. Wenn es soweit sei, würde er mich telefonisch benachrichtigen. Ich war einverstanden, auf vier Wochen kommt es mir nun auch nicht mehr an.“ „Nannte der junge Mann seinen Namen?“ fragte Kreutzer. „Wir hätten ihn gern als Zeugen gehört.“ „Leider nein. Er stellte sich nicht vor, aber Doktor Nikolai schien ihn gut zu kennen. Er sagte Sie zu ihm, sprach ihn aber ein- oder zweimal mit dem Vornamen an. Ich glaube, es klang wie Konny oder so ähnlich.“ „Fiel vielleicht der Name der Ortschaft, aus der Konny kam?“ „Nein, davon war nicht die Rede.“ „Erinnern Sie sich an das polizeiliche Kennzeichen der Jawa?“ Kranepuhl schüttelte den Kopf. „Wer achtet schon auf so etwas? Ich glaube, das Kennzeichen habe ich überhaupt nicht bemerkt.“ „Welche Farbe hatte das Motorrad?“ „Die Farbe kann schwarz, aber auch dunkelblau oder rot gewesen sein. Ich habe die Maschine nur ganz kurz zu Gesicht bekommen, und meine Gedanken waren mit dem Wartburg beschäftigt. Aber Moment, jetzt fällt es mir ein, sie war über und über mit Lehm und Schlamm verkrustet, als hätte sie eine schwere Geländefahrt hinter sich. Sicherlich war auch das Nummernschild ganz verschmutzt.“ „Wie sah dieser Konny aus? Können Sie ihn beschreiben?“ „Er war mittelgroß. Ich bin einsfünfundsechzig, er war etwas größer, vielleicht ein Meter siebzig. Leider habe ich ein sehr schlechtes Personengedächtnis, die Begegnung war ja auch nur sehr kurz. Ich erinnere mich noch 105
an seinen roten Sturzhelm und die graue Lederkombination. Sein Gesicht kann ich mir überhaupt nicht mehr vorstellen. Um den Hals trug er eine Motorradbrille, und er war noch relativ jung, etwa zwischen Anfang und Mitte der Zwanzig.“ Kranepuhl breitete bedauernd die Hände aus. „Es tut mir leid, mehr kann ich wirklich nicht sagen.“ „Herr Kranepuhl“, sagte Kreutzer, „würden Sie so freundlich sein und uns für einige Tage die Quittung und den Briefumschlag von Doktor Nikolai zur Verfügung stellen? Ich gebe Ihnen eine Empfangsbestätigung.“ „Aber natürlich. Einen Augenblick, bitte.“ Kranepuhl wuchtete sich auf die Füße und ging zu einem dunkelbraunen Mahagoni-Schreibschrank, der an der Schmalseite des Zimmers neben dem Fenster stand. Er öffnete die Doppeltüren, zog ein Schubfach auf und nahm eine altmodische, dunkelgrün lackierte Stahlkassette heraus. Als er sie zum Tisch getragen hatte, zog er aus seiner Hosentasche ein Schlüsselbund, das mit einer silbernen Kette an der Gürtelschlaufe seiner Knickerbocker befestigt war, und schloß die Kassette auf. Er suchte aus einem Stapel von Papieren einen gelblichen Umschlag hervor, verschloß die Kassette und trug sie an ihren Platz zurück. Kreutzer nahm den Umschlag. Er enthielt eine Quittung über einen Betrag von dreitausend Mark, ausgestellt am 29. September in Beerendorf, unterzeichnet mit einem flüchtigen, kaum lesbaren Krakel, aus dem man mit sehr viel gutem Willen „Nikolai“ herausdeuten konnte. Die Quittung war mit einer Schreibmaschine auf einen halbierten DIN-A4-Bogen geschrieben worden und hatte einige Tippfehler. „Wer hat diese Quittung geschrieben?“ fragte Kreut106
zer. Kranepuhl kehrte zurück und setzte sich wieder auf das Sofa. „Ich“, sagte er. „Mit meiner alten Remington, die ich für die Geschäftsbriefe benutze.“ Kreutzer nickte und besah sich den gelblichen Umschlag. Er war lang und schmal, mit dunkelbraunem Seidenpapier gefüttert. Beim Öffnen hatte ihn jemand am oberen Rand an mehreren Stellen eingerissen. Die maschinegeschriebene Anschrift lautete: Herrn Dr. med. Egbert Nikolai, 1532 Kleinmachnow, Spanischer Weg 14. Absender: Johannes Mechler, 18 Brandenburg, Mühlentorstraße 137. Der Umschlag trug eine Zwanzigpfennigmarke, abgestempelt am 14. September in Brandenburg an der Havel. Kreutzer legte die beiden Papiere in seine Brieftasche, schrieb eine Empfangsbestätigung aus und reichte sie zu Kranepuhl hinüber. „Besitzen Sie eventuell noch die Zeitung mit der Anzeige?“ fragte er dann. „Wenn nicht, genügt uns auch der Erscheinungstag.“ „Ich werde nachsehen, wahrscheinlich ist sie noch da.“ Kranepuhl stand auf, öffnete die Tür zum Flur und rief hinaus: „Elsa, sei doch bitte so gut und bringe die Zeitungen der vergangenen Woche. Wir brauchen die ‚Märkische Volksstimme‘ mit der Anzeige von Doktor Nikolai.“ Kurz darauf trat eine Frau mit kraftvollen Schritten ins Zimmer. Das geflochtene Haar war in der Mitte des Kopfes zu einer kunstvollen Krone aufgesteckt. Sie trug das gleiche hellblaue Dirndlkleid wie ihre Töchter, dazu eine weiße Bluse, die hoch am Hals von einer Schleife aus 107
dünnem Band geschlossen wurde. An den Füßen hatte sie schwarze, blumenbestickte Hausschuhe, deren aufgebogene Spitzen an ein Nashorn erinnerten. „Guten Tag“, sagte sie mit einer dunklen, fast männlichen Stimme und nickte Kreutzer und Arnold zu. In der Hand hatte sie einen Stoß Zeitungen, den sie ihrem Mann in den Schoß legte. Dann machte sie auf den Hacken kehrt, daß die Röcke um die dünnen Beine wirbelten, und marschierte kerzengerade hinaus. In der Glasvitrine klirrten leise die Sammeltassen. Kranepuhl blätterte den Zeitungsstoß durch und zog nach einigem Suchen eine Annoncenseite hervor. Unter der Rubrik „Automarkt“ war eine Anzeige grün markiert: Verkaufe erstkl. Wartburg Lux. 1000, 12 000 km, Baujahr 1964, zum Taxpreis geg. sof. Barzahlg. Schriftl. Angebote unter Chif.-Nr. 1703 Mark. Vst. „Dürfen wir dieses Blatt mitnehmen?“ fragte Kreutzer. „Aber ja“, sagte Kranepuhl, „wir brauchen es nicht mehr. Meine Töchter sammeln die alten Zeitungen nur für die Schule.“ Kreutzer faltete das Blatt zusammen, steckte es zu den anderen Papieren in seine Brieftasche und erhob sich. Arnold schob seinen Stenoblock in die Innentasche des Sakkos und folgte seinem Beispiel. Kranepuhl begleitete seine Besucher hinaus. „Sie müssen natürlich Ihre Pflicht tun“, sagte er, „aber für mich persönlich ist es bedauerlich, daß ein Mann wie Doktor Nikolai gewissermaßen durch meine Mithilfe in Schwierigkeiten gerät. Er machte eigentlich keinen schlechten Eindruck, sonst hätte ich ihm mein Geld auch gar nicht anvertraut. Ist denn wirklich kein Irrtum möglich, meine 108
Herren?“ „Die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen“, antwortete Kreutzer, „etwas Endgültiges können wir noch nicht sagen.“ Es hatte aufgehört zu regnen. Ein feucht-kalter Westwind riß die Blätter von den Lindenbäumen und trieb sie über die Mauer auf Kranepuhls Hof. Der Hund saß noch immer in derselben Haltung, als wäre er ausgestopft, in seiner grünweißen Hütte. Nur sein Kopf bewegte sich, während er mit blanken Augen den Männern folgte, die sich zur Mauerpforte begaben. Kranepuhl betätigte den Mechanismus, und die Tür schwang lautlos auf.
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14. Der Montag begann grau und regnerisch. Kreutzer hockte in seinem Bürosessel, hatte den Kopf in die Hände gestützt und starrte erbittert auf den Aktendeckel, der die Unterlagen über den „Fall Nikolai“ enthielt. Am anderen Schreibtisch war Arnold damit beschäftigt, mit dem stumpfen Ende eines Bleistifts Büroklammern zu einer Schlange aneinanderzureihen. Dazu pfiff er mißtönend durch die Zähne. Im Zimmer war es kalt. Die Nachricht von der Wetteränderung war noch nicht bis in den Heizungskeller gedrungen, möglicherweise fehlte auch ein Papierchen, oder es war schlicht und einfach der Montag schuld. Ein böiger Wind heulte um die Hausecken, Regenschauer gingen nieder, und aus einem Loch in der Dachrinne tropfte das Wasser in monotonem Rhythmus auf das Zinkblech vor dem Fenster. Kreutzer sah auf und betrachtete stirnrunzelnd, wie die dicken Tropfen zersprangen und gegen das Fenster sprühten. Wie oft habe ich schon Bescheid gesagt, man sollte mal diese verdammte Dachrinne reparieren, dachte er ärgerlich, und es kümmert sich niemand darum. Draußen lag im grauen Regen das Sportstadion leer und verödet, das Holz der Bankreihen schwarz von der Nässe. Die Drähte der drei kahlen Fahnenmaste auf dem Betonpodest über dem Bogen des Haupteingangs quietschten und peitschten hohl gegen das rostige Metall. Die Stimme Arnolds riß Kreutzer aus seinen unerfreulichen Gedanken. „Wie war bei Ihnen der Sonntag?“ Kreutzer schnaubte verächtlich. „Ein Reinfall kommt 110
selten allein. Zum Heulen, gelinde gesagt. Seit Wochen hatte ich meiner Frau und dem Jungen einen Ausflug versprochen, immer kam etwas dazwischen, entweder der Dienst oder der Sport. Gestern endlich hätte es geklappt, meine Frau hatte einen Picknick-Korb vorbereitet, alles war gepackt, und dann regnete es Strippen von früh bis spät.“ „Na, wenn schon“, sagte Arnold heuchlerisch, „das kann eine gute Ehe nicht erschüttern.“ Kreutzer sah ihn mißtrauisch an. „Meine Frau war sauer, weil wir nicht schon vorigen Sonntag gefahren sind, wie sie es gewollt hatte. Ich Esel hatte ihr versichert, der Altweibersommer hält sich noch wochenlang. Der Bengel heulte fast vor Wut, er mußte seinen ganzen Angelkram wieder auspacken und die Regenwürmer freilassen. Mittags gab es das kalte Zeug aus dem Picknick-Korb, dann ging der Fernseher kaputt, und ich kriegte mich mit meiner Frau in die Haare, weil sie den Herrn Sohn in Schutz nahm, als er die Türen schmiß.“ „Geteiltes Leid ist halbes Leid“, seufzte Arnold. „Unser Sonntag war auch ein Genuß. Die Dame meines Herzens hatte mich verleitet, ins Kino zu gehen – und dann gab es ein Filmchen … Na, am besten, man vergißt das. Wer schaffen will, muß fröhlich sein.“ Mit einer heftigen Handbewegung wischte er die Büroklammern von der Schreibunterlage in ein offenes Schubfach. Kreutzer starrte eine Weile mißmutig vor sich hin. Plötzlich schlug er mit der Faust auf den Tisch. „Herrgott, war das eine Pleite!“ knirschte er. Arnold nickte betrübt. Das Mißgeschick, das ihnen bei der Untersuchung des Falles Nikolai widerfahren war, 111
lastete ihm ebenso schwer auf der Seele. Da Kranepuhls Beschreibung des Trickbetrügers im wesentlichen nicht auf die Person des Chefarztes zutraf, hatte Kreutzer, um jeden Zweifel auszuschließen, seinen Assistenten mit einem Foto Doktor Nikolais sogleich noch einmal zu ihm geschickt. Arnold schüttelte den Kopf, als könnte er immer noch nicht begreifen, was geschehen war. „Alles paßte so haargenau zusammen. Wer denkt denn da an Trickbetrug!“ „Sie sehen aber, daß man daran denken muß. Ich möchte mich nicht zum zweiten Mal blamieren.“ „Tja, das Leben ist hart“, philosophierte Arnold. „Und das Schicksal schlägt blind auf Gute und Böse.“ „Sie machen mich noch verrückt!“ knurrte Kreutzer. „Wir stecken bis zum Hals in Schwierigkeiten, und Sie reißen nur alberne Witze. Alles, was wir bisher vermuteten, hat sich als falsch erwiesen. Kranepuhl ist mit einem ausgekochten Trick um dreitausend Mark geprellt, worden. Der Betrüger benutzte Doktor Nikolais Wagen, knöpfte mit Hilfe eines Komplizen Kranepuhl das Geld ab und verursachte auf der Rückfahrt den Unfall. Jetzt leuchtet auch ein, weshalb er Fahrerflucht beging.“ „Natürlich“, sagte Arnold, „die ganze Geschichte wäre ja sofort geplatzt. Es würde mich übrigens sehr wundern, wenn Kranepuhl der einzige wäre, dem man auf diese Weise das Fell über die Ohren gezogen hat. Dazu ist der Dreh doch viel zu schön. Wenn die Brüder immer die gleiche Methode angewandt haben, was anzunehmen ist – denn welcher Ganove ändert eine erfolgreiche Masche? –, brauchen wir nur zu warten, bis sich die Opfer bei Doktor Nikolai melden, um sich nach ihrem angezahlten Wartburg zu erkundigen.“ 112
„Ja, wahrscheinlich. Aber wir können inzwischen nicht nur Däumchen drehen. Zu neun Uhr hat mich Grigoleit bestellt. Er will einen Bericht über den Vorgang und wissen, was wir weiter zu tun gedenken. Nikolai hat sich über unsere Arbeitsweise beschwert. Ich fürchte, es wird einen schönen Rüffel geben, und das schlimmste ist, daß wir nichts zu unserer Entschuldigung sagen können. Wir waren leichtfertig, und nun kriegen wir eins an den Ballon, basta.“ „Soll ich nicht mitkommen?“ fragte Arnold. „Nein, nein“, sagte Kreutzer. „Die Verantwortung liegt bei mir. Wir dürfen jetzt keine Zeit verlieren, und vor allem dürfen wir nicht mehr das geringste Risiko eingehen. Jeder noch so winzige Hinweis muß geprüft werden, ehe wir wieder einen Verdacht aussprechen. Für Sie habe ich jetzt eine Aufgabe, die auch kein Honiglecken ist. Als erstes machen Sie den berühmten Gang nach Kanossa, entschuldigen sich bei Doktor Nikolai und fragen ihn, ob ihm der Briefumschlag gehört – und wenn nicht, ob er zumindest den Absender kennt. Dann erkundigen Sie sich nach allen Schreibmaschinen, die in seinem Hause vorhanden sind, und auch nach denen in der Klinik. Bitten Sie ihn um die Erlaubnis, von allen diesen Maschinen eine Schriftprobe zu nehmen. Aber tun Sie mir den Gefallen, und fassen Sie die Sache ein bißchen diplomatisch an.“ „Ich werde mir alle Mühe geben.“ „Schön. Mit den Schriftproben und dem Umschlag traben Sie dann zur KTU. Doktor Fritsche soll sie sofort vergleichen. Außerdem möchte ich über die Schrift auf dem Umschlag alles wissen, was nur herauszufinden ist. Mit was für einer Maschine geschrieben, Fabrikat, Baujahr und so weiter, wann geschrieben, Eigenheiten des 113
Schreibers und was er sonst noch entdecken kann. Das Ergebnis brauchen wir so schnell wie möglich, am liebsten gestern. Klar?“ „Ja, alles klar.“ „Gut. Wenn das erledigt ist, versuchen Sie bei der ‚Volksstimme‘ herauszukriegen, in welcher AnzeigenAnnahmestelle die Annonce aufgegeben wurde. Wir brauchen eine Beschreibung des Kunden, der die Anzeige aufgegeben hat, und wir brauchen die Auftragsquittung, auf der sich seine Unterschrift befindet. So, das wäre zunächst alles. Und nun lassen Sie die Ohren nicht hängen, machen Sie sich an die Arbeit.“ Kreutzer erhob sich, sah noch auf seine Uhr, klemmte die Akte unter den Arm, grinste Arnold aufmunternd zu und verließ den Raum. So optimistisch, wie er tat, war ihm allerdings keineswegs zumute. Hauptmann Grigoleit saß hinter seinem Schreibtisch aus dunklem Eichenholz. Er war ein wuchtiger Mann von etwa sechzig Jahren, hatte schwarze, von weißen Fäden durchzogene Haare, eine tiefbraune Hautfarbe und kühle Augen. Sein linker Arm war eine Prothese. „Guten Morgen, Genosse Leutnant“, sagte er, als Kreutzer ins Zimmer trat. „Setzen Sie sich, und beginnen wir gleich mit dem Unerfreulichen. Ich weiß, daß Sie nicht rauchen, aber wie die Dinge stehen, werden Sie heute um eine Zigarre nicht herumkommen.“
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15. Die Anzeigen-Annahmestelle, ein kleiner Eckladen, lag an der Hauptgeschäftsstraße. Die zwei Schaufenster waren mannshoch mit weißem Gittertüll verhängt, und davor standen in Keramiktöpfen grün und weiß gestreifte Blattpflanzen. Es fiel ein feiner, alles durchdringender Regen. Arnold stieg aus dem EMW, schlug den Kragen seines Regenmantels hoch und ging schräg über die Straße auf den Laden zu. Als er eintrat, ertönte in einer Ecke hinter einem stoffbespannten Wandschirm ein leises Summen. Der Laden war leer. Arnold trat an den Ladentisch, räusperte sich und begann mit den Fingerspitzen auf den hellgrünen Kunststoffbelag zu trommeln. Nach etwa einer Minute gab es hinter dem Wandschirm ein schurrendes Geräusch, und eine rothaarige, nicht mehr ganz junge Frau kam zum Vorschein, schob den Rest eines Brötchens in den Mund, rückte ihre Brille zurecht und nahm dann hinter der Schreibmaschine Platz. Sie nickte Unterleutnant Arnold zu, schluckte den Bissen hinunter, rieb sich die Hände an einem Bogen Durchschlagpapier ab, knüllte ihn zusammen und warf ihn in den Papierkorb. „So, bitte. Sie wollen eine Anzeige aufgeben?“ fragte sie, und entfernte mit der Zungenspitze einen Krümel aus dem Mundwinkel. „Nein“, sagte Arnold, griff in die Innentasche des Mantels und legte Kranepuhls Zeitung auf den Tisch. Er schlug sie auf und deutete auf das grün umrandete Inserat. „Ich hätte gern gewußt, wer diese Anzeige aufgege115
ben hat.“ „Wer?“ Sie warf einen Blick auf die Zeitung und sah ihn verständnislos an. „Ich brauche den Namen des Kunden. Haben Sie keine Unterlagen, eine Quittung oder ein Auftragsformular?“ „Warum wollen Sie denn den Namen wissen? Es steht doch eine Chiffre-Nummer drauf, da können Sie doch dem Inserenten schreiben.“ Sie zog das Zeitungsblatt zu sich heran und suchte das Datum. „Die Anzeige ist ja schon vierzehn Tage alt, lieber Herr, da kommen Sie sowieso zu spät.“ Arnold schüttelte lächelnd den Kopf. „Sie mißverstehen mich. Es handelt sich um eine kriminalpolizeiliche Ermittlung.“ Er nahm die Lederhülle mit seinem Dienstausweis heraus und klappte sie auf. Sie sah gar nicht hin, starrte nur Arnold an. In ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von ungläubigem Staunen. „Würden Sie mir bitte die Unterlagen heraussuchen?“ Sie nickte, erhob sich und ging, ohne ihn aus den Augen zu lassen, hinüber zu dem Rollschrank. Dort stand sie einen Augenblick und sagte dann ratlos: „Ja, aber – haben Sie denn die Kundenquittung? Sonst kann ich doch gar nicht …“ „Nein. Die Anzeige wurde vermutlich unter dem Namen Nikolai aufgegeben.“ Sie kam zurück und setzte sich wieder auf ihren Stuhl. „Nikolai“, murmelte sie. „Nikolai? – An den Namen kann ich mich nicht erinnern.“ Neben der Schreibmaschine lag ein großes schwarzes Auftragsbuch. Sie schlug es auf. „Wann ist die Anzeige erschienen?“ „Am Einundzwanzigsten vorigen Monats“, sagte Ar116
nold. „Dann wurde sie im äußersten Falle vier Tage zuvor aufgegeben, das wäre also am Siebzehnten.“ Sie begann in dem Auftragsbuch zu blättern und fuhr dann mit der Spitze ihres Bleistifts über die Zeilen. „Nikolai, Nikolai“, sprach sie leise vor sich hin und schlug eine Seite um. „So, hm, ja, hier ist der Name, laufende Nummer tausenddreihundertachtundsiebzig.“ Sie holte einen der Ordner aus dem Rollschrank, legte ihn auf den Ladentisch, löste die Spange und nahm nach kurzem Suchen ein Formular heraus, auf dem mit Schreibmaschine der Anzeigentext geschrieben war. Unter der Chiffre-Nummer und dem Preis befand sich die Unterschrift des Kunden. Arnold erkannte auf den ersten Blick die gleiche Schrift, die auf Kranepuhls Dreitausend-Mark-Quittung stand: ein fahriger Krakel, ohne Zweifel Nikolais nachlässig gefälschter Namenszug. „Wenn Sie erlauben, möchte ich dieses Formular mitnehmen“, sagte er. Die Frau wurde unsicher. „Ich weiß nicht recht … Das ist immerhin eine Urkunde, ob ich die so ohne weiteres herausgeben darf? Verstehen Sie das nicht falsch, aber ich möchte erst einmal die Redaktion anrufen.“ Sie nahm den Hörer ab, wählte und schilderte einem Kollegen namens Maierling den Fall. Die Auskunft schien sie zufriedenzustellen. Erleichtert legte sie auf. „Es ist in Ordnung, Sie können das Formular mitnehmen. Kollege Maierling sagt, es wird in einem Jahr doch eingestampft.“ Arnold dankte und verstaute es in seiner Aktentasche. „Können Sie sich an die Person erinnern, die das Inserat aufgegeben hat?“ fragte er. 117
Sie nahm die Brille ab, strich sich mit den Fingerspitzen über die Augen, klemmte einen Bügel der Brille zwischen die Zähne, runzelte die Stirn und sah zur Decke. „Wissen Sie“, sagte sie schließlich, „das liegt nun schon über einen halben Monat zurück …“ Sie neigte den Kopf zur Seite und sah über den Vorhang hinweg, hinaus in den sprühenden Regen. „Ich glaube, es war ein Mann, ein ganz alltäglicher. Es war bestimmt nichts Auffallendes oder Ungewöhnliches an ihm, sonst könnte ich mich darauf besinnen, für Männer habe ich nämlich ein ziemlich gutes Gedächtnis.“ Sie blickte plötzlich aus den Augenwinkeln zu Arnold, und als sie sein leises Lächeln bemerkte, ließ sie die Lider sinken, und eine flüchtige Röte überzog ihre Wangen. „Ich meine“, erklärte sie, „es kommen sonst meistens Frauen, um die Anzeigen aufzugeben. Männer sind weitaus seltener, deswegen kann ich mich besser an sie erinnern.“ „Als der Mann die Zuschriften abholte, können Sie sich daran noch erinnern? Oder war das jemand anderes?“ „Nein, es war irgendein Mann, ich glaube, derselbe, mehr kann ich bei allem guten Willen nicht sagen. Wahrscheinlich war gerade viel zu tun, und ich hatte keine Zeit, mir die Leute näher zu betrachten.“ „Wissen Sie noch, wieviel Zuschriften eingingen?“ „Es sind sicher eine ganze Menge gewesen, wie üblich, wenn einer einen Wartburg verkaufen will. Wieviel genau, kann ich Ihnen nicht sagen, jedenfalls ein ganzer Stapel.“ „Sind sie alle abgeholt worden, oder haben Sie noch welche da?“ „Augenblick, bitte.“ 118
Sie zog unter dem Ladentisch einen Karteikasten hervor und begann den Inhalt einiger Fächer durchzusehen. „Nein, es ist nichts mehr da. Es ist wohl allgemein bekannt, daß man auf ein solches Angebot sofort schreiben muß, sonst ist die Gelegenheit verpaßt.“ Sie stellte den Karteikasten wieder unter den Ladentisch, und Arnold verabschiedete sich. Zwanzig Minuten später betrat er sein Dienstzimmer, hängte den feuchten Mantel auf den Bügel und ließ sich hinter dem Schreibtisch nieder. Gerade als er das Anzeigenformular aus der Aktentasche nahm, kam Kreutzer herein. Er trug einige Bücher unter dem Arm, die er für sich und für seine Frau aus der Bibliothek geholt hatte. „Nun, alles geklappt?“ fragte er, während er die Bücher auf den kleinen grauen Panzerschrank legte. „Es ging. Nikolai war heute in gnädiger Stimmung, er grinste mich freundlich an und sagte auf meine Entschuldigung, ich solle mir bloß keine Verzierungen abbrechen, jeder könne mal auf den Holzweg geraten. Die Geschichte sei für ihn vergeben und vergessen. Er habe mit Hauptmann Grigoleit gesprochen, und das wäre ein sehr vernünftiger Mann.“ „Kein Wort mehr über eine Beschwerde?“ „Nein. Er zeigte mir bereitwillig die Schreibmaschine in der Privatpraxis, ließ mich eine Schriftprobe machen und rief sogar in der Poliklinik an, damit ich keine Schwierigkeiten hätte. Es gab dort fünf Maschinen, von allen nahm ich Schriftproben. Nach einer guten Stunde war ich damit fertig. Gegen halb elf traf ich bei der KTU ein, übergab Doktor Fritsche das Material und sagte ihm, daß es wie üblich sehr eilig wäre. Er hatte nichts anderes erwartet und versprach, er würde anrufen, sobald sie ein Ergebnis hätten.“ 119
Arnold machte eine Pause und fing an, seine Zigarettenschachtel hin und her zu schieben. Kreutzer zog die Schublade seines Schreibtisches auf, nahm zwei Apfelsinen heraus und warf Arnold eine zu. „Wenn Sie schon mit irgend etwas herumfummeln müssen, essen Sie so ein Ding, das ist wenigstens gesund.“ „Danke“, sagte Arnold und begann die Schale seiner Apfelsine mit dem Daumennagel aufzureißen. Kreutzer benutzte ein kleines Taschenmesser, mit dem er sonst seine Bleistifte anspitzte. „Und was war mit dem Inserat?“ fragte er. „Fehlanzeige, nicht wahr?“ „Nicht ganz. Wir haben jetzt noch eine zweite gefälschte Unterschrift und die ziemlich sichere Vermutung, daß Kranepuhl nicht das einzige Opfer ist. Es gingen auf die Annonce eine ganze Menge Zuschriften ein.“ Arnold warf einige Apfelsinenkerne in den Aschenbecher und erzählte, was er in der Annahmestelle erfahren hatte. „Gut“, sagte Kreutzer. „Mehr war ja auch nicht zu erwarten. Ich habe inzwischen festgestellt, daß die Absenderangabe auf dem Umschlag fingiert ist. In Brandenburg gibt es weder die Nummer hundertsiebenunddreißig in der Mühlentorstraße noch einen Menschen namens Johannes Mechler.“ Er schob ein Scheibchen Apfelsine in den Mund und fuhr fort: „Es ergeben sich nun eine Reihe neuer Fragen. Zunächst einmal: Wer aus Doktor Nikolais männlichem Verwandten- oder Bekanntenkreis kann Auto fahren? Ich halte es für unwahrscheinlich, daß ein völlig Außenstehender der Betrüger ist. Der Täter mußte zum Beispiel genau wissen, in welcher Nacht Nikolai Bereitschafts120
dienst hatte, um die Verabredung mit Kranepuhl festzulegen, er brauchte die Wagenschlüssel oder eine Kopie davon, und er trug wie Nikolai einen gelben Staubmantel.“ „Das schon“, sagte Arnold, „aber es muß trotzdem nicht unbedingt ein Mann sein, der diese Informationen beschaffte. Der Kerl, der als Doktor Nikolai auftrat, hat Komplizen, zumindest den Motorradfahrer. Er könnte ja noch mehr haben, warum nicht auch eine Frau?“ „Denken Sie an eine bestimmte Frau, Arnold?“ „Ich will nicht voreilig sein, doch wir sollten diese Brigitte Alverdes nicht ganz aus den Augen verlieren, bevor nicht eindeutig geklärt ist, was sie veranlaßt hat, uns unwahre Angaben zu machen.“ „Gewiß, das werden wir nachprüfen.“ „Übrigens glaube ich“, fuhr Arnold fort, „daß es auch für einen Außenstehenden gar nicht so schwer gewesen wäre, die nötigen Informationen zu beschaffen. Doktor Nikolai ist ein bekannter Mann. Der Plan für den Bereitschaftsdienst der Ärzte hängt im Krankenhaus aus. Die Schlüsselnummer steht am Türschloß des Wagens, mit etwas Findigkeit kann sich jeder ein Duplikat des Schlüssels besorgen. Mit dem Zündschloß ist es etwas schwieriger, aber wenn jemand erst einmal im Wagen ist, kann er mit etwas Geschicklichkeit das Zündschloß in wenigen Minuten auswechseln, falls ihm der Originalschlüssel fehlt. Ein Wartburg-Zündschloß mit Schlüssel ist in jedem Ersatzteilladen für ein paar Mark zu haben.“ „Mein Gott“, stöhnte Kreutzer, „machen Sie doch die Sache nicht komplizierter, als sie es ohnehin schon ist. Wir müssen uns erst einmal an das Nächstliegende halten, und das sind die Leute aus Nikolais Umgebung. Sollten wir damit nicht weiterkommen, ist es immer noch 121
Zeit, sich Ihrer Theorie zuzuwenden.“ „Es ist ja gar nicht meine Theorie“, sagte Arnold, „daß der Täter unbedingt ein Außenstehender ist. Ich wollte nur auf diese Möglichkeit hinweisen.“ „Also gut, das haben Sie getan. Nun wollen wir mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkehren, das hat schon seine Vorteile“, sagte Kreutzer und schob die Apfelsinenschalen über den Schreibtischrand in den Papierkorb. „Zum zweiten Punkt: Welche Angaben haben wir bis jetzt über den falschen Nikolai und seinen Mittäter? Wollen wir einmal zusammenfassen: Es ist ein Mann in mittleren Jahren ohne besondere Kennzeichen, er ist redegewandt, besaß oder besitzt einen gelben Staubmantel, kann Auto fahren. Sein Komplize ist zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahre alt, etwa ein Meter siebzig groß, trug einen roten Sturzhelm und graue Lederkombination, fährt eine Jawa in dunklem Farbton. Übrigens nach dem, was wir bis jetzt wissen, bin ich überzeugt, daß diese Jawa nicht ohne Grund schlammverkrustet war. Kranepuhl sollte das Nummernschild nicht erkennen können. Die Betrüger mußten damit rechnen, daß sich ein Mensch mit einem guten Zahlengedächtnis die Nummer hätte merken können. Diesen Zufall wollten sie ausschalten. Das zeigt, wie gut die ganze Aktion geplant worden ist.“ „Sehr viel ist das gerade nicht“, seufzte Arnold. „Moment, es ist auch noch nicht alles. Wir haben außerdem den Briefumschlag mit der Schreibmaschinenschrift und den gefälschten Namenszug Doktor Nikolais.“ „Ich befürchte, diese Krakelei wird uns kaum weiterhelfen. Die Experten für Schriftuntersuchung sind vorsichtige Leute, und ich wäre es auch, wenn ich weiter 122
nichts hätte als diesen Schnörkel. Was soll man aus sieben Buchstaben schon herauslesen? Wenn man gewissenhaft ist, gar nichts.“ „Vielleicht bringt uns die Auswertung der Schriftproben weiter, die Sie von den Schreibmaschinen genommen haben.“ „Ich weiß nicht. Die Täter werden doch nicht so dumm gewesen sein, eine eigene Schreibmaschine zu benutzen, mit der man sie überführen könnte. Ich vermute, es ist eine Maschine, die uns völlig unbekannt ist.“ „Was würden Sie sagen, wenn wir die bewußte Maschine in Doktor Nikolais Poliklinik entdecken? Da kann sie zwar von einer ganzen Reihe von Leuten benutzt worden sein, aber es würde immerhin den Kreis der möglichen Täter einengen.“ „Schön wär’s“, sagte Arnold, „im Augenblick sind das nur Spekulationen …“ Das Telefon schrillte. Kreutzer nahm den Hörer ab. „Einen Augenblick bitte“, zwitscherte eine weibliche Stimme, „Doktor Fritsche möchte Sie dringend sprechen.“
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16. Es knackte in der Leitung. „Hallo“, tönte dann Dr. Fritsches sonores Organ aus der Hörmuschel, „sind Sie es, Genosse Kreutzer? – Ich habe eine recht interessante Mitteilung. Bitte hören Sie: Die Nikolai-Adresse auf dem Briefumschlag ist mit einer nagelneuen Schreibmaschine geschrieben worden, Modell Erika. Und nun passen Sie auf: Diese Maschine ist vor knapp sechs Monaten bei einem Einbruch im Konsum-Warenhaus Teltow gestohlen worden!“ Kreutzer winkte Arnold heran, damit er mithören konnte. „Ja, aber – wie haben Sie das so schnell feststellen können?“ fragte er überrascht. „Haben Sie die Maschine oder eine Schriftprobe davon?“ „Ja, wir besitzen eine Schriftprobe. Zunächst haben wir natürlich alle Schriften, die uns der Genosse Arnold gebracht hatte, mit der Schrift auf dem Umschlag verglichen, allerdings ohne Erfolg. Dann kam ich ganz zufällig auf die Idee, einen Vergleich mit der Diebstahlskartei durchzuführen. Die Mühe machte sich bezahlt. Der Einbrecher damals hatte bei seinem Diebstahl den Qualitätskontrollschein, der jeder neuen Maschine beiliegt und eine Schriftprobe enthält, am Tatort zurückgelassen. Er befindet sich in unserer Kartei, und so war eine einwandfreie Identifizierung möglich.“ „Ist der Dieb bekannt?“ „Soviel ich weiß, ja. Aber das ist eine etwas verwickelte Geschichte. Der Einbrecher, ein Jugendlicher namens Perschke, wurde schon wenige Stunden nach dem Einbruch gefaßt. Das meiste Diebesgut konnte sicherge124
stellt werden, aber die Schreibmaschine und ein Fotoapparat blieben bis heute verschwunden. Den Fall bearbeitete Oberleutnant Sommer. Am besten, Sie sprechen mit ihm selbst, ich habe hier nur stichpunktartige Angaben.“ „Das werden wir sofort tun. Vorerst einmal recht schönen Dank, Genosse Fritsche. Wie steht es übrigens mit Doktor Nikolais Wagen?“ „Die Untersuchung ist abgeschlossen. Er wurde Doktor Nikolai am Sonnabend wieder zugestellt. Unser Gutachten ist an Sie unterwegs.“ „Und das Ergebnis?“ Dr. Fritsche lachte. „Wie erwartet. Es gibt nicht den geringsten Zweifel mehr, Nikolais Wartburg ist das Unfallfahrzeug. Die vergleichende Untersuchung hat in allen Punkten eine volle Übereinstimmung ergeben. Die unserem Gutachten beigefügten Fotografien und Mikroaufnahmen beweisen die Identität der Reifenabdrücke am Tatort mit den Reifenprofilen des Wartburgs von Doktor Nikolai. Die Lacksplitter an der Fahrradgabel decken sich in der Farbe, im Schichtenaufbau und in der Materialstruktur genau mit den Vergleichsproben, die wir der Lackschicht am linken Vorderkotflügel des Wartburgs entnahmen. Weitere Mikroaufnahmen zeigen eindeutig, daß sich die abgebrochene Spitze der Zierleiste genau in die Bruchlinie einfügt, die wir an der Zierleiste des Wagens fanden. Die Scherben des Scheinwerferglases schließen die Beweiskette. Die Bruchstücke der am Tatort gefundenen Scherben und die aus dem beschädigten Scheinwerfer, der in der Mülltonne bei Doktor Nikolai gefunden wurde, passen aneinander. Sowohl die lamellenartigen und muschelförmigen Reliefbildungen, die beim Zerspringen des Glases entstehen, wie auch die Spannungsrisse an den Bruchflächen lassen auf den Mi125
krofotos deutlich erkennen, daß die Scherben aus demselben Scheinwerferglas stammen. Damit ist bewiesen, was zu beweisen war: Nikolais Wartburg ist der Unfallwagen.“ Kreutzer bedankte sich noch einmal und legte auf. Dann wählte er die Nummer von Oberleutnant Sommer. Er erreichte ihn in seinem Dienstzimmer, und Sommer erklärte sich bereit, seinen Kollegen die gewünschten Auskünfte über den Fall Perschke zu geben. Einige Minuten später betraten sie sein Zimmer. Er war ein fülliger, etwas salopp aussehender Mann in einem zerknitterten blauen Zweireiher, hatte von Lachfältchen umgebene helle Augen, und sein eiförmiger Kopf war fast kahl. Vor ihm auf dem Tisch, der mit Kaffeegeschirr, Aschenbechern, Papieren, Büchern und Blumentöpfen überhäuft war, lag eine dünne Akte, in der er blätterte. Er nickte den Eintretenden zu, reichte ihnen über den Schreibtisch die Hand und sagte, er hätte leider nicht viel Zeit, sie sollten sich setzen und gleich zur Sache kommen. „Wir möchten gern Näheres über diesen Perschke erfahren“, begann Kreutzer, „und vor allen Dingen, in wessen Hände die Schreibmaschine geraten ist, die damals bei dem Diebstahl verschwand.“ „Das möchte ich auch gern wissen, und nicht erst seit heute“, sagte Sommer und begann zu lachen, daß sein Bauch ins Wackeln geriet. „Wollt ihr mich auf den Arm nehmen, Kinder, oder was ist eigentlich los?“ Kreutzer erzählte, wie sie auf die Schreibmaschine gestoßen waren, und Sommer beobachtete ihn dabei unter gesenkten Brauen. „Also schön“, sagte er, „was ich weiß, sollt ihr hören, 126
sehr viel weiterbringen wird es euch allerdings nicht. Hier ist der Vorgang.“ Er klopfte mit der Faust auf die vor ihm liegende Akte und schlug sie auf. „In der Nacht vom ersten zum zweiten April dieses Jahres, gegen dreiundzwanzig Uhr, wurde im KonsumWarenhaus Teltow ein Einbruch verübt. Der Täter, Wolf gang Perschke, ein Lümmel von sechzehn Jahren, war durch ein schlecht gesichertes Kellerfenster von der Hofseite her eingestiegen. Als Hilfsarbeiter bei einem privaten Transportunternehmer hatte er einige Tage zuvor während einer Lieferung an das Warenhaus die günstige Gelegenheit entdeckt. Nach seiner Aussage wollte er sich zunächst nur ein paar Flaschen Schnaps holen, um an einer Geburtstagsfeier teilzunehmen. Er hatte kein Geld für ein Geschenk, wollte aber nicht mit leeren Händen erscheinen. Als er dann drin war und die vielen schönen Sachen sah, die griffbereit vor ihm lagen, konnte er der Versuchung nicht widerstehen. Er holte sich aus der Lederwarenabteilung zwei große Koffer und stopfte sie mit Uhren, Kofferradios, Fotoapparaten, zwei Reiseschreibmaschinen, Schnapsflaschen und Zigaretten bis zum Rand voll. Danach verschwand er mit seiner Beute wieder durch das Kellerfenster. Er durchquerte einige Gärten, dann die Felder und gelangte, ohne aufzufallen, zu der unbewohnten Schrebergartenlaube seines Großvaters in Stahnsdorf, wo er die Koffer versteckte. Gegen vierundzwanzig Uhr tauchte er in Teltow bei der Geburtstagsfeier auf. Er war bereits angetrunken, hatte aber noch mehrere unangebrochene Flaschen bei sich, die er im Laufe der Nacht spendierte. Dann lachte er sich eins von den Mädchen an, versprach ihm eine Armband127
uhr und begann überhaupt mit seiner ‚Heldentat‘ zu renommieren. Doch keiner der Anwesenden will das ernst genommen haben. Alle behaupteten, sie seien betrunken gewesen und hätten gar nicht richtig verstanden, was ihnen Perschke eigentlich erzählte. Ich bin geneigt, das zu glauben, denn als wir am nächsten Vormittag die Wohnung besichtigten, in der die Party stattgefunden hatte, sah es dort wie auf einem Schlachtfeld aus, und das ließ gewisse Rückschlüsse auf den Zustand der Gäste zu. Die Feier fand bei einem siebzehnjährigen Mädchen statt, dessen Eltern verreist waren. Perschke schwänzte am folgenden Tag die Arbeit. Vormittags gegen zehn Uhr wurde er bei dem Versuch gefaßt, vom Hof einer Maler-PGH in Teltow ein Moped zu entwenden, mit dem er seine Freundin nach Hause bringen wollte. Sein Hirn war noch immer vom Alkohol umnebelt, und als er und das Mädchen Karina Heyne kurz darauf polizeilich vernommen wurden und Karina unter anderem auch von den Schnapsflaschen und der ihr versprochenen Armbanduhr erzählte, gab Perschke nach einigen Ausflüchten ziemlich schnell den Einbruch zu. Er nannte schließlich auch das Versteck, die Laube seiner Großeltern in Stahnsdorf, Grüner Weg einundsechzig, wo dann etwa zwei Stunden später das Diebesgut von uns sichergestellt werden konnte.“ Kreutzer sah von seinen Notizen auf und fragte: „Was hat denn Perschke mit der Schreibmaschine und dem Fotoapparat gemacht?“ „Tja“, Sommer zuckte die Schultern, und sein verschmitztes Gesicht nahm einen resignierten Ausdruck an, „hier beginnt die bis jetzt so klare Geschichte undurchsichtig zu werden. Wir bemerkten erst am nächsten Tag, nachdem die umfangreiche Beute mit der Liste der ge128
stohlenen Gegenstände verglichen worden war, daß eine Schreibmaschine Modell Erika und eine KleinbildSpiegelreflexkamera Pentina FM fehlten. Perschke wurde sofort befragt, aber er leugnete hartnäckig, irgend etwas beiseite geschafft zu haben. Er blieb bei seiner Aussage, er habe die gesamte Beute in den beiden Koffern in die Laube gebracht und sei dann sofort nach Teltow zu der Geburtstagsfeier gegangen. Außer den vier Flaschen Spirituosen und einigen Schachteln Zigaretten habe er den Koffern nichts entnommen. Er gab zu, zwei Schreibmaschinen gestohlen zu haben und vier oder fünf Fotoapparate. Genauere Angaben konnte er nicht machen, da er alles hastig und planlos zusammengerafft hatte. Wir überprüften mit peinlicher Sorgfalt seine Zeitangaben und vernahmen mehrmals alle an der Feier Beteiligten. Das Ergebnis überzeugte uns davon – wenn wir von dem winzigen Rest Unsicherheit absehen, der bei ungeklärten Fragen immer übrigbleibt –, daß Perschke keine Gelegenheit hatte, die Schreibmaschine und die Kamera an einem anderen Ort zu verstecken. Die Zeit vom Warenhaus zur Laube und von dort zurück in die Wohnung der Siebzehnjährigen geht genau auf, Umwege zu machen war ihm gar nicht möglich. Die Zeugenaussagen der Geburtstagsgäste stimmten sämtlich darin überein, daß Perschke die Wohnung bis zum Morgen nicht verlassen hatte und deshalb auch nicht zur Laube zurückgegangen sein kann. Wir haben danach alle Anwesenden gründlich durchleuchtet, in der Annahme, daß vielleicht einer von ihnen zur Laube gegangen sei und sich die Gegenstände unter den Nagel gerissen hätte. Aber erstens war niemand lange genug abwesend, um die Strecke hin und zurück zu bewältigen – die 129
Aussagen bestätigten das eindeutig –, und zweitens hatte Perschke nicht erwähnt, wo er seine Beute versteckt hielt. Auch gründliche Erkundigungen bei den Eltern und den Nachbarn der an der Feier Beteiligten brachte kein Ergebnis. Es bleiben nach allem nur drei Erklärungsmöglichkeiten, von denen allerdings zwei recht unwahrscheinlich klingen. Erstens: Ein Unbekannter beobachtete Perschke bei dem Einbruch oder entdeckte zufällig das offene Kellerfenster des Konsum-Warenhauses. Er holte sich nach Perschkes Verschwinden die Schreibmaschine und die Kamera. Doch vermutlich hätte er dann mehr mitgenommen. Und warum sollte Perschke den Diebstahl von zwei Maschinen zugeben, wenn er tatsächlich nur eine geklaut hatte? Zweitens: Ein Angestellter des Warenhauses benutzte den Einbruch, um selbst einen Diebstahl zu begehen oder einen bereits begangenen zu verschleiern. Er konnte auf so eine einfache Weise seine eigene Tat mit auf Perschkes Rechnung setzen. Doch auch dieser Deutung steht Perschkes Aussage von den zwei Schreibmaschinen entgegen. Drittens, und nach meiner Meinung am vernünftigsten: Jemand, der Perschke möglicherweise kannte, sah ihn mit den beiden Koffern über die Felder stolpern, dachte sich sein Teil, folgte ihm, drang nach Perschkes Fortgehen in die unverschlossene Laube ein und nahm sich von der Beute, was er am besten gebrauchen konnte.“ „Ja“, sagte Kreutzer, „das scheint auch mir die vernünftigste Erklärung zu sein. Hat es irgendwelche Hinweise auf den unbekannten Dieb gegeben? Spuren vielleicht?“ 130
„Sicherlich hat es sie gegeben“, erwiderte Sommer, „doch wir haben ja anfangs gar nicht mit dieser Möglichkeit gerechnet, und als wir dann am Nachmittag des nächsten Tages danach suchten, war natürlich alles rings um die Laube restlos zertrampelt. Selbst Pluto, der Gute, konnte nichts mehr ausrichten.“ „Was ist eigentlich aus Perschke geworden?“ fragte Arnold. „Er wurde Ende Juni dieses Jahres in den Jugendwerkhof Lehnin eingewiesen. Soviel ich weiß, befindet er sich noch immer dort.“ „Könnte er nicht getürmt sein? Das passiert doch zuweilen und ist ja auch bei den Jugendwerkhöfen nicht besonders schwer.“ „Willst du damit sagen, mein Junge, daß er mit eurem Fall in direkter Verbindung steht?“ fragte Sommer freundlich. „Denkbar wäre es doch“, sagte Arnold. „Schließlich ist diese Schreibmaschine wieder aufgetaucht, und die einzige Verbindung, die wir kennen, ist Perschke.“ „Ruf im Werkhof an, das ist der einfachste Weg, dich von dieser Idee zu befreien. Ich bin sicher, daß Perschke noch da ist. Soviel ich von eurem Fall bisher gehört habe, handelt es sich um eine ziemlich raffinierte Betrugsgeschichte. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß Perschke da mit drinsteckt. Er ist zwar nicht dumm, aber er ist zu faul zum Denken, und die Klappe kann er auch nicht halten. Kein ‚besserer‘ Krimineller würde sich mit so einem halbgewalkten Jüngling einlassen. Nein, Freunde, das schlagt euch aus dem Kopf. Unser Unbekannter, der Perschke in der Laube beklaute, zu dem würde euer Fall viel besser passen.“ „Geben Sie mir einen Hinweis, wer der Unbekannte 131
sein könnte, Genosse Oberleutnant, und ich werde mich Ihrer Meinung mit Freuden anschließen.“ Sommer sah Arnold traurig an. „Die Jugend hat es eilig“, seufzte er, „dabei habt ihr doch viel mehr Zeit vor euch als wir Alten. Man muß ein wenig Geduld haben. Fehler machen sie alle, die auf der falschen Seite der Gesetze; früher oder später brechen sie sich die Ohren. Auch die Erfolgreichen, sie werden zu selbstsicher und halten sich dann für unfehlbar. Die Brüder werden euch nicht durch die Lappen gehen. Sie haben schon eine ganze Reihe Dummheiten gemacht. Ich würde euch raten, laßt erst einmal die Schreibmaschine beiseite, bis ihr etwas mehr wißt, und versucht jetzt, an einem anderen Punkt anzuknüpfen.“ Als sie in ihre eigenen vier Wände zurückgekehrt waren, ließ sich Kreutzer schwer in seinen Schreibtischsessel fallen. „Also stecken wir wieder in der Sackgasse“, sagte er mißmutig. „Wenn der alte Fuchs mit der Sache nicht weitergekommen ist, dann haben wir, die wir eben erst die Nase in das Problem hineingesteckt haben, gar keine Chancen. Ich denke, er hat recht. Sehen wir zu, ob wir nicht von einer anderen Seite der Sache zu Leibe rücken können. – Wo waren wir eigentlich stehengeblieben, als der Anruf von Doktor Fritsche kam?“ „Bei der Zusammenstellung der Fakten, die wir bis jetzt von den Tätern haben.“ „Ja, richtig. Aber das hatten wir wohl im wesentlichen beendet. Ich schlage vor, wir sprechen noch einmal mit der Alverdes, das schien Ihnen doch vorhin sehr am Herren zu liegen.“ Kreutzer warf einen Blick auf seine Uhr. „Übrigens, haben Sie schon Mittag gegessen?“ „Ja, eine Bratwurst im Automaten-HO, als ich aus 132
dem Anzeigenladen kam.“ „Gut. Dann rufen Sie bitte die Fahrbereitschaft an, ich trage inzwischen die Bücher in meinen Wagen und erwarte Sie an der Ausfahrt.“
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17. Vor dem schmiedeeisernen Tor des Instituts für Ernährung stiegen Kreutzer und Arnold aus dem Wagen und gingen über den Gartenweg aus schwarzweißen Mosaiksteinen auf das Gebäude zu. Der Pförtner war in seinem dunklen Gewölbe eingedöst. Den Kopf auf der Brust, atmete er geräuschvoll durch den offenen Mund. Sie sahen keinen Grund, ihn zu stören, und stiegen auf Zehenspitzen die geschwungene Marmortreppe ins erste Stockwerk hinauf. Als sie in das Zimmer von Brigitte Alverdes traten, erhob sich ein dürrer Vierziger hinter einem Schreibtisch am Fenster, legte seine Brille mit den überstarken Gläsern ab und reichte ihnen blinzelnd die Hand. „Doktor Weintraut. Sehr erfreut, daß Sie endlich kommen. Ich habe Sie schon seit siebzehn Minuten erwartet.“ Er zog eine silberne Uhr an einem schwarzen Samtband aus der Westentasche und verglich sie stirnrunzelnd mit seiner Armbanduhr, indem er beide dicht unter die Augen hielt. „Wieso?“ fragte Kreutzer. „Haben Sie telepathische Fähigkeiten?“ Weintraut blickte irritiert von seinen Uhren auf. „Sind Sie nicht die Herren von der kommunalen Wasserwirtschaft?“ „Leider nein. Wir wollen Fräulein Alverdes sprechen.“ „Oh, dann bitte ich um Verzeihung. Ich warte seit geraumer Zeit auf diese Herren.“ Er steckte die silberne Uhr wieder in die Westenta134
sche. „Darf ich fragen, ob Sie Fräulein Alverdes in einer dienstlichen Angelegenheit sprechen wollen? In diesem Falle könnte auch ich Ihnen behilflich sein.“ „Ich glaube kaum“, sagte Kreutzer. „Es handelt sich um rein persönliche Fragen. Ist Fräulein Alverdes nicht im Haus?“ „Nein.“ Weintraut zog sich hinter den Schreibtisch zurück und ließ sich auf seinen lederbespannten Stuhl nieder, wobei er die unteren Enden des weißen Kittels wie die Rockschöße eines Fracks nach hinten warf. Dann begann er, die Besucher mit kritischen Blicken zu mustern. „Entschuldigen Sie meine Neugier, aber ich finde das Ganze etwas ungewöhnlich. Mit wem habe ich die Ehre?“ Kreutzer und Arnold sahen sich an. Ein verdächtiges Zucken machte sich um Arnolds Mundwinkel bemerkbar. Kreutzer hielt Doktor Weintraut seinen Dienstausweis hin. Weintraut schob sich die Brille auf die Nase und starrte auf das Dokument. „Um Gottes willen! Das – das ist doch unmöglich“, stammelte er. „Hat sie …, hat sie etwas Kriminelles …“ Er nahm mit dramatischer Gebärde seine Brille ab und starrte geistesabwesend ins Leere. „Ich – ich …“, er schluckte. Sein Adamsapfel hüpfte auf und nieder. „Ich war im Begriff …“ Die schmalen Lippen verzogen sich wie im Krampf, und ein heftiges Zittern schüttelte seinen Körper. Kreutzer und Arnold hatten schon die merkwürdigsten Reaktionen erlebt, wenn die Leute ihren Ausweis zu Gesicht bekamen, aber ein derartig seltsames Benehmen war ihnen noch nie begegnet. Kreutzer fühlte sich ein 135
wenig hilflos, als er sagte: „Aber ich bitte Sie! Es besteht doch überhaupt kein Grund zur Aufregung. Wollen Sie uns nicht erklären …“ Doktor Weintraut hob langsam den Blick. Er war blaß, und seine schmalen Finger zitterten. „Ich bitte um Vergebung“, flüsterte er, „es ist eine Art Schock, es kam so überraschend. Meine Nerven sind in den letzten Wochen sehr strapaziert worden. Ich habe seit langem gefühlt, daß eine Katastrophe herannaht. Sie lag förmlich in der Luft.“ „Das begreife ich nicht“, sagte Kreutzer kopfschüttelnd. „Wir wollten doch nur wissen, ob Fräulein Alverdes im Hause ist.“ Allmählich gewann Weintraut seine Beherrschung zurück. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sagte mit erschöpfter Stimme: „Natürlich bin ich Ihnen eine Erklärung schuldig. Mein Verhalten muß auf Sie im hohen Grade lächerlich wirken, und ich will gestehen, daß – nun, daß es mir äußerst peinlich ist.“ Er holte tief Luft, nahm, ohne hinzusehen, ein weiches Tuch aus einer offenen Schublade und begann mechanisch die Gläser seiner Brille zu putzen. Dann fuhr er zögernd und nach Worten suchend fort: „Ja, also kurz und gut, ich bin seit Sonnabend mit Fräulein Alverdes verlobt. Nach langen, qualvollen. Monaten des Wartens ist es mir gelungen, von ihr das Jawort zu erhalten – allerdings unter gewissen Bedingungen. Dennoch: Ich lebte die letzten zwei Tage in einem nie gekannten Glücksgefühl, obwohl ich wußte, daß ich mir sträfliche Illusionen machte. Ich hatte, wie gesagt, schon seit langem die böse Ahnung, Brigitte habe Geheimnisse vor mir. Daß sie jedoch in Dinge verwickelt sein würde, für die sich 136
die Kriminalpolizei interessiert – damit hätte ich allerdings nicht gerechnet.“ Er ließ den Kopf auf die hohe Rückenlehne seines Stuhles sinken und starrte mit düsterem Blick zur Decke. „Wir haben im Augenblick nur einige Fragen an Fräulein Alverdes“, sagte Kreutzer. „Sie brauchen sich deshalb nicht zu beunruhigen. Wissen Sie, wo wir sie finden können?“ Weintraut nickte. „Zu Hause vermutlich. Sie hat heute morgen angerufen und sich krank gemeldet. Starke Migräne. Darunter leidet sie hin und wieder. Trotzdem kam es mir eigenartig vor, ihre Stimme klang so – wie soll ich sagen? – verschleiert. Ich hatte schon erwogen, ob ich sie nicht heute abend besuchen sollte, doch ich bin noch im Zweifel. Es ist ihr Wunsch, daß ich nicht in ihre Wohnung komme, wenigstens vorläufig nicht, solange unsere Verlobung nicht offiziell bekanntgemacht ist.“ „Wie hat sie das begründet?“ „Eigentlich gar nicht“, sagte Weintraut verlegen, „sie will es nicht, und damit muß ich mich eben abfinden. Sobald ich etwas andeute, was ihr nicht recht ist, sagt sie, ich möge sie mit meinen Erziehungsversuchen verschonen oder – nun ja – mich zum Teufel scheren. Dann gebe ich selbstverständlich nach.“ „Noch eine andere Frage, Herr Doktor Weintraut. Sie erwähnten etwas von Geheimnissen, die Fräulein Alverdes vor Ihnen hätte. Ist das nur ein Gefühl, oder sind Ihnen Fakten bekannt?“ Weintraut machte ein betrübtes Gesicht. „Fakten im strengen Sinne nicht. Hinweise vielleicht oder, besser gesagt, gewisse Momente, die zunächst nur meine Verwunderung und schließlich eine Art Mißtrauen hervorriefen. So bekommt sie zum Beispiel ein- oder 137
auch zweimal wöchentlich Telefonanrufe, über die sie mir keine Auskunft geben will. Dann darf ich unter gar keinen Umständen ihre Handtasche öffnen, ja nicht einmal holen, wenn’ sie sie irgendwo in einem anderen Raum vergessen hat. Zuweilen besteht sie auch darauf, daß ich sie nicht zu ihrem Bus begleite, mit dem sie abends nach Hause fährt. Ich kann mir das alles nicht recht zusammenreimen. Am nächsten Tag ist sie dann meist besonders liebenswürdig zu mir. Und wenn ich sie nach den Gründen fragte, wurde sie nur wütend und gab keine Antwort. Ich schwieg dann lieber, weil ich mich nicht mit ihr streiten wollte.“ „Ist das alles, was Ihre bösen Ahnungen heraufbeschwört?“ „Ja, genügt denn das noch nicht?“ fragte Weintraut entsetzt. Kreutzer und Arnold seufzten fast im gleichen Moment. „Darf ich mir die Frage erlauben“, sagte Weintraut und schlang dabei nervös die langen Finger ineinander, „ob Fräulein Alverdes ernstlich, ich meine, ob vielleicht in dem Leben, das sie vor mir geheimhält, ein männliches Wesen eine Rolle spielt, ein Wesen, dem sie unter Umständen nahesteht?“ „Nun“, sagte Kreutzer und rang nach Worten, „wir haben nicht das Recht, uns in das Privatleben der Bürger einzumischen. Ich an Ihrer Stelle würde versuchen, von ihr selbst eine Antwort zu erhalten.“ „So steht es also“, murmelte Weintraut und nickte mehrmals. „Jedenfalls danke ich Ihnen, meine Herren.“ Er richtete den Blick auf seine Besucher und zuckte plötzlich zusammen. „O Gott, Sie stehen ja noch immer. Ich bin wirklich sehr unhöflich. Bitte verzeihen Sie, und 138
nehmen Sie doch Platz.“ Er sprang auf, holte zwei grüne Polsterstühle, die an der Wand neben dem Fenster standen, und stellte sie vor den Schreibtisch. „Vielen Dank“, sagte Kreutzer, „bitte machen Sie sich keine Mühe, unser Gespräch ist ja schon beendet. Wir wollen uns verabschieden.“ „Wirklich? Also dann …“ Weintraut zuckte die Achseln und trug die Stühle an ihren alten Platz zurück. Dann verabschiedete er sich von seinen Besuchern. Unten in der Halle trafen Kreutzer und Arnold auf den Pförtner. Er war aufgewacht, hatte sich einen zerschlissenen Korbstuhl vor die Tür seines Zimmers getragen, und dort saß er nun, die Hände über dem Bauch gefaltet, und nickte ihnen würdevoll zu. Die Fahrt nach Wilhelmshorst dauerte zwanzig Minuten. Dunkle Wolken schoben sich über die waldreichen Hügelkämme, und es begann wieder zu regnen. Winzige Tröpfchen sprühten gegen die Scheiben, die schnell von innen beschlugen. Der Fahrer schaltete schimpfend die Heizung und die Scheibenwischer ein. Bei Frau Overmann brannte schon Licht. Sie klingelten, und kurz darauf erschien sie in der Tür mit einem rot und grün gemusterten Bademantel und mit einem Frottéhandtuch als Turban auf dem Kopf. Sie ließ sie eintreten und schloß die Tür. Kreutzer erklärte, daß sie zu Fräulein Alverdes wollten. „Fräulein Alverdes ist krank“, sagte Frau Overmann. „Wenn Sie bitte einen Augenblick warten wollen, ich werde rasch nachsehen, ob sie Besuch empfangen kann.“ Sie lief die Treppe hinauf, und ihre Badesandalen machten dabei klatschende Geräusche. Eine Tür wurde 139
geöffnet, Stimmen flüsterten, und dann rief Frau Overmann: „Bitte, kommen Sie herauf!“ Im kleinen Flur am oberen Ende der Treppe roch es stark nach Badewasseressenz. Frau Overmann deutete mit dem Kopf auf die mittlere der drei Türen, lächelte den beiden zu und verschwand hinter einer Tür.
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18. Brigitte Alverdes lag in einer Haltung, die einem Aktmaler Freude- gemacht hätte, auf einer breiten Couch. Sie trug einen weinfarbenen Kimono mit tiefem Ausschnitt, dessen dünne Seide ihre Formen mehr betonte als verhüllte. Die braunen Beine sahen bis über die Knie hervor, da die unteren Perlmuttknöpfe des Kimonos nicht geschlossen waren. Im Zimmer war es sehr warm. Zwei elektrische Heizsonnen auf einem niedrigen Ofen aus handgemalten Kacheln glühten dunkelrot; die runden Reflektoren waren schräg von oben auf die Couch gerichtet. Es duftete nach Kaffee, und auf einem Mosaiktischchen neben dem Kopfende der Couch standen eine halbvolle Tasse, ein Schraubglas mit Pulverkaffee, eine silberne Zuckerdose. Neben einer Vase bunter Herbstastern lagen mehrere Röllchen Tabletten und ein aufgeschlagener Taschenbuchroman in rosa Glanzfolie. In einem Emailleaschenbecher befand sich ein angebrochenes Päckchen Zigaretten, aber es gab keine Anzeichen, daß sie geraucht hatte. Als Kreutzer und Arnold eingetreten waren, löste sie die im Nacken verschränkten Arme und richtete sich halb auf. Die blonden Haare, die von einem grünen Band zusammengehalten wurden, glitten ihr nach vorn über die Augen. Sie strich die Strähnen zur Seite und schob sie mit spitzen Fingern unter das Band zurück. „Wenn Sie sich bitte setzen wollen“, sagte sie mit gelangweilter Stimme und wies auf zwei schwarz und weiß karierte Sessel, die vor ihrer Couch standen. Kreutzer, gereizt durch ihre lässige Art, fragte: „Warum haben Sie uns am Freitag die Unwahrheit gesagt? 141
Wir haben nicht so viel Zeit, daß wir sie mit Ihren falschen Aussagen verschwenden könnten.“ „Schreien Sie mich nicht an! Ich habe Kopfschmerzen und fühle mich erbärmlich.“ „Ja, das sehen wir“, knurrte Kreutzer, nahm einige Zeitschriften und Bücher aus dem Sessel, legte sie auf den Teppich und setzte sich. „Wollen Sie so freundlich sein und den Widerspruch aufklären, der zwischen Ihren Angaben und denen von Frau Overmann besteht, die uns sagte, daß Sie am Abend des Unfalls doch Besuch hatten?“ Sie verzog das Gesicht zu einer beleidigten Grimasse, beugte sich nach vorn, nahm eine Wolldecke vom Fußende der Couch, faltete sie auseinander und wickelte dann aufreizend langsam ihre Beine darin ein. „Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen“, sagte sie gleichgültig. „Ich habe nicht gelogen, und es gibt auch keinen Widerspruch. Soweit ich mich an das Gespräch erinnern kann, habe ich nie behauptet, daß ich an diesem Abend keinen Besuch hatte. Ihre Frage war, ob mich Doktor Nikolai besucht hätte, und das habe ich, der Wahrheit entsprechend, verneint.“ „Es war also ein Mann bei Ihnen. Das geben Sie zu?“ „Warum denn nicht?“ Sie reckte sich, ließ sich nach hinten in das Kissen sinken und sagte mit geschlossenen Augen: „Nur sah ich keinen Grund, Ihnen das ungefragt auf dem silbernen Tablett zu servieren. So charmant sind Sie nun auch wieder nicht.“ Kreutzer biß sich wütend auf die Lippen. „Wer war dieser Mann?“ fragte er, und seine Stimme klang rauh. „Es war Nikolai“, flötete sie und beobachtete ihn unter ihren langen Wimpern. Er sprang auf. „Wollen Sie uns zum besten halten?“ 142
rief er. Sie stützte sich auf die Ellenbogen und starrte ihn überrascht an. „Wer also war dieser Mann?“ fragte Kreutzer immer noch wütend. „Wie ich schon sagte“, erwiderte sie spitz, „es war Nikolai.“ Kreutzer kniff die Augen zusammen. „Das ist kein Gesellschaftsspiel, Fräulein Alverdes. Ich kann Sie wegen vorsätzlicher Irreführung zur Verantwortung ziehen.“ „Warum ereifern Sie sich? Gerät Ihre Würde in Gefahr?“ Sie lachte. „Aber da Sie nicht von selbst darauf kommen, will ich das Geheimnis lüften, ehe Sie mir vielleicht die Einrichtung demolieren. Bitte setzen Sie sich, Herr Kreutzer, damit Sie nicht stehend der Schlag trifft.“ Er steckte seine Hände, die zu Fäusten geballt waren, in die Taschen und ließ sich steif auf der Vorderkante des Sessels nieder. „So, nun spitzen Sie die Ohren“, sagte sie, „mein Besucher war wirklich und wahrhaftig Herr Nikolai, genauer, Dieter Nikolai, der hoffnungsvolle Sohn eines gewissen Doktor Nikolai aus Kleinmachnow bei Berlin.“ Kreutzer und Arnold rührten sich nicht, ihre Gesichter blieben beherrscht. Wenn sie diese Mitteilung überrascht hatte, war es ihnen jedenfalls nicht anzumerken. „Warum besuchte Sie denn Dieter Nikolai?“ fragte Leutnant Kreutzer. „Ist das so schwer zu erraten?“ Sie lächelte versonnen. „Er wollte mit mir plaudern. Kann ich dafür, wenn er mir nachläuft? Muß ich mich deshalb vielleicht entschuldigen? Und überhaupt – das geht Sie gar nichts an!“ Um Kreutzers Lippen spielte ein sarkastisches Lächeln. 143
„Warum haben Sie sich eigentlich mit Doktor Weintraut verlobt?“ Sie seufzte. „Na gut. Da Sie sich einmal in den Kopf gesetzt haben, daß ich für Ihren Fall von Wichtigkeit bin, werde ich mein Privatleben vor Ihnen ausbreiten. Aber lassen Sie mich bitte mit Moralsprüchen in Ruhe. Ich bin nicht in der Kirche und nicht in der Heilsarmee und bin seit einem Jahr auch aus dem FDJ-Alter heraus.“ Sie griff nach der Schachtel Zigaretten und einem kleinen Feuerzeug. „Das wird meine Kopfschmerzen nur noch schlimmer machen, aber wenn ich mich aufrege, brauche ich einfach eine. Möchten Sie auch?“ Sie nahm sich eine Zigarette heraus und hielt den beiden die Schachtel entgegen. „Danke“, sagte Kreutzer, „wir rauchen nicht“, und er bemerkte mit einer Art Genugtuung, wie Arnold die Luft durch die Nase stieß und ihn aus den Augenwinkeln unfreundlich ansah. „Oh, Verzeihung“, sagte sie und zündete sich eine Zigarette an. „Bitte kommen Sie zur Sache“, sagte er. Sie legte die eine Hand unter den Ellenbogen, stützte die andere unter das Kinn, tippte mit den Fingerspitzen auf die Wange und sah ihn einen Augenblick nachdenklich an. „Wie Ihnen bereits bekannt ist“, begann sie dann betont langsam, „bin ich seit zwei Jahren mit Doktor Nikolai befreundet. Er hat mich recht gern, aber ich habe mich dummerweise ernsthaft in ihn verliebt. Meine Vernunft sagt mir, daß es verrückt ist, daß er zu alt für mich ist, daß er verheiratet ist und so weiter und so weiter. Doch was nutzt einem schon in diesem Falle die Vernunft? Ich würde ihn trotz allem heiraten, leider will er es nicht, 144
zumindest nicht, solange seine Frau lebt, und es ist durchaus möglich, daß sie noch dreißig Jahre lebt. Eine Scheidung kommt für ihn einfach nicht in Frage. Er bringt es nicht übers Herz, seine Frau im Stich zu lassen, es bereitet ihm ja schon Gewissensqualen genug, sie zu betrügen. Er ahnt, daß ich anders darüber denke, aber sagen kann ich ihm das natürlich nicht, soweit reicht meine Selbstachtung noch.“ Sie schwieg und blies nachdenklich den Rauch von sich. „Sehen Sie, ich bin jetzt sechsundzwanzig; noch zwei, drei Jahre, und dann erreiche ich das Alter, wo einen die Männer komisch ansehen, wenn man noch nicht verheiratet ist, und sich hastig aus dem Staube machen, sobald nur das Wörtchen Ehe fällt. Es ist aber gewiß nicht meine Absicht, diese bedauernswerte Rolle zu spielen, mich mein Leben lang abzurackern, nur um alle drei Jahre einen neuen Wintermantel kaufen zu können und damit in Einsamkeit zu versauern.“ „Ihre Offenheit läßt nichts zu wünschen übrig“, sagte Arnold. Sie sah ihn nur an und fuhr fort: „Falls Sie mich bis hierher begreifen konnten, so haben Sie die Erklärung für die Art, mit der ich Weintraut behandele. Er ist etwas altmodisch, und er geht mir damit zuweilen auf die Nerven. Doch ich habe ihm nie Illusionen gemacht, er ist intelligent genug, mein Verhalten zu durchschauen, wenn er es nur wollte. Nein, er hält sich absichtlich die Augen zu, und das ist schließlich seine Sache. Andererseits glaube ich, daß seine Liebe zu mir ehrlich ist. Und das ist am Ende das Wichtigste, alles andere wird sich finden. Er ist immerhin ein solider Mann in einer guten Stellung und mir auf alle Fälle zehnmal lieber als die nachge145
machten Playboys mit ihren billigen Mätzchen und ihrem trüben Innenleben, die mir sonst noch hinterherlaufen.“ Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und drückte sie aus. „Sie würden Doktor Weintraut heiraten“, fragte Arnold ungläubig, „auch wenn Sie ihn nicht lieben?“ „Ja, wahrscheinlich. Er ist sehr zuverlässig, und wenn man den nicht bekommt, den man liebt, ist er das Beste, was man haben kann. Und nach dem, was sich gestern abgespielt hat, rückt diese Wahrscheinlichkeit in greifbare Nähe.“ „Sie haben einen recht praktischen Verstand“, sagte Kreutzer trocken. „Immer ein zweites Eisen im Feuer. Darf man fragen, was sich gestern abspielte?“ „Sie dürfen, doch warum die Förmlichkeit? Sind Sie nicht entschlossen, es so oder so aus mir herauszuquetschen?“ „Ich würde gern höflich bleiben.“ Sie lachte. „Gut, ich will versuchen, mich ebenfalls zu bessern. Gestern nachmittag – wir waren verabredet und wollten eigentlich nach Berlin fahren – kam Egbert mit einer Stinklaune hier an. Er machte Andeutungen über Frau Overmann, die ihn zusammen mit der Polizei in eine peinliche Situation gebracht hätte, doch auf diese Weise habe er wenigstens erfahren, daß zwischen mir und Dieter immer noch Beziehungen bestünden. Er ließ mich gar nicht erst zu Worte kommen, sondern schrie, er hätte seinen Sohn gefragt und der habe alles zugegeben. Geschmacklosigkeit war noch das Geringste, was er mir vorwarf, und wir gerieten nach und nach in einen sehr unfreundlichen Streit. Ich hatte eigentlich nicht die Absicht, uns den Tag zu verderben, aber da sein Zynismus immer unerträglicher 146
wurde, konnte ich mich schließlich nicht mehr beherrschen. Wir sind nicht verheiratet, und ich lasse mir von niemandem Vorschriften machen, wer mich besuchen darf und wer nicht. Dieter ist in meinen Augen ein netter Junge, aber doch noch ein halbes Kind, und ob Sie das glauben oder nicht, es wäre mir ganz unmöglich, mit ihm eine Liebschaft anzufangen. Ja, er schreibt mir Briefe, er ruft mich an, er wartet stundenlang auf mich; warum sollte ich ihm nicht hin und wieder gestatten, sich mit mir zu unterhalten, solange er sich vernünftig benimmt?“ Sie schaute in ihre Tasse, schwenkte sie und trank sie aus. „Egbert will das natürlich nicht gelten lassen, doch ich sehe nicht ein, warum ich immer nachgeben soll. Er tut auch in vielen Dingen nicht das, was ich mir wünsche. Nachdem wir uns dann über drei Stunden scheußlich gezankt hatten, ging er wütend fort. Kurz darauf erschien Dieter und fing an, mir ebenfalls Szenen zu machen. Er war eifersüchtig auf seinen Vater, wollte, daß ich mich von ihm trenne, und sagte, wenn ich nur einverstanden wäre, würde er mich sofort heiraten. Sogar sein Studium würde er aufgeben, um Geld zu verdienen. Es war grotesk und lächerlich. Ich mußte ihn am Ende hinauswerfen, da er anfing, sich wie ein Verrückter zu benehmen, und den Versuch machte, mich zu küssen. Diese widerwärtigen Streitigkeiten hatten mich so zermürbt, daß ich gleich danach hundeelend und wie zerschlagen ins Bett fiel. Ich bekam eine Migräne und war deshalb heute nicht zur Arbeit.“ „Wollen Sie sich von Doktor Nikolai trennen?“ fragte Kreutzer. „Ich bin noch nicht ganz sicher, aber ich fürchte, es wird wohl darauf hinauslaufen.“ Ihre Stimme war bei den 147
letzten Worten leiser geworden. Sie lehnte sich zurück, und in ihren Augen glitzerten Tränen. Mit abgewandtem Gesicht suchte sie unter dem Kopfkissen ein Taschentuch hervor, nahm ein viereckiges Fläschchen mit französischem Eau de Cologne vom Tisch, träufelte etwas davon auf das Taschentuch und betupfte Stirn und Schläfen. Kreutzer und Arnold sahen sich im Zimmer um. Es war nicht sehr groß, aber geschmackvoll eingerichtet. Kreutzer stand auf und betrachtete eine große, mit genarbtem Leder überzogene Dose, deren Deckel aus Silber und farbigem Emaille bestand. Er hatte einmal ein ähnliches Stück in einem Kunstgewerbeladen kaufen wollen, aber der Preis von zweihundertundfünfzig Mark war ihm etwas zu hoch erschienen. „Wie ist Dieter Nikolai am Abend des Unfalls eigentlich hierhergekommen?“ „Soweit ich mich erinnere, hatte er schon längere Zeit darum gebeten, mich wieder einmal besuchen zu dürfen. Schließlich habe ich ja gesagt.“ „So war die Frage nicht gemeint. Es sollte heißen, womit ist er gekommen?“ „Ach so. Ich glaube, mit seinem Motorrad.“ „Was für eins hat er denn?“ „Es ist wohl eine Jawa.“ „In welcher Farbe?“ „Dunkelblau. Warum interessiert Sie das?“ Kreutzer lächelte. „Nur aus Routine. Wann ist er weggefahren?“ „Es muß kurz nach acht gewesen sein. Um diese Zeit schicke ich ihn meistens wieder fort.“ „Was hatte er an?“ „Meine Güte, das weiß ich nicht mehr. Irgendeinen 148
Anzug und einen Pullover wahrscheinlich.“ „Weiter nichts? So fährt man doch nicht Motorrad.“ „Einen Mantel hatte er wohl auch und den Sturzhelm.“ „Welche Farbe hat der Sturzhelm?“ „Rot, soweit ich mich erinnere.“ Kreutzer nickte. „Und wie alt ist Dieter?“ „Einundzwanzig, er wirkt aber älter. Er ist so groß wie sein Vater, nur nicht so breit. Man könnte ihn ohne weiteres für vierundzwanzig oder fünfundzwanzig halten.“ „Er ist Student, sagten Sie. Was studiert er?“ „Pädagogik. Er möchte wohl Sportlehrer werden.“ „Besucht er die Pädagogische Hochschule in Sanssouci?“ „Ja, in den Gebäuden hinter dem Neuen Palais.“ „Was macht er in seiner Freizeit, wenn er gerade nicht von Ihnen in Atem gehalten wird?“ Die Alverdes verzog den Mund, als wollte sie ausdrücken: „Das war nicht sehr geschmackvoll“, doch dann sagte sie: „Er interessiert sich für sein Motorrad, aber noch mehr für Autos, die er sehr gut fotografiert – nach meiner Meinung besser als mancher Berufsfotograf.“ Arnold machte eine etwas hastige Bewegung, und Kreutzer legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. „Kennen Sie zufällig seinen Fotoapparat?“ fragte er so gleichgültig wie möglich. Sie schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Es ist irgend so ein Ding mit ein paar Objektiven.“ „Wie kommt es, daß er sich so für Autos interessiert, obwohl er doch gar nicht fahren kann?“ „Wer hat Ihnen das erzählt?“ fragte sie verwundert. „Natürlich kann er fahren.“ „So? Dann muß ich mich geirrt haben. Was für einen Wagen fährt er?“ Kreutzer mußte innerlich schmunzeln. 149
Sie blickte ihn verblüfft an und schlug sich vor die Stirn. „Nun hat mich der böse Wolf doch in den Wald gelockt.“ Dann seufzte sie. „Nun, es ist ja schon egal. Er hat sich also Ersatzschlüssel beschafft und benutzt manchmal heimlich den Wartburg seines Vaters.“ „Und Doktor Nikolai, der sonst jedes Stäubchen an seinem Auto entdeckt, sollte das nicht bemerkt haben?“ „Bisher nicht. Dieter ist sehr vorsichtig. Er benutzt den Wagen nur selten. Im vergangenen Herbst, als Egbert zu einer Fachtagung in Westdeutschland war, hatte mich Dieter zu einem Sonntagsausflug eingeladen. Er kam mit dem neuen Wartburg. Ich wunderte mich natürlich und fragte ihn, ob sein Vater ihm den Wagen geliehen hatte. Darauf erzählte er mir alles.“ „Und Sie haben Doktor Nikolai nie ein Wort davon gesagt?“ „Bitte, seien Sie nicht naiv. Erstens sah ich gar keinen Grund, mich in diesen Kleinkrieg zwischen Vater und Sohn einzumischen, und zweitens wäre dann todsicher herausgekommen, daß Dieter mit mir diesen Ausflug gemacht hatte. Das wollte ich gern verhindern, um mit Egbert nicht wieder in Streit zu geraten.“ „Warum konnten Sie nicht einfach sagen, Sie hätten Dieter zufällig mit dem Wagen gesehen?“ „Sie sind wirklich etwas weltfremd, Herr Kreutzer. Glauben Sie vielleicht, Dieter hätte dazu geschwiegen? Er hatte mich doch in der Hand. Falls ich den Wagen erwähnte, würde er seinem Vater von unserem Ausflug erzählen. Er hat es zwar nicht direkt gesagt, aber mit seinem ganzen Verhalten deutlich zu erkennen gegeben. Er ließ durchblicken, daß uns von nun an so eine Art kleine Verschwörung verbindet.“ Sie zog die Stirn in Falten und spielte gedankenverlo150
ren mit dem Feuerzeug. „Nun ja, ich habe damals nicht weiter darüber nachgedacht, aber jetzt scheint es mir beinahe so, als hätte er diese Autofahrt mit einer ganz bestimmten Absicht arrangiert. Vielleicht wollte er damit zwischen Egbert und mir den Grundstein legen zu Mißtrauen und Unaufrichtigkeit.“ Kreutzer sah mit finsterem Gesicht auf seine Hände und schwieg. Endlich fragte er: „Überschätzen Sie ihn nicht doch ein wenig?“ Sie zog die Augenbrauen in die Höhe und blickte aus dem Fenster. „Vielleicht überschätze ich ihn,“ sagte sie leise, „doch der Junge ist verdammt klug. Wenn er beispielsweise Schach mit seinem Vater spielt – und Egbert ist bestimmt ein guter Spieler –, dann läßt er ihn auf und nieder zappeln, wie es ihm gefällt, und sobald er Schluß machen will, zieht er aus dem Hinterhalt die Schlinge zu. Im Schachspiel hat Egbert gegen ihn so gut wie keine Chance.“ Kreutzer sah auf die Uhr und erhob sich. „Ich denke, das wäre es für heute. Wir danken Ihnen für Ihre Auskünfte, Fräulein Alverdes. Möglicherweise müssen wir Sie noch einmal in Anspruch nehmen, um über bestimmte Punkte ein Protokoll zu machen. Doch.. ‚“ Er unterbrach sich und sah für einen Augenblick unwillig zu Arnold hinüber, der an den BiedermeierSchreibtisch getreten war und mit dem Kleingeld in seiner Hosentasche klimperte. Das Klimpern hörte auf, und Kreutzer fuhr fort: „Doch diese Frage werden wir erst prüfen. Wenn es soweit ist, hören Sie von uns.“ 151
Ein Geldstück fiel auf den Boden und kullerte unter den Schreibtisch. Kreutzer fuhr herum und erstarrte dann mitten in der Bewegung. Das Wort, das er auf der Zunge hatte, hielt er nur mit Mühe zurück. Arnold murmelte eine Entschuldigung, krabbelte dann auf Knien hinter den Schreibtisch. Man hörte ihn schnaufen und den Papierkorb zur Seite rücken, und dann kam er mit verrutschter Krawatte und einem Zweimarkstück zwischen Daumen und Zeigefinger wieder zum Vorschein. Sie verabschiedeten sich. Fräulein Alverdes nickte ihnen spöttisch lächelnd zu und erhob sich mit katzenhafter Anmut halb von der Couch, wobei sie mehr als nötig von ihren Beinen sehen ließ.
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19. Als sie im Wagen saßen, maß Kreutzer seinen Kollegen mit einem wenig schmeichelhaften Blick, schüttelte einige Male den Kopf und sagte: „Mußten Sie unbedingt auf allen vieren über den Fußboden krauchen, nur um dieses verdammte Geldstück zu finden?“ „Sollte ich die zwei Mark vielleicht verschenken?“ entgegnete Arnold gekränkt. „Ach, Quatsch!“ knurrte Kreutzer. „Sehen Sie denn nicht, daß Sie sich mit solchen Albernheiten absolut lächerlich machen?“ Er wandte sich ab und sah wütend aus dem Fenster. In den regennassen Kiefernwäldern beiderseits der Straße nistete schon die Dämmerung, und immer neue blaugraue Wolkenbänke schoben sich von Westen heran. Hier und da irrte ein Pilzsammler durch das Gehölz, den Kopf gesenkt wie ein Jagdhund auf der Fährte. Arnold grinste verstohlen vor sich hin und überlegte, wie er das Gespräch mit Kreutzer wieder in Gang bringen könnte. „Wenn nur die Hälfte von dem stimmt“, begann er, „was die Alverdes erzählt hat, dann ist Dieter Nikolai eine hochinteressante Figur.“ „Allerdings“, sagte Kreutzer und ließ seinen Groll beiseite, „wir werden uns gründlich mit ihm beschäftigen müssen. Die Sache mit den nachgemachten Autoschlüsseln grenzt fast schon ans Kriminelle.“ „Kann man nicht auf den Gedanken kommen, daß ein so gerissener Knabe Grips genug hat, einen Betrug à la Kranepuhl auszuhecken?“ „Nicht doch“, sagte Kreutzer abweisend, „bis jetzt ha153
ben wir nur die Aussage der Alverdes. Das reicht keinesfalls aus, einen derart gewagten Schluß zu ziehen.“ Es war ja nur ein Gedanke, wehrte Arnold ab. „Immerhin gibt es erstaunliche Übereinstimmungen: die Jawa, der jugendliche Komplize, der heimlich benutzte Wartburg, die genaue Kenntnis natürlich, wann der Vater Nachtdienst hat. Wenn man sucht, findet man vielleicht noch mehr.“ „Schon möglich, aber wollen wir es abwarten.“ Kreutzer zuckte unbehaglich mit den Schultern. „Ich weiß nicht, irgend etwas macht mich mißtrauisch. Die Einzelheiten passen fast zu gut zusammen. Eine Frau, die so berechnend ist, läßt sich nicht wie eine Gans übertölpeln. Bei unserem ersten Gespräch hat sie sich nicht verplappert. Im Gegenteil, da hat sie sehr geschickt verschwiegen, was sie verschweigen wollte.“ „Möchten Sie damit sagen, sie hätte uns mit einer ganz bestimmten Absicht den Verdacht gegen Dieter eingeflüstert?“ „Das weiß ich noch nicht. Aber ich weiß, wie verdammt ausgekocht sie ist. Falls sie an der Sache beteiligt ist, müssen wir sehr gut aufpassen, daß sie uns nicht durch die Lappen geht.“ „Sie glauben also, sie steckt mit drin?“ Kreutzer sah seinen Assistenten prüfend an. „Ich glaube noch gar nichts, aber ich halte es immerhin für möglich. Was sollen diese bohrenden Fragen? Haben Sie einen besonderen Verdacht?“ Arnold lächelte entschuldigend. „Einen Verdacht nicht, vielleicht eine Vermutung. Und eine Bitte. Ich möchte, daß wir zur KTU fahren. Wahrscheinlich können wir Doktor Fritsche noch vor Feierabend erreichen.“ „Würden Sie so nett sein und mir verraten, was das 154
bedeuten soll?“ „Es ist nur ein Versuch, und ich fürchte, es kommt nichts dabei heraus. Vorhin im Zimmer der Alverdes kam mir plötzlich der Gedanke.“ Kreutzer machte ein verständnisloses Gesicht. „Was für ein Gedanke?“ „Haben Sie nicht die Schreibmaschine gesehen, die auf einem Hocker neben dem Mahagoni-Schreibtisch stand?“ „Nein.“ „Sie war nur flüchtig mit einigen Bogen Schreibpapier zugedeckt. Ein ganz neues Modell, perlgrau, Marke Erika.“ „Donnerwetter! Und Sie vermuten … Warum haben Sie das nicht sofort gesagt, Mensch? Das muß doch geprüft werden.“ „Ich wollte verhindern, daß die Alverdes den Braten riecht. Ohne Beweise hätten wir die Maschine nicht mitnehmen können, wenn sie sich geweigert hätte, sie herauszugeben, nicht wahr?“ „Das ist richtig.“ „Wenn wir dann später die Maschine hätten holen wollen, wäre sie vielleicht verschwunden gewesen. Ausreden dafür gibt es sicher genug: gestohlen, im Bus vergessen, ins Wasser gefallen und was weiß der Teufel. Vor Gericht macht so etwas zwar keinen besonders guten Eindruck, aber das Beweisstück ist eben nicht vorhanden, und so heißt es dann: Im Zweifelsfall ist für den Angeklagten zu entscheiden. In dubio pro reo.“ Kreutzer nickte. „Nun wollen Sie von Doktor Fritsche erfahren, ob die gestohlene Maschine perlgrau war.“ „Ja, das wäre ein Hoffnungsschimmer. Ich würde ihm 155
dann mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg diese Schriftprobe vorlegen können.“ Arnold griff in die Innentasche seines Jacketts und zog einen doppelt gefalteten Din-A4-Bogen hervor, der mit Schreibmaschinenschrift bedeckt war. Er reichte ihn zu Kreutzer hinüber, der ihm das Papier hastig aus der Hand riß. „Woher haben Sie das?“ fragte er. „Aus dem Papierkorb. Ich glaube kaum, daß sie es bemerken wird. Es lagen eine ganze Menge Bogen drin.“ Kreutzer lachte auf, und es schwang etwas Bitterkeit in seinen Worten mit. „Ich muß doch wirklich ein bißchen bekloppt sein. Alle fünf Minuten führt mich jemand an der Nase herum.“ Arnold wurde rot. „Es ist nicht mit Absicht geschehen. Ich wollte doch nur …“ „Schon gut“, unterbrach ihn Kreutzer, „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Wenn ich auf Ihre Vorstellung mit dem Geldstück hereinfalle, geschieht mir das ganz recht. Aber deshalb keene Feindschaft nich, wie meine Mutter früher sagte.“ Er lächelte und reichte Arnold den Bogen zurück. Dann beugte er sich vor und berührte den Fahrer leicht an der Schulter. „Fahre doch gleich bei der KTU vorbei, Franz“, sagte er. „Det jeht schon in Ordnung“, brummte Franz. „Ick hab’ ja keene Tomaten uff de Ohren.“ Als sie die Tür zu Dr. Fritsches Büro öffneten, schlug ihnen dicker Tabaksqualm entgegen. Fritsche saß im Lichtschein einer Lampe hinter seinem Schreibtisch, paffte blaue Wolken und sprach einen Text in ein Tonbandgerät, das neben ihm auf der Tischplatte stand. Er 156
hob blinzelnd den Kopf, als er die Geräusche der Eintretenden wahrnahm, und drückte die Aus-Taste. Die Bandspulen blieben mit einem leisen Zischen stehen. Durch die großen Fenster funkelten tief unten die Lichter der Stadt. Arnold drückte auf den Schalter neben der Tür, und die Deckenbeleuchtung flammte auf. „Aha, Sie sind es“, sagte Pritsche. „Wohl wieder etwas sehr Dringendes?“ „Nur eine Kleinigkeit. Können Sie feststellen, welche Farbe die von Perschke gestohlene Schreibmaschine hatte?“ fragte Arnold. „Sicher. Ich muß nur in der Kartei nachsehen. Einen Augenblick, bitte.“ Er stand auf und ging ins Nebenzimmer. Ein Schlüsselbund klapperte, dann quietschte eine Schranktür. Gleich darauf kehrte er mit einem länglichen Holzkästchen voller Karten zurück. Er stellte es auf den Tisch, nahm die Pfeife aus dem Mund, legte sie in den Aschenbecher und stieß seine Finger gewandt über die Kartenränder laufen. Dann zog er eine Karte zur Hälfte heraus, warf einen Blick darauf und sagte: „Grau.“ Kreutzer lachte erleichtert auf. „Na bitte, dann können Sie mit gutem Gewissen die Schriftprobe zeigen.“ Arnold gab Fritsche den gefalteten Bogen. „Wir möchten wissen, ob die Schrift von der gestohlenen Erika mit dieser hier übereinstimmt. Wie lange wird das dauern?“ Fritsche faltete den Bogen auseinander. „Fünf Minuten“, sagte er. „Die Schwierigkeit besteht darin, daß unser Schriftmuster von der nagelneuen Maschine stammt. Durch den Gebrauch bekommen aber die Typen erst ihre Eigenheiten, die eine Identifizierung er157
leichtern.“ Er griff nach seiner Pfeife, schob sie in den Mundwinkel und begann zu lesen. Plötzlich stutzte er und sah auf. „Das ist ja ein wissenschaftlicher Text. Merkwürdig!“ Dann lachte er, öffnete eine Schreibtischschublade und nahm nach kurzem Suchen eine rote Mappe heraus. „Beinahe hätte ich wieder einmal den Fehler gemacht, Schlüsse zu ziehen, ohne die Fakten zu kennen. Das kommt von meiner impulsiven Art. Leider werde ich mir das nie ganz abgewöhnen können. So, nun wollen wir uns an die Tatsachen halten.“ Er schlug die Mappe auf und legte den Qualitätskontrollschein der gestohlenen Erika neben den DIN-A4Bogen aus dem Papierkorb der Alverdes. Aus seiner Jackettasche holte er eine Lupe in einem Lederetui hervor und begann die Schriftproben mit umständlicher Sorgfalt zu betrachten. Ein langes Schweigen entstand. Kreutzer und Arnold sahen ihn eine Zeitlang erwartungsvoll an, doch da sein Gesicht völlig ohne Regung blieb, traten sie schließlich ans Fenster und betrachteten das abendliche Panorama der Havelstadt. Plötzlich sprang Fritsche heftig auf. Die beiden am Fenster fuhren herum. Er warf seine Lupe auf den Tisch und breitete triumphierend die Arme aus. „Ich gratuliere. Sie sind auf der richtigen Spur.“ Er wedelte mit dem Din-A4-Bogen in der Luft. „Diese Schrift stammt von der gestohlenen Maschine. Den endgültigen Beweis wird uns die mikroskopische Untersuchung bringen, doch ich bin schon jetzt so gut wie sicher. Die Übereinstimmungen sind so deutlich, daß es eigentlich gar keinen Zweifel gibt.“ 158
Kreutzer schlug seinem Kollegen in einer plötzlichen Aufwallung kräftig auf die Schulter und sagte ergriffen: „Heiliger Bimbam! Das nennt man einen Riecher!“
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20. Ein herbstlicher Geruch von welkenden Blättern und feuchter Erde lag in der Luft. Die Sonne brach golden hinter einer abziehenden Regenfront hervor, ihre schrägen Strahlen schimmerten in den Wassertropfen, die in den Zweigen der Parkbäume hingen und in den Spinnennetzen über den weiten Grasflächen. Eine lackschwarze Amsel hüpfte aus ihrem Unterschlupf, schüttelte das Gefieder und begann zaghaft zu zwitschern. Kreutzer blieb stehen und sah ihr zu, bis sie ihn bemerkte und erschrocken das Weite suchte. In der Stille des Vormittags wandelte er weiter über die knirschenden Kieswege zwischen dunkelgrünen, rechteckig geschnittenen Eibenhecken und weißen Marmorfiguren. Vor ihm erhob sich das Neue Palais. In zartem Grün glänzte das Kupferdach, bizarre Götterfamilien aus gelblichbraunem Sandstein zierten die rosagetönte Fassade neben den hohen gläsernen Türen. Auf den langen kiesbestreuten Terrassen waren Laternen postiert, sauber ausgerichtet wie Grenadiere. Hinter dem Palais lagen die Gebäude der Pädagogischen Hochschule. Kreutzer sah auf seine Uhr. Er hatte noch einige Minuten Zeit bis zum Ende der Vorlesung. Langsam überquerte er eine Allee mit pyramidenförmigen Eichen, ging dann an den Communs entlang, und als er dann ein rotes Backsteingebäude mit gewölbtem Glasdach erreichte, das sich in dieser Umgebung etwas eigenartig ausnahm und ihn an eine Bahnhofshalle aus der Gründerzeit erinnerte, strömte schon die studierende Jugend aus dem Portal ins Freie. Er wartete, bis er in einer erregt diskutierenden Grup160
pe, die vorwiegend aus jungen Damen bestand, Dieter Nikolai zu erkennen glaubte. Er trat auf ihn zu und bat ihn um ein Gespräch unter vier Augen. Dieter war etwa ein Meter achtzig groß, hatte eine sportliche Figur und ein freundlich-unbekümmertes Gesicht. Er trug einen leichten, dunkelblauen Pullover, aus dem ein weißer Hemdkragen hervorsah, olivgrüne Jeans mit weiten Hosenbeinen und ledergeflochtene Mokassins. Er musterte Kreutzer mit einem fragenden Blick und folgte ihm achselzuckend einige Schritte zur Seite. „Sie wissen sicher, daß mit dem Wagen Ihres Vaters vor kurzem ein Unfall verursacht wurde“, sagte Kreutzer. „Ich muß Ihnen in diesem Zusammenhang einige Fragen stellen.“ Ein Ausdruck der Verwirrung lief über Dieters Züge. „Was habe ich denn damit zu tun?“ fragte er. „Sind Sie von der Kriminalpolizei?“ „Ja. Wo können wir uns ein paar Minuten ungestört unterhalten?“ „Ich weiß nicht.“ Dieter sah sich ratlos um. Dann wies er mit einer Kopfbewegung auf ein Laubgehölz am Rande der Rasenfläche. „Am besten dort drüben, da steht eine Bank.“ „Einverstanden.“ „Viel Zeit habe ich aber nicht, in dreißig Minuten beginnt mein Gewi-Seminar.“ „Dreißig Minuten, das wird ausreichen“, beruhigte ihn Kreutzer. Die Bank war weiß gestrichen und stand mit zwei anderen in einem kleinen Musikpavillon, der von Rhododendrongebüsch umgeben war. 161
Sie setzten sich. Durch eine Lücke in den Sträuchern hatten sie Ausblick auf eine Wiese und ein ockergelbes Haus unter alten Kastanien, in dem einst die königlichen Pferde gehalten wurden. Leutnant Kreutzer schloß einen Moment die Augen und brachte seine Gedanken zurück auf die Anforderungen des Dienstes. „Herr Nikolai, wann waren Sie das letzte Mal bei Fräulein Alverdes?“ fragte er. Dieter sah ihn verwundert an. „Sagten Sie mir nicht, sie wollten etwas über den Unfall wissen?“ „Das steht damit im Zusammenhang. Und da Sie wenig Zeit haben, wird es am besten sein, wenn Sie meine Fragen ohne viel Umschweife beantworten.“ „Ja, schon gut. Es war ja nur eine Frage.“ „Sie sind wohl sehr empfindsam? Also wann war das?“ „Vorgestern.“ „Was wollten Sie bei ihr?“ „Nichts Besonderes. Ich wollte mich mit ihr unterhalten.“ „Das war doch wohl nicht alles?“ sagte Kreutzer. Dieter machte ein bekümmertes Gesicht. „Na, meinetwegen. Ich bin eben in Brigitte verliebt. Wir sind volljährig und nicht verwandt. Wieso also geht das die Kriminalpolizei etwas an?“ „Ihre Gefühle zu Fräulein Alverdes interessieren uns überhaupt nicht“, sagte Kreutzer. „Was denn sonst?“ „Hatten Sie ihr am Sonntag etwas mitgebracht?“ „Mitgebracht? – Ach so, ja. Meine Schreibmaschine. Brigitte wollte sie geliehen haben, um für ihren Chef ir162
gend etwas abzuschreiben.“ „Woher haben Sie diese Schreibmaschine, Herr Nikolai?“ „Ja, wissen Sie“, Dieter grinste und zuckte ein wenig verlegen die Schultern, „das ist eine verrückte Geschichte. Genaugenommen habe ich sie gefunden.“ „Würden Sie mir diese verrückte Geschichte etwas näher erklären?“ „Vor ein paar Monaten, es muß Anfang oder Mitte Juli gewesen sein, ging ich abends noch einmal in das Wartezimmer meines Vaters. Ich wollte mir irgendeine Zeitschrift holen. Da entdeckte ich unter einem der Stühle die Schreibmaschine. Ich machte sie auf und sah sie mir an. Sie war fast neu. Ich war schon lange scharf auf eine Reiseschreibmaschine, weil damit der ganze Schreibkram fürs Studium viel sauberer aussieht und auch die Kartei für meine Fotosammlung. Ich fragte meinen Vater, aber dem gehörte sie nicht. Auch Karla, unser Küchenwunder, hatte keine Ahnung. Am nächsten Tag nahm ich die Singer ins Gebet, Vaters Sprechstundenhilfe; ebenfalls ohne Ergebnis. Sie wußte nicht, wem die Maschine gehörte und wie sie ins Wartezimmer gekommen war. Wir machten einen Zettel, Schreibmaschine gefunden und so weiter, den wir am Gartentor und im Wartezimmer aushängten. Die Singer befragte außerdem alle Patienten, die an diesem Tag in der Sprechstunde waren, aber keinem wollte das Ding gehören. Als sich nach vier Wochen der Eigentümer noch nicht gemeldet hatte, nahm ich die Sache als göttliche Fügung, brachte die Maschine in mein Zimmer und benutzte sie seitdem.“ „Das klingt in der Tat etwas verrückt“, sagte Kreutzer, und das Mißtrauen in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Doch wenn wir einmal voraussetzen, daß Ihre Ge163
schichte stimmt, dann haben Sie zumindest eine Fundunterschlagung begangen.“ „Du lieber Himmel“, seufzte Dieter und blickte mit einem Ausdruck der Verzweiflung nach oben, „was hätte ich denn noch machen sollen? Mit dem Ding zur Polizei rennen, nur um es wieder loszuwerden?“ „Es gibt ein Fundbüro.“ „Schon möglich. Aber ich habe keine Ahnung, wo. Außerdem glaubte ich, wirklich alles getan zu haben, damit der Eigentümer seine Maschine zurückerhalten konnte. Doch ich hatte das Gefühl, er wollte sie gar nicht wiederhaben. Eine Schreibmaschine ist ja kein Hosenknopf, man muß sich daran erinnern können, wo und wann man sie verloren hat, und wenn man Wert darauf legt, dann sucht man auch danach. Da das aber nicht geschehen ist, sollte man annehmen dürfen, daß der Eigentümer sie eben nicht wiederhaben wollte. Holen Sie sich das verdammte Ding.“ „Das haben wir bereits getan. Gestern abend wurde die Maschine bei Fräulein Alverdes beschlagnahmt.“ Dieter Nikolai hob nur die Augenbrauen und sah in die Ferne. Kreutzer ärgerte sich. Er hatte eigentlich eine andere Reaktion erwartet. „Kann ich nun gehen, oder steht auf Fundunterschlagung Zuchthaus?“ Kreutzer betrachtete ihn mit einem nachdenklichen Blick. Was ist das, dachte er, der Protest eines Menschen, der sich zu Unrecht beschuldigt fühlt, oder Frechheit? Laut sagte er: „Wir sind noch nicht ganz fertig. Waren Sie nicht auch vorigen Mittwoch, also am Abend des Unfalls, bei Fräulein Alverdes?“ „Ich glaube, ja.“ 164
„Von wann bis wann waren Sie dort?“ „Ungefähr von halb sechs bis acht Uhr abends.“ „Sind Sie nicht kurz vor halb acht fortgegangen?“ „Das kann schon sein, so genau erinnere ich mich nicht mehr“, sagte Dieter. „Was haben Sie getan, nachdem Sie Fräulein Alverdes verlassen hatten?“ „Nach Hause gefahren, glaube ich.“ „So? Nach Auskunft der Haushälterin kamen Sie aber erst gegen neun Uhr dort an. Wieso brauchten Sie eineinhalb Stunden für eine Strecke, für die man normalerweise nur zwanzig Minuten benötigt?“ Dieter stutzte und dachte nach. „Ach ja, ich erinnere mich. Ich bin dann noch ein bißchen spazierengefahren an diesem Abend. Ich fahre nämlich sehr gern.“ Kreutzer starrte einen Augenblick vor sich hin, dann fragte er Dieter: „Was für Kleidung trugen Sie denn an diesem Abend?“ „Diese ganze Fragerei kommt mir lächerlich vor. Sie tun ja gerade, als hätten Sie mich irgendwie in Verdacht. Also gut. Ich glaube, ich hatte an diesem Tage an, was ich meistens anhabe: grauen Anzug, Pullover, olivgrünen Dederonmantel.“ „Wir haben gehört“, setzte Kreutzer fort, „daß Sie zuweilen den Wartburg fahren. Ist Ihr Vater damit einverstanden?“ Dieter schwieg. Er zog ein Schlüsselbund aus der Tasche und begann damit zu spielen. Endlich sagte er zögernd: „Nein, er ist nicht einverstanden. Er weiß es gar nicht.“ „Wie kommen Sie an den Wagen heran?“ „Ich fahre selten, eigentlich nur, wenn er verreist ist.“ 165
„Läßt er Ihnen die Schlüssel zu Haus?“ „Er nimmt sie immer mit“, sagte Dieter widerwillig, „und da habe ich mir eben …“ Er stockte. Kreutzer wartete. Er sah, wie Dieter unruhig auf der Bank hin und her rutschte und seine Hände so nervös geworden waren, daß sie kaum noch das Schlüsselbund festhalten konnten. „Ich habe mir ein paar Ersatzschlüssel besorgt“, brachte er schließlich heraus. „Wie haben Sie das angestellt?“ „Ganz einfach. Ich bin öfter bei einem Kumpel, Bruno Hecht heißt er. Sein Vater hat eine Autowerkstatt. Nach Feierabend bauen wir da an unseren Motorrädern, wir sind doch beide im Motorclub des ADMV. In der Werkstatt hängen ganze Bündel von Wartburg-Schlüsseln, da habe ich mir eben die passenden herausgesucht.“ „Was machen Sie mit dem Kilometerzähler nach Ihren Schwarzfahrten?“ „Das wissen Sie auch? Ich möchte bloß wissen, wie Sie das herausgekriegt haben.“ Er steckte das Schlüsselbund ein und rieb sich die Stirn. „Na, egal“, sagte er. „Also, den Tacho drehe ich mit einer Handbohrmaschine zurück. Die Welle wird unten an der Antriebsschnecke abgeschraubt, das Ende in das Bohrfutter eingespannt, und dann wird linksherum gedreht. Der Kilometerzähler läuft dadurch rückwärts. Es dauert nur ein paar Minuten, dann ist der Kilometerstand erreicht, den der Tacho vor der Fahrt hatte, und die Welle wird wieder angeschraubt.“ „Sie lassen sich allerhand einfallen.“ Dieter winkte geringschätzig ab. „Das weiß doch jeder, der ein bißchen was von Autos versteht. Man könnte auch vor der Fahrt die Welle abschrauben, aber ohne Ta166
cho macht mir das Fahren nicht soviel Spaß.“ „Wenn nun unterwegs etwas passieren würde? Es ist doch verdammt leichtsinnig und verantwortungslos, ohne Fahrerlaubnis einen Wagen zu fahren.“ Dieter beugte sich nach vorn und zog eine schwarze Ausweishülle aus der Gesäßtasche. Er klappte sie auf und zeigte Kreutzer eine Fahrerlaubnis. „Ich habe die Prüfung längst abgelegt, aber weil mein Vater dagegen war, mußte ich das für mich behalten.“ Kreutzer nahm ihm die Fahrerlaubnis aus der Hand und sah sie sich an. Es stimmte. Er klappte die Hülle zu und reichte sie ihm zurück. „Am Abend des Unfalls sind Sie mit dem Wagen bei Fräulein Alverdes gewesen, nicht wahr?“ „Was sagen Sie da?“ Dieter sah ihn bestürzt an. Er sprang auf. „Das ist nicht wahr! Wer hat Ihnen diesen Blödsinn erzählt?“ „Wie sind Sie sonst nach Wilhelmshorst gekommen?“ „Mit meinem Motorrad natürlich.“ „Was ist das für eine Maschine?“ „Eine zweihundertfünfziger Jawa.“ „In welcher Farbe?“ „Dunkelblau, hellgelbe Sitzbank.“ „Ihr Sturzhelm, ist der zufällig rot?“ „Ja. Aber ich verstehe nicht, was das bedeuten soll.“ „Und eine graue Lederkombination besitzen Sie auch?“ „Natürlich. Was ist daran Besonderes?“ Kreutzer gab keine Antwort. In seinem Gesicht spannten sich die Muskeln, und er sah mit gerunzelter Stirn zu Boden. „Kennen Sie einen Wolf gang Perschke? Er ist etwa siebzehn Jahre alt und wohnt in Teltow.“ Dieter schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Persch167
ke? Der Name sagt mir gar nichts. Woher sollte ich den kennen?“ „Es war nur eine Vermutung“, sagte Kreutzer. „Wir werden Ihre Aussagen gründlich prüfen, Herr Nikolai. Falls Sie mir nicht in allen Punkten die Wahrheit gesagt haben, können Sie mich jederzeit in meinem Büro in der Bezirksbehörde erreichen, um sich zu korrigieren. Denken Sie einmal in Ruhe darüber nach. Sie sind noch ein sehr junger Mensch, da kann man schon mal einen Fehler machen. Schlimm wird es erst, wenn man nicht den Mut findet, so etwas einzugestehen. Nun noch etwas anderes: Wir gehen jetzt hinüber zur Hochschule. Sie müssen sich bei Ihrem Seminarleiter für einige Stunden abmelden. Ich brauche Sie für eine Gegenüberstellung. Außerdem möchte ich mir in Ihrer Anwesenheit die Fotoausrüstung ansehen, die Sie zu Hause haben.“ Er sah Dieter forschend an. „Nun, wie ist es, möchten Sie mir noch etwas sagen?“ Kreutzer hatte sich bei seinen letzten Worten erhoben. Sie standen sich gegenüber und sahen sich in die Augen. Dieter hielt dem Blick des Älteren stand. In seinem Gesicht war Besorgtheit, gemischt mit Verwunderung und einer Spur Trotz. Schuldbewußtsein oder Zeichen von Angst waren nicht zu erkennen. „Nein“, sagte er fest, „ich habe Ihnen nichts weiter zu sagen. Außer, daß ich nicht begreife, was Sie überhaupt von mir wollen.“ „Befindet sich unter Ihrer Fotoausrüstung eine Pentina FM?“ „Ganz ausgeschlossen. Ich habe nur eine Kamera. Das ist eine Exakta Varex.“ Kreutzer sah ihn noch einen Augenblick scharf und prüfend an. 168
„Na schön“, sagte er dann, „wir werden sehen.“ Er wandte sich um, verließ den Musikpavillon und ging durch die Rhododendronbüsche hinüber auf den Hauptweg, der zu den Schulgebäuden führte. Dieter schob die Hände in die Hosentaschen und folgte ihm.
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21. „Es gibt keinen Zweifel“, sagte Kreutzer, „die Schreibmaschine von Dieter Nikolai ist dieselbe, die vor sechs Monaten im Konsum-Warenhaus gestohlen wurde. Die Produktionsnummern auf dem Kontrollschein und der Maschine stimmen überein. Mit dieser Maschine wurde der Briefumschlag geschrieben, den der falsche Doktor Nikolai bei Kranepuhl zurückließ. Die KTU hat das in einer mikroskopischen Vergleichsprüfung noch einmal eindeutig nachgewiesen. Dieter bestreitet alles. Er will weder die Erika aus der Laube geholt noch den Umschlag geschrieben haben. Von dem Betrug an Kranepuhl weiß er nichts. Was halten Sie davon, Arnold?“ Arnold rührte nachdenklich in seiner Kaffeetasse, ehe er antwortete. Sie saßen in einem kleinen Restaurant in Teltow, das zu dieser frühen Nachmittagsstunde noch fast leer war. „Zunächst einmal müßte ich wissen, was die Gegenüberstellung mit Kranepuhl und die Befragung der Sprechstundenhilfe ergeben hat.“ „Keinen überzeugenden Beweis. Herr Kranepuhl war nicht sicher. Er hielt es zwar für möglich, daß Dieter der Motorradfahrer gewesen ist, aber einen Eid wollte er darauf nicht leisten. Während der wenigen Minuten damals auf dem Hof hätte er ihn nur flüchtig betrachtet und sich das Gesicht nicht eingeprägt, da er ja nicht ahnen konnte, welche Bedeutung diese Begegnung noch einmal haben würde. Das Ergebnis ist ein ‚Vielleicht‘. Es reicht nicht aus, Dieter zu überführen, doch es spricht ihn auch keineswegs frei. 170
Zum zweiten Punkt: Die Sprechstundenhilfe, Fräulein Singer, bestätigt im wesentlichen Dieters Aussage über das Auffinden der Schreibmaschine. Doch gab sie an, sie habe nach dem Ende der Sprechstunde das Wartezimmer aufgeräumt, ohne dabei die Schreibmaschine zu bemerken. Sie hält es für recht unwahrscheinlich, daß zu dieser Zeit die Maschine schon im Zimmer war, doch festlegen will sie sich nicht. Wir haben also drei Möglichkeiten zur Auswahl. Entweder hat einer der Patienten die Maschine zurückgelassen, und Fräulein Singer hat das beim Aufräumen übersehen, oder jemand, der zum Hause gehört oder zumindest dort Zutritt hat, stellte sie nach der Sprechstunde dort ab. Die dritte Möglichkeit wäre, Dieter hat die Maschine selbst untergeschoben, um sich eine Art Alibi zu verschaffen. Wenn er sie wirklich aus der Laube gestohlen hatte, konnte er sie ja nicht einfach in sein Zimmer bringen. Er brauchte zumindest den Hausangehörigen gegenüber eine Erklärung, wie sie in seinen Besitz gekommen war. Von diesem Standpunkt aus gesehen, ist die Idee mit dem Wartezimmer gar nicht so dumm. Die Beteiligten fanden es zwar etwas seltsam, daß ein Mensch seine nagelneue Schreibmaschine einfach vergessen hatte und nicht mehr abholte, aber gegen Dieter richtete sich nicht der geringste Verdacht. Ich habe mir übrigens die Liste der Patienten angesehen, die an diesem Tage in Nikolais Praxis waren. Es ist nicht einer darunter, der mit unserem Fall irgendwie in Verbindung steht.“ „Was ergab die Durchsuchung von Dieters Fotolabor?“ fragte Arnold. „Nichts, was uns weiterbringen würde. Von einer Pentina FM war keine Spur zu entdecken. Nachdem ich ihn 171
danach gefragt hatte, war er keine Minute mehr allein und hatte also nicht die Möglichkeit, die Kamera noch außer Reichweite zu schaffen. Aber er ist kein Esel. Spätestens nach unserem ersten Besuch im Hause seines Vaters mußte er mit der Möglichkeit einer Haussuchung rechnen. Wenn die Pentina in seinem Besitz war, hatte er genügend Zeit, sie gut zu verstecken.“ „Wenn er die Kamera versteckt hat, hätte er doch logischerweise erst recht auch die Schreibmaschine verschwinden lassen müssen.“ „Das hat er auch getan. Er brachte sie zur Alverdes. Er mußte annehmen, daß sie dort sicher aufgehoben war. Mit Ihrem sechsten Sinn konnte er natürlich nicht rechnen. Und trotz allem war es noch ein Zufallstreffer. Wenn die Alverdes nicht gerade an diesem Tage krank gewesen wäre, hätten wir im Institut mit ihr gesprochen, und die Erika wäre Ihnen nie zu Gesicht gekommen.“ Arnold trank seinen Kaffee aus und stellte das Tablett mitsamt der Kanne auf den leeren Nebentisch. „Das stimmt“, sagte er. „Es paßt auch in ihre Aussage, die sie gestern abend machte, als ich die Maschine abholte. Sie sagte, Dieter hätte ihr die Erika angeboten, als sie erwähnte, daß sie für Weintraut einen Bericht abschreiben müßte und im Institut einfach keine Zeit dazu finden würde. Haben Sie Doktor Nikolai danach gefragt, warum er mir gestern, als ich die Schriftproben bei ihm machte, nichts von der Schreibmaschine seines Sohnes gesagt hat? Ich habe mich doch ausdrücklich erkundigt, ob noch weitere Maschinen im Hause sind.“ Kreutzer nickte. „Ja, seine Erklärung war simpel, aber nicht zu widerlegen. Er sagte, er hätte den Vorfall, der schon ein halbes Jahr zurückliegt und von dem er damals 172
nur flüchtig erfuhr, schlicht und einfach vergessen.“ „Nun, da kann man nichts machen, man muß es ihm halt abkaufen. Es ist ja kaum anzunehmen, daß in diesem Falle Vater und Sohn gemeinsam krumme Wege gehen.“ „Das glaube ich auch nicht“, sagte Kreutzer. „Doch es wäre gut, wenn wir uns erst einmal einen Überblick verschaffen über alle Punkte, die gegen Dieter Nikolai sprechen. Zunächst also die Fakten: Er besaß genauen Einblick, wann sein Vater Nachtdienst hatte; er kann den Wartburg fahren und hatte dazu die passenden Schlüssel; in seinem Besitz befand sich die Schreibmaschine, die von den Betrügern benutzt wurde; er hat eine dunkelblaue Jawa, einen roten Sturzhelm und eine graue Lederkombination; Kranepuhl hält es für möglich, daß er einer der Betrüger war; er kann nicht glaubwürdig erklären, wie die Erika in seinen Besitz gelangte; er hat kein Alibi für die Zeit, in der die Betrüger bei Kranepuhl an der Arbeit waren. Aus diesen Fakten kann man ohne besondere Schwierigkeiten folgendes Tatbild konstruieren: Dieter Nikolai benutzt heimlich den Wartburg seines Vaters. Da er dafür und für seine kostspieligen Liebhabereien wie Fotolabor und Motorrad Geld braucht, kommt er von allein oder durch die Anregung eines anderen auf den Einfall, den Wagen und den Namen seines Vaters zu einem einträglichen Betrugsmanöver zu benutzen. Mit seinem Komplizen bereitet er die Tat sehr umsichtig vor. Sie geben die Zeitungsannonce auf, verabreden danach den Besuch bei Kranepuhl, nachdem sie genau festgestellt haben, wann 173
sein Vater Bereitschaftsdienst hat, fabrizieren mit der Erika den Briefumschlag, der es dem falschen Nikolai erspart, unter Umständen seine Anschrift mit der Hand schreiben und dadurch einen Hinweis auf seine Person geben zu müssen, und der zweitens bei Kranepuhl den Eindruck der Echtheit des falschen Nikolai verstärkt.“ „Einen Moment, bitte! Der Briefumschlag hatte doch eine Briefmarke und den echten Poststempel. Er muß also in Brandenburg in den Kasten geworfen worden sein.“ „Nicht unbedingt. Auf Wunsch stempelt man Ihnen an jedem Postschalter die Marken auf einem leeren Briefumschlag zu Sammlerzwecken. Es besteht natürlich auch die Möglichkeit, daß sich Dieter den Brief heimlich aus dem häuslichen Briefkasten herausholte. Er wußte ja, wann er kommt. Und den Brief nach Brandenburg zu schaffen war auch kein Kunststück. Mit einem Motorrad erledigt man das in einer guten Stunde.“ „Ja, das leuchtet mir jetzt ein.“ „Gut, fahren wir also in unserer Hypothese fort: Am Abend der Tat hält sich Dieter zunächst bei der Alverdes auf, die nur wenige Kilometer entfernt vom Hause Kranepuhls wohnt. Kurz vor seinem Erscheinen bei Kranepuhls verläßt er die Alverdes. Das verschafft ihm zwar kein Alibi, aber falls ihn jemand zur Tatzeit in dieser Gegend beobachtet hätte, würde sein Besuch bei der Alverdes dafür eine brauchbare Erklärung abgeben. Unsere Nachforschungen, die wir nach dem Unfall betrieben, brachten den Betrug vorzeitig ans Licht. Da sich unser Verdacht zunächst auf Doktor Nikolai richtete, hatte Dieter Zeit, die Schreibmaschine aus dem Haus zu schaffen und alle Spuren, so gut es in der Eile ging, zu verwischen. 174
Folgende Fragen sind offen und müssen geklärt werden: Wer ist der falsche Nikolai? Gibt es irgendeine Verbindung zwischen Dieter Nikolai und Wolfgang Perschke? Wenn das zutrifft, hatte Dieter die Möglichkeit, die Schreibmaschine aus der Laube zu stehlen? Wo ist die Pentina FM geblieben? Wer hat die Erika im Wartezimmer abgestellt und wozu? Welche Rolle spielt Brigitte Alverdes? Warum hat sie uns den Hinweis gegeben, daß Dieter heimlich den Wartburg benutzt und sich dazu Ersatzschlüssel beschaffte? Ist ihre Aussage wahr, daß Dieter am Abend der Tat nicht die graue Lederkombination, sondern einen olivgrünen Regenmantel trug, oder hat sie möglicherweise diese Aussage mit Dieter verabredet?“ Kreutzer schwieg, weil die Kellnerin kam und das Kaffeegeschirr forträumte. Nachdem sie gegangen war, fragte er: „Was haben Sie über Wolfgang Perschke erfahren können?“ „Eine ganze Menge“, sagte Arnold. „Perschke lebte vor dem Einbruch bei seinen Großeltern in Teltow, Ruhlsdorfer Straße achtzehn. Er besuchte die Volksschule bis zur siebenten Klasse. Seine Lehre als Gärtner in einer GPG in Ruhlsdorf mußte er abbrechen. Er wurde wegen Arbeitsbummelei mehrmals verwarnt und schließlich hinausgeworfen. Danach war er als Hilfsarbeiter bei einem Kohlenhändler beschäftigt. Zu dieser Zeit soll er Mitglied im Motorsportclub Teltow gewesen sein. Seit dem vierzehnten Mai dieses Jahres befindet er sich im Jugendwerkhof Lehnin. Dort hat er sich bisher ordentlich 175
geführt, sich nie unerlaubt entfernt und auch in seiner Arbeit keinen Anlaß zu Klagen gegeben.“ Kreutzer nickte. „Gut, dann wollen wir sehen, was wir von seinen Großeltern erfahren können.“
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22. Das Mietshaus war ein düsterer, schmalbrüstiger Kasten, an dessen kahler Giebelseite große Flecken Putz abgeblättert waren. Einsam und trostlos ragte es zwischen einem Stück Gartenland und einem Schrottplatz voller verrosteter Landmaschinen und den Resten alter Ackerwagen in die Höhe. Das Ehepaar Perschke wohnte im vierten Stock unter der Dachschräge. Eine kleine Frau führte Kreutzer und Arnold in das Zimmer. Sie hatte weiße Haare und ein welkes Gesicht. „Alfred“, sagte sie, „hier sind wieder zweie von der Polizei, die wegen unserm Wolfgang kommen.“ In einem Ohrenstuhl neben dem Fenster saß ein Mann in einem schwarzen Anzug, zur Hälfte versteckt hinter einer Zeitschrift für Philatelie. Er ließ langsam die Zeitung sinken. Es war ein gebrechlicher alter Mann. Er warf einen Blick über seine Brillengläser auf die beiden Männer und sagte krächzend: „Wir haben mit dem Lumpen nichts zu tun. Er tritt nie wieder über meine Schwelle. Wenn er getürmt ist, hier hat er sich nicht blicken lassen. Sie sind die vier Treppen umsonst ’raufgeklettert. Mehr kann ich nicht sagen.“ Er drehte den Besuchern die Schulter zu, kniffte die zerlesene Zeitung zusammen, nahm mit seiner zittrigen braunfleckigen Hand einen Kugelschreiber aus der Brusttasche und begann Wörter zu unterstreichen. Das Zimmer war so mit Möbeln vollgestopft, daß man sich kaum bewegen konnte. An der einen Wand stand das Doppelbett mit roten Steppdecken. Darüber hing unter 177
Glas ein verblaßter Farbdruck, der Christus auf dem Esel zeigte, wie er durch eine Palmwedel schwenkende Menge in eine Stadt einzog. Die Ecke neben dem Bett nahm ein dunkelgrüner Kachelofen ein, dessen verschnörkelter Aufsatz bis unter die Zimmerdecke reichte. Ein Plüschsofa, ein Tisch und zwei hochlehnige Stühle standen auf der anderen Seite des Zimmers. Zwischen Bett und Tisch blieb nur ein schmaler Durchgang. Auf dem Vertiko neben dem Plüschsofa stand ein Volksempfänger, und die Stelle mit dem Hakenkreuz war mit einem MampeElefanten aus weißem Kunststoff überklebt worden. Frau Perschke rückte für Kreutzer und Arnold die zwei Stühle zurecht. „Mein Mann meint das gar nicht so“, murmelte sie. „Er hat es nicht leicht gehabt mit dem Jungen.“ „Ich will nichts mehr hören von dem Verbrecher“, rief der Alte. „Aber Alfred!“ klagte seine Frau. Mit einer wütenden Gebärde warf er die Zeitung auf den Boden. „Ich sage, er ist ein Schweinehund, genau wie sein Vater!“ Sein Gesicht versteinerte. Er drehte den Kopf dem Fenster zu und sah durch den Spalt in den Tüllgardinen hinaus auf die kahlen Felder und die dahinterliegenden Wiesen. Frau Perschke ließ sich auf die Kante des Sofas sinken. Sie legte die Hände im Schoß zusammen und starrte darauf nieder. Dann begann sie mit dünner, klagender Stimme zu sprechen. „Sie können es ruhig wissen. Wir reden nicht gern davon, es tut zu weh, wissen Sie, und damals wurde schon genug darüber geklatscht. Ja, unsere Erna hat sich das Leben genommen, kaum daß der Junge geboren war. Sie war noch zu jung, und sie konnte die Schande nicht ertragen und die Vorwürfe; Alle zeigten 178
mit dem Finger auf sie. Mein Mann, der war sein Leben lang unbescholten, und dann mußte so etwas kommen. Er konnte es nicht verwinden. Vielleicht war er zu streng zu ihr, und ich habe ihr auch immer bloß die Ohren vollgejammert, die Wohnung war so klein und das Essen knapp. Da hat sie sich dann vor den Zug geworfen. Schuld haben wir genauso wie Erna selbst, ich und mein Mann.“ „Quatsche nicht von meiner Schuld“, sagte der Alte heftig. Seine Hände krampften sich in die Weste, der fast lippenlose Mund bebte. Sein Unterkiefer war in ruheloser Bewegung. „Mich geht das nichts an, mich nicht. Ich habe fünfzig Jahre ehrlich meine Arbeit gemacht und bin keinem was schuldig. Ich lasse mir nichts nachreden, auch von dir nicht, merk dir das endlich.“ Er atmete schwer und lehnte sich schwankend in seinem Ohrenstuhl zurück. Aus den blaßblauen Augen hinter den dicken Brillengläsern liefen zwei Tränen über seine hageren Wangen. Seine Frau sah ihn an und blickte dann rasch wieder auf die Hände in ihrem Schoß. In ihrem vergrämten Gesicht hatte noch immer das Mitleid Platz. Sie seufzte und sagte dann leise: „Er hat ja recht, so wie er darüber denkt. Wenn man alt wird, sieht man ein, daß jeder recht hat – aus seiner Sicht. Es ist alles Gottes Wille, wir müssen uns fügen und unser Los tragen. Gegen das Schicksal ist der Mensch machtlos.“ „Wir sind nicht gekommen“, sagte Kreutzer, „um Ihnen neuen Kummer zu bereiten. Soweit wir wissen, führt sich Wolfgang ordentlich. Aber Sie werden sich erinnern, daß damals aus der Laube eine Schreibmaschine und ein Fotoapparat spurlos verschwunden sind. Diesen Dingen sind wir jetzt auf der Spur, und wir möchten Sie deshalb 179
um einige Auskünfte bitten.“ Der Alte sah verbissen aus dem Fenster, aber die Frau nickte. Kreutzer fuhr fort: „Wissen Sie, ob Wolfgang mit einem jungen Mann bekannt war, der Dieter Nikolai heißt? Haben Sie diesen Namen schon einmal gehört?“ Frau Perschke sah nachdenklich auf ihre Hände und schüttelte dann den Kopf. „Ich kann mich nicht erinnern.“ „War Wolfgang nicht im Motorclub des ADMV?“ „Ja, das war er. Er war schon immer ganz vernarrt in die Motorräder, hat sogar mal ein Diplom mit nach Hause gebracht. Axel, sein Freund, der hatte ein Motorrad, und mit dem zusammen ist er immer hingegangen. Aber dann haben sie sich verkracht, und Wolfgang hatte keine Lust mehr, weil er ja selber kein Motorrad besaß. Ohne wollte er nicht hin, er mußte immer betteln, bis ihn die anderen mal fahren ließen.“ Sie erhob sich, ging zum Vertiko und öffnete das breite Schubfach über der Doppeltür. Sie brachte eine Urkunde zum Vorschein und reichte sie mit sichtlichem Stolz Kreutzer, der sie betrachtete und dabei so hielt, daß auch Arnold einen Blick darauf werfen konnte. Diese Urkunde war eine Auszeichnung des ADMV, Motorsportclub Teltow, die dem Sportfreund Wolfgang Perschke den zweiten Platz beim Wettbewerb um gute Mitarbeit bescheinigte. Kreutzer stand auf und trat zu Frau Perschke, die noch immer im Vertiko kramte. Er legte die Urkunde auf den Volksempfänger und blickte dabei ganz beiläufig in die geöffnete Schublade. Zwischen allerlei Papieren lag auch ein Häufchen Fotografien, aus dem ein Stück einer Farbaufnahme hervor180
sah. Sie zeigte eine Gruppe junger Leute in Lederkombinationen mit Geländesportmaschinen. Er fragte, ob er sich dieses Bild einmal etwas näher ansehen dürfe. Frau Perschke nickte verständnislos, und er zog es aus dem Stapel hervor. Es war eine Gruppenaufnahme der Mitglieder des Motorsportclubs bei einer Geländesportveranstaltung im Oktober des vergangenen Jahres, wie die Bildunterschrift in Druckschrift besagte. „Ist Wolfgang auch dabei?“ fragte er und gab Frau Perschke die Aufnahme. Ihre Augen glitten suchend über das Bild. Dann deutete sie mit dem Finger auf ein Gesicht in der vorletzten Reihe. „Das hier ist er“, sagte sie, „der mit den schwarzen Sternen auf dem weißen Sturzhelm.“ Kreutzer beugte sich über ihre Schulter, und Arnold trat von der anderen Seite neben sie. Nach einem Augenblick des Schweigens sagte Kreutzer plötzlich: „Na also, das ist er ja, unser Sportfreund.“ Vorn links, hinter einer Moto-Cross-Maschine, die flach auf dem Rasen lag, kniete Dieter Nikolai in grauer Lederkombination, ein Tuch um den Hals geknotet und den roten Sturzhelm, durch dessen Riemen ein Paar Stulpenhandschuhe gesteckt waren, unter dem Arm. „Dürfen wir uns diese Aufnahme für ein paar Tage mitnehmen?“ fragte Kreutzer. Frau Perschke machte ein abweisendes Gesicht und streckte rasch ihre Hand aus, um das Foto an sich zu nehmen. Dann ließ sie den Arm sinken und sagte zögernd: „Also gut, nehmen Sie es mit. Aber Sie müssen mir versprechen, es zurückzugeben. Es ist ein Andenken, und wir haben so wenig Bilder, wo der Junge drauf ist.“ 181
„Keine Sorge, Frau Perschke. Wir machen nur eine Reproduktion und schicken es Ihnen dann sofort zurück“, versprach ihr Kreutzer. Er tippte auf Dieter Nikolai. „Ist Ihnen das Gesicht bekannt? Haben Sie den jungen Mann vielleicht schon einmal in Begleitung von Wolfgang gesehen?“ Frau Perschke nahm eine Brille mit dünnen, biegsamen Bügeln aus dem Schubfach, setzte sie auf und betrachtete die Aufnahme. „Ich glaube nicht“, sagte sie dann. „Es kamen nicht viel Freunde mit zu uns herauf. Es ist zu eng hier, und mein Mann hat es auch nicht gerne gesehen. Der einzige, der manchmal Wolfgang abholte, das war der Axel. Aber dieser hier, der war noch nie bei uns.“ „Nicht so schlimm“, meinte Kreutzer. „Das Foto beweist uns, daß sie sich zumindest im Klub getroffen haben und sich also kennen müssen. Wenn Sie nichts dagegen haben, würden wir uns gern einmal Ihr Laubengrundstück ansehen, Frau Perschke.“ Der alte Mann am Fenster erwachte plötzlich aus seiner Lethargie. Er wandte den Kopf, räusperte sich rasselnd und sagte: „Das ist mein Grundstück, da habe ich zu bestimmen.“ „Würden Sie uns die Erlaubnis geben, das Grundstück zu betreten?“ fragte Kreutzer. Der Alte fixierte ihn über die Brillengläser hinweg. Sein Unterkiefer war in ruheloser Bewegung. Sein Gesicht verlor den verbissenen Ausdruck. „Die Schlüssel hängen in der Küche am Brett“, sagte er. „Gib sie ’raus, Frau.“ Frau Perschke ging hinaus, und ein Schwall Waschlaugendunst drang ins Zimmer. 182
„Wir sind zu alt für den Garten“, begann er plötzlich. „Früher war er prima, aber jetzt verkommt und verwildert alles. Ich kann die schwere Arbeit nicht mehr machen. Und pachten will auch keiner. Die Leute werden bequem, sobald der Bauch voll ist.“ Mit den Schlüsseln in der Hand kehrte Frau Perschke aus der Küche zurück. Es waren zwei, ein langer für die Laubentür und ein kleiner verzinkter für das Vorhängeschloß am Tor. Sie überreichte die Schlüssel Kreutzer, der sie einen Augenblick auf der flachen Hand hielt und dann einsteckte. „Würden Sie uns sagen, wie man am besten hinkommt?“ fragte er. „Es ist in Stahnsdorf, Grüner Weg einundsechzig. Früher sind wir das Stückchen gelaufen, gleich hier hinten über die Felder.“ Er machte eine vage Handbewegung zum Fenster. „Heute können Sie mit dem Omnibus fahren. Bis zum Gasthof ‚Materne‘, da steigen Sie aus und gehen links den Hügel ’rauf. Dann sehen Sie schon die Kleingärten, und in den zweiten Weg gehen Sie wieder links ’rein. Das ist der Grüne Weg. Vorn, die ersten Meter, liegt schwarze Schlacke, dann kommt Sandweg und Lehm. Das Grundstück ist ein Ende ’rein, vielleicht fünfhundert Meter auf der linken Seite. Am Tor ist die Nummer, Sie können es gar nicht verfehlen.“
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23. Ein Zaun aus braunem Stangenholz grenzte die Vorderfront des Grundstücks zum Weg hin ab. Einige der hölzernen Stützpfosten waren dicht über dem Boden durchgefault. An diesen Stellen neigte sich der Zaun nach hinten gegen die wildwuchernden Sträucher, die ihn vor dem Umfallen bewahrten. Die Gartentür hing so schief im Rahmen, daß sie mit dem alten Kastenschloß nicht mehr zugesperrt werden konnte. Statt dessen war eine starke Kette um den Pfosten herumgelegt und durch das Tor gezogen, an der ein vom Wetter schon recht mitgenommenes Vorhängeschloß hing. Kreutzer schloß auf und stieß die Tür zurück, die gequält in den Angeln quietschte. Sie traten in den Garten. Die Beete waren mit Unkraut und Gras überwuchert. Vorjährige Maispflanzen raschelten mit vertrockneten Blättern im Wind. Auf der rechten Seite ersetzte eine Reihe großer Birken den Zaun zum Nachbargrundstück, das einen ebenso verwilderten Eindruck machte. Im hinteren Teil des Gartens stand die Laube. Sie war aus Holz errichtet, auf dem noch Reste einer grünen Farbe zu erkennen waren, hatte ein Steinfundament und ein mit rotbrauner Teerpappe gedecktes Giebeldach. Eine kleine Terrasse mit einem Geländer aus ungeschältem Birkenholz und einer Bank aus dem gleichen Material nahm die Vorderseite ein. An der von einer Kletterrose überwucherten Schmalseite der Laube befand sich die Tür. Als Kreutzer herantrat, um aufzuschließen, bemerkte er, daß sie aufgebrochen worden war. Sie stand zur Hälfte offen, das Holz der Türfüllung war zersplittert. Jemand hatte sie kürzlich 184
mit roher Gewalt aus dem Rahmen getreten; die Bruchstellen waren noch frisch. Das Innere der Laube bestand aus zwei Räumen. Gleich hinter der Eingangstür befand sich eine winzige Küche, von der man durch eine Schiebetür in das Wohnzimmer gelangte. Die Küche hatte einen aus weißen Ofenkacheln gesetzten Herd und darüber eine schmale Öffnung, mehr eine Luke als ein Fenster, durch die etwas Licht eindrang. Ein Küchentisch, zwei Stühle und ein alter Geschirrschrank bildeten die Einrichtung. Alle vier Türen des Schrankes waren aufgerissen, ein paar verstaubte Teller, Kannen und Tassen standen noch in den Fächern, die anderen lagen zerbrochen auf dem Fußboden. Ein paar Tüten mit Mehl, Zucker und Graupen waren dazwischengeworfen worden und aufgeplatzt. Auch das Wohnzimmer zeigte die Spuren brutaler Verwüstung. Das Fenster war aufgestoßen, und die Scheiben waren zerschlagen. Die Gardinen hingen zerfetzt und vom vielen Regen der letzten Tage durchnäßt am Fensterbrett. Ein feucht-muffiger Geruch herrschte im Zimmer. Der Stoffbezug der alten Couch war kreuz und quer aufgeschlitzt, die Roßhaarfüllung herausgewühlt und überall auf den Dielen verstreut. Den ovalen Tisch hatte man umgestoßen. Das gedrechselte Bein in der Mitte hatte dem Sturz nicht mehr widerstehen können, sein wurmstichiges Holz war dicht unter der Platte abgebrochen. Auf der dunklen Tapete über der Couch zeichnete sich ein helles Viereck ab. Das Bild, das noch vor kurzem dort gehangen hatte, klemmte zerschmettert in der Ecke zwischen Couch und Kommode. Die Splitter des vergoldeten Rahmens und der Glasscheibe hatten die dünne Pappe durchdrungen und dem Nymphenreigen auf der 185
Waldwiese ein bitteres, doch vielleicht nicht allzu ungerechtes Ende bereitet. Auch die Kommode, deren Furnier sich in der Feuchtigkeit des Laubendaseins geworfen und in Streifen gelöst hatte, war nur noch Wrack. Die Schubladen waren herausgezogen, und ihr Inhalt war auf den Boden geschüttet. Blechschachteln mit den schon sagenhaften Namenszügen ‚Manoli‘ und ‚Muratti‘, halb gefüllt mit rostigen Schrauben und verbogenen Nägeln, mit durchgebrannten Sicherungen, zerbrochenem Werkzeug, Drahtenden und Kreidestücken, lagen zwischen alten Hosen, zerrissenen Unterröcken und dem Krimskrams verflossener Jahrzehnte: patentierte Zwiebelschneider, Büchsenöffner, Fläschchen und Dosen mit verdorbenem Inhalt, Ampullen, Schachteln – Abfall, hundertfacher Trödel. Kreutzer und Arnold sahen sich betroffen an, schüttelten die Köpfe und stocherten halb angewidert und halb neugierig mit den Schuhspitzen in diesem MüllplatzStilleben. Als erster fand Arnold die Sprache wieder. „Das Glück des kleinen Mannes“, sagte er. „Hier siehst du seine Trümmer rauchen, der Rest ist nicht mehr zu gebrauchen.“ Kreutzer krauste die Stirn. Ihm erschien dieses Zitat an diesem Ort nicht sehr passend. „Immer schnell einen Witz zur Hand“, sagte er. „Nicht besonders geschmackvoll beim Anblick dieses Halbstarken-Vandalismus.“ „Das Leben ist auch nicht geschmackvoll“, versuchte sich Arnold zu rechtfertigen. Kreutzer sah ihn an. „Ich halte das für keine Entschuldigung. Es scheint Ihnen ja beinahe Spaß zu machen.“ Er zuckte die Schultern. „Vielleicht bin ich etwas altmo186
disch, mir schmeckt eben diese Art Zynismus nicht. Aber sagen Sie, was halten Sie von dieser Sache hier? Zufall?“ „Ich denke schon. Es ist doch ganz alltäglich, daß in verlassene Lauben eingebrochen wird. Bei Spaziergängen durch abgelegene Siedlungen habe ich das oft genug entdeckt.“ „Es sieht fast so aus, als hätte jemand ganz systematisch nach irgendeiner Sache gesucht.“ „Das ist durchaus möglich. Oft lassen die Leute in ihren Wochenendgrundstücken leichtsinnigerweise Wertgegenstände zurück: Uhren, Radios, Fotoapparate oder ähnliches. Die Hoffnung auf solche wertvolle Beute zieht die Aasgeier an.“ „Sie werden recht haben. Auf jeden Fall müssen wir den Perschkes Bescheid sagen. Vielleicht wollen sie Anzeige erstatten.“ Kreutzer schloß das Fenster, so gut es ging, und dann stiegen sie über die Trümmer wieder hinaus in den Garten. Rings um die Laube war das Gras von vielen Füßen zertreten, Spuren liefen in alle Richtungen durch die verödeten Gemüsebeete. Ein Trampelpfad, der allem Anschein nach des öfteren benutzt wurde, führte schräg über den hinteren Teil des Grundstücks und verschwand durch eine Lücke in der hohen Ligusterhecke, die an der Rückseite den Garten abschloß. In etwa zweihundert Meter Entfernung leuchtete hinter der Hecke das hellrote, spitz aufragende Dach eines Einfamilienhauses. Es schien im näheren Umkreis die einzige Behausung zu sein, in der ständig jemand wohnte. Der Giebel war von buntem Weinlaub bewachsen, und mitten darin blinkte ein Fenster. Kreutzer sah sich noch einmal suchend um, aber es 187
war nichts weiter zu entdecken, was einer Beachtung wert gewesen wäre. Er winkte Arnold heran und sagte: „Schauen wir uns noch einen Augenblick in der Nachbarschaft um. Vielleicht finden wir jemanden, mit dem wir uns unterhalten können.“ Sie folgten dem Pfad, schoben sich vorsichtig durch die Ligusterhecke, um sich nicht an den weichen schwarzen Beeren die Anzüge zu verderben, und gelangten auf das angrenzende Grundstück, das ebenfalls von seinem Besitzer aufgegeben war. Ein Zaun fehlte völlig, nur einige verrostete Eisenrohre deuteten an, wo er sich einst befunden hatte. Wacholderbüsche und halbverdorrte Obstbäume wehrten sich noch gegen Brennesseln und Quecken, alles übrige war wieder in den Naturzustand zurückgefallen und zeigte keine Spuren menschlicher Tätigkeit mehr. Der Pfad schlängelte sich durch das Gestrüpp und endete auf einem sandigen Fahrweg. Als Kreutzer und Arnold ihn erreichten, hatten sie einen freien Blick auf das Einfamilienhaus. Es machte einen sauberen und gepflegten Eindruck. Der hölzerne Staketenzaun war imprägniert, die Hecke dahinter aus Forsythien- und Spiräensträuchern frisch geschnitten. Auf einer kleinen Rasenfläche an der Rückseite des Hauses standen unter einem bunten Sonnenschirm ein Tisch und weiße Gartenstühle. Seitlich vom Hause befand sich eine breite Einfahrt, die auf einen Werkstatthof führte. Einige Wartburg, Trabant und F 9 waren dort in zwei Reihen aufgestellt. Dahinter lag ein flaches, in seinem Grundriß L-förmiges Gebäude, das mit der einen Seite an das Wohnhaus stieß. Es hatte große Glasfenster und Schiebetore, und die eine Hälfte hatte man erst vor kurzem erbaut und noch nicht verputzt. Die Flügeltore zur Hofeinfahrt waren geschlos188
sen. Sie trugen zwei Schilder, das eine dunkelblau mit weißer Aufschrift: „Wartburg-Service“, das andere aus gegossenem Aluminium: „Hermann Hecht, Kraftfahrzeugschlossermeister“. „Hier, war ich doch schon einmal“, erinnerte sich Kreutzer, „und zwar in der vorigen Woche, als ich die Werkstätten nach dem Unfallwagen abklapperte.“ Sie standen vor der Gartentür, hinter der ein kurzer Weg aus Betonplatten auf den Eingang des Wohnhauses zuführte. Neben der Klingel unter dem Namen Hecht aus Eisenbuchstaben war ein schwarzes Schildchen befestigt. Es trug den Namen Waldemar Kriewitz. Arnold las es und sah erstaunt auf. „Das ist ja ein merkwürdiger Zufall. Dieser Kriewitz wohnt hier, derselbe, der den Wagen von Doktor Nikolai repariert hat.“ „Überhaupt kein Zufall“, sagte Kreutzer lächelnd. „Kriewitz erzählte, mir schon vor Tagen, daß er im Hause seines Schwagers lebt. Doktor Nikolai lernte ihn in der Werkstatt seines Schwagers kennen, wo er auch noch heute die größeren Reparaturen durchführen läßt.“ Er dachte einen Moment nach. „Das paßt aber sehr gut. Vielleicht ist Kriewitz zu Hause, dann könnte er uns einige Auskünfte über Dieter Nikolai geben. Möglicherweise ist ihm auch etwas über die Perschkes und die Laube bekannt. Drücken Sie mal auf die Klingel.“ Kurz danach öffnete sich die Haustür, und ein junger Mann in einem Schlosseranzug voll schwarzer Ölflecke steckte den Kopf heraus. Er hatte ein weichliches, babyhaftes Gesicht, dichtes schwarzes Haar, das bürstenartig nach oben stand, fast gar keine Augenbrauen, einen schwächlichen Mund und ein fliehendes Kinn. 189
Er beäugte die Besucher mit einem unfreundlichen Blick, zog die Luft geräuschvoll durch die Nase und schwieg. „Wir möchten Herrn Kriewitz sprechen. Ist er zu Hause?“ fragte Kreutzer. Der junge Mann zuckte die Schulter. „Weiß nicht. Glaube, der schläft. Was wollen Se denn?“ Kreutzer stieß das Gartentor auf, und sie gingen über die Platten und einige Stufen hinauf bis vor die Haustür. Der Blick des Jünglings wurde noch um einige Grade unfreundlicher. Er verzog den Mund zu einem mißmutigen Bogen. „Der schläft“, maulte er. „Haben Se nich verstanden? Ick gehe nich ’ruff und wecke den. Der wird saugrob.“ „Es ist wichtig“, sagte Kreutzer. „Versuchen Sie mal Ihr Glück. Sie können ihm ausrichten, Leutnant Kreutzer möchte ihn sprechen. Er kennt mich.“ „Leutnant? Keine Uniform?“ In dem Babygesicht begann es zu arbeiten, die Verwunderung ging über ins Mißtrauen. Dann hatte der Funke gezündet. „Sie sind von de Kripo!“ Kreutzer und Arnold gaben keine Antwort. Das Babygesicht hatte eine erstaunliche Wandlungsfähigkeit. Eben noch mißgelaunt und störrisch, war es plötzlich, fast ohne Übergang, devot, mit dem öligen Lächeln serviler Dienstbereitschaft. „Ich sause mal ’rauf und sage ihm Bescheid. Wenn Sie einen Augenblick bitte warten wollen, meine Herren …“ Er machte einen Diener und verschwand hinter der geklinkerten Holztür. Von einem Luftzug bewegt, schwang die Tür lautlos auf. Kreutzer und Arnold sahen in einen Flur, dessen Boden mit roten Kokosläufern belegt war. Ein Spiegel auf 190
einer niedrigen Kommode, ein Schirmständer und Kleiderhaken, alles in Rot, befanden sich in der Nische hinter der Tür. Weiter hinten, neben einem Fenster, das den Blick in den Garten freigab, wand sich eine Treppe hinauf in den ersten Stock. Drei Türen gingen vom Flur ab, eine davon hatte eine Rauhglasscheibe im oberen Teil. Sie war nicht ganz geschlossen, und durch den Spalt drangen Radiomusik, Tellerklappern und Kaffeeduft. Dann endete die Musik, und ein Sprecher mit gekünstelter Sachlichkeit in der Stimme begann sich über den ‚Erntenotstand in der Zone‘ zu verbreiten. Ein Schalter knackte, und die Stimme brach ab. Gleich darauf wurde die Tür von innen ins Schloß gedrückt. Im ersten Stock fiel mit schmetterndem Knall eine Tür zu, und dann kam der junge Mann die Treppe heruntergepoltert. Er sah gar nicht mehr devot aus. Seine linke Wange brannte feuerrot, und in den Augen schimmerten Tränen. Als er den Fuß der Treppe erreicht hatte, unterdrückte er nur mühsam ein Schluchzen. „Sie sollen ’raufkommen!“ rief er mit erstickter Stimme und verschwand durch eine graulackierte Tür. Kreutzer und Arnold traten in den Flur. Sie schlossen die Haustür und gingen auf die Treppe zu. Kreutzer machte die graue Tür auf und schaute in den dahinterliegenden Raum. Es war ein im Dämmerlicht liegendes Werkstattbüro, zu dem einige Betonstufen hinunterführten. Der junge Mann war nicht zu sehen, aber zu hören. Er rumorte in einem entfernten Teil der Werkstatt, fluchte wie ein Kettensträfling und schien dabei mit leeren Blecheimern Fußball zu spielen. Kreutzer und Arnold blickten sich kopfschüttelnd an. Dann schlossen sie die Tür und stiegen die Treppe hinauf. 191
24. Das Zimmer war langgestreckt und hatte an beiden Seiten abgeschrägte Wände. Das einzige Fenster befand sich an der Schmalseite gegenüber der Tür. Als Arnold und Kreutzer hereinkamen, stand Waldemar Kriewitz nach vorn gebeugt vor dem Spiegel der Waschkommode und kämmte sich. Er trug ein ärmelloses Unterhemd, und die olivgrünen Breeches waren unten noch nicht geschnürt; die Senkel hingen auf seine nackten Füße, die in Lederpantoffeln steckten. Vor ihm auf der zerschrammten Marmorplatte der Kommode standen eine große Waschschüssel aus Porzellan, ein dazu passender Wasserkrug, eine Menge Dosen und Flaschen mit Rasiercreme, Haarwasser und andere Kosmetika und auf der einen Ecke ein gläserner Aschenbecher, bis zum Rand voll mit Zigarettenresten. Kriewitz wandte sich langsam um, richtete sich dabei auf und lehnte sich gegen die Kommode. Langsam klemmte er eine Zigarette in den Mundwinkel. Sein Gesicht war frisch rasiert, die Haut über den Wangenknochen straff gespannt. Er lächelte ein wenig, und die graugrünen Augen hatten einen verlegenen Ausdruck. Kreutzer ließ seine Augen durch den Raum schweifen und sagte: „Entschuldigen Sie, daß wir so plötzlich bei Ihnen eindringen. Wir hatten gerade hier in der Nähe zu tun. Vielleicht haben Sie etwas Zeit, uns einige Fragen zu beantworten?“ „Was für Fragen?“ Kreutzer versuchte, ein freundliches Gesicht zu machen. „Wir werden Sie nicht lange aufhalten, Herr Krie192
witz. Es handelt sich nur um ein paar Auskünfte über Dieter Nikolai und über ein Laubengrundstück hier in der Nachbarschaft.“ Kriewitz ließ die aufgereckten Schultern ein wenig nach vorn sinken und zündete sich mit dem Feuerzeug, das er aus der Uhrentasche seiner Hose holte, die Zigarette an. Er zog den Rauch tief ein und ließ ihn dann langsam durch die Nasenlöcher wieder ausströmen. „Sehr vornehm ist es in meiner Junggesellenbude nicht und auch leider noch etwas unordentlich“, sagte er entschuldigend. „Wenn sie Ihnen nicht zu schäbig sind, darf ich Ihnen vielleicht die Hocker anbieten.“ Er stieß sich von der Kommode ab und zog zwei braune Hocker unter dem Tisch hervor, der in der Mitte des Zimmers stand, wischte die Sitzflächen ab und stellte sie für Kreutzer und Arnold zurecht. Während die beiden Platz nahmen, ging er zu dem Messingbett hinüber, legte seine Zigarette in den Aschenbecher auf dem Nachttisch und begann Federbett und Kopfkissen in das Laken einzurollen. „Habe die ganze Nacht bis zum Morgen gearbeitet, bin gerade erst aufgestanden. Mußte an einem Moskwitsch die Hinterachse auswechseln. Für einen guten Bekannten, Verkaufsstellenleiter bei der HO, der den Wagen dringend braucht. Mein Schwager macht nur Zweitakter, aber hin und wieder darf ich nachts die Werkstatt benutzen.“ Er legte eine Wolldecke über das eingerollte Bett, nahm die Zigarette in den Mund und kam an den Tisch, der aus gehobelten, ungestrichenen Brettern bestand und sehr fest und solide aussah. Die Reste eines Frühstücks waren über die Tischplatte verteilt. Auf einer Zeitung lag ein halbes Brot, daneben ein benutztes Messer mit einem schwarzen Holzgriff, ein 193
Zipfel Leberwurst, Butter in Pergamentpapier, Gurkenschalen und zwei leere Bierflaschen. Kriewitz räumte die Wurst und die Butter zusammen, schob sie zu dem großen Stück Brot auf die Zeitung und trug alles zu einem großen, kastenartigen Schrank hinüber, der am Fußende des Bettes stand. Er war eigentlich als Kleiderschrank gedacht. Doch die Wäschefächer hinter der schmalen Tür benutzte Kriewitz als Aufbewahrungsort für Töpfe, Teller und Lebensmittel. Und dann öffnete Kriewitz die andere Schrankseite, wo Mäntel und Anzüge hingen, und nahm ein kurzärmeliges schwarzes Campinghemd von einem Bügel. Er schlüpfte hinein und knöpfte es zu. Auf der Innenseite der Schranktür waren mit Reißnägeln einige Aktfotos aus dem „Magazin“ befestigt. Kriewitz sah sich um, und als er bemerkte, daß Arnold und Kreutzer auf seine Bildergalerie starrten, trat ein verständnisvolles Grinsen in sein Gesicht, und er drückte mit dem Ellbogen die Tür zu. „Sie wollen etwas über Dieter Nikolai wissen?“ fragte er. „Haben Sie etwa den Jungen in Verdacht?“ Kreutzer lächelte. „Wir können doch nicht jeden in Verdacht haben, nach dem wir uns erkundigen. Wer war übrigens der junge Mann, der uns hereingelassen hat?“ Jetzt lächelte auch Kriewitz, nachsichtig, wie es schien, und ein wenig geringschätzig. „Das war Bruno. Er ist mein Neffe, der Sohn meiner Schwester.“ „Ihre Schwester ist mit Herrn Hecht verheiratet?“ „Ja. Der hatte mehr Glück als ich. Eine tüchtige Frau, ein hübsches Häuschen, eine Werkstatt, die ’ne Goldgrube ist, und dazu seine heilen Knochen. War den ganzen Krieg über zu Hause uk. gestellt als Werkmeister bei 194
Bosch, drüben in Kleinmachnow. Hatte den Fuhrpark unter sich. Nach fünfundvierzig war das für ihn ein ganz hübsches Anfangskapital.“ Er machte eine Pause und betrachtete seine Zigarette. „Nicht, daß ich neidisch war, ich gönn’s meinem Schwager, ist kein schlechter Kerl, wenn man ein bißchen Rücksicht nimmt auf – auf seine Eigenarten.“ „Bruno hat wohl auch seine Eigenarten?“ fragte Kreutzer. „Bruno?“ Kriewitz schien erstaunt. Dann machte er einen tiefen Lungenzug und seufzte. „Es ist ein Jammer mit dem Jungen. Er ist manchmal etwas verdreht, kriegt so eine Art Rappel, und da muß man ihn wieder zurechtstauchen. Sein Vater behandelt ihn zu hart, glaube ich.“ „Als er eben die Treppe herunterkam, hatte er eine rote Backe. Mußten Sie ihn auch zurechtstauchen?“ „Sie merken wirklich alles“, sagte Kriewitz grinsend. „Ja, ich mußte ihm – so leid es mir getan hat – eine langen. Wissen Sie, er war ganz aus dem Häuschen, und nur, weil Sie hier aufgetaucht sind. Er wollte Sie einfach abwimmeln und Ihnen vorschwindeln, daß ich nicht zu Hause bin. Ich habe versucht, ihn zu beruhigen, und ihm erklärt, daß der Besuch ganz harmlos ist. Wer nichts verbrochen hat, braucht sich auch nicht zu fürchten. Aber es war nichts zu machen, er wurde richtiggehend hysterisch. Er leidet an Verfolgungswahn oder wie man solche Komplexe nennt. Da hab’ ich ihm schließlich einen Klaps gegeben. Das wirkt Wunder und beruhigt ihn wieder.“ Kreutzer und Arnold sahen sich an. Sie dachten an das Getöse in der Werkstatt. Sehr lange hatte die Beruhigung nicht gewirkt. „Ist er nicht mit Dieter Nikolai befreundet?“ fragte 195
Kreutzer. „Wie wir hörten, sollen die beiden öfter unten in der Werkstatt an ihren Motorrädern bauen.“ „Befreundet ist wohl zuviel gesagt. Dieter ist doch Student, und da ist ihm unser Bruno als Freund viel zu dämlich. Hin und wieder fummeln sie unten an Dieters Motorrad. Werkzeug und Maschinen sind da, und Dieter gibt dem Bruno ein paar Mark dafür. Der arme Hund kriegt ja so wenig Taschengeld von seinem Alten, daß es kaum für ein paar Zigaretten reicht.“ „Hat er nicht auch ein Motorrad?“ „Wenn Sie das Ding sehen, lachen Sie sich kaputt. Das ist ein umgebauter Gartenstuhl, eine uralte RT, für fünfzig Mark bei der DHZ aus dem Schrott geklaubt.“ „Wissen Sie, ob er im Motorsportclub ist?“ „Keine Ahnung. Danach müssen Sie ihn schon selber fragen. Wenn die Beiträge nicht zu hoch sind, ist das durchaus möglich. Autos und Motorräder sind seine Leidenschaft. Die Modekrankheit unserer Zeit.“ „Sind Sie eigentlich Autoschlosser von Beruf, Herr Kriewitz?“ „Nein, ich habe früher als Bauarbeiter gearbeitet. Dann kam der Krieg, und ich wurde zu den Fallschirmjägern eingezogen. Im Mai einundvierzig hat es mich über Kreta erwischt. Flaksplitter. Seitdem bin ich ein Krüppel, wenn man’s mir auf den ersten Blick auch nicht ansieht. Invalidenrentner, für den Bau reicht’s nicht mehr. Aber Sie können sich ja denken, mit der Rente allein ist man nicht auf Rosen gebettet. Man könnte zur Not davon leben, doch man möchte sich auch hin und wieder ’ne Kleinigkeit anschaffen. Darum mache ich, soweit es mir gesundheitlich möglich ist, ein bißchen was nebenbei. Mal hier, mal da. Gartenarbeit, tapezieren, kleinere Reparaturen am Auto – was man sich so abguckt im Laufe der 196
Zeit. Es wird schon fast zuviel, aber die Bekannten laufen einem die Bude ein. Arbeitskräfte sind knapp, und wenn man helfen kann, tut man’s ja gerne. Den ganzen Tag auf der faulen Haut liegen, das kann ich einfach nicht, wenn auch der Doktor Krach macht und mir prophezeit, daß ich bald abkratzen werde. Aber ich sage immer, einen Tod kann der Mensch nur sterben, genausogut hätte es schon damals auf Kreta aussein können. Die paar Jahre, die ich noch vor mir habe, will ich keinem zur Last fallen – meiner Schwester nicht, und meinem Herrn Schwager schon gar nicht.“ Er schüttelte den Kopf, und seine Augen, die bei seinen letzten. Worten etwas verschwommen aussahen, wurden wieder klar. „Entschuldigen Sie, ich quatsche zuviel. Hin und wieder muß man’s sich vom Herzen reden, wenn man zuviel allein ist. Sie sehen ja, wie ich hier hause. Nicht geeignet für Besuch. Und das meiste von dem Kram gehört noch nicht mal mir. Da bin ich auch noch auf die Gnade anderer angewiesen.“ Kriewitz hatte recht. Besonders gut schien es ihm nicht zu gehen. Das Zimmer war wirklich nicht komfortabel. Es hatte keinen Teppich und vor dem Fenster einen roten, ausgeblichenen Fetzen aus Inlettstoff. Auch die übrige Ausstattung war mehr als dürftig. In der Ecke neben der Tür stand ein eiserner Ofen mit einem schiefen Rohr, der sich im Laufe der Zeit schon manche Verzierung abgebrochen hatte. Auf einer umgestülpten Holzkiste war ein elektrischer Kocher mit zwei Platten aufgebaut, und als einziges Stück von Wert stand auf dem Nachttisch neben dem Messingbett ein großes neues Kofferradio. Kreutzer riß sich von den deprimierenden Eindrücken 197
los und fragte: „Kennen Sie die grüne Laube hier drüben in Ihrer Nachbarschaft?“ Kriewitz sah ihn verständnislos an. „Sie gehört der Familie Perschke und ist ziemlich verwahrlost“, erläuterte Kreutzer. Kriewitz kratzte sich am Hinterkopf. „Ja, jetzt weiß ich schon, was Sie meinen. Da war doch mal die Polizei vor einiger Zeit. Irgend etwas mit einem KonsumEinbruch oder so. Bruno – nein, meine Schwester hat mir seinerzeit davon erzählt.“ „Stimmt“, sagte Kreutzer. „Wissen Sie etwas über die Perschkes?“ „Ich dachte, die Sache ist längst aufgeklärt.“ „Noch nicht ganz. Einige Fragen sind noch offen.“ „Der Enkel von den Perschkes, der damals im Konsum eingebrochen ist, der soll doch sitzen. Gleich am nächsten Tag hatten sie ihn schon, nicht wahr? Und in der Laube wurde auch die Beute gefunden. Was soll denn da noch aufgeklärt werden?“ „Nachdem der Dieb seine Beute in der Laube versteckt hatte, verschwand spurlos eine Schreibmaschine und eine Kamera. Ein Unbekannter muß sie sich sozusagen unter den Nagel gerissen haben.“ Kriewitz sah auf. „Das wußte ich noch gar nicht. Schreibmaschine und Kamera? Da hatte der Unbekannte aber verdammtes Glück, daß er genau in der Nacht die Laube durchgestöbert hat, als das Diebesgut versteckt war.“ „Wir glauben nicht, daß es nur Glück war. Wahrscheinlich wußte er recht gut, daß etwas zu holen war.“ „Wie meinen Sie das?“ „Wir meinen, daß er den Dieb beobachtet hat und sich dann später holte, was er gebrauchen konnte.“ 198
„Warum hat er denn nicht alles genommen? Wie ich hörte, waren noch mehr wertvolle Sachen da, und dazu noch handlich verpackt in zwei Koffern.“ „Das wissen wir nicht. Vielleicht war es ein Amateur, der nur nahm, was er persönlich gebrauchen konnte. Und er fürchtete vielleicht das Risiko, das man auf sich nimmt, wenn man Diebesgut an den Mann bringen will.“ Arnold nickte zustimmend und sagte mit einem Lächeln: „Wenn wir ihn erwischt haben, werden wir ihn danach fragen.“ Kriewitz blickte erstaunt zu Arnold hinüber. „Das ist also Ihre Aufgabe? Und ich dachte, Sie sind damit beschäftigt, den Unfall bei Philippsthal aufzuklären.“ Kriewitz erhob sich von seinem Bett, ging zum Fenster und sah hinaus. Dann drehte er sich um und sagte nachdenklich: „Warum erzählen Sie mir das alles? Ich habe doch nichts damit zu tun und kann Ihnen deshalb auch nicht weiterhelfen.“ „Es hat sich einfach so ergeben“, sagte Kreutzer. „Wir haben die Laube besichtigt und kamen dann zufällig hier am Haus vorbei. Und da wir jemanden aus der näheren Umgebung suchten, der uns einige Auskünfte geben kann, und ich Sie bereits von dem Gespräch von neulich kenne, hab’ ich mir gedacht, daß es vielleicht ganz nützlich wäre, wenn wir uns noch einmal unterhalten.“ „Ich verstehe. Aber womit kann ich Ihnen eigentlich nützlich sein?“ „Damit, daß Sie einfach meine Fragen beantworten, ohne sich den Kopf zu zerbrechen. Also: Haben Sie eine Vermutung, wer sich in der Nähe der Laube umhergetrieben hat?“ „Nur ganz allgemein. Hier in der Gegend treiben sich ’ne Menge Jugendliche herum. Ich denke mir, daß die in 199
die Laube eingebrochen sind.“ „Haben Sie das gesehen?“ Kriewitz lachte. „Nein, das natürlich nicht. Ich hätte den Brüdern Beine gemacht.“ „Kennen Sie Wolfgang Perschke?“ „Nein. Wer ist denn das?“ „Der junge Mann, der die Diebesbeute in der Laube seines Großvaters versteckte.“ „Ach so, der! Ja, warten Sie mal, ich glaube, der ist mal unten in der Werkstatt gewesen. Dieter brachte ihn auf seinem Motorrad mit.“ „Welcher Dieter?“ „Dieter Nikolai. Er und Wolfgang Perschke kennen sich vom Motorsportclub. So was Ähnliches erzählte mir jedenfalls Bruno.“ „Das ist wirklich interessant. Sind Sie ganz sicher, daß die beiden sich kennen?“ „Ich denke schon. Ist denn das so wichtig?“ Kreutzer überhörte diese Frage. „Wir würden gern noch wissen, welchen Eindruck Sie von Dieter Nikolai haben. Sie sind doch recht gut mit ihm bekannt.“ „Das ist auch wieder zuviel gesagt. Ich sehe ihn hin und wieder, wenn er mit Bruno in der Werkstatt murkst oder wenn ich im Hause seines Vaters etwas zu tun habe.“ „Und was halten Sie von ihm?“ Kriewitz schob die Hände in die Taschen, senkte den Kopf, ging zu seinem Bett und ließ sich darauf nieder. „Das ist nicht so einfach“, begann er. „Ich will Ihnen keinen Sand in die Augen streuen, ich will aber auch keinen schlecht machen, nur weil er mir nicht besonders gefällt. Man kann sich da leicht irren, verstehen Sie?“ 200
Er schüttelte eine Zigarette aus der Packung auf dem Nachttisch und setzte sie in Brand. „Machen Sie sich darüber keine Sorgen, Herr Kriewitz“, sagte Kreutzer. „Wir möchten nur Ihre Meinung hören, und die bleibt unter uns. Ein abschließendes Urteil bilden wir uns selbst.“ „Also gut, wie Sie wollen. Viel Erfreuliches kann ich Ihnen aber nicht erzählen. Ich glaube, der Dieter hat erst mal zuviel Geld. Er lebt ein bißchen leichtsinnig. Und das ist aller Laster Anfang, wie man so sagt.“ „Woher bekommt er das Geld?“ „Woher? Na, sicher doch von seinem Vater.“ „Wie kommen Sie darauf, daß Dieter leichtsinnig lebt?“ Kriewitz hob die Schultern. „Man sieht so einiges, wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht. Er hat ein teures Motorrad. Als Student könnte er sich das nicht leisten, wo er nicht mal ein Stipendium kriegt. Und er rast damit durch die Gegend, daß es schon lebensgefährlich ist. Aber es reicht ihm noch nicht. Wenn sein Vater verreist ist, nimmt er sich den Wartburg und kutschiert seine Mädchen durch die Botanik. Ohne Fahrerlaubnis und blau wie’n Ritter. Ich kann Ihnen sagen!“ Kriewitz nahm einen Zug von seiner Zigarette und schwieg. „Nun?“ sagte Kreutzer. „Fahren Sie fort.“ „Ich weiß nicht. Genügt denn das nicht?“ „Sie wissen doch noch mehr. Also, erzählen Sie schon.“ Kriewitz zögerte. „Na gut, wenn Sie drauf bestehen. Aber gerne nicht. Also, es war an einem Sonntag, draußen in Glindow, vor so ’ner Kneipe mit Gartentischen für Ausflügler. Er hatte ein rothaariges Mädchen bei sich.“ 201
Kriewitz verdrehte schalkhaft die Augen und schnalzte mit der Zunge. „Die beiden schwankten Arm in Arm auf den Wagen zu. Die Kellnerin machte eine Bemerkung, daß man in diesem Zustand nicht Auto fahren darf, aber das Mädchen gab ihr nur eine freche Antwort. Dieter klemmte sich hinter das Steuer, und sie rasten davon. Die Leute schüttelten bloß die Köpfe.“ „Warum haben Sie nichts getan? Sie kannten ihn, vielleicht hätte er auf Sie gehört.“ „Als ich dazukam, war’s ja schon zu spät. Sie schlugen gerade die Türen zu und donnerten los. Das andere erzählte mir nachher die Kellnerin. Die war ganz schön wütend.“ „Warum haben Sie Dieters Vater nichts von dem Vorfall erzählt?“ Kriewitz machte ein unbehagliches Gesicht. „Das ist immer so eine Sache“, sagte er seufzend. „Er war gerade verreist und kehrte erst zwei Wochen später zurück. Und als mich Dieter ein paar Tage später traf, kam er auf mich zu und erzählte, daß er durch einen dummen Zufall in die Geschichte ’reingeschliddert wäre. Ich sollte doch um Gottes willen seinem Vater nichts davon sagen. Es würde auch bestimmt nicht wieder vorkommen. Na ja, wissen Sie, man war selber mal jung, irgendwie tat mir der Bengel leid, und da habe ich ihm versprochen, den Mund zu halten. Außerdem hatte ich auch gar keinen Beweis. Was hätte ich denn machen sollen, wenn er es einfach ableugnet? Da hätte ich dumm dagestanden. Nee, mein Grundsatz ist, sich gar nicht einmischen in den Familienkram anderer Leute.“ „Wissen Sie, wer dieses rothaarige Mädchen war?“ „Keine Ahnung.“ 202
„Haken Sie es noch einmal wiedergesehen?“ Kriewitz schüttelte den Kopf. „Ich glaube, es war nur eine flüchtige Bekanntschaft.“ Kreutzer nickte und sah nachdenklich auf den Fußboden. „Kennen Sie eigentlich die Freundin von Doktor Nikolai?“ „Ich habe sie nur einmal, im Vorbeifahren gesehen, wie ich neulich schon gesagt habe.“ „Würden Sie sie wiedererkennen, wenn sie Ihnen auf der Straße begegnete?“ „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es gibt so viele hübsche Blondinen.“ „Etwas anderes noch, Herr Kriewitz. Hat Ihr Schwager Wartburg-Schlüssel in der Werkstatt?“ „Sie meinen für Tür und Zündschloß? Ja, davon hat er ganze Bündel. Es kommt doch immer wieder vor, daß ein Kunde seine Schlüssel verliert oder seinen Wagen hierläßt und aus Versehen die Schlüssel mitnimmt.“ „Kann jeder an sie heran?“ „Wer gerade einen braucht, der geht zum Chef und holt ihn sich.“ „Ja, schon“, sagte Kreutzer etwas ungeduldig, „aber wo werden sie aufbewahrt? Nach Feierabend zum Beispiel.“ Kriewitz blinzelte, dann schüttelte er den Kopf. „Nee, nee, da kommt keiner ’ran. Mein Schwager ist vorsichtig. Die Schlüssel sind immer in seinem Schreibtisch im Büro eingeschlossen. Und er gibt auch nie das ganze Bund ’raus, immer nur die Schlüsselnummer, die gerade gebraucht wird.“ „Gut“, sagte Kreutzer und stand auf, „wollen wir Schluß machen.“ 203
„Entschuldigen Sie“, sagte Kriewitz und erhob sich ebenfalls, „haben Sie nicht vorhin von einer Schreibmaschine und einer Kamera gesprochen? Wie sahen die denn aus, ich meine, was für ein Fabrikat?“ „Eine graue Reiseschreibmaschine, Modell Erika, und eine Kleinbildkamera, Pentina FM. Haben Sie etwas davon gehört?“ „Nein, noch nicht. Aber ich komme eine ganze Menge herum, und vielleicht ergibt sich mal ein Hinweis.“ Kreutzer nickte. Dann wandte er sich ab und trat ans Fenster. Sein Ellbogen streifte den roten Vorhang, und dabei schlugen die Falten des Stoffes ein wenig zur Seite. Ein Zeiss-Nachtglas kam zum Vorschein. Es hing mit einem Lederriemen an einem kräftigen Nagel, der dicht an der Wand in den Holzrahmen des Fensters eingeschlagen war. Kreutzer streckte die Hand aus. „Darf ich mal?“ fragte er. „Aber natürlich.“ „Sie haben einen schönen Garten hier am Haus. Pflegen Sie den auch?“ Kriewitz lachte. „Ach wo, das muß Bruno machen. Mein Schwager nimmt ihn ordentlich ’ran.“
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25. Am Morgen des nächsten Tages, kurz nach neun Uhr, stürzte Kreutzers Sekretärin aufgeregt in sein Arbeitszimmer. Sie war noch sehr jung, hatte ein rosiges Gesicht und dunkle Haare, die in der Mitte gescheitelt waren und in zwei buschigen Schwänzen, von weißen Schleifen zusammengehalten, vom Kopf abstanden. Kreutzer und Arnold waren damit beschäftigt, sich über die Charaktereigenschaften Dieter Nikolais zu streiten, und sahen unwillig auf. „Ein Herr ist draußen! Ich sagte ihm, daß Sie im Augenblick beschäftigt sind. Aber er wurde grob und verlangte, Sie sofort zu sprechen.“ „Was will er denn?“ fragte Kreutzer mißmutig. „Er tut sehr geheimnisvoll. Einen Brief hat er in der Hand, mit dem er herumfuchtelt. Seinen Namen wollte er auch nicht nennen.“ „Also schön, lassen Sie ihn ’rein. Hoffentlich nicht ein Schwadroneur, der in der Nachbarschaft die Flöhe husten hört. Wenn ich Sie anrufe und Kaffee verlange, dann kommen Sie sofort ’rein und holen uns unter irgendeinem Vorwand ’raus.“ „Ja, aber …“ Das Mädchen sah ihn hilflos an. „Was soll ich denn sagen?“ „Lassen Sie sich irgend etwas einfallen. Meinetwegen einen entsprungenen Löwen oder sonst dergleichen. Haben Sie denn keine Phantasie?“ „Jawohl, Genosse Leutnant“, sagte sie und ging mit verstörtem Gesichtsausdruck hinaus. Dann wurde die Tür aufgerissen, und Doktor Nikolai wuchtete ins Zimmer. Er trug einen Regenmantel und 205
einen grauen Filzhut auf dem Kopf. Sein Gesicht war von ungesund roter Färbung, und er wedelte wild mit einem Brief, den er in der Rechten hielt. „Zehn Minuten muß ich mich mit diesem Kind herumstreiten, bis ich endlich hereingelassen werde! Ich habe doch meine Zeit nicht gestohlen!“ knurrte er. Kreutzer und Arnold waren so überrascht, daß sie ihn nur wortlos anstarrten. Nikolai nahm ihr Schweigen für ein Eingeständnis ihrer Schuld, warf seinen Hut auf einen Stuhl und sagte versöhnlich: „Na schön, das ist unwichtig. Dieser Wisch hat mich ein bißchen aufgebracht. Lesen Sie sich das durch. Der Gipfel der Unverfrorenheit!“ Er klatschte einen hellblauen Umschlag auf Kreutzers Schreibtisch. Es war ein ganz gewöhnlicher Brief, gerichtet an Dr. Nikolai. Die Anschrift war mit der Hand geschrieben, in großen, altmodisch geschnörkelten Buchstaben, die nicht ganz in der Reihe blieben. Beim Unterstreichen des Ortsnamens hatte sich der Federhalter in dem faserigen Papier verhakt und dabei ein paar Spritzer aus blauer Tinte hinterlassen. Kreutzer drehte den Brief um. Ein Absender war nicht vorhanden. Er griff in das aufgeschlitzte Kuvert, zog einen doppelt gefalteten Bogen hervor und schlug ihn auf. Der Brieftext, in derselben Handschrift wie auf dem Umschlag, lautete: Sehr geehrter Herr Doktor! Wie Ihnen noch in Erinnerung sein wird, haben Sie mich vor nunmehr fünf Wochen hier aufgesucht, und wir kamen dann handelseinig, daß Sie mir Ihren Wartburg Luxus verkaufen wollten. Ich habe Ihnen 4000 M (viertausend Mark) angezahlt in bares Geld, weil mei206
ner Familie und mir das Auto so gut gefallen hat, und das ist keine Kleinigkeit. Sie haben dann noch gesagt, in spätestens vier Wochen haben Sie den Wagen im Stall, Meister, ich habe ja bis dahin den neuen Wolga. Sehr geehrter Herr Doktor! Eine Woche über die Zeit ist nun schon wieder vorbei, und ich erlaube mir deshalb höflichst anzufragen, wann es denn soweit sein wird? Wenn es Schwierigkeiten gibt, habe ich immer Verständnis aufgebracht, aber man möchte doch gerne Bescheid wissen. Wenn es Sie nicht inkommodiert, möchte ich Sie gefl. bitten, mir bitte mitzuteilen, wann wir mit dem Auto rechnen können und wie es überhaupt steht. Damit will ich mich für heute empfehlen. Mit den besten Grüßen und in Erwartung Ihrer Nachricht hochachtungsvoll Ferdinand Lenkeit Darunter das Datum und ein grüner Stempel: Ferdinand Lenkeit Brot- & Feinbäckerei Ludwigsfelde Kreis Potsdam-Land Siethener Straße 21 Kreutzer legte das Schreiben zur Seite und sah auf. Nikolai hatte sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch gestützt. „Was sagen Sie nun? Diese Halunken haben sich ein Vermögen ergaunert. Unter meinem Namen und mit meinem Eigentum! Was gedenken Sie zu tun, um der Schweinerei ein Ende zu machen?“ Kreutzer stand seufzend auf. „Wollen Sie nicht ablegen und sich setzen? So kann man doch nicht miteinander reden.“ Nikolai schnaufte und ließ sich aus dem Mantel hel207
fen. Dann nahm er auf dem Stuhl Platz, den Arnold ihm zurechtrückte. „Wann haben Sie diesen Brief erhalten?“ „Gestern. Aber das ist …“ „Bitte“, unterbrach ihn Kreutzer, „gehen wir doch systematisch vor. Mit Aufregung kommen wir nicht weiter.“ „Ich bin nicht aufgeregt“, sagte Nikolai wütend. Er wollte weitersprechen, doch als er Kreutzers Lächeln sah, unterließ er es und griff statt dessen in seine Brusttasche. Er zog ein braunes Lederetui hervor, klappte es auf und nahm eine der schwarzen Zigarren heraus. Arnold reichte ihm Feuer, und nachdem Nikolai einige paffende Züge gemacht hatte, sagte er ruhiger: „Na schön, das war zu erwarten. Also los, fragen Sie mir ein Loch in den Bauch.“ Kreutzer öffnete eine Schublade und stellte einen grünlichen Glasaschenbecher auf die Schreibtischplatte. „Warum haben Sie sich nicht sofort mit uns in Verbindung gesetzt, als Sie den Brief erhielten?“ „Ich habe ihn erst gegen Abend gelesen, mittags habe ich keine Zeit für die Post. Und um Sie gestern abend noch zu erreichen, war es schon zu spät.“ „Sie hätten anrufen können.“ „Ich wollte aber persönlich mit Ihnen sprechen. Kommt es denn auf die paar Stunden an? Die Sache liegt doch sowieso fünf Wochen zurück.“ „Ich weiß nicht, ob es auf die paar Stunden ankommt, aber es kann schon sein. Haben Sie den Brief jemandem gezeigt?“ „Ja, natürlich. Meine Frau hat ihn gelesen, und Karla war im Zimmer, als ich ihn aufmachte.“ „Na bitte!“ 208
„Was wollen Sie damit sagen?“ brauste Nikolai auf. „Nichts.“ Nikolai rieb sich die Stirn. „Entschuldigen Sie, ich bin einfach überreizt. Und nun fange ich schon wieder an, alles falsch zu machen.“ Er ließ die Schultern nach vorn sinken und starrte vor sich hin. Offensichtlich hatte er etwas auf dem Herzen, aber es fiel ihm sichtlich schwer, es auszusprechen. Endlich begann er mit leiser Stimme: „Im allgemeinen bin ich robust, aber diese verdammte Geschichte geht mir auf die Nerven. Ich finde keinen Schlaf, zermartere mir das Hirn und trinke jeden Tag mehrere Kognaks. Das ist auf die Dauer kein Zustand, schon gar nicht, wenn man Arzt ist.“ Er betrachtete seine Zigarre, deren vorderes Ende sich auseinanderspreizte und Ähnlichkeit mit einem verbrauchten Pinsel annahm. Er zog den Aschenbecher heran und begann sie auszudrücken, doch seine Gedanken waren nicht bei der Sache. „Mein Sohn Dieter“, sagte er zögernd, „ist ein gottverfluchter Dickkopf und störrisch wie ein Maulesel. Ich war als Student genauso, es hat mir manchen Knüppelhieb eingetragen, aber es half nichts, ich wurde nur noch eigensinniger und sturer. Wenn zwei Schädel aus diesem Holz aufeinanderkrachen, können Sie sich vorstellen, was geschieht. Seit der Junge einen eigenen Gedanken fassen kann, stehen wir kontra. In ruhigen Augenblicken habe ich manchmal versucht nachzugeben, um dem ewigen Streit ein Ende zu machen. Es ist hoffnungslos. Jedes Nachgeben hält er für Schwäche, und seine Anmaßungen verdoppeln sich. Das bringt mich in blinde Wut, ich kann einfach nicht über meinen Schatten springen. In der letzten Zeit haben sich die Spannungen verstärkt – nicht nur wegen Brigitte.“ 209
Nikolai krampfte die Hände ineinander, in seinen Schläfenadern klopfte das Blut; Es schien ihn einige Anstrengung zu kosten, seinem plötzlich auflodernden Zorn nicht freien Lauf zu lassen. Mit gepreßter Stimme fuhr er fort: „Trotzdem bin ich hierhergekommen. Es ist mir elend schwergefallen, der Teufel weiß es. Ich hätte Ihnen den Brief schicken können, ich hätte Sie gestern abend noch anrufen können. Ich habe es nicht getan, weil ich Sie um etwas bitten möchte und weil ich einige Stunden brauchte, mich zu diesem Entschluß durchzuringen.“ Arnold setzte zu einer Entgegnung an, doch Kreutzer gab ihm mit den Augen einen Wink. „Das war schon ein ganz hübscher Auftakt für mein edles Vorhaben“, sagte Nikolai, und um seine Mundwinkel zuckte ein Lächeln. „Also, ohne Umschweife: Ich weiß, daß Sie Dieter verdächtigen. Sicher sprechen auch einige Umstände gegen ihn, wie zum Beispiel die Sache mit der Schreibmaschine, die mir selbst merkwürdig und undurchschaubar vorkommt. Aber bedenken Sie, was alles gegen mich sprach. Es stellte sich dennoch heraus, daß ich nicht der Bösewicht war, für den Sie mich hielten. Ich kenne meinen Sohn besser als Sie. Er mag ein Filou sein, er mag in jugendlichem Übermut ein paar Dummheiten begangen haben oder noch begehen, aber …“, Nikolai holte Luft und sah Kreutzer in die Augen, „aber er ist kein krimineller Strolch, der einen harmlosen Menschen anfährt und ihn hilflos verrecken läßt.“ „Das haben wir nie angenommen. Der Fahrer des Wagens war ein älterer Mann. Aber er hat einen jungen Mittäter, der eine Jawa fährt.“ „Nein!“ sagte Nikolai heftig. „Und wenn Sie hundert Indizien aufzählen, Dieter hat mit diesem Verbrechen nichts zu tun. Ich will zugeben, daß er sich vielleicht aus 210
Trotz, aus falschverstandener Kameradschaft oder Abenteuerlust in eine Gaunerei hineinziehen ließe. Doch spätestens in dem Augenblick, wo etwas passiert wie diese Fahrerflucht, würde er Schluß machen. Er käme zu mir oder zu seiner Mutter oder sogar zu Ihnen. Wenn Sie etwas anderes glauben, dann sind Sie auf dem Holzweg. Ich möchte Sie bitten, nehmen Sie das zur Kenntnis.“ „Wir haben uns noch nie allzusehr auf den Glauben verlassen“, sagte Kreutzer. Nikolai starrte ihn mißtrauisch an, doch er konnte keine Spur von Ironie im Gesicht des anderen entdecken. Er stützte den Kopf in die Hände und fuhr fort: „Im Ernst, ich mache mir Sorgen um meinen Sohn. Er ist kein Idiot und weiß so gut wie ich, daß Sie ihn verdächtigen. Er ißt nicht und will mit niemandem sprechen, läuft stundenlang in seinem Zimmer auf und ab oder sitzt in irgendeiner Ecke und brütet vor sich hin. Sein Mißtrauen richtet sich sogar gegen mich. Vorgestern abend rief Brigitte an und erzählte mir, die Polizei habe bei ihr Dieters Schreibmaschine beschlagnahmt und sie hochnotpeinlich verhört, ob sie auch etwas von einem Fotoapparat wüßte, der zusammen mit dieser Schreibmaschine irgendwo gestohlen worden sein soll. Ich nahm das nicht sehr ernst, ich hatte andere Sorgen im Kopf. Außerdem war auch gerade Besuch da, mit dem wollte ich besprechen, wann der linke Kotflügel lackiert wird, ohne daß ich den Wagen eine Woche entbehren muß. Gestern mittag machte ich ganz zufällig eine Bemerkung, daß ich von der beschlagnahmten Schreibmaschine gewußt habe und mir eigentlich hätte denken können, daß deshalb die Polizei noch einmal bei mir auftauchen würde. Dieter schnappte das auf und war empört, weil ich ihm nichts davon gesagt hatte. Er murmelte, alles hätte 211
sich gegen ihn verschworen, ließ das Mittagessen stehen, rannte in sein Zimmer und schloß sich ein. Ich befürchte, er macht in diesem Zustand vielleicht eine Dummheit. Die Grenze ist von unserem Haus nur einen Katzensprung entfernt, er fühlt sich zu Unrecht beschuldigt und von allen Seiten bedroht. Ich bin gekommen, weil ich Sie bitten möchte, so schnell wie möglich etwas zu tun, um den Jungen von diesem Alpdruck zu befreien. Offensichtlich kann ich ihm nicht helfen, aber es ist durchaus möglich, daß Sie ihn beruhigen, wenn Sie ihm zum Beispiel sagen, Sie hätten vorläufig nicht die Absicht, ihn einzusperren, und es gäbe auch noch eine Reihe anderer Personen, die verdächtig sind.“ Nikolai räusperte sich, nahm ein Taschentuch heraus und putzte sich geräuschvoll die Nase. „Wir wollen Ihnen nichts vormachen“, sagte Kreutzer, „Dieter gehört für uns nach wie vor zum Kreis der Verdächtigen. Doch ich kann Ihnen versprechen, daß die Ungewißheit für alle Beteiligten bald zu Ende sein wird.“ „Mehr können Sie nicht?“ fragte Nikolai enttäuscht. „Natürlich bin ich gern bereit, heute noch mit Dieter zu sprechen, falls Sie das meinen.“ Nikolai nickte. „Das freut mich. Aber Sie sagten, daß die Ungewißheit bald zu Ende sein wird. Wen halten Sie denn für den Täter? Das würde mich interessieren.“ „Das kann ich Ihnen nicht verraten, ich weiß es nämlich selbst noch nicht genau. Es gibt einen Hinweis, der Licht in die Dunkelheit bringt, doch ich muß mir erst die Beweise beschaffen, ehe ich etwas Endgültiges sagen kann. Das, ist so ähnlich wie in der Medizin; der Patient erfährt als letzter, was eigentlich gespielt wird.“ Nikolai lächelte und stand auf. „Ich hoffe sehr, daß Sie bei Ihrer Diagnose keinen Fehler machen, Herr Kollege. 212
Es ist recht peinlich, wenn Sie dem Falschen die Ohren abschneiden.“ „Keine Sorge“, lachte Kreutzer, „wir betäuben ja unsere Opfer nicht. Sie bleiben bei Verstand und können sich verteidigen.“ „Wenn sie einen haben“, sagte Nikolai, stülpte den Hut auf, griff seinen Mantel und war verschwunden. Arnold stellte Nikolais Stuhl an seinen alten Platz zurück. „Was halten Sie von diesem Auftritt?“ fragte er. Kreutzer zuckte die Schultern. „Ich möchte annehmen, daß er uns die Wahrheit gesagt hat. Einen anderen Grund für seinen Besuch kann ich nicht entdecken.“ „Sie sprachen eben von einem Hinweis, der Licht in das Dunkel bringt. Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, das hört sich für meinen Geschmack ein bißchen orakelhaft an. Oder wollten Sie ihn nur trösten?“ „Durchaus nicht.“ Kreutzer drehte sich um und sah seinen Kollegen mit einem sanften Lächeln an, das nicht frei von Spott war. „Sie sind doch sonst so helle. Haben Sie nicht bemerkt, daß uns Nikolai einen großartigen Tip gegeben hat?“ Arnold krauste die Stirn und dachte angestrengt nach. „Nein“, sagte er endlich, „was ist es gewesen?“ Kreutzer lächelte immer noch. „Vorläufig ist es nur ein Verdacht. Jetzt brauche ich noch ein paar Fakten, und zwar so schnell wie möglich. Nehmen Sie einen Wagen, und fahren Sie nach Lehnin zum Jugendwerkhof. Fragen Sie Perschke, ob er Dieter Nikolai und Bruno Hecht kennt oder wenigstens einen von beiden. Wenn Sie zurück sind, machen Sie bitte darüber einen Bericht, und zwar mit allen Einzelheiten, die Sache ist mir sehr wichtig.“ 213
Arnold ließ sich zögernd hinter seinem Schreibtisch nieder und machte ein saures Gesicht. „Soll das heißen, Sie wollen mich zappeln lassen?“ fragte er. „Neugierig wie eine alte Jungfer“, sagte Kreutzer freundlich. „Es ist im Augenblick wirklich keine Zeit für tiefschürfende Diskussionen. Denken Sie doch selbst mal ein bißchen nach.“ Er ging zum Schrank, nahm seinen Regenmantel heraus und warf ihn über den Arm. „Ich fahre jetzt nach Ludwigsfelde und rede mit dem Bäckermeister. Also, bis dann!“ Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß, und seine Schritte entfernten sich quietschend über den frischgebohnerten Korridor. Arnold saß minutenlang völlig reglos, den Kopf in die Fäuste gestützt, und starrte auf die Tür. Die Erleuchtung blieb aus.
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26. Über der Ladenfront mit den zwei großen Fensterscheiben war ein schwarzes Glasschild in die Hauswand eingelassen, von dem in Goldbuchstaben die Inschrift glänzte: Ferdinand Lenkeit, Brot- & Feinbäckerei Eine rot und weiß gestreifte Sonnenmarkise spendete Schatten für die Torten auf durchbrochenen Papierservietten und die kunstvoll errichteten Pyramiden aus Mohnbrötchen und Salzstangen. Das Haus war einstöckig, hatte ein flaches Dach, vier Fenster zur Straße und eine saubere, ockergelb verputzte Fassade. Der Eingang zur Backstube und zur Wohnung befand sich an der linken Seite, hinter einem weißen, frisch gestrichenen Holzzaun. Das Tor stand auf; in der Einfahrt, mit dem Heck halb in der Garage, parkte ein kornblumenblauer P 70. Kreutzer drückte auf den Klingelknopf. Eine füllige Dame mit weizenblonder Dauerwelle ließ ihn eintreten und führte ihn, nachdem er den Wunsch vorgebracht hatte, Herrn Lenkeit in einer geschäftlichen Angelegenheit zu sprechen, in ein schmales Zimmer hinter dem Laden. Es schien hauptsächlich als Büro benutzt zu werden, war mit dunklen Möbeln ausgestattet, und über dem mit Geschäftspapieren bedeckten Schreibtisch hing ein goldgerahmter Meisterbrief aus dem Jahre 1929. „Bitte, setzen Sie sich einen Augenblick. Mein Mann ist in der Backstube. Er wird sofort kommen“, sagte sie und verließ das Zimmer. 215
Kaum hatte Kreutzer Platz genommen, da kam Bäckermeister Lenkeit auch schon schwungvoll herein. Er war ein rundlicher Mann zwischen fünfzig und sechzig Jahren, hatte kohlschwarze Augen, einen schmalen Schnurrbart auf der Oberlippe und eine tiefbraune Gesichtsfarbe, von der sich die weißen, regelmäßigen Zähne und eine Goldkrone schimmernd abhoben. Auf dem Kopf trug er eine Konditormütze, nicht bieder und kerzengerade, sondern mit einer genau berechneten Neigung, die Schick und Pfiffigkeit verriet, und über der Bäckerhose aus kleinkariertem Pepita spannte sich eine frische weiße Schürze. Er war wie aus dem Ei gepellt und hatte trotz seiner Korpulenz eine fast südländische Eleganz. „Guten Tag“, sagte er und reichte Kreutzer die Hand. „Lenkeit. Was verschafft mir die Ehre?“ Kreutzer stellte sich vor und erklärte, daß er wegen eines Wartburgs komme, den ein Mann, der sich Dr. Nikolai nannte, vor fünf Wochen verkaufen wollte. Lenkeit warf ihm einen prüfenden Blick zu. Seine Augen waren hellwach. Mit einer einladenden Bewegung wies er auf einen Polsterstuhl und setzte sich selbst hinter den Schreibtisch. „Sie sagten, ein Mann, der sich Doktor Nikolai nannte. Wie soll ich das verstehen?“ „Der Mann war ein Betrüger. Der Wartburg, den er Ihnen vorführte, gehörte ihm nicht, und die viertausend Mark Anzahlung hat er Ihnen vermutlich mit einem Trick aus der Tasche gezogen.“ Lenkeits Gesicht wurde fahl unter der braunen Haut. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Woher kommen Sie eigentlich?“ fragte er tonlos. „Kriminalpolizei.“ Lenkeit verdrehte nur die Augen und versank in brü216
tendes Schweigen. Kreutzer wartete, doch da der Bäckermeister sich nicht rührte, sagte er schließlich: „Ich möchte Sie um einige Auskünfte bitten. Sicherlich haben Sie den Wunsch, eines Tages Ihre viertausend Mark wiederzusehen.“ Lenkeit richtete sich auf. „Viertausend Mark? Ich verstehe Sie nicht!“ Lächelnd schüttelte Kreutzer den Kopf. „Zum Versteckspielen sind wir beide schon etwas zu alt.“ Er griff in die Innentasche seines Jacketts und zog den Umschlag mit Lenkeits Brief hervor. „Das haben Sie geschrieben, nicht wahr?“ Lenkeit nahm den Umschlag und überzeugte sich, ob es auch wirklich sein Schreiben war. Dann nickte er. „Ja, das habe ich geschrieben.“ Mit einer gleichgültigen Handbewegung warf er den Umschlag zu den Papieren auf seinem Schreibtisch. „Wenn dieser Nikolai ein Betrüger war, auf welche Weise kommen Sie dann zu meinem Brief?“ „Es existiert ein echter Nikolai. Der Betrüger entwendete ihm den Wagen, und er benutzte auch Doktor Nikolais richtige Anschrift, falls die Opfer auf den Gedanken kommen sollten, im Telefonbuch nachzusehen oder sich auf andere Weise Auskunft über die Existenz dieses Mannes zu verschaffen. Doktor Nikolai erhielt Ihr Mahnschreiben und gab es an uns weiter.“ „Ach so.“ Lenkeit verfiel wieder in brütendes Schweigen, wobei er mehrmals ungläubig den Kopf schüttelte. Dann sagte er: „Ich verstehe nicht, warum der Gauner die richtige Adresse angab. Das mußte doch den Betrug früher oder später aufdecken.“ „Gewiß, das war ja in jedem Falle unvermeidlich. Die Betrogenen würden sich, sobald sie den Schwindel be217
merkten, an die Polizei wenden. Doch diesen Zeitpunkt konnte er ungefähr vorausberechnen. Das hing doch davon ab, was für ein Märchen er dem Käufer erzählte. Viel größer erschien ihm offensichtlich die Gefahr, einen falschen Namen und eine falsche Adresse zu nennen. Dabei konnten die Opfer unter gewissen Umständen sehr schnell Verdacht schöpfen. Deshalb wohl nannte er den richtigen Namen des Autobesitzers. Notfalls hätte er sich dann auch mit der Ausrede aus der Affäre ziehen können, er sei der Beauftragte Doktor Nikolais. Vermutlich hielt er sich für sicher genug, das zu riskieren.“ Lenkeit massierte sich mit Daumen und Fingerspitzen das Kinn. „Trotzdem, mir ist das rätselhaft. Der Wagen wurde in einer Zeitungsannonce zum Verkauf angeboten. Ich meldete mich, erhielt einen Anruf, machte einen Termin aus, und der Kerl kam eines Abends mit dem Wagen hierher. Inzwischen waren etwa vierzehn Tage seit der Anzeige vergangen. Wie konnte er es nach dieser Zeit noch wagen, mit einem gestohlenen Auto umherzufahren? Die Polizei mußte doch längst alarmiert sein.“ „Nein. Der Wagen wurde erst am selben Abend, kurz bevor man damit hier auftauchte, entwendet. Nachdem die Anzahlung kassiert war, stellte man ihn in aller Stille dort wieder ab, wo man ihn weggenommen hatte.“ „Ist es möglich, ein Auto zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt zu entwenden? Ich kann mir das gar nicht vorstellen.“ „Es ist möglich, wenn alles nach einem genau kalkulierten Plan verläuft. Die Betrüger sind offensichtlich sehr vertraut mit den Lebensgewohnheiten des Wagenbesitzers. Sie wußten ganz genau, wann er Nachtdienst hatte und den Wagen auf dem Parkplatz vor der Klinik stehenließ. Für den Wartburg hatten sie sich Ersatzschlüssel 218
beschafft.“ Lenkeit hatte mit halbgeschlossenen Augen zugehört, ein wenig nach vorn gebeugt und die Hände unter das Kinn gestützt. „Unter diesen Umständen“, sagte er, „kann sich der Verdacht nur gegen den Personenkreis in der Umgebung Doktor Nikolais richten.“ Er öffnete die Augen vollends und lächelte. „Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen ins Handwerk pfusche. Denkprobleme dieser Art haben mich schon immer interessiert.“ „Das ist sehr schön“, sagte Kreutzer. „Dann muß ich Ihnen nicht erklären, wie wichtig Ihre Hilfe für uns sein kann. Übrigens haben Sie recht mit dem Personenkreis; auch wir sind zu dieser Überzeugung gelangt. Leider ist er sehr groß, und theoretisch müßte man alle Patienten des Arztes und das ganze Krankenhaus dazurechnen. Was ich von Ihnen brauche, Herr Lenkeit, ist eine möglichst genaue Beschreibung der Täter und ihres Auftretens.“ Lenkeit nickte. „Ich bin gern bereit. Aber der Vorfall liegt immerhin schon fünf Wochen zurück. Es wird etwas schwierig werden.“ „Wie sah der Mann aus, der sich als Nikolai vorstellte?“ „Tja, er trug einen hellgelben Mantel aus irgendeiner Kunstfaser, war etwa mittelgroß und – hatte einen Hut auf. Er behielt ihn die ganze Zeit auf dem Kopf, ich erinnere mich, daß ich mich darüber wunderte.“ „Rauchte er, während er mit Ihnen sprach?“ „Das weiß ich nicht mehr. Einen Augenblick, ich will einmal nachdenken, wie die Sache vor sich ging. Er kam wenige Minuten nach zwanzig Uhr hier an. Das Tor war noch auf, und er fuhr bis vor die Garage. Ich trat vor die Haustür, wir stellten uns vor. Ich sah mir nur sehr kurz 219
den Wartburg an – es war ja auf den ersten Blick zu erkennen, daß er noch fast neu war –, und wir gingen dann hierher in mein Büro. Ich selbst rauche schon seit Jahren nicht mehr, doch ich habe meistens eine Schachtel Zigaretten im Schreibtisch für die Besucher.“ Er öffnete ein Schreibtischfach und nahm eine Schachtel Filterzigaretten heraus. „Übrigens, darf ich Ihnen eine anbieten?“ fragte er. „Vielen Dank“, sagte Kreutzer. „Ich bin Nichtraucher – genau wie Sie.“ Lenkeit ließ die Schachtel wieder im Schubfach verschwinden. „Sehr vernünftig! Ja, ich glaube, ich bot auch diesem Burschen eine Zigarette an. Aber er lehnte ab. Jetzt fällt es mir wieder ein: Er holte eine Zigarre aus der Brusttasche und begann zu rauchen.“ Kreutzer stieß ärgerlich die Luft durch die Nase. „Genau wie der echte Nikolai! Haben Sie sonst noch irgend etwas im Gedächtnis? Eine Eigentümlichkeit in Aussehen, Haltung oder Benehmen?“ Lenkeit schlug hilflos die Hände zusammen. „Ich habe den Mann nur noch schemenhaft im Gedächtnis. Unser Gespräch dauerte nicht länger als eine halbe Stunde, und das ist vor mehr als einem Monat gewesen. Soweit ich mich erinnere, war es ein ganz alltäglicher Mann ohne besondere Kennzeichen oder auffälliges Benehmen. Als Betrüger hatte er auch guten Grund, alles zu vermeiden, was eine Identifizierung erleichtert. Ich kann mir sein Gesicht heute überhaupt nicht mehr vorstellen, weder die Augen noch den Mund oder die Nase. Es ist nur noch ein grauer Fleck. Er trug keinen Bart. Mehr kann ich nicht sagen.“ „Und die Hände? Hatte er vielleicht einen Ring auf? 220
Waren sie hart, oder waren sie weich? Wer einen Blick dafür hat, kann an den Händen unterscheiden, welcher Mensch praktisch arbeitet und welcher, sagen wir ganz allgemein, Büroarbeit macht.“ Lenkeit schüttelte resigniert den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich glaube, es gibt unter tausend Menschen kaum einen, der das im Gedächtnis behält. Unsere Beobachtungsgabe ist so schlecht, daß man bei einer flüchtigen Begegnung schon nach einer Stunde nicht mehr weiß, was für einen Anzug der andere anhatte, von Schuhen, Hemd und so weiter ganz zu schweigen. Ich bin auch nur ein Durchschnittsmensch. Erwarten Sie bitte keine Wunder.“ Kreutzer seufzte. „Also zum nächsten Punkt. Bitte schildern Sie mir den Auftritt des Motorradfahrers.“ „Woher wissen Sie das?“ Lenkeit sah ihn mißtrauisch an. „Davon habe ich doch noch gar nichts erwähnt.“ „Sie sind nicht das erste Opfer, mit dem ich mich unterhalte. Das Ziel des Betrügers war es doch, daß Sie eine Anzahlung herausrücken. Dazu mußte man Sie auf möglichst eindrucksvolle Weise bewegen, ohne daß Sie einen Verdacht schöpften. Nachdem Sie nun angebissen hatten, taucht also der zweite Mann auf und tut so, als wolle er Ihnen den Happen wegschnappen, indem er eine hübsche runde Summe als Anzahlung bietet. Was tut ein Geschäftsmann in diesem Falle? Er bietet seinerseits eine Anzahlung, nicht wahr?“ Lenkeit schlug sich mit der Faust vor die Stirn. „Ich Hornochse! Wie konnte ich nur darauf ’reinfallen. Genauso ist es gewesen!“ „Erzählen Sie bitte, wie sich das abspielte.“ „Ja, ich glaube, der falsche Nikolai war gerade dabei, mir einzureden, daß er seinen Wartburg nur deshalb ver221
kaufen wollte, weil er in etwa vier Wochen einen Wolga bekommen würde, der für seine große Familie bequemer sei. Da klingelte es, und meine Frau kam und sagte, ein junger Mann sei draußen, der unbedingt Doktor Nikolai sprechen wolle. Wir gingen hinunter. Der Schuft tat völlig ahnungslos und konnte sich angeblich gar nicht erklären, was los war und wie man ihn bei mir aufgestöbert hatte. Kaum traten wir aus der Tür, fiel ein Jüngling über ihn her und machte ein schreckliches Gezeter.“ „Wie sah er aus?“ „Roter Sturzhelm, graue Lederkombination. Er hatte den Helm auf und ein Halstuch über das Kinn hinaufgezogen. Auf der Stirn eine Motorradbrille. So unpersönlich wie ein Marsmensch.“ „Was hatte er für ein Motorrad?“ „Das habe ich gar nicht zu Gesicht bekommen. Er hatte es auf der Straße gelassen, links hinter dem Haus, wo man es von der Einfahrt aus nicht sehen konnte. Ich hörte später nur, wie er mit aufheulendem Motor davonraste.“ „Wie verlief das Gespräch zwischen den beiden?“ „Der junge Mann jammerte, Doktor Nikolai hätte versprochen, ihm den Wagen zu verkaufen. Er brauche ihn dringend und habe sich auf diese Zusage verlassen, Nikolai tat so, als wäre ihm der Vorfall furchtbar peinlich, und versuchte, den Motorradfahrer zu beruhigen und abzuschieben. Diesen Eindruck hatte ich jedenfalls. Mir kam nicht der geringste Verdacht, daß die Szene nur gespielt sein könnte. Dann rückte der junge Mann mit seinem Angebot heraus, auf der Stelle eine Anzahlung von fünftausend Mark zu leisten. Er holte einen dicken Packen Geld aus einer Tasche seiner Lederkombination und hielt es Nikolai unter die Nase. Nikolai sagte darauf so etwa: ‚Sie wissen doch, daß 222
Sie auf den Wagen mindestens noch vier Wochen warten müssen‘, und der andere antwortete, das wäre ihm egal. Die fünftausend würde er sofort zahlen, damit er die Sicherheit habe, den Wagen auch wirklich zu bekommen. Das schien Eindruck auf Nikolai zu machen. Er sagte: ‚Kommen Sie heute abend zu mir nach Hause, da können wir noch einmal in Ruhe über die Sache sprechen. Ich habe noch niemandem etwas endgültig zugesagt.‘ Ich wurde nervös, der Wagen gefiel mir ausgezeichnet, und ich wollte ihn mir nicht noch in letzter Sekunde ausspannen lassen. Deshalb fing ich an, krampfhaft nach einem Ausweg zu suchen. Als der junge Mann weggefahren war, gingen wir wieder in mein Büro. Es war deutlich zu bemerken, daß Nikolai nicht mehr so recht bei der Sache war. Er hörte kaum noch zu, seine Gedanken schienen sich mit den fünftausend Mark zu beschäftigen. Auf meine Frage, ob er mir den Wagen fest zusagen könne, reagierte er mit allerlei Ausflüchten. Es war praktisch ein Rückzieher. Das war für mich das Alarmsignal, es gab den Ausschlag. Ich ließ also die Katze aus dem Sack und bot ihm ebenfalls eine Vorauszahlung an. Mein Vorschlag war zunächst, ihn am folgenden Tag in seiner Wohnung aufzusuchen und ihm die fünftausend zu übergeben, denn ich hatte natürlich nicht soviel Bargeld im Hause. Darauf wollte er sich aber nicht einlassen. Er hätte in den nächsten Tagen sehr viel zu tun, wäre wahrscheinlich auch gar nicht zu Hause und würde in einigen Tagen seine Urlaubsreise ins Ausland antreten. Das beste wäre wohl, unser Geschäft noch einige Wochen aufzuschieben, er würde sich später wahrscheinlich wieder melden. Darauf wollte ich mich nun wieder nicht einlassen, aus verständlichen Gründen, wie mir damals schien.“ 223
Lenkeit machte eine Pause, zog ein schneeweißes Taschentuch hervor und betupfte sich die Stirn, auf der sich winzige Schweißperlen gebildet hatten. Dann nahm er eine Rolle Traubenzuckerdrops aus der Brusttasche, riß das Papier auf und hielt Kreutzer die Rolle hin. Kreutzer lehnte dankend ab. Lenkeit machte eine bedauernde Geste, steckte einen Drops in den Mund und setzte seinen Bericht fort: „Ich kratzte alles Bargeld zusammen, was wir im Hause hatten – es waren etwas über fünfzehnhundert Mark –, und rief dann meinen Schwiegersohn an, der hier in der Nähe wohnt und von dem ich wußte, daß er immer etwas Geld griffbereit hat. Nachdem ich ihm die Situation erklärt hatte, sagte er, daß er in einer Viertelstunde zweitausend Mark bringen könne. Dann holte ich mir noch fünfhundert Mark bei meinem Gesellen und einer Verkäuferin, die bei mir im Hause wohnen, und kam so auf viertausend Mark. Damit erklärte sich Nikolai schließlich einverstanden, wenn er auch so tat, als wäre das doch eigentlich gar nicht nötig gewesen. Er gab mir seine Adresse, und ich …“ „Moment bitte“, unterbrach Kreutzer, „in welcher Form gab er Ihnen die Adresse?“ „In welcher Form?“ Lenkeit sah erstaunt auf. „Sie meinen … Ach so, er nahm seine Brieftasche heraus und wollte sie mir wohl auf einen Zettel schreiben, aber da fand er einen Briefumschlag, auf dem seine Anschrift stand, und den gab er mir. Warum denn viele Umstände machen, meinte er, oder etwas Ähnliches. Mir war das ja egal.“ „Haben Sie diesen Umschlag noch?“ „Ich glaube schon. Einen Augenblick bitte.“ Er stand auf und begann einen Packen Papiere zu 224
durchstöbern, der in einem offenen Kästchen an der äußersten Ecke seines Schreibtisches lag. „Ja, hier ist er schon.“ Er reichte Kreutzer ein nicht mehr ganz sauberes Kuvert aus gelblichem Papier. Die Anschrift war mit Schreibmaschine geschrieben. Oben rechts klebte eine Zwanzigpfennigmarke, abgestempelt am 2. August in Potsdam. Der Umschlag glich in Form, Farbe und Schrift genau dem, den Kranepuhl erhalten hatte, daran gab es keinen Zweifel. Kreutzer drehte ihn um. Der Absender lautete: Brigitte Alverdes, Wilhelmshorst, Lortzingweg 5. Er mußte unwillkürlich lächeln. Die Frechheit dieser Brüder geht so weit, dachte er, daß sie sich auch noch Witze erlauben. „Darf ich diesen Umschlag behalten?“ fragte er. Der Bäckermeister nickte, und Kreutzer steckte das Papier in die Innentasche seines Jacketts. „Ich habe Sie vorhin unterbrochen, bitte fahren Sie fort.“ Lenkeit dachte einige Sekunden nach. „Ja, dann kam mein Schwiegersohn und brachte das Geld. Ich hatte inzwischen eine Quittung ausgestellt. Der Kerl unterschrieb, und ich zählte ihm den Betrag vor.“ „Wenn es möglich ist“, sagte Kreutzer, „würde ich gern einen Blick auf diese Quittung werfen.“ „Bitte schön.“ Lenkeit nahm einen dünnen Aktenordner zur Hand und schlug ihn auf. Er löste den Verschluß, zog einen halben Briefbogen heraus und legte ihn vor Kreutzer auf den Schreibtisch. Es war ein einfacher weißer Bogen aus einem Schreibblock, auf den Lenkeit mit blauer Tinte eine Empfangsbestätigung über viertausend Mark geschrieben 225
hatte. Die Unterschrift des falschen Nikolai war fast unleserlich, der gleiche flüchtige Krakel wie auf den Quittungen von Kranepuhl und von der AnzeigenAnnahmestelle. „Heben Sie diesen Beleg gut auf“, sagte Kreutzer, „die Unterschrift stammt zwar von einem Betrüger, aber sie ist trotzdem ihr Geld wert. Wenn wir ihn erwischt haben, muß er auf Heller und Pfennig zurückzahlen, und wenn er jahrelang daran abstottert.“ „Sind Sie so sicher, daß Sie ihn erwischen?“ fragte Lenkeit. Er legte die Quittung in den Ordner und stellte ihn an seinen Platz zurück. „Ja“, sagte Kreutzer unbewegt. „Können Sie sich noch an den Motorradfahrer erinnern? Alter, Größe, Benehmen, Ausdrucksweise oder Stimme?“ „Viel habe ich nicht von ihm sehen können, er war ganz vermummt. Ich würde sagen, ein junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, vielleicht auch etwas jünger, Größe ungefähr einssiebzig, ziemlich kompakt. Doch da kann ich mich täuschen, weil er eine dicke Lederkombination trug. Über die Stimme kann ich gar nichts mehr sagen, sie war nicht ungewöhnlich, sonst würde ich davon einen Eindruck zurückbehalten haben. Und die Ausdrucksweise? Ja, ganz alltäglich, wie jeder Mensch hier spricht.“ „Könnte es sich um einen Studenten gehandelt haben?“ Lenkeit zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht recht. Möglich schon. Er war aufgeregt und redete sehr schnell auf Nikolai ein – wie soll ich das beschreiben? Vielleicht ein bißchen überdreht oder hysterisch. Ja, hysterisch, das wäre etwa das richtige Wort.“ „Als Ihr Schwiegersohn das Geld brachte, hat er dabei 226
den falschen Nikolai zu Gesicht bekommen?“ „Ich muß mal überlegen. Wie war denn das?“ Lenkeit sah sinnend auf seine Hände. „Nein, meine Frau sagte mir Bescheid, daß Peter gekommen sei. Ich ging dann ’raus, und er gab mir im Flur das Geld. Er hat den Mann nicht gesehen.“ „Aber Ihre Frau hat ihn gesehen. Ich möchte gern mit ihr sprechen, vielleicht kann sie uns einen Hinweis geben.“ „Soll sie gleich kommen?“ „Ja, wenn es möglich ist.“ Lenkeit erhob sich, öffnete die Tür und rief auf den Flur hinaus: „Betty! Betty, hast du mal einen Augenblick Zeit?“ Irgendwo schlug eine Tür, und kurz darauf trat Frau Lenkeit ins Zimmer. Sie hatte den Kittel ausgezogen und trug ein dunkelblaues Kleid aus Wollstoff mit einem weißen Kragen und dazu elegante weiße Schuhe. Ihre hellblauen Augen unter den feingeschwungenen Brauen waren von langen Wimpern umgeben, und trotz Puderschicht und Doppelkinn zeigte ihr rosiges Gesicht noch viele Spuren einstiger Schönheit. Der Duft eines teuren Parfüms war mit ihr ins Zimmer gekommen. Kreutzer reichte ihr die Hand und nannte seinen Namen. Sie lächelte ihm eine Sekunde freundlich zu und wandte sich dann an ihren Mann. „Ich wollte gerade wegfahren, du weißt doch, daß ich um halb zwölf beim Arzt angemeldet bin. Ist es etwas Wichtiges?“ „Der Herr kommt von der Kriminalpolizei, Betty“, sagte Lenkeit mit dumpfer Stimme. „Er hat den Wunsch, dir einige Fragen zu stellen.“ Um seine Mundwinkel zuckte dabei ein leichtes Lächeln; es schien ihm Spaß zu machen, seiner Frau einen 227
Schreck einzujagen. Doch dieses Mal hatte er kein Glück. Sie schob den Saum ihres Kleides zurecht und sagte: „Bitte, laß doch deine Scherze. Was gibt es nun wirklich?“ Die beiden Männer setzten sich. „Es ist leider kein Scherz, Frau Lenkeit, Ihr Mann wollte einen Wartburg kaufen und hat dafür viertausend Mark in bar angezahlt. Er ist einem Betrüger zum Opfer gefallen. Der Mann, der sich als Doktor Nikolai ausgab, war weder Doktor Nikolai noch gehörte ihm der Wagen. Ich möchte Sie bitten, mir diesen Mann so genau wie möglich zu beschreiben. Sie haben ihn doch gesehen.“ Frau Lenkeit preßte die zyklamenfarbenen Lippen zusammen, atmete mit einem zischenden Geräusch durch die Nase und starrte ungläubig von einem zum anderen. „Das ist ganz ausgeschlossen! Er hat seine Adresse hinterlassen – und die Anzeige in der Zeitung, die war doch echt.“ Ihre Stimme rutschte eine Oktave höher. „Wie konnte er einen Wagen …“ „Das erkläre ich dir später“, schnitt ihr der Gemahl das Wort ab, „jetzt beantworte erst einmal die Fragen.“ Sie warf ihm unter flatternden Augenlidern einen giftigen Blick zu und sagte etwas schrill: „Na schön, wenn es unbedingt nach deinem Kopf gehen muß! Also stellen Sie Ihre Fragen, junger Mann.“ Lenkeit lehnte sich mit einem zufriedenen Lächeln in seinem Stuhl zurück, wickelte eine Traubenzuckertablette aus dem Papier, streckte die Zunge heraus, legte die Tablette mit zwei spitzen Fingern darauf und zog sie unter genießerischem Augenverdrehen in den Mund. „Laß doch diese Albernheiten“, zischte seine Frau wütend. Sie wandte sich an Kreutzer: „Mit viel Geduld habe ich ihm das Rauchen abgewöhnt und ihm statt dessen 228
Traubenzucker gegeben. Als Dank dafür benutzt er jede Gelegenheit, mich damit zu verhöhnen. Ich finde das abscheulich.“ Kreutzer nickte höflich und fragte: „Frau Lenkeit, welchen Eindruck machte dieser Betrüger auf Sie?“ „Ja, was soll ich Ihnen sagen. Ich glaube, er war größer als ich.“ Das war keine Antwort, die Kreutzer gebrauchen konnte. Frau Lenkeit war knapp einsfünfundfünfzig groß. „Wie alt schätzen Sie ihn?“ „Daran kann ich mich nicht erinnern.“ „Nur ungefähr. War er alt oder jung?“ „Ich weiß nicht, ungefähr zwischen dreißig und fünfzig“, sagte sie kühl. Offensichtlich hatte sie keine Lust, sich ernstlich Gedanken über die Fragen zu machen. Kreutzer verlor nicht die Geduld. „Wie war er gekleidet?“ fragte er, als hätte er ihre Widerspenstigkeit nicht bemerkt. Frau Lenkeits Augen leuchteten auf. Wie es schien, hatte er mit dieser Frage das Gebiet berührt, dem ihr Interesse galt. „Einen gelben Nylonmantel und rehfarbene Schuhe aus geflochtenem Leder. Sie fielen mir sofort auf, ich habe nämlich eine Schwäche für Schuhe und dachte mir, das wäre auch etwas für unseren Peter, den Mann meiner Tochter. Passend zu den Schuhen und zum Mantel hatte er hellbraune Autohandschuhe. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, daß ein billiger Betrüger …“ „Betty!“ unterbrach sie ihr Mann mit einem flehenden Ton in der Stimme. „Bleib bei der Sache. Du sollst dir doch gar nichts vorstellen, sondern einfach das erzählen, was du wirklich gesehen hast.“ „Können Sie sich an das Gesicht des Mannes erin229
nern?“ fragte Kreutzer. Frau Lenkeit zog gekränkt die Mundwinkel nach unten. „Mein Mann läßt mich ja nicht zu Wort kommen. Wie soll ich da etwas erklären?“ „Bitte, sprechen Sie, wir werden Sie nicht mehr unterbrechen.“ „Also schön. Was fragten Sie? Wie der Mann aussah? Nicht unangenehm, wenn Sie das verstehen. Die Einzelheiten sind mir natürlich entfallen, aber er hatte eine männliche, durchaus nicht unsympathische Ausstrahlung. Doch, er machte einen recht guten Eindruck auf mich.“ „Woran lag das? War es seine Haltung, sein Auftreten, oder waren es äußerliche Merkmale?“ „Nein, eigentlich nicht. Ich kann es gar nicht mehr sagen, es war wohl mehr die gesamte Erscheinung. Schon nach den ersten Worten kam er mir irgendwie vertraut vor.“ Lenkeit schüttelte vielsagend den Kopf. „Ich weiß ja, dir kommt das lächerlich vor“, fuhr sie ihn an. „Ich kann es nicht erklären, aber so etwas gibt es eben.“ „Manche Menschen werden durch eine angenehme Stimme beeindruckt“, sagte Kreutzer. „War es vielleicht die Stimme, die Ihnen vertraut vorkam?“ „Die Stimme – die Stimme?“ Frau Lenkeit stützte den Ellenbogen auf die Armlehne des Stuhls, neigte nachdenklich den Kopf und spielte mit dem Ring an ihrer Linken, der vier wasserklare Steine in einer rechteckigen Goldfassung trug. „Ja“, sagte sie, „das könnte es gewesen sein. Ich bin an der Waterkant aufgewachsen. Deshalb sind mir wohl Leute sympathisch, die plattdeutsch sprechen. Und dieser Mann hatte einen niederdeutschen Tonfall, ich erinnere 230
mich jetzt ganz deutlich. Als er wegfahren wollte und in den Wagen einstieg, habe ich bemerkt, daß die Fußmatte vor dem Fahrersitz sehr schmutzig war. Er sah meinen Blick und entschuldigte sich mit einer Bemerkung, so etwa: ‚Hier‘ – also auf der Fußmatte –‚muß man auch wieder einmal mit dem Feudel Ordnung schaffen‘ oder so ähnlich. Er benutzte das Wort Feudel, das hier in der Gegend ganz unbekannt ist. So sagt man an der Küste zu einem Aufwischlappen oder Scheuertuch. Ich bin ganz sicher, daß er ein Norddeutscher war.“ „Sehr schön“, sagte Kreutzer erfreut. „Ich denke, das wird uns weiterhelfen.“ Dann nahm er aus seiner Brieftasche ein flaches Tütchen und ließ zwei Paßbilder auf seine Handfläche gleiten. „Sind Ihnen die Gesichter bekannt?“ Er gab ihr die Bilder. Sie betrachtete sie und reichte sie dann kopfschüttelnd an ihren Mann weiter. „Nein, diese Herren habe ich noch nie gesehen. Ins Geschäft kommen natürlich viele Leute, deshalb kann man nie ganz sicher sein. Doch näher bekannt sind sie uns auf keinen Fall.“ Der Meister bestätigte das. Auch ihm sagten die Bilder nichts. Kreutzer steckte sie wieder in seine Brieftasche. „Ich hatte diese Antwort fast erwartet“, sagte er. „Es waren der echte Doktor Nikolai und sein Sohn Dieter, der übrigens eine graue Lederkombination und einen roten Sturzhelm besitzt.“ Lenkeit wurde aufmerksam. „Moment bitte! Roter Sturzhelm und Lederkombination? Der Jüngere der beiden trug doch diese Kleidung.“ „Wollen Sie damit andeuten, daß … Darf ich das Bild 231
noch einmal sehen?“ Kreutzer gab es ihm, und Lenkeit sah es noch einmal sorgfältig an und versank in Nachdenken. Schließlich sagte er zögernd: „Ich kann nicht mit Gewißheit behaupten, daß dieser junge Mann der Motorradfahrer war. Jemanden leichtfertig verdächtigen, das ist nicht meine Art. Aber immerhin – er könnte es sein. Eine gewisse Ähnlichkeit ist. vorhanden.“ Lenkeit wiegte den Kopf, dann winkte er ab. „Aber nein, das ist Unsinn. Sagten Sie nicht, es sei der Sohn des richtigen Nikolai? Das schließt ihn von jedem Verdacht aus. Er hat es doch gar nicht nötig, sich auf so schmutzige Weise Geld zu beschaffen.“ Kreutzer schwieg. Er hatte schon Schlimmeres erlebt als einen Sohn, der unter dem Namen und mit dem Auto seines Vaters krumme Geschäfte machte. Er stand auf, trat an den Schreibtisch und griff nach dem Brief, den Lenkeit an Dr. Nikolai geschrieben hatte. Während er ihn in die Innentasche seines Jacketts schob, sagte er: „Ich danke Ihnen für Ihre Auskünfte. In den nächsten Tagen werden Sie von uns hören. Es sieht jetzt so aus, als ob wir die Vögel bald im Käfig haben.“
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27. Ein böiger West, Vorbote herbstlicher Stürme, wühlte im Geäst der Blutbuche, riß das Laub von den Zweigen und wirbelte es über die Rasenfläche. Jagende Wolkenfetzen verschlangen die Mondsichel. Das fahle Licht, das auf den weißen Hauswänden und den Schieferplatten des sanft geneigten Daches geschimmert hatte, war wie weggewischt. Dunkel lag das große Haus, versunken im Schlaf. Nur die hölzerne Fensterlade an Dr. Nikolais Wartezimmer klapperte endlose Krankengeschichten in die Nacht, und die zwei ineinandergewachsenen Kiefern auf dem Nachbargrundstück knarrten und ächzten im Wind. Aus dem schwarzen Schatten der Rosenbüsche löste sich eine Gestalt, glitt an der Hauswand entlang, huschte um die Ecke der Terrasse und dann die flachen Stufen zum Wintergarten hinauf. Leise knirschte brechendes Glas. Ein dunkles Knäuel flog in die mondbleiche Blütenpracht der Dahlien. Ein Schlüssel knackte. Geräuschlos gab die Tür nach, und die Gestalt tauchte in den dunklen Wintergarten. Behutsam tastend schob sie sich zwischen den Korbmöbeln und den üppig wuchernden Blattgewächsen hindurch, lief durch die vom Mondlicht eben wieder schwach erhellte Wohndiele und eilte die Treppe in den ersten Stock hinauf. Sie bewegte sich zielstrebig und mit großer Sicherheit. Der Läufer im Korridor dämpfte die Schritte. An der vorletzten Tür auf der linken Seite drückte sie leise die Klinke nieder und verschwand im Zimmer. 233
Der von einem Tuch gedämpfte Schein einer Taschenlampe glimmte auf. Diffuses Licht fiel in das Zimmer, glitt über Bett, Tisch und Stühle hinweg, geisterte über die Wände, an denen in schmalen Holzrahmen die farbigen Reproduktionen berühmter Automobile hingen. An einem offenen, mannshohen Bücherregal blieb der Schein der Lampe einen Augenblick haften, schwenkte dann auf eine niedrige, schmale Tür, hinter der sich in einer schrägen Dachkammer das Fotolabor befand. Es begann gedämpftes Rumoren und dumpfes Poltern. Im Zimmer nebenan tastete eine Hand nach dem Schalter der Nachttischlampe. Unter dem rosa Schirm flammte die Glühbirne auf, und Karla Vogel, in Nachthaube und blau-gestreiftem Schlafgewand, richtete sich kerzengerade auf, den Kopf lauschend zur Wand geneigt. Allerlei merkwürdige Geräusche drangen an ihr Ohr: Scharren, Rascheln, leises Klirren. Entschlossen schwang sie sich aus dem Bett, angelte mit ihren dürren Beinen nach den Pantoffeln, hing sich den Bademantel um, der über dem Fußende des Bettes lag, und trat hinaus in den Flur. Die Tür ließ sie hinter sich offen. Ein breiter ‚Lichtstreifen fiel über den Läufer und auf die gegenüberliegende Wand. Vorsichtig näherte sie sich dem Nebenzimmer, beugte sich zum Schlüsselloch nieder und lauschte. Das unheimliche Rumoren dauerte an. Sie wollte eintreten, hob schon die Hand – und änderte mit einem Gefühl von Unsicherheit ihre Absicht. Vorsichtig, zögernd klopfte sie an und rief mit gesenkter Stimme: „Dieter? Bist du es? Was ist los mit dir?“ Drinnen verstummten alle Geräusche. Nichts rührte sich, nichts war zu hören. Es begann eine fast drohende Stille. 234
Langsam streckte Karla die Hand nach der Klinke aus, drückte sie nieder. Mit einem leisen, widerspenstigen Knarren öffnete sich die Tür eine Handbreit. Ein erstickter Laut, halb Erschrecken, halb Wut, drang aus dem Zimmer. Ein schwerer Körper prallte von innen gegen die Tür, drückte sie zu mit seinem Gewicht. Ein Schlüssel drehte sich im Schloß. Karla taumelte zurück. Angst kroch ihr den Rücken hinauf, untergrub ihre sonst so energische Aktivität. Hilflos sah sie sich um, die Hände ans Gesicht gepreßt. Ihre Gedanken flatterten hin und her wie aufgeschreckte Hühner. Im Zimmer hatte ein wütendes, beinahe panisches Toben begonnen. Es klirrte, schepperte und krachte. Stoff zerriß mit scharfem Zischen, ein Gestänge polterte zu Boden. Bücherstapel klatschten auf die Erde, Holz splitterte. Die Geräusche waren nicht mehr gedämpft. Es schien nur das Ziel zu sein, in hysterischem Eifer das Zimmer zu verwüsten, aus den Möbeln Kleinholz zu machen. Entsetzt starrte Karla auf die Tür, sie fühlte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten. Die kalte Schwerelosigkeit der beginnenden Ohnmacht wogte von den Kniekehlen her durch den Körper. Ein Lichtblitz, vermischt mit einem dumpfen Knall und dem grellen Splittern von Glas, zuckte hinter den Fugen der Tür. Dann herrschte pechschwarze Finsternis. Die Nachttischlampe in Karlas Zimmer war erloschen. Es gab eine metallisches Knacken, die Tür wurde aufgerissen, etwas schlug hart gegen Karlas Kopf. Sie wankte zurück, spürte für einen Augenblick einen heißen, keuchendem Atem im Gesicht, sah ein bläuliches Licht und eine schattenhafte Gestalt, die den Korridor 235
entlang hetzte, auf die Treppe zu. Hastige Schritte ratterten die Stufen hinunter. Über das Deckengebälk der Wohndiele geisterte ein letzter Schimmer des bläulichen Lichts. Karla ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand fallen und sackte in die Knie. Ihrer Kehle entrang sich ein schriller, langgezogener Schrei.
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28. Es war kurz vor halb acht. Ein Balken Sonnenlicht fiel über den Frühstückstisch, funkelte auf den silbernen Bestecken und im Chrom des Brotrösters. Kaffeeduft schwebte in dem Zimmer mit den hellen Tapeten und den gelbseidenen Kissen auf dem Sofa, und das Geschirr aus Meißner Porzellan gab zarte Töne von sich, wenn jemand die Tasse absetzte oder mit dem Teelöffel die blauweißen Teller berührte. Nikolai saß zwischen Frau und Sohn am Kopfende des großen Tisches, ihnen gegenüber Kreutzer und Arnold. Dieter wirkte übernächtig, er gähnte verstohlen hinter der vorgehaltenen Hand. Besonderen Appetit schien er nicht zu haben. Die Brötchenhälften lagen unberührt auf seinem Teller. Doch er trank schon die dritte Tasse Kaffee. Nikolai biß von seinem Brötchen ab und zuckte die Schultern. „Wir können uns den verrückten Vorfall genausowenig erklären wie Sie. Karla hat es Ihnen Wort für Wort erzählt. Ich wurde von ihrem Geschrei wach und wollte nachsehen, was es gab. Aber das Licht brannte nicht. Ich suchte nach Streichhölzern, tappte in die Küche und holte eine Kerze. Wie sich später herausstellte, war die Hauptsicherung durchgebrannt. Als ich nach oben kam, saß Karla bleich wie ein Laken auf dem Läufer im Korridor. Sie zitterte und klammerte sich an meine Hand, stammelte wirres Zeug von einem tobsüchtigen Mörder, wollte mich nicht in Dieters Zimmer lassen und wimmerte: ‚Er hat unseren Jungen umgebracht, er hat unseren Jungen umgebracht.‘“ Dieter schüttelte den Kopf und rührte unter verlege237
nem Lächeln in seiner Kaffeetasse. Kreutzer blickte auf. „Sie sagten, ‚als ich nach oben kam’. Ihr Schlafzimmer liegt doch im ersten Stock. Sie hätten Fräulein Vogel schon sehen müssen, als Sie hinuntergingen.“ „Nein, ich habe in dieser Nacht auf dem Sofa in meinem Arbeitszimmer geschlafen. Es war gestern abend sehr spät geworden. Ich hatte Berichte durchgesehen und danach gelesen, und dann wollte ich meine Frau so spät nicht mehr stören und blieb deshalb unten.“ „Schlafen Sie des öfteren in Ihrem Arbeitszimmer, Herr Doktor?“ „Nun ja – also hin und wieder kann das schon passieren.“ „Hin und wieder?“ Frau Nikolai lachte. „Im vergangenen Jahr hast du, soviel ich weiß, nur einmal unten geschlafen, und das war in der letzten Nacht. Dir ist doch das Sofa viel zu hart.“ „Haben Sie von dem Einbrecher irgend etwas gehört oder gesehen, Herr Doktor?“ „Nein. Ich bin erst von Karlas Geschrei aufgewacht, und da war er schon durch den Wintergarten verschwunden.“ „Er hat aber nach der Aussage von Fräulein Vogel einen höllischen Lärm gemacht. Wenn man sich das Zimmer anschaut, gibt es daran auch gar keinen Zweifel. Wie erklären Sie sich, daß Sie diesen Krawall nicht bemerkt haben?“ Nikolais Augenbrauen zuckten. Er blickte auf seinen Teller und sagte mit mühsam beherrschter Stimme: „Ich habe dafür keine wissenschaftliche Erklärung. Mein Schlaf ist eben sehr gut, mehr kann ich dazu nicht sagen.“ 238
„Würden Sie bitte erzählen, was geschah, nachdem Sie Fräulein Vogel auf dem Gang gefunden hatten?“ „Ich brachte Karla in das Zimmer meiner Frau, die natürlich auch aufgewacht war. Karla berichtete dann, etwas ruhiger geworden, was vorgefallen war. Ich ging darauf in Dieters Zimmer und sah mir die Bescherung an. Dabei entdeckte ich, daß dieser Verrückte eine mit Wasser gefüllte Vase gegen die Steckdose geschleudert und dadurch einen Kurzschluß erzeugt hatte. Ich riß die verschmorten Reste der Dose aus der Wand, isolierte die Leitungsenden provisorisch mit Heftpflaster und stieg in den Keller, um die Sicherung wieder einzuschalten. Als das Licht im Hause brannte, gab ich den beiden Frauen ein Brompräparat und rief die Polizei an. Meine Frau vermutet, daß ein Zusammenhang existiert zwischen den Betrügern und dieser Wahnsinnstat, und bestand darauf, den Einbruch sofort zu melden. Ich bin davon keineswegs überzeugt. Aber bitte, es ist nicht ganz ausgeschlossen, und weil es ihr so wichtig war, habe ich ihr den Gefallen getan. Sonst hätte ich die Sache auf sich beruhen lassen, zumindest bis ich mit Dieter darüber gesprochen und wir festgestellt hätten, ob etwas gestohlen wurde oder nicht.“ Kreutzer wandte sich an Dieter: „Sie waren zur Zeit des Einbruchs nicht in Ihrem Zimmer. Wo hielten Sie sich auf?“ „Im Restaurant Weinbergterrassen. Dort fand eine Feier der diesjährigen Hochschulabsolventen statt. Ich war eingeladen worden, weil ich mit meiner Kamera ein paar Erinnerungsfotos schießen sollte.“ „Wann kamen Sie nach Hause?“ „Gegen vier Uhr morgens. Mein Vater wollte gerade wieder zu Bett gehen. Wir unterhielten uns noch etwa 239
eine halbe Stunde über den Einbruch, während ich mir hier unten die Couch zum Schlafen zurechtmachte. Auf Anweisung der VP sollte in meinem Zimmer nichts berührt werden.“ „Um welche Zeit drang der Einbrecher ins Haus ein, Herr Doktor?“ „Woher soll ich das wissen? Als er von Karla gestört wurde und ausriß, war es kurz vor drei Uhr. Wie lange er sich im Hause zu schaffen machte, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls wurde nichts von Wert gestohlen“, antwortete Nikolai. „Sind Sie so sicher?“ „Eigentlich ja. Wir haben uns das Zimmer gründlich angesehen. Es fehlt nichts. Das Transistorradio, eine Armbanduhr und etwas Bargeld, das in einem Kästchen aufbewahrt wurde – nichts von alledem hat er mitgenommen.“ „Er wurde gestört, verlor die Nerven und ist Hals über Kopf geflüchtet“, warf Dieter ein. „Nein, nein“, sagte Nikolai, „das war kein landläufiger Dieb. Erstens ist in einem Studentenzimmer selten etwas Wertvolles zu finden. Die anderen Räume des Hauses hätten viel mehr Chancen geboten. Zweitens macht ein normaler Dieb nicht einen solchen Lärm, wenn er die Absicht hat, mit seiner Beute ungestört zu entkommen.“ „Das leuchtet ein. Doch welche Erklärung haben Sie dann für den Einbruch?“ „Ich sagte es bereits: Es war die Tat eines Verrückten.“ „Vielleicht. Aber auch ein Verrückter braucht eine Art Motiv. Aus welchem Grund sollte er in Ihr Haus eindringen und ausgerechnet das Zimmer Ihres Sohnes verwüsten?“ 240
„Für Psychopathen gibt es tausend Gründe, irgendeinen abstrusen Blödsinn zu verzapfen. Einem geistig gesunden Menschen ist es gar nicht möglich, sich in den Irrgarten dieser Wahnvorstellungen hineinzudenken. Es könnte ein Racheakt gewesen sein, für eine eingebildete Beleidigung, oder Zerstörungswut oder der krankhafte Drang, in fremden Häusern zu spuken. In der vergangenen Nacht war Mondschein, da sind Geistesgestörte in hohem Grad reizbar und aktiv.“ Kreutzer schüttelte energisch den Kopf. „Das hieße, den Zufall zum Vater aller Dinge zu machen. Ich weiß natürlich, daß man als Kriminalist immer wieder auf seine Hilfe angewiesen ist, aber in diesem Falle möchte ich mich lieber der Ansicht Ihrer Frau anschließen, Herr Doktor.“ Kreutzer nahm einen Schluck aus der blauweißen Kaffeetasse und sagte zu Arnold: „Bitte, sehen Sie noch einmal nach, ob es bei der Spurenuntersuchung schon Ergebnisse gibt.“ Arnold stand auf und ging hinaus. „Ich denke, es wird vernünftiger sein“, fuhr Kreutzer fort, „wenn wir die Frage nach den Gründen des Einbruchs zurückstellen, bis wir das Resultat der Spurenuntersuchung in Händen haben. Mit Vermutungen ist niemandem von uns gedient. Ich darf inzwischen die Zeit nutzen und mich nach einigen Dingen erkundigen, über die noch keine Klarheit besteht. Wenn Sie erlauben, möchte ich noch einmal auf den Tag nach dem Unfall zurückkommen. Wann entdeckten Sie die Beschädigung an Ihrem Wagen, Herr Doktor, und welche Schritte unternahmen Sie danach?“ „Tja“, sagte Nikolai, „das war so: Gegen halb sechs Uhr morgens verließ ich die Klinik und ging hinüber zum 241
Parkplatz. Als ich an den Wagen trat, bemerkte ich die Kratzer, die Beule am Kotflügel und den zertrümmerten Scheinwerfer. Ich war natürlich wütend, besah mir den Schaden und kam zu der Ansicht, daß irgendein Fahrzeug beim Wenden in meinen Wagen hineingefahren sein mußte. Einen Augenblick schwankte ich, ob ich zurück in die Klinik gehen und die Polizei anrufen sollte, kam dann aber zu dem Entschluß, davon abzusehen. Erstens, weil ich müde war und schlafen wollte, zweitens, weil ich nicht davon überzeugt war, daß die Polizei den Täter finden würde. Drittens sah der Schaden relativ geringfügig aus, und die Versicherung würde ihn in jedem Falle bezahlen. Also fuhr ich nach Hause.“ „Wenn der Unfall tatsächlich auf dem Parkplatz entstanden wäre, hätten doch die Scherben vom Scheinwerferglas vor dem Wagen liegen müssen. Sie lagen aber nicht da. Ist Ihnen das nicht aufgefallen?“ Nikolai machte ein betroffenes Gesicht. „Donnerwetter, ja! Dieser Gedanke ist mir nicht gekommen.“ „Es hätte doch auch jemand vom Krankenhaus den Unfall bemerken müssen, zumindest der Pförtner.“ „Nein. Der Parkplatz liegt an der Giebelseite des Hauses, wo keine Fenster sind. Außerdem ist er von Bäumen und hohem Buschwerk umgeben. Es hat ja auch niemand bemerkt, daß der Wagen weggefahren wurde.“ „Sie fuhren also nach Hause“, sagte Kreutzer. „Und was geschah dann?“ „Ich legte mich einige Stunden hin. Gegen zehn Uhr stand ich auf, frühstückte und erzählte meiner Frau, was mit dem Wagen passiert war. Dann rief ich bei der Autowerkstatt Hecht an und fragte, ob ich ihn zur Reparatur bringen könnte. Herr Hecht erklärte, sein Terminkalender sei überfüllt, vor vierzehn Tagen sei gar nicht daran zu 242
denken. Aber wenn ich wollte, würde er seinem Schwager Bescheid sagen, der die Sache schnell in Ordnung bringen könnte, wenn die Beschädigung nicht zu groß sei. Ich war natürlich einverstanden. Herr Kriewitz hatte mir schon öfter aus der Patsche geholfen.“ „Wann kam Herr Kriewitz?“ „Schon etwa eine Stunde später tauchte er hier auf. Ich glaube, es war kurz nach elf. Ich gab ihm den Garagenschlüssel, und er machte sich an die Arbeit. Mittags ging ich wieder in die Klinik, und als ich nachmittags um fünf nach Hause kam, war Kriewitz gerade fertig. Er erhielt sein Geld und fuhr mit seinem Moped weg.“ „Hat er die Reparatur allein ausgeführt, oder war noch jemand dabei?“ „Soviel ich weiß, hat ihm Dieter ein Weilchen geholfen. Er war an diesem Tage zu Hause.“ „Ja“, sagte Dieter, „ich mußte erst am Nachmittag zur Uni. Ungefähr zwei Stunden habe ich Herrn Kriewitz geholfen.“ „Schildern Sie das bitte!“ „Es war gegen halb zwölf, als ich Herrn Kriewitz den Wagen aus der Garage holen sah. Weil mich das interessierte, ging ich nach unten. Er packte gerade seinen Rucksack aus, das Werkzeug und den neuen Scheinwerfer. Ich griff mit zu, wir bockten den Wagen auf, nahmen das linke Vorderrad ab, und er beulte dann von innen den Kotflügel aus. Das dauerte ziemlich lange, es muß sehr vorsichtig gemacht werden. Nach dem Mittagessen habe ich den beschädigten Scheinwerfer ausgebaut und in die Mülltonne geworfen. Danach bin ich zum Waschen und Umziehen ins Haus gegangen und später mit dem Motorrad zur Uni gefahren.“ Kreutzer nickte und wandte sich wieder an Doktor Ni243
kolai. „Haben Sie Herrn Hecht am Telefon erklärt, um was für eine Reparatur es sich handelt?“ „Nein, er ließ mich ja kaum zu Worte kommen! Er sagte sofort, vor vierzehn Tagen sei an gar nichts zu denken.“ „Wenn er Ihnen seinen Schwager schicken wollte, mußte er doch wissen, was an Ihrem Wagen nicht in Ordnung war?“ Nikolai zuckte die Schultern. „Um nicht sofort auf Ablehnung zu stoßen, hatte ich gleich zu Anfang erwähnt, daß es nur eine kleine Sache wäre. Darauf kam er dann zurück und sagte, er würde seinem Schwager Bescheid geben, der sollte sich den Schaden erst einmal ansehen. Ich weiß das noch recht genau, weil ich mich darüber ärgerte, daß sich Herr Hecht nicht mal so viel Zeit nahm, mich wenigstens anzuhören. Der Mann hat manchmal einen ziemlich rauhen Umgangston, von Höflichkeit keine Spur. Er liefert aber eine tadellos saubere Arbeit, und deshalb denkt er wahrscheinlich, er könne seine Kunden behandeln, wie es ihm paßt. Ob er den einen oder anderen dadurch verliert, scheint ihm egal zu sein, er kann sich vor Arbeit sowieso kaum retten.“ Die Tür ging auf, und Arnold trat ins Zimmer. In der Hand trug er eine Kleinbildkamera in einer dunkelbraunen Lederhülle. Er sah niemanden an und legte den Apparat schweigend vor Kreutzer auf den Tisch. Kreutzer nahm ihn in die Hand und öffnete die Klappe vor der Optik. Eine nagelneue Pentina FM kam zum Vorschein. Kreutzer zog sein Notizbuch hervor und musterte dabei die Familie Nikolai. Alle drei blickten zunächst verständnislos, doch dann mit wachsendem Interesse und einer gewissen Besorgnis 244
auf die Kamera. In Dieters Gesicht gewann allmählich das Unbehagen die Überhand. Kreutzer schlug das Notizbuch auf und verglich die Zahlen, die in den Metallring um das Objektiv eingestanzt waren, mit seiner Eintragung. Um sicherzugehen, nahm er die Kamera aus der Lederhülle und löste die Rückwand. Der Raum für die Filmkassetten war leer. Auf dem Rahmen befand sich ebenfalls eine Nummer. Auch sie stimmte mit den von Kreutzer notierten Zahlen überein. Er schloß den Apparat und legte ihn wieder vor sich auf den Tisch. „Diese Kamera wurde vor sechs Monaten aus dem Konsum-Warenhaus in Teltow gestohlen“, sagte er. „Es verschwanden damals noch andere Dinge, zum Beispiel eine Schreibmaschine, die später unter recht merkwürdigen Umständen hier im Hause auftauchte. Der Warenhausdieb hatte seine Beute in einer Gartenlaube in Stahnsdorf versteckt, wo kurz darauf alles gefunden wurde, bis auf die Schreibmaschine und diese Kamera. Wo haben Sie die Kamera entdeckt, Genosse Arnold?“ „In Dieters Zimmer. Sie lag zwischen den Büchern auf dem Fußboden.“ Dieter sprang auf. Er stieß dabei mit dem Knie gegen die Tischplatte, daß die Tassen klirrten. Sein Gesicht war von Schmerz und Wut verzerrt, als er schrie: „Das ist nicht wahr! Ich habe diese verfluchte Kamera noch nie gesehen.“ Kreutzer stand auf und drückte ihn auf seinen Stuhl nieder. „Nur ruhig Blut, mein Junge“, sagte er. „Das wird sofort geklärt.“ Nikolai und seine Frau sahen sich verwirrt an. Dieter hockte zusammengekrümmt auf seinem Platz und rieb 245
sich das Knie. „Ich habe vor wenigen Tagen in Anwesenheit von Zeugen Dieters Zimmer in aller Gründlichkeit durchsucht“, fuhr Kreutzer fort. „Die Kamera war weder im Bücherschrank noch sonst irgendwo, auch nicht im Labor. Wir müssen also die Frage stellen, ob nicht dieser Einbruch nur vorgetäuscht wurde, um die Kamera in Dieters Zimmer zu schaffen. Welche Spuren wurden bisher gefunden, Genosse Arnold?“ „Ein Scheuertuch, mit Schmierseife bestrichen und voller Glasscherben. Es lag im Dahlienbeet und wurde benutzt, um die Glasscheibe der Verandatür einzudrücken. Es wurden auch einige Fußspuren entdeckt, in der weichen Gartenerde vor dem Arbeitszimmer des Doktors, auf der anderen Seite des Hauses. Offensichtlich wollte sich der Eindringling erst überzeugen, ob im Haus alles schlief. Leider sind die Spuren für eine Auswertung unbrauchbar. Der Täter hatte sich die Schuhe mit Lappen umwickelt.“ „Wie wurde die Verandatür aufgeschlossen?“ „Der Schlüssel steckte von innen. Nachdem die Scheibe eingedrückt war, wurde durchgegriffen und der Schlüssel herumgedreht.“ „Gibt es Fingerabdrücke?“ „Es sind Abdruckspuren von Gummihandschuhen vorhanden.“ Kreutzer nickte. „Das sieht nach der Arbeit eines Fachmanns aus. Wir dürfen also doch nicht völlig die Möglichkeit ausschließen, daß es sich um einen Routineeinbruch handelt. Es steht auch noch gar nicht genau fest, ob nicht doch etwas gestohlen wurde.“ „Ich kann mir das nur schwer vorstellen“, wandte Arnold ein. „Es sprechen viele Umstände dagegen. Außer246
dem gibt es eine bisher noch nicht bedachte Möglichkeit: Der Einbruch ist ein Täuschungsmanöver, um uns glauben zu machen, daß die Kamera von dem großen Unbekannten ins Haus geschafft wurde. Das würde den Verdacht auf einen Fremden lenken und die Hausbewohner entlasten.“ Der Arzt blickte auf, seine dichten Augenbrauen zogen sich zusammen. Doch dann besann er sich und lachte. „Ich gewöhne mich nur langsam daran“, sagte er, „daß Ihre Bemerkungen nicht persönlich gemeint sind. Gegen die grundsätzliche Logik dieses Gedankens läßt sich nichts einwenden.“ Kreutzer stimmte ihm lebhaft zu. Er war erleichtert, daß Nikolai nicht mehr bei jedem Wort, das auch nur die Möglichkeit eines Verdachtes gegen ihn enthielt, einen hinterhältigen Angriff auf seine Bürgerrechte witterte. „Wir haben noch einige Fragen auf dem Herzen, die Ihren Sohn betreffen. Wenn Sie nichts dagegen haben, können wir das gleich erledigen.“ „Ich bitte um Entschuldigung“, unterbrach ihn Frau Nikolai. „Falls ich nicht mehr gebraucht werde, möchte ich mich gern nach draußen in die Sonne setzen.“ „Darf ich Ihnen behilflich sein?“ Kreutzer wollte sich erheben, doch da war Dieter schon aufgesprungen und brachte seine Mutter hinaus auf den Balkon. Nikolai stand ebenfalls auf. „Gehen wir doch nach unten in die Wohndiele, da sind wir ungestört“, schlug er vor. Als die vier Männer einige Minuten später in den Sesseln um den Rauchtisch Platz genommen hatten und Nikolais Zigarre brannte, sagte Kreutzer: „Es handelt sich 247
um eine recht unerfreuliche Sache. Leider ist es im Interesse unserer Ermittlungen unvermeidlich, diese Dinge zur Sprache zu bringen. Wir tun es nur ungern, und ich bitte Sie, die – Peinlichkeit …“ Er zögerte und suchte nach einem passenden Wort. Nikolai winkte ab. „Das macht gar nichts! Wir sind ja inzwischen durch unsere eigene Dummheit an Peinlichkeiten gewöhnt. Also stellen Sie ganz unbesorgt Ihre Fragen, um so eher haben wir es hinter uns. Mein Herr Sohn hat bereits eine Generalbeichte abgelegt, ich kann mir daher denken, worum es sich handelt. Es ist kaum zu glauben, was ein Lümmel hinter dem Rücken seines Vaters alles fertigbringt.“ Kreutzer wandte sich an Dieter. „Sie haben ohne Wissen Ihres Vaters den Wartburg benutzt, nicht wahr? Wie haben Sie sich eigentlich die Schlüssel beschafft?“ Dieter nickte. „Das war ziemlich einfach. In der Werkstatt bei Hecht hängt ein dickes Bündel Autoschlüssel an der Wand. Bruno hat mir heimlich die passenden herausgesucht und sie mir geliehen. Ich habe sie aber inzwischen zurückgegeben.“ „Aha, das wäre eine Erklärung. Zweitens: Warum haben Sie nicht zugeben wollen, daß Sie Wolfgang Perschke kennen?“ „Wieso nicht zugeben wollen? Ich kann mich wirklich nicht erinnern, den Namen schon einmal gehört zu haben.“ Kreutzer schüttelte seufzend den Kopf. „Wir haben den Beweis, daß Sie Perschke kennen. Er ist der Einbrecher, der aus dem Konsum-Warenhaus Teltow unter anderem die Schreibmaschine und die Pentina FM gestohlen hat. Gestern nachmittag holte sich der Genosse Arnold aus dem Jugendwerkhof Lehnin seine Aussage, daß 248
er Sie ganz genau kennt, und zwar von den Veranstaltungen des Motorsportclubs.“ „Sie meinen Munjo, jetzt verstehe ich erst! Ja, den kenne ich. Der heißt also Wolfgang Perschke. Mir war er nur unter seinem Spitznamen bekannt. Im Club hat kein Mensch Wolfgang oder Perschke zu ihm gesagt, immer bloß Munjo.“ Kreutzer sah ihn überrascht und ein wenig zweifelnd an, doch dann nickte er. „Schön, wollen wir es darauf beruhen lassen, es ist im Augenblick nicht wichtig. Dann kennen Sie auch die Laube von Perschkes Großeltern?“ „Sicher. Das ist doch eine grün gestrichene, ziemlich heruntergekommene Bude gleich hinter dem Grundstück von Hechts. Ich habe Munjo dort hin und wieder gesehen.“ „Gut, fassen wir zusammen: Aus dieser Laube wurde eine Erika-Schreibmaschine und dieser Fotoapparat hier entwendet, kurz nachdem Perschke sie dort versteckt hatte. Mit der Schreibmaschine sind die Briefumschläge für Herrn Kranepuhl und Herrn Lenkeit geschrieben worden. Wir entdeckten die Maschine bei Fräulein. Alverdes und erfuhren, daß sie von Ihnen ausgeliehen ist. Wir erfuhren weiter, daß sie schon vor Beginn der Betrugsserie unter recht merkwürdigen Umständen in Ihren Besitz gelangte. Und als wir hier im Haus Schriftproben von den vorhandenen Schreibmaschinen nahmen, konnte sich eigenartigerweise zunächst niemand mehr an diese Erika erinnern.“ Kreutzer holte Luft und fuhr fort: „Das ist aber noch nicht alles. Sie besitzen eine dunkelblaue Jawa, eine graue Lederkombination und einen roten Sturzhelm. Zu der Zeit, als ein junger Mann in diesem Aufzug bei Herrn Kranepuhl erschien, um bei einem Betrug mitzuwirken, 249
befanden Sie sich nach Aussage von Frau Overmann und Fräulein Alverdes in der Nähe des Tatortes. Mit einem Wort, die Hinweise häufen sich so, daß selbst ein Blinder sie mit dem Krückstock fühlen könnte. Welche Schlußfolgerungen sollen wir also daraus ziehen?“ Bevor Dieter antworten konnte, sagte Dr. Nikolai schnell: „Mir ist das alles höchst rätselhaft. Jedenfalls hört es sich an, als ob Sie Dieter ernstlich verdächtigen. Gewiß, ich muß zugeben, die Hinweise sind zahlreich, und man könnte wahrscheinlich daraus einen Schuldbeweis konstruieren. Haben Sie diese Absicht, Herr Leutnant?“ Kreutzer lächelte. „Nein, Herr Doktor. Es ist weder unsere Absicht noch unsere Aufgabe, Schuldbeweise zu konstruieren. Im Gegenteil, wir wollen den wirklichen Schuldigen finden und gleichzeitig allen anderen Bürgern, die unschuldig in Verdacht gerieten, mit allen Kräften dabei helfen, sich von diesem Verdacht zu befreien.“ „Das ist sehr beruhigend. Darf ich Ihren Worten entnehmen, daß Sie bereits wissen, wer die Gauner sind?“ „Wir hoffen es. Doch wie auch immer, wir haben in diesem Gespräch wertvolle Hinweise erhalten, die vermutlich den endgültigen Beweis bedeuten. Mehr kann ich im Augenblick nicht sagen. Es ist nicht gestattet, über die Ermittlungen eines noch schwebenden Verfahrens Auskünfte zu geben. Aber Sie werden ganz sicher noch von uns hören.“ Kreutzer und Arnold erhoben sich. Nikolai begleitete sie zur Tür. Als sie sich schon verabschiedet hatten, hielt Nikolai den Leutnant leicht am Arm fest und sagte leise: „Ich hatte zu Anfang eine höllische Wut auf Sie, das ist Ihnen ja sicher nicht verborgen geblieben, aber jetzt bin ich dankbar, daß alles so gekommen ist. Ständig zwi250
schen meiner Frau und Brigitte hin- und herzutaumeln war auf die Dauer ein unerträglicher Zustand. Aus eigener Kraft eine Entscheidung zu treffen, ist man einfach zu schwach, es muß erst ein Anstoß von außen kommen, der einen dazu zwingt. Meine Frau hat übrigens die ganze Zeit von den Beziehungen zu Brigitte gewußt, und ich Esel hatte mir eingebildet, ich könnte es vor ihr geheimhalten. Sie schwieg, weil sie glaubte, sie hätte kein Recht, mir Vorwürfe zu machen.“ Nikolai seufzte und blickte betrübt auf die Spitze seiner Zigarre. „Brigitte scheint sich mit der neuen Situation schnell abgefunden zu haben“, fuhr er fort. „Wie ich hörte, will sie einen Doktor Weintraut heiraten, einen Kollegen aus ihrem Institut. – Na ja, das wird wohl für alle das beste sein.“ Kreutzer nickte ihm mit einem nachdenklichen Lächeln zu. Dann wandte er sich um und ging zum Wagen.
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29. Die Wände der Werkstatt waren weiß gekalkt, helles Licht fiel durch die großen Fenster; auf den Arbeitsbänken und in den dunkelgrün lackierten Blechschränken, die das Werkzeug enthielten, herrschte mustergültige Ordnung. Autos standen mit aufgeklappten Motorhauben da, die Luft war erfüllt von Hammerschlägen, vom Zischen des Schweißbrenners und vom Gekreisch der Schleifmaschine. Hermann Hecht war Eigentümer der Firma. Das bedeutete für ihn nicht, mit einer Zigarette in der Hand seinen Schlossern kluge Ratschläge zu erteilen. Er arbeitete wie ein Pferd, war morgens der erste und abends der letzte in der Werkstatt. Niemand konnte ihm in seinem Fach etwas vormachen; was er in die Hand nahm, das klappte. Unerbittlich gegen sich selbst, stellte er auch hohe Anforderungen an seine Monteure. Geschwätz war ihm verhaßt, und so mancher Kunde, der in der Werkstatt mit wenig Sachkenntnis und viel Besorgnis um sein schönes Auto herumgetrippelt war, hatte eine kalte Dusche bekommen. „Nehmen Sie den Schlitten wieder mit, wenn Sie es besser wissen“, sagte Hecht, „Sie stehlen uns die Zeit. Jeder hat nicht so ein Pöstchen, daß er stundenlang quasseln kann.“ Die Unglücklichen, die meist in bester Absicht handelten, schlichen beschämt davon, im Rücken die schadenfrohen Blicke der Schlosser, die selbst oft genug unter den zynischen Bemerkungen ihres Chefs zu leiden hatten. Sie liebten ihn nicht, aber sie respektierten ihn. Die Bezahlung war gut, die Trinkgelder flossen reichlich, 252
also blieben sie. Hecht war ein kräftiger, mittelgroßer Mann von etwa fünfzig Jahren, mit harten, graublauen Augen, die Menschen und Dinge mit kritischer Schärfe betrachteten. Herz hatte er soviel wie ein Haifisch, und es gab nur wenige, die es darauf anlegten, ihm in die Quere zu kommen. Er wollte Geld verdienen, das sprach er offen aus, und alles andere interessierte ihn wenig. Auch jetzt, während er mit Kreutzer sprach, dachte er gar nicht daran, seine Arbeit zu unterbrechen. In den Motorraum eines Trabant gebeugt, brummte er die Antworten zwischen den Zähnen hervor und ärgerte sich, daß man ihn mit diesem „Krempel“ überhaupt in Anspruch nahm. Doch immerhin war Kreutzer Leutnant, und man konnte ihn daher nicht einfach wie einen Normalverbraucher hinausfeuern. Bruno trat in die Werkstatt und brachte seinem Vater aus dem Ersatzteillager einen neuen Verteilerkopf und den Lagerschlüssel. Hecht nahm ihm beides wortlos ab und stopfte den Schlüssel in die Hosentasche seiner schwarzen Arbeitskombination. Bruno schielte Kreutzer mit einem schiefen Blick an und wollte sich wieder davonmachen. Sein Vater hielt ihn am Arm fest, deutete auf einen Schraubenzieher und sagte: „Mach den Vergaser auf.“ Er schien seinen Sohn nur als Laufburschen und Handlanger zu benutzen. Bruno begann mit der Arbeit, aber irgend etwas war ihm offenbar nicht geheuer. Er schwitzte, fummelte herum, seine Hände waren unsicher. „Wer hat Sie so zugerichtet?“ fragte Kreutzer. Bruno hatte eine veilchenblaue Schwellung am linken Auge, eine abgeschürfte Nase und ein paar gelblichgrüne 253
Flecke an Kinn und Hals. Er sah einen Moment von seiner Arbeit auf, wurde rot und stotterte: „Ich – ich habe …, ich weeß nich … Im Dunklen gestolpert – da stand ’ne Kiste ’rum …“ Er verstummte hilflos. Hecht richtete sich auf und knurrte verächtlich: „Der Lümmel ist zu allem zu dämlich. Zwei linke Pfoten! Fällt über die eigenen Beine. Verdient kaum, was er auffrißt.“ Er nahm einen Schraubenschlüssel aus der Werkzeugkiste und beugte sich wieder unter die Motorhaube. „Was verdient er denn?“ fragte Kreutzer. „Dreihundertzwanzig brutto, abzüglich Wohnung und Essen.“ „Da kann nicht viel übrigbleiben.“ „Sechzig Mark Taschengeld im Monat sind mehr als genug.“ „Ich finde es ein bißchen wenig für einen Mann von vierundzwanzig Jahren.“ Hecht stieß ein kurzes Lachen hervor. „Ich hatte in dem Alter noch viel weniger. Dem fehlt überhaupt nichts. Dafür sorgt schon meine Frau. Steckt es dem Lümmel hinten und vorne ’rein, mit ihrer verdammten Gutmütigkeit. Und was kommt bei ’raus? Er ist tranig, hat den Schädel voller Flausen. Macht mehr falsch als jeder andere hier.“ Hecht griff hinüber zur Werkbank und hielt Kreutzer eine Bezinpumpe hin, deren Kunststoffflansch zerbrochen war. „Sehen Sie sich das an. Fünfzig Mark im Eimer!“ Er warf die Pumpe ärgerlich auf den Tisch. „Früher gab’s für solche Blödheit was zwischen die Hörner, daß man drei Tage lang besoffen war. Der Alte hätte mich mit der Rohrzange aus der Werkstatt gejagt, 254
und obendrein wäre die Rechnung ins Haus gekommen. Nee, lieber Herr, Bruno muß erst mal arbeiten lernen. Und wenn er abgezahlt hat, was er mich bis heute gekostet hat, dann wackelt er schon mit seiner verholzten Birne.“ Bruno quälte sich schweigend mit den Schrauben des Vergasers ab. Sie saßen wie festgeschweißt und wollten nicht nachgeben. Mit einem häßlichen Kratzen rutschte ihm plötzlich der Schraubenzieher ab und fiel klappernd zu Boden. An einer scharfen Blechkante hatte sich Bruno dabei die Haut an einem Finger aufgerissen und begann mit schmerzverzogenem Gesicht das Blut zu lutschen. Hecht fuhr auf. Seine Augen funkelten vor Wut. Es kostete ihn sichtlich Überwindung, Bruno nicht zu ohrfeigen. Er hob den Schraubenzieher auf und betrachtete ihn prüfend. „Das Blatt ist verbogen, du verdammter Dussel. Jeder Idiot muß doch sehen, daß der Schraubenzieher dafür zu schwach ist.“ Er warf ihn zu der Benzinpumpe auf die Werkbank, zog einen anderen aus der Zollstocktasche seiner Kombination und löste mit zwei kräftigen Griffen die Vergaserschrauben. „So“, knurrte er. „Hundertmal hab’ ich’s dir gezeigt, aber du wirst es nie kapieren. So was wie du gehört zur Müllabfuhr, da gibt’s nichts zu versauen.“ Bruno stand da wie ein begossener Pudel, mit gekrümmtem Rücken und hilflos herabhängenden Armen. Sein schamrotes Gesicht zeigte eine Mischung von Trotz und Angst. Ganz unerwartet stieß er plötzlich einen schluchzenden Laut hervor, tief aus der Brust, fast wie das Röcheln eines gepeinigten Pferdes, wandte sich ab und stürzte aus der Werkstatt. 255
Die Schlosser beugten sich schweigend über ihre Arbeit, doch ihre Hände lagen still. Kreutzer bemerkte, daß ihnen nicht wohl war in ihrer Haut; auch er hatte ein peinliches Gefühl, als hätte er tatenlos zugesehen, wie jemand einen Wehrlosen mißhandelt. Hecht machte ein betont unbekümmertes Gesicht, so als wäre gar nichts geschehen. Kaum war die Tür hinter Bruno ins Schloß gefallen, hatte er schulterzuckend seine Arbeit wieder aufgenommen. Er steckte den Kopf unter die Motorhaube, und man hörte, wie er eifrig mit den Schraubenschlüsseln hantierte und dabei leise und mißtönend durch die Zähne pfiff. „Erinnern Sie sich noch an den Anruf von Doktor Nikolai?“ fragte Kreutzer. „Er hatte doch vor einigen Tagen einen Blechschaden an seinem Wartburg.“ Hecht tauchte wieder auf. „Jaja“, sagte er, „in der vorigen Woche hat er mal angerufen.“ „Erzählen Sie bitte, was er sagte, aber so wörtlich wie möglich.“ Hecht legte die Schraubenschlüssel auf die Decke, die er über den Kotflügel gebreitet hatte, wischte sich seufzend die Hände ab und begann mit lustloser Stimme: „Er sagte was von einem Parkplatzschaden, irgendeine kleine Sache. Aber ich konnte ihn nicht sofort ’rannehmen, mein Terminkalender ist auf Wochen hinaus überfüllt. Jede Reparatur ist dringend, und wenn ich einen vorziehe, machen die anderen Kunden Spuk, also geht’s bei mir immer der Reihe nach.“ „Und wie ging es weiter.“ „Ich wollte ihm trotzdem helfen, weil er sagte, er kann so nicht mehr fahren. Mein Schwager Waldo macht für manche Kunden hin und wieder eine Kleinigkeit, und ich 256
sagte, ich würde mit Waldo sprechen, der soll sich den Schaden erst mal ansehen. Waldo pennte noch, und ich hatte keine Zeit, ’raufzulaufen und den Herrn zu holen. Aber ich sagte dem Doktor zu, daß ich ihm so bald wie möglich Waldo schicken werde.“ „Ist Herr Kriewitz bei Ihnen angestellt?“ „Das fehlte noch. Waldo ist Rentner, achtzig Prozent arbeitsunfähig. Er hat einen schweren Herzfehler. Der läßt sich aber mit Kognak zeitweilig heilen; wenn er nämlich ein paar Gläser in der Krone hat, rennt er wie ’ne Biene. Waldo hat sein ganzes Leben noch keine geregelte Arbeit kennengelernt, so einen Mann kann ich nicht gebrauchen, der verdirbt mir den ganzen Haufen. Mit Verwandten will ich überhaupt nichts zu tun haben, jedenfalls nicht geschäftlich. Und Waldo verdient mit seinen Murksereien oft mehr, als ich ihm bezahlen könnte.“ „Ist das so zu verstehen, daß Herr Kriewitz ein Mann ist, der einen Herzfehler simuliert, um die Rente zu kassieren, und nebenbei von gutbezahlter Schwarzarbeit lebt?“ Hecht machte unwillkürlich einen Schritt zurück. „Bei allen Teufeln, nein! Das habe ich nicht gesagt und nicht gemeint. Bei Ihnen muß man ja höllisch aufpassen.“ „Es hat sich aber ganz so angehört.“ „Wirklich? Tut mir leid. Von Krankheiten verstehe ich nichts. Vielleicht braucht er den Schnaps als Medizin. Und was er sonst macht, geht mich nichts an, das ist seine Sache. Ich hab’ schon viel zuviel gequatscht.“ Kreutzer lachte. „Keine Sorge, Herr Hecht, ich lege nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Ob Ihr Schwager krank ist oder nicht; die Entscheidung wollen wir dem Arzt überlassen, der muß es schließlich wissen.“ Hecht nickte zustimmend und griff wieder nach seinen 257
Schraubenschlüsseln. „Haben Sie dann später das Gespräch mit Doktor Nikolai Ihrem Schwager ausgerichtet?“ „Ja.“ „Was haben Sie ihm gesagt?“ „Ich habe ihm gesagt, Nikolai hat angerufen, und er soll hinkommen. Wenn es geht, sofort; das Auto ist nicht in Ordnung.“ „Was sagte Herr Kriewitz dazu?“ „Geht klar, hat er gesagt, hat sein Moped aus dem Stall geholt und sich auf die Socken gemacht.“ „Um welche Zeit war das?“ „Am späten Vormittag, ungefähr zehn, halb elf muß es gewesen sein.“ „Haben Sie denn Herrn Kriewitz nicht noch etwas anderes erzählt, zum Beispiel, was an Nikolais Wagen beschädigt war?“ „Nee, ganz ausgeschlossen. Ich hatte ja selber keine Ahnung, was eigentlich los war. Irgendeine Kleinigkeit, wie der Doktor am Telefon sagte, mehr weiß ich bis heute nicht.“ „Wo besorgt sich Herr Kriewitz die Ersatzteile, wenn er für eine Reparatur etwas braucht?“ „Wenn er gleich bezahlt, kriegt er sie von mir. Es hat mal einen Tanz gegeben, weil er nach und nach ’ne Menge Teile weggeschleppt hat, und das Geld dafür habe ich nicht gesehen. Kam immer mit neuen Ausreden. Da habe ich mal für ’ne Weile den Hahn zugedreht. Darauf hat er seine Schulden bezahlt, und seitdem gibt’s wieder was. Aber wie gesagt, erst die Moneten auf den Tisch.“ „An dem Tag, als er zu Nikolai fuhr, kaufte er nichts?“ „Warten Sie mal – ja, ich glaube doch. Einen Scheinwerfer wollte er haben, die neue Ausführung.“ 258
„Hat er ihn erhalten?“ „Ja, natürlich.“ „Wie kommen Sie sonst mit Ihrem Schwager aus? Ganz nach Ihrem Geschmack scheint er doch nicht zu sein, nicht wahr?“ „Wenn er nicht der Bruder meiner Frau wäre, hätte ich ihn schon längst ’rausgekantet. Sie hängt an ihm mit einer richtigen Affenliebe, nimmt ihn immer nur in Schutz. Na ja, und das stimmt schon, er hat sich in letzter Zeit gebessert. Früher war er ein ziemlicher Schweinehund – saufen, Schulden machen, Flittchen ins Haus schleppen. Das hat er sich abgewöhnt, bloß vom Suff kann er noch nicht lassen. Seit wir wegen der Ersatzteile zusammengerasselt sind, geht er mir aus dem Weg. Jetzt kann ich eigentlich nicht mehr klagen. Und dann kommt noch was anderes dazu: Wenn er das Zimmer nicht hätte, müßte ich an einen Fremden vermieten. Teltow ist Industrieschwerpunkt, und die Wohnraumlenkung, oder wie sich das nennt, saß mir schon auf der Pelle. Und da ist mir Waldo immer noch lieber als irgendein Pennbruder.“ „Wo ist Herr Kriewitz jetzt? Wir hätten ihn gern noch einmal gesprochen.“ „Keine Ahnung. Er ist heute ausnahmsweise früh weg. Fragen Sie am besten meine Frau, die weiß es wahrscheinlich, wenn er nicht gerade in der Kneipe sitzt.“ „Ihre Frau ist im Hause?“ Hecht warf einen Blick auf die elektrische Werkstattuhr an der weißgekalkten Wand. „In der Küche. Sie können gleich durchs Büro gehen, dann kommen Sie auf den Flur. Vorn die erste Tür rechts.“ Kreutzer bedankte sich und ging. Schon auf dem Flur 259
schlug ihm ein intensiver Geruch nach gedünsteten Paprikaschoten entgegen. Er klopfte an und trat in die Küche. Am Herd, auf dem es in mehreren Töpfen gluckste und brutzelte und der Dampf in weißen Wolken wallte, stand Frau Hecht. Sie war eine rundliche kleine Frau von etwa fünfundvierzig Jahren. In ihrem schlaffen Gesicht saßen blaßblaue, verschüchterte Augen, und die ständigen Ängste, die sie sich um alles und jedes machte, hatten um ihren Mund viele Jammerfalten eingegraben, ihm einen resignierten und mißtrauischen Ausdruck gegeben. Eine unnatürliche Röte lag auf ihren Wangen, als hätte sie einen zu hohen Blutdruck. Die dünnen, rehbraunen Haare, durch die sich graue Strähnen zogen, waren zu einem Knoten aufgesteckt, und auf dem fliehenden, energielosen Kinn, das sie ihrem Sohn Bruno vererbt hatte, saß ein ovaler Leberfleck, dem einige Härchen entsprossen. Als Kreutzer die Tür schloß und näher kam, blickte sie von ihren Töpfen auf und, musterte ihn mit einem erschrockenen, abweisenden Blick. „Mein Mann ist in der Werkstatt“, sagte sie. „Wie kommen Sie denn ins Haus? Ich habe doch gar keine Klingel gehört.“ Ihr Stimme hatte einen spröden, klagenden Tonfall, selbst wenn sie von ganz alltäglichen Dingen sprach. „Ich möchte mit Ihnen reden, Frau Hecht, nicht mit Ihrem Mann“, sagte Kreutzer. „Wer sind Sie denn? Was wollen Sie?“ „Ich habe ein paar Fragen an Sie in einer dienstlichen Angelegenheit.“ „Fragen? Sprechen Sie mit meinem Mann. Ich weiß doch von gar nichts.“ Sie ging hinüber zum Tisch, der mit geblümtem 260
Wachstuch überzogen war, und begann auf einem großen Holzbrett Petersilie zu hacken. „Mit Ihrem Mann habe ich schon gesprochen. Er schickt mich zu Ihnen. Übrigens, mein Name ist Kreutzer. Ich möchte gern wissen, wo sich Ihr Bruder Waldemar Kriewitz im Augenblick aufhält.“ Ihre Augen weiteten sich, und sie sah ihn mit einem angstvollen Blick an, in dem eine Ahnung nahenden Unheils lag. „Waldo? Was wollen Sie von Waldo? Kommen Sie von der Polizei?“ Kreutzer nickte. Sie ließ das Messer fallen und sank erschüttert auf einen Küchenstuhl. Doch schnell raffte sie sich wieder auf, und während die ersten Tränen aus ihren Augen liefen, begann sie mit weinerlicher Stimme zu sprechen. „Sie dürfen das nicht, Sie dürfen ihm nichts antun. Er hat nichts verbrochen, das müßte ich doch wissen. Er hat sich gebessert, ganz bestimmt. Ich habe ihm immer zugeredet und zugeredet, und da hat er es mir versprochen. Gewiß, früher hat er ein paar Dummheiten gemacht, aber das darf man doch einem Menschen nicht ewig nachtragen, nein, das darf man nicht. Hermann, was mein Mann ist, der macht das auch, er kann ihn nicht leiden und will ihn am liebsten aus dem Haus jagen. Aber Waldo hat doch sonst keine Menschenseele mehr, keiner kümmert sich um ihn, wenn ich nicht mehr bin. Und eine Frau findet er auch nicht. Er hat doch in seinem ganzen Leben immer nur Unglück und Pech gehabt. Die ganze Welt hat sich gegen ihn verschworen …“ Sie stand schluchzend auf und hackte mit wütendem Eifer auf die Petersilie ein, als wäre das Grünzeug die Ursache allen Unglücks. „Bitte, Frau Hecht“, sagte Leutnant Kreutzer besch261
wichtigend, „Sie dürfen sich nicht so aufregen, das schadet Ihrem Herzen.“ Er hatte auf dem Küchenschrank ein Fläschchen „Pentedrin“ entdeckt und auf gut Glück versucht, sie mit irgendeiner Bemerkung abzulenken. Sie sah ihn dankbar an und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. „Sie sind der erste, der darauf Rücksicht nimmt“, sagte sie und brachte ein schamhaftes Lächeln zustande. „Das bin ich schon gar nicht mehr gewöhnt. Können Sie mir denn nicht verraten, was Sie von Waldo wollen?“ „Wie versteht er sich mit Ihrem Sohn Bruno?“ fragte Kreutzer ausweichend. Sie schüttelte traurig den Kopf. „Nicht gut, gar nicht gut. Das ist mein größter Kummer. Mein Mann behandelt Bruno schlecht, wie ein unmündiges Kind; der Junge ist schon ganz wirr im Kopf davon. Und Waldo kommt auch nicht mit ihm aus, verspottet ihn immer und sagt zu ihm, wenn er denkt, ich höre es nicht: ‚Na, mein kleiner Idiot‘ und ‚Immer trainieren, Bruno, auf Motorradfahrer sind die Mädchen scharf!‘ Bruno hat seit gestern ein ganz zerschundenes Gesicht. Er will ja partout nichts sagen, aber ich glaube, er hat sich mit Waldo geschlagen, weil der ihn hänselt.“ „Das ist allerhand“, sagte Kreutzer. „So etwas darf er doch mit Bruno nicht machen. Ich denke, wir werden einmal mit ihm reden müssen und ihn darauf hinweisen.“ „Ja, wirklich!“ Frau Hecht war erleichtert. „Das tun Sie bloß. Auf die Polizei werden die beiden schon hören, mich nehmen sie ja nicht ernst, und wenn ich noch so oft predige.“ „Wo können wir Waldo finden?“ „In Kleinmachnow, bei einem Doktor Sternenburg. 262
Der Mann ist Schriftsteller, wissen Sie, hochgebildet, hochgebildet! Na, er ist ja schließlich auch Doktor. Aber in technischen Dingen leider vollkommen hilflos, wie sich Waldo ausdrückt. Er kann sich kaum allein die Schnürsenkel zubinden. Waldo sagt …“ „Schon gut, Frau Hecht, das erzählen Sie mir später einmal. Wissen Sie die Adresse?“ „Leider nicht. Wie die Straße heißt, kann ich immer nicht behalten, die haben da alle so komische Namen. Aber Sie werden sicher Doktor Nikolai kennen. In derselben Straße im Haus nebenan, da wohnt er, der Doktor Sternenburg.“ „Hat Herr Kriewitz in der vorigen Woche bei ihm den Garten umgegraben?“ „Ja, natürlich.“ „Danke, dann weiß ich Bescheid. – Ob Bruno in seinem Zimmer ist?“ „Wollen Sie mit ihm auch gleich sprechen? Er ist sicherlich in der Werkstatt.“ „Er hatte vorhin Ärger mit Ihrem Mann und ist fortgelaufen.“ „Es ist immer dasselbe“, jammerte sie, „unser Vater ist zu hart zu dem Jungen. Wenn sich Bruno schämt, verkriecht er sich meistens in seinem Zimmer, da haben Sie recht. Ich werde ihn gleich mal ’runterrufen.“ Sie wandte sich zur Tür, aber Kreutzer kam ihr zuvor. „Wenn Sie gestatten“, sagte er, „gehe ich selbst zu ihm hinauf. Sie haben so kurz vor dem Essen sicher noch eine Menge in der Küche zu tun.“ „Ja“, sagte sie. „Ja, und vielen Dank auch. Die Treppe ’rauf und die Tür rechts. Vielen Dank.“ „Keine Ursache, Frau Hecht“, sagte Kreutzer und fühlte sich ein wenig unbehaglich. Deshalb setzte er hinzu: 263
„Ich verspreche Ihnen, daß wir uns um Bruno kümmern. Er wird wieder vernünftig werden, wenn man die schädlichen Einflüsse von ihm fernhält.“ Sie nickte ihm noch einmal zu. Kreutzer glaubte in ihrem Gesicht plötzlich eine Spur von Einsicht und von Beruhigung zu entdecken. Er wandte sich ab und verließ die Küche mit den gestickten Sprüchen auf den Vorhangtüchern, dem blitzblanken Fußboden und dem Stapel Romanheften mit dem knallbunten Umschlag auf dem Wandbord über der Eßecke.
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30. Der Dienstwagen parkte seit einigen Minuten hinter der Gartenhecke. Kreutzer hatte ihn durch das Küchenfenster kommen sehen. Er ging hinaus und ließ die Haustür angelehnt. Arnold saß neben dem Fahrer; beide rauchten schweigend. Als sich Kreutzer dem Wagen näherte, öffnete Arnold die Tür, stieg aus, ließ seine Zigarette auf den Schlackeweg fallen und zerdrückte sie mit der Schuhspitze. „Sie hatten recht“, sagte er. „Es klappte auf Anhieb. Beim Fahrzeug-Ausleihdienst wurde siebenmal eine dunkelblaue Jawa gemietet, jeweils für zwei Tage. Sie führen dort genau Buch über ihre Kunden, das verlangt schon die Versicherung. Ich habe eine Liste aufgestellt mit den Daten, zwei davon, im Juli und im September, stimmen mit den Besuchen bei Lenkeit und Kranepuhl überein.“ Kreutzer lächelte. „Das haben Sie ausgezeichnet gemacht.“ „Wollen Sie die Aufstellung sehen?“ Arnold griff durch das offene Wagenfenster nach seiner Aktentasche. „Nein, danke. Das läuft uns nicht weg. Kommen Sie, unterhalten wir uns erst einmal mit Bruno.“ Sie gingen ins Haus. Brunos Zimmer war schmal und eng und nur mit dem Notwendigsten eingerichtet: einem klobigen alten Schrank, einem Tisch, zwei häßlichen Stühlen, einem Bett. Die linke Wand wurde von der Dachschräge gebildet; weit oben befand sich eine Luke, durch deren trübes Glas wenig Tageslicht eindrang. 265
Die Luft war verbraucht und muffig. Nirgends in diesem Raum fand sich ein Bild, ein Buch oder ein persönlicher Gegenstand. Er wirkte kahl und lieblos, und wäre nicht die verblichene, an mehreren Stellen von der Feuchtigkeit aufgetriebene Tapete mit den Max-undMoritz-Motiven gewesen, hätte man dieses Loch ohne Übertreibung mit einer Gefängniszelle vergleichen können. Bruno lag auf dem Bett, das Gesicht in die Kissen gewühlt. Als Arnold die Tür ins Schloß drückte, fuhr er auf. Sekundenlang glotzte er die Eingetretenen verständnislos an, dann schlug er plötzlich die Hände vor das Gesicht und schrie: „Nein! Haut ab! Ich will nicht. Ich will euch nicht sehen. Keinen Menschen …“ Seine letzten Worte gingen in Schluchzen unter. Er warf sich wieder in die Kissen. Kreutzer nahm einen Stuhl, stellte ihn ans Bett und setzte sich. „Bruno“, sagte er in freundlichem, ruhigem Ton, „nehmen Sie sich zusammen, Sie sind doch ein erwachsener Mensch. Sagen Sie uns, wer Ihnen das Auge blau geschlagen hat.“ Keine Antwort. Bruno wälzte sich hin und her, den Kopf in die Armbeuge gepreßt. Seine Schultern zuckten. „Wer war es, Bruno? Ihr Vater?“ Kreutzer legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. Bruno schnellte hoch, als hätte er einen Skorpion in seinem Bett entdeckt. Er schob sich in die äußerste Ecke, den Rücken zur Wand. In seinen Augen flackerte hysterische Angst. „Fassen Sie mir nicht an!“ keuchte er. „Ich will das nicht. Ich lasse mir nicht mehr prügeln. Alle trampeln auf mir herum, ich bin immer bloß der Idiot, der Prügelkna266
be, der letzte Dreck. Schuften muß ich genau wie die andern, aber Geld? – Nee, Geld is nich. Alle lachen mir aus, sogar die Mädchen. Bruno? Der is doch blöde. Ja, ich bin blöde, mein Vater sagt es jeden Tag. Blöde, blöde, blöde!“ Er hämmert mit den Fäusten auf seine Knie, die er dicht an den Körper gezogen hatte. „Warum wurden Sie gestern geprügelt, Bruno?“ „Lassen Sie mir in Ruhe!“ zischte er. Mit einem überraschenden Satz war er vom Bett. Arnold trat vor die Tür. Kreutzer gab ihm einen Wink, nicht einzugreifen. Bruno drehte sich im Kreise. Sein Gesicht war verzerrt, verschmiert vom Schmutz seiner Hände, von Speichel und Tränen. „Machen Sie kein Theater, Bruno“, sagte Kreutzer etwas energischer. „Na los, erzählen Sie uns Ihre Geschichte. Sagen Sie einfach die Wahrheit, alles andere wird sich dann finden.“ „Warum quält ihr mich, ihr Hunde?“ wimmerte Bruno und ließ sich kraftlos auf den Fußboden sinken. „Ja, ich geb’s ja zu. Ich war es. Ich habe die Schreibmaschine aus der Laube geklaut und den Foto auch. Munjo Perschke hat mir immer bloß verkohlt, und wie er den Abend so heimlich mit die zwei Koffer kam, da saß ich gerade hinten im Garten auf’n Appelbaum und habe ihn gesehen. Da is was faul, hab’ ich mir gedacht, und bin denn in die Laube, wie er weg war. Habe die Koffer gefunden und mir die Schreibmaschine und den Foto wegjenommen. Der hatte ja immer noch jenug, und ich will nich immer leben wie’n Kuli. Die Schreibmaschine hat mir das Schwein wegjenommen, aber den Foto, den habe ich versteckt, von dem weiß er nischt.“ Bruno sprang auf und stieß ein schrilles Gelächter 267
hervor. „Det Ding wird versilbert. Penunse, versteht ihr? Und dann wird einer flottjemacht. Jawoll, auf den Putz hauen! Saufen und Weiber, wie die andern. Wenn ihr wüßtet. Bruno ist kein armer Hund mehr, bald wird der Zaster ausgezahlt. Neue Klamotten, Leute! Schicker Wagen! Ich bin der Ölscheich von Arabien!“ Er kicherte selbstgefällig, „Der Fotoapparat ist doch weg“, sagte Kreutzer sachlich. Bruno schreckte auf, sein berauschtes Gesicht wurde trüb und leer. Mit einem dumpfen Stöhnen ließ er den Kopf auf die Brust sinken. „Dieses Schwein“, murmelte er, „dieses Schwein. Alle sind sie Schweine, alle.“ „Wer hat Ihnen den Fotoapparat weggenommen?“ „Weggenommen?“ Bruno lachte verächtlich. „Ich habe ihn nicht ’rausgerückt! Grün und blau hat er mich gedroschen, das Vieh. Aber ich habe nichts gesagt, kein Wort. Dann hat er alles durchgewühlt, bis er da drüben im Schrank …“ Er stürzte zum Schrank, riß die Tür auf und holte hinter einem Stapel blauer Arbeitshemden eine zerschrammte Blechbüchse hervor. Der runde Deckel schepperte zu Boden. Bruno schüttelte das Gefäß, hielt die Öffnung nach unten und streckte es dann Kreutzer entgegen. „Leer! Ausgeraubt! Alles weg. Keener gönnt mir was.“ Angeekelt ließ er die Büchse fallen. Es gab ein scharfes, knallendes Geräusch. Brunos Augen blitzten auf, sein Körper spannte sich, er bleckte die Zähne wie ein gereizter Hund. „Peng!“ Der Speichel sprühte ihm aus dem Mund. „Eines Tages – einmal kommt der Tag –, da wird abge268
rechnet. Da hab’ ick einen Colt! Fünfundvierziger! Acht Schuß und einen im Lauf.“ Er fiel in eine Cowboy-Pose, wie er sie hundertmal im Film gesehen hatte. Die Beine leicht gespreizt, den Körper geduckt, Kopf und Schultern etwas nach vorn geneigt, die Arme locker herabhängend, die Hände griffbereit geöffnet. „Ich mache ihn kalt, diese Laus“, zischte er. „Niedermachen – alles!“ Er riß zwei imaginäre Colts aus den Halftern, hielt sie in Hüfthöhe in Anschlag. „Peng, peng, peng, peng! Bis zur letzten Patrone! Ein Cowboy ergibt sich nicht!“ Er wirbelte um die eigene Achse, das Gesicht von einer irren Wut entstellt. „Wo ist der rote Sturzhelm und die Lederkombination versteckt?“ fragte Kreutzer. Bruno ließ die Arme sinken, der Cowboy war vergessen. Er starrte vor sich hin. Langsam trat Leben in sein Gesicht, Erinnerung. Sie wurde verdrängt von einem höhnischen Feixen. „Ihr findet nichts. Vernichtet, verbrannt, vergraben, im See versenkt, im Koffer versteckt auf der Pfandleihe.“ „Wo ist der Pfandschein?“ „Pfandschein? Den hat das Schwein in seiner Brieftasche – nein, in der Hosentasche oder … Ich weiß nicht. Ich bin doch blöde, quält mich doch nicht …“ Kreutzer seufzte. „Gut, Bruno. Wir machen jetzt eine kleine Autofahrt, und dann wollen wir uns in Ruhe unterhalten. Kommen Sie.“ Bruno wich mit einem Angstschrei an die Wand zurück. „Nein!“ kreischte er. „Nein, ich gehe nicht mit. Ihr 269
wollt mich einsperren, ihr Hunde. Ich will nicht in den Knast. Ich bin nicht schuld, ich habe das alles gar nicht gewollt! Das Schwein hat mich erpreßt, jawohl! Ich erzähle es deinem Vater, hat er gesagt, daß du geklaut hast. Der Alte macht dich zum Handkoffer, und dann kommst du hinter Gitter. Was sollte ich denn machen? Ich mußte doch nachgeben, der hätte mich glatt bei Vater angeschissen! Ich will nicht immerzu geprügelt werden!“ „Bruno! Beruhigen Sie sich doch. Niemand wird Sie mehr prügeln. Sie brauchen keine Angst zu haben. Wir werden für Sie sorgen.“ Er musterte Kreutzer hoffnungsvoll, doch seine Zweifel waren noch nicht überwunden. „Keene Dresche mehr?“ „Das ist vorbei, Bruno, ein für allemal, das kann ich Ihnen fest versprechen. Also gehen wir.“ „Schön“, sagte Bruno plötzlich ganz vernünftig und brav. „Ich komme mit. Schlimmer als hier kann es nicht mehr werden. Schmieren Sie mir auch bestimmt nicht an? Ick erzähle Ihnen dafür ganz ehrlich, wie et wirklich war.“ Kreutzer lächelte und nickte ihm aufmunternd zu. Sie gingen, Bruno in der Mitte, die Treppe hinunter, dann durch den Garten und auf den Wagen zu. In diesem Augenblick trat Hermann Hecht aus der Einfahrt und pflanzte sich vor ihnen auf. Er atmete schwer. „Was soll das bedeuten?“ fragte er heiser. „Was hat der Lümmel ausgefressen? Ich verlange eine Antwort!“ Kreutzer sah ihn unfreundlich an. „Das wird sich herausstellen. Es handelt sich zunächst um eine Aussage.“ Er schob Bruno in Richtung Wagen. Hecht trat ihnen in den Weg. Seine Kinnmuskeln 270
zuckten, seine Hand krampfte sich um einen Schraubenschlüssel. „Ich bin der Vater. Ich will wissen, was los ist. Das ist mein gutes Recht.“ „Bitte, wenn Sie darauf bestehen. Es liegt der Verdacht vor, daß Bruno an einem Diebstahl und an Betrügereien beteiligt ist. Es muß allerdings geklärt werden, inwieweit seine Schuld …“ „Diebstahl und Betrug!“ brüllte Hecht. Er stürzte sich auf Bruno, packte ihn vorn an der Jacke und schlug ihm mit der Faust rechts und links ins Gesicht. „Da – du verfluchte Drecksau!“ Kreutzer sprang dazwischen, stieß Hecht zurück. „Lassen Sie das!“ sagte er scharf. „Auch Sie tragen Schuld daran. Sie werden sich verantworten müssen.“ Hecht schenkte ihm keinerlei Beachtung. Er versuchte an Kreutzer vorbei an den Wagen zu gelangen. Arnold hatte Bruno wie eine Puppe auf den Rücksitz geschoben und war schnell von der anderen Seite her eingestiegen. Kreutzer drängte Hecht zurück, ließ sich neben. Bruno auf den Sitz fallen und schlug die Tür zu. Hecht wollte die Tür öffnen, die Klinke gab nicht nach. „Ich habe mir mein Brot immer ehrlich verdient“, brüllte er, „und dann kommt so ein Mistvieh und besudelt meinen Namen!“ Der Wagen fuhr an. Hecht schüttelte in wilder Wut die Fäuste. „Halt! Gebt ihn ’raus! Ich schlage ihm alle Knochen kaputt, dem Lumpen!“ Staub wirbelte auf, der EMW schaukelte über den Schlackeweg. Hechts Rachegeschrei verklang in der Ferne. Bruno hatte den Kopf an das Polster gelehnt. Aus sei271
nem Mundwinkel sickerte Blut, und über sein starres Babygesicht kullerten die Tränen.
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31. Eine eintönig bleigraue Wolkendecke hatte sich langsam über den Himmel geschoben, und bald darauf setzte fast unmerklich ein feiner Sprühregen ein, der Häuser, Bäume und Straßen in silbrige Nebelschleier hüllte. Nach kurzer Fahrzeit hielten sie vor einem eigenartigen Haus, das aus mehreren Würfeln bestand und zur Straßenseite keine Fenster hatte, nur einige Bullaugen. Jeder der Würfel war in einer anderen Farbe getüncht: senfbraun, chromgelb, spinatgrün. Es sah wie der steingewordene Angsttraum eines Kubisten aus. Kreutzer und Arnold stiegen aus dem Wagen, öffneten das nur kniehohe Gartentor und schritten über den Plattenweg auf den Hauseingang zu, einem Gebilde aus Milchglas und Gitterstäben zwischen kahlen Wänden. Neben der Tür war eine kupferne Teufelsmaske mit Glasaugen und weit heraushängender Zunge eingelassen. Arnold berührte sie zögernd mit dem Zeigefinger. Im Hause ertönte eine Klingel. Eine Minute schlich dahin. Die schmalen Blätter der Trauerweide, die ihre Zweige wie Bindfäden über den Plattenweg hängenließ, schaukelten lautlos zur Erde. Eine Kette Wildenten zog mit pfeifendem Flügelschlag über den Garten hinweg. Kreutzer warf seinem Kollegen einen beunruhigten Blick zu und wies mit einer Kopfbewegung auf die Rückseite des Hauses. Arnold nickte und ging hinters Haus. Fast im gleichen Moment tauchte ein dunkler Schatten hinter dem Milchglas auf, und die Gittertür wurde geräuschlos geöffnet. Ein älterer Herr, dem eine entfernte Ähnlichkeit mit 273
Gerhart Hauptmann nicht abzusprechen war, stand schweigend auf der Schwelle und starrte mit wäßrigblauen Augen durch Kreutzer hindurch ins Leere. Er hatte langes weißes Haar, das wirr von seinem Haupte in die Höhe strebte, und war nachlässig gekleidet. An den Füßen trug er zerrissene Sandalen, darüber eine ausgebeulte, viel zu weite Kordhose; der Oberkörper wurde umschlottert von einem fleckigen Pullover, der offensichtlich seit Jahren ein wasserscheues Dasein führte. Kreutzer brachte vor, weshalb er gekommen war. Der Hausherr würdigte ihn keines Wortes. Er wies mit einem gelblichen Daumen, der Spuren von Tintenstift zeigte, auf die Treppe hinter der Tür. Sie führte in den Keller hinab. Sein Gesicht hatte einen abwesenden und zugleich belästigten Ausdruck. Er murmelte etwas wie „ekle Geschäftigkeit des Schwachsinns“, drehte sich um und traumwandelte auf leisen Sohlen zurück in sein Arbeitszimmer. Kreutzer ging die Treppe hinunter. Als er die Schiebetür zum Kellereingang zur Seite drückte, drangen ihm von fern hallende Schläge entgegen; durch halbdunkle Gänge ging er den Geräuschen nach, vorüber an Holzgestellen voller Einweckgläser und beachtlichen Stapeln dunkelgrüner Weinflaschen. Nachdem er einen Raum mit Koksbergen durchquert hatte, waren die Hammerschläge ganz nahe. Er blieb stehen und schaute um die Ecke. Kriewitz kniete auf einem Stück Sackleinwand und hämmerte an einem rostigen Anschlußrohr des Heizungskessels. Im Takt dazu pfiff er den Cottbuser Kürassiermarsch. Hinter dem offenen Kellerfenster erschienen zwei Füße, zögerten einen Augenblick und traten dann aus dem Blickfeld. Kriewitz mußte den Schatten bemerkt 274
haben. Er sah sich mißtrauisch um, lachte dann und begann wieder zu pfeifen. Kreutzer stand jetzt im Türrahmen. „Die gute Laune wird Ihnen vergehen“, sagte er. Kriewitz taumelte in die Höhe. Mit dem Rücken stieß er gegen einen dreibeinigen Waschbock, von dem Feuerzeug und Zigarettenetui auf den Steinfußboden klirrten. Er bückte sich, tastete wie geblendet umher, bis er schließlich gefunden hatte, was er suchte. Als er sich aufrichtete, war sein Gesicht fahl und von einer angstvollen Spannung verzerrt. Seine Hände, die das Feuerzeug in die Tasche des grünen Arbeitskittels schoben, krampften sich nervös in den Stoff. „Kruzitürken!“ stöhnte er und blies die Luft von sich. „Sie haben mir aber einen schönen Schreck eingejagt, Herr Leutnant. Haben Sie denn schon wieder Fragen?“ „Kaum noch“, sagte Kreutzer. „Die Hauptfrage ist geklärt, den Täter haben wir gefunden.“ „Was sagen Sie?“ Kriewitz sprang unwillkürlich einen Schritt zurück. Seine Stimme war ein heiseres Krächzen. „Warum kommen Sie dann zu mir?“ Kreutzer verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln. „Lassen Sie diesen Krampf. Der Traum ist aus, Kriewitz. Sie sind festgenommen.“ „Ich? Was liegt denn gegen mich vor?“ „Diebstahl, Betrug, Unfallflucht, schwere Körperverletzung, Urkundenfälschung. Genügt das?“ Kriewitz zündete sich mit flatternden Händen eine Zigarette an. „Haben Sie überhaupt Beweise?“ fragte er und schielte über die Schulter nach dem offenen Fenster. „Mehr als Ihnen lieb sind“, sagte Kreutzer. „Also 275
kommen Sie schon, wir haben noch eine Menge zu tun.“ Die Zigarette im Mundwinkel, schob sich Kriewitz mit dem Rücken an der Wand entlang, auf ein langes Schüreisen zu, das neben dem Kessel lehnte. Seine weit aufgerissenen Augen, in denen die Angst flackerte, waren starr auf Kreutzer gerichtet, als wollte er ihn hypnotisieren. Kreutzer lachte auf. „Haben Sie vor, den Helden zu spielen? Damit können Sie nur Schwachköpfe bluffen wie den armen Bruno. In Wahrheit sind Sie ein schäbiger Feigling.“ Kriewitz erreichte die Eisenstange und umspannte sie mit der Faust. „Drehen Sie sich mal um!“ sagte Kreutzer ruhig. Kriewitz zuckte zusammen und warf einen Blick zum Fenster. In dem rechteckigen Ausschnitt standen Arnolds Füße. Er schloß die Augen, ließ. das Schüreisen los, es polterte zu Boden. Sein Körper erschlaffte. Er griff zu seiner Zigarette, machte einen tiefen Zug und stieß mit dem Rauch einen ordinären Fluch zwischen den Zähnen hervor. Kreutzer trat auf ihn zu, faßte ihn am Oberarm und zog ihn zum Ausgang. Schwankend und ohne Widerstand zu leisten, ließ sich Kriewitz abführen.
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32. Kriewitz saß auf einem Stuhl einige Meter von Kreutzers Schreibtisch entfernt. Er sah völlig verändert aus. Das lag jedoch nicht an seiner Kleidung; er trug noch dasselbe wie am Tag zuvor. Eine Wandlung in der Haltung und im Gesichtsausdruck hatte stattgefunden. Alles Selbstbewußte und die Spur von Überlegenheit, die früher in seinen Mundwinkeln genistet hatte, waren verschwunden. Kreutzer war seltsame Wandlungen bei seinen „Kunden“ schon gewohnt und nahm sie mit Gelassenheit hin. Doch Arnold, dem das noch neu war, zeigte ziemlich deutlich, wie unerfreulich ihm diese Art war, sich lieb Kind zu machen. „Erzählen Sie Ihren Lebenslauf“, sagte Kreutzer. „Jawohl, Herr Leutnant.“ Kriewitz machte im Sitzen eine Verbeugung. „Ich wurde am einunddreißigsten Oktober neunzehnhundertzwanzig in Fuhlsbüttel bei Hamburg als Sohn eines Hafenarbeiters geboren. Meine Mutter war Waschfrau. Wir lebten in sehr ärmlichen Verhältnissen, weil die kapitalistische Ausbeutung …“ „Schon gut. Schulbildung?“ „Ich ging zur Volksschule. Danach schickte mich mein Vater auf den Bau, wo ich bis zum Ausbruch des Krieges …“ „Erlernter Beruf?“ „Wir hatten doch kein Geld, ich mußte sofort verdienen.“ „Neunzehnhundertachtunddreißig wurden Sie Soldat?“ „Ja. Ich wurde nach der infanteristischen Grundausbildung wegen guter Leistungen zum Fallschirmjägerre277
giment einundzwanzig überstellt. Dort …“ „Machen Sie’s kurz, Kriewitz.“ „Jawohl, Herr Leutnant. Wie Sie schon wissen, wurde ich im Mai neunzehnhunderteinundvierzig über Kreta schwer verletzt und geriet in englische Gefangenschaft. Als ich Ende fünfundvierzig zurück nach Deutschland kam, arbeitete ich einige Jahre beim Film.“ Kreutzer sah in die vor ihm liegende Akte. „Ich sehe. Drei Monate bei einem Zirkus, dann wieder bei einem anderen, dann Statist bei der DEFA, Bühnenhilfsarbeiter, wieder Statist. Immer kreuz und quer. Sind Sie vorbestraft?“ „Ich glaube, nicht.“ „So, Sie glauben. Neunzehnhundertsiebenundvierzig sechs Monate wegen Kaninchendiebstahls. Sie kamen noch glimpflich davon. Eine ganze Reihe ähnlicher Einbrüche konnte man Ihnen nicht nachweisen, obwohl man Sie in starkem Verdacht hatte.“ „Entschuldigung, das hatte ich vergessen.“ „War sonst noch etwas?“ „Nein. Ich habe mich seitdem gut geführt.“ „Neunzehnhundertsechsundfünfzig eine Verwarnung wegen Lebensmittelschiebungen nach Westberlin. Auch hier waren Sie wieder durch die Maschen geschlüpft. Es gab genug Anzeichen dafür und auch Hinweise aus der Bevölkerung, daß Sie in großem Umfang diese Geschäfte betrieben hatten. Leider fehlten uns stichhaltige Beweise.“ „Das waren doch nur Verleumdungen, Herr Leutnant. Die Nachbarn gönnen einem nicht einmal das Schwarze unterm Nagel.“ „Ich weiß, Kriewitz. Sie sind die Zuverlässigkeit selbst. Wie ich hier sehe, hatten Sie in neun Jahren sie278
benundzwanzig Arbeitsstellen. Also im Durchschnitt dreimal im Jahr gewechselt, von monatelangen Bummeleien ganz abgesehen.“ „Ich wurde immer wieder krank. Mein Herz ist nicht in Ordnung, Sie wissen doch.“ „Ich weiß nur, daß Sie seit neunzehnhundertneunundfünfzig Invalidenrentner sind. Und wie ich Sie kenne, möchte ich fast annehmen, die Herzkrankheit ist simuliert. Wir werden Sie hier sehr gründlich untersuchen lassen. Uns können Sie nicht mit den alten Lazaretttricks hinters Licht führen, wie Seife essen, Nikotinwasser trinken oder falsche Medikamente nehmen. Wenn sich bei der Untersuchung herausstellen sollte, daß Sie ein Simulant sind, dann können Sie sich gratulieren. Die Sozialversicherung wird Sie auf Rückgabe der Rente verklagen.“ „Es kann doch auch eine Besserung meines Herzfehlers eingetreten sein, Herr Leutnant. Wir haben doch ein so gutes Gesundheitswesen, viel besser als in Westdeutschland …“ „Halten Sie den Mund. Diese Schleimerei ist ja nicht zu ertragen“, sagte Arnold mit unterdrückter Wut. Kreutzer schüttelte mißbilligend den Kopf. „Kommen wir nun zur eigentlichen Tat, Kriewitz. Wie hat die Sache angefangen?“ „Ich wollte das ja gar nicht, Herr Leutnant. Jahrelang habe ich mich immer gut geführt, und ich hatte es auch gar nicht nötig. Verdient habe ich genug …“ „Schwatzen Sie nicht drum herum. Wann und wie kamen Sie auf die Idee, diesen Betrug auszuführen?“ „Na ja, also mein Neffe Bruno brachte mich darauf. Ich hatte ihn beobachtet, als er bei Perschke in die Laube einbrach und die Sachen stahl.“ 279
„Wie haben Sie das beobachtet?“ „Mit dem Nachtglas von meinem Fenster aus.“ „Wozu brauchten Sie überhaupt ein Nachtglas?“ „Bei uns in der Gegend – verlassene Lauben und so, da schleichen nachts eine Menge Jugendliche herum. Und da wollte ich aufpassen, daß sie nicht bei uns aufs Grundstück kommen und was verschwinden lassen.“ „So sehen Sie aus, Kriewitz. Diese Jugendlichen sind meistens Liebespaare, nicht wahr?“ „Na gut, Sie haben recht. Was ist denn schon dabei?“ „Es war zu erwarten, daß Sie für Unanständigkeiten kein Gefühl haben. – Bruno kam also mit der Schreibmaschine. Was geschah dann?“ „Ich habe ihn zur Rede gestellt. Eigentlich wollte ich, daß er sie wieder zurückträgt. Aber er fing an zu heulen, und da tat er mir leid. Der arme Kerl hatte ja nie einen Pfennig Geld. Er brachte mich dann auf den Gedanken, die Schreibmaschine zu benutzen, um damit etwas zu verdienen.“ „Das ist gelogen, Kriewitz.“ Kreutzer schlug eine Mappe auf. „Ich lese Ihnen Brunos Aussage über diesen Punkt vor: ‚Als ich ins Haus kam, nahm mir mein Onkel Waldo die Schreibmaschine weg und sagte, er hätte alles gesehen. Wenn ich jetzt nicht so mache, wie er sagt, dann erzählt er meinem Vater, daß ich geklaut habe, der drischt mich windelweich. Und dann komme ich in den Knast. Ich hatte Angst und wollte die Schreibmaschine zurücktragen, aber er sagte, das könnte dir so passen, nein, kommt nicht in Frage. Waldo sagte, er hat einen prima Plan, wie wir einen Haufen Geld verdienen können. Ganz ohne Risiko. Er sagte wieder, daß er einen Helfer braucht. Er hatte vorher schon öfter damit angefangen, aber ich wollte nicht mit280
machen, weil mir solche Sachen zu gefährlich sind. Jetzt konnte ich aber nicht mehr anders.‘ Und so weiter und so weiter. Also eine glatte Erpressung, was Sie mit Ihrem Neffen Bruno gemacht haben. Aber lügen Sie nur weiter. Wir nehmen uns die Zeit, jeden Widerspruch zu klären und jede Unwahrheit nachzuweisen. Wie war das nun mit dem Unfall? Warum haben Sie dem Radfahrer nicht geholfen?“ Kriewitz hob beschwörend die Hände. „Aber Herr Leutnant! Es war doch starker Nebel, ich hatte es sehr eilig. Ich habe ja gar nicht bemerkt, daß ich einen Radfahrer angefahren habe, sonst hätte ich doch ganz bestimmt sofort angehalten und Erste Hilfe geleistet. Nein, ich dachte, ich hätte irgendein Fahrzeug, vielleicht einen Bauernwagen, gestreift, der unbeleuchtet auf der Straße stand.“ „Bauernwagen?“ Kreutzer lachte verächtlich. „Ihre Ausreden werden immer dümmer. Selbst wenn jemand einen Wagen unbeleuchtet abstellt, läßt er ihn nicht mitten auf der Straße stehen. Sie fuhren aber mitten auf der Straße. Sie haben den Radfahrer mit dem vorderen Kotflügel gerammt. Er wurde über die Motorhaube geschleudert, das ergab die kriminaltechnische Untersuchung eindeutig. Sie müssen ihn also gesehen haben, wenn Sie nicht beweisen können, daß Sie blind sind, und das wird Ihnen trotz aller Verlogenheit sehr schwerfallen.“ Kriewitz sah zu Boden. „Ich habe ihn gesehen“, murmelte er. „Aber ich dachte nicht, daß er sich verletzt hat.“ Kreutzer ging darauf nicht ein. „Wieviel Leute haben Sie betrogen, Kriewitz?“ fragte er. „Ich weiß es nicht genau. Es ist schon so viel Zeit ver281
gangen. Ich kann mich beim besten Willen …“ „Wieviel, Kriewitz?“ „Also, etwa drei oder vier werden es gewesen sein.“ „Stimmt das?“ „Ich sagte doch schon ich weiß es nicht mehr genau.“ „Worauf spekulieren Sie eigentlich? Daß der eine oder andere der Betrogenen sich nicht meldet? Daß er nicht zur Polizei geht, weil er selbst keine ganz saubere Weste hat? Damit werden Sie kein Glück haben. Wir wollen mal hören, was Bruno sagt, der hat ein besseres Gedächtnis.“ Arnold griff zum Telefon. Einige Minuten später wurde Bruno hereingeführt. Kreutzer ließ ihn Platz nehmen und fragte: „Wie oft habt ihr den Trick mit Doktor Nikolais Wartburg ausgeführt?“ Bruno warf einen angstvollen Blick auf Kriewitz und schwieg. „Dein Onkel kann dir nichts tun, Bruno“, sagte Kreutzer. „Vor dem brauchst du dich nicht mehr zu fürchten. Also, wieviel Leute habt ihr aufs Kreuz gelegt?“ „Sieben“, flüsterte Bruno. Kreutzer nickte. „Stimmt, Bruno. Ganz genau sogar. Siebenmal wurde die Jawa ausgeliehen. Nun, darüber sprechen wir noch. Wieviel Geld habt ihr erbeutet?“ „Ich weiß es nicht. Habe ja nie was bekommen. Der Hund hat mir immer nur ein paar Mark für Benzin und für das Ausleihen gegeben. Er hat mir immer vertröstet auf später.“ „Das ist richtig, Herr Leutnant“, sagte Kriewitz eifrig. „Ich wollte Bruno mit dem Geld nicht gefährden. Sie wissen doch, wie labil er ist. Er hätte angefangen zu trinken und wer weiß was sonst noch für Dummheiten gemacht. Davor wollte ich ihn bewahren, bei seinem Gei282
steszustand …“ „Wieviel Geld haben Sie erbeutet, Kriewitz?“ „Etwa dreißigtausend, Herr Leutnant.“ „Wo ist diese Summe geblieben?“ Kriewitz zuckte die Achseln. „Die Unkosten waren sehr hoch, nicht wahr? Und dann habe ich auch einiges ausgegeben. Es ist fast nichts mehr übrig, alles weg.“ „In vier Monaten haben Sie dreißigtausend Mark verschleudert?“ „Ja.“ „Na schön, wir werden das untersuchen. Wir werden jedenfalls dafür sorgen, daß Sie alle Schäden auf Heller und Pfennig zurückzahlen. Sicher steht Ihnen eine hübsche Reihe von Jahren dafür zur Verfügung. Und hoffen Sie nicht darauf, daß Sie in Bruno eine Hilfe haben. Er wurde zur Beihilfe erpreßt, und von dem ergaunerten Geld hat er nichts bekommen. Ich denke, daß wir ihn nicht ins Gefängnis, sondern eher in eine Nervenklinik schicken, damit er sich von seinen lieben Verwandten erholen kann.“ Am Nachmittag saßen vier Herren in Kreutzers Arbeitszimmer, Dr. Nikolai und sein Sohn Dieter, Ingenieur Kranepuhl und Bäckermeister Lenkeit. Zu Kreutzers stiller Verzweiflung war die Luft des Raumes mit Nikolais Zigarrenqualm und dem Knaster aus Kranepuhls Pfeife bis zum Ersticken gesättigt. Er lehnte sich zurück und öffnete diskret den Fensterflügel hinter seinem Rücken ein wenig mehr. Seine Hoffnung, daß wenigstens Arnold diesen Wink verstehen würde, ging nicht in Erfüllung. Arnold zündete sich im gleichen Augenblick mit unschuldiger Miene die fünfte Zigarette an; Kreutzer hatte sie gezählt. 283
„Die Gegenüberstellung und die Aussagen von Herrn Kranepuhl und Herrn Lenkeit“, sagte er, „haben Waldemar Kriewitz zweifelsfrei als den Täter identifiziert. Ich bitte Sie, noch die Protokolle zu unterschreiben, die im Vorzimmer bereitliegen. Damit können wir dann unser heutiges Gespräch beenden. Ich danke Ihnen für Ihre Mithilfe.“ Kreutzer erhob sich, doch seine Besucher machten keinerlei Anstalten aufzubrechen. „Ich habe noch einige Fragen“, sagte Dr. Nikolai. „Wenn es Ihre Dienstvorschriften nicht verletzt, möchte ich Sie um Aufklärung bitten.“ „Gern.“ Kreutzer versuchte ein freundliches Lächeln in sein Gesicht zu zaubern und ließ sich mit einem heimlichen Seufzer wieder auf den Stuhl sinken. „Können Sie uns erklären“, begann Nikolai, „wie Kriewitz überhaupt auf den Gedanken zu diesen Betrügereien kam?“ „Das erklärt sich folgendermaßen: Solange gewisse Waren, also zum Beispiel Autos, knapp sind, werden sich auch Gauner finden, die versuchen, aus diesem Umstand einen persönlichen Vorteil zu ziehen. Je mehr die Produktion anwächst, um so geringer werden natürlich die Möglichkeiten. Leider kommt hinzu, daß diesen Elementen immer wieder durch Leichtsinn und Gutgläubigkeit Vorschub geleistet wird. Auch Sie, Herr Kranepuhl, und Sie, Herr Lenkeit, kann ich von diesem Vorwurf nicht ganz freisprechen. Wenn man mit einem Menschen, den man persönlich nicht kennt, Geschäfte macht, sollte man sich unbedingt den Personalausweis zeigen lassen. Kriewitz hat offensichtlich mit dieser Nachlässigkeit gerechnet, und wie wir wissen, nicht zu Unrecht. Nach vielen Ausflüchten hat Kriewitz schließlich zu284
gegeben, auf die Idee, einen Wartburg zu verkaufen, sei er gebracht worden, als er zufällig in der Werkstatt seines Schwagers ein Gespräch mit anhörte, in dem sich zwei Autobesitzer über die märchenhaften Preise unterhielten, die sie für ihre Fahrzeuge bekommen könnten. Kriewitz suchte dann nach einem geeigneten Mann unter den Kunden seines Schwagers und verfiel auf Sie, Herr Doktor Nikolai, weil Sie einen gutgepflegten Wagen besaßen und ihn mit ziemlicher Regelmäßigkeit für eine ganze Nacht auf dem unbewachten Parkplatz der Poliklinik abstellten. Kriewitz dachte sich nun einen Plan aus, kam aber bald zu der Einsicht, daß er ohne Helfer bei seinen Opfern wenig Erfolg haben würde. Er versuchte seinen Neffen Bruno zur Mithilfe zu bewegen, der aber sträubte sich, bis er eines Nachts von Kriewitz dabei beobachtet wurde, wie er aus einer Laube eine Schreibmaschine stahl. Damit war Bruno in seiner Hand. Er konnte ihn erpressen und zu seinem Werkzeug machen, da Bruno eine panische Angst vor seinem Vater hatte. Die Schreibmaschine benutzte Kriewitz für die Briefumschläge. Er frankierte sie und ließ sie bei der Post als angebliche Sammlerwerte abstempeln. Dann stellte er heimlich die Maschine in Doktor Nikolais Wartezimmer ab. Er wollte sie loswerden und gleichzeitig bei einer eventuellen Identifizierung der Schrift den Verdacht auf Doktor Nikolai und die Personen seiner näheren Umgebung lenken. Bruno sollte mit der dunkelblauen Jawa und der Motorradkleidung bewußt eine Übereinstimmung mit Dieter Nikolai hervorrufen, und er hat uns ja auch tatsächlich damit eine gewisse Zeit in die Irre geführt. Kriewitz hatte innerhalb von vier Wochen etwa zehn Betrugsaktionen geplant und wollte dann das Unterneh285
men einstellen. Anfangs lief die Sache ausgezeichnet, doch dann traten Umstände ein, mit denen er nicht gerechnet hatte. Zunächst machte ihm Doktor Nikolai unbewußt einen Strich durch die Planung, als er krank wurde und ganz plötzlich seinen Bereitschaftsdienst verschieben mußte. Kriewitz konnte die Verabredung mit den Käufern nicht einhalten. Aus Angst vor Rückfragen bei Doktor Nikolai blies er die Aktionen ab, rief die Interessenten an und sagte, der Wagen sei bereits verkauft. In der Hoffnung, daß Doktor Nikolai schnell gesund werden würde, gab er eine neue Zeitungsannonce auf. Er hatte Glück, es klappte. Herr Kranepuhl war dann an diesem Abend das erste Opfer. Doch es standen noch zwei weitere Käufer auf der Liste, in Schenkenhorst und Großbeeren, wie wir von Bruno erfuhren. Deshalb war Kriewitz sehr in Eile. Hinter Philippsthal geriet er unvermutet in den Bodennebel und hatte den Zusammenstoß mit dem Radfahrer.“ „Wie geht es dem jungen Mann überhaupt?“ fragte Nikolai. „Recht gut. Er befindet sich auf dem Wege der Besserung. Doktor Eisenlieb meint, daß er in einem Monat wieder ganz in Ordnung sein werde.“ „Was geschah nach dem Unfall?“ „Kriewitz brachte den Wagen zurück auf den Parkplatz, an die Fortsetzung des Planes war natürlich nun nicht mehr zu denken. Die dritte Panne passierte, als sich Doktor Nikolai wegen der Reparatur an Hecht wandte und dieser den Auftrag an Kriewitz weitergab. Kriewitz hatte ja damit gerechnet, daß nach seiner letzten Aktion wenigstens noch vierzehn Tage vergehen würden, ehe sich die Geprellten ihrer Lage bewußt würden und sich zu einer Anzeige entschlössen. Durch den Unfall aber 286
wurden die polizeilichen Nachforschungen sofort und natürlich auch mit größerem Nachdruck betrieben, als es bei einem scheinbar verhältnismäßig kleinen Betrug der Fall gewesen wäre. Unter normalen Umständen wäre Kriewitz weit vom Schuß gewesen und hätte gewiß nicht zu dem verdächtigen Personenkreis um Doktor Nikolai gehört. Nun aber wurde er plötzlich hineingezogen. Doch er wagte nicht, sich durch eine Ablehnung der Reparatur verdächtig zu machen, und außerdem hoffte er, durch eine schnelle Beseitigung des Schadens das Auffinden des Unfallwagens zu erschweren oder gar zu verhindern. Von diesem Augenblick an hatte er jedoch nicht nur Pech, sondern er machte auch ernsthafte Fehler, die ihn dann schließlich überführten.“ „Was für Fehler waren das?“ fragte Dieter. „Der erste war, daß er sich überhaupt in den Personenkreis um Doktor Nikolai hineinziehen ließ. Er hätte die Reparatur unter irgendeinem Vorwand ablehnen sollen. Dann gab er uns den Hinweis auf Fräulein Alverdes. Das war von seiner Sicht aus ganz geschickt, denn Philippsthal liegt auf dem direkten Weg von Kleinmachnow nach Wilhelmshorst, und dadurch fiel ein schwerer Verdacht auf Doktor Nikolai. Aber bei Fräulein Alverdes fanden wir die Schreibmaschine, und die Spur führte uns schließlich in das Zimmer von Kriewitz. Am Fenster entdeckte ich ein Zeiss-Nachtglas, und als ich hindurchsah, hatte ich einen direkten Blick auf den Eingang der Perschke-Laube. In diesem Augenblick kam mir zum ersten Mal der Gedanke, daß Kriewitz mit der Tat in Verbindung stehen könnte. Zuvor hatte er noch einen Fehler begangen. Er hielt 287
uns nämlich für klüger, als wir waren, und glaubte, wir würden ihn mit den Verwüstungen in der Laube in Zusammenhang bringen. Deshalb fragte er uns nach dem Fotoapparat und tat so, als hörte er zum ersten Mal davon. Wenn wir ihm das glaubten – so kombinierte er –, konnte er logischerweise nicht derjenige sein, der in die Laube eingebrochen war und dort nach dem Fotoapparat gesucht hatte. Wir waren aber zu dieser Zeit der Ansicht, daß der Vandalismus in der Laube mit unserem Fall nichts zu tun hat. So verstanden wir natürlich auch nicht, was Kriewitz mit seiner geheuchelten Frage bezweckte. Das wurde uns erst klar, als wir am nächsten Morgen von dem merkwürdigen Einbruch bei Doktor Nikolai hörten und außerdem erfuhren, daß Doktor Nikolai zwei Tage zuvor einen Besucher hatte, mit dem er über die Lackierung des Wartburgs sprach. Der Besucher war selbstverständlich Kriewitz. Er hörte in diesem Moment zum ersten Mal von dem Fotoapparat, und ein heftiger Schreck durchfuhr ihn. Bruno hatte also nicht nur die Schreibmaschine, sondern auch eine Kamera gestohlen. Wenn die Polizei sie bei Bruno fand, war alles zu Ende. Kriewitz mußte sich unbedingt in den Besitz der Kamera bringen. Er fuhr nach Hause und verhörte Bruno. Bruno leugnete. Kriewitz durchwühlte nachts die Laube, in der Annahme, daß die Kamera vielleicht noch dort versteckt sei. Vergeblich. Dann tauchten wir auf. Bruno hatte fast die Nerven verloren. Kriewitz mußte ihn mit einigen Ohrfeigen zur Räson bringen. Doch die Lage wurde brenzlig. Nachdem wir fort waren, knöpfte er sich Bruno noch einmal vor, prügelte ihn grün und blau und entdeckte auch schließlich die Pentina in Brunos Wäschefach. In 288
der nächsten Nacht brach er im Hause Doktor Nikolais ein und schob die Kamera unter, um den Verdacht auf Dieter zu lenken. Am Tage zuvor aber hatte ich von Frau Lenkeit erfahren, daß der Täter aus Norddeutschland stammen mußte, wie sie an seiner Sprache bemerken konnte. Das war wieder ein Hinweis auf Kriewitz, von dem ich inzwischen wußte, daß er bei Hamburg geboren und aufgewachsen war. Mein Kollege Arnold hatte indessen in einem Gespräch mit Wolfgang Perschke herausgefunden, daß nicht nur Dieter Nikolai, sondern auch Bruno Hecht mit Perschke bekannt war. Nun war es nur noch eine Kleinigkeit, bis wir in einem Kraftfahrzeug-Leihdienst unter dem Namen Bruno Hecht die dunkelblaue Jawa entdeckten. Schließlich hatte Kriewitz noch eine Dummheit begangen, die uns den letzten Beweis lieferte. Er brachte nämlich an dem Tage, als er Doktor Nikolais Wagen reparierte, von sich aus einen neuen Scheinwerfer mit. Doktor Nikolai hatte aber von der Art des Schadens am Telefon gar nichts erwähnt. Daß sich Kriewitz damit verraten würde, war ihm wohl in der Aufregung entgangen. Woher wußte er, was er zur Reparatur brauchte? Weil er den Unfall selbst verursacht hatte.“ Kreutzer erhob sich und seine Besucher ebenfalls. Sie schüttelten sich die Hände. Als der letzte gegangen war, wandte er sich aufatmend an Arnold. „So, das hätten wir hinter uns. Ich denke, wir gehen in die Kantine und trinken einen guten Kaffee. Ich habe frische Luft und eine Stärkung nötig.“ „Wenn Sie gestatten“, sagte Arnold, „möchte ich Sie zur Feier des Tages zu einem doppelten Wodka einladen.“ 289
Und nach einer kleinen Pause setzte er mit maliziösem Lächeln hinzu: „Ich habe schon seit drei Tagen gewußt, daß Kriewitz der Täter war, und nur nicht gewagt, es auszusprechen.“ Kreutzer fuhr herum. „Was sagen Sie da? Wieso haben Sie das gewußt?“ „Kriewitz sprach von einem Gartenlokal in Glindow, vor dem Dieter Nikolai mit dem Wartburg weggefahren ist. Ich bin in Glindow groß geworden. Es gibt dort zwei Gartenlokale, eins am See und das andere auf einer Anhöhe zwischen Kiefern. Beide kann man nur zu Fuß erreichen.“ „Warum haben Sie das nicht gesagt, Mensch?“ „Ich wollte Sie nicht wieder ärgern wie mit dem Zweimarkstück. Und Sie waren so schön in Schwung nach dem Besuch von Doktor Nikolai.“ Kreutzer starrte seinen Kollegen an; sein sonst so ruhiges Gesicht spiegelte den Widerstreit der Gefühle. „Ich bin grundsätzlich gegen den Genuß von Alkohol, schon als Sportler“, knurrte er. „Aber ich habe den niederträchtigen Verdacht, Arnold, daß Sie ein sehr unseriöser Witzbold sind. Das läßt sich wirklich nur mit einem doppelten Wodka ’runterspülen. Gehen wir.“ 235
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Im zweiten Halbjahr 1970 erscheint in den Buchhandlungen und Zeitungskiosken ein neuer Kriminalroman in unserer DIE-Reihe
Tom Wittgen Der zweite Ring etwa 240 Seiten, etwa 2,50 M
Leseprobe Vor der Verkaufshalle lungerten trotz der frühen Morgenstunde etliche Schaulustige herum und starrten den drei Kriminalisten entgegen, die mit dem Hund an der Leine auf sie zukamen. „Was für ein schönes Tier!“ rief eine schlanke Rothaarige, lächelte kokett und wiegte sich ein wenig in den Hüften. Der Kleinste der drei Kriminalisten blieb vor den Leuten stehen und sagte: „Ich bin Oberleutnant Hypko. Wissen Sie etwas über den Einbruch? Haben Sie etwas beobachtet?“ Und als ihm niemand antwortete, fuhr er fort: „Das hier ist kein Nachtkabarett. Gehen Sie nach Hause, wenn Sie uns nichts erzählen können.“ „Ich bleibe aber“, beharrte die Rothaarige, lehnte sich betont lässig gegen das Schaufenster, bemüht, ihre Figur zur Geltung zu bringen. „Ich bin nämlich hier Verkäuferin. Und außerdem hat mich heute so’n Individuum angequatscht. Vielleicht war das der Verbrecher.“ Hypko musterte sie und fand, daß ihr Äußeres einige Blicke wert war. Er sagte: „Wenn Sie so anziehend auf Verbrecher wirken, sollten Sie lieber nicht Verkäuferin 291
sein.“ Sie bekam große runde Augen und verhaspelte sich beim Sprechen: „So was Unhöfliches! Da will man helfen … Na, ich kann ja gehen.“ „Gute Nacht“, sagte Hypko und wußte, daß sie bleiben würde. Er wandte sich um, entdeckte vor dem Eingang seinen Hundeführer und den Kriminaltechniker im Gespräch mit dem Abschnittsbevollmächtigten und einem Mann, der sich als Verkaufsstellenleiter Kramer vorstellte. Kramer hielt ihm ein Schlüsselbund entgegen und rief: „Na, da sehen Sie sich die Bescherung mal an!“ Nach einer reichlichen Stunde Arbeit ergab sich folgendes Bild: Die Einbrecher waren durch das offene Fenster der Personaltoilette geklettert und hatten drei Türen mit Sperrhaken geöffnet, um in den Verkaufsraum zu gelangen. Dort hatten Sie Lebensmittel gestohlen und die Verwüstungen angerichtet. Oberleutnant Hypko trat aus der Halle und sagte zu Herrn Kramer: „Wenn der Kriminaltechniker herauskommt, sind Sie an der Reihe. Versuchen Sie Ordnung zu schaffen, und schreiben Sie mir auf, was gestohlen und was vernichtet wurde.“ Herr Kramer nickte und wies mit einer Kopfbewegung zum Schaufenster. Dort stand noch immer die Rothaarige und redete mit zwei jungen Frauen. „Das sind meine drei Verkäuferinnen. Sie wollen absolut nicht nach Hause gehen.“ „Prima“, sagte Hypko. „Mit dem Personal können Sie mühelos eine Nachtverkaufsstelle einrichten.“ Dann wandte er sich an die Rotblonde. „Sie sind ja schon wieder da!“ Er zog die Stirn in Falten und blickte sie halb belustigt, halb vorwurfsvoll an. 292
„Noch“, sagte sie. „Ich bin noch da. Und Sie sollten mich nicht wie ein Schulmädchen behandeln.“ „Stimmt. Sie sehen wirklich nicht aus, als ob Sie wie ein Schulmädchen behandelt sein wollten. Wie heißen Sie eigentlich?“ „Borisch“, sagte sie. „Gisela Borisch.“ „Und was hat es mit dem ‚Individuum‘ auf sich, von dem Sie mir vorhin erzählen wollten?“ „Mich hat gestern auf dem Nachhauseweg einer angepöbelt. Rotfuchs hat er mich genannt und gesagt, ich gehöre in eine Pelztierfarm und nicht in den Petershagener Konsum. Wissen Sie, wer so mit Mädchen umgeht, der stiehlt auch.“ „Beschreiben Sie den Burschen mal.“ „Beschreiben?“ Sie schien verblüfft. „Ja. Erzählen, wie er ausgesehen hat, Statur, Haarfarbe, Kleidung, Gesichtsschnitt, ungefähres Alter.“ Sie dachte nach, und Hypko merkte, daß Denken für sie eine Anstrengung war. Das Ergebnis stand dann auch in keinem Verhältnis zu dem Aufwand. Sie brachte eine Beschreibung zusammen, die auf jeden dritten zwanzigjährigen Burschen gepaßt hätte. „Wann haben Sie gestern die Verkaufsstelle verlassen?“ fragte Hypko. „Kurz vor neunzehn Uhr.“ „Und warum sind Sie nicht bis neunzehn Uhr geblieben?“ Sie zauberte sich ein kokettes Lächeln ins Gesicht. „Ich war mit Eddi verabredet.“ „Hat Ihr Eddi gesehen, wie Sie von einem Fremden belästigt wurden?“ „Von wegen! Eddi hätte Hackfleisch aus dem gemacht.“ Sie kniff die Augen zu einem Spalt zusammen 293
und musterte Hypko. „Eddi ist nämlich nicht gerade ’ne mickrige Gestalt. Ihnen zum Beispiel kann der glattweg über’n Kopf spucken.“ „Wie schön für ihn“, sagte Hypko. „Kommt er manchmal in die Verkaufsstelle?“ „Nein. Wir sehen uns nur nach Feierabend. Er kommt aus Neuenhagen ’rüber.“ „Fragt er Sie manchmal nach den Einrichtungen im Konsum oder nach den Lieferungen, die Sie erhalten?“ Sie trat einen Schritt von Hypko zurück und fauchte ihn an wie eine wütende Katze. Hypko hörte ihr einige Augenblicke lang nicht zu. Der Name Eddi, der so ein großer Kerl war, daß er ihm über den Kopf spucken konnte, und der Ort Neuenhagen zwangen ihm Erinnerungen auf. Er drängte sie zurück und fragte in das Geschimpfe hinein: „Also, haben Sie ihm nun vom Konsum erzählt oder nicht?“ „Nein!“ rief sie. „Nein!“ Es klang hysterisch, und Hypko nahm an, daß sie log.
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Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten 3. Auflage • 1970 Verlag Das Neue Berlin, Berlin Lizenz-Nr.: 409-160/12/70 • ES 8 C Lektor: Wolfgang Schütze Umschlaggestaltung: Erhard Grüttner Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM*